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German Pages 667 [668] Year 1880
Preußische Jahrbücher. Herausgegeben
von
Heinrich von Treitschke.
Sechsundvierzigster Band.
Berlin, 1880. Druck und Verlag von G. Reimer.
Inhalt. Erstes Heft. Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
(C. Grünhagen.) Seite
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die StaatSverwaltumg. (A. Pernice.)
Ueber die Grenzen des historischen Wissens.
1
—
24
(W. Vischer.)).................................. —
56
Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briese des Jaco-po OrtiS".
(II.)
(Dr. F. Zschech.).....................................................................................................
-
70
AuS Ungarn......................................................................................................................
—
88
Politische Lorrespondeuz.
(Nach der Entscheidung.)
.
. ....................................... —
Notizen....................................................................................................
92
—
106
—
109
—
126
Zweites Heft. (Bernhard FArsteir.)...................
Der deutsche Prosastil in unsern Tagen. Ueber
die
Stellung
der
Mathematik
Kunst
zur
unib
Kunstwissenschaft.
(Professor Dr. Guido Hauck.)............................................. Zur Geschichte deS deutschen Adels.
(Christian Meyer.)
AuS der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
.................................. —
146
(Julian Schmndt.).........................—
174
.
—
213
....
—
225
(Emil Feuerlein.)......................................................... —
253
Die Chamäleonönatur deö UltramontaniSmuS.
Politische Lorrespondenz. .
Drittes Heft. Zur Geschichte des deutschen Adels.
Zur Würdigung Lavater'S. Colberg und Gneisenau.
(Schluß.)
(Christian Meyer.)
(Karl Koberstein.).......................
Reiseeindrücke aus Samogitien.
—
275
(E. von der Brüggen.))....................................... —
298
Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Wümdniß.
(Politische
Correspondenz.)...........................................................................................................—
318
Notizen......................................................................................................................................—
329
Viertes Heft. Reiseeindrücke aus Samogitien. Ueber
(Schluß.)
Maßnahmen und Einrichtungen
(E. von der Wrüggen.) ....
zum
Schutze
—
333
der Gesundheit' der
(Prof. Dr. Julius Uffelmann.)........................................................
—
351
Heinrich Luden.........................................................................................'............................ —
379
Kinder.
IV
Inhalt.
Landgesetze und Landwirthschast in England.
(Ludwig Freiherr von Ompteda.) Seite 401
Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen
Ost-westliche FriedenSausstchten.
zuPergamon.
—
(B. Förster.)
(PolitischeCorrespondeuz.).................................. —
AuS Siebenbürgen......................................................................................................— Notizen.
420
431 441
(Julian Schmidt.).........................................................................................— 447
Fünftes Heft. Landgesetze und Landwirthschast in England.
(Schluß.)
(Ludwig Freiherr
von Ompteda.)......................................................................................................— Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.
(Hugo Sommer.)
449
—
480
rechtlichen Standpunkt.............................................................................................—
494
Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze an die Elbe vom Goethe's erstes Jahr in Weimar, 1775—1777. Politische Correspondeuz.
(Julian Schmidt.)
...
(—z.)....................................................
—
515
—
544
—
553
Sechstes Heft. Altösterreichische Culturbilder.
(Christian Meyer.) .
Aus Türkisch-Asien............................................................................................. Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht.
Julius Wolff.
(Dr. A. Baer.) .
.
—
575
—
603
—
612
Zur Fortsetzung von Gneisenau's Biographie............................................................ —
619
Parlamentarisches und constitutionelleö System..........................................................—
630
Zur inneren Lage am Jahreöschluffe.
639
(Julian Schmidt.)....................................................
Bon Dulcigno nach Athen.
(Heinrich von Treitschke.)....................... —
(Politische Correspondeuz.)........................................ —
Erwiderung an Herrn Th. Mommsen.
(Heinrich von Treiffchke.)
....
—
646 661
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien. Von
C. Grünhagen. Es war am Tage nach der Huldigungsfeierlichkeit in
Breslau
(7. November 1741), daß der König vor einer Versammlung der Ange
sehensten des Landes, geistlichen und weltlichen Standes in mündlichem Vortrage ein Programm seiner Regierung
entwickelte.
An die Spitze
stellte er eine Aeußerung über die religiösen Angelegenheiten: cö sei seine ernstlichste Meinung daß die verschiedenen Religionsverwandten sich unter
einander wohl verstehen, nicht hassen, noch weniger verfolgen sollten, er
sei durchaus ein Liebhaber der Toleranz und werde streng darauf halten, daß bei der Justiz bloß auf die Gerechtigkeit der Sache, ohne einen Unter schied der Religion gesehen werde, mithin nicht etwa ein Katholischer des
halb sein Recht verlieren, noch ein Evangelischer ex hoc respectu das ©einige gewinnen.
Er werde zwei Justizkollegien zu Breslau und Glogau
errichten und gedenke diese mit Ausnahme je eines Mitgliedes ausschließlich
mit Schlesiern zu besetzen, „da diese von den Statuten ihrer Provinzen am
Besten Wissenschaft haben müßten", anders im Finanzwesen, wo er vor läufig keine Schlesier anstellen könne, bis solche durch Dienste in den all
brandenburgischen Landen sich mit den dasigen Einrichtungen bekannt ge macht haben würden.
Die Steuerverfassung sollte auf Grund einer binnen
Jahr und Tag herzustellenden Klassifikation aller Jntraden so geregelt werden, daß Jeder genau wisse,
wie viel er an öffentlichen Lasten ein
Mal wie das andere zu tragen habe, so daß dann alle extraordinären
Lasten selbst in Kriegszeiten aufhören sollten.
Die Land-Accise würde er
ganz abschaffen und nur eine Art von Nahrungssteuer einführen.
Zu
Werbungen sollten in jedem Fürstenthum nur bestimmte Regimenter befugt sein, womit dann die gewaltsamen Werbungen aufhören sollten, denen er auch sonst ernstlich steuern werde. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 1.
1
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
2
Er spreche sich über diese Dinge schon setzt aus, damit man ihm zu
den neuen wichtigen Einrichtungen die nöthige Zeit lasse und überzeugt sei, daß Alle- auf den wahren Nutzen von Schlesien abziele, die Wirkung
werde sich künftig zeigen, wenn gleich der Anfang hin und wieder schwer falle*). Man konnte nicht offener nicht männlicher sprechen, und ohne Zeit
verlust ward das Programm ausgeführt.
Schon Anfang 1742 traten die beiden Justizkollegien oder wie sie
damals hießen OberamtSregierntlgen zu Breslau und Glogau in Thätig keit, zu welchen dann t. I. 1744 ein drittes zu Oppeln getreten ist unter
dem Vorsitze des Reichsgrafen von Henckel-DonnerSmark**), welches aber 1756 nach Brieg verlegt wurde.
Alle die alten Gerichte als Zauden-,
Mann-, Ritter-, Zwölferrecht rc. wurden aufgehoben, doch ließ man den
Landständen und Magistraten, welche bisher Jurisdiktion gehabt, dieselbe in erster Instanz unter der Aufsicht der neuen Kollegien, an welche na
türlich'
auch
eine Appellation
sreistand und
unter
der
Verpflichtung
bei peinlichen Strafen die landesherrliche Konfirmation einzuholen.
Zum
Oberpräsidenten der Breslauer Oberamtsregierung ward bestellt der erst kürzlich bei Gelegenheit der Huldigung znm Fürsten von Carolath er
hobene ReichSgraf von Schönaich mit dem Range eines Staatsministers,
ihm folgte als Präsident der Geheimerath von Beneckendorf, dann 7 Räthe die Freiherren von Arnold, Kittlitz und Matuschka und die Herren von
Füldener, Langenau, Friedeberg und Seidlitz-Gohlau, in Glogau führte das Oberpräsidium Gras Karl Albrecht von Reder Freiherr zu Krappitz Herr zu Berg Ritter deS Schwarzen Adlerordens, Staatsminister, weiter
fungirten als zweiter Präsident der Geheimerath Böhmer und als Räthe die Herren von Wostrowsky, Rothenberg, Graf Falkenhain, von Wiese,
von Mauschwitz, von Pannewitz und von Ehrenstein.
Mit der Ober-
amtSregierung verbunden waren auch die beiden Oberconsistorien, unter
gleichem Präsidium und so, daß die Mitglieder jener in diesen Sitz und Stimme hatten.
Kollegien auch
Außerdem gehörten zu dem Bres
lauer Oberkonsistorium noch der Breslauer Oberbürgermeister oder, wie
er damals hieß, Stadtdirektor Geheimerath von Blochmann, der Prälat des
MathiaSstifteS Daniel Joseph von Schlecht, ferner der erste evangelische Geistliche BreSlauS Inspektor Burg und die Räthe von Lüttichau und Langner, welche letzteren Beiden auch wiederum bei dem Oberamte Sitz
und Stimme hatten.
Bei dem Glogauer Oberkonsistorium fungirten ab
gesehen von den Mitgliedern der OberamtSregieruttg neben 2 weltlichen *) Landesdiarium bei Stenzel St. rer. Siles. V. 184. **) Edikte vom 15. Januar 1742 und 29. Februar 1744.
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
3
Räthen von Arnold und Derschau noch 2 geistliche, der Prälat des dortigen
KollegiatstifteS Freiherr von Langen und Münchhofen und der Oberprediger Läbin*).
ES blieb
daneben auch noch daS bischöfliche Amt resp. daS
bischöfliche Konsistorium bestehen, denen ihre Competenz in causis vere ecclesiasticis mit Ausschluß aller causae civiles sowie in den causis
matrimonialibus wofern beide Theile der katholischen Rxligion zugethan wären, gewahrt blieb.
Doch war von dem bischöflichen Konsistorium eine
Appellation an das Ober-Tribunal in Berlin zulässig, welches nach denen principiis catholicae yeligionis die Sachen zu decidiren haben würde.
Dispense wegen Heirathen in verbotenen Graden mußten die Katholiken bei der Oberamtsregierung nachsuchen.
Bei dem Oberamte waren dann noch recipirt 8 Landes- und 24 Ober
amtsadvokaten, zu denen dann traten ein advocatus pauperum, ein advocatus militum und ein advocatus ad pias causas. PodewilS hatte bei dem Könige eS lebhaft befürwortet, daß der Fürst
Carolath und der Graf Reder, die doch hauptsächlich ihrer Abkunft ihre
hohen Stellungen zu danken hätten, erst noch einen Vorbereitungskursus in Berlin durchmachten um wenigstens
ein
gewisses Maß
juristischer
Kenntnisse zu erlangen**), doch weiß ich nicht, ob dem Folge gegeben worden ist.
Gewiß ist, daß Beide bei der feierlichen Eröffnung der beiden
Breslauer Kollegien (O. A. Regierung und Oberkonsistorium) zugegen waren, welche am 1. Februar 1742 im Oberamtshause zu BreSlau statt
fand.
Die Feierlichkeit wurde durch eine Rede des dazu kommittirten ge
heimen Staatsministers Freiherrn von Coccejt eröffnet, welche davon aus gehend, daß „bei allen vernünftigen Völkern Gerechtigkeit und Religion nicht ohne Ursache, vor die beiden Grundsäulen einer wohleingerichteten
Republik gehalten werden", nun eS als die Pflicht der neueingerichteten Kollegien erklärte diese beiden Grundsäulen den Intentionen deS Königs
entsprechend zu stützen und aufrecht zu halten.
ES erfolgte dann die Ver
eidigung der Mitglieder und eine Dankrede deS zweiten Präsidenten von
Beneckendorf schloß die Feier***), die sich dann wenige Tage später in Glogau noch einmal wiederholt.
Die eigentlichen Regierungsgeschäfte vornehmlich die Steuer- und Domänenverwaltung fielen den beiden Kriegs- und Domänenkammern in
Breslau und Glogau zu, welche schon mit Ende November 1741 ins Leben
*) Diese Personalnotizen beruhen auf dem Etat von 1743 (gef. Nachr. III. 404 ff.), welcher gegen den Etat bei der Eröffnung (ebendas. II. 494) einige Veränderungen nachweist. *•) Schreiben vom 11. Oktober 1741 Brest. St.-A.
***) Beide Reden sind abgedruckt in den ges. Nachr. II. 549 und 666.
Die Einrichtung bet preußischen Herrschaft in Schlesien.
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getreten waren*).
Dieselben übernahmen
eigentlich
die Erbschaft deS
FeldkriegSkommissariatS, welches gleich nach dem Einrücken der Preußen in BreSlau eingerichtet worden war, und es wurden auch die beiden Geheimeräthe, welche dieses geleitet, Münchow und Reinhard zu Präsidenten
der neuen Kollegien ernannt, doch da die neue Provinz überhaupt nicht
dem Generaldirektorium, oder wie wir jetzt sagen würden, dem Ministerium unterstellt werden sollte, war eS ganz in der Ordnung, daß schon unter
dem 2. April 1742 ein eigner Minister für Schlesien ernannt wurde in
der Person deS bisherigen Kammerpräsidenten M.ünchow, eines SohneS jenes Küstriner Präsidenten, dem der König in trauriger Zeit viel zu
danken gehabt hatte. Derselbe hat dann sein wichtiges Amt bis an seinen
1753 erfolgten Tod bekleidet.
In Folge
dieser administrativen Selb
ständigkeit wurden denn auch die in der Provinz einkommenden Steuern
unmittelbar zur Deckung deS in Schlesien stattfindenden Militäraufwandes verwendet, nicht ohne eine Beihilfe aus dem Ertrage der schlesischen Domänen**). Als untere Verwaltungsbehörden hatten bisher für jedes Fürstenthum
einige Landesälteste fungirt.
Diese wurden schon Ende 1741 abgeschafft
und statt deren auf Grund der bereits in österreichischer Zeit vorhandenen
KreiSeintheilung für jeden dieser Kreise ein Landrath, in Summa 35 er nannt, zu denen dann später noch 16 für die oberschlesischen Kreise hin
zukamen***).
Sie wurden aus dem grundbesitzenden Adel genommen, und
es muß als ein bedeutsames Zeichen des Kredits, den die neue Regierung genoß, angesehen werden, daß obwohl die ersten 35 ja lange vor erfolgtem
Friedensschlüsse ernannt wurden, dennoch nur einer das ihm angetragene Amt ausschlug, wie wenig auch das Gehalt, 300 Thaler locken konnte.
Die schwierigste Aufgabe blieb natürlich die Regulirung der Steuer
verhältnisse.
Sie ward auf Grund sorgfältigster Erwägungen an welchen
der König selbst lebhaften Antheil nahm, noch vor dem Friedensschlüsse
also nur für Niederschlesien in der Weise gelöst, daß zunächst die Frage, ob
das,
was sich
als Durchschnittssumme der bisherigen Leistungen
Schlesiens herausstellte, auch für die Zukunft genügen könne, von Friedrich nach genauer Prüfung mit ja beantwortet wurde; eS waren dies in run den Summen etwa 1,880,000 Thaler.
Nachdem man hiervon die Do
mänenerträge in der Höhe von etwa 400,000 abgezogen erhielt man den
Rest von nicht ganz 1*/, Million Thaler als die Summe, um deren zweckmäßigste Aufbringung es sich handelte. ' Die Steuer war zwar den *) Patent vom 25. November 1741. **) Riedel preußischer Staatshaushalt. S. 115. ***) Die Namen in Kornö Edikten-Sammlung. II. 179.
Die Einrichtung der Preußischen Herrschaft in Schlesien.
5
Erträgen der österreichischen Zeit entnommen aber doch thatsächlich höher,
weil man damals unter allerhand Formen durch Gegenrechnungen ver schiedener Art rc. die Beträge zu mindern vermocht hatte, während nun
das Ganze wirklich eingetrieben werden sollte. Entsprechend der schon seit des Großen Kurfürsten Zeit in der Mark
eingeführten Einrichtung wurde die Accise auf die Städte beschränkt.
Nach
Abztig von deren Antheile (etwa einem Viertheile des Ganzen) und unter Veranschlagung dessen, waS dann etwa noch sonstige Gefälle z. B. die ländliche Gewerbesteuer ergeben konnten, wurde die Hauptmasse der auf
zubringenden Steuern vom platten Lande einer Grundsteuer überlassen, deren Normirung nun eine neue Katastrirung des gesummten Grund und
Bodens voraussetzte.
Doch war man in der günstigen Lage hierbei die
umfassenden und gründlichen Vorarbeiten benützen zu können, welche noch
in österreichischer Zeit für den gleichen Zweck gemacht worden waren, und
deren Tabellen in vierfacher Abstufung den Ertrag des Bodens wie den der sonstigen landwirthschaftlichcn Nutzungen verzeichneten. Von Münchow aufs Eifrigste gefördert ward daS Riesenwerk,
über
welchem seit zwei Decennien gearbeitet worden war, nun zu Ende geführt.
Nachdem man schon im Februar 1742 mit je einem niederschlesischen und
je einem mittelschlesischen Kreise (Schwiebus und Oels) den Anfang ge macht, ward man im Mai 1743 mit Niederschlesien außer Glatz fertig,
im Oktober desselben JahreS auch mit Oberschlesien, und Anfang No
vember trat auch die Grafschaft Glatz dazu*). Sehr ernstliche Erwägungen hat dann die Frage hervorgerufen, in welchem Maße die einzelnen Stände sich an den öffentlichen Lasten be
theiligen, welche Prozentsätze sie von ihren ermittelten JahreSerträgen an
den Staat abzugeben hätten.
Wie sehr hätte es dem Sinne des Königs
entsprochen, in diesem Falle wo er einen Staatshaushalt gleichsam aus
freier Hand einrichten zu können glaubte, nun gewisse allgemeine humane Prinzipien zur Geltung zu bringen, den bäuerlichen Grundbesitz möglichst
zu entlasten, ihn mit dem adligen auf gleiche Stufe zu stellen, so daß nur zwischen weltlichem und geistlichem Grundbesitz unterschieden würde, wo
dann der Letztere wegen seiner sonstigen Unproduktivität mit 65 Prozent herangezogen werden sollte, jener dagegen nur mit 28'/, Prozent.
Doch die realen Verhältnisse, wie sie nun einmal geworden,
ließen
sich nicht ignoriren und setzten den abstrakten Prinzipien wirksamen Wider stand entgegen.
Wohl mochte der König die Ritterschaften der nieder
schlesischen Fürstenthümer, welche gleich den Vasallen anderer alt branden*) Ranke 12 Bücher preußischer Geschichte II. 554 ff. hat hier sehr eingehende Notizen aus den Akten des Berliner Archivs.
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
6
burgischer Provinzen von den eigentlichen Steuern befreit zu sein verlangten, abschläglich bescheiden und den Traditionen des Feudalstaates den Haupt-
Grundsatz des modernen Staates entgegenstellen, daß sowie alle Ange
hörigen des Staates von demselben gleichen Schutz genössen sie auch alle ohne Unterschied ihn durch ihre Beisteuer schützen und erhalten müßten, wie ja auch er der König seine Domänen von der allgemeinen Besteuerung nicht ausnehme, aber schwer wogen doch die Vorstellungen seiner Räthe,
daß die schlesischen Bauern bet einem Satze von 28'/, Prozent nur halb soviel zahlen würden als die in Pommern oder in der Mark, und daß
bei dem eventuell für allen weltlichen Grundbesitz in Aussicht genommenen
Satze von 35 Prozent der schlesische Adel ungleich höher geschätzt erscheinen
würde als der der alten Provinzen. Auf das Eifrigste reklamirte natürlich der Klerus- und wenn er gleich mit der auf die uralten Exemtionsprivilegien gestützten Forderung voll
ständiger Steuerfreiheit schon deshalb nicht durchdringen konnte, weil man ihm nachzuweisen vermochte, wie sehr er auch unter der alten Regierung in Anspruch genommen worden war, so wehrte er sich doch erfolgreich
gegen den hohen ihm zugedachten Prozentsatz.
Der Fürstbischof machte
geltend, daß er von den 60,000 Thalern, welche er auS Preußen beziehe,
sein Konsistorium,
zahlreiche Beamten zu unterhalten habe; daß
die
Oekonomieverwaltung allein an 44,000 Thaler koste*), und von den geist lichen Gütern konnte man im Allgemeinen sagen, daß dieselben Gründe, welche vom nationalökonomischen Standpunkte allen Besitz der todten Hand wenig günstig erscheinen ließen,
doch auch auf der andern Seite dem
Stellerdruck auf dieselbe Schranken setzen mußten.
Solcher Besitz brachte
eben nicht das, was er in andrer Verwaltung hätte bringen können und hätte in der That jenen Satz von 65 Prozent schwerlich aufbringen können. Endlich wurde folgende Norm gefunden: übrigens durchschnittlich sollten steuern:
sehr
von jedem Hundert der
niedrig veranschlagten Ertragssummen**)
die königlichen Domänen, die fürstlichen und adligen
Güter, die Pfarr- lind Schullehreräcker 28'/, Prozent, der Fürstbischof 33*/,, der bäuerliche Grundbesitz 34, die Güter der geistlichen Ritterorden 40, die StiftSgüter 50 Prozent.
Thatsächlich hat eS sich so gestaltet, daß von
dem durch Steuern aufzubringenden Quantum die Städte durch ihre Accise 7, aufbrachten, die adligen und geistlichen Güter V5 und ebensoviel der
Bauernstand.
*) Ranke a. a. O. 559. **) Ein recht schlagendes Beispiel dafür führt Klöber Schlesien vor und nach 1740, II. 211 an; der schlesische Scheffel Weitzen war mit 24Sgr. angesetzt während er selten unter 2 Thaler herunterging.
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
Wenn der König hierbei die nach unsern Anschauungen
7 über die
immer fortschreitende Entwerthung des Geldes auffallende Versicherung gab, die Gesammtsumme der geforderten Steuer nie erhöhen zu w.ollen, so mußte dies die Grundbesitzer zur Melioration ihrer Besitzungen an
locken, eine solche erhöhte den Ertrag, nicht aber zugleich die Steuer, ver minderte daher thatsächlich den geforderten Prozentsatz.
Friedrich bewundernswürdig Wort gehalten.
UebrigenS
hat
Der Etat von Schlesien auf
etwa 3,265,000 Thaler festgesetzt, ist in den nächsten 30 Jahren durch alle
die Kriegszeiten hindurch nur um etwa 300,000 Thaler gestiegen.
Was
die Erhebung der Steuern anbetrifft, so waren Erlasse oder Verminde rungen derselben für den Fall von Kalamitäten, wie sie den Landmann zuweilen betreffen, ausdrücklich vorgesehen und sind häufig genug vorge
kommen.
Sonst aber wurden die Steuern mit einer Strenge eingetrieben
von der die österreichische Zeit keine Ahnung gehabt hatte. Der bei Weitem größte Theil dieser Einnahmen, drei Viertel der selben ward auf das stehende Heer verwendet, dessen Bestand Friedrich sogleich um 18,000 Mann vermehrte.
Zu deren Aufbringung und Kom-
plettirung diente die sogenannte Cantonverfassung, welche den einzelnen Regimentern (die Garde und die Husaren ausgenommen) bestimmte Kreise
zuwies, aus welchen die erforderlichen Mannschaften genommen wurden auf einem Wege, bei welchem die Werbung der zwangsweisen Aushebung
zu Hilfe kam.
Denn prinzipiell war allerdings eine allgemeine Dienst
pflicht im preußischen Staate eingeführt, doch zahlreiche Beschränkungen
ließen dieselbe thatsächlich nur bei jüngeren Bauersöhnen und der Jugend der unteren besitzlosen Volksklassen zur Anwendung kommen.
Die Stadt
Breslau und die 6 Gebirgskreise waren von jeder Werbung frei, letztere deshalb, weil der König der Leinenindustrie, welche hier ihren Hauptsitz
hatte, keine Arme entziehen wollte.
Die zwangsweise Aushebung auf Grund der Kantonsverfassung ward, wenn sie gleich namentlich im Verhältnisse zur allgemeinen Dienstpflicht einen nur sehr kleinen Bruchtheil der Bevölkerung heranzog, doch als eine den Schlesiern früher ganz unbekannte Last- schwer genug empfunden,
und an die in Folge davon hier und da erzeugte Mißstimmung richteten sich jene Worte aus dem nach Wiederausbruch des Krieges von Maria Theresia erlassenen Manifeste an die Schlesier vom 1. Dezember 1744,
Schlesien sei durch die EnrollirungS-KantonS in ewige Sklaverei versetzt worden, so daß kein Vater mehr über seine Kinder verfügen könne. Etwa zwei Drittheile der schlesischen Städte wurden mit Garnisonen
belegt in der Gesammtzahl von 35,000 Mann, und zwar wurden, da zu nächst nur in den Festungen für Kasernen gesorgt werden konnte, die
8
Die Einrichtung der preußische» Herrschaft in Schlesien.
Soldaten Lei den Bürgern etnquarttert und die Letzteren aus dem Servisfonds, zu welchem alle Städte ohne Ausnahme beitrugen, entschädigt.
In
den tz wie schon erwähnt von aller Einquartirung und Aushebung be
freiten Gebirgskreisen, ward zur Erhaltung der Ordnung und auch für den Kriegsfall zur Landesvertheidigung ein Regiment Miliz von 2000 Mann, das ausschließlich aus possessionirten Bürgern bestehen sollte, in Aussicht genommen*).
Die Lage des Soldaten in jener Zeit war wenig beneidenSwerth. Bei schwerem Dienste und einem so kargen Lohne, daß derselbe von dem
der alten Breslauer Stadtsoldaten weit übertroffen wurde, standen sie
unter einer wahrhaft eisernen Disziplin die doch vielfachen Excessen nicht vorbeugen konnte.
Denn wie sehr es auch begründet sein mag, daß in
keiner andern Armee der damaligen Zeit der Grad von Manneszucht herrschte wie in der preußischen, so dürfen wir doch nicht den Maßstab
unserer Zeit anlegen.
Und wer daS Breslauer Tagebuch des sonst so
gut preußisch gesinnten Steinberger durchlieft, staunt doch wohl über die große
Anzahl der von demselben verzeichneten hier in BreSlau
von
Soldaten verübten Verbrechen oder Vergehen, Diebstählen, am Häufigsten wohl in der Form des ohne Geld Kaufens, Trunkenheitsexcessen und der gleichen, während dagegen das Offizierkorps mit ganz vereinzelten Aus
nahmen eine musterhafte Haltung bewahrt zu haben scheint. Es ist nicht zu leugnen, daß jene Vorkommnisse, die sich natürlich
an andern Orten ebenso wiederholten, die Vorliebe, welche die Schlesier
anfangs den Soldaten entgegengetragen hatten, einiger Maßen abkühlten. Ganz besonders wurde auch über die Werbeoffiztere geklagt, gegen deren
Uebergriffe wiederholte Patente erlassen werden**), während dagegen doch auch die Schlesier ermahnt werden mußten, Jenen die Ausübung ihrer
Funktionen nicht zu erschweren oder sie gar zu behindern***). Man liest aus den Patenten ganz unverkennbar heraus den lebhaften Wunsch des Königs, seinen schlesischen Unterthanen die militärischen Institutionen als Erforder nisse deS öffentlichen Wohls darzustellen, an denen sie selbst ein unmittel bares Interesse, welche zu fördern sie eine direkte Verpflichtung hätten.
Ganz besonders erschien daS von Bedeutung gegenüber der Desertion,
welche trotz rigoroser Strafen namentlich unter den angeworbenen Soldaten
oft genug vorkam.
Hier kam es darauf an die Einwohnerschaft vorzüglich
auf dem Lande nicht nur von jeder Beförderung einer Entweichung, worauf der Tod stand, abzuhalten, sondern sogar zur werkthätigen Theilnahme *) Patent vom 16. März 1744. **) Vom 20. November und 25. Dezember 1741. ***) Patent vom 1. August 1742.
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
9
an der Wiederergreifung deS Flüchtigen anzuhalten und zu gewöhnen.
Wie streng man es grade hiermit nahm, mag man aus jener Aeußerung des ControverSpredigerS von St. Matthias in BreSlau entnehmen, der in seiner kapuzinerartigen Weise in der ersten Zeit der preußischen Herr schaft einmal predigte, die Schlesier hätten jetzt zu den 10 Geboten noch 3 neue hinzubekommen:
du sollst nicht räsonniren, du sollst die Steuer
zahlen und du sollst die Ausreißer von der Armee anhalten*).
Und nicht
ohne Erfolg waren die Beamten nach dieser Seite hin thätig, schon im
November 1743 vermochte Münchow zu berichten, wie selbst in Ober
schlesien bereits die Bauern anfingen den Regimentern gegen die Deser
teure Hilfe zu leisten**). Die schlesischen Festungen Glogau, BreSlau, Brieg und vornehmlich
Neiße hatte der König zum Theil noch während des Krieges durch neue Werke
verstärkt,
zu
dem
Fort
Preußen in Neiße ward
bereits
am
29. Mai 1742 der Grund gelegt, und zur Sicherung Oberschlesiens ließ
dann der König von 1743 an durch den von ihm hochgeschätzten Ingenieur v. Walrave das durch die Oder wie durch Sümpfe geschützte Kosel zur Festung
umwandeln.
Es mag hierbei noch bemerkt werden daß tut Herbst 1741
Feldmarschall Schwerin und noch eingehender dessen Adjutant Schmettau
dem König auf das Dringendste statt der projektirten Erweiterung der Festung Neiße lieber die Anlage - eines großen Waffenplatzes beim Ein
flüsse der Neiße in die Oder in der Gegend von Schurgast angerathen hatte, dieser Platz werde den Handel auf der Oder sichern und ganz
Oberschlesien auf beiden Seiten der Oder kommandiren, ein Plan der allerdings gemacht worden war zu einer Zeit, wo Oberschlesien noch nicht
preußisch war.
Der König geht damals auf denselben nicht näher ein
und äußert nur hinsichtlich der Festung Neiße, das Fortificiren allda sei seine Phantasie, und glaube er gute Ursache zu haben, daß er sich diese
Forttfikation was Rechtes kosten lasse***). Wenn wir nun an die kurze Skizzirung der Militärverhältnisse ein
Wort über die kirchlichen anreihen, so ist der Sprung weniger groß, als eS den Anschein haben könnte, denn auf keinem Gebiete des öffentlichen
Lebens haben die preußischen Waffen so schnell und unmittelbar gewirkt alS grade auf dem kirchlichen.
Brandenburg
Man muß an die älteste Zeit der Mark
zurückdenken, wo hinter den
nach Osten vordringenden
Heeren der Markgrafen immer sogleich die christlichen Missionäre her-
*) Kleine Bilder aus der Geschichte Schlesiens, Feuilleton der schlesischen Volk-zeitung. 1872. Nr. 248. **) Ranke 563. ***) Schöning, die 5 ersten Jahre Friedr. d. G. Volksausgabe 104.
10
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
schritten, um Analogien zu finden für die Erscheinung,
daß sowie die
Preußen nur ihren Einmarsch in Schlesien begonnen hatten, auch überall in
noch
den
von
ihnen
besetzten Landschaften
evangelische
Geistliche
angestellt wurden, um der evangelischen Einwohnerschaft den lang ent behrten oder nur mit meilenwciten Wanderungen zu erkaufenden Genuß
einer Predigt ihres Bekenntnisses zu gewähren.
Schon im Januar 1741
werden von dem Berliner Propst Reinbeck die ersten 12 dieser Geistlichen ordinirt, die 12 Apostel, wie der König selbst scherzend sie nannte.
ist
vollkommen
unrichtig,
wenn
man
von
denselben
sagt,
sie
ES seien
im Lande umhergezogen um für den Protestantismus Propaganda
machen*).
zu
Dieselben wurden vielmehr für ganz bestimmte Gemeinden
creirt, welche bisher eigene Prediger nicht hatten haben dürfen.
In dem
damaligen Hauptquartier vor Glogau-Rauschwitz wurden bald weitere 10 durch den dortigen Feldprediger ordinirt, und bis Ende 1742 waren an
200 neue Stätten für den evangelischen Gottesdienst geschaffen, wobei
allerdings vielfach irgend welche Säle, große Bauernstuben, Reitschulen,
Scheuern aushelfen mußten.
Keine einzige der vielen hundert Kirchen,
welche ein Jahrhundert früher den Protestanten weggenommen worden waren, wurde zurückverlangt, ja die Evangelischen mußten nach wie vor den katholischen Ortspfarrern alle Stolgebühren entrichten, und die Doti-
rung der neugegründeten evangelischen Pfarrsysteme fiel ebenso wie die Erbauung der GotteShänser ausschließlich den Patronen resp, den Ge
meinden zur Last.
Doch wurde an Orten, wo eine der beiden Konfessionen
eines Friedhofes entbehrte, die andere verpflichtet, den ihrigen ebenso wie die Benutzung der Glocken unter Zuziehung des nächstwohnenden Geist
lichen der betreffenden Konfession zum Begräbnisse zu
Die
gestatten.
Berfassung der evangelischen Kirche bestimmte eine unter dem 13. Septem
ber 1742 erlassene JnspectionS- und Presbhterialordnung.
Die Oberbe
hörde bildete das schon erwähnte Konsistorium, dessen Zusammensetzung
eS als Simultanbehörde erscheinen ließ. Bei Kindern gemischter Ehen galt als Norm, daß dieselben je nach
ihrem Geschlecht der Konfession des Vaters oder der Mutter folgen sollten, und eS existirt vom Jahre 1743 ein königlicher Spezialbefehl,
der in
einem einzelnen Falle, wo ein evangelischer Vater seine von einer katho lischen aber früh verstorbenen Mutter geborene Tochter evangelisch
er
ziehen lassen wollte, diesen anhielt sie zunächst katholischen Religionsunter
richt empfangen zu lassen, bis sie ad annos discretionis gekommen sich selbst
ihre Religion werde wählen können „maßen wir allen unseren
*) Theiner, Zustande der katholischen Kirche in Schlesien 1740—1758. S. 3.
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
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schlesischen Unterthanen, von was für Religion sie sein mögen, eine ganz
unbeschränkte Gewissensfreiheit zu gönnen und nichts, was einiger Maßen nach Gewissenszwangs schmecket, zu gestatten entschlossen sind*). Ganz
in
demselben Sinne war es nun
einer allerdings für jene Zeit ganz
auch,
daß fortan
mit
unerhörten Freisinnigkeit hier in
Schlesien den verschiedensten religiösen GlaubenSmeinungen Duldung ge währt wurde.
So durften die Reformirten, deren Bekenntniß seit dem
AuSsterben der Piasten 1675 hier nicht mehr geduldet worden war, jetzt in BreSlau ihren Gottesdienst wieder beginnen; 1743 schenkte ihnen der
König
sogar das ehemalige Generalsteuerhaus auf der Karlsstraße, an
dessen Stelle sie sich nun eine 1750 eingeweihte Kirche erbauten, auch in
Glogau richteten sie einen Gottesdienst ein. gierung
so
Den unter der vorigen Re
eifrig verfolgten Schwenkfeldern wurde durch ein Edikt von
1742 volle Duldung gewährt.
Auch utraquistische Böhmen
wanderten
schon 1742 in größerer Anzahl (an 1500) im Münsterbergischen ein, deren
Unterbringung anfänglich mannigfache Schwierigkeiten machte, und welche
erst allmählich und nachdem ihre Zahl bis auf 3000 angewachsen war,
sich zu einer Anzahl von Colonien zusammenfanden, so Tabor und Zizka bei Wartenberg, Hussinetz und Podiebrad bei Strehlen, Friedrichsgrätz bei Oppeln, Friedrichsgrund bei Habelschwerd **).
Auch die Herrnhuter oder böhmischen Brüder gründeten auf schlesischem Boden Pflanzstätten ihres Glaubens;
ihr
alter Gönner Ernst Julius
von Seidlitz auf Peilau bei Reichenbach, den die preußische Herrschaft erst aus längerer Kerkerhaft in Sauer um seiner religiösen Ansichten willen erlöst hatte, hielt schon 1742 in Breslau Gottesdienst, und auf seinem Gute Peilau sowie in Großkrausche bildeten sich die ersten herrnhutischen
Niederlassungen, denen bald andere folgten.
Der König ließ sie sogar
1746 in die Reihe der anerkannten Religionsgesellschaften, nicht bloß der geduldeten Sekten einreihen und gewährte ihnen Freiheit von der Wer
bung.
Selbst für die kleine griechische Colonie, welche vornehmlich der
Handel nach BreSlau führte, ward schon seit 1742 ein griechischer Gottes
dienst eingerichtet***).
Aus den ersten Jahren Friedrichs des Großen stammt jener ewig
denkwürdige Ausspruch: „in meinen Staaten kann Jeder nach seiner Fayon selig werden." Ganz in gleichem Sinne spricht er eS in einem Schreiben vom
29. Oktober 1741, mit welchem er die Unterwerfungserklärung des Fürst*) Hensel, schlesische Kirchengeschichte. S. 718. **) Beheim-Schwarzbach, Hohenzollernsche Kolonisationen. ***) Beheim-Schwarzbach a- a. O. S. 352.
S. 338.
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Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
bischofs von Breslau beantwortete, auS:
„Da die ungestörte ReligionS-
übung nach der Meinung der Menschen einen Theil ihrer Glückseligkeit ausmacht, werde ich nie von meinem festen Entschlüsse abgehn, jede Re ligion in ihren Rechten und Freiheiten zu erhalten.
Die Zänkereien der
Priester gehören nicht zum Ressort der Fürsten" und Nichts, fährt er dann weiter fort, werde ihn jemals verführen, Partei z»t ergreifen zwischen den
verschiedenen Religionsgesellschaften, welche fast immer auS Fanatismus
und Thorheit wüthend gegen einander seien*). ES verdient wohl betont zu werden, daß
dieser Grundsatz
unbe
schränkter Glaubensfreiheit etwas wesentlich Neues war, den zu voller Geltung zu bringen eigentlich noch nie ein Herrscher versucht hatte; und eS war kein Wunder daß dieser Gedanke doch vielfach Bedenken erregte.
In den Kreisen der evangelischen Geistlichkeit hielt man ohnehin da für, daß der neue protestantische Herrscher für seine Glaubensgenossen zu wenig thue, daß die Protestanten doch Ansprüche hätten auf Zurückgabe
der in der Zeit der jesuitischen Reaktion so massenweise weggenommenen Kirchen, man trennte sich überhaupt in diesen Kreisen sehr ungern von der doch im Stillen immer gehegten Hoffnung, eS werde nun der Spieß
nmgedreht werden und der evangelischen Kirche die Rolle der ecclesia dominans, der herrschenden Kirche zufallen**). Man beklagte sich, daß nicht
gleich von vornherein alle den Protestanten präjudizirlichen Verordnungen aufgehoben worden seien***).
Die Verpflichtung zur Weiterentrichtung der
Stolgebühren an die katholischen Pfarrer erschien unbillig, und die Dul dung aller möglichen Sekten widersprach gradezu den Anschauungen auch
der gebildeten Kreise,
so
daß selbst ein so gutgesinnter und dabei so
intelligenter Mann wie unser Steinberger daran Anstoß nahm.
Noch weniger war natürlich die katholische Geistlichkeit zufrieden, bei welcher der König trotz aller seiner Bestrebungen volle Unparteilichkeit zu
zeigen, und obwohl er die von ihm gehegten Befürchtungen, er werde nach
dem
Beispiele anderer protestantischer
Fürsten die reichen Güter der
schlesischen Stifter einziehen f) ebensowenig erfüllt hatte wie die Hoffnungen *) Angeführt bei Mommsen, Friedrich der Große und das katholische Vikariat in Berlin, Preußische Jahrbücher 1877 S. 145 Stint. **) Falch: was sich die Schlesier vom alten Fritz erzählen S. 32 berichtet, wie der König am 3. November 1741 bei seiner Durchreise durch Brieg den Ausdruck herrschende Kirche, den der Superintendent Lesser in seiner Begrüßungsrede gebraucht, sehr ent schieden znrückgewicsen habe. So wahrscheinlich die Geschichte an sich wäre, so ist doch die Quelle allzu unzuverlässig. ***) So Pastor Scharff nach der Huldigung der Schweidnitzer am 15. August, Eollectaneen vom 1. schlesischen Kriege im Breslauer Staatsarchive. t) Mit dem Hinweis auf den aus solchem Verfahren für die katholische Kirche er wachsenden Schaden suchten österreichische Unterhändler im Oktober 1741 die fran zösischen Staatsmänner zu gewinnen. Wiener Staatsarchiv.
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
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seiner Glaubensgenossen die einst im XVII. Jahrhundert von der öster reichischen Regierung weggenommenen Kirchen xurückzuerhalten, nicht allzu
viel Dank erntete.
ES war natürlich, daß man in diesen Kreisen einen
katholischen Landesherrn vorgezogen haben würde, und deshalb der österreichi schen Regierung jetzt eigentlich mehr Sympathien nachtrug, als da man noch
unter ihr stand; aber es konnte doch kaum bestritten werden, daß der König von Preußen ihrer Konfession mehr gewährte als je ein Landesherr an dersgläubigen Unterthanen zugestanden hatte.
Freilich waren die Herren
damit noch nicht zufrieden und beschuldigten den König, den Paragraphen deS Breslauer Friedens, der bezüglich der katholischen Kirche die Aufrecht erhaltung des Status quo forderte, durch die den Protestanten gewährte
Religionsfreiheit verletzt zu haben*), um so mehr, da er nun auch noch anderen Sekten Duldung gewähre.
Wohl mochte eS ihnen unangenehm
fein, daß, wie sie in einer Beschwerdeschrift anführen, in den ersten zwei Jahren der preußischen Herrschaft 6000 Katholiken ihrem Glauben untreu
geworden waren, aber es hieß doch wohl ju todt gehn, wenn man dafür den König verantwortlich machen und diesen hindern wollte seine Glau bensgenossen auö dem bisherigen Druck zu erlösen, als ob das Recht einen solchen Druck auszuüben wesentlich zu dem Status der katholischen Kirche gehöre.
Wie fern übrigen« Friedrich eine prinzipielle Feindschaft gegen die katholische Kirche gelegen, dafür spricht auch schon die Thatsache, daß wäh rend aus dem Kreise der evangelischen Geistlichkeit, wenn man nicht Jordan dazu rechnen will, kaum Jemand sich rühmen durfte, dem Könige näher
getreten zu sein, die- sich doch von einigen höheren katholischen Geistlichen sagen läßt, so z. B. dem Prälaten des MatthiaSstifteS zu Breslau Daniel
Schlecht, dem Abt von Kamenz später von Leubus, Tobias Stusche.
Eine
Thatsache, welche begreiflicher wird, wenn wir erwägen, daß in jener Zeit bet dem höheren katholischen Klerus gar nicht selten neben seinen gesell
schaftlichen Formen ein freierer weiterer Gesichtskreis angetroffen wurde als bei ihren evangelischen Amtsbrüdern,
deren starre Orthodoxie den
König sehr unsympathisch berührte. Nicht unempfindlich für das Schmeichel
hafte, welches Aufmerksamkeiten von so gewaltigem Herrscher gespendet für sie hatten, gaben sich dann jene Prälaten gern dem Zauber gefangen, den deS Monarchen Persönlichkeit so wohl auSzuüben verstand, trotz der üblen
Nachrede, die ihnen im Kreise ihrer StandeSgenoffen daraus erwuchs. Zu ihnen gehörte auch der Cardinal Philipp Ludwig von Sinzendorf,
seit 1732 Fürstbischof von BreSlau, ein Mann von feiner Bildung und *) Gravainina aus einem der Breslauer Stifter stammend. archiv P. A. VII. I. d.
Breslauer Staats
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
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einer gewissen leichtlebigen Bonhommte, deren Milde wohl zuweilen an
Wenn er früher als Bischof von Raab in Ungarn
Schwäche grenzte.
seinen so
kirchlichen
hatte
ihn
Eifer auch den Protestanten fühlbar gemacht
nun
das
Alter
milder
gemacht.
Hat
er
hatte,
doch
am
28. August 1742 allerdings schon unter dem Einflüsse des Königs einen Hirtenbrief erlassen, der zu friedfertiger Gesinnung mahnt, den Gebrauch deS Wortes Ketzer oder die schimpfliche Bezeichnung des Abendmahls nach
protestantischem RituS als „stoppen" verbietet, die Aeußerung christlicher Liebe hauptsächlich betont und zum Gehorsam gegen den König ermahnt*).
Die feindliche Haltung, welche er im Sommer 1741 gezeigt und
durch eine kurze Haft gebüßt hatte, war bald bei der persönlichen Be
kanntschaft des Königs gewichen, für dessen Auszeichnungen er keineswegs unempfindlich war.
Er hat bekanntlich bei der Friedensfeier im Juli 1742
vor dem Könige die Festpredigt gehalten und demselben zu Ehren auch einen Ball im Bischofshof veranstaltet.
Ihn hatte Friedrich für daS neu zu begründende Generalvikariat in den königlichen Landen auSersehen.
auS dem
Bestreben,
fremden
Dieser Plan entsprang wohl zunächst
vor Allen österreichischen
Einfluß
von
Schlesien fern zu halten, ein bei dem immer noch gespannten Verhältnisse
zu Oesterreich sehr begreiflicher Wunsch.
Wenn eS einmal nicht j« ändern
wäre, daß der katholische Klerus sich nach der früheren Herrschaft eines katholischen Landesherrn zurücksehnte, so sollte wenigstens möglichst ver hütet werden, daß von Oesterreich auS, wo man doch die Wiedererlangung Schlesiens nie aufgegeben hatte, jene Gesinnung durch formell ganz legale Einflüsse immer weiter genährt und gestärkt würde.
Nun waren die Ver
bindungen der schlesischen Geistlichkeit mit Oesterreich noch sehr zahlreich. Die in Schlesien so zahlreich vertretenen geistlichen Orden hatten ihre
Oberen sämmtlich auswärts und zum größten Theile in Oesterreich; von
dem Domkapitel, ohnehin zumeist aus Nichtschlesiern bestehend,
hatten
mehrere noch in Oesterreich Kanonikate oder Pfründen, und wie der Bres lauer Bischof seinen Sprengel über einen Theil von österreichisch Schlesien auSdehnte, so standen umgekehrt Theile deS preußischen Antheils unter der
geistlichen Herrschaft der Bischöfe von Prag, Olmütz und Krakau. Recht im Gegensatze zu diesen Verhältnissen gedachte Friedrich eS
dahin zu bringen, daß wie er es selbst ausspricht, fremde ihm mit keinem Eide verpflichtete Personen sich nicht in die Angelegenheiten seiner Unter
thanen einmischen dürften**).
In diesem Sinne hatte sich der König be
müht die schlesischen Klöster von der Verbindung mit ihren ausländischen *) KornS Ediktensammlung (1742) 171. **) AuS der Instruktion für den Generalvikar vom 9. Februar 1743 bei Theiner I. 70.
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
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Oberen loszumachen, aber schließlich um nicht zu einem direkten Macht spruch greifen zu müssen, die schwierige Sache aufgegeben*).
Den Je
suiten gegenüber hat er zu dem eigenthümlichen Mittel gegriffen, Mit
glieder dieses Ordens aus Frankreich zu berufen in der Hoffnung, daß
diese bei allem kirchlichen Eifer doch wenigstens nicht direkt österreichische Sympathien zeigen würden; eine Maßregel die übrigens aus den ersten
Jahren der preußischen Herrschaft stammt, da auch die schlesischen Jesuiten bekanntlich in späterer Zeit durch vorsichtige Haltung des Königs Gunst
zu erlangen gewußt haben. Eine Controle über die Vermögensverwaltung der geistlichen Stifter
hat der König immer beansprucht und in diese sogar durch autokratische
Verfügungen vielfach direkt eingegriffen,
ihnen Pensionen
an
einzelne
Personen, oder auch wohl die Anlegung gewisser gewerblicher Institute,
welche er im öffentlichen Interesse wünschte, auferlegt, sie zu Versuchen mit irgendwelchen ökonomischen Verbesserungen angehalten ganz
besonders pflegte
die Ernennung
und dergleichen;
eines neuen Abtes nicht ohne
mannigfache Opfer abzugehen, denn da sich der König, auf das Beispiel anderer Souveräne namentlich des Königs von Frankreich gestützt,
ein
Ernennungsrecht für die höheren geistlichen Würden zusprach, so konnten
die
Wünsche der betreffenden Körperschaften oder vielleicht sogar Prä
sentationen einiger Kandidaten nur in Folge eines königlichen Gnaden aktes Berücksichtigung finden, und daß um einen solchen herbeizuführen Zugeständnisse oder Darbietungen nothwendig waren, verstand sich ebenso
von selbst, wie daß kein Widerspruch versucht wurde, wenn der König es
vorzog strikt von seinem Ernennungsrechte Gebrauch zu machen, so 1743, als des Königs Günstling Domherr Philipp Gotthard Graf Schaffgotsch
die Prälatur des Sandstiftes, oder 1747, als der bekannte Freund Friedrichs
Tobias Stusche zu der Abtswürde von Kamenz auch die von BreSlau erhielt.
Die eigentliche Veranlassung, daS
königliche Ernennungsrecht den
kirchlichen Corporationen gegenüber als bestimmten Grundsatz zu proklamiren, hat die Frage der Coadjutorwahl bei dem bischöflichen Stuhle zu BreSlau gegeben**).
Hier wo neben dem schwachen und kränklichen Cardinal-Fürstbischof
ein Domkapitel stand, dessen einflußreichste Mitglieder theils durch Fa milienverbindungen, theils durch Pfründen, die sie in Oesterreich besaßen,
mit diesem letzteren Staate verknüpft und schon deshalb dem preußischen *) Preilß. Geschichte Friede, b. Gr. Urkundenbuch. III. 110. **) Vgl. Lauer, die Ernennung des Gr. Schaffgotsch zum Loadjuter des B. ». Breslau schlesische historische Zeitschrift. IV. 225 ff.
Die Einrichtung der Preußischen Herrschaft in Schlesien.
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Regiments abgeneigt waren, hielt man es für nothwendig, schon bet Leb
zeiten des Cardinals diesem in der Person eines ihm treu ergebenen und jugendlich thatkräftigen Mannes einen Coadjutor zu setzen.
Friedrich hatte
dafür seit 1742 den Domherrn Philipp Gotthard auS der alten schlesi schen Familie der Grafen Schaffgotsch auSersehen.
Aber er fand große
Schwierigkeiten um so mehr, da die Persönlichkeit des Candidaten mancher lei Grund zu Einwendungen darbot.
Zunächst mußte, da dem erst 27 jährigen Grafen noch 3 Jahre zu dem Alter der Eligibilität fehlten, ein päpstlicher DiSpenS beschafft werden, dann wurden mannigfache Klagen über Mangel
an kirchlichem Sinne
laut, den der Graf besonders auch durch seine eifrige Theilnahme an dem
Freimaurerorden bekundet habe, wofür er durch schriftlichen Widerruf und
Auslieferung der maurerischen Jnsignie deS Schurzfelles an den Bischof Genugthuung zu leisten hatte*), schlimmer noch waren Zweifel an seiner
Moralität, Beschwerden über leichtfertige Religionsspöttereien, welche daS Domkapitel bereit hatte, und über welche der König den Bischof selbst tröstet durch eine Hinweisung darauf, daß mehrere der geschätztesten Hei
ligen der Kirche in der Lage gewesen seien mit David zu beten, Herr verzeihe mir die Sünden und Fehler meiner Jugend und daß, wie er sich entsinne gehört zu haben, eS für einen Kirchenmann gut sei, in Be
treff der Sünden einige Erfahrung zu haben, weil er dieselben dann ab schreckender schildern und seine Heerde desto wirksamer zur Buße führen
könnte**).
Jedenfalls vermehrten sich die Schwierigkeiten dadurch, daß der Car dinal selbst dem Plane, ihm einen prticepteur, wie er es nannte, zur
Seite zu setzen, durchaus abgeneigt war***), wenn er gleich dem Könige gegenüber es vorzog, die Schuld auf den Papst und das Domkapitel zu
schieben und z. B. auf das so höchst charakteristische Aviso in einem Briefe Friedrichs vom 23. December 1743:
„Der heilige Geist und ich haben
zusammen beschlossen, daß der Prälat Schaffgotsch zum Coadjutor
von
Breslau erwählt werden wird, und wer von Ihren Canonikern dem wider strebt, verdient als eine dem Hofe von Wien und dem Teufel ergebene
Seele, für ihre Widersetzlichkeit gegen den heiligen Geist den schwersten Grad der Berdammniß", auf den Ton eingehend antwortet: „DaS enge
Einverständniß zwischen dem heiligen Geist und Ew. Majestät war mir neu,
ich wußte da nur von einer angeknüpften Bekanntschaft,
wünsche
*) den 25. August 1742 A. Thciner, Zustände der katholischen Kirche in Schlesien 1740—1758 S. 42. **) Anführung bei Mommsen a. a. O. 148 Anm. ***) Theiner I. 104.
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
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aber, daß Jener dem Papst und den Domherren Eingebungen, die unsern Plänen günstig wären, senden möge"*). Indessen blieb der König hier fest bei seinem Willen, und wie ernst
er doch die Sache nahm, zeigt am Besten seine Aeußerung in einem Brief an den Cardinal, daß, wenn es kein anderes Mittel gäbe,
den
Papst hier zur Raison zu bringen, dieselben Grenadiere, welche den Kur fürsten von Brandenburg zum souveräneil Herzog von Schlesien gemacht
hätten, auch im Stande sein würden, für das Bisthum Breslau einen Coadjuior, wie er ihn wünsche, wählen zu lassen**).
Daher ward, ob
wohl der Papst den für erforderlich erachteten Diöpens nicht ertheilte und das Domkapitel ohne einen solchen nicht vorzugehen zu können erklärte,
die Sache doch in der Weise entschieden, daß die Domherren zum 16. März 1744 zusammenberufen wurden, ad audiendum verbum regium, ihnen dann der Minister
wo
von Münchow eröffnete, daß der König den
Grafen Schaffgotsch zum Coadjutor des BiSthums Breslau ernannt habe,
zugleich aber auch überhaupt das Wahlrecht der kirchlichen Corporationen für aufgehoben erkläre.
ES ist nicht einmal zu einem Proteste der Domherren gekommen, Graf Schaffgotsch ist Coadjutor, cum spc futurae electionis und 1748
Fürstbischof von Breslau geworden, hat aber als solcher bekanntlich die Erwartungen des Königs gründlichst getäuscht.
Minder durchschlagenden Erfolg hatte der König bei dem seiner Trag weite nach noch ungleich bedeutungsvolleren Unternehmen,
das er dann
noch vor dem Abschlüsse des Breslauer Friedens in Angriff nimmt, näm
lich dem Plane eines General-Vikariats für alle in seinen Landen woh nenden Katholiken, dessen Träger von ihm ernannt und ihm, durch einen
Eid verpflichtet, die höchste Instanz
für alle geistlichen Angelegenheiten
bilden sollte, in einer Ausdehnung, welche der päpstlichen Autorität kaum noch einen Spielraum
ließ sich zu äußern.
Auch für alle die Klöster
sollte der neue Generalvikar an Stelle der auswärtigen Obern, denen der König kein Recht in seinen Landen mehr einräumen wpllte, die oberste
Instanz bilden. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Urheberschaft dieses Planes dem
Großkanzler Cocceji gebührt, welcher schon unter Friedrich Wilhelm I. um'S Jahr 1732 den Plan eines geistlichen Vikariats für alle Katholiken (ur
sprünglich für den ganzen Umfang des preußischen Staats beabsichtigt, dann aber auf die Lande beschränkt, bei denen nicht besondere Verträge
*) Anführung bei Mommsen a. a. O. 148 Anm. **) Mommsen a. a. O. 155 Anm.
Preußische Jahrbücher. Bd. XLVL Heft 1.
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Die Einrichtung der Preußischen Herrschaft in Schlesien.
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Vorlagen) eifrig betrieben und für diesen Plan, der allerdings im Ein
zelnen nicht so weit ging, wie der von 1743, auch bei Papst Clemens XII. eine sehr entgegenkommende Haltung gefunden hatte*).
Damals hatte der König anscheinend aus Antipathie gegen die in
Frage kommmende Persönlichkeit das Ganze fallen lassen, jetzt nahm Cocceji den Gedanken wieder auf. Derselbe knüpft im Grunde an die unter den Reichsfürsten ausgebildete Idee des Territorialkirchenthums und da
mit an alte brandenburgische Traditionen an. Hatte doch der Große Kur fürst noch in seinem Testamente von 1676 seine Nachfolger ermahnt, die Reverse, welche seine Vorgänger Joh. Sigismund und Georg Wilhelm
bezüglich des Schutzes der Cleve'schen Katholiken den dortigen Ständen ausgestellt, treulich zu halten, macht aber diesen Schutz davon abhängig,
daß die römisch-katholischen Geistlichen in diesen Gegenden den Kurfürsten
allein für ihren supremum episcopum halten, wie sie allzeit die vorigen Herzöge von Cleve dafür haben erkennen müssen, des Papstes und der
Bischöfe Bullen, decretis und Befehlen nicht pariren, sondern sich einzig und allein an den Landesfürsten halten**).
In ähnlicher Weise enthielt doch auch der Plan Cocceji's kaum we niger als die Forderung, den König von Preußen, in dessen Auftrag der
Generalvikar die höchsten Jura circa sacra ausüben sollte, als summus episcopus anzuerkennen. DeS Königs kirchenpolitischen Anschauungen entsprachen nun eigent
lich solche auf dem Boden des Territorialkirchenthums erwachsene Pläne wenig genug.
In solchen Dingen
fragte er nicht allzu viel nach dem
historisch Gewordenen, sondern folgte seiner eigenen Ueberzeugung, und diese diktirte ihm in kirchlichen Dingen
eine große Zurückhaltung,
ein
Gewährenlassen bis zu dem Punkte, wo die Interessen des Staates mit berührt wurden.
Hier aber stimmte er dem Plane Cocceji's zu, vornehm
lich aus Rücksicht auf Schlesien, und weil ihm jener Plan geeignet schien,
manche der Fäden, welche die katholische Bevölkerung in seiner neuen
Provinz noch mit dem Auslande verbanden, abzuschneiden und so deren Zusammenwachsen mit seinen übrigen Provinzen zu fördern. Der Cardinal Sinzendorf, dem zunächst jene Stellung eines General vikars zugedacht war, ließ sich ohne Schwierigkeiten für ein Projekt, das ihm erhöhtes Ansehen, ausgedehntere Machtbefugnisse, größere Selbstän digkeit verhieß, gewinnen, und uns ist noch die Instruktion vom 9. Februar
*) Vgl. darüber M Lehmann, Preußen und die katholische Kirche seit 1640. und die Urkunden dazu. **) Ranke Genesis des preußischen StaateS-Analekten. 502.
S. 428ff.
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
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1743 erhalten, welche für den neuen Würdenträger ausgearbeitet war*). Doch fand
der ganze Plan, wie vorauszusehen war, bei Papst Bene
dikt XIV., wie entgegenkommend sich derselbe auch sonst in seiner milden
und wohlwollenden Art König Friedrich gezeigt hat, mannigfachen Wider spruch.
Allerdings war derselbe weit entfernt, den Plan ganz zurückzu
weisen, er zeigte sich vielmehr, nachdem die Sache einem Cardinalskolle-
fliunt vorgelegt worden war, bereit, auf den Plan einzugehen, allerdings unter gewissen Bedingnngen, welche im Wesentlichen auf die geforderte
Anerkennung der Dependenz deS Generalvikars von dem Papste als Ober haupt der Kirche hinauSliefen**).
Weitere Verhandlungen haben sich aber
dann vornehmlich um das Ernennungsrecht des Vikars gedreht, das der
Papst für sich in Anspruch nehmen zu müssen glaubte, und im Laufe dieser Verhandlungen hat endlich der König den ganzen Plan fallen lassen.
Es heißt, daß Friedrich eine Zeit lang daran gedacht habe, die Sache auch dem Widerspruche der Curie zum Trotz durchzuführen, aber er hat
es aufgegeben und hätte auch dann kaum dem Vorwurfe entgehen können, den Paragraph des Breslauer Friedens, welcher für die katholische. Kirche
die Erhaltung des Status quo festsetzte, verletzt zu haben.
Es ist wohl
auch möglich, daß er inne geworden ist, wie in dem ganzen Projekte etwas lag, was seinem Wesen und seinen Prinzipien im Grunde fremd war, und vielleicht ist es eben das, was Friedrich in den Coccejischen Ideen als
pedantisch tadelt***). ES handelte sich in der That doch darum, ob Friedrich wirklich den Gedanken, der in jenem Projekte unzweifelhaft enthalten ist,
um jeden Preis durchführen wollte, daß nämlich die den Katholiken zu
gesagte Glaubensfreiheit nur um den Preis gewährt werde, wenn die selben auf die Gemeinsamkeit, welche die hierarchische Gliederung Kirche verbürgt, zu verzichten bereit wären.
der
Gestehen wir eS, daß er
mit dem Verzichte auf jenen Plan nur den erleuchteten Regierungs-Prin zipien, welche so hell in dem Kranz seines Ruhmes strahlen,
treu ge
blieben ist.
Dagegen zeigen gerade diese Verhandlungen, daß, wenn er sonst von
der Höhe seiner philosophischen Weltanschauung auf die Gegensätze der Religionsparteien mit einer gewissen Gleichgültigkeit herabsieht, er dabei doch gegenüber den Schwierigkeiten, welche gerade die katholische Kirche
nicht vermöge ihres Glaubensinhaltes, sondern nur vermöge der äußeren Form ihres Organismus der modernen Staatsidee bereitet, keineswegs *) Bei Theiner a. a. O. I. 70. **) Das päpstliche Breve vom 4. Juli 1742 ist abgedruckt in den acta hist. eccl. VII. 206, ein ausführlicher Brief des Papstes an den Kardinal und dieser steht bei Theiner a. a. O. S. 87. ***) Mommsen a. a. O. 151.
Die Einrichtung der Preußischen Herrschaft in Schlesien.
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die Augen geschlossen hat,
und charakteristisch genug dafür ist die eine
Stelle aus der Vollmacht für Cocceji vom 26. März 1742: Wir zweifeln
keineswegs, Ihr werdet nach der tiefen Einsicht, die Ihr in die geistlichen Rechte sowohl als von denen Ränken der päpstlichen Clerisei besitzet, da gegen alle ersinnlichen praecautionen nehmen und die Sache dergestalt
zu fassen wissen, daß sothane Clerisei auf der einen Seite keinen gegrün
deten Anlaß habe sich zu beklagen, an der andern Seite aber außer Stand gesetzt werden möge, künftighin einige uns und unserem Staat oder auch
dem Publico präjudicirliche und gefährliche Absichten zu formen und aus zuführen*).
Nur in allgemeinen Zügen sind in dem Vorstehenden die Formen, unter denen sich die preußische Herrschaft in Schlesien einführt, geschildert. Diese Einrichtungen zeugen von dem erleuchteten Geiste, der ihr Urheber
war, und das ernsteste Streben landesväterlicher Fürsorge hat sie diktirt, aber wir mögen cs eingestehen, daß sie doch auch sehr durchgreifend waren.
Gar Vieles ist ihnen zum Opfer gefallen, die Jahrhunderte hindurch be wahrte schlesische Ständeverfassung ebenso wie die municipalen Freiheiten
sanken in Staub vor dem Willen des Herrschers, viele corporative Rechte und Privilegien
mußten sich beugen vor der Omnipotenz
des Staates,
selbst das starre Gefüge der Hierarchie wich an mehr als einer Stelle dem Drucke des weltlichen ArmeS.
Schwer empfand die große Menge den
unerbittlichen Zwang der Steuereintreibung, schwerer noch die ungewohnte
Härte der Wehrpflicht.
Nie waren in österreichischer Zeit die Nothwen
digkeiten des Staates dem Einzelnen so furchtbar ernst entgegengetreten, wie jetzt, und es ist wahrscheinlich, daß die große Mehrheit der Schlesier
dieselbe Beobachtung gemacht haben, die ein sonst wohlgesinnter Zeitge
nosse mit den drastischen Worten ausgedrückt hat, die brandenburgischen Hosen säßen doch noch viel enger, als die böhmischen.
Und doch hat der Historiker Nichts von einer ernstlichen Unzufrieden heit, geschweige denn von Gedanken einer Empörung gegen die preu
ßische Herrschaft, zu verzeichnen.
Schweres Elend ist über Schlesien ge
kommen, furchtbare Kriege haben seine Fluren verwüstet, aus tausend Wunden hat das Land geblutet, aber die Treue der Schlesier hat nie
gewankt, der große König ist nirgends populärer geworden, als in seiner neuerworbenen Provinz.
Das Vertrauen und die Zuneigung,
die ein
großer Theil der Bevölkerung ihm eigentlich vom ersten Augenblicke an entgegentrug, ist im Laufe der Zeit nur noch stärker und allgemeiner ge
worden.
Diese Wahrnehmung kann etwas FrappirendeS haben, nament-
*) Angeführt bei Mommsen a. a. O. 151 Anm.
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
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ltch wenn man daran denkt, wie in den österreichischen Provinzen die
Reformbestrebungen Josephs II., die im Grunde ja von einem ähnlichen Geiste getragen erscheinen, die Gemüther aufs Tiefste aufgeregt und mit Widerwillen gegen die Staatsgewalt erfüllt haben.
Mit dem Versuche zur Dlirchführung der Staatsidee über die alt
vererbten Vorrechte kühn hinwegzuschreiten,
sehen
den ange
wir dort
stammten Monarchen vollständig scheitern, hier den neuen Herrscher in dem Lande, das er erst mit den Waffen erobert, ohne eigentlichen Widerstand einen glänzenden Erfolg erzielen.
Wohl aber ist dieser Widerspruch zu erklären.
Zunächst wird man
hervorheben müssen, daß Friedrich, obwohl er mit manchen Stücken über die josephinischen Reformen hinausging, doch wieder andererseits von jener
stürmischen Gewaltthätigkeit, die das Vorgehen Josephs charakterisirt, die ihm
eigene
staatsmännische
Besonnenheit
zurückhielt.
Schwerer noch
dürfte in die Wagschaale fallen, daß in Schlesien der protestantische Theil
der Bevölkerung, bei welchem doch nun einmal die größere Summe von Intelligenz, Ansehen und Besitz war, in Friedrich den Erlöser aus schwerer
Glaubensbedrängniß verehrte, und den Gedanken einer Rückkehr unter den österreichischen Scepter
so
entschieden von sich wies,
sonstigen Unbequemlichkeiten der
daß
davor
alle
neuen Herrschaft zurücktreten mußten.
Vor Allem aber wird man sagen müssen, daß hier Nichts und Niemand
für das preußische Regiment so wirksam Propaganda gemacht hat, als der junge König selbst.
Von den Schlesiern, die 1740 lebten, hatte kaum Einer einen ihrer österreichischen Herrscher erblickt.
Seit König Mathias 1611 hatte keiner
derselben die schlesischen Grenzen überschritten, all der Zauber, den auS-
zuüben einem gekrönten Haupte damals noch viel leichter wurde als jetzt, hatte nie seine Wirkung gethan, bis jetzt König Friedrich
kam an der
Spitze eines stattlichen Heeres, im vollen Schmuck der Jugend, mit den
blitzenden Augen und dem herzgewinnenden Lächeln, mit Glanz und Ho
heit angethan und doch leutselig gegen Jedermann.
Durch ganz Schlesien
zog er an der Spitze seiner Truppen; von weit her strömten die Menschen
um ihn vorüber reiten zu sehen; die höchste Gewalt war keine leere Ab
straction mehr, sie war verkörpert unter die Augen deS Volkes getreten, man hatte wieder einen König und trug sein Bild im Herzen.
Von da
an woben sich still aber stetig Fäden von Liebe und Anhänglichkeit zwischen dem König und seinen neuen Untertanen.
Euer Abgott hat gesiegt, rief
am Abend von Mollwitz, ein österreichischer Officier, den Bauern eines Dorfes um Brieg zu.
Und als dann in immer steigendem Maße Friedrichs KriegSruhm
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
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die Welt erfüllte, da begegnete die Kunde davon bei den Schlesiern schon dem stolzen Bewußtsein, daß das ihr König sei, den die Welt so feiere,
und
der Antheil daran trug viel dazu bet,
die Menschen aufrecht zu
halten in den trüben Tagen des langen Krieges.
Der geplagte Bauer,
der schwer geschädigte Bürger, der mit entwerthetem Gelde überkärglich bezahlte Beamte, der in Schulden gestürzte Gutsbesitzer, sie Alle haben
in der Noth der Zeit mehr, als wir es uns jetzt vorzustellen vermögen, von dem Ruhm des Königs gezehrt und die durch Ueberlieferung bald ins Wunderbare gefärbten Nachrichten von seinen Siegen als die einzigen
Lichtblicke erkannt in dem grausen Dunkel jener Tage.
Und als dann
der Friede kam, da weihte gerade in Schlesien, dem Schauplatze so vieler Schlachten, so herrlicher Siege ein rührender Kultus rings das Land mit
Erinnerungen an den großen König.
Wer will all die Stätten zählen,
die hier in Schlesien an den alten Fritz erinnern, die Bäume,
unter
denen er gerastet, die Hügel, von denen er Umschau gehalten, die Häuser,
in denen
er gewohnt haben soll? Vor Allem aber war die Sage ge
schäftig, neben dem, was die wirkliche Geschichte bot, noch zahlreiche ro
mantische Erzählungen zu erfinden von merkwürdigen Gefahren, die der König bestanden und von wunderbaren Rettungen aus solchen Gefahren,
oft durch
die Hand eines sehr unscheinbaren Mannes
oder gar eines
Weibes.
Wie unwahrscheinlich auch diese Geschichten der Mehrzahl nach waren, das Volk glaubte sie und pflanzte sie eifrig fort.
Wohl liebt der Volks
geist derartige Erzählungen, er findet eine Art ausgleichende Gerechtigkeit
in dem Gedanken, das Leben eines Helden, der die Welt mit seinem Ruhm erfüllt, einen Augenblick in der Hand eines niedriggeborenen Mannes
zu sehen; aber was hier allen jenen altfritzischen Erinnerungen zu Grunde
lag, war doch an erster Stelle der Wunsch,
sich ein Andenken zu ge
winnen an den großen König und die engen Kreise des eignen Daseins,
die Umgebungen des täglichen Lebens zu weihen durch die Erinnerung an den Augenblick, wo ein Strahl jenes funkelnden Gestirns sie flüchtig streifte.
Und mit diesem Kultus des alten Iritz ist die Idee des Staates,
der Zusammengehörigkeit zu einem großen Ganzen, Patriotismus nennen,
eingezogen.
kurz das, was wir
erst recht eigentlich in die Herzen der Schlesier
In der Anhänglichkeit an den König haben sie das Band
gefunden, das sie zu größerer Gemeinschaft verknüpfte, in der Erinnerung an den alten Fritz sind sie Preußen geworden, denen verbunden, welche
gleich
ihnen die
schweren
und durchgemacht hatten.
aber ruhmreichen
Tage
mit durchgekämpft
Den Begriff des Vaterlandes, den Schlesien
Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.
23
vor 1740 gar nicht gekannt hat, des Vaterlandes, für welches dann 1813 unsre Jugend begeistert die Waffen ergriff, hat erst Friedrich den Schle siern geschenkt, und diesem Geschenke gegenüber fällt das, was er ihnen
genommen, und was er ihnen auferlegt, federleicht in die Waagschale.
So darf cs denn gesagt werden: Dem König, der den kühnen Ge danken der Gewinnung Schlesiens allein gefaßt und gleich bewundernS»vürdig mit dem Schwerte wie mit der Feder durchgeführt hat, und der
dann das Land in furchtbaren Kämpfen, man kann wohl sagen, mit seinem Herzblute behauptet, gebührt auch der beste Theil an der kaum minder
schwierigen Arbeit, das Land innerlich seiner Monarchie zu verknüpfen. Wie die Festungen des Landes, hat er die Herzen seiner Bewohner zu
erobern verstanden,
ohne doch je einem Haschen
nach Popularität die
Grundsätze seiner Politik zu opfern, und als er die Augen schloß, hatten die 4 Jahrzehnte seiner Herrschaft hingereicht, das Land, das 300jährige
Herrschaft nicht innerlich mit Oesterreich zu verbinden vermocht hatte, so
fest
au Preußen zu kitten, daß die schwersten Prüfungen,
welche der
Monarchie Friedrichs Vorbehalte» waren, die Treue der Schlesier nicht einen Augenblick zu erschüttern vermocht haben.
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die
Staatsverwaltung. Von
A. Pernice.
AIS Caesar OctavianuS im Jahre 27 v. C.
die
außerordentliche
Machtbefugniß niederlegte, mit welcher ihn, wie er selbst sagt, der ein
hellige Wille Aller bekleidet hatte, da schloß er endgiltig eine Aera blutiger Bürgerkriege, tyrannischer AusnahmSherrschaften und vergeblicher Restau
rationsversuche.
DaS erschöpfte und erschlaffte Reich wollte Ruhe nach
den Aufregungen, Drangsalen und Anstrengungen der letzten scchszig Jahre.
So lange hatten die Provinzen bald für die Eine bald für die Andere der um die Weltherrschaft ringenden römischen Parteien die Kosten der
ungeheuren Rüstung durch willkürlich abgenöthigte Steuern
aufbringen
müssen; so lange schon waren sie von den Statthaltern und Capitalisten umschichtig oder gleichzeitig ausgeplündert.
Immer wieder waren Rom
und Italien zu „Werkstätten der Grausamkeit" geworden:
wüsten Hochverrathsprozesse und
sie hatten die
die Jagd nach den flüchtigen Opfern
ansehen müssen; wiederholt hatten sie den schamlosen Handel mit den con-
siscirten Gütern der Geächteten erlebt, der ein Gründer- und Speculantenthum der schlimmsten Art großzog.
Die Bürger und die Provinzialen
waren massenhaft zwangsweise zu den Heeren ausgehoben; sie hatten die Schlachten der Generale mitschlagen müssen, die entschieden, wer sie als
König beherrschen sollte.
Die Welt sehnte sich nicht nach der Freiheit,
sie sehnte sich nach einem
geordneten
wohlwollenden Regimente, nach
gleichmäßiger und gerechter Besteuerung, nach einem zuverlässigen RechtSschutze.
Dies Alles schien der neue Herrscher dem Reiche zu bieten.
Erklärlich genug, daß er, der Gottessohn (Divi filius), als Weltheiland begrüßt wurde.
Er war, wie ein begeisterter Verehrer rühmt, der Frie-
denShort, der jedem das Seine gab, der die
überall losgebrochenen
Stürme sänftigte, der die Krankheiten heilte, an denen Hellenen und Bar-
25
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
baren litten,
der die Banden, welche den Erdkreis fesselten und be
drückten, nicht lockerte, sondern löste.
Niemals, sagt ein nüchtern ur
theilender Zeitgenosse, ist den Römern und ihren Unterthanen ein solch friedliches Glück und eine solche Fülle des Reichthums zu Theil geworden, als ihnen August seit seinem Regierungsantritte gewährt hat und ihnen
jetzt
sein Sohn und Nachfolger
Tiberius gewährt,
Muster in Verwaltung und Gesetzgebung nimmt.
der
sich ihn zum
Der Ueberschwänglich-
keit des griechisch gebildeten Ostens konnte Octavian eS nicht verwehren,
ihm Tempel und Bildsäulen, wie einer Gottheit, zu errichten. Nicht minder
aber
verkündigen die
italienischen Dichter
die Volksüberzeugung
von
Caesar, dem erlösenden Gottmenschen: „ein Gott hat uns diesen Frieden
gebracht"; ein Götterjüngling ist der zertretenen Welt zu Hilfe geeilt; die Himmlischen beneiden die Erde und ihn.
Der Dichter sieht ihn, wie er
in der Sternenburg der Götter thront und mit den Purpurlippen Nektar schlürft. — Und auch der römische Senat, der Träger der republikanischen Ueberlieferungen und der Sammelpunkt des alten Amtsadels, hatte alle
Ursache den Mann mit dem
Beinamen
des
Heiligen (Augustus) zu
schmücken, der die unumschränkte Gewalt in den Händen hielt und dennoch
die Herrschaft über das Gemeinwesen dem Rathe und dem Volke zurück gab, also die VolkSsouveränetät feierlich als Grundlage der Verfassung
anerkannte.
In der That:
Augustus
hat den Versuch gemacht, und
Tiberius hat ihn erneuert und fortgeführt, mit der bisher herrschenden Klasse, d. h. mit dem Senate, gemeinsam zu regieren.
„Den Gesetzen
wurde ihre Geltung, den Gerichten ihr Ansehen, dem Senate seine Hoheit (maiestas), den Beamten ihre Gewalt in früherer Weise zurückgegeben;
die uralt hergebrachte Staatsverfassung wurde wiederhergestellt."
Nur
ein neuer oberster Beamter tritt hinzu, und dieser nennt sich bescheiden den ersten Bürger (princeps).
Das Heer und die auswärtigen Ange
legenheiten nimmt er für sich vorweg; aber die Herrschaft über die Pro
vinzen und die Verfügung über den Staatsschatz wird getheilt, und die alte hauptstädtische Verwaltung
bleibt ganz wie sie zu republikanischer
Zett war. Der Versuch
der Kaiser
ist gänzlich
mißlungen.
Die
absolute
Beamtenmonarchie hielt nach 150 Jahren rechtlich, wie schon länger vorher thatsächlich ihren Einzug; er ist mißlungen, trotz dem unbegrenzten Ver
trauen, was daö Volk den beiden ersten Kaisern entgegenbrachte und be
wahrte, trotzdem unläugbaren Herrschertalente, das sie beide auszeichnete; er ist gescheitert an der politischen Unfähigkeit des römischen Adels.
Die Aemter der römischen Republik sind durchweg Wahl- und Ehren ämter, die alle nur Ein Jahr lang verwaltet werden.
Man kann diese
26
Die ersten römischen Kaiser, der Adel mit die Staatsverwaltung.
Einrichtung als Selbstverwaltung im ausgedehntesten Sinne des Wortes bezeichnen.
Die staatlichen Funktionen in Heer, Gericht und Verwaltung,
also Finanzen, Polizei, Bauwesen u. s. w., bis zu einem gewissen Grade
auch in Cultus, werden nicht von besoldeten Berufsbeamten, sondern von Ehrenbeamten wahrgenommen, welche keine theoretische und praktische Vorbildung zu haben brauchen. Der moderne Staat kennt diese Selbst
regierung in mannigfacher Gestalt und in verschiedener Ausdehnung gleich falls.
Das römische Wesen unterscheidet sich indeß von dem englischen
und deutschen so gänzlich, daß es schwer fällt, sich auch nur vorzustellen,
wie die Verwaltungsmaschine dort so lange und so erfolgreich hat arbeiten können.
Bei uns ist lediglich ein Theil der Verwaltungsgeschäfte den
Ehrcnbeamten überlassen: im Heere und im Gerichte sind durchaus die
Sachverständigen maßgebend, wenn wir auch Landwehrofficiere, Geschworene und Schöffen habe», und mindestens sind die obersten und centralen Ver waltungsstellen mit Berufsbeamten
besetzt.
In Rom dagegen
besteht
überhaupt kein Berufsbeamtenthum: nur ein gewisses Alter, nicht ein be
stimmtes Wissen wird für die Wahl als rechtliche Voraussetzung erfordert. Ja, es giebt gar keine öffentliche oder private Anstalt, in welcher der
jugendliche können.
Candidat
sich die
nothwendigen Kenntnisse hätte
aneignen
Lernen mochte er dadurch, daß er sich einem erfahrenen Staats
manne anschloß und ihm seine Künste ablauschte oder abfragte.
Die
meisten jungen Leute traten denn auch leidlich unwissend und unerfahren in das Amt ein.
Als ein wahres Phänomen wird berichtet, daß der
dreißigjährige Cato, ehe er das Amt des Schatzmeisters übernahm, erst einen
praktischen Cursus in der Finanzwissenschaft durchmachte.
Froh der frisch
gewonnenen Weisheit griff er dann auch in seinem Bereiche durch, mit ebenso viel Tugend als Selbstbewußtsein, wie das seine Art war.
Denn
natürlich mußte sich hier gerade jenes anonyme Schreiberregiment ein
nisten, das die Gefahr aller Selbstverwaltung ist.
Die Subalternbeamten
waren thatsächlich auf Lebenszeit angestellt und wurden wahrscheinlich für
ihre Arbeit geschult.
Seit Shakespeare ist der thörichte und unwissende
Friedensrichter, der ohne die Einflüsterung seines Secretärs sich nicht zu
helfen weiß, eine stehende Figur der englischen Lustspiele und Romane.
Bei den römischen Beamten reicht der Verstand auch vielfach nur so weit, wie der gute Wille des Schreibers, und namentlich die Kassenbeamten „regierten selber": sie hatten mit den jungen Schatzmeistern leichtes Spiel.
Eine weitere Eigenthümlichkeit des römischen Systems im Gegensatze zu unserem ist, daß dort die strenge Abgrenzung der den einzelnen zuge
wiesenen Geschäftskreise, die hierarchische Unterordnung der Behörden, der feste Jnstanzenzug ganz fehlten, die uns von jedem Staatswesen unzer-
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
OefterS ist dieselbe Befugniß
trennlich erscheinen.
27
oder Verpflichtung
verschiedenen Beamten übertragen, so daß nothwendig Collisionen entstehen
Bei Feuersbrünsten, die im vorneronischen Rom besonders ge
mußten.
fährlich waren, sind 19 Beamte verschiedenen Ranges gleichmäßig berufen, eine völlig unzulängliche Löschmannschaft zu befehligen; man konnte nur
im Interesse der Ordnung
auf den größten Mangel
an Pflichtgefühl
hoffen. — Jeder Beamte durfte den gleich- oder niedrigerstehenden Collegen
auf Anrufen oder von Amtswegen an der Vornahme von Amtshandlungen
verhindern, und der Tribun übt das VerbietungSrecht gegen alle.
Es
war ilvch verhältnißmäßig harmlos, daß der höhere Veamte dem Collegen
„die Volksversammlung abrufen", d. h. die Versammlung mitten im Vor
So widerfuhr
trage und ohne Angabe eines Grundes auflösen durfte.
es Cicero, als er am letzten Tage seines Consulats nochmals dem Volke deutlich machen wollte, wie er „Herrschaft und Freiheit"
gerettet habe.
Allein ebenso ließ sich auch die Aushebung, die Steuerausschreibung, der
Ausmarsch des Heeres hindern; ja Tiberius Gracchus schloß als Volks tribun in rein politischer Absicht die Gerichte, versiegelte die Staatskasse und niemand wagte zu widersprechen.
Den obersten Staatsbeamten und thatsächlich dem Senate ist eine
unerhörte Gewalt übertragen. Magistrate beschränkt.
halten sich
gegenseitig
In Rom und in Italien sind freilich die
Die mehreren
die Wage:
verliehenen gleichen Befugnisse
der Oberrichter ist
im Straf-
und
Civilverfahreu an den Wahrspruch Geschworener gebunden, und die Gleich
heit aller Bürger vor dem Gesetze verhindert von selbst Willküractc des Amtsmißbrauches.
Aber frei schaltet der Senat mit dem Staatsvermögen
und unumschränkt sind die Beamten in der Provinz.
Allerdings sind die
höheren Beamten alle durch die niederen Magistraturen hindurchgegangen,
sie haben jahrelang an den Senatsberathungen Theil genommen, sie sind deshalb regelmäßig erfahrene und geschäftsgewandte Leute.
Indessen die
eigentlichen Verwalter der Staatseinkünfte sind die jüngsten Beamten,
und die älteren werden von den politischen Angelegenheiten zu sehr in Anspruch genommen, als daß sie sich um den Staatshaushalt im einzelnen
kümmern könnten. wirthschaften.
wesen.
Sie sind
überdies gewohnt, aus dem Vollen
zu
In der Staatskasse ist seit Jahrhunderten keine Ebbe ge
Man sparte sich also die Feststellung der Einnahmen und Aus
gaben, in der Zuversicht, die lange Zeit nicht trog, daß ein Ueberschuß
vorhanden sein werde.
Man verschleuderte die Staatsdomänen, gab sie
in den letzten Zeiten der Republik zu Parteizwecken an Kleinbürger und ausgediente Soldaten, oder ließ sie vom Adel gegen verschwindend kleine
Abgaben in Besitz nehmen.
Daß die Steuern und Zölle an große Aktien-
28
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
gesellschaften verpachtet wurden, entsprach der Gewohnheit des gesammten Alterthums.
Man schaffte sich damit eine mühselige Einzelarbeit vom
Halse, erzeugte und nährte aber dafür eine gewissenlose Geldaristokratie,
deren Untereinnehmer, die Zöllner, hätten Heilige sein müssen, wenn sie nicht Sünder werden sollten. — Viel umfassender war die Macht der
Statthalter in den Provinzen.
Zur Zeit Neros noch erscheinen sie dem
Verfasser der Apokalypse als Könige, welche die Herrschaft nicht empfangen
haben, eine Zeit lang aber erhalten
sie die Gewalt von dem Thiere.
In der That: es sind Könige im Sinne des Alterthums,
Herren über
Rechtlich ist das
Leib und Leben, über Gut und Kräfte der Provinzialen.
Land eine Domäne des römischen Staats, der Statthalter der Amtmann, der Gericht, Heer und Verwaltung in seiner Hand vereinigt, um sie zu
bewirthschaften und auszubeuten.
Die Bewohner sind steuer- und frohn-
pflichtige Hintersassen, die man duldet, deren man sich aber auch wohl
entledigt, wenn sie unbequem zu werden anfangen.
Caesar verkaufte von
dem einen gallischen Stamme mit einem Male 53,000 in die Sklaverei, den anderen ließ er, um das Leben der römischen Soldaten zu schonen,
von den Nachbarvölkern ausrotten. Diese an die höchsten Aemter und den Sitz im Senate geknüpfte Macht und Herrschaft fiel ganz naturgemäß dem römischen Adel zu.
ist ein Amtsadel.
Das
Er setzt sich aus den Familien zusammen, die von Ge
meindebeamten und Senatoren abstammen.
Zum guten Theile sind das
uralte einheimische Geschlechter, welche ihre Geschichte bis auf die olympi schen Götter, auf vergötterte Heroen, oder doch auf einen der mit Aeneaö flüchtigen Troer zurückzuführen wußten.
gewesen.
Indeß die Nobilität ist nie spröde
Den Emporkömmling, wie MariuS, wie Cicero, sah sie über
die Achsel an, besonders wenn er schlechte Manieren hatte; aber bereits
seine Söhne und Enkel bestanden die Ahnenprobe.
Und
es fand sich
denn auch wohl ein gefälliger Stammbaummaler, der für die Anknüpfung
des Geschlechtes an einen Trojaner oder einen fabelhaften italischen Klein könig sorgte.
Zugleich aber vereinigen diese großen Häuser nicht blos
den ausgedehntesten Grundbesitz, sondern auch ein mächtiges bewegliches Vermögen; sie sind nicht dem Rechte, sie sind der gesellschaftlichen Stellung nach unbedingt die oberste Schicht des römischen Volkes.
In der Natur aller Selbstverwaltung ist es begründet, daß sie ein Fideicommiß der herrschenden Gesellschaftsklasse wird.
Wie ihr der Staat
das meiste gewährt, so darf er auch unentgeltliche Gegenleistungen fordern; und umgekehrt läßt sich nur hier der Gemeinsinn und zugleich die politische
Fähigkeit erwarten, welche nie die Sorge um das tägliche Brod begleiten. Und der römische Adel hatte voll begründeten Anspruch darauf, die Herr-
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
schäft zu führen.
29
Wenn es ein unzweifelhaftes geschichtliches Gesetz ist,
daß der Mann oder der Stand zur Leitung des Gemeinwesens befugt sind, durch die es geworden was eS ist; und wenn diese Herrschaft wohl
die Wirkung der geleisteten Dienste überdauern, niemals aber ohne solche
erlangt werden kann, so ruhten die Macht und der Einfluß des römischen Adels auf dem sichersten Fundamente.
Denn das römische Reich nach
außen und nach innen ist recht eigentlich das Werk der Aristokratie und des Senats.
Die Unterwerfung Italiens, die Zertrümmerung Karthagos,
die Erlangung der Weltherrschaft, das Alles ist nicht durchgeführt von
der Genialität einzelner hervorragender Männer; das Unternehmen, das der kleinen Landstadt fast wider Willen aufgenöthigt wurde, ist gelungen durch die schlaue Zähigkeit und thatkräftige Rücksichtslosigkeit, die daS be
zeichnende Merkmal der Aristokratenstaaten
alter und neuer Zeit
sind.
Und ähnlich im Innern: die Gleichheit aller vor dem Gesetze, daS klare, billige Recht und seine gesunde Fortentwickelung, die unparteiische Rechts
pflege, die Steuerfreiheit, das Aufblühen von Handel und Gewerbe, die
Einführung
griechischer
Bildung,
Kunst und
Wissenschaft:
alle
diese
Segnungen sind dem römischen Volke geworden seit jener glorreichen Re volution des Jahres 367, seit dem Jahre, in welchem der Kampf zwischen
den Stadtjunkern und den Neubürgern endigte und der neue Adel geboren wurde.
Es waren wirkliche Herrcngeschlechter, die 7,
12 Consuln und
ebenso viele Triumphatoren unter ihren Ahnen zählten, oder gar, wie die (Staubier, das Geschlecht des Kaisers Tiberius, 28 Consuln, 5 Dictatoren,
7 Censoren und 8 Triumphatoren. Es liegt auf der Hand, ein so eigenthümlich construirtes Regiment,
wie das römische, war nach allen Richtungen wesentlich bedingt durch den
Charakter der Regierenden.
Nur Selbstverläugnung der oberen Beamten,
Pflichtgefühl bei den niederen, Staatsgesinnung, gesunder Menschenver
stand und Mäßigung bei allen konnten ein Gemeinwefln zusammenhalten, wo auf der einen Seite die höchste Macht und die höchste Verantwortung
auf den Beamten gelegt waren und
wo andererseits die eingehendsten
Kenntnisse bei ihm vorausgesetzt, die angestrengteste Arbeit von ihm ge fordert werden mußten.
sche Aristokratie geziert.
Lange Zeit haben diese Eigenschaften die römi
Aber es war nichts
Augustus die Herrschaft übernahm.
mehr davon übrig, als
Und dennoch ist es kein unreifer po
litischer Idealismus gewesen, wenn er sich entschloß, die Regierung mit diesem Adel zu theilen.
Es war einmal der unverwüstliche,
aber sehr
natürliche Glaube an die Lebenskraft und die politische Befähigung der alten Geschlechter, dann aber der Mangel an anderen für die Regierung geeigneten Elementen.
30
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung-
Der zweite Stand
des Reiches,
der sogenannte Ritterstand,
war
nicht danach geartet, daß der Kaiser sich seiner statt des ersten als Stütze hätte bedienen können.
Ein eigentlicher bürgerlicher Mittelstand,
die
Pflanzschule des Beamtenthums, fehlte gänzlich. Der Krämer, der kleine
Handeltreibende, der größere Handwerker find vollständig in die engsten
Interessen ihres Fleckens oder ihres Stadtviertels versunken.
Der Ehr
geiz dieser Philister für ihre Söhne geht nicht über die benetdenswerthe
Stellung eines AuctionscommissarS oder höchstens eines Sachwalters hin aus.
Darum müssen die Söhne ein bischen Recht fürs Haus lernen;
denn dabei hat man sein Brot; einem harten Kopfe.
man kannS zu was bringen auch mit
Die Elemente dieser Klasse, welche weiter vorwärts
zu dringen suchen, sind theilweiS bedenklichster Art: Kriecher und Streber,
aus denen sich die gewerbsmäßigen Denuntianten ergänzen.
Die reichen
Angehörigen des Ritterstandes aber wenden sich mit Vorliebe dem Groß
handel und dem Bankgeschäfte zu; sie sind die Hauptträger der Ueber zeugung, daß man eS dem Gelde nicht anriecht, ob es aus dem Kote auf gehoben ist.
Als Finanzmacht eng unter sich verbündet, fühlen sie sich
unabhängig oder doch einflußreich genug, um auf die zweifelhafte Ehre
kostspieliger Magistraturen verzichten zu können.
ES hat einer sorgfältigen
Erziehung bedurft, ehe es gelungen ist, in dieser Gesellschaftsklasse Nei gung und dann eine feste Tradition für den Staatsdienst zu begründen. AugustnS begann das Werk sofort.
Er reorgantsirte den Ritterstand mi
litärisch ; er beförderte die reichen jungen Freiwilligen, die begreiflich gern
zu Pferde dienten, schnell zu Officieren und nahm sie dann in die CivilAber erst nach einem Jahrhundert konnte der adlich
verwaltung hinüber.
gesinnte Tacitus mit Recht darüber klagen, daß die Ritter das Uebergewicht in der Staatsverwaltung hätten.
juristische Vorbildung
Und noch später erst ist die civile
für den kaiserlichen Beamten
als gleichberechtigt
neben der militärischen Laufbahn anerkannt.
So war denn der Kaiser für'S erste auf Senat und Adel angewiesen;
ihn heranzuziehen entsprach
in der That den
gegebenen Verhältnissen.
Eines Adels kann kein Königthum, weder das legitime noch das usurpa-
torische, entbehren.
Der Erbkönig ist rechtlich wie thatsächlich der erste
Edelmann seines Landes, der Usurpator sucht eS zu sein.
Und hier ist
das Königthum einem der ältesten und erlauchtesten Adelsgeschlechter des
Volkes zugefallen.
Auch Cäsar fühlte, daß er sich mit Standesgenossen
umgeben müsse, unter denen er der erste war.
Aber mit jener rücksichts
losen Genialität, die ihn überall die Ueberliefernng durchbrechen ließ,
suchte er diese nicht unter den Senatorenfamilien, sondern ging daraus aus, sich neben ihnen einen glänzenden, aber nichtigen Hofadel zu schaffen.
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
31
Darum erneuerte er die längst verschollene Würde des Patriciates, das
alte Stadtjunkerthum, wie eö einst in den ständischen Kämpfen der Ge Augustus dagegen glaubte, wie seine
meinde eine Rolle gespielt hatte.
ganze Zeit, ernstlich an die besondere Weihe des blauen Blutes.
Mit
einem Vergleiche, der den zahlreichen Sportsmen unter seinen Lesern ein leuchten mußte, sagt Horaz: Von Starkem nur geht Starkes und EdleS
aus; Im Rosse lebt, im Stiere die gute Art Des Stamms, es kann des
stolzell Aars Brut Nimmer der zagenden Taube
gleichen.
Und seinen
Mäcenas erhebt er zu des EtruskerfürstenhauseS würdigem
Sproßen.
„Er ist ein Nach
Die adliche Abkunft erscheint an sich als Verdienst.
komme ausgezeichneter Männer; mag er selbst sein, wie er will, er ruht sicher im Schatten seines Stammbaumes.
Winkel
vom
Sonne
Wiederstrahle der
unbrauchbare Enkel
vom
Wie ein düsterer, dumpfiger
so
erhellt wird,
seiner Vorfahren."
Glanze
leuchtet
der
sagt
der
Das
liberale Philosoph in demselben Werke, in welchem er Milde und Güte
gegen die Sclaven als gegen „niedere Menschenbrüder" Tiberius
einen tüchtigen Mann
Stadtklätscher Der
Kaiser
art:
der
herausgefunden,
befördert, da
er
sei der
Hal der Spürsinn
Sohn
stamme von
sich
selber
ab;
Als der
eines
Preisfechters.
mit
der Redens
„verhüllte diese schmachvolle Herkunft"
Mann
empfiehlt.
sie war gerade witzig
genug, um das Geflüster verstummen zu machen. — Eine gemeine Ver
brecherin, Aemilia Lepida, die zur Zeit desselben Kaisers der Giftmischerei
und Kindesunterschiebung verdächtig ist, zieht in Begleitung vornehmer Frauen in'S Theater und erregt dort einen gewaltigen Sturm der Ent
rüstung im Publikum.
Man weint, tobt, verwünscht ihren Mann, den
Quirinius, der als alter saft- und kraftloser Mensch es gewagt hat, eine Dame von so adlicher Geburt heimzuführen, die Urenkelin des PompeiuS
und Sulla, die einst zu Augustus Schwiegertochter ausersehen war.
Und
dieser Quirinius war ein tapferer Soldat, Consular und Triumphator;
er wurde, als er bald darauf starb, von Staatswegen feierlich bestattet;
„viele aber konnten ihm den Prozeß der Lepida auch über das Grab hin aus nicht verzeihen". — Unter den vielen traurigen Ereignissen des Jahre«
33 erregte eins besondere Betrübniß; eine Dame des kaiserlichen HauseS heiratete in zweiter Ehe einen Consular, an dessen Großvater, einen ein
fachen Ritter, sich noch viele erinnerten.
Es ist der größte römische
Meister der Sprache und der Darstellung, der diese und ähnliche Ge
schichten in einem unnachahmlichen Zwischentone von
Objektivität und stillvergnügtem Behagen berichtet.
stolzer historischer
Wie mußten solche
Erzählungen deS Tacitus die Gesinnung der Leser befestigen und ver
breiten!
Und sie bestand weiter.
Noch im 3. Jahrhundert entschuldigt
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
32
sich der eben zum Kaiser erwählte Macrin beim Senate mit beweglichen
Worten ob seiner niedrigen Herkunft: mit den hochadlichen Kaisern Commodus und Caracalla sei man recht schlecht gefahren;
besser mit einem Roturier.
vielleicht gehe es
Jene hätten die Herrschaft wie ein Erbstück
gemißbraucht; er habe sie mühsam erworben und werde sie daher hegen und pflegen.
Eine Aristokratie, welche künstlich von den politischen Geschäften fern gehalten wird, verfällt unfehlbar der Opposition.
Augustus mußte aber
eine abgeneigte Stellung des Adels um so mehr zu vermeiden suchen, als dieser in dem letzten Verzweiflungskampfe der Republik eine überraschende
Lebenskraft entwickelt hatte; weniger freilich der Adel im Ganzen als in
einzelnen besonders befähigten Männern. nutzbar
Durch Einräumung einer Mit
so schien es, wurden die politischen Talente für den Staat
herrschaft,
gemacht und
die
Bildung
einer Oppositionspartei verhindert.
Augustus that Alles, um die Aristokratie regierungsfähig zu machen oder
zu erhalten.
Er schied vor Allem die vielfach höchst zweideutigen Ele
mente auS, die während der Bürgerkriege durch die Parteiführer in den
Senat gerufen waren.
winnen.
Der Stand sollte seine alte Reinheit wieder ge
Die Zahl der Senatoren wird auf 600 festgestellt:
ihre Fa
milien, d. h. auch wenn der Vater seinen Rang eingebüßt hat, ihre De scendenz
im Mannsstamme,
nehmen an den
Ehrenrechten
Theil,
die
Söhne tragen den adlichen Purpurstreif und besuchen das RathhauS, „um
sich an den Dienst für das gemeine Wesen zu gewöhnen".
Heiraten
der Senatoren und ihrer Söhne mit freigelassenen und bescholtenen Mäd chen, werden für
unzulässig
erklärt.
schlechter waren dünne geworden;
Männer ergänzen.
Allein die Reihen
der AdelSge-
man mußte sie durch Aufnahme neuer
Ein Gegengewicht gegen diesen bürgerlichen Zuwachs
suchte der Kaiser in der Einführung eines leidlich hohen Census.
Der
Senator mußte ein Vermögen von 72500 Thalern haben, sonst verlor
er seinen Sitz und damit seinen Rang. ganz neue Grundlage gestellt.
Dadurch ist der Stand auf eine
Die Idealbilder der guten alten Zeit sind
nun ein für allemal unmöglich geworden; jener Consular und Trium phator,
der die feierliche Gesandtschaft empfängt, während er am Herde
sitzt und sein kärgliches Mittagbrod umrührt; jener Dictator, der zur
Rettung des Vaterlandes vom Pfluge gerufen wird und nach Zerschmette
rung des Feindes zum Pfluge zurückkehrt.
Gerade umgedreht; von jetzt
ab sind die Senatoren auf die „höchste Zinne" der Gesellschaft gefielst
und sie müssen deshalb standesgemäß, d. h. mit dem gehörigen Aufwande leben und leben lassen. waltig.
Die unvermeidlichen Ehrenausgaben waren ge
Für Sklaven, Pferde und Wagen, für die ewig hungernde und
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
33
heischende Schaar von Klienten, die der Stolz jedes vornehmen Hauses
ist, für die Ausstattung von Festlichkeiten, Spielen und Thierkämpfen,
die das Amt mit sich bringt und wobei man eine scharfe Kritik aushalten
muß:
die Gladiatoren sind keinen Dreier werth, alte abgelebte Kerls,
zum Umpusten, das ist der Dank des Spießbürgers für das erhebende Schauspiel einer Schlächterei nach den Regeln der Kunst.
Die Ausgaben
steigerten sich mit den Ansprüchen des Publikums und dem natürlichen
Bestreben, es einander im Luxus und in der Eleganz des Auftretens zuvorzuthun.
So brach ein stolzes Vermögen nach dem andern zusammen.
Der Adel aber durfte sich nicht mehr, wie dereinst, damit begnügen über
Reiche zu herrschen;
sein.
es gehörte jetzt zu seinem Wesen, selber reich zu
Und so verstanden sich denn diese edelen Aristokraten zu dem, was
für eine Klasse von Privilegirten, die nicht arbeiten darf oder will, daS naturgemäße ist:
sie bettelten.
Die Kaiser werden mit Gesuchen über
schüttet, verarmten Senatoren den Sitz im Rathe zu erhalten. Natürlich
nahm der Adliche die Unterstützung nicht als Almosen, sondern als sein gutes Recht in Anspruch.
Der Senat, wie TacituS mehrfach mit Ge
nugthuung erzählt, vermerkte eine abschlägliche Antwort an einen StandeS-
Als häßliche Knauserei wird es angesehen, daß Ti
genossen sehr übel.
berius erklärte, er werde nur dann zuschießen, wenn die Bittsteller ihren Antrag im Senate gehörig rechtfertigten.
Es galt
als eine besondere
Leistung, wenn man in so verzweifelter Lage noch Anstand und Haltung
wahrte und seiner Würde nicht durch allzureichlichen Dank vergab.
ich bekomme nichts?
Und
fragte einer von diesen Herren statt alles Dankes
den Augustus, als diese 300,000 Rthlr. Schulden für ihn bezahlt hatte. Immer besser war eS noch, so wieder zu Vermögen zu gelangen, als durch systematische Ausbeutung des Staates.
Ihn betrachtete
der
Adel in republikanischer Zeit als einen Privatbesitz, den man für sich auS-
nützen dürfe und müsse.
Es bedarf keine Schilderung, in welch unsag
barer Weise die Provinzen von ihren Statthaltern auögeplündert wurden.
Aber Erpressung,
Raub, Bestechlichkeit und Unterschleife
dienten nicht
blos dazu, einem zerrütteten Besitze wieder aufzuhelfen; es sollten dadurch
auch häufig der vielfach nicht gemeine Kunstsinn oder die rohe Sammel leidenschaft auf wohlfeile Art befriedigt werden.
und
Denn selbst den fein
griechisch gebildeten Römer verläßt das merkwürdige Spar- und
Rechentalent seines Volkes nicht, das den Verschwender dem Wahnsinnigen
gleichachtet.
Und der böse VerreS hat seinen gesammten sicilischen Raub
sorgfältig im Rechnungsbuche verzeichnet.
Mit naiver Schamlosigkeit tritt
diese Auffassung zu Tage bei den sogenannten
freien Gesandtschaften.
Wenn ein Senator in Geschäften oder zum Vergnügen eine Reise machen Preußische Jahrbücher. Br. XI.VI. Hefti.
3
34
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
will, so läßt er sich als Senatsbote (legatus) verschicken.
Nicht einmal
der äußere Anstand wird gewahrt; kein Bestimmungsort wird bezeichnet,
kein Auftrag mitgegeben; ja Cicero findet es höchst unbequem, daß man nicht trotz der Gesandtschaft in Rom bleiben kann.
Der „Gesandte" er
hielt auf dieser Reise freie Beförderung und Unterhalt für sich und seine
Begleiter von Staatswegen, die Gemeinden, die er besuchte, mußten ihm sogar die Ehren erweisen, die einem Staatsbeamten zukamen.
Die ersten
Kaiser haben beide Mißbräuche nur beschränkt, nicht unterdrückt durch die Oberaufsicht, welche sie über alle Statthalter führten, durch die schärfere Rechtscontrole und durch das feste, ziemlich hohe Gehalt, was die Statt Die alte Vorstellung wurzelte zu fest, daß die Provin
halter bezogen.
zialen im öffentlichen und Privatinteresse beliebig geschätzt werden dürften: noch Tacitus wirft es einem Officiere vor, er habe Italiener wie An
gehörige eines ganz niederen Volkes behandelt.
Ein in seinen Vermögens
verhältnissen stark zurückgekommener Consular bittet den TiberiuS ganz harmlos, ihm
die Verwaltung einer Provinz zu übertragen;
als der
Kaiser das begreiflicherweise abschlägt, sieht er keinen andern Ausweg, als „freiwilligen Tod".
Aber sonst nahms der Kaiser mit den freien
Gesandtschaften und der Ausraubung der Provinzen nicht so genau.
In
der ersten Zeit mahnte er wohl: ein guter Hirt müsse die Schafe scheeren, nicht schinden; aber in seinen letzten Jahren, wo er in einer Art von
wahnsinnigem Ekel an der Menschheit die Sachen gehen ließ, wie sie
gehen wollten, meinte er: man müsse die Statthalter möglichst lange auf ihrem Posten lassen; satte Mücken stächen nicht so arg, wie hungrige. Der Erwerbstrieb schlug noch einen dritten Weg ein.
schöne Idee des
Augustus,
einen finanziell
Es war eine
unabhängigen Stand zu
schaffen, in welchem die adlichen Traditionen weiter leben und eine ge
steigerte Thätigkeit für den Staat Hervorrufen sollten.
Deshalb durften
die Senatoren mit sogenannten schmutzigen Geschäften sich nicht beflecken,
sie
sollten wesentlich Großgrundbesitzer sein.
Die
alten Verordnungen
gegen den Handels- und Gewerbebetrieb des Adels wurden erneuert.
In
dessen die stille Betheiligung an Handels- und Schiffahrtsgesellschaften
ließ sich nicht hindern; daß die Senatoren auf ihren Gütern industrielle Anstalten, z. B. Ziegeleien errichteten, mußte man dulden, und daß ein
Kapitalist sein Geld gegen möglichst hohe Zinsen ausleiht, liegt einmal, wenn nicht in der Menschen-, so doch in der Kapitalistennatur.
Ein
Versuch des Tiberius, den Wucher der Senatoren einzuschränken, verlief im Sande.
Den Seneca verhinderten seine stoischen Grundsätze so wenig,
wie einst den Brutus, Wucherzinsen von den Pronvinzialen zu nehmen und das Kapital rücksichtslos zu kündigen und beizutreiben.
&ic ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
35
Die vornehmen Herren hätten kluge Rechner oder sorglose Schulden
macher und dabei doch umsichtige Staatsmänner sein können.
Die Mehr
zahl aber war es nicht: die Politik war ihnen gleichgiltig geworden.
Es
genügte nicht, den Adel von jeder ernsthaften unpolitischen Arbeit fern
zuhalten, um ihn für die Politik zu gewinnen.
Man hätte ihm auch den
Geschmack an den Genüssen höherer und niederer Art verleihen müssen,
die den Menschen ausfüllen und befriedigen können. DaS war eine Un
möglichkeit.
ES ist natürlich, daß auch der Adel nach den Leiden, die gerade ihn so hart betroffen — denn wohl jede Familie zählte Angehörige unter den Opfern der Bürgerkriege — sich der Annehmlichkeit deS endlich gesicherten
Friedens mit vollem Behagen hingab.
Rom wollte sich vor allen Dingen
amüsiren, und eS gelang vortrefflich.
Zunächst unterhielt sich diese geistreiche, gebildete Gesellschaft mit sich
selber.
Sie war in fortdauernder Bewegung.
Besuche machen und em
pfangen nimmt einen großen Theil des Tages in Anspruch.
Denn die
Höflichkeit erfordert nicht bloß, daß Freunde und Bekannte bei Familien
festen, an Geburtstagen, bei Verlöbnissen, Hochzeiten, Mündigerklärungen
und bei feierlicher Gelegenheit, wie beim Amtsantritte, sich zahlreich mit
ihren Glückwünschen einfinden; auch ohne besonderen Anlaß muß man von Zeit zu Zeit seine Visite machen.
Und damit nicht genug.
Man
trifft sich an den verschiedensten Orten der Stadt, verabredet oder zufällig, in Hallen und Buchläden, im Bade und im Theater. verläuft mehr außer dem Hause, als drinnen.
Denn das Leben
Die Zahl der alten und
jungen Ardelionen, wie man sie nannte, die lediglich mit solchen Nichtig
keiten ihre Tage hinbrachten, war nicht gering.
Aber auch ernsthafte
Leute von Rang können sich diesem Treiben nicht entziehen; sie mußten sich, so klagt einer, umherjagen lassen auf den Wogen der Stadt und ihr
Leben vergeuden in unfruchtbarer Mühsal.
Unfruchtbar war freilich dies
Salongetriebe, wo" der parfümirte, sorgfältig frisirte Stutzer am Stuhle der Damen lehnt und ihrer DiScretion die neueste Liebesgeschichte anver
traut oder sie über den Stammbaum eines gefeierten Rennpferdes auf klärt; es kam für den Pedanten nichts heraus bei diesem Gespräche, das jede gründliche Behandlung
des Gegenstandes meidet,
und wie es der
rechten Cauferie gebürt, alle möglichen Dinge von der trivialen TageS-
neuigkeit bis zu den höchsten Fragen eben nur anstreift.
Unfruchtbar ist
sie gewiß, aber unterhaltend und anregend muß diese Geselligkeit gewesen
sein, wo jeder sich am Geiste des anderen erfreute und selber das Beste zu geben suchte.
Das erste, was bei dieser Art deS Verkehres in einer so redseligen
3*
36
Die ersten römifchen^Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
Stadt, wo man alle- wußte und alles beschwatzte, wo so viele Leute lieber den Kopf verlieren wogten als einen Witz, was sich da nothwendig ent
wickeln mußte, war eine ungeheure Fülle von Klatsch, Verleumdung und
boshafter Lästerung.
Die Neuigkeitskrämer, die genau wissen, „was
nachts der Fürst der Fürstin hat in'S Ohr gesagt", die den Inhalt deS
jüngsten Berichts vom Kriegsschauplätze schon kennen, ehe der Brief ge
öffnet ist, sind verhältnißmäßtg noch harmlos.
Viel ärgerlicher ist, die
Nachwirkung deS Lügenklatsches der hauptstädtischen überall in der Geschichtschreibung größte römische Historiker hält cs
„Welt", die wir
der Kaiserzeit spüren.
Selbst der
nicht bloß für nöthig, die Redereien
deS „Volkes" bei gewissen Anlässen ausdrücklich mitzutheilen, er ist ihnen auch stillschweigend oft genug gefolgt.
Und welcher Gemeinheit der Ge
sinnung, welcher Niederträchtigkeit in lügenhafter Verhöhnung diese elegante
Gesellschaft fähig war, wo sie haßte, daS zeigt die giftige Schmähschrift deS Seneca gegen den verstorbenen Kaiser Claudius,
desselben Seneca,
der auch die amtliche Leichenrede verfaßt hat: ich kenne in der klassischen,
lateinischen Litteratur nichts widerwärtigeres. Wer als Unbetheiligter dem Platze nahe steht, an welchem die Welt geschichte gemacht wird, der ist ohnehin geneigt, große Ereignisse auf
kleine Anstöße zurückzuführen.
„Laune
und Leidenschaft", sagt Laroche
foucault, „sind meistens die Ursache glänzender, das Auge blendender Hand lungen; wer kann sagen,
ob nicht das Ringen OctavianS und Marc
AntonS um die Weltherrschaft lediglich ein Streit der Eifersucht war?" ES bedarf eben einer gewissen zeitlichen und örtlichen Entfernung, um die Dinge im wahren Verlaufe zu sehen; und eS gehört in der unmittel
baren Nähe ein besonders klarer Blick dazu, das Gewebe der angeblichen oder wirklichen Beobachtungen über die maßgebenden Personen und ihre
gegenseitigen Beziehungen zu
entwirren.
In der Hauptstadt war der
guten Gesellschaft in den Fluten des persönlichen Geklätsches dieser sichere Tact verloren gegangen.
Und läugnen läßt eS sich nicht:
der Stand
punkt, von dem aus die persönlichen Verhältnisse in den Vordergrund treten, hat eine gewisse Berechtigung innerhalb eines vervetterten und
verfeindeten Kreises von Familien, domäne betrachten.
welche den Staat
als ihre Privat
In der That war der Tribun Sulpicius wesentlich
durch sein Zerwürfniß mit dem einflußreichen Hause der Julier in die demokratische Opposition gedrängt, die seiner altadelichen Abkunft und Gesinnung gar nicht entsprach; der heftige Haß des Clodius gegen Cicero ist wiederholt der Hebel wichtiger politischer Ereignisse geworden.
Unter
den Kaisern aber kam jene überlegene politische Weisheit auf, welche ihr
Urtheil auf die Anekdote und das Kammerdienergeflüster gründet, die
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
37
deshalb von allen denkbaren Motiven den Handlungen des Gegners den niedrigsten oder nichtigsten Beweggrund unterschiebt.
Die
Gesellschaft
bedurfte erklärlich schärferer Reizmittel
für ihre
Unterhaltung, als sie Salongeschwätz und Geklätsch auf die Dauer bieten,
schon um diesem, das doch immer der Mittelpunkt blieb, neue Nahrung zuzuführen.
Daß man
gut aß und jezuweilen stark trank,
daß
man
über die Kunst des Essens und Trinkens sich beim Essen und Trinken
verbreitete, versteht sich von selbst: daS gehört nothwendig mit zum an geregten und heiteren Beisammensein.
ES ist eine starke Uebertreibung,
wem, die zum Theil recht steifleinenen Satiriker und Moralisten der
Kaiserzeit den Luxus und die Verschwendung dieser Art gerade als etwas häßliches oder unsittliches brandmarken.
zen,
Die Dinge hielten sich in Gren
die, wenn nicht erträglich, doch jedesfalls nicht beispiellos
Jener Apicius, der die Kochkunst wissenschaftlich betrieb
Furcht Hungers zu sterben umbrachte,
als
sind.
und sich aus
er bloß noch 72500 Rthlr.
zu verzehren hatte, ist ein Narr, wieS ihrer zu allen Zeiten gegeben hat, kein Typus.
Viel bedenklicher sind andere Stimulantien.
Die Neigung
für Schauspiele und die Leidenschaft für Preisfechter und Pferde, diese
Sünden, sagt Tacitus mit Recht, sogen die Kinder schon mit der Mutter
milch ein.
Die Kleinen spielten Gladiator; in den Gesprächen der Er
wachsenen nahmen Theater, Wettrennen, Thierhetzen und Klopffechtereien
den breitesten Raum ein.
Das Hazardspiel ist in Rom verboten; eine
Börse in unserem Sinne gab es nicht; beim Würfeln waren Gewinn und Verlust nicht groß genug, um stark zu reizen.
Da bieten denn die
CircuSspiele den doppelten Vorzug, der Berauschung durch den bald stau
bigen, bald blutigen Sport in der prachtvollsten Ausstattung, und zu
gleich der Aufregung durch die hohen Wetten, die dabei üblich waren. Man begnügte sich nicht mit der Rolle des leidenschaftlich bewegten Zu schauers.
Senatoren und Senatorensöhne, sogar ihre Frauen und Töchter
suchten selbst als Helden der Arena oder durch ihre Anmuth im Ballet Lorbeeren zu erwerben.
Schon früher hatte dieser Mißbrauch so über
hand genommen, daß er nach Cäsars Tode durch Rathsbeschluß verboten wurde.
Man umging das Verbot: man ließ sich durch richterliches Er
kenntniß für ehrlos erklären, um ungeahndet auftreten zu können.
rius
mußte mit strengen Strafen einfchretten.
Gewiß
Tibe
bezauberte und
blendete die fremdartige Pracht und Ueppigkeit der CircuSspiele die Zu schauer.
Aber was diese vornehmen Herren und Frauen zu selbstthätiger
Betheiligung trieb, daS lag in ihnen. in Nero bis zum Wahnsinn steigerte.
Es ist die Genußsucht, die sich Die Begierde nach sinnlicher Er
regung, die zu den raffinirtesten Mitteln greift, und dabei die immer
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
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noch vorhandene überschüssige Kraft, die irgend einen Ausweg sucht. zauberhaften Feste sind
Diese
zu gleicher Zeit das Symptom und die immer
neue Ursache der genußsüchtigen Ueberspannung. Und wunderbar:
der Genußsucht geht eine überraschende, dauernde
Genußfähigkeit zur Seite. mählich Uebersättigung
Man sollte meinen, daß der Gesellschaft all
und Mattigkeit
sich
bemächtigen müßten, daß
Blasirtheit und weltschmerzlicher Lebensüberdruß
häufig wären.
Aber
keiner der Selbstmorde in den höchsten Klassen läßt sich darauf zurück
führen.
Nicht hier, sondern in den mittleren und unteren Schichten, wo
die Lehren EpikurS schon seit langer Zeit verbreitet waren, sind die ma
terialistische Weltanschauung und die Sehnsucht nach dem ewigen Nichts heimisch.
Trinkt Wein und küßt die Schönen;
Feuer und Erde raffen
das Andere hin, mahnte ein Grabstein, auf dem der Verstorbene, ein einfacher Bürger, mit dem Becher in der Hand abgebildet war.
Natür
lich mußte man auö der kurzen Spanne Zeit zwischen dem Nichts und
dem Nichts das leidlichste zu machen suchen. — Ganz anders ist die Le bensfreudigkeit der oberen Klassen.
Hier begegnet man den Materialismus
nur als wissenschaftliche Ueberzeugung und die Todessehnsucht als philo
sophische Doctrin.
Im Allgemeinen ist der Adel, seiner conservativen
Neigung entsprechend, gläubig.
der Unsterblichkeit.
Man hält fest an den Göttern und an
Gegen die Einzelheiten der Religion ist man ent
weder gleichgiltig, indem man doch die äußeren Formen beobachtet, oder
man vermittelt sich daS Walten der Götter philosophisch, wie es eben
gehen mag.
DaS Leben aber ist ihnen allen ein kostbares Gut:
„Gieb
mir zittrige Hände und Lähm' an Fuß mich und Hüfte, Buckel heft mir
und Höcker an, Lockre und höhle die Zähne:
Wenn daS Leben nur währt,
ist's gut; DaS erhalte mir, sollt ich Sitzen selbst auf dem Marterholz."
Biele elegante Herren werden diesen poetischen Stoßseufzer des MäcenaS so geschmacklos gefunden haben wie wir, wenige aber so schmählich, wie
Seneca, der ihn berichtet.
In der That, auch das Alter hatte noch seine
eigenen Genüsse, nachdem es sich vom Circus und vom Theater zurück gezogen hatte.
Denn man thut der vornehmen Gesellschaft Unrecht, wenn man sie
beschuldigt, ihr sei der Sinn für edlere Bestrebungen
Vergnügen untergegangen.
im
rauschenden
Mit Litteratur und Wissenschaft eingehender
sich zu beschäftigen, gehört in der großen Welt der ersten Kaiserzeit zum
guten Tone.
Aesthetische Fragen sind ein Hauptgegenstand der Gespräche.
Die Dichter werden begünstigt, befördert, belohnt: eö gab mehr als einen Mäcen.
Bei Tafel läßt man Poesien vorlesen, die „Welt" strömt nach
dem Sale, wo ein Dichter sein neuestes, noch nicht veröffentlichtes Werk
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Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
Es langweilt sich wohl einmal ein würdiger Con-
„recitirt" (vorliest).
sular dabei: das mag hingehen, wenn er es nur mit Anstand thut: man
bleibt sitzen bis zum Schluffe; man könnte ja auch einmal eine geduldige
Denn der gesammte Adel ist Dilettant in der
Zuhörerschaft brauchen.
Nicht bloß ungezählte boshafte oder frivole Epigramme laufen
Dichtkunst.
um; nein, man fertigt ganze Gedichte über die wichtigen Angelegenheiten des hohen Lebens:
vor allem über Küche und Keller, über die Wissen
schaft des Schwimmens und Schminkens und über die tiefsinnige Kunst
des Knöcheln«.
Zuerst wollte man sich hier wieder unterhalten.
Aber auch
würdigere Poesien gehen aus diesen Kreisen hervor; eS wurden ernsthafte
Studien nach griechischen Vorbildern gemacht, über die Technik und na
mentlich über die VerSbehandlung nachgedacht; die Form war eine Haupt sache, man dichtete ja für die empfindlichen Ohren des Salons.
ähnlich wird die Wissenschaft gepflegt, nicht zur Schaustellung, aus innerem Drange.
Und
sondern
Es werden aus Privatmitteln öffentliche Biblio
theken angelegt; vornehme Männer studieren und lehren die Rechtswissen schaft, wie Labeo und Nerva, oder schreiben Bücher über grammatische und antiquarische Gegenstände, wie Messalla CorvinuS, oder Geschichts
werke, wie Asiniuö Pollio und L. ArruntiuS.
Es wird üblich, mit Fragen
über die verschiedensten wissenschaftlichen Dinge, aus der Geschichte, der
Alterthumskunde, dem Rechte, der Philosophie sich brieflich an Sach verständige um Auskunft zu wenden.
Manchmal mag Neugierde oder
Eitelkeit bei dieser Briefftellerei mitgewirkt haben. sachliches Interesse die
Feder.
Aber meistens führt
Wegen einer Wortform, wegen
einer
dunkelen Stelle bei Varro und dergleichen correspondirt ein eleganter
Herr nicht, wenn er nicht wirklich verstehen und sich belehren will. Damit in diesem Bilde einer genußsüchtigen, überfeinerten,
an
maßenden Gesellschaft auch die letzten ergänzenden Züge nicht fehlen, so
ist sie erfüllt von einem tiefen,
rein theoretischen Sehnen nach einem
idyllischen, anspruchslosen Naturzustande, wie sie ihn sich auSmalt; so
schreitet feierlich durch ihre Reihen bald andächtig bestaunt, bald boshaft bespöttelt
der
philosophische
Tugendprediger
mit
seinen
herben
Er
mahnungen. Horaz und Tibull werden nicht müde, halb aus Ueberzeugung, halb
zum Ergötzen ihrer vornehmen Gönner die Genüsse des Landlebens und
das harmlose Dasein des Bauersmannes zu singen.
DaS frische Grün
und den sanftmurmelnden Bach, an dessen Ufer sich'S süß im Schatten
der säuselnden Platanen
schlummert, preisen sie
im Gegensatze
zum
Qualme und Getöse der Stadt; ihrer Ueppigkeit und Schwelgerei stellen sie das irdene Geschirr auf sauberem Tische gegenüber und das blank-
40
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
geputzte
Erbsalzfaß beim mäßigen Mahle, wenn eS etwa grünen Salat
am Festtage
giebt oder
einen Lammsbraten.
Und dazwischen
ertönen
die sanften Schalmeien der wettsingenden Hirten Virgils, die die feinsten
Gefühle fühlen und durch die anmuthigsten Anspielungen erfreuen.
Die Philosophie soll eine Erzieherin zur Tugend sein, vorzüglich
von dieser
ethischen Seite her erscheint sie der römischen Gesellschaft
beachtenswerth.
Deshalb wendet der Lehrer der Weltweisheit sich nicht
bloß an den Verstand des Zöglings, sondern auch an sein Herz.
Man
folgt dem Vortrage des geschulten Redners gern und mit Eifer, das Notizbuch in der Hand, man fühlt sich höchst angenehm ästhetisch und ge
müthlich angeregt, wie von einer erschütternden Musik, Behagen auf die eignen Laster und Sünden schelten.
man hört mit Freilich die we
nigsten gehen in sich und thun Buße. Der Philosoph, als Erzieher zur Sittlichkeit, ermähnt auch den einzelnen Schüler, selbst nachdem er bereits seiner Zucht entwachsen ist.
Senatoren lassen es sich gefallen, wenn sie
wegen nicht standesgemäßer Tracht getadelt werden.
der Philosoph
Einen Schüler schilt
über sein stutzerhaftes Wesen aus und er kömmt das
nächste Mal in bescheidener Toilette wieder.
Der Philosoph Favorin
beglückwünscht einen alten Zögling zu seinem Erstgeborenen, er hält bei dieser Gelegenheit der ängstlichen Schwiegermutter eine ganz unverschämte
Rede über den Gräuel des Ammenunwesens — wir besitzen sie noch — und er wird nicht hinausgeworfen.
Ja, der große Stoiker MusoniuS
RufuS tritt sogar zwischen die in Schlachtordnung aufmarschirtcn Truppen des VitelliuS
und
Vespasian
und beginnt
eine Ansprache
Segnungen deS Friedens und die Wechselfälle des Krieges.
über
die
Und selbst
er wird vor den wohlverdienten Püffen bet gereizten Soldaten geschützt und durch freundliches Zureden beschwichtigt.
Später zog man den Phi
losophen sogar als Erzieher der Kinder und als Berather für Alles ins Haus,
er mußte mit auf Reisen und ins Feld gehen.
ES putzte daS
Haus, ein solches Möbel: ein stattlicher, etwas steifer Mann mit grim migem Barte, nahm er sich vortrefflich aus, wenn er anständig ange zogen in den weichen Kissen der Schimmelkalesche lehnt.
Form der häuslichen Unterhaltung
Aber diese neue
tritt erst seit Ende des
1. Jahr
hunderts auf, und erreicht naturgemäß ihren Höhepunkt, als mit Marc Aurel die Philosophie den römischen Kaiserthron selbst bestieg.
Vorher
begnügte man sich den Bußprediger außer dem Hause zu hören.
Helden konnte ein solches Dasein nicht erziehen.
Mißgeschick und
körperliche oder geistige Leiden vermochten die adlichen Herren nicht zu ertragen.
Nicht selten sind daher Fälle von Selbstmord wegen schmerz
hafter Krankheit, wegen hoffnungsloser Vermögenszerrüttung.
Vor allem
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung. aber brechen sie zusammen,
41
wenn ihnen ein HochverrathSprozeß droht.
Eine strafwürdige Handlung des einzelnen Senators zu entdecken, und wärS auch nur eine unehrerbietige Aeußerung über den regierenden Kaiser, konnte dem Forschungseifer -der berufsmäßigen Angeber nicht schwer fallen.
Der Angeklagte wußte sich wohl regelmäßig schuldig und sah die Berurtheilung
durch daS
Senatsgericht
mit ziemlicher Sicherheit voraus.
Ein langwieriges, chicanöseS Verfahren, die Wahrscheinlichkeit, mindestens
aus Rom verwiesen zu werde», wo allein das Leben lebenswerth erschien: das ließ sich nicht aushalten.
Und dabei schmückt die stoische Philosophie
den Selbstmord mit allen Blumen ihrer Phraseologie: „Wenn die höchste Noth da ist, so scheidet der Weise auS dem Leben, um sich nicht mehr selber zur Last zu sein.
zu endigen.
zur Freiheit.
Wohin er blickt, findet er Mittel, die Leiden
Siehst du jene schroffe Klippe? Dort hinab geht der Weg Siehst du das Meer, den Strom,
ihrem Grunde wohnt die Freiheit. die Freiheit
hängt daran."
den Brunnen? auf
Siehst du jenen dürren Baumstamm?
Wer vermag
solchen Lockungen zu wider
stehen, wenn eS doch einmal mit dem Genießen vorbei ist? Das sind die Elemente, auS welchen sich der Senat zusammensetzt,
und mit diesem Neben die
unternehmen eS die Kaiser, die Herrschaft zu theilen.
alte amtliche Bezeichnung deS römischen Staats als „Rath
und Volk der Quiriten" tritt die andere „Fürst und Rath" in mancher Sie handeln bald gemeinschaftlich,
Beziehung als gleich berechtigte ein.
bald jeder für sich mit voller Wirkung.
Die formale Gleichstellung tritt
zuerst deutlich darin hervor, daß die Provinzen und die zum
großen
Theile auS ihrem Ertrage fließenden Staatseinkünfte halb dem Kaiser,
halb dem Rathe
überwiesen. werden:
seine eigenen Beamten.
Sie zeigt
jeder verwaltet selbständig durch
sich weiter darin, daß sowohl dem
Rathe als dem Kaiser die höchste Gerichtsbarkeit in Strafsachen zusteht,
daß eS also zwei oberste Instanzen giebt; der Theorie nach, die freilich nur in den Anfängen Caligulas und Neros praktisch
nämliche auch von den bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten.
wird,
gilt daS
Sie ist endlich
dadurch unzweideutig anerkannt, daß beide Gewalten mit der Befugniß
auSgestattet sind, welche im römischen Staatsrechte als sicherstes Kenn
zeichen der Souveränetät erscheint;
sie haben beide das Münzregal und
prägen in den ersten Jahren des Augustus nebeneinander Gold und Silber
geld.
Man darf es für eine folgerichtige Weiterentwickelung dieses an
erkannten Grundsatzes ansehen, wenn Tiberius die Wahl der Beamten der Volksversammlung entzieht und auf den Senat überträgt:
wie der
Kaiser sich seine Gehilfen selbst ernennt, so sollte auch der Senat die Magistrate anstelle», die ihn in der Ausübung seiner Hoheitsrechte unter-
42
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
stützte».
Damit war zugleich
ein anderer Erfolg erreicht.
Augustus
hatte wiederholt bei Wahltumulten gegen alle Ordnung persönlich ein greifen müssen.
ES lag ganz im Sinne des Tiberius, vor solchen Un
regelmäßigkeiten zurück zu scheuen.
Der Versuch deS Caligula, die BolkS-
wahlen wieder einzuführen, war eine der zahlreichen Thorheiten seiner ersten RegieruitgSjahre, welche die freudige Zustimmung der altgläubigen Republikaner fanden.
Ganz dieser Entwicklung gemäß hielt das Gesetz
gebungsrecht des Senats mit dem kaiserlichen gleichen Schritt.
Seit der
zweiten Hälfte der Regierung des Tiberius rücken die RathSschlüsse that
sächlich völlig an Stelle der Volksgesetze, und in der nämlichen Zeit be ginnen auch die Kaiser direkt und mittelbar die Fortbildung deS Rechtes zu beeinflussen. Der rechtlichen Gleichstellung deS Senats
entspricht die Art, wie
die Kaiser ihm begegnen und mit ihm verhandeln.
Tiberius äußert In
der Rathsversammlung: Ich habe sonst schon wiederholt gesagt: ein Kaiser, den ihr mit so umfassender Befugniß ausgestattet habt, muß, wenn er
Gutes stiften will, sich dem Rathe, der gesammten Bürgerschaft, ja häufig
dem Einzelnen dienstbar machen; es gereut mich nicht, das gesagt zu haben,
gehabt.
an euch habe ich stets gütige, einsichtige und huldvolle Herren Die rhetorische Uebertreibung liegt freilich zu Tage.
lich aber erkannte der Kaiser den Senat als ebenbürtig an:
Thatsäch „er erhielt
dem Rath und den Beamten ihre frühere Hoheit und Gewalt", er brachte im Senate sogar die Maßregeln über Aushebung und Entlassung von Soldaten zum Vortrage, er wollte, daß die Generale an den Senat be
richteten, ließ Senatsboten zu den meuternden Legionen am Rheine ab gehen, und verhandelte wiederholt mit dem. Rathe über Friedensschlüsse. Und dieselbe Haltung bewahrt der Kaiser im wesentlichen bis zuletzt trotz allen Wechselfällen, trotz aller Verachtung, die sich seiner mehr und mehr diesen Menschen gegenüber bemächtigte, die bald schmeichelten und hinterm
Rücken höhnten, bald sich verschwuren und offen murrten.
ES ist be
zeichnend für die Regierungswetse des räthselhaften Mannes, daß er dem Rathe seinen vollgemessenen Theil der Verantwortung aufbürdete, nach dem er einmal „die elende und mühselige Knechtschaft" deS Kaiserthums auf sich genommen, sich, wie er sagt, entschlossen hatte, den Wolf an den
Ohren zu fassen.
.
Daß Caligula und Nero, so lange sie als zurechnungsfähig gelten
können, dem Senate noch mehr entgegenkommen, ist bekannt genug.
Ca-
ligula trat zuerst „ganz demokratisch" auf; er erklärte die Herrschaft mit
dem Senate theilen zu wollen, er bezeichnete sich als Sohn und Pfleg ling des Rathes und ließ in der That Senat und Beamte ungehindert
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
selbständig schatten.
43
Aber nach sieben Monaten befiel ihn eine schwere
Krankheit und von dieser blieb ihm offenbar eine geistige Störung zurück.
Nero verkündigt in seiner Thronrede: Der Senat soll seine alten Ob
liegenheiten behalten; Italien und die Staatsprovinzen sollen unter der
Gerichtsbarkeit des Senats und der Consuln stehen, der Kaiser nimmt die Sorge für das Heer auf sich.
Man sieht, es sind die „Vorschriften
des Augustus", nach welchen er zu regieren verheißt.
Und so geschah eS
in den ersten Jahren unter der Leitung des BurruS und Seneca, die zur Adelspartei gehörten oder doch neigten, sehr gegen die Wünsche der Kaiserin
Mutter Agrippina. Von vornherein ist freilich bei dieser Zweiherrschast thatsächlich das materielle Uebergewicht auf Seiten der Kaiser. lichen
Befehle ist daS
Denn ihrem ausschließ
gesammte Heer untergeben,
ihnen
leisten die
Soldaten den Fahneneid, auch die in den Staatsprovinzen stehenden, sie leiten die Aushebung, ernennen die Officiere und zahlen den Sold.
mit hängt es
der Staatsdomänen an Private sich allein vorbehielt. heit,
Da
aufs genaueste zusammen, daß Augustus die Vergabung Die alte Gewohn
sie zu Gunsten ausgedienter Soldaten aufzuthcilen,
besteht weiter.
Die Veteranen verlangen Landbesitz; es ist bezeichnend, daß die niederen, wie die höheren Klassen das unbewegliche Kapital dem beweglichen vor
ziehen.
Unmöglich konnte der Kaiser die Macht aus
der Hand geben,
so willkommene Belohnungen lediglich nach seinem Gefallen zu gewähren.
Einer planlosen Verschleuderung des Staatsgutes ist dadurch allerdings vorgebeugt — die Kaiser des ersten Hauses sind durchgängig gute Wirthe;
— aber es ist ihnen ein außerordentlicher Vorzug vor dem Senate ein geräumt. Regimente.
Die Armee steht dann auch im Ganzen fest zum kaiserlichen
Der Statthalter von Dalmatien, CamilluS ScribontanuS,
sucht die Bürgerlegionen zum Abfalle von Kaiser Claudius zu bewegen: „er hält ihnen das Bild des Gemeinwesens vor und verspricht ihnen die
alte Freiheit."
Die Soldaten aber „fürchten neue Verwickelungen und
Veränderungen", sie verweigern den Gehorsam und zwingen ihren General zu Flucht und Selbstmord, während Claudius in Rom schon mit seinen Freunden zu Rathe geht, ob er nicht besser thue abzudanken. — Zur
kaiserlichen Partei gehörte außerdem selbstverständlich der Kleinbürger in Rom und den Landstädten Italiens, dessen Erwerb, ja dessen Existenz von der Erhaltung des innern Friedens abhängt, der sich deshalb überall der
Macht anzuschließen pflegt, die ihm Ordnung und damit materielles Wohl ergehen zu gewährleisten scheint.
Diese Klasse stellt die Büste deS Kaisers
in ihren Läden und ihren Werkstätten auf und illuminirt zu Kaisers Ge
burtstage.
Zu bedeuten hat diese äußere Huldigung für den Monarchen
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
44
wenig.
Die Gesinnung und die Kritik behielt sich der Krämer vor, und
eine wirkliche Unterstützung
in schwierigen Zeitläuften konnte dies der
Waffen entwöhnte Geschlecht nicht leisten.
Die
welche dem Kaiser
Mächte,
gegenüber
hinter dem SenatS-
regimente stehen, liegen ganz auf dem idealen Gebiete; eS wäre indessen
sehr unrichtig, sie zu unterschätzen. Republik für sich,
die dadurch
Der Staat hat die Ueberlieferung der
eben angefrischt wurde,
daß man die
augusteische Herrschaft als Wiederherstellung des alten Staatswesens be zeichnete und behandelte.
Und die republikanischen Ueberzeugungen waren Selbst in der Armee, die ja immer
im ganzen Reiche weit verbreitet.
noch zum größten Theile aus Bürgern bestand, bricht sie hier und da Nach CaligulaS Ermordung halten die sog. städtischen Cohorten
hervor.
zum Senate „um die Gemeinfreiheit in Anspruch zu nehmen".
Als sie
die rathlose Zerfahrenheit des Adels bemerken, lassen sie ihn im Stiche.
Und doch steht diese Truppe unter dem Befehle des Polizeipräfecten, der recht eigentlich der Träger des kaiserlichen Regimentes in der Stadt ist.
Vor allem aber ist die republikanische Gesinnung die herrschende in Rom Man nahm hin, was die Kaiser Gutes brachten, man hatte da
selber.
bei aber stets den Hintergedanken, die unbequeme Herrschaft abzuwerfen,
wenn sich Gelegenheit böte.
Denn daß man ohne sie fertig werden konnte,
davon war man durchdrungen.
der
neuantretende Herrscher
alten Institutionen erneuert.
Jedesmal jubelt das Volk auf, wenn
die republikanischen Formen
oder gar die
Selbst der Kaiser Claudius, den man bis
jetzt nur als halbblödsinnigen stammelnden Stubengelehrten gekannt und
wohl auch gelegentlich verhöhnt hatte, erwirbt sich in kürzester Zeit durch den demokratischen Anstrich seines Auftretens die größte Liebe und Zu
Als sich das Gerücht verbreitet, er sei auf einer
neigung des Volkes.
Reise umgebrachl, ist alle Welt bestürzt.
rather, der Senat
Die Soldaten werden als Ver-
als Mithelfer beim Morde mit den ärgsten Ver
wünschungen bedroht, bis man sicher erfährt, daß der Kaiser lebe und bald eintreffen werde.
Tiberius allein wird nicht mit Freuden begrüßt;
er ist ein viel zu stolzer Aristokrat und zu sehr praktischer Staatsmann, um sich auf die demokratischen Albernheiten einzulassen.
Dafür erzählt
man sich im Volke, sein früh verstorbener Bruder Drusus habe die Re
publik
wieder Herstellen wollen,
Augustus verrathen.
Tiberius
aber habe den Plan dem
Daher rührte vorzugsweise die große Popularität
des GermanicuS, daß man glaubte, er fei ebenso gesinnt, wie sein Vater DrusuS.
An CatoS Andenken hing daS Volk wie der Adel.
DaS Auf
treten Thraseas gegen Nero, obwohl eS zahm genug war, verglich man
mit Catos Opposition gegen Cäsar.
Man laS den Reichsanzeiger genau
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
45
in den Provinzen, im Heere, um zu erfahren, „was Thrafea nicht ge
than", d. h. wo er sich wieder der Theilnahme an einem thörichten Be
schlusse
des
Senats
„freiwillige Abwesenheit"
durch
entzogen
hatte.
Seinen Anklägern erschien schon dies nicht mit Unrecht als eine Gefahr für den Kaiser.
Die republikanischen
Gesinntingen im Volke werden genährt und
bestärkt durch die Litteratur,
beherrscht und
welche die Senatspartei fast ausschließlich
meisterhaft handhabt.
Die Dichter lind Prosaiker der
ersten Kaiserzeit werden in der ganzen Welt gelesen und bewundert.
Be
kannt ist, wie ein Spanier aus Cadix eigens nach Rom kam, um den
Livius zu sehen,
und nachdem er ihn gesehen,
sofort wieder abreiste.
Diese Schriftsteller aber predigen die Republik nicht etwa mit ausdrück
lichen Worten; wenige sprechen ihre Abneigung gegen das Kaiserthum so
unverhohlen aus, wie Lucan.
Aber alle verweilen mit Vorliebe bei der
guten alten Zeit, wo die Menschen derber, aber edler, die Verhältnisse
ursprünglicher, aber sittlicher waren.
Der Zug sanfter, stiller Wehmuth
und entsagender Sehnsucht nach der unwiederbringlich verlorenen Freiheit,
welche durch diese Litteratur hindurch geht, packt den Leser mächtiger, als unmittelbare Mahnungen.
Richt das Aufstellen
erreichbarer politischer
Ziele, sondern das Vorhalten und Ahnenlassen unbestimmter Ideale wirkt
auf das Gemüth der Massen; wir haben dafür an Schiller das groß artigste Beispiel.
Ein Werk, wie die Geschichte des Livius, mit seiner
schwärmerischen Begeisterung für die Helden und die Zustände der Re
publik
mußte
allenthalben zündend
einschlagen.
Selbst gut kaiserliche
Schriftsteller, wie Velleius und Valerius Maximus, können sich dieser all
gemeinen Strömung nicht ganz entziehen.
Sie nehmen die Dinge im
Wesentlichen so an, wie die republikanische Ueberlieferung sie festgestellt
oder zurechtgemacht hatte.
Cäsars Vorläufer, die Gracchen, sind ihnen
Revolutionäre, und Sulla, der Vorkämpfer des Adels, ein Held wie Scipio, abgesehen von den blutigen Aechtungen, die ein würdiger Gegen
stand rhetorischen Abscheues sind. So von den Kaisern thatsächlich in die zweite Stelle zurückgedrängt,
hatte der Senat zwischen zwei Wegen seines politischen Verhaltens die Wahl.
Er konnte zuerst die Verfassung ehrlich annehmen und die ihm
darin zugetheilte Rolle gehörig durchführen.
Damit hätte er der Ge
sammtheit den besten Dienst geleistet, und sich immer noch einen weit
gesichert.
Italien,
das Weichbild
RomS, hätte er, wie Nero' sagte, vollständig beherrscht.
Und Rom be
gehenden Einfluß
deutete damals noch alles.
Denn
Rom und
Daß ein Kaiser
außerhalb der Hauptstadt
ausgerufen werden könne, war ein „RegierungSgeheimniß", das die Welt
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
46
erst beim Sturze des jütischen Hause- errieth.
In der That, die Art,
wie Claudiu-, der stadtkundige Schwachkopf, von einem gemeinen Sol daten au- dem Verstecke hervorgezogen, von der Garde auf den Thron gesetzt und sofort im ganzen Reiche anerkannt wird, zeigt deutlich, daß
die Geschicke des Erdkreise- von einer Minderheit
wurden.
in Rom bestimmt
Cäsar hatte freilich schon die kühne Absicht gehabt, Rom zur
ersten unter den gleichen Städten herabzudrücken.
Aber, wie so manche
seiner vorgreifenden Ideen, ließ sein Nachfolger auch diese fallen, und die Hauptstadt bleibt auf lange hinaus die „goldene, ewige".
Die andere Möglichkeit für den Adel war, den Kampf mit dem
Kaiserthume aufzunehmen, sich zur formalen die materielle Gleichstellung
zu erobern, und im günstigen Falle die volle Herrschaft wieder zu ge
winnen.
Der Kampf wäre nicht- weniger al-
wenn auch langwierig und wechselvoll.
aussichtslos
gewesen,
Da- zeigt sich darin, daß sogar
bei der Haltung des Senats, wie sie wirklich war, dennoch die Ent
scheidung wiederholt von ihm abhing.
Der Einfluß des Senats auf den
höchsten Beamten wurde zu allen Zeiten nicht durch Gesetze bestimmt, sondern war fast vollständig ein moralischer.
den
Er hatte Rath zu ertheilen,
der Magistrat befolgen mochte, nur in Ausnahmefällen befolgen
mußte.
Aber der Senat der Republik hat die Jahresbeamten sich ge
fügig zu machen gewußt; sie sind lediglich die Werkzeuge, durch welche die herrschende Gesellschaftsklasse den Staat regiert.
Schon in republi
kanischer Zeit haben die Consuln sich oft genug nicht unterwerfen wollen; in der Blüteperiode der Oligarchie ruft einmal der Consul dem Rathe zu: Ihr seid nicht dazu da, mir Befehle zu ertheilen, sondern ihr habt meinen
Anweisungen zu gehorchen.
Es hing eben von Umständen und Persön
lichkeiten ab, welcher von beiden Factoren den maßgebenden Einfluß übte.
Die Mittel des lebenslänglichen Kaisers, den Senat sich botmäßig zu
machen, waren begreiflich viel bedeutender, als die der jährlich wechseln den Consuln.
Allein auch der Kaiser kann durch die öffentliche Meinung
oder seine persönliche Ueberzeugung in anderem Siune bestimmt werden. Deshalb kam es darauf an, beide für sich zu gewinnen.
Und da- konnte
man nur durch eifrige Theilnahme am Staatsleben, durch den wirklich
geführten Nachweis, daß man nützlich, nothwendig, unentbehrlich sei. Welche Haltung man wählen mochte, ob man auf den kaiserlichen Plan einging oder den Kampf versuchte, immer blieb die Voraussetzung jedes Erfolges die aufrichtige und verständige Thätigkeit für das Gemein wesen.
Zu einer solchen aber war der Adel nicht mehr fähig.
Es be
währte sich der Satz: je mehr ein Adel an weltmännischem Schliff ge
winnt, desto mehr verliert er an staatsmännischem Schneid.
Die Selbst-
Die ersten römischen Kaiser, der Adel nnd die Staatsverwaltung.
47
verläugnung vor allem fehlte, ohne die jede politische Wirksamkeit, be sonders aber jede gedeihliche Selbstverwaltung unmöglich ist.
Um der
Sache, um der Allgemeinheit willen hätten sie lernen, sich mühen, auf
Verbesserungen sinnen müssen.
Aber die adlichen Herren hatten nur sich
und ihren Genuß im Auge und die goldene republikanische Zeit, in der
sie Alles gewesen waren. Ebensowenig
aber besaßen sie noch die weiteren Eigenschaften zu
einer aussichtsvollen Opposition:
den Muth sie zu beginnen, die Zähig
keit sie festzuhalten, die Gedanken sie fruchtbar und populär zu machen.
Wo es galt, mit der eigenen Person einzutreten, wie nach dem jähen
Ende CaligulaS, da empfinden viele Senatoren eine unbezwingliche Sehn
sucht nach der Landluft:
mit der „Freiheit" sei eS ja doch nichts.
Sie
hielten eS für besser, urtheilt ein Fremder über sie, als Sklaven unbe droht und unangefochten in träger Muße hinzudämmern, als der Väter
Ruhnie nachzutrachten, wenn sie auch das Leben auf'S Spiel setzten.
Da
her schlug die frondirende Rathsmehrheit einen bequemeren Weg ein, der
den Vorzug völliger Gefahrlosigkeit hatte.
Sie macht dem Kaiser gar
keine Schwierigkeiten bei der Berathung neuer Einrichtungen unter dem
einleuchtenden Vorwande, er könne ja doch durchsetzen, was er wolle.
eS angeht, wird das dem Imperator unverhohlen
Wo
in'S Gesicht gesagt.-
Ich würde widersprechen, aber eS hilft ja nichts, heißt es dem Augustus
gegenüber.
Sag du doch deine Meinung, Cäsar, damit man weiß, woran
man ist, bekömmt Tiberius zu hören.
Freimuth.
Das gilt dann noch für edelen
Hinterdrein rächt man sich durch bitterböse Epigramme und
nach dem Tode deS Kaisers in der Geschichtschreibung.
Seneca höhnt,
die Parce habe den Lebensfaden des Kaisers Claudius durchgeschnitten,
ehe er allen Barbaren das Bürgerrecht verleihen konnte; damit doch ein
Paar Provinzialen zur Erhaltung des Stammes übrig blieben. Maßregel,
auf die sich dieser Spott bezieht,
war
Die
der Vorschlag deS
Kaisers, die Gallier seiner Geburtsstadt Lyon und ihrer Umgegend in daS römische Bürgerthum aufzunehmen.
Und als er im Senate einge
bracht wird, da erhebt sich nicht Eine Stimme dagegen, so laut man vorher in den Salons gewesen war.
Mit vollem Rechte hält ein hervor
ragender Redner, der kaiserlichen Partei unter Nero dem Führer des Se nates vor:
er solle doch sagen, was er gebessert und geändert wünsche;
eS sei leichter zu ertragen, wenn er einzelnes bekrittele, als wenn er sich in Schweigen hülle und so den Anschein erwecke, er sei mit nichts ein
verstanden.
Es ist
eben eine unfindbare und
zu bekämpfende Opposition.
darum unendlich schwer
Sie gleicht einer jener schillernden Quallen,
die bei ruhiger See sich hervorwagen:
von Weitem glitzern sie in hüb-
48
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
schem Farbenspiele und täuschen das Auge, als ob sie ein selbständiges Leben hätten.
Faßt man aber zu, so zerfließt und verschrumpft das Ding
zu einem häßlichen Nichts und nur ein leises Brennen in der Hand zeigt an, daß es gewesen.
Vergeblich suchen wir aus den Schriften und Ge
dichten dieser Legitimisten üns ein Bild von dem zu machen, was sie po sitiv erstrebten.
Nur die Negation, daß sie das Kaiserthum nicht wollen
oder doch nicht den gerade regierenden Kaiser, tritt deutlich hervor.
Keine
Opposition aber pflegt selbstbewußter und anmaßender sich zu geberden, als die, welche bloß verneint.
kraten nicht gelangen.
Und zu einer Position konnten die Aristo
Denn sie waren einer Reaction verfallen, die je
des politischen Gedankens baar ist;
sie hielten mit träger Starrheit fest
an den republikanischen Institutionen, sie hoben als Muster und Vorbild
den jüngeren Cato auf den Schild: den du (Rom), ruft der jugendliche
Lucan,
den du,
wenn du einmal dein Joch von dem Nacken geschüttelt,
heute, dereinst zum Gotte erhebst.
DaS war eine verhängnißvolle Wahl.
Denn bei Cato beruht die spröde Abweisung aller Neuerungen durchaus nicht auf einem klar durchgeführten Grundprtncipe, sie ist wesentlich mit
bedingt durch sein Temperament und seine Langsamkeit im Denken und
Begreifen.
Hatte er sich einmal mühselig in eine andere VorstellungS-
weise hineingearbeitet, so konnte er die Neuerung eifrig befürworten und in's Werk setzen, wie seine versuchten Reformen im Finanzwesen darthun.
Bei den Republikanern der Kaiserzeit aber wird eS Grund- und Glaubens satz, daß nichts geändert werden durfte und darf, und dieses Dogma über
hebt die gescheiten. Menschen des Nachdenkens über politische Dinge und
vor allem
über
ihre eigene staatsmännische Befähigung.
Nur solche
Satzungen ließ der große Jurist Labeo als verbindlich gelten, welche im alten, d. h. im republikanischen Staatsrechte anerkannt waren.
Ja man
ging noch weiter und beugte sich unter allen Umständen vor der höheren Weisheit der Vorfahren.
Im Jahre 61 wurde ein vornehmer Mann von
seinen Sklaven ermordet.
Die alte Sitte wollte in solchem Falle die
Hinrichtung sämmtlicher Sklaven, die zur Zeit deS Mordes im Hause gewesen waren.
Im Volke, selbst im Senate erhoben sich Stimmen gegen
diese zwecklose Grausamkeit.
Da setzte eS der Führer der Adelspartei,
der. berühmte Jurist C. CassiuS, ein Enkel des Befreiers, durch, daß eS beim alten bleibt und die 400 Sklaven getödtet werden. Er zweifle nicht,
beginnt er seine Rede, daß früher in allen Stücken bessere und gesundere Ordnungen festgestellt seien, als heute.
Der Adel begab sich also gewissermaßen aus Grundsatz des Rechts politisch mltzuthun und daher mitzuzählen. Die Unbeweglichkeit CatoS
ahmte man vortrefflich nach,
aber weislich hatte man seiner Mahnung
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
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vergessen: nicht um Ruhms und Gewinnes willen, nicht mechanisch und
wie eS gerade passe, dürfe man die öffentlichen Geschäfte treiben; der
gute Bürger müsse am Staate bauen, wie die Biene an der Wabe. so
geräth
die
altrepublikanische
Berwaltungsmaschinc
Und
allmählich
in's
Stocken und versagte endlich auf allen Punkten.
Einige von den ärgsten Nebelständen hatte die Einsicht der älteren Robilität bereits thatsächlich beseitigt, andere erledigten sich factisch oder
rechtlich durch die Neuordnung des Augustus.
Bor allem half der Un
erfahrenheit der Beamten die im römischen Leben ganz allgemein herr
schende Sitte ab, vor wichtigen Entscheidungen den Rath sachverständiger Freunde zu hören.
Aber freilich, diese Auskunft war gerade an der be
denklichsten Stelle, bei der Finanzverwaltung, unanwendbar.
versuchte dadurch zu bessern,
Augustus
daß er die Aufsicht über den Staatsschatz
älteren, gewiegteren Magistraten übertragen ließ. — Das Verbietungsund Einspruchsrecht gleichstehender und übergeordneter Beamten gegen die
Collegen hat auch zur Zeit der Republik nur ausnahmsweise eine große Bedeutung gehabt.
Die Handlung gegen das Verbot war nicht ungiltig,
sie zog nur die angedrohte Geldbuße nach sich.
Diese ließ sich ertragen,
oder noch einfacher: der Vollzug der Strafe oder der Hochverrathsproceß wegen Nichtbeachtung des Einspruches,
wurden wieder durch Einspruch
gegen die Anklage oder die Vollstreckung des Spruches abgewendet.
Die
Befugniß der Tribunen, im weitesten Umfange die Verwaltung zu hindern, ist äußerlich unbeschränkt in die neue Ordnung übernommen; das Inter-
cessionsrecht ist auch unter der Monarchie bald für, bald gegen den Kaiser
wiederholt geübt. drückte naturgemäß
Aber der Kaiser selbst hatte die Tribunengewalt: auf seine Amtsgenossen.
Man war deshalb
er
be
scheiden; man begnügte sich, einen Rathsschluß abzuändern, der Schau spieler wegen Ausschreitungen auf der Bühne mit Prügeln bedrohte, oder einen andern zu verschärfen, der Wahrsager und Zauberer Landes verwies
rind die Geisterseherei rmtersagte.
Die Provinzialverwaltung wurde, wie
schon hervorgehoben, nicht erheblich geändert.
Wirklich war auch eine durch
greifende Besserung nicht möglich, so lange man die Provinzen rechtlich als
Staatsdomäne oder fürstlichen Besitz ansah und das heillose System der Steuerverpachtung beibehielt.
Thatsächlich kommen dennoch die Provinzen
in einen leidlichen Zustand: denn die Steuern wurden genauer bestimmt,
die Oberaufsicht über die Statthalter strenger gehandhabt und vor Allem
begann sich allmählich eine Annäherung, Ausgleichung und Vermischung
von Italienern und Provinzialen zu vollziehen oder doch anzubahnen.
Unberührt von der Neuordnung der Dinge blieb die eigentliche innere Civilverwaltung: die Finanzverwaltung, die Rechtspflege lind das Preußisch« Jahrbücher. Bd.XI.VI. Hefti.
4
50
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
weite Gebiet der Polizei.
Das sind
die Geschäfte der Prätoren,
die
eigentlich Gerichtsherren, seit Augustus auch die Staatskasse (aerarium) unter sich haben, und der Aedilen, denen die „Stadtpflcge" (cura urbis)
obliegt und
die man nicht recht passend Polizeimcister
nennen könnte.
Das Consulat wird immer mehr zu bloßer Ehrenstellung, ohne besondere
ihm zugewicsene Pflichten.
Die Consuln sind als Vorsitzende deö Senats
vorzugsweise Repräsentanten des Staates nach Außen und bleiben immer nur einige Monate im Amte.
Das Finanzwesen des Staates, sagt Tacitus, ist verschiedenartig be
handelt und hat mehrfach seine Gestalt gewechselt, d. h. die Verwaltung der Staatskasse ist bald von dem, bald von jenem Beamten geführt.
Die
Kaiser versuchten eben auf mannigfache Weise Ordnung in die adliche
Wirthschaft zu bringen.
Denn die „Herrschaft über Einnahmen und Aus
gaben" ist in der republikanischen Zeit die Hauptquelle des Senatsein flusses und der Mittelpunkt der Scnatsallmacht.
Daher haben die Kaiser,
bis in's dritte Jahrhundert rechtlich nicht an diese Grundlage der Mit
regierung deö Rathes gerührt, sie stehen sogar lange an, auch nur that
sächlich ihm die Macht zu entwinden und ihn hier auf die formale Gleich
stellung zurückzndrängen.
Indessen sie experimentirten vergeblich: es war
auf diesem Wege nicht zu helfen. meister sich nicht:
Die Prätoren bewährten als Schatz
das Loos, sagt Tacitus milde, verirrte sich auf unge
eignete Persönlichkeiten, d. h. die republikanische Tradition der leichtsinnigen Wirthschaft erhielt sich «»geschwächt.
Die zahlreichen Verdingungsverträge
des Staats mit Lieferanten und Unternehmern verschiedenster Art wurden lüderlich abgeschlossen, die Rechnungen und Belege nicht gehörig aufbe wahrt.
Es scheint, daß sogar die Hauptbücher (tabulae publicae) in
Unordnung gerathen und zum Theil verloren gegangen waren; sie mußten
mühsam durch eine eigene Commission wieder hergestellt werden.
Die
fälligen Staatsforderungen an Private wurden nicht gehörig eingetrieben; Claudius veranlaßte deshalb die Wahl einer eigenen Behörde zur Ein ziehung rückständiger Schulden.
Erklärlich genug: kam es doch vor, daß
ein Schatzmeister, der schärfer vorging, von einem Tribunen altrepubli
kanischer Schule, dem berühmten Helvidius Priscus,
im Senate ange
griffen wurde, weil er „unnachsichtig gegen die armen Leute" sei.
Claudius
suchte dadurch zu bessern, daß er die alten Schatzmeister (Quästoren) wie der einsetzte, sie drei Jahre im Amte beließ und zugleich, recht bezeichnend, sie durch Aussicht auf Belohnungen zu
spornte.
sorgfältiger Amtsführung
Auch so ging eS auf die Dauer nicht:
an
Nero übertrug die Fi
nanzen endlich zwei Schatzpräfekten, die er, nicht wie bisher der Rath,
aus den älteren Senatoren auswählte.
Nach römisch staatsrechtlicher Vor-
51
Die ersten römischen Kaiser, der Adel nnd die Staatsverwaltung.
stellung sind diese nun vom Kaiser beauftragte; daher führt er über sie die Aufsicht und entscheidet gegen sie eingelaufene Beschwerden.
Mittel
bar und thatsächlich also — das wird man nicht läugnen dürfen — steht
seitdem die Staatskasse dem Kaiser zur Verfügung. Ein vollständiges und klägliches Fiasko machten die Aedilen bei Ver
waltung der
wichtigsten Zweige eine schwierige.
Stellung hier
In der That war
der Polizei.
ihre
Die Polizei muß, namentlich in einer
Weltstadt, wenn sic wirksam sein soll, eine gewisse diskretionäre Gewalt
haben, deren Umkreis durch Rechtsnormen niemals so genau beschrieben
werden kannte, daß nicht Uebcrgrisfc möglich,
ja unter Umständen im
Interesse des Ganzen, wenn nicht wünschens-, so doch Wagenswerth wären. Eben darum ist das Institut dem strenggläubigen Anhänger einer „freien Verfassung" an sich ein Greuel; die Republik kannte es gar nicht.
Nun
brauchte man es und forderte von den Aedilen das unvereinbare:
Ord
nung zu halten in einer Großstadt und doch die engen constitutionellen
Formen nicht zu verletzen.
Vor allem vermochten sie ohne genügendes
Hilfspersonal nichts zu leisten.
Für Instandhaltung der Straßen, das
Feuerlöschwesen, die Criminalpolizei gab es wohl jugendliche senatorische Unterbcamte.
Aber die Mannschaft fehlte, die halbmilitärisch organisirt
dem Polizeimeistcr zur Verfügung stehen muß.
geboten.
Reformen waren dringend
Allein der Senat hat unseres Wissens auch nicht einmal den
Versuch gemacht, auf irgend einem Punkte die bessernde Hand anzulegen.
Was wir unter der Bezeichnung Wohlfahrtspolizei zusammcnzufasscn gewohnt sind, fällt nach dem öffentlichen Rechte der republikanischen und
der ersten Kaiserzeit zum größten Theile überhaupt nicht in den Kreis der StaatSthätigkeit.
So war die Sorge für Unterrichts- und Armenwescn,
die Gesundheitspflege, die Herstellung
von Verkehrsmitteln ganz
dem
Unternehmungsgeiste Privater überlassen; höchstens eine Ueberwachung des Handels in Bezug auf richtiges Maß und Gewicht, durch Verbot von Waaren fand statt; nicht eine Förderung von Landwirthschaft, von Ge
werbe und Industrie.
Nur die Sitten- und Straßenpolizei ward von den
Aedilen mit umfassender Befugniß gehandhabt.
Und zugleich war ihnen
eine specifisch römische Aufgabe überwiesen, die schon in republikanischen
Zeiten eine wichtige Staatsangelegenhenheit geworden war: gung der Hauptstadt mit Brotkorn.
die Versor
Der Getreidebau Italiens lag gänzlich
darnieder; man mußte den Weizen aus Sicilien, Sardinien und Aegypten
holen; er wurde dann zu mäßigem Preise oder ganz umsonst an die Be
dürftigen ausgegeben.
Allein den Aedilen waren keine öffentlichen Gelder
zur Verfügung gestellt, und dadurch natürlich besondere Schwierigkeiten
geschaffen.
Hier wäre offenbar eine günstige Gelegenheit für den Senat 4*
52
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
gewesen nicht bloß wirklich Glites zu stiften, die ärmeren Klassen vor den
Kornwucherern lind der regelmäßig wiederkehrcnden Hungersnoth systematisch zu schützen; sondern auch durch umsichtige Maßregeln das Volk dem Adels-
regimente günstig zu stimmen.
Allein man fand das Mittel nicht:
gerostet in der Ueberlieferung ließ man die Dinge weiter gehen. freilich gehörte zu einer Besserung vor allen Dingen Geld.
ein
Und
Daran aber
fehlte es der Staatskasse bei der adlichen Finanzwirthschaft fortdauernd.
So entstaub bei einer Theurung im Jahre 22 ein Aufstand; dem Augustus
wurde vom Volke unumschränkte Machtvollkommenheit
angetragen,
der
Senat im Rathhalise eingesperrt und genöthigt, sich anzuschließcn. Augustus
lehnte die Dictatur etwas theatralisch ab; aber er übernahm die Ober leitung der Kornzufuhr und seitdem kam alles in bessere Geleise.
Die Polizeidienstc, welche die vornehmen Herren
sonst zu leisten
hatten, waren allerdings theilweis recht niedriger Art aber sie waren sehr nützlich für das städtische Gemeinwesen: so vor allem die Reinigung der Straßen und die Sorge dafür, daß der Verkehr nicht gehemmt werde.
Bei der Enge der Wege, der unvertilgbaren Neigung der Bevölkerung mit Buden und Werkstätten vor die Häuser vorzurücken und die Straße als geeigneten Ort zrlm Arbeiten oder zur Aufstellung von
allerhand
Geräth oder zur Ablagerung von llnrath zu betrachten, war hier der kleine Krieg verewigt.
Caligula ließ einmal den Schmutz, den er in einem der
zahllosen Winkelgäßchen Roms entdeckt hatte, durch Soldateit dem Aedilen
Vespasian in die Brusttasche der Toga füllen.
Es war einer seiner vielen
Straßenjungenstreiche; aber er traf unzweifelhaft einen schwachen Punkt.
Später als Vespasian Kaiser geworden war, deutete man die Geschichte,
doch wohl ironisch, als Vorzeichen künftiger Größe:
Caligula habe Rom
dem Vespasian als seinem künftigen Schirmherr« selber ans Herz gelegt. Die derbe Mahnung ward nicht befolgt, Rom blieb schmutzig und un-
passirbar; die höchsten Staatsbeamten mußten auf dem Fahrdamme im tiefen Kote waten, weil das Trottoir versperrt war.
Erst Domitian
brachte Abhilfe. Die engen Gassen, die zahlreichen hölzernen Vorbauten und Erker
machten erklärlicherweise jeden Brand, der leicht genug entstehen konnte,
im höchsten Maße gefährlich.
Auch hier — wir kommen damit auf das
Gebiet der Sicherheitspolizei — sollten die Aedilen eingreifen.
Seit
Augustus haben sie das Feuerlöschwesen, es war ihnen eine Anzahl von
Sklaven zur Verfügung gestellt.
Ihre Mittel aber waren völlig unge
nügend; die Selbsthilfe mußte daher im weitesten Umfange zugelassen und begünstigt werden; es war gestattet, das Nachbarhaus niederzureißen,
um durch die entstehende Lücke das eigene zu sichern.
DaS Volk war für
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung
53
jeden Schutz dankbar, der ihm gegen das Feuer gewährt wurde. Als im Jahre 26 der Aedil Egnalius NufuS bei mehreren Feuersbrünsten erfolg
reich Hilfe geleistet hatte, berühmte er sich in einem öffentlichen Anschläge, er übergebe die Stadt heil und unversehrt seinem Nachfolger. Und das Bolk beschloß, ihm seine Auslagen zu ersetzen, und wählte ihn außer der Reihe zum Prätor. Der Senat beachtete diesen deutlichen Wink nicht. Augustus verstärkte die Löschmannschaft, dennoch gelang es nicht, Ordnung und Wandel zu schaffen.
Der Kaiser mußte endlich eine mili
tärisch organisirte Feuerwehr einrichten mit einem besoldeten, von ihm ernannten und ihm verantwortlichen Brandmeister (praefectus vigilum) an der Spitze.
Dieser übernimmt da>m auch die Sorge für die nächtliche
Sicherheit der Stadt. Damit verbindet sich in Folge des naturgemäßen Schwergewichtes eines solchen unbegrenzbaren Amtes sehr bald erst die Möglichkeit, dann die Befugniß, Diebe, Einbrecher und Ruhestörer
summarisch abzustrafen. Zunächst handelt es sich dabei gewiß nur um ertappte Sklaven und freie Herumtreiber niedrigster Gattung. Indessen das Princip der republikanischen Verfassung ist verletzt, ein Ausnahme
gericht ist begründet. Noch viel bedeutender war aber die Umgestaltung, die sich an die
Einsetzung eines kaiserlichen Polizeidirectors in Rom anknüpfte, sie schnitt deshalb den Verfassungstreuen besonders tief ins Herz. Selbst Messalla Eorvinus, der dem Augustus persönlich so nahe stand, weigerte sich das Amt zu behalten, weil es unconstitutioncll sei. Und als L. Piso unter
Tiberius den Posten endgiltig übernahm und lange Jahre musterhaft ver
waltete, da vergalt ihm der Oppositionswitz durch daö liebenswürdige Märchen: Tiberius habe als Censor ihn zwei Tage und eine Nacht lang im Trinken geprüft; darum nenne er ihn auch im Anstellungspatente mit Recht seinen zu allen Stunden bewährten Freund. Und doch ließ sich ohne eine solche Behörde mit weitgehender Befugniß das überall her nach Rom zusammenströmende Gesindel, das freie und unfreie Proletariat der Weltstadt nicht im Zaume halten. Die sinkende Republik hatte die umherziehenden Fechterbanden fast zu einer Staatsinstitution werden lassen. Zerstörung fremden Eigenthums mit einem bewaffneten Haufen wird zwar mit vierfachem Ersätze gebüßt, ist aber ein ehrliches Verbrechen, denn es ist ein adlicheV Vergnügen. In der Stadt nahm die nächtliche Unsicher heit so gewaltig zu, daß nur bündiges Verfahren gegen die Uebelthäter
und strenger Wachtdicnst helfen konnten. Der Senat that keinen Schritt der Noth abzuhelfen; bei genauer Beobachtung des republikanischen Staats
rechtes ließ sich in der That wenig oder nichts erreichen.
Dem neuen
Präfecten wird vom Kaiser „die Stadt anvertraut", er wird ihr zum
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
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Hüter (custos urbis) bestellt; er hat also für Ruhe, Sicherheit und Ord nung im allerweitesteil Sinne zu sorgen.
Der Doktrinarismus machte
aber geltend, der Bürger werde dadurch seinem ordentlichen Richter ent
zogen.
Er hatte vollkommen Recht:
durch den Polizeipräfecten ist das
alte Strafverfahren ans den Angeln gehoben.
Von der Polizeiverwaltung
ist eine gewisse Eriminalgerichtsbarkeit nach römischer Anschauung,
überall
gar nicht zu trennen.
rechtliche Gestaltungen auSprägt,
die Der
Präfect zieht vermöge seiner unbestimmten Machtvollkommenheit die ver schiedensten
Strafsachen
daneben gleich
an
Die
sich.
berechtigt bestehen.
zuerst einschreitet, hat die Entscheidung.
dlirchgängig der nächste dazu.
alten
Schwurgerichte
Welcher von beiden
blieben
Gerichtshöfen
Begreiflich ist der Polizeipräfect
Und der durch das Verbrechen Geschädigte
wendet sich lieber mit einer Denuntiation an ihn, wo das Verfahren ein schleuniges ist, als mit einer Anklage an den Prätor.
So ist denn der Prätor auf die Civilrechtspflege beschränkt,
diese
aber war schon in republikanischer Zeit die glänzendste Seite des AdelSregimenteS.
Auf diesem vom praktischen Staatsleben abgekehrten Gebiete
zeigte es sich, welche Kräfte noch in der Aristokratie verborgen liegen. Die alten Formen deS Verfahrens blieben bestehen, sie werden aber sach gemäß weiter gebildet.
Und daran schließt sich eine unerschöpfliche Fülle
praktischer und theoretischer Erörterungen, die das Recht immer feiner und
geschmeidiger ausarbeiten, ihm immer mehr die nationalen Ecken
und Kante»
abschleifen, eS immer mehr als ein nnmittelbar aus der
Vernunft und der Natur der Sache geschöpftes erscheinen lassen.
Voran
geht hier derselbe Labeo, der int öffentlichen Rechte keine Neuerung dulden
wollte; im Privatrechte warf er mehrfach bestehende Anschauungen ziem lich unsanft bei Seite.
kratischer Namen.
Ihm folgt eine lange Reihe berühmter aristo
Aber die fruchtbare Thätigkeit der Nobilität hier konnte
keinen Ersatz bieten für ihre Unfruchtbarkeit in den übrigen Zweigett der
Staatsverwaltung. trales.
Das Gebiet der Privatrechtswissenschaft ist ein neu
Darum treffen dort im Laufe der Zeit Adel und Ritterschaft
zusammen, und es erwächst aus ihrer Vereinigung der später in Rom
herrschende Stand der kaiserlichen Beamten. Damit es aber klar unb vor aller Welt unwiderleglich festgestellt
werde, daß der Adel allem Antheile an der Herrschaft entsage, daß die Monarchie in Rom legitim, weil die allein mögliche Regierungsform sei,
so kam wirklich der Augenblick,
von welchem Lucan geträumt und ge
dichtet hatte, das Jahr 68, „heilig der Welt, der es die Freiheit verhieß":
Die Nevolutioit, welche mit dem Untergange der ersten Kaiserdhttastie begann und damit endigt, daß ein Mann der Senatspartei von uraltem
55
Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.
Adel wider seinen Willen zum Alleinherrscher erhoben wurde.
Von dem
aquitanischen Fürstelienkel und römischen Senator Bindex geht der Anstoß
aus, die unerträgliche phantastische Tyrannei Neros abzuwerfen und die Republik, d. h. das volle Senatsregiment wieder herzustellen.
Alle Ge
nerale in den westlichen Provinzen schließen sich an, sie lehnen bestimmt das Principat ab; sie lassen Geld prägen in republikanischer Weise mit
dem behelmten Haupte der Roma.
kein Widerstand zu erwarten.
Von den Generalen im Osten ist
Die Truppen freilich sind nicht ganz ein
verstanden; aber sie rücken doch mit ihren Feldherren nach Italien vor. Nero giebt sich
mit Recht verloren.
Verstecke den Beschluß
Und nachdem
er noch in
seinem
des Senates gelesen, der ihn absetzt, stirbt er
unwürdig, wie er gelebt.
Der Senat hat die Entscheidung in der Hand.
Sie wird ihm nicht entrissen, es ist kein Widerstreben bemerkbar, sie ent gleitet ihm, weil er den Entschluß nicht findet, die Hand zur Faust zu ballen.
Nero,
Ein
kecker Gardeofsicier bestimmt seine Leute,
dem sie bis dahin treu geblieben sind,
an Stelle
des
einen der aufständischen
Generale, den S. Sulpicius Galba, den ältesten und vornehmsten, zum
Kaiser auszurufen.
Als der Senat von dem Beschlusse dieser 7000 Mann
benachrichtigt wird, fügt er sich, ohne ein Wort der Widerrede.
wird als Kaiser bezeichnet und
Galba
nimmt die Würde an, willig mit un
willigem Gemüthe.
Es ist eine erschütternde Tragödie, wie sich an dem stolzen, hoch
begabten Hause des Augustus das Weltgericht vollzieht, wegen der Zer störung der legitimen Republik und wegen all der blutigen Narrheit, die eS in einem Jahrhundert aufgehäuft hat,
wie es mit seinem vielleicht
geistvollsten, jedenfalls ungeheuerlichsten Sprossen in Schmutz und Graus erlischt.
Aber nach der schneidenden Ironie der Weltgeschichte fehlt dem
Trauerspiele nicht das halb possenhafte Satyr-Nachspiel: wie die römische
Aristokratie den
günstigen Augenblick
verpaßt, und
in der
thörichten
Einbildung, sie habe ihre Hoffnungen und Entwürfe für eine gelegenere
Zeit klüglich aufgehoben, alle Aussicht auf künftige Herrschaft mit eigenen Händen zerstört und einsargt.
Ueber die Grenzen des historischen Wissens. Cedo uulli, ich weiche Niemandem.
Diese Umschrift um das Bild
des Terminus, des Grenzgottes, hat bekanntlich einer der größten Ge-
tchrten, ein Gelehrter, der zn unsrer*) Stadt in den engsten Beziehungen gestanden, Erasmus von Rotterdam, ans seinem Siegel geführt.
ES ist
Erasmus durch eine zufällige Beranlassung iu den Besitz dieses Siegels
gekommen, aber eine bewußte und richtige Einsicht hat ihn geleitet, als er sein ganzes Leben hindurch sich desselben bediente und das Bild des Terminus auch sonst, als Wahrzeichen in seiner Wohnung und auf den Titeln seiner Bücher aubringen ließ.
In der That sollten dieses Bild
und diese Worte jedem Gelehrten fortwährend vor Augen stehen, damit
er sich der festen und unabänderlichen Grenzen bewußt werde und bleibe,
die jedem Wissen und jeder Art des Wissens gezogen sind, damit er sich nicht Aufgaben stelle, deren Lösung ihm doch ewig versagt bleiben wird.
Gerade in unsrer Zeit, wo das Wissen auf allen Gebieten sich steigert und die Kraft der Forschung aufs Höchste angespannt wird, liegt die
Gefahr nahe, daß diese Grenzen übersehen werden, und die Forschung dadurch auf Irrwege geräth.
Um so nöthiger ist eS, daß jede Wissen
schaft sich genau Rechenschaft gebe über das, waS sie leisten soll und kann, und über das, worauf sie verzichten muß.
Gestatten Sie mir da
her, daß ich versuche, dies hier in Bezug auf die Wissenschaft zu thun,
die ich an unsrer Universität zn vertreten die Ehre habe, in Bezug auf die Geschichte, daß ich klar darüber zu werden und eS Ihnen klar zu
macheu suche, welches die Grenzen sind, die dem Wissen und damit auch aller Forschung auf ihrem Gebiete gezogen sind. Was ist Geschichte? Das Wort bezeichnet seinem Ursprünge nach
was geschieht, ist wesentlich gleichbedeutend mit Begebenheit,
Ereigniß,
es bezeichnet sodann weiter die Summe dessen, waS geschehen ist,
und
endlich die Wissenschaft, welche die Erforschung und Darstellung sowohl
der Geschichten, d. h.
der einzelnen Begebenheiten,
*) RectoratSrede, gehalten an der Universität Basel.
als auch der Ge-
Ueber die Grenzen des historischen Wissens.
57
schichte, d. h. der Folge und des Zusammenhanges jener, zum Ziele hat,
und zwar verbinden wir mit diesem Sprachgebrauch sofort eine Beschrän
des Begriffs,
kung
indem
wir, wenn
wir von Geschichte schlechthin
sprechen, die Naturgeschichte ausschließen und nur dasjenige umfassen, den Menschen geschehen ist, was der Mensch
was durch
Wesen gethan
und was er gelitten hat,
als geistiges
denn alles Leiden ist ja auch
ein Thun. Wie werden wir in den Stand gesetzt, dem nachzukommen, was die
Geschichte
als Wissenschaft, leisten will, wie wird uns die Erforschung
und Darstellung dessen, was durch den Menschen geschehen ist, was der
Mensch geleistet hat, möglich, sei es, daß wir die Geschichte eines ein zelnen Menschen, sei es, daß wir die eines Volkes oder die der ganzen
Menschheit oder einen Abschnitt au6 dieser oder jener herausgreifen, zum
Gegenstände unsrer Arbeit machen? Zweierlei Quellen sind es, aus denen wir den Inhalt unsres Wissens
zu schöpfen haben:
es findet sich dieser einmal in dem, was uns als
Ergebniß der Leistungen eines Einzelnen, eines Volkes vorliegt, sodann
in dem, was uns
durch
eigene oder fremde Beobachtungen über den
Gang seiner ganzen Entwicklung, über seinen Charakter bekannt ist. Fasseil wir zunächst diese zweite Art voll Quellen ins Auge, uiib
prüfen wir,
Darstellung
inwiefern sie uns eine genaue Kenntniß und eine genaue ermöglichen.
Am sicherstell werden wir uns ohne Zweifel
auf das verlassen können, was wir selbst gesehen, beobachtet, erlebt haben. Allein eine in jeder Beziehling zllverlässige Keniltniß wird es uns nicht
geben.
Unsre eigene Beobachtung wird nie eine ganz vollständige sein,
sie wird Lücken eilthalten und wir werden, um diese Lücken auszufüllen, um unsre Beobachtungen in den richtigen Zusammenhang zu bringen, zu
einer combinirenden Thätigkeit unsres Verstandes unsre Zuflucht nehmen
oder fremde Beobachtungen einschieben, am häufigsten wohl beides zu gleich in Anwendung bringen.
Sodailn ist Niemand, der
behallpten
könnte, daß er in jedem einzelnen Falle richtig beobachte, ja in Dingen
des geistigen Lebens wird eine absolut richtige Beobachtung überhaupt nicht möglich sein, es wird und muß unsre Beobachtung immer an einer
gewissen Einseitigkeit leiden.
Ferner werden eine Menge von einzelnen
Zügen, und zwar in um so stärkerem Maße, je später unsre Erinnerungen schriftlich fixirt werden, dem Gedächtniß entschwinden, manche werden sich
in ihrem Zusammenhang und in ihrer Reihenfolge verschieben, unb- die unablässig thätige Arbeit des Verstandes und der Phantasie werden aus
de>l unvollkommenen
im Gedächtniß noch
festgehaltenen Resten unsrer
Beobachtungen immer neue Bilder schaffen, von denen keines vollständig
Ueber die Grenzen des historischen Wissens.
58
demjenigen gleicht, das uns im vorhergegangenen Augenblicke vorgeschwebt hat.
So unzuverlässig ist also selbst diejenige Quelle, die uns in unsern
eigenen Beobachtungen und Erlebnissen fließt.
Die Unsicherheit vermehrt sich, je mittelbarer uns die Beobachtungen zukommen, mit denen wir es 311 thun haben.
diejenigen,
die von
Den eigenen zunächst stehen
andern Personen gemacht worden sind,
aber
von
solchen, die das, worüber sie berichten, als Augenzeugen mit angesehen,
die selbsthandelnd das,
viel kommt
vor Allem
Augenzeugen an:
was sie erzählen, mit erlebt haben.
Ungemein
auf die Fähigkeit und ans den Charakter des
inwiefern ist er im Stande gewesen, genau, gewissen
haft, unbefangen zu beobachten, und inwiefern hat er das Ergebniß seiner
Beobachtungen unverfälscht wiedergeben wollen? Nehmen wir an, eö sei
beides in höchst möglichem Grade bei ihm der Fall gewesen, so gilt eben auch hier wieder das, was wir vorhin über den Werth unsrer eigenen Beobachtungen
gesagt haben:
auch dann werden sie den Stempel des
Unvollkommenen in hohem Grade an sich tragen: zwei Berichte, von
noch so zuverlässigen Augenzeugen über dasselbe Ereigniß abgefaßt, wer
den nie ganz übereinstimmen, sie werden bisweilen sogar in nicht unwe sentlichen Punkten mehr oder weniger weit auseinandergehen. — Allein wie oft ist nicht der Augenzeuge unzuverlässig, und schon die Frage, ob er
dies ist oder nicht, die in erster Linie entschieden werden muß, kann eine
überaus schwierige sei», die von dem einen Geschichtsforscher so, von dem andern anders gelöst werden wird.
In vielen Fällen sind uns die Aufzeichnungen der Augenzeugen in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht mehr erhalten, sondern nur entweder in wortgetreuen Citaten ober' in Bearbeitungen, welche unS andere über
liefert haben.
Bei den letztern ist die Unmittelbarkeit der Mittheilung
dadurch abgeschwächt, daß der ursprüngliche Bericht schon durch die Auf fassung eines andern hat hindurch gehen müssen und je nach derselben eine mehr oder weniger wesentliche Umgestaltung erfahren hat.
Die er
steren haben den Vorzug, daß sie uns die eigenen Worte und Ausdrücke
des Berichterstatters wiedergeben, allein wir erhalten sie nicht in ihrem vollen Zusammenhang, der Citirende, dessen Gedankengang ja mit dem
jenigen deS Alitors nicht in jedem Punkte zusammenfällt, und dem die Kenntniß von Manchem, was der letztere nicht ausdrücklich erwähnt, waS ihm aber doch beim Niederschreiben vorschwebte und auf die Fassung
seiner Niederschrift bestimmend einwirkte, fehlt, läßt Manches aus, durch dessen Weglassung das, was er uns mittheilt, den Zusammenhang ver liert, in welchem der Niederschreibende eS aufgefaßt wissen wollte, und
beeinträchtigt unsere Auffassung der Stelle dadurch,
daß er sie unS in
Ueber die Grenzen des historischen Wissens.
59
einer Gestalt und in einem Zusammenhänge mittheilt, die seiner eigenen
Auffassung entsprungen sind. — Es ist klar, daß je mehr Zwischenglieder
zwischen der Aufzeichnung des Augenzeugen und der Aufzeichnung,
die
wir besitzen, liegen, desto mehr die erstere Gefahr läuft, ihren ursprüng
Zu dem, was der erste Bearbeiter
lichen Gehalt umgeformt zu sehen.
von dem eigenen hinzugethan hat, kommt die Umgestaltung, welche der
zweite mit der Arbeit des ersten vornimmt, und so immer weiter.. Und
eine solche Umgestaltung wird der Stoff erfahren, auch wenn die Bear beiter alle mit möglichster Unbefangenheit, Treue und Gewissenhaftigkeit
einerseits und mit möglichster Sachkenntniß andrerseits vorgehen. oft kommen
aber Entstellungen vor,
und mangelhaftem
Verständniß,
aus
hervorgegangen
Wie
aus Unwissenheit
vorgefaßten Ansichten
oder aus
Parteizwecken, welche den Bearbeiter leiten.
Wir haben bis jetzt von Berichten gesprochen, die von Augenzeugen
ausgezeichnet worden und entweder in ihrer ursprünglichen oder in einer abgeleiteten Gestalt auf uns gekommen sind.
Allein in sehr vielen Fällen
kann sich unsre Kunde von Begebenheiten weder unmittelbar noch mittel bar auf schriftliche Aufzeichnungen von Augenzellgen stützen, sondern was
wir wissen, beruht auf mündlichen Berichten von solchen, die dann ent weder von einem, der sie selbst angehört hat, ausgezeichnet worden sind
oder sich wiederum in mündlicher Ueberlieferung
fortgepflanzt und erst
später ihre schriftliche Fixirung erhalten haben oder aber auch noch fortlvährelld ausschließlich in der mündlichen Ueberlieferung aufbewahrt bleiben und fortleben.
Je länger diese mündliche Ueberlieferung fortdauert, desto
mehr wird natürlich der Stoff sich umbilden.
Was bei dem Einzelnen,
der in spätern Jahren sich die frühern Ereignisse aus seinem Leben ver gegenwärtigt oder sie andern erzählt, eintritt, daß eine Menge von Ein
zelheiten ihm entfallen sind, auseinanderliegende Thatsachen sich zusammenschteben und Manches sich in einem andern Zusammenhänge darstellt als der, in welchem eS sich wirklich zugetragen, das Alles wird sich in viel
höherem Maße geltend machen, wo die Erinnerung an vergangene Zu stände und Thatsachen lange Zeiträume hindurch in der mündlichen Ueber lieferung eines Volkes fortlebt.
Dem aufmerksamen Beobachter werden
eine Anzahl bestimmter Momente sich aufdrängen, welche bei einer solchen
im Munde des Volkes fortlebenden Erinnerung
an vergangene Zeiten
maßgebend einwirken und ihr die Gestalt geben, in der sie sich als Sage
ausprägt. Zunächst ist bekannt, daß die Erinnerung des Volks sich an concrete
Thatsachen, Ereignisse, an Persönlichkeiten anzuschließen liebt, das Ab
stracte, das Werdende, den langsamen Gang einer Entwicklung nicht fest-
Ueber die Grenzen des historischen Wissens.
60 zuhalten
vermag,
für verwickelte,
verschlungene Rechtsverhältnisse und
dergleichen keinen Sinn hat, daß daher die Sage letzteres ignorirt, wäh rend sie den ersteren eine Bedeutung giebt, die oft weit über diejenige
hinausgeht, welche sie in Wirklichkeit gehabt haben.
Beispiele der Art
zeigen sich uns allenthalben, wo wir im Stande sind, neben dem Bilde, das uns die Sage bietet, uns mit Hilfe urkundlicher Documente ein an
deres zu construiren.
Das nächstliegende gewährt uns die Vergleichung
der Sage von der Entstehung der Eidgenossenschaft mit dem, was die kritische Forschung im Laufe der letzten Jahrzehnte zu Tage gefördert hat.
Diese letztere führt uns eine lange Entwickelung vor Augen, ein beharr
liches, zähes Ringen, das wir beinahe ein Jahrhundert hindurch verfolgen können, und dessen endliches Ergebniß die selbständige Stellung der Wald städte ist, die sie sich dann durch den Sieg am Morgarten auf alle Zeiten
gesichert haben.
Die Sage dagegen zeigt uns statt einer solchen langen
Entwicklung eine einmalige Erhebung,
durch welche mit einem Schlage
die Waldstädte aus trauriger Kuechtschaft zur vollständigen Freiheit ge führt werden, und an die Stelle der ausdauernden Arbeit, welche ganze
Generationen an die immer völligere Befreiung ihrer Gemeinwesen ge
setzt haben, treten die Unternehmungen eines Bundes von Verschworenen und die Kühnheit eines gewaltigen Schützen. Hiebei wirkt noch
mit ein zweites Moment, das für die Sagen
bildung von großer Bedeutung ist.
Es reden und träumen die Menschen
viel von bessern künftigen Tagen, sagt der Dichter; sie reden und träumen
aber ebensoviel
von bessern vergangenen Tagen.
Die Ursache
hievon
liegt in dem Widerspruch zwischen der idealen Anlage des Menschen und seiner Unfähigkeit, dieselbe im Leben zum vollen Durchbruche zu bringen;
es wird jedem Menschen, und je idealer er angelegt ist, in desto höherem Grade, sein Thun und Handeln und die ganze Gegenwart, in der er lebt und wirkt, unvollkommen erscheinen, da er sich aber bewußt ist, daß seine Ideale nicht bloßer Trug
und Schein sind, so kann er von dem
Gedanken nicht ablassen, daß ihre Verwirklichung einmal in der Zukunft
eintreten werde;
dasselbe Gefühl der Unvollkommenheit der Gegenwart,
verbunden mit dem Bewußtsein,
daß der Mensch zu etwas höherem ge
schaffen und geboren ist, wird ihm aber die Gegenwart zugleich auch als
Entartung einer bessern Vergangenheit erscheinen lassen, und unter dem Einflüsse dieses Gefühls wird sich ihm das Bild der Vergangenheit, die
er wirklich durchlebt hat, verklären, die Lichtseiten in demselben werden immer mehr hervor-, die Schatten immer mehr zurücktreten.
Das wird
der Fall sein beim einzelnen Menschen und bei ganzen Völkern.
Und
nun ist es ja sicher, daß gewisse Zeitperioden im Leben deS Einzelnen so-
Ueber die Grenzen des historischen Wissens.
61
wohl als im Leben der Böller Vorzüge vor andern voraus haben, die
nicht nur auf Einbildung beruhen.
Wenn der Greis sich nach der That
kraft des Mannes zurücksehnt, der Mann nach der frischen Begeisterung
des Jünglings und der Jüngling nach der Harmlosigkeit und Unbefangen heit des Kindes,
so liegt seiner Sehnsucht
die wirkliche Thatsache zu.
Grunde, daß er einmal etwas besessen hat, was ihm jetzt fehlt.
Und wie
beim einzelnen Menschen die Sehnsucht ganz besonders gerne nach der
Jugendzeit, nach der Kindheit hinschweift, so auch im Leben der Völker:
nach der Zeit, in welcher ein Volk, ein Staat, ein Gemeinwesen zuerst in seine Stellung eingetreten, und nach den ersten Zeiten, die es in dieser
verlebt hat, wendet sich vorzugsweise die Erinnerung der späteren Ge schlechter zurück, die Gestalten jener Zeiten verklären sich ihm zu Helden,
gegen welche die Sterblichen, wie sie jetzt sind,
als bloße Zwerge er
scheinen. Und um diese Heldengestalten noch gewaltiger erscheinen zu lassen,
tritt ein drittes Moment hinzu, die Verbindung des Mythus mit der Sage.
Bevor wir über diese Verbindung reden, haben wir uns über
die Ausdrücke Mythus und Sage zu verständigen und über den Unter
schied, den wir zwischen beiden machen.
An die Etymologie der Worte
selbst können wir uns hiebei nicht halten, denn der Unterschied in dieser Hinsicht besteht einfach darin, deutsch ist.
daß das eine griechisch
und das andere
Es findet deshalb auch noch keine allgemeine Uebereinstimmung
über ihren Gebrauch statt, und es hat sich jeder, der sie gebraucht, über
die Art und Weise, in welcher er es thut, auszusprcchen.
Immerhin ist
es nicht eine von mir willkürlich aufgestellte Unterscheidung, sondern ich
folge einem Sprachgebrauche, der sich mehr oder weniger fest begründet hat, wenn ich unter Sage (dieses Wort im engern Sinne genommen, denn es hat auch eine weitere Bedeutung, in welcher es den Mythus in
sich schließt) die Umkleidung eines historischen Gehalts verstehe, während das, was ich als Mythus bezeichne, unter dem Gewände einer Erzählung eine religiöse Wahrheit zu versinnlichen sucht.
Den Inhalt der Religion
bildet unser Verhältniß zum Uebersinnlichen;
weil wir aber hier in der
Welt des Sinnlichen leben, so vermögen wir allen unsern Vorstellungen vom Uebersinnlichen nur Ausdruck zu geben, indem wir sie in ein sinn
liches Gewand kleiden; sie werden damit allerdings sehr unvollkommen ausgedrückt, aber wenn wir es nicht thun, so vermögen wir sie überhaupt
nicht zum Ausdruck und damit auch nicht zu irgend welcher Anschauung zu bringen. Eine Religion ohne Mythus ist deshalb undenkbar.
Eine Gefahr
liegt allerdings in der Versinnlichung des Uebersinnlichen, die nämlich,
Ueber die Grenzen des historischen Wissens.
62
daß das sinnliche Bild nicht als Bild, sondern als daS Wesen selbst auf gefaßt werde, deshalb hat auch daS Alte Testament derselben eine Grenze gesteckt, indem cs die plastische Darstellung verbot, durch welche auS dem
Gottesdienste leicht ein Götzendienst wird, aber dieselben Propheten und Psalmsänger, welche in den heftigsten Worten gegen den Götzendienst eifern, haben kein Bedenken gehabt, in ihren Reden und Gesängen in
der anschaulichsten, sinnlich kräftigsten Weise von der Person Gottes und
ihren Eigenschaften zu reden.
Es gilt auch hier das Wort Christi:
So
ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht inS Reich Gottes kommen.
aufgefaßt werden.
Der Mythus muß in kindlicher, naiver Weise
DaS Kind, das sich den lieben Gott als einen freund
lichen alten Mann und den Himmel als einen schönen Garten mit einem prächtigen Palaste darin vorstellt,
ist sich sehr wohl bewußt, daß die-
bloße Borstellungen, bloße Bilder sind, aber es hält gleichwohl daran
fest, und so müssen auch wir nnS stets vergegenwärtigen, daß auch un sere Vorstellungen von Gott und Unsterblichkeit, wenn wir sie auch so wenig sinnlich als möglich zu gestalten suchen, nur Vorstellungen und zwar
sinnliche Vorstellungen sind, aber sehr thöricht wäre es, wenn wir darum
solche Vorstellungen als unrichtig und schädlich verbieten und verwerfen würden; denn sonst müßten wir darauf verzichten, uns irgend welche Vor
stellungen vom Göttlichen und Uebersinnlichen zu machen, und das kann nur derjenige, der überhaupt nicht an das Vorhandensein desselben glaubt.
In welchem naiven Verhältnisse die Griechen, und zwar auch die tiefsten Denker dieses Volkes, zu ihrem Mythus standen, das zeigt uns
am
Schlagendsten das Wort, das einer der Nüchternsten unter ihnen in einem
Augenblicke, wo ernste Männer keine schalen Witze zu machen pflegen, das SokrateS im Augenblicke seines TodeS seinen Schülern zurief:
Wir
sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, versäumt nicht, ihn zu opfern! — Keine Religion, so haben wir gesagt, kann eines Mythus entbehren, eS
kann sich derselbe aber in engeren oder weiteren Grenzen bewegen.
Wo
bet einem Volke die monotheistische Anschauung den Sieg davon trägt,
wird er sich viel weniger entfalten als da, wo eine Vielheit von Göttern verehrt wird, deren Beziehungen zu einander, deren Thaten und Schick
sale immer mehr ausgemalt werden, so daß nach und nach eine ganze Mythologie entsteht. Dieser Mythus, die Sage von den göttlichen Dingen, und die historische Sage, die Erzählling von den Thaten der menschlichen Vor
fahren, die sich beide neben einander im Munde des Volkes fortpflanzen, müssen nun unvermeidlich in enge Beziehungen zu einander
gerathen.
Eine Verbindung und Vermischung beider kann um so leichter eintreten,
Ueber die Grenzen des historische» Wissens.
63
als wie wir gesehn haben, die Helden der Vorzeit ohnedies in der Er
innerung der 'Nachwelt mit einem Glanze umgeben sind, der sie über ge wöhnliche Sterbliche hinauShebt und göttlichen Wesen ähnlich erscheinen
läßt.
Da liegt es vor Allem nahe, diese Helden in der Weise mit den
Göttern in Verbindung zu bringen, daß man ihnen göttlichen Ursprung,
göttliche Abstammung zuschreibt, sie zu Göttersöhnen macht; eben so häufig aber als dieser Vorgang, durch welchen Helden der geschichtlichen Sage zu göttlichen Wesen gemacht werden, ist das Umgekehrte, daß Wesen, die
der Mythologie angehören, ihren ursprünglichen Charakter abstreifen und dem Zusammenhang der historischen Sage eingefügt werden.
Alle aus
gebildeten Mythologien kennen ja göttliche Wesen verschiedenen Ranges, die unteren Klassen derselben stehen an sich den Helden der historischen Sage fast gleich, und sie werden sich um so eher mit diesen vermischen, als ihre Bedeutung sehr oft eine vorwiegend lokale oder doch ihre Ver ehrung durch lokale Beziehungen stark bedingt ist, mit der Lokalgeschichte
von vornherein in engem Zusammenhänge steht-
Allein auch Götter ersten
Ranges können dieses Schicksal haben, besonders wenn ihre Verehrung
von einem andern Volke, von einem andern Stamme her cingeführt wird und deren eigentliche Bedeutung sich schon durch einen andern Mythus
vertreten findet.
So sinken sie dann, wie wir es bei dem griechischen
Herakles sehn, der eine Umbildung des phönikischen Sonnengottes ist, zu
Halbgöttern herab, die sich im Bewußtsein des Volkes von den Helden der historischen Sage in
nichts mehr unterscheiden.
Eine solche Ver
menschlichung der Götter wird auch da eintreten, wo ein Volk seine alte
Religion gegen eine andre vertauscht hat, und die Gestalte» derselben, die doch noch in seiner Erinnerung festhaften, nun feine andre Unterkunft mehr finden, als indem sie den historischen Erinnerungen eingefügt und demgemäß umgebildet werden.
So sind eö, wie wir gesehn, eine Reihe von Momenten, die auf die Sagenbildung bestimmend einwirken, das Hervortreten der That und das Zurücktreten der Entwicklung in der Erinnerung deS Volkes, woraus
weiter folgt einerseits die unmittelbare Verknüpfung wichtiger Ereignisse mit Wegfall der Zwischenglieder, andrerseits die Neigung, den Antheil an diesen Ereignissen auf bestimmte Persönlichkeiten zu concentriren, so
dann der verklärende Schimmer, der sich in der Erinnerung über ver gangene Zeiten verbreitet, und der uns diese Persönlichkeiten der Vorzeit
als Helden von übermenschlicher Gestalt erscheinen läßt, und endlich die
Vermischung mythischer Züge mit der historischen Sage.
Einen äußerst
interessanten Einblick in diese Entwicklung der Sagenbildung
erhalten
wir, wenn wir die Gestalt, welche die gewaltigen Kämpfe der Völker-
Ueber die Grenzen des historischen Wissens.
64
Wanderung nach und nach in der Erinnerung des deutschen Volkes ge wonnen haben, bis sie zuletzt in einer Anzahl von Epen, namentlich in
dem Gedichte von der Nibelungen Noth ihren künstlerischen Abschluß ge funden, vergleichen mit den den Ereignissen mehr oder weniger gleich
zeitigen Aufzeichnungen, wie sic uns in Rechts- und Geschichtsbüchern er
halten sind. Eine gründliche Untersuchung dieses Gegenstandes hat Müllen hoff im zehnten Bande von Haupts Zeitschrift für deutsches Alterthum geliefert.
Solche Zeiten, wie die Zeit der Völkerwanderung bei den Deutschen, wie bei den Griechen die Zeit der Kriege, die mit der dorischen Wanderung ihren
Abschluß gefunden, Zeiten, in welchen ein Volk sich die Stellung erkämpft hat,
die es von nun an in der Geschichte einnimmt, und über welche hinaus seine Erinnerung nicht reicht, sind es denn auch hauptsächlich, die den Gegenstand
der reichsten Sagcnbildung hergeben, einer Sagenbildnng, die zu den schönsten Blüthen epischer Dichtung geführt hat; allein ihr Walten beschränkt sich keineswegs auf solche Zeiten; wie schon vorhin bemerkt, sind es nicht nur
die Anfänge ganzer Völker, sondern auch die Anfänge einzelner Staaten,
ja kleinerer Gemeinwesen, deren sich die Sage mit Vorliebe bemächtigt; wie die griechischen Colonien alle ihre eigenen Gründersagen hatten, so
haben wir Deutsche ein glänzendes Beispiel der Art an den schon einmal
angeführten Sagen von der Entstehung der Eidgenossenschaft.
Allein auch
sonst wird jedes bedeutende Ereigniß, von dem sich das Volk wirklich un mittelbar betroffen fühlt, und dessen Bedeutung sich seinem Bewußtsein
einprägt, auch in einer schreibseligen Zeit, allen gleichzeitigen historischen Aufzeichnungen zum Trotz, eben weil es im Volke wirklich fortlebt, eine
sagenhafte Umgestaltung erhalten, bei welcher alle die vorhin angeführten
Momente in mehr oder weniger hohem Grade sich geltend machen. Wir haben bis jetzt von der Einen Grundlage unsres historischen
Wissens gesprochen, von derjenigen, welche gebildet wird durch Nachrichten, die wir über historische Thatsachen besitzen, und wir haben gefunden, wie bei all diesen Nachrichten, von den Berichten des Augenzeugen an, und
wären wir auch selbst dieser Augenzeuge, bis zu den Ueberlieferungen der Volkssage, eine umgestaltende Thätigkeit gewirkt hat, daß wir die Ereig
nisse nicht unmittelbar, sondern durch einen mehr oder minder gefärbten Spiegel zu Gesichte bekommen.
Nun besitzen wir aber eine zweite, wichtige Grundlage da, wo uns die Leistungen der Menschen, Einzelner oder ganzer Geschlechter und Völker noch selbst vorliegen und wir unmittelbar aus ihnen unsre Belehrung
schöpfen können.
Wir besitzen
die Schriften
eines Philosophen, eines
Dichters, die Gemälde oder Bildwerke eines Künstlers, die Bauten sind
Ueber die Grenzen des historischen Wissens.
65
uns erhalten, die ein Gemeinwesen hat aufführen lassen, die Gesetze, nach denen es gelebt, die Verträge durch welche eS die Verhältnisse mit seinen Nachbaren geregelt hat.
Das sind
und
nun feste
solide Grundlagen,
allein cs springt sofort in die Augen, daß sie, für sich genommen, uns nicht die Mittel geben,
ein vollständiges Gebäude historischen Wissens
aufzuführen, unser Wissen bleibt ein durch und durch lückenhaftes, auS
unzusammenhängenden Bruchstücken hergestelltes, wenn wir nicht das zuerst besprochene Mittel historischer Kunde heranziehen, wenn wir neben dem,
was uns von den Leistungen und Schöpfungen der Menschen vorliegt, nicht noch vernehmen, was über diese Schöpfungen und Leistungen be Wie können wir von der Entwicklung der Literatur eines
richtet wird.
Volkes eine irgendwie genügende Anschauung gewinnen, wenn wir nur eine Anzahl undatirter, anonymer Schriftwerke besitzen, wie von seiner politischen Entwicklung uns ein lebendiges Bild machen, wenn uns eine
Menge von Bauten aller Art von ihm erhalten sind, aber ohne jede
Nachricht über die Zeit und die Veranlassung ihrer Entstehung, Friedens verträge ohne jede Kenntniß der vorangegangenen Kriege, denn wohlgemerkt,
was uns von all diesem die betreffenden Denkmäler selbst erzählen, fällt eben auch ganz in die Reihe jener Nachrichten, von denen wir vorhin ge
handelt haben; wenn ein Schriftstück von sich aussagt, es sei von dem
oder jenem Verfasser, so ist das eben auch eine Aussage, für die alles das gilt, was von den historischen Aussagen bemerkt worden ist, und wenn auf einem Bauwerke eingemeißelt steht, eS sei zum Gedächtnisse dieses
oder jenes Sieges errichtet, so erhält diese Behauptung dadurch
keinen
andern Charakter, daß sie in Stein gehauen ist; denn bekanntlich kann
man eine Unwahrheit ebenso gut in Stein hauen als auf ein Blatt Pa
pier schreiben.
Es bedarf also auch der Kenntniß derjenigen Thatsachen,
die uns in bleibenden Denkmälern noch selbst vorliegen, wenn sie voll
ständig verstanden und gewürdigt werden sollen, als nothwendiger Er gänzung des erzählenden Berichtes.
Dieser letztere ist unentbehrlich für
jede Geschichtsforschung und GeschichtSdarstellung.
Wie unvollkommen, wie unsicher er ist, haben wir zur Genüge ge sehn.
Um ihn zum richtigen Aufbau der Geschichte zu verwerthen, ist
eine gewissenhafte und sorgfältige Arbeit von Nöthen.
Wie diese Arbeit
beschaffen sein muß, ergiebt sich von selbst auS dem, was wir über die
Natur aller Berichterstattung gesagt haben.
Bei jedem Berichte muß
untersucht werden, inwiefern der Berichterstatter die Wahrheit sagen konnte und wollte.
Bei Augenzeugen und Zeitgenossen ist zu prüfen, wie nahe
sie den Ereignissen gestanden haben, wie genau ihre Kenntniß derselben sein konnte, ferner, ob sie denselben bloß zugesehn oder ob sie, handelnd Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1. Heft 1.
5
Ueber die Grenzen des historischen Wissens.
66
oder leidend, an ihnen betheiligt gewesen, welcher Art diese Betheiligung gewesen, und wie weit es ihnen in Folge davon möglich war, unbefangen
sowohl zu beobachten als ihre Beobachtungen wiederzugeben, es ist ferner zu prüfen, was für Aufschluß unS über Fähigkeiten und Charakter des Berichterstatters aus seinen eigenen Aufzeichnungen und aus denen An derer zu Theil wird, unter welchen Umständen sein Bericht abgefaßt wurde, und daraus haben wir uns ein Urtheil darüber zu bilden, inwiefern er
daS, was er mitangesehn, auch richtig auffassen und richtig erzählen konnte,
sowie darüber, ob eS ihm darum zu thun war, die Wahrheit zu berichten
oder ob er es vielmehr angemessen fand, sie nach der oder jener Seite hin
zu entstellen.
Bei abgeleiteten Berichten ist zu untersuchen, auS
welchen Quellen der Berichterstatter geschöpft hat, welches die Natur dieser
Quellen ist, und welchen Gebrauch er vermöge seiner Fähigkeiten, seines Charakters und der die Abfassung des Berichtes begleitenden Umstände
von denselben gemacht hat.
Wo verschiedene Berichte über dasselbe Er-
eigniß vorliegen, wird sich auS der Untersuchung herausstellen, inwiefern sie einander ergänzen oder ausschließen, und im letztem Falle, an welche
von ihnen wir unS zu halten haben.
Es ist dasselbe Verfahren, aller
dings in einer großen Mannigfaltigkeit der Anwendung, das wir einzu
schlagen haben bei der Prüfung und Verwerthung aller Geschichtserzählung
vom Berichte deS Augenzeugen an bis zu den Gestaltungen der Sagen dichtung.
Soll dieses Verfahren richtig in Anwendung gebracht werden,
so bedarf es dazu, wie zu jeder tüchtigen Leistung auf dem Gebiete der Wissenschaft und überhaupt jeder tüchtigen Leistung auf irgend einem Ge biete, einer natürlichen Begabung, immerhin läßt sich eine gewisse Technik
desselben durch Unterricht und durch Uebung erwerben.
Diesem Zwecke
dienen die historischen Uebungen, wie sie durch Ranke, den man ja selbst nächst Niebuhr als den Hauptbegründer der neueren kritischen Geschichts
behandlung bezeichnen kann, in Aufnahme gekommen und jetzt wohl auf
allen deutschen Universitäten zu finden sind.
So zweckmäßig diese Uebungen
sind, und so wenig der Geschichtsforscher des Handwerkszeuges, zu dessen
Erwerbung sie dienen sollen, entrathen kann, so bergen sie doch auch eine Gefahr in sich:
die nämlich,
daß daS Handwerkszeug und
die äußere
Fertigkeit überschätzt werden, daß man glaubt, mit ihrer Aneignung sei Alles gethan, wer sie besitze, der sei ein gemachter Historiker.
Und be
sonders schädlich haben sie und hat die vorwiegende Pflege der äußern
Seite der Geschichtsforschung dadurch gewirkt, daß. bezüglich der Methode
und der Sicherheit der wissenschaftlichen Forschung die Ansicht aufge kommen und von gewichtiger Seite ausgesprochen worden ist, die Gesetze
der Forschung seien für die Geschichte keine andern alö für Mathematik
Ueber die Grenzen des historischen Wissens.
67
und Naturgeschichte, und die Sicherheit ihrer Ergebnisse keine geringere
als bei diesen Wissenschaften, und daß nun in der That gar häufig der
angehende Geschichtsbeflissene unS das Ergebniß seiner Doctordissertation mit einer Zuversicht präsentirt,
als ließe eS sich so leicht und so einfach
beweisen, wie der Lehrsatz des Pythagoras. sein? gilt,
Sollte diese Ansicht richtig
Sollte, was für die Erforschung der ewigen Gesetze der Natur in unmittelbarster Weise von unsrem Geiste erfaßt werden
die
können, auch maßgebend sein für die Erforschung der menschlichen Thaten,
die uns nur durch die tausend- und tausendmal verschiedenartig gestaltete
Reflexion menschlichen Empfindens und Denkens vermittelt werden? Kann uns,
nachdem
wir unS vergegenwärtigt haben,
welche Schranken
die
Unvollkommenheit der menschlichen Sinne, die Fähigkeit zum Irren und
die Mangelhaftigkeit deS menschlichen Charakters einer richtigen Auffassung und einer getreuen Ueberlieferung deS Geschehenen gezogen haben, der allergeringste Zweifel daran bleiben, daß auf dem Gebiete deS historischen
Wissens keine absolute Sicherheit, daß nie mehr als eine bloße Wahr
scheinlichkeit gewonnen werden kann, da ja auch die Daten, die wir alS die allersichersten, als die allerzuverlässigsten anzunehmen gewohnt sind, nur auf dem Zeugniß intellectuell und sittlich unvollkommener, dem Irr
thum unterworfener Menschen beruhen.
Wird uns aber diese Einsicht entmuthigen?
Wird unS das historische
Wissen deshalb, weil wir eS als ein unvollkommenes, nicht auf absoluter
Sicherheit, sondern auf bloßer Wahrscheinlichkeit beruhendes erkennen, als
werthlos erscheinen?
Keineswegs, und was auf der Einen Seite als
Unvollkommenheit zugegeben werden mag, daS erscheint uns auf der an
dern als ein Vorzug.
Indem wir darauf verzichten, der Geschichte unter
den exacten Wissenschaften einen Platz anzuweisen, nehmen wir für sie einen solchen unter den künstlerischen Thätigkeiten in Anspruch.
Die Ge
schichtswissenschaft vermag die Thatsachen nicht in ihrer nackten Wirklich
keit, nicht in ihrer Vollständigkeit, nicht unvermittelt wiederzugeben, son dern nur daS Bild, das sich dem an ihnen betheiligten oder dem sie beobachtenden Menschen eingeprägt, und das dieser, bewußt oder unbewußt,
dichterisch,
künstlerisch schaffend zum Ausdruck, zur Darstellung bringt.
Jede, auch die zuverlässigste, die verhältnißmäßig unmittelbarste Erzählung
fällt somit in das Gebiet der Dichtung, der Sage.
Eine scharfe Grenz
linie zwischen dem, was wir als beglaubigte Geschichte anzusehn pflegen, und dem, was wir im gewöhnlichen Sprachgebrauch als Sage bezeichnen,
läßt sich
schlechterdings nicht ziehen.
Wird uns diese Erkenntniß aber
nicht dahin führen, daß wir der letztern eine andere, höhere und wichtigere Bedeutung beimessen, als
es namentlich in jüngster Zeit zu geschehen 5*
68 pflegt?
Ueber die Grenzen des historischen Wissens. Die historische Thatsache interessirt uns nicht lediglich, auch nicht
vorzugsweise um ihrer selbst willen, sondern um der Wirkung willen, die sie ausgeübt hat, um der Stellung willen, die sie in der Entwicklung eines Einzelnen, eines Volkes oder der gesammten Menschheit einnimmt, und deshalb werden wir es nicht bedauern, sondern als einen Vortheil
empfinden, daß die historische Mittheilung den Charakter hat, den wir ihr haben zuerkennen müssen, daß sie die Thatsachen nicht unvermittelt giebt, sondern so, wie sie sich in dem Gemüthe dessen, der sie unS auf bewahrt hat, eingcprägt haben.
Es kann ein Einzelner sein, durch den
diese Aufbewahrung geschieht, es kann aber auch ein ganzes Volk sein,
es kann die Zeit der Aufbewahrung eine kurze sein, sie kann sich aber auch durch Geschlechter, durch Jahrhunderte fortziehn, und je länger sie ist,
desto mehr werden sich alle jene umgestaltenden Einflüsse geltend machen, von denen wir früher gesprochen haben, aber immer wird sich die Um
gestaltung vollzieh» unter dem Eindruck, den ein Geschlecht, den ein Volk
von den fraglichen Thatsachen erhalten hat, und den cS noch verspürt, es wird also die Ausbildung der Sage auf der Grundlage einer groß
artigen historischen Wahrheit vor sich gehn und dadurch der Gehalt der Sage selbst und ihre Bedeutung eine eminent historische werden, ja dieser
historische Gehalt und diese historische Bedeutung können unter Umständen
wichtiger sein, als was wir gewinnen würden, wenn wir über dieselben
Thatsachen genaue Berichte hätten und uns eine sogenannte beglaubigte Geschichte construiren könnten.
Der Geschichtsforscher wird es ja immer
als seine Pflicht erkennen, dies letztere soviel als möglich zu Stande zu
bringen, er wird aber, sobald er die Aufgabe und die Bedeutung seiner Wissenschaft recht erfaßt, eS nicht bedauern, wenn er auf Ereignisse und
auf Zeiträume stößt, bei denen es ihm nicht gelingt und bezüglich deren er sich mit sagenhafter Kunde begnügen muß, und er wird auch nicht, wenn er neben eine solche sagenhafte Kunde eine mehr oder weniger zu
sammenhängende beglaubigte Geschichte zu stellen vermag, die erstere über
Bord werfen und wo sie noch im Bewußtsein eines Volkes oder einer
Religionsgemeinschaft haftet, auS demselben herauszureißen trachten, vor
ausgesetzt daß er sie als eine ächte, aus dem Bewußtsein dieses Volkes, dieser Gemeinschaft auch wirklich herausgewachsene Sage erkennt.
Es ist
nichts weniger als Heuchelei oder feige Anbequemung, wenn Männer der
strengsten kritischen Richtung sich scheuen, den unbefangenen Glauben an diese Sagen zu zerstören, es entspringt ihre Scheu auch nicht dem vor nehmen Gefühle, daß die Bedürfnisse der Männer der Wissenschaft andre
seien, als die des gemeinen Volkes, nein, sie selbst, die Männer der Wissenschaft, der strengen Kritik, welche diese Scheu empfinden, sie theilen
69
Ueber die Grenzen des historischen Wissens.
eben — so sonderbar dies vielleicht manchem klingen mag — mit dem Volke den Glauben an die Wahrheit jener Sagen, wenn sie sich auch in
andrer Weise darüber Rechenschaft geben.
Zur richtigen Auffassung der
historischen Sage gehört eben wie zu der des Mythus die kindliche Unbe
fangenheit.
Wie uns bei der Auffassung des Mythus das Bewußtsein
leitet, daß wir uns Uebersinnliches in unvollkommenen sinnlichen Zeichen
anzueignen suchen, so hier die Erkenntniß, daß alle und jede erzählende Darstellung des Geschehenen uns nicht mehr als nur ein annähernd rich
tiges Abbild davon geben kann. Was ist daS höchste Ziel aller historischen Forschung?
Eine Masse
von Wissensstoff aufzuhäufen? zur Kenntniß möglichst vieler Thatsachen zu gelangen? Keineswegs!
Sie soll vielmehr den Menschen zur Kennt
niß seiner selbst führen, durch sie wird eine Selbstprüfung des Menschen geschlechtes vollzogen, eine Selbstprüfung, deren dieses ebensowohl bedarf,
alö der einzelne Mensch, um sich über seine Bestimmung klar zu werden und über die Wege, die es einzuschlagen hat, wenn es derselben nach kommen soll.
An der Verfolgung dieses Zieles aber wird die historische
Forschung durch die Grenzen, die ihr gezogen sind, keineswegs gehemmt.
Und wie sie selbst ihre Aufgaben nur erfüllen kann, wenn sie sich inner halb dieser ihrer Schranken hält, so wird sie helfen es dem Menschenge schlechte zum Bewußtsein zu bringen, daß allem Schaffen und Wirken
desselben bestimmte Schranken gezogen sind, und daß es, statt seine Kräfte
zu vergeuden, indem es diese zu durchbrechen sucht, vielmehr darnach zu trachten hat, sie innerhalb derselben zusammenzuhalten und damit zu einem
fruchtbringenden Schaffen tauglich zu machen.
Und so wenden wir am
Schlüsse unserer Betrachtung unsre Blicke wieder zu dem Bilde des Ter
minus, von dem wir ausgegangen sind, deö Terminus, der mit seinem
Cedo nulli uns die Wahrheit verkündigen möge, daß nur die Erkenntniß
der dem Menschen gezogenen Schranken und die aus dieser Erkenntniß hervorgegangene Selbstbeschränkung, was die Griechen oaxpQoowT], was
unsre Vorfahren die mäze nannten, ihn befähigt, Großes nicht nur zu
unternehmen, sondern auch zu vollbringen.
W. Vischer.
Ugo Foscolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo Ortis". ii. Originalität und literarischer Werth.
Daß auf den Roman FoScolo'S der goethesche Werther nicht blos hinsichtlich der Form, sondern auf die ganze Ausführung, die Anordnung
des Materials und das letzte Ziel des Werkes einen durchgehenden Einfluß gehabt habe, darüber kann kein Zweifel bestehen, auch wenn der Verfasser nicht ausdrücklich zugestanden hätte, daß er dem Buche deS deutschen Autors
die Einrichtung für das feinige entlehnt habe.
Was aber den Inhalt
betrifft, so sind wir mit Hilfe der Biographien und der eigenen Briefe
FoScolo'S an seine Freunde und Freundinnen im Stande, das als richtig
zu bestätigen, was er darüber behauptet hat, nämlich daß er aus seinen
eigenen Erlebnissen den Stoff für den Roman entnommen habe. Weil aber derjenige, dessen Interesse wir für ein ihm vielleicht nur
dem Namen nach bekanntes Werk in Anspruch nehmen wollen, zunächst Verlangen trägt, den Inhalt desselben kennen zu lernen, so erscheint eS
angemessen, eine Uebersicht über denselben vorangehen zu lassen. Jacopo Ortis, ein venetianischer Jüngling, erfüllt von glühender Be
geisterung für die Freiheit seines Vaterlandes, sieht sich nach dem Ab schlüsse deS Friedens von Campo Formio gezwungen, als ein Flüchtling
seine Vaterstadt zu verlassen.
Um den Verfolgungen seiner Gegner zu
entgehen, zieht er sich auf ein Landgut seiner Familie in den euganeischen Hügeln zurück, in die Nähe von Arquä, wo der classisch gebildete, patrio tisch gesinnte Dichter Petrarca einst sein ruhmvolles Leben beschlossen hat.
In seine Einsamkeit begleitet ihn die trostlose Ueberzeugung, Vaterland einem schändlichen Verrathe zum Opfer gefallen ist.
daß sein Seine
Verzweiflung darüber ist so groß, daß er im Gefühle seiner Ohnmacht, Rache nehmen zu können, sich ein Messer in die Brüst stoßen möchte, um
all sein Blut unter dem TodeSschrei seines Vaterlandes auSzuströmen.
Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo Ortis".
71
Mit sich nimmt er die trübsten Erfahrungen, welche ihm die frühe, dem
Dienste der Freiheit und des Vaterlandes geweihte Jugend eingebracht
hat.
Und dieser Schmerz wird in ihm noch heftiger und leidenschaftlicher
durch daS Unglück seiner Mitbürger.
„Wieviele Familien sind durch die
Umwälzung in Elend und Verzweiflung gestürzt, wieviele edle Männer
sind mit ihm die Schlachtopfer der Freiheit geworden!"
Für jetzt ist keine Wendung zum Bessern zu hoffen, die Uebermacht der Gegner hält Italien in knechtischer Abhängigkeit, und der sclavische
Sinn seiner Bewohner beugt sich der Willkür und dem Uebermuthe der Fremden ohne Widerstand.
„Was willst Du unternehmen", fragt er
seinen Freund, „da Du in der Mitte stehst zwischen zwei mächtigen Na
tionen, welche als geschworene wüthende Todfeinde, sich mit einander ver
binden, um uns in Fesseln zu schlagen, und von denen die Einen, wo ihre Stärke nichts ausrichtet, uns durch Freiheitsenthusiasmus, die Andern durch Religionsfanatismus betrügen; während wir durch die alte Knecht
schaft und
die neue Schrankenlosigkeit völlig
verderbt,
verrathen
und
hungrig als feige Sclaven seufzen, welche weder durch Verrätherei noch
durch Hunger jemals aufgeregt werden." Bon Anfang an leuchtet ihm ein, daß es nur ein Mittel giebt, sich
dem grenzenlosen und unabwendbaren Unglücke, daS über sein Vaterland gekommen ist, zu entziehen, alle Erfahrungen und Erlebnisse, welche ihm
die folgende Zeit bringt, bestärken ihn in dieser Ueberzeugung, daß nur
der freiwillige Tod ihm auS dieser verderbten irdischen Existenz Erlösung
bringen und ihn auf ewig frei machen kann. Zwei unheilvolle Umstände aber drängen sein gequältes, bis aufs
Aeußerste gefoltertes Herz, daß
er sich auf diesen letzten verzweifelten
Schritt vorbereitet und ihn endlich, nachdem er alle Gründe dafür und
dawider erwogen hat, zur Ausführung bringt: auf der einen Seite ist es die heillose politische Lage Italiens, aus der andern eine unglückliche
Liebesleidenschaft.
Beide Motive gehen neben einander,
wechselseitig verstärken sie
ihre Wirkung und führen zuletzt den Untergang des
Hoffnung-- und
rettungslosen Jünglings herbei.
Auch in der Verbannung bleibt sein Blick auf die Geschicke seines
Vaterlandes gerichtet.
Aber nicht mehr gilt ihm das von Frankreich ver
rathene, von Oesterreich gewaltsam geknechtete Venedig als sein Vaterland,
vielmehr sucht er die Freiheit in der ciSalpinischen Republik, diesem dem Namen nach italienischen Staate, der den Vertriebenen Aufnahme und
die Rechte aller Bürger gewährt hat.
Aber auch hierher ist die Freiheit
in Begleitung von Bedrückungen und Erpressungen durch die Fremden
72
Ugo Foscolo und sein Roman „die letzten Briefe des Iacopo Ortis".
gekommen.
Nach deren Willen toltb- die Regierung geführt, die neuen
Gesetze und Einrichtungen geben dem Staate keine Festigkeit im Innern, keine Unabhängigkeit nach Außen, dem Einzelnen gewähren sie keinen
Schutz gegen die Verfolgungen der Parteien.
Nicht die edlen patriotischen
Leidenschaften finden in diesem von den Franzosen errichteten Freistaate Aufmunterung und Ermuthigung, nur feige und niedrige Begierden
drängen sich
in den Vordergrund und gewinnen die Oberhand.
Die
wenigen edlen Geister, welche als Leiter und Vorbilder deS Volkes allein
vermöchten, Italien zu seiner früheren Größe zurückzuführen, sehen sich genöthigt, mit stolzem Grolle von dem Geschicke ihres Vaterlandes sich
abzuwenden und in die Einsamkeit zurückzukehren.
So ruft alles, was Ortis später auf einer Reise durch Italien voll den Umtrieben der Parteien und den verderbten Zuständen in den ein
zelnen Städten kennen lernt, in ihm die Ueberzeugung hervor, daß
die
Sclaverei Italiens eine nothwendige, und daß eine Befreiung aus der selben mit gewöhnlichen Mitteln unmöglich ist. Er beklagt den Irrthum Derjenigen, welche wähnen, daß die fremden Nationen aus Liebe zur Billigkeit herkämen, gegenseitig sich auf den Ge
filden Italiens zu morden, um dieses frei zu machen.
Dies unglückliche
Land ist seit Jahrhmlderten immer nur der Schauplatz für die Waffen-
thaten der Deutschen und Franzosen gewesen und ist stets dem Sieger als
Beute zugefallen.
Dies Mal ist dieser Kampfpreis den Franzosen zu
Theil geworden, aber sie haben es dahin gebracht, daß die Theorie von der öffentlichen Freiheit als eine fluchwürdige erscheint.
Um ihr eignes
Uebergewicht in Italien zur Geltung zu bringen, haben sie dem ciSalpinischen Staate eine ihren Absichten entsprechende Verfaffung gegeben, und diese wird nach den Vorschriften der Directoren in Paris gehandhabt.
Die Spuren dieser Abhängigkeit und ihre verderblichen Folgen treten dem Jünglinge am deutlichsten in Mailand selbst entgegen:
„Ich verlangte
bei einem Buchhändler das Leben Benvenuto Cellini's — ES ist nicht vorräthig, lautete die Antwort.
Ich bat denselben um einen anderen
Schriftsteller; darauf sagte er mit fast verächtlichem Tone, daß er italienische
Bücher nicht zum Verkauf habe. — Die Klasse der Gebildeten spricht
zierlich französisch und versteht kaum noch das reine Toskanisch.
Oeffent-
liche Verfügungen und Gesetze werden in einer Art von Bastardsprache
abgefaßt, deren ungeschickte Ausdrücke deutlich die Unwissenheit und den
knechtischen Sinn dessen kennzeichnen, der sie vorschreibt.
Die ciSalpini-
schen Demosthene stritten heftig in ihrem Senate, ob man nicht durch eine
strenge Verordnung
die
griechische
und
lateinische Sprache
Gebiete der Republik verbannen sollte" (u. s. w.).
aus
dein
In diesem Staate
Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo Ortis".
73
eine Anstellung zu suchen, räth ihm der besorgte Freund, mit stolzem Unwillen lehnt der Held deS Romanes einen solchen Rath ab.
„Für
Andre mögen die Tyrannen ihre Verletzungen und Wohlthaten aufbe
wahren, es giebt deren so viele, welche gierig danach verlangen! will der Schande dadurch entgehen, daß ich unbekannt sterbe.
Ich
Und wenn
ich auS meiner Verborgenheit hervorzutreten gezwungen würde, so würde ich vorziehen, ein beklagtes Opfer zu sein, ehe ich als daS begünstigte
Werkzeug der Willkür oder der Tyrannei erschiene".
„Und doch", fügt
er hinzu, „ich bekenne es, oft habe ich mit einer Art von Wohlgefallen auf das Elend Italiens gesehen, weil es mir vorkam, als hätte das Schicksal und mein Heldenmuth vielleicht grade mir daS Verdienst auf
bewahrt, eö frei zu machen". — Aber eine Unterredung mit dem bejahrten, ehrwürdigen Dichter Parini,
welche in die herrlichen Anlagen an der porta orientale Mailands ver legt ist, hat den Erfolg, daß der unglückliche Jüngling für immer dem Gedanken, seinem Vaterlande zu dienen und zu nützen, entsagt.
Der er
fahrene Greis kann nach dem, was er selbst erlebt hat, den leidenschaft
lichen jungen Mann nicht ermuthigen:
„O mein Sohn", ruft er seufzend
auS, „der Du ein dankbareres Vaterland verdientest, warum wendest Du deinen unseligen Eifer nicht auf andre Neigungen, wenn Du ihn nicht
auszulöschen vermagst?"
„Da blickte ich auf die Vergangenheit — dann
wandte ich mich der Zukunft entgegen, aber immer schweifte ich in daS
Leere, meine Arme sanken getäuscht herab, ohne etwas erfassen zu können, und ich erkannte meinen Zustand in seiner ganzen Schwere.
Ich erzählte
dem edelsinntgeu Italiener die Geschichte meiner Leidenschaften und beschrieb ihm Theresen als einen der himmlischen Genien, welche hernieder
zusteigen scheinen, um die düstre Stätte dieses irdischen Lebens zu er leuchten.
Nein, sagte ich zu ihm, ich sehe vor mir nur daS Grab".
An dieser Stelle wenden wir uns dem Anfänge des Romanes wieder
zu, um die Liebesgeschichte kennen zu lernen.
Nachdem der Verrath Venedigs offenkundig geworden ist, hat OrtiS sich in die Einsamkeit zurückgezogen. In der freien Gottesnatur sucht er die Heilung seiner Schmerzen, ihre Schönheit erquickt auf ?urze Zeit sein krankes Gemüth, ihre Erhabenheit richtet ihn auf, die ländliche Umgebung
wirkt ablenkend und zerstreuend auf ihn.
Da macht er die Bekanntschaft
eines Herrn T..., eines Mannes von feiner Bildung und großer Recht
schaffenheit, der ebenfalls in den Euganeen zurückgezogen lebt.
Dieser
Herr ist Vater von zwei Töchtern, Theresa und Isabella, seine Familien
verhältnisse sind infolge der politischen Wirren in Unordnung gerathen, er hofft denselben dadurch aufzuhelfen, daß er seine älteste Tochter Theresa
Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo Ortis".
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einem reichen jungen Manne aus Mutter, nicht
adlicher Familie verlobt hat.
Die
einverstanden mit dieser Convenienzheirat, ist mit dem
Gatten darüber zerfallen und lebt in Padua.
Alles dies erfährt Ortis
auS dem Munde der Tochter selbst während eines Spazierganges, den er in Gesellschaft der Familie nach dem Hause Petrarca'- macht.
„Ich bin
nicht glücklich!" sagt sie ihm mit sanfter, von Thränen erstickter Stimme.
Welcher Jüngling vermöchte solchen Thränen zu widerstehen! am wenigsten
einer, der selbst die Bitterkeit eines grausamen Geschickes erfahren hat. Ganz gewinnen sie das Herz des jungen Ortis, er möchte mit ihr Thränen vergießen, da er ihr keinen Trost spenden kann. — Und dieser Verlobte
selbst erscheint ihm so wenig fähig, dies himmlische Mädchen glücklich zu
machen.
Odoardo gehört zu jenen pedantischen, langweiligen AlltagS-
menschen, die Alles mit der Uhr in der Hand thun, die, in den Borur theilen ihres Standes befangen, dahinleben ohne jedes höhere Interesse,
ohne Verständniß für die edlen Regungen eines empfindsamen Herzens.
Dem Nachdenken
über das Unglück dieses Mädchens wird Ortis
durch die Fürsorge seiner zärtlichen Mutter und seines Freundes Lorenzo
entrückt, die beide es zu veranstalten wissen, daß er nach Padua übersiedelt, um dort seine Studien fortzusetzen.
Aber dieser Aufenthalt in Padua
bringt ihm nicht den erwarteten Gewinn und dauert nicht lange.
Die
eigenthümliche Sinnesart des jungen Mannes bringt ihn mit den in der
Gesellschaft herrschenden Vorurtheilen in Conflict, sein lebhaftes Ehrgefühl verwickelt ihn in ernstliche Händel.
Es kommt zu einer Herausforderung,
und da Niemand für den sonderbaren Jüngling, der in seinem Rechte zu sein glaubt, Partei nimmt, so verläßt er Padua wieder und kehrt nach
den Euganeen zurück. Theresa
Seinem Freunde gesteht er ein, daß die Liebe zu
ihn zurückgeführt habe:
„ach, Du mahnst mich von Neuem,
Theresen zu meiden; und das bedeutet nichts andres, als wenn Du zu
mir sprächest: sage Dich von dem los, was Dir das Leben lieb macht;
zittre vor dem schlimmen und stürze Dich in das noch schlimmere Uebel".
Inzwischen ist Odoardo, der Verlobte TheresenS, in Angelegenheiten seiner Familie nach Rom verreist und wird durch einen Prozeß mehrere Monate fern gehalten.
Ortis selber empfindet, in welche gefährliche Lage
er durch dessen Abwesenheit und durch den ungehinderten Verkehr mit Theresa versetzt ist. .Die im Frühling wieder erwachende Natur reißt
sein beständig aufgeregtes Gemüth zu wilder Schwärmerei hin. „Indessen", heißt eö in einem Briefe (vom 5. April), „wird die Natur wieder schön; — so muß sie gewesen sein, da sie zum ersten Male hervorgehend aus
dem gestaltlosen Chaos die lachende Morgenröthe des Mais voraufsandte; als diese dann am östlichen Himmel ihr blondes Haar wallen ließ und
Ugo Foscolo und sein Roman „die letzten Briefe des Iacopo OrtiS".
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das All nach und nach mit ihrem rosenfarbenen Gewände umkleidete, als sie segenbringend
die frischen Thautropfen ausschüttete und den jung
fräulichen Hauch der Winde erweckte, um den Blumen, den Wolken, den
Wassern und allen Wesen, welche sie begrüßten, die nahende Sonne zu verkündigen: die Sonne! des Gottes erhabenes Bild, das Licht, die
Seele, das Leben aller Creatur." Die schöne Natur entzückt sein Herz, mehr noch wird dasselbe von
TheresenS Schönheit und Sanftmuth bezaubert, schon fängt er an, darüber
nachzudenken, ob sie ihn wieder liebe.
Kurze Zett widersteht er den Prü
fungen, welche sich ihm bieten, um sich diese Gewißheit zu verschaffen, bis
endlich an einem herrlichen Maiabend Theresa ihm das Geständniß ihrer Liebe macht.
Aber zugleich mit diesem Geständniß spricht sie es auS:
„Nie kann ich Ihnen gehören!"
Ein Kuß von ihr hebt ihn zum höchsten
Entzücken, aber die Nachricht, daß Odoardo zurückkehre, raubt ihm den
Schlaf, von den bittersten Schmerzen wird seine Seele zerrissen.
Zur selben Zeit wird ihm der Tod LaurettaS gemeldet.
Dies junge
Mädchen hatte seinen Freund Eugenio geliebt, aber ein grausames Ge schick hatte den Geliebten von ihrer Seite gerissen, aus Schmerz darüber
war ihr Sinn gestört worden.
In dem traurigen Schicksale dieser armen
Wahnsinnigen, mit der er das tiefste Mitleid empfunden, sieht er eine unheilvolle Vorbedeutung für sich selber.
Immer mehr wird es ihm zur
Ueberzeugung, daß Theresa ihm nicht gehören könne — sie selber flieht und meidet ihn.
Bon der furchtbaren Aufregung, die sein Herz erfaßt,
erschlafft sein Körper, ein dunkles Gefühl sagt ihm, daß er fliehen müsse. Indeß kehrt Odoardo zurück, er findet den Jüngling gänzlich verän dert, sein auffallendes Benehmen läßt ihn den Grund dieser Veränderung
ahnen.
Ortis erkrankt darauf ernstlich, während deS Krankenlagers be
sucht ihn Herr T. . . und setzt ihm auseinander, daß daS Schicksal ihm keine andere Wahl übrig lasse, und daß er Odoardo sein Wort halten
müsse.
In dumpfer Betäubung, ohne eine Aeußerung seines Schmerzes
hört Ortis seine freundlichen und doch ernsten Worte mit an.
Er selber
empfindet, daß er unter diesen Umständen nicht bleiben könne, und be
schließt abzureisen.
Wirklich tritt er diese Reise an, er besucht die herr
lichen Städte, die von der gütigen Natur mit wunderbarem Reichthume und entzückender Schönheit ausgestatteten Landschaften Italiens.
Aber die
Wunder der Natur und Künste mahnen ihn immer wieder an die ver
gangene Größe seines Volkes und zeigen ihm das gegenwärtige Elend seiner Landsleute.
Die Erinnerung an die Geliebte vermag durch das,
was er sieht, aus seinem Herzen nicht getilgt zu werden. schreibt er (den 25. September):
Bon Florenz
„In diesem glückseligen Lande war eS,
Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Iacopo OrtiS".
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wo die heiligen Musen und die Wissenschaften aus der Barbarei wieder erwachten.
Wohin ich mich wende, überall finde ich die Stätten, wo sie
geboren wurden, und die geweihten Erdschollen, unter denen sie ausruhen, jene ersten großen Toskaner; bei jedem Schritte hält mich die Scheu, auf
ihre Ueberreste zu treten.
Ganz Toskana ist eine zusammenhängende
Stadt und ein Garten; die Bewohner sind von Natur gesittet; der Himmel heiter und die Luft erfüllt von Leben und Gesundheit.
Allein Dein Freund
findet keine Ruhe: beständig hoffe ich — morgen in dem Nachbarlande —
und morgen kommt, ich eile von Stadt zu Stadt, und immer drückender
lastet auf mir dieser Zustand der Verbannung und Einsamkeit." Bon Florenz wendet er sich nach Mailand, wo er die Unterredung
mit Parini hat. gesehen.
Welches der Ausgang dieses Gespräches ist, haben wir
OrtiS verläßt Mailand und setzt die Reise, die er in der Absicht
unternommen, seinem Vaterlande den Rücken zu wenden, Grenzen Italiens fort.
bis an die
Hier in der schaurig öden Natur erblickt er ein
Bild von dem hoffnungslosen Zustande seines eigenen Herzens.
Aber
unwiderstehlich zieht eS ihn nach seiner Heimath zurück, so beschließt er umzukehren. Unterwegs erfährt er die Vermählung Theresas mit Odoardo.
Damit ist das letzte Band zerrissen, welches ihn noch an daS Leben knüpfte. Noch einmal besucht er Venedig, um seiner edlen, um daS Wohl ihres
Sohnes tief bekümmerten Mutter das letzte Lebewohl zu sagen.
Der er
schütternde Abschied von ihr bereitet seinem Entschlüsse zu sterben eine
harte Probe.
Darauf kehrt er nach den Euganeen zurück, noch einmal
sucht er die Stätten auf, welche der Schauplatz seiner LiebeS- und Leidens geschichte gewesen sind, nimmt dann von der Geliebten Abschied und tödtet sich in der Nacht, indem er sich einen Dolch in die Brust stößt.
Vielen, welche daS Werk zum ersten Male lesen, wird der bald düster fchwermüthige, bald wild leidenschaftliche Ausdruck der Gedanken und Ge fühle fast abschreckend erscheinen.
Aber man darf nicht vergessen, daß daS
Werk nur ein Ausdruck dessen sein sollte, waS der jugendliche Verfasser in einer stürmisch aufgeregten Zeit und in Folge dessen mit sich selbst ringend dachte, in einer Zeit, wo eS ihm schien, als wären alle Ideale,
welche der Menschenbrust Streben und Anreiz verleihen, nichtig geworden und dem Menschenleben daS, was ihm Werth giebt und die Lust am Dasein erweckt und erhält, in unwürdiger Weise entzogen worden. Nicht wenig wird darum daS Interesse, welches wir an dem Romane nehmen, durch den Umstand verstärkt, daß der Verfasser in demselben die
eigenen Erlebnisse unter dem Namen einer fremden Person dargestellt
Ugo FoScolo imb sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo OrtiS". hat.
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In dem Briefe, den FoScolo im Jahre 1807 an den preußischen
Gelehrten Bartholdy schrieb, hat er sich ausführlich über den Titel, die
Entstehung und die Herausgabe seines Werkes erklärt und ausführlicher noch in einer Reihe von Aufsätzen, welche der 15. Ausgabe des Romanes
auS dem Jahre 1814 beigegeben sind.
Aber Alles, was er darüber be
kannt gemacht hat, muß mit der größten Vorsicht ausgenommen werden,
weil in diesen Mittheilungen dem geringen Theile von Wahrheit eine
weit stärkere Dosis von Dichtung beigemischt ist, als man von vornherein zu glauben geneigt sein möchte, und es ist nicht leicht, überall daS That
sächliche von dem zu unterscheiden, was einem bestimmten Zwecke dienende
Fiction ist.
Die erste Anregung zu dem Werke will der Verfasser während
eines Aufenthaltes zu Padua, für den er die Zeitangabe unterläßt, em pfangen haben.
Durch de» miterlebten Fall eines Selbstmordes ward
seine Theilnahme in hohem Grade erregt.
Der Unglückliche, welcher mit
seinem Leben nichts Besseres anzufangen wußte, als es gewaltsam zu
enden, führte den Namen Jacopo Ortis, war aus dem Friaul gebürtig und studierte zu Padua, wo seine Person und seine Verhältnisse wenig
gekannt waren.
Seit jener Zeit, so behauptet FoScolo von sich, habe er
über den Selbstmord nachgedacht, er habe Bücher studiert, welche denselben verwarfen, und solche, welche ihn vertheidigten.
Seine eigenen Gedanken
habe er in Form von Briefen niedergeschrieben
und ihnen den Titel
„letzte Briefe des Jacopo Ortis" gegeben, damit sie für das Werk eines
Anderen gelten könnten.
Diese Schreibereien seien von ihm sorgfältig
zwischen anderen Manuscripten versteckt worden, um sie vor der Polizei zu sichern, auch habe er Anfangs gar nicht die Absicht gehabt, dieselben
herauszugeben. Diese Briefe hätten zuerst nur eine Rechtfertigung des Selbstmordes aus philosophischen Gründen enthalten, später sei Vieles dazu gekommen,
was er über den Verrath Venedigs, über die von den Franzosen beein flußte Regierungsweise in
der ciöalpinischen Republik niedergeschrieben
hätte, und zuletzt erst sei er in ein LiebeSverhältniß verwickelt worden, dessen nähere Umstände ganz so gewesen, wie sie der Roman darstellt;
von den Briefen, welche er mit dem Gegenstände dieser Liebe wechselte,
seien einige fast ganz unverändert in den OrtiS übergegangen.
Je mehr man sich aber in die Einzelheiten dieser Entstehungsge schichte vertieft, desto klarer stellt sich heraus, daß FoScolo in dem be
treffenden Briefe bemüht gewesen ist, die Vorgänge in ein gewisses, in sich abgeschlossenes System zu bringen und den Antheil seiner eigenen
Jdeenentwicklung, wie seiner eigenen Erlebnisse gegenüber der Einwirkung
Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe deS Jacopo OrtiS".
78
des deutschen Originales in den Vordergrund zu drängen.
Eine ein
gehendere Erörterung der an sich äußerst verwickelten Sachlage zu geben, behalten wir uns für einen anderen Zeitpunkt vor.
Für jetzt sei eS ge
stattet, nur auf die zwei wichtigsten Fragen, FoScolo'S erste Bekanntschaft
mit Goethe'S Werther und das zu Grunde liegende LiebeSverhältniß be treffend, einzugehen.
Die erste unter Beihülfe des Buchhändlers Marsili zu Bologna an gefangene Ausgabe (von 1798) hatte FoScolo, durch die wechselvollen po
litischen Ereignisse dazu genöthigt, abgebrochen, als dann mit der Rückkehr
Napoleons aus Aegypten und besonders nach dem Siege von Marengo
ruhigere Zeitumstände eintraten, kehrte FoScolo mit den Truppen nach Mailand zurück, da fand er zu seinem Erstaunen — so erzählt er selbst —,
daß das von ihm abgebrochene Werk dennoch zu Stande gekommen war.
Ein junger Mann, dem er bei seinem Abmarsche von Bologna seine Papiere übergeben, um dieselben den Nachforschungen der Polizei zu ent ziehen, hätte sich durch die Versprechungen deS Buchhändlers bestimmen lassen, mit Hülfe jener Papiere den Roman zu vollenden, er habe ihm
den Titel gegeben „letzte Briefe deS Jacopo OrtiS oder wahre Geschichte
zweier Liebenden".
Mit großer Ueberraschung habe FoScolo gesehen, daß
vorn in dem Buche sich sogar sein Bild befand; mit dem Buchhändler aber hätte er wegen der Fälschung einen heftigen Streit gehabt.
Wirklich
erschien in dem von Marsili verlegten Monitore Bolognese (Januar 1801)
ein Widerruf, durch den das schon in drei Auflagen verbreitete Werk für untergeschoben und für das Machwerk eines Miethling» erklärt wurde.
Dies hatte denn die wunderbare Wirkung, daß dasselbe in dieser ältesten Form völlig auS dem Buchhandel verschwand.
Der rechtmäßige Inhaber
der Briefe deS OrtiS machte sich inzwischen daran, die Papiere, über
welche er verfügte, zusammenzustellen und zu ordnen, und gab den Roman in seiner jetzigen Gestalt 1802 in Mailand heraus.
In dem Briefe an Bartholdy und später in den erwähnten Aufsätzen erklärt FoScolo auf das Bestimmteste, der Goethesche Werther sei ihm
erst in die Hand gekommen, nachdem er die neue Bearbeitung vollendet gehabt.
Sogleich sei ihm die große Aehnlichkeit zwischen dem Inhalte
beider Werke ausgefallen, an dem Werther aber hätte er den einen Vorzug
bemerkt, daß daS Interesse deS Lesers dadurch ungemein concentriert werde,
daß alle Briefe an einen Freund gerichtet wären, mit dem sich der Leser unvermerkt identifiziere.
„Indem ich den Wilhelm sah, erfand ich den
Lorenzo, die einzige erdichtete Person in meinem Werke."
AlSdann erst
wäre nach dem Muster deS deutschen RomaneS die letzte Umgestaltung vor genommen worden.
Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo OrtiS".
79
Obwohl diese Darstellung mit der Miene äußerster Wahrhaftigkeit vorgetragen wird, so wird sie dennoch völlig zu Schanden, wenn man sie mit einer allerdings ganz vertraulich gemeinten Aeußerung FoScolo'S in
einem anderen Briefe zusammenhält, der bisher unbeachtet geblieben ist.
Dieser Brief befindet sich im ersten Bande des Epistolario unter Nr. 118, also elf Nummern vor dem an Bartholdy geschriebenen, in dem Datum
der beiden ist ein Unterschied von zwanzig Tagen (Nr. 118 den 9. Sept., Nr. 129 den 29. September 1808).
Herrn Luigi Muzzi in Bologna
schreibt der Verfasser: „Mein Herr, ich hatte nicht nöthig, mein Gedächtniß anzustrengen,
„um mich Ihrer zu erinnern. — Ihr Name zwar war mir entschwunden, „aber unter meinen Erinnerungen lebte noch immer die Uebersetzung der
„Wertherie*).
Ich danke Ihnen, daß Sie das Andenken an jene Jahre
„— wieder in mir wachgerufen haben u. s. w.
Ich erinnere mich also
„recht wohl an Bologna, wie an den ersten Entwurf deS OrtiS (e di que’
„primi abbozzi dell’ Ortis), an Ihre Rathschläge, wie an Ihre Persön-
„lichkeit.
Auch ist mir im Gedächtniß, daß ich Ihnen im December 1800
„in den Apenninen begegnete: ich ging nach Florenz, Sie kehrten, wenn „ich nicht irre, nach Bologna zurück." haben
die Herausgeber des
Gegen die Echtheit des Briefe-
Epistolario kein Bedenken erhoben,
den
Adressaten kennzeichnen sie in einer Anmerkung als Erfinder einer neuen Methode lesen und schreiben zu lernen, die Schrift worin diese auSeinandergesetzt war, ist FoScolo gewidmet, der seinerseits dem Verfasser in dem angeführten Briefe seinen Dank ausspricht.
Hiermit wäre denn die erste Frage, ob dem Verfasser deS Ortis der Werther für feine Arbeit vorgelegen habe, bejahend beantwortet, besonders zu bemerken wäre nur noch dies, daß die unzweideutigen Zeitbestimmungen
in dem Briefe an Herrn Muzzi genau das bestätigen, was wir in dem
ersten Theile unserer Abhandlung (Bd. 45 dieser Zeitschrift S. 68 und 69) über die chronologische Folge in FoScolo'S Erlebnissen 1800—1802 auS-
einandergesetzt haben.
War nun aber FoScolo von Anfang an mit dem
Werther bekannt, so läßt sich wohl auch mit einiger Sicherheit die Ver
muthung aufstellen, daß er von vornherein die unglückliche Liebe seines
Helden als Motiv mit in den frühesten Entwurf aufnahm.
Geschah dies
aber, und dachte er dabei, wie er selbst behauptet, daran, aus seinen
eigenen Erlebnissen den Stoff für seine Wertheriade zu schöpfen, dann sind wir zu der Annahme berechtigt, daß der früheren Arbeit ein andere*) Die Herausgeber des Epistolario bemerken hierzu: Imitazione del Werther di Goethe, fatta dal Franceae Perrin, dal Muzzi tradotta e man data al Foacolo.
Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briese deS Jacopo OrtiS".
80
Liebesverhältniß zu Grunde liege, als dasjenige, welches unS der Brief
an Bartholdy andeutet, als daö toskanische nämlich, das wir selbst in daS
Jahr 1801 zu verlegen genöthigt waren.
Den besten Anhalt bietet hier
für Pecchio'S Darstellung im 2. Capitel seiner Biographie
Foscolo'S.
Die Liebe, sagt er, habe dem Dichter die Hauptidee zu seinem Romane eingegeben, dann schildert er in seiner Weise den Gegenstand derselben, eine Römerin von Geburt, als eine Dame von stattlichem Wüchse, mit
dunklen Locken und ttefschwarzen Augen:
„Ich, der sie nach ihrer Ver
mählung öfter auf einem Privattheater die Rollen der Isabella in Alfieri's
Philipp
und
der Wittwe Theresa*) in dem gleichnamigen Lustspiele
Greppi's darstellen sah, erinnere mich noch mit Vergnügen ihrer edlen
Vortragsweise und des ausdrucksvollen Spieles, womit sie alle Anwesenden hinriß." Alle Spuren,
die wir im Einzelnen zu verfolgen uns versagen
müssen, führen darauf hin, daß hier die Gattin des Dichters Vincenzo
Monti gemeint ist, die im Jahre 1798 nach Mailand kam, und für die FoScolo mit dem ihm eigenen Feuer leidenschaftlicher Liebe eine Zeitlang
schwärmte.
Die von Carrer hiergegen vorgebrachten Einwendungen haben
ihre Haupt-Quelle in dem Briefe an Bartholdy; was diesen aber an langt, so dürfen wir als feststehend ansehen, daß der Verfasser- seine Ab
sicht, das Publikum über seine Bekanntschaft mit dem Werther, wie über die bei der Liebesgeschichte mitspielenden Personen zu täuschen, in der That lange genug vollständig erreicht hat.
AuS der einen Täuschung
folgte eben hier, wie so oft im Leben, mit Nothwendigkeit die zweite und die ganze Reihe der übrigen.
Da FoScolo einmal den ersten Entwurf
für untergeschoben erklärte, so meinte er seine Behauptung damit stützen
zu können, daß er der neuen Bearbeitung ein anderes LiebeSverhältniß
zu Grunde legte.
DaS erste mußte gänzlich verschwiegen werden, na
mentlich durfte Bartholdy nichts davon erfahren, denn für die Wahr
haftigkeit seiner Empfindungen, die er mit dem Blute seines Herzens ge schrieben haben wollte, wäre es in der That ein schlechtes Zeugniß gewesen,
wenn ihm nachgewiesen werden konnte, daß dies Herz zwei Mal und so
bald nach einander von heftiger LiebeSgluth zu zwei verschiedenen Damen in dem Grade zerrissen ward, daß er in der Verzweiflung nahe daran
war, sich umzubringen. Durch welche Umstände FoScolo veranlaßt ward, seine erste Leistung für untergeschoben zu erklären, ist nicht schwer herauSzufinden.
Er selbst
erklärt aber auch den von ihm erlassenen Widerruf auf daS Einfachste:
*) Gewiß nicht zufällig sind Theresa und Jsabellina die beiden Namen, die so oft in dem Roma» vorkommen.
Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo OrtiS".
81
der Verfasser sah ein, daß das Werk viele Mängel hatte, daß es feineRufeS und des Publikums nicht würdig gewesen.
In der ganzen Ent
stehungsgeschichte deS OrtiS ist soviel
an- und weggedichtet
erfunden,
worden, daß man leicht geneigt sein dürfte, sich dem von Pecchio ausge sprochenen Urtheile anzuschließen und auch die Rolle jenes Miethlings
eben blos für eine Fiction zu erklären.
Dafür scheint auch der Umstand
zu sprechen, daß vorn in dem Buche sich FoScolo'S Bild befand.
Wie
dann der Verfasser mit dem Buchhändler zurecht kam, werden diese beiden
für sich behalten haben.
Daß daS Buch vielen Anklang gefunden, hatte
sich bereits gezeigt; wenn eS in einer verbesserten Gestalt austräte, ließ
sich hoffen, daß der Beifall noch anhaltender sein werde.
Hinzu rechne
man, daß der erste Druck unter bedrängten, sogar stürmischen Verhältnissen und auch in kurzer Zeit zu Stande kam, sodaß der Plan nicht einmal
ruhig durchdacht und geschickt auSgeführt sein konnte.
Die neue Ausgabe
bot also die beste Gelegenheit, die Mängel zu beseitigen.
Wie schnelle Verbreitung der Roman in Italien fand und welches Aufsehen er erregte, ergiebt sich aus der großen Anzahl von Ausgaben
und Abdrücken, welche rasch hinter einander folgten.
Auch in Frankreich
und England wurde der OrtiS viel gelesen, theils im Originale, theils in Ueberfetzungen oder nachgeahmten Bearbeitungen, und in gelehrten Zeit
schriften erschienen Abhandlungen, welche die Vorzüge und Schwächen deS
Werkes besprachen. In Deutschland unternahm zuerst Professor
Luden in Jena eine
freilich mangelhafte Uebertragung 1807, auch behandelte er in den Kleinen
Aufsätzen (Göttingen 1807) eingehend die Bedeutung und den Werth deS Buches.
Ein Zeugniß für die Aufnahme des italienischen Werkes im
Norden unseres Vaterlandes findet sich in einem Briefe Georg NiebuhrS —
Hamburg den 26. Februar 1808 an die Henölerin in Kiel: . . . D. hat Die Ueber-
mir den italienischen OrtiS gegeben; der ist ganz vortrefflich.
sctzung ist aber flau.
Laß ihn Dir schicken und lieS ihn.
DaS sage ich
getrost, daß ein Buch nicht unbedeutend ist, bei dem ich wie ein Kind ge
schluchzt habe.
Die mit dem Druckorte London 1817 erschienene deutsche
Uebersetzung entsprach dem italienischen Originale bei Weitem mehr als
die Ludensche und hat in der Sprache wesentliche Vorzüge vor dieser.
Sie
stammt aus demselben Berlage wie die 15. Ausgabe, der Uebersetzer ist der berühmte Gelehrte I. C. Orelli, der FoScolo sehr hoch schätzte, wie wir
auS dem Briefwechsel zwischen beiden ersehen. Die politische Richtung der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts
sah
aber die in dem OrtiS ntedergelegten Grundsätze und Ideen für
staatsgefährlich an, und daher kam es, daß die „letzten Briefe" in VerPreußifche Jahrbücher. Ad. XLVL Heft l.
6
Ugo FoScolo und fein Roman „die letzten Briefe des Jacopo OrtiS".
82
gessenheit geriethen, so daß man dieselben in Deutschland gegenwärtig
wenig kennt und liest.
Jedenfalls aber haben sie die- Schicksal nicht ver
dient, einmal wegen ihrer Stellung, die sie in der italienischen Literatur
einnehmen, und ferner deswegen, weil uns in ihnen, wie wir mit Luden
hervorheben, ein lebhaftes Bild der Zeit aufbewahrt ist.
Zu denjenigen Fragen, welche in den Zeitschriften am lebhaftesten
erörtert wurden, gehört die über die Originalität des Buches oder über
sein Verhältniß zum Goethe'schen Werther.
Die Aehnlichkeit zwischen dem
Werther und Ortis ist so groß, daß der von Vielen dem Letzteren ge machte Vorwurf, derselbe sei nur ein Plagiat oder eine geschickte Nach ahmung, nicht ungerechtfertigt erscheint.
Biö zu einem gewissen Grade
jedoch verdient der Verfasser in Schutz genommen zu werden und eine Vergleichung beider Romane wird lehren, mit welchem Rechte FoScolo
behaupten konnte, sein Werk stelle nur ähnliche Dinge, aber in einer an deren Form dar.
Zu dem Zwecke wird eS am geeignetsten sein, auf die
Verschiedenheiten hinzuweisen, welche sich erkennen lassen in dem Geiste und in der Anlage beider Helden, in der Absicht beider Verfasser und in der Darstellung.
Zuerst muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß der LiebeSleiden-
schaft in beiden Romanen eine wesentlich andere Einwirkung eingeräumt ist. Im OrtiS ist eS die Liebe zu einer wtederliebenden Jungfrau, die in dem
Gemüth des Jünglings den Reiz der Hoffnung weckt, wogegen im Werther die Liebe zu einer Vermählten mit der Gluth der verzweifelten Eifersucht
brennt.
Die Leidenschaft, welche in das Innere Werthers Gift ergießt
und ihm alle Lebensfähigkeiten verzehrt, stärkt dagegen das von Rache und
Freiheit glühende Blut des Ortis und macht ihn fähig den Zustand der Verbannung und Einsamkeit zu ertragen.
Der junge Werther erscheint
bei Goethe als ein für das Edle und Schöne empfänglicher Jüngling,
aber getrieben von einem ihm selbst unerklärlichen Verlangen, das Leben
im Schmerz zu genießen; „die Krankheit seiner sittlichen Natur ist eS, die ihm das Leben unerträglich macht und für die seine unglückliche Liebe zum zündenden Funken wird.
Katastrophe.
Der Heftigkeit seiner Leidenschaft entspricht die
AIS er erkennt, daß statt der Glückseligkeit, nach welcher
sein krankes Gemüth ungestüm Verlangen trug, nur innere Schmerzen
und Verzweiflung das LooS seines Lebens sind, da stürzt er sich in den Abgrund der Ewigkeit, und daS zu einer Stunde, wo die Natur rings um ihn schrecklich und furchtbar tobt."
„OrtiS dagegen ist ein Mensch,
welcher an der Ehre und Un
abhängigkeit seines Vaterlandes verzweifelt und von Anfang an schon zu lange gelebt zu haben glaubt; je mehr er die Fruchtlosigkeit seiner
Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacop» Ortis".
83
Leidenschaft einsieht und die Eitelkeit der menschlichen Hoffnungen, desto mehr befestigt er sich in dem Entschlüsse zu sterben.
Seit länger als
einem Jahre denkt er über den Selbstmord nach, er stellt mit sich selber Betrachtungen darüber an, er überredet sich dazu, erblickt aber in der Ge liebten nicht einen Antrieb, sondern ein Hinderniß zur Ausführung, und
erst als er die einzige Person, welche ihm das Leben noch werth macht, sich für immer entrissen sieht, da setzt er die Zeit und den Ort seines Todes fest; und als die Natur, den Frühling wiederbringend, ihn mit
ihrer Schönheit verlocken will, noch länger zu leben, da tödtet er sich, nachdem er mehrere Stunden zuvor mit dem Tode sich besprochen, welcher langsam und
allmählich die Nacht deS ewigen Schlafes um ihn ver
dichtet." So wie die Werke der beiden Schriftsteller uns vorliegen und nach
dem Eindrücke, den sie auf den Leser machen, war bei beiden die Absicht
eine verschiedene.
Indem der deutsche Autor seine Gedanken über den
Selbstmord und das was dieselben in ihm erweckt hatte, niederschrieb,
gelang es ihm, sich aus einem gefährlichen Gemüthszustande durch einen
Akt der kräftigsten Selbstbefreiung loszuringen; und tote Goethe nachher erklärte, war seine Absicht die, für den Selbstmord Mitleid und Ver zeihung zu erwecken, als für pine unheilbare Krankheit gewisser Sterb lichen.
Der italienische Verfasser dagegen wollte in seinem Werke den
Selbstmord als das Ergebniß gewisser Umstände darstellen, die den Be troffenen in die höchste Verzweiflung an sich selber, an den Menschen und an Gott versetzt haben, und als das einzige Hülfsmittel sich aus diesem hoffnungslosen Zustande zu retten; und er wollte beweisen, daß der Mensch
wohl ein Recht habe, diesem irdischen Dasein freiwillig zu entsagen, in dem er zwar ein Geschenk der Gottheit sieht, das aber für ihn eine un-
versiegliche Quelle der Leiden und eine unerträgliche Last geworden ist.
FoScolo sagt von sich selber, daß er diese Ansicht von dem Selbstmorde auch in seinem späteren Leben beibehalten habe.
Wie sich der italienische Verfasser in Bezug auf die beiden berührten Punkte gegen den Vorwurf eines Plagiates zu vertheidigen versucht hat,
so hat er eS auch in Hinsicht der Darstellung gethan.
„Die Kunst, sagt
er, besteht nicht darin, daß man neue Dinge darstelle, vielmehr daß man sie auf eine neue Weise darstelle.
Wer mir hierin widerspräche, den
würde ich auf die Trauerspiele — und es sind ihrer nicht wenige — von trefflichen Meistern verweisen, welche denselben Borwurf, dieselbe Fabel,
dieselbe Katastrophe, dieselben Personen haben, und dennoch zeiht man sie nicht eines Plagiates.
So hat eS für die Kunst die Natur angeordnet,
die allgemeine Natur, welche beständig dieselben Dinge hervorbringt, die
6*
84
Ugo Foscolo nnb fein Roman „die letzten Briese des Jacopo Ortis".
einzelnen aber merkwürdig macht durch die kleinsten und unendliche Ver schiedenheiten, mit denen sie dieselben. auSstattet.
Wenn wir auf diese neue Weise der Darstellung näher eingehen, so ist bei dem Italiener daS Bestreben deutlich zu erkennen, jede einzelne
Handlung, jeden Charakterzug und die Entstehung solcher Grundsätze, wie wir sie an seinem Helden kennen lernen, genauer zu motiviren, während
im Werther mehr daS persönlich
eigenartige Gefühl unmittelbar und
darum mit der größten Wahrheit zum Ausdruck kommt.
Der unglück
lichen Liebesleidenschaft geht wie eine einleitende Erklärung deS gereizten
geistigen und sittlichen Zustandes im OrtiS die Schilderung der politischen Zerrissenheit und Verkommenheit Italiens voraus und begleitet dieselbe.
Durch diese Zustände wird der für die Freiheit begeisterte Jüngling zur
Verzweiflung gebracht; während sein Herz von dieser erfüllt ist, und mit sich selber ringend, in der Einsamkeit sich nach Beruhigung sehnt, er
scheint ihm eine neue Quelle deS Lebens, er beginnt zuerst langsam, dann mit vollen Zügen daraus zu trinken, zu spät erst erkennt er daS gefähr liche Gift, das er in seinen krankhaften Geist ausgenommen hat, und dies
Gift bereitet ihm den Tod.
Dies Bestreben zu motiviren, tritt besonders
in der Liebesgeschichte hervor und die Umstände sind hier solche, wie sie
Manche im Goethe'schen Werther gewünscht hätten: die Haltung des auf seinen Adel stolzen VaterS der Verlobten, das gleichgültige, eigennützige Benehmen und daS kalte Gemüth des Bräutigams, die bescheidene, zu rückhaltende Unschuld deS Mädchens, welche in stiller Duldung alle Opfer einer schönen Seele bringt, welche mit sich selbst die härtesten Kämpfe be
steht, ohne daß sie ihre Umgebung mehr hineinblicken läßt, als sie durch die Heftigkeit ihrer Schmerzen gezwungen ist, alles dies sind Motivierun
gen, welche FoScolo nothwendig erschienen, um die traurige Katastrophe herbeizuführen, und die in der That dazu beitragen, dieselbe als eine un
ausbleibliche erscheinen zu lassen.
Nach dem aber vom Verfasser selbst gemachten Zugeständnisse, kann
unS die große Aehnlichkeit,
welche in Form und Inhalt zwischen dem
OrtiS und Werther besteht, nicht als zufällig erscheinen.
Im Ganzm und
Einzelnen ist dieselbe so groß, daß eine ziemlich starke Einwirkung deS
Werther auf den OrtiS nicht wegzuläugnen ist.
Aber auf der anderen
Seite muß hervorgehoben werden, daß die Haltung und Färbung deS
italienischen Romanes eine durch und durch italienische ist.
Erst all
mählich werden wir Deutsche, ernster und kälter geartet und verständiger angelegt wie wir sind, uns an die Gluth des Pathos gewöhnen können,
und werden Anfangs vor dieser Heftigkeit der Leidenschaften erschrecken. Deswegen wird daS Buch zwar das tiefste Mitleid mit dem Unglücklichen
Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo OrtiS".
85
in uns erregen, der wegen seiner eigenen, nicht zu beugenden Natur von vornherein rettungslos verloren scheint, aber eS wird uns bei der Wild
heit dieser unter einem südlichen Himmel geweckten Leidenschaft keine Ge fahr bringen.
Um so mehr dagegen können wir uns an seinen Vorzügen
erfreuen, die gewiß nicht geringe sind, und denen der OrtiS das gewaltige Aufsehen verdankt, das er bei seinem Erscheinen erregte.
Wir rechnen
dahin besonders die treffliche Motivierung aller Handlungen, die Groß artigkeit deS Stiles, die Feinheit und Natürlichkeit der Darstellung und
die lebendige Schilderung der socialen und politischen Zustände Italiens.
Einen besonderen Reiz verleihen ihm die landschaftlichen Schilderungen und die sogenannten Episoden. In der neueren italienischen Literatur nimmt der OrtiS ohne Zweifel
eine hervorragende Stellung ein und gilt mit Recht für eins der bedeu tendsten Erzeugnisse derselben.
Für eine Gattung der Prosa gab er ein
neues Muster, auch hierin dem Werther ähnlich.
Zwar werden Romane
dieser Art allein und vereinzelt pastehen, dennoch aber ist der OrtiS nicht
ohne Einfluß auf die ganze Anzahl neuerer und besonders historischer
Romane geblieben, die seitdem erschienen sind.
Ein Vorbild gab er
durch die Reinheit deS Stils, und zwar in einer Zeit, wo das Ein
dringen französischer Vocabeln und Phrasen der italienischen Sprache nachtheilig zu werden drohte.
Im Gegensatze dazu zeigt FoScolo eher
eine Vorliebe für antikisirende Ausdrücke und Wendungen, die sich leicht
aus seinen Studien und seinem ganzen Bildungsgänge erklären und ent schuldigen läßt.
Gewiß wird Niemand demselben zum Fehler anrechnen,
daß in einem Buche, welches einen für die republikanische Freiheit be
geisterten venetianischen Jüngling zum Helden hat, diese Begeisterung ge nährt erscheint durch daS Studium des classischen Alterthums und gestärkt
durch die Bewunderung für die Heldenthaten der Alten.
Vielmehr werden
wir diesen Zusammenhang mit dem Alterthum als einen Vorzug ansehen,
ebenso wie die außerordentliche Verehrung für die Vertreter der classischen italienischen Zett, welche der Verfasser auf den Helden deS Romanes von
sich übertragen hat.
Damit aber, daß er seinem Werke den nationalen
Hintergrund gegeben, hat er dem ganzen poetischen Gemälde nicht blos einen hohen Reiz verliehen, sondern auch den literarischen Werth desselben
gesteigert; denn darin, daß die Werke der Literatur eines Volkes mit dem nationalen Leben desselben auf daS Engste Zusammenhängen und auS ihm
hervorgehen, werden wir stets einen entschiedenen Vorzug erblicken.
Zum Schluß möge es gestattet sein, auf ein Werk Foscolo's hinzu
weisen, welches fast um dieselbe Zeit von ihm verfaßt wurde, und durch
daS er sich auf einem anderen Gebiete der Prosa gleiche Verdienste er-
86
Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe de» Jacopo Ortis".
warb: die Rede an Napoleon Bonaparte, geschrieben in dem Zeitpunkte, wo dieser die Abgeordneten Italiens auf dem Congresse zu Lyon ver
sammelte (November 1801), um die Verfassungsveränderungen der neu
etnzurichtenden italischen Republik zu berathen.
Auch diese Rede trug viel
dazu bei, FoScolo'S literarischen Ruf zu erhöhen. dem OrttS erschienen.
Dieselbe ist kurz vor
Bon den späteren Werken stehen „die Gräber"
dem OrtiS am nächsten, FoScolo'S berühmtestes Gedicht, durch welches er seinem verehrten Freunde dem Dichter Parini ein unvergänglicheres Denk
mal gesetzt hat, als eins von Stein oder Erz gewesen wäre, dessen Er richtung die Behörden bei seinem Tode verhinderten.
In jener Rede hat er sich die Aufgabe gestellt, die bisherigen Miß stände in der cisalpinischen Republik, sowie die Mittel aufzuweisen, wie
ihre Heilung zu bewirken sei.
Eine neue Quelle des Ruhmes erblickt er
für Bonaparte darin, daß dieser die Wunden, welche ditrch deS Schicksals
Schuld, durch der Eroberung räuberische Gewaltthat, durch der Regierenden Habsucht und Unwissenheit lange Zeit die unglücklichen Provinzen Italiens gequält haben, mit seiner gewaltigen Hand lindere und heile.
Er thut
dar, wie verderbt in der cisalpinischen Republik die drei Grundbestand theile jedes Bürgervereines seien: die Gesetze, die Waffen, die Sitten, und
spricht den stolzen Sieger die Wünsche der Nation aus; er verkündet ihm,
daß der Größe seines Ruhmes nichts fehlen werde, wenn er Italien un abhängig und stark mache, nur so werde dies für Frankreich ein kräftiger
Bundesgenosse sein.
Bonaparte übernahm selbst die Präsidentschaft der italischen Republik und bestätigte den neuen Verfassungsentwurf für dieselbe.
Aber die Er
wartungen einer neuen Ordnung gingen auch jetzt nicht in Erfüllung.
Die italische Republik, ihr Heer und ihre Gelder hingen ganz von Na poleons Verwendung ab, dessen Stellung einen immer mehr monarchischen Charakter annahm; bei seinen Kriegen zog er dieselbe ungefragt in Mit leidenschaft.
So dauerten die Bedrückungen fort, und diejenigen Männer,
welche die Republik verwalteten, übten ihre Macht nach den Vorschriften, die sie von Bonaparte empfingen.
FoScolo, dessen Hoffnungen auf die
Selbständigkeit der Republik gerichtet gewesen waren, sah sich in diesen
getäuscht-, deshalb trat er auf die Seite der Opposition und blieb auf derselben.
Der erste Ausdruck dieser Enttäuschungen sollte der Ortis sein.
Seitdem konnte er durch nichts bewogen werden, dem Interesse desjenigen
zu dienen, den er für einen Usurpator hielt; niemals ließ er sich dahin
bringen, um die Gunst desselben sich zu bemühen und sich um Ehren zu bewerben, die ihm sonst leicht zugefallen wären. Die Erfüllung
seiner Wünsche und Bestrebungen
erlebte FoScolo
Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe deS Jacopo OrtiS".
87
nicht, vielmehr zwang ihn ein widrige- Geschick, sein Vaterland zu ver lassen, und so ist er als ein Verbannter in der Fremde gestorben.
Unter
den Männern aber, welche mit glühendem Patriotismus für die Wieder geburt Italiens den Kampf gegen Unterdrückung und Uebermacht eröffnet
haben, ist Foöcolo'S Name stets zuerst genannt worden.
Im Jahre 1870
in der Zeit, als der letzte Schritt zu der Einigung Italiens sich vollzog, haben seine Landsleute seine Gebeine aus England geholt und in der
göttlichen Santa Croce zu Florenz beigesetzt, wo sie neben den Resten seines Meisters Alfiert und
seines Freundes Nicolini ruhen; und die
Dankbarkeit der Nation wird ihm ein seiner würdiges Denkmal errichten
neben den Statuen Dante'S, Macchiavelli'S, Galilei'-, Alfieri'S und an derer um das Vaterland verdienter Männer. — Hatte indeß die große
nationale Aufgabe in den- heißen Jahren der Entscheidung alle Parteien bis zu einem gewissen Grade zu einer gemeinsamen Thätigkeit zu ver
einigen vermocht, so hat sich bald nach der Erreichung deS Zieles der Ge gensatz unter denselben wieder schärfer entwickelt: während die Einen daS
Heil deS neuen Italiens in einer besonnenen und maßvollen Entwicklung
des auf constttutioneller Grundlage aufgebauten monarchischen Staates er
blicken, trachten die Anderen — allerdings in sich gespalten und abge stuft — der Verwirklichung ihrer Freiheitötdeen nach und streben theils
unbewußt, theils mit bewußter Anstrengung dem republikanischen Systeme
entgegen.
Diese Letzteren haben FoScolo ganz zu einem der Ihrigen ge
macht, und daraus erklärt es sich wohl, daß es zu einer allgemeinen Er-
innerungSfeier seines hundertjährigen Geburtstages (FoScolo war nach
dem urkundlichen Nachweise am 26. Januar 1779 auf der Insel Zante geboren) nicht gekommen ist, ja daß manche Zeitungen daS Factum kaum
der Erwähnung für werth gehalten haben.
Dr. F. Zschech.
Aus Ungarn. ES ist ein seltsame- Schauspiel, da- gegenwärtig in der österreichisch
ungarischen Monarchie aufgeführt wird.
Während Jahrhunderte lang da
deutsche Volk in diesem Staat das staatsbildende Element war, wird eS
heute Schritt für Schritt zurückgedrängt.
In Böhmen muß es dem
tschechischen den Platz räumen, in Galizien dem polnischen, in Ungarn
dem magyarischen.
Wie insbesonderS die Magyaren gegenwärtig gegen
da- deutsche Leben rasen, davon hat man, bei dem Vertuschen und Schweigen der Mehrzahl der deutschen Zeitungen, in Deutschland keine
Vorstellung.
Hat man doch dem deutschen Leben hier die Axt an die
Wurzel gelegt!
Im vorigen Jahr ist ein Gesetz geschaffen worden, durch
welche- die Volksschulen in Ungarn magyarisirt werden sollen.
Darnach
darf vom 30. Juni 1882 an kein Volksschullehrer angestellt werden, der der magyarischen Sprache in Wort und Schrift nicht völlig mächtig ist und
in jeder Volksschule ist hinfort das magyarische ein obligatorischer Unter richt-gegenstand.
Dabei ist zu bemerken, daß eS in Ungarn nahe an
14,000 konfessionelle Volksschulen gibt, zu deren Erhaltung der Staat
keinen Pfennig beisteuert und nur 131 Staatsschulen, die er erhält.
Noch
bezeichnender ist, daß es in dm meisten Theilen Ungarns Landstrecken gibt, wo man im gewöhnlichen Verkehr auf Meilen in der Runde kein magyari
sches Wort hört; der Zwang der magyarischen Sprache in der Volksschule ist daher nicht einmal in einem praktischen Bedürfniß begründet, sondern
einfach ein herrisches Attentat auf das BildungSmaß der Nichtmagyaren und eine Herabdrückung dieses zu Gunsten der herrschenden Race, deren
Schulen an solchem Ballast nicht zu leiden haben.
Und was bet der
Verhandlung dieses Gesetzes bei aller Leugnung der Absicht seitens der Klägern doch immer klarer herauStrat, war eben die von den Heißspornen
betonte Nothwendigkeit allgemeiner Magyarisirung der Nationalitäten in
Ungarn, die '/, der Gesammtbevölkerung im Lande bilden gegen 7ä Ma gyaren.
„Ungarn ist nicht ein vielsprachiger sondern ein magyarischer
Staat" höhnte, ohne irgend einen Widerspruch von maßgebender Seite,
89
Aus Ungarn.
der Abgeordnete Mederaß.
„Wir wollen nicht blos ein selbständiges Un
garn sondern einen Magyarenstaat.
fang des weitern.
Auch diese- Gesetz ist blos ein An
Die zweifellose stetige Abnahme des magyarischen
Stammes kann nur durch eines verhindert werden, fügte der Reneget
Grünwald hinzu, daß wir in den Gemeinden mit gemischter Bevölkerung als Unterrichtssprache in die Volksschule das Magyarische einführen." Dieselben Ziele und Gedanken sind eS, die das ungarische Ministerium
bewogen haben im Mat d. I., dem Reichstag einen Gesetzentwurf vorzu legen über die Mittelschulen (Realschulen und Gymnasien).
Darnach soll
die StaatSomnipotenz auch ausgedehnt werden über diese Schulen, be züglich
deren
wieder
ein ähnliches Verhältniß
Volksschulen, der Staat besitzt fast keine.
wie
herrscht
bei
den
Die hauptsächlichsten Bestim
mungen de- Entwurfs nach den Beschlüssen des Unterrichtsausschusses aber
sind folgende:
Es kann hinfort an allen Gymnasien und Realschulen
nur derjenige als Lehrer angestellt werden, der ein vierjähriges Universi-
tätSstudium nachweist; ein Jahr davon mindestens muß an einer Univer sität Ungarns (Pest oder Klausenburg) zugebracht werden.
Diese Hoch
schulen aber sind durchaus magyarisch; keine andere BortragSsprache wird
geduldet.
Hier müssen auch alle Kandidaten deS Lehramtes ihre Prüfung
ablegen, natürlich magyarisch.
Für jeden, welches Lehrfach er immer
habe, ist ferner ei» PrüfungSgegenstand: „magyarische Sprache und Lite
ratur, Sprachlehre und Stylistik, Uebersicht über die Entwickelung der magyarischen Literatur
Schriftsteller".
und Kenntniß
der Hauptwerke
hervorragender
Weiter hat der Kandidat nachzuweisen, „in wie weit er
die magyarische Sprache als Unterrichtssprache kennt".
Durch diese
Bestimmungen wird die früher gegebene Erlaubniß des Gesetzentwurfs, wornach drei Studienjahre an einer außerungarischen Universität zugebracht
werden können, für alle die illusorisch, deren Muttersprache nicht magyarisch ist;
der Besuch
deutscher Universitäten
ist
damit
verboten.
Denn der Deutsche oder Slave, der jenen Forderungen entsprechen will, muß alle vier Studienjahre in Pest oder Klausenburg zubringen und ist damit
wieder dem Magyaren gegenüber im Nachtheil, der in einem Jahr daS lernen und dann drei Jahre in Deutschland wirkliche Wissenschaft studiren
kann.
Damit ist besonders der zäh vertheidigte Zusammenhang der
Siebenbürger Sachsen mit den deutschen Universitäten zerrissen, der dem
siebenbürgischen Landtag im 17. Jahrhundert so bedeutsam für da- ganze Land erschien, daß er bestimmte, wer jemals diesen Besuch hindern wollte,
der „soll vor Gott verflucht und in dieser Welt jeder Ehre bar sein". Aber eS kommt noch etwas hinzu.
An den Mittelschulen selber soll
das magyarische obligatorisch und so gelehrt werden, daß die Schüler in
90
Aus Ungarn.
Wort und Schrift die Sprache geläufig gebrauchen. ist der gesammte Unterricht magyarisch.
An den Staatsschulen
Vergebens gebietet § 17 des
Nationalitätengesetzes, daß der Staat verpflichtet ist, dafür zu sorgen, „daß die Staatsbürger jedweder Nationalität in ihrer Muttersprache
sich
bis zu dem Punkte ausbilden können, wo die höhere akademische
Bildung anfängt."
Solche Bestimmungen, nur da um nach außen zu
prunken, hält man einfach nicht; der ungarische Staat errichtet nur ma gyarische Lehranstalten.
Solche Vergewaltigung und Verhöhnung wagt man natürlich nach
außen nicht einzugestehn. Wochen verkündigt, lediglich
darum:
Da wird ein Fechterkunststück gebraucht und seit
es handle sich bei der Einführung dieses Gesetzes
dem
Staat dasjenige Maß des
Einflusses
die
auf
Schulen zu sichern, das er u. a. in Deutschland mit schweren Kämpfen sich errungen.
Man verkündigt dabei freilich nicht, daß der ungarische
Staat thatsächlich — kein Staat, sondern eine Magyarisirungsanstalt ist. Es handelt sich also in vermehrter Staatsaufsicht über die Mittelschulen nicht um einen Kulturfortschritt, sondern um Vernichtung der deutschen und
andern nichtmagyarischen Schulen; in Siebenbürgen ist es ein Attentat
auf die tiefsten Wurzeln des deucschen Lebens unter den Sachsen.
Man
darf nicht übersehn, daß es in ganz Ungarn eben deutsche Mittelschulen nur gibt,
insoweit sie die evangelische Kirche in Siebenbürgen erhält;
Verstaatlichung ist in Ungarn gleichbedeutend mit Magharisirung,
also
Ruin. — Darum ist auch die Autonomie der Kirche in Ungarn, ihr Recht, selbständig Schulen zu erhalten, von ganz anderer Bedeutung als an
derswo.
Ohne dieses Recht wäre hier der Protestantismus der Jesuiten
politik des 17. und 18. Jahrhunderts zum sichern Opfer gefallen und hätte in Siebenbürgen evangelische und deutsche Kultur schon lange ihr
Grab gefunden.
In Ungarn sind der Wiener und der Linzer Friede, in
Siebenbürgen der Staatsvertrag deS Leopoldinischen Diploms und der
Sathmarer Friede sowie eine lange Reihe von Religionsgesetzen aus der Zeit der Fürsten und des Kaiserhauses Habsburg Zeugniß davon.
die Rechtsstellung der
Und
„akatholischen Kirchen", insbesonders wieder
in
Siebenbürgen, ist eine so unanfechtbare, daß es abermals der Mißachtung
allen Rechtes und Gesetzes bedurfte, wie sie den jetzigen Machthabern in
Ungarn eigen ist, um einen solchen Gesetzentwurf einzubringen.
Wenn
der türkische Sultan sich derartiges erlaubt, so wird die Frage zum Ge genstand eines europäischen CongresseS gemacht; in Ungarn wirthschaftet
man ungestört. So sind denn die einzelnen Confessionen um so mehr gezwungen ge-
All« Ungarn
91
wesen, Stellung zu nehmen gegen den Entwurf, der unter dem Vorwand des staatlichen Oberaufsichtsrechts alle außer den magyarischen Schulen
unmöglich machen würde.
Es liegt darin nichts „Kulturfeindliches", wie
der „Pest. Lld." höhnt, sondern eö ist der aufgedrungene Kampf für eine Lebensbedingung.
Der Stellung der Confefsionen, die hier um es nochmals zu betonen, nationale Güter und Güter des protestantischen Kulturlebens ver theidigen, ist es zu verdanken, daß der Gesetzentwurf vorläufig von der
Tagesordnung abgesetzt worden ist
Aber eS ist kein Zweifel, daß wenn
nicht auch in der öffentlichen Meinung draußen die Ueberzeugung durch
dringt,
eS handle sich hiebei um einen neuen Schlag in erster Reihe
gegen deutsches und protestantisches Leben — dieser Schlag doch noch ge
führt wird.
Politische Correspondenz. Nach der Entscheidung.
Berlin, 9. Juli 1880.
Volle sechs Wochen hat der preußische Landtag zur Berathung des Gesetzes betreffend Aenderungen der kirchenpolitischen Gesetze verwendet und zwar sechs Wochen einer Sommersession, die ursprüriglich nur be
stimmt war, der sachlichen Verständigung über die Organisation der all
gemeinen Landesverwaltung den formalen Ausdruck zu geben.
Obgleich
der Landtag seit Ende October versammelt war — in die dreimonatliche
Pause vom 20. Februar bis 20. Mai fällt die Session des Reichstags — haben wir nie weniger über parlamentarische Ermüdung klagen hören, als gerade in den letzten Wochen.
Und mehr als das — das Interesse der
Bevölkerung ist den Verhandlungen des Landtags über die kirchenpolitischen Fragen in einer so allgemeinen und intensiven Weise gefolgt, daß selbst
die nicht-preußischen Zeitungen, die sich sonst in von Jahr zu Jahr stei
gendem Maße gegenüber den Vorgängen im preußischen Landtage spröde
zeigen, dieses Mal nur Ohren hatten für das Intermezzo, welches sich auf der Tribüne am Dönhofsplatz abspielte.
Die Behauptung, daß das
preußische Volk des Culturkampfs müde sei, daß eS, so zu sagen, um jeden Preis Ruhe und Frieden wieder haben wolle, konnte nicht in schlagenderer Welse widerlegt werden,
als eS durch die leidenschaftliche Theilnahme
aller Kreise an den letzten parlamentarischen Kämpfen geschehen ist.
Nicht
am wenigsten hat dazu freilich die eigenthümliche Gestaltung des Gesetz entwurfs beigetragen, der für die Regierung weitgehende Vollmachten ver
langte, ohne eine Garantie dafür zu bieten, daß und in welchem Um
fange und in welcher Richtung von jenen Vollmachten Gebrauch gemacht werde.
Kein Wunder, daß Angesichts der Ungewißheit über daS eigent
liche Ziel der Regierung nicht eine einzige Partei sich geneigt zeigte, der Führung der Regierung rückhaltlos sich anzuvertrauen.
An halb oder
ganz autorisirten Erläuterungen über die Absichten der Regierung und deS leitenden Ministers hat eS freilich im Laufe der Berathungen nicht
gefehlt; aber bis heute ist es noch Niemandem gelungen, den Widerspruch
zu lösen, in dem die gesetzlichen Mittel zu dem Zwecke stehen, der mit
Politische Cvrrespondenz. denselben erreicht werden sollte.
93
Herr von Puttkamer hat in seiner Rede
im Herrenhause erklärt, wie der Staat, als er im Jahre 1873 genöthigt wurde, „seine Rechtsordnung mit gesetzlichen Schutzwehren zu umgeben gegen den Ansturm derjenigen Tendenzen, welche in vatikanischer Richtung in der römisch-katholischen Kirche geltend geworden waren", nicht die Ab
sicht gehabt habe, einen Conflict mit den Dogmen der Kirche heraufzube
schwören oder gar in irgend einer Weise den religiösen Ueberzeugungen
der katholischen Bevölkerung entgegenzutreten. Diese nicht gewollte Wirkung der Maigesetze sei indessen eingetreten und deshalb habe die Regierung keinen Augenblick gezögert, die Hand zu einem friedlichen Ausgleich zu
bieten, sobald der Pabst Leo XIII. sich durch das bekannte Schreiben an
den Kaiser im Frühjahr 1878 zu einem solchen geneigt zeigte.
„Die Re
gierung sah sich aber sehr bald vor der in ihren Augen unumstößlich fest
stehenden Thatsache, daß zu einem ein wirklich dauerndes Verhältniß ver bürgenden Ausgleich mit der Curie nicht zu gelangen sei und war deshalb vor die Alternative gestellt, entweder ihre Bemühungen, den katholischen
Mitbürgern eine Erleichterung ihres Zustandes zu verschaffen, einzustellen oder ihrerseits selbständig auf dem Wege der Landesgesetzgebung vorzu gehen und den katholischen Mitbürgern dasjenige zu gewähren, waS sie
ohne Beeinträchtigung der unveräußerlichen Hoheitsrechte des Staates ge
währen zu können glauben.
Meine Herren,
auf diesem Gedanken —
natürlich immer vorausgesetzt, daß uns die Ausführung eines
solchen Gesetzes durch ein entsprechendes Entgegenkommen von anderer Seite möglich gemacht wurde — beruht der im Mai dem Abgeordnetenhause vorgelegte Gesetzentwurf."
Wozu aber ein Gesetz, dessen
Ausführung von derselben Curie abhängig ist, welche erwiesener Maßen den Ausgleich des Conflicts auf der von der Regierung gewollten Basis
nicht will?
An diesem inneren Widerspruch — und nicht weniger an dem
offenbaren Widerspruch zwischen diesen Erklärungen des berufenen Vertreters der Regierung und dem Inhalte der als authentischer Commentar zu der Vorlage veröffentlichten diplomatischen Aktenstücke ist die Vorlage gescheitert.
„Die Verminderung der Geistlichen, das Verschwinden der Bischöfe, der Verfall der Seelsorge flößen uns die lebhafteste Sympathie mit un
seren katholischen Mitbürgern ein, die auf diese Weise von ihren Geist lichen verlassen werden, weil die Priester auS politischen, den Laien schwer verständlichen Motiven die Seelsorge verweigern.
Es ist Sache der
Kirche und des PabsteS, dies zu verantworten.
Zu andern Zeiten
und in andern Ländern haben wir gesehen, daß die katholische Geistlich keit unter sehr viel härteren Bedingungen, ja unter großen Gefahren und
Demüthigungen, dennoch die Gläubigen, die ihrer bedurften, nicht unbe-
Politische Lorrespondenz.
94
friedigt ließ, sondern daS Tolerari potest sehr viel weiter trieb, als eS
nöthig fein würde, um in Preußen Seelsorge zu üben, ohne mit den Mai
gesetzen in Conflict zu kommen.
Wenn die heutige Hierarchie ihr Ziel
und ihre Ansprüche sehr viel höher schraubt und lieber den Gläubigen die
Wohlthaten der Kirche versagt, als daß sie sich den weltlichen Gesetzen fügt, so werden Kirche und Staat die Folgen tragen müssen, welche Gott
und die Geschichte darüber verhängen."
So zu lesen in der vertraulichen, im AuSzuge in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung"
kanzlers
vom 26. Mai publicirten Depesche des Reichs
Fürsten Bismarck an den Prinzen Reuß, unsern Botschafter
in Wien.
Die Depesche trägt das Datum des 20. April, liegt also
dem Zeitpunkt der Einbringung des Gesetzentwurfs so nahe, und erhält durch die Veröffentlichung nach der Einbringung eine so unmittelbare
Bestätigung, daß die Auffassung, welche sie vertritt, nicht als eine durch
spätere Vorgänge überholte betrachtet werden kann.
Ist aber jene Auf
fassung in der That die maßgebende, so bleibt — von der Eventualität
einer force majeure, eines moralischen Zwanges abgesehen — für die Vorlegung deS in Rede stehenden Gesetzentwurfs nur eine einzige Er
klärung übrig.
Der Staat d. h. die Regierung in Uebereinstimmung mit
den beiden gesetzgebenden Factoren formulirt in der zwingenden Form einer gesetzlichen Vollmacht die äußersten Zugeständnisse an die katholische
Hierarchie einerseits und an die katholische Bevölkerung andererseits, um Angesichts der ablehnenden Erklärung der Curie die Verantwortlichkeit
für die Fortdauer der unerquicklichen Verhältnisse voll und ganz auf den Papst und die Bischöfe abzuwälzen. Der Gesetzentwurf vom 15. Mai ent
hält unter diesem Gesichtspunkte die von dem Pronuntius Jacobini ver mißte Aeußerung der preußischen Regiernng darüber, wie dieselbe sich zu den (zwischen dem PronuntiuS und Geheimrath Dr. Hübler erörterten) römischen Desiderien stellen und in wieweit sie ihre eigenen Forderungen aufrecht erhalten wolle.
(Depesche deS Prinzen Reuß vom 15. April.)
Die Regierung mußte sich sagen, daß wenn — unerwarteter Weise nach
dem Verlaufe der Verhandlungen mit der Curie — die römische Partei im Abgeordnetenhause dem Gesetze ihre Zustimmung ertheilte, sie dies nach ihrer ganzen Vergangenheit nur als Mandatar deS PabsteS thun
konnte.
Lehnte das Centrum, wie geschehen, die Anerbietungen der Re
gierung ab, so schloß eS sich seinerseits dem Non possumus der Curie an.
Je weiter die Regierung, nach der Ansicht der übrigen politischen
Parteien, in ihren Anerbietungen an Rom und daS Centrum über die Grenzlinie des Zulässigen hinauSging, um so durchschlagender war auch
für die katholische Bevölkerung der Beweis geliefert, daß das Scheitern
95
Politische Lorrespondenz.
der Verhandlungen nicht die Folge deS mangelnden Entgegenkommens der Regierung fei.
Von dem Augenblicke an, wo das Centrum die Aner
bietungen der Regierung als ungenügend zurückwies, war die diplomatische Niederlage des deutschen Unterhändlers durch die moralische der Curie gedeckt.
Die Regierung aber mußte, wenn sie sich nicht dem Vorwurf
der Spiegelfechterei aussetzen wollte, an ihrer Vorlage bis zum letzten entscheidenden Momente festhalten, auf die Gefahr hin, daß das Resultat
der Berathung ein absolut negatives sei.
Ein minder friedliebender oder
parlamentarisch minder gewandter Minister als Herr von Puttkamer wäre an der Lösung dieser heikelen Aufgabe gescheitert.
Wie Herr von Putt
kamer die seinige aufgefaßt hat, darüber hat er sich bet den Verhandlungen
des Herrenhauses und den Angriffen gegenüber, welche Professor Dr. Dove von evangelischem Standpunkte aus gegen ihn richtete, in völlig zureichender
Weise
ausgesprochen.
„Wenn
der Herr Vorredner, heißt es in dem
stenographischen Bericht, seine Ausführungen damit begann, daß ich unter
dem Beifall deS Centrums glänzende Reden als evangelischer Christ ge halten hätte, so ist das eine Aeußerung, an der ich nicht ganz mit Still
schweigen vorübergehen kann.
Denn da ich nicht blos evangelischer Christ,
sondern auch Staats-Minister bin, so hat eine solche Aeußerung eine po litische Beimischung mir gegenüber, deren Natur dem Hohen Hause wohl
deutlich bemerkbar geworden ist.
Ich muß mir gestatten, darauf dieses zu
erwiedern: wenn ich in den Ausführungen gelegentlich der Verhandlungen
über das gegenwärtige Gesetz, die ich im anderen Hause gethan habe, mich
keines vorwiegend polemischen Tones den katholischen Mitgliedern gegen über befleißigt habe, so wird das Haus die Erklärung dafür ganz einfach in dem Umstande finden, daß ich eine auf Frieden und Versöhnung ge richtete Maßregel zu vertheidigen hatte. ...
Ich habe mir, offen gestan
den, die Aufgabe, die mir im Abgeordnetenhause oblag, lediglich in dem
Sinne gedacht, daß ich durch meine Allsführungen mit dazu beizutragen habe, um das Ganze oder einen wesentlichen Theil der Vorlage zur An nahme zu bringen.
Ich glaube, daß die Centrumsfraction des Abgeord
netenhauses ganz genau weiß, wie sie mit mir daran ist.
Aber ich habe
die Hoffnung, daß in meinen bisherigen Handlungen oder Worten keine
gegründete Veranlassung gegeben ist zu glauben, daß ich die mir anver trauten Staatsrechte und die im Allerhöchsten Auftrage unternommene Wahrung dieser Staatsrechte in irgend einer Weise außer Augen gesetzt
habe.
Ich habe dem Centrum in einer höflichen Weise zu Gemüthe ge
führt, daß eS meiner Ansicht nach eine Thorheit begehe, wenn es die ihm
gebotene Hand ablehne." Die Höflichkeit des Herrn von Puttkamer hat das Centrum
nicht
Politische Torrespondenz.
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abgehalten, die Thorheit zu begehen, zu der es durch das Beispiel der
Curie autorisirt war, aber daS Centrum konnte sich nicht auf die Negation deS Gebotenen beschränken;
eS mußte endlich einmal eine Erläuterung
liefern jn den seit Jahren mit unnachahmlicher Würde colportirten Er zählungen von der Versöhnlichkeit der Curie und natürlich auch deS Centrums selbst.
Wenn der kirchliche Friede nicht schon längst auf fester
Basis wieder hergestellt war,
wenn der sehr begreifliche Herzenswunsch
deS Kaisers noch immer vergeblich auf Erfüllung
wartete,
so trug
Niemand anders die Schuld daran als eine die Bedürfnisse der Gegen wart nicht verstehende — Büreaukratie und der Einfluß deS
„falschen
Liberalismus", unter dessen Herrschaft die Maigesetze entstanden waren,
auf die schwankende Regierung.
Der Vorwurf, daß es vom Culturkampf
lebe, mit dem die Regierungspresse jetzt daS Centrum regalirt, ist zu erst von
den
ultramontanen Blättern gegen die Nationalliberalen ge
schleudert worden.
Gutta cavat lapidem.
holte Versicherung,
Die in allen Tonarten wieder
die Regierung, natürlich
eine ehrlich conservative
Regierung — denn das Centrum gebehrdet sich heutzutage, in Preußen wenigstens, als conservative Partei par excellence — könne einen ehren
vollen Frieden haben, wenn sie nur wolle, hatte auf die Conservativen
im Parlament um so mehr Eindruck gemacht,
als sie trotz ihrer großen
Erfolge bei den Wahlen durch die Parteiverhältnisse gehindert wurden, dem Drang nach gründlicher Umgestaltung der liberalistischen Gesetzgebung
zu folgen und als das Centrum, welches über die zur Bildung einer festen Majorität erforderlichen Stimmen verfügte, sich darauf beschränkte, durch ein
gelegentliches Zusammengehen mit den Conservativen und der Regierung den
Heißhunger der ersteren nach einer selbständigen Majorität vielmehr zu reizen als zu stillen.
Auf die Dauer blieb jene PhantaSmagorie selbst in den
Kreisen der liberalen, in Wahlkreisen mit katholischer oder gemischt ka tholischer Bevölkerung gewählten Abgeordneten nicht ohne Wirkung.
Der
Culturkampf hat die rein oder überwiegend katholischen Provinzen Preußens
dem Liberalismus gänzlich entfremdet und politisch gewissermaßen paralhsirt. Der hervorragende Antheil, den gerade die nationalliberale Partei an der Maigesetzgebung genommen, hat die Wählerschaften theils in das radicale theils in daS conservative Lager getrieben, während die Erwählten, ohne
jede Rücksicht auf politische Parteistellung ihre Stimmen bald gegen bald
für die Regierung in die Wageschale warfen, je nachdem sie von der Re
gierung Schädigung oder Förderung ihrer kirchenpolitischen Zwecke fürchteten oder erwarteten.
Es ist eine auf die Dauer für den Staat wir für die
Parteien schwer erträgliche Anomalie, daß nahezu ein Viertel aller Man date dem politischen Kampf entzogen und Interessen dienstbar gemacht
Politische Torrespondenz.
97
wird, welche gewissermaßen außerhalb des Staats stehen — eine Anomalie, die zu unnatürlichen Coalitionen der Parteien unter sich
und mit der
Wenn man also die durch den Cultur
Regierung geradezu herausfordert.
kampf geschaffene Lage rein äußerlich betrachtet, ohne auf die wirklichen oder eingebildeten Leiden der katholischen Bevölkerung einzugehen, so sind
Gründe genug vorhanden, auch vom protestantischen Standpunkte aus die
Wiederherstellung
des Friedens zwischen Staat und Kirche dringend zu
Ob indessen die großmüthige Verkündigung dieser Friedens
wünschen.
ja hin und
liebe,
wieder das Paradiren mit derselben das geeignete
Mittel gewesen ist, die Curie und das Centrum einem gerechten Frieden
geneigt zu machen?
daß noch bei Lebzeiten Pius IX. zu
Wir wissen,
einer bestimmten Zeit im Vatikan ernstlich erwogen wurde, ob eö nicht
geboten
sei,
den Versuch einer Verständigung mit der preußischen Re
gierung
zu
machen;
daß
Versuch
dieser
der hervorragendsten Mitglieder
nachdem
unterblieb,
des sogenannten
eines
linken Flügels
der
nationalliberalen Partei, der heute freilich dem preußischen Abgeordneten hause nicht mehr angehört, dem damaligen Cultusminister Herrn Dr. Falk
gegenüber in beredten Worten die Nothwendigkeit vertrat, dem Cultur kampf
ein Ende zu machen.
Und fast gleichzeitig war
eS einer der
Führer der nationallibcralen Rechten, der, wie Herr Dr. Lieber neulich
im Abgeordnetenhause anerkennend hervorhob, von der Tribüne des Reichs tags zuerst dem Frieden „warme, ergreifende Worte" gewidmet hat. diese Stimmungen im
Politik ausgebeutet wurden, Kanzler aus
Daß
Vatikan von den Gegnern einer versöhnlichen ist ebenso
den Friedensseufzern,
selbstverständlich wie
daß
der
welche von Rechts und Links, von
Oben und Unten auf ihn eindrangen zu dem Schluß geführt wurde, die
maßgebenden Factoren des Staates seien des CulturkampfeS müde, und
es sei also der Moment gekommen, unter möglichst billigen Bedingungen einen Ausgleich herbeizuführen.
Die Berathung deS Gesetzentwurfs vom 19. Mai hat hoffentlich auf
allen Seiten volle Klarheit darüber geschaffen, unter welchen Bedingungen
heute der Friede mit Rom geschlossen werden kann.
Die Vertheidiger
der päpstlichen Politik begnügen sich, wie Graf von Brühl nicht damit,
daß daS Haus, in welchem die Maigesetze ausgearbeitet worden sind,
dem Erdboden gleich gemacht wird; sie sagen heute wie vor fünf Jahren: „Weg mit den Maigesetzen mit Stumpf und Stiel, nur auf der Be
dingung kann Frieden sein". Auf diese Rede hat Herr Dr. Miquöl bei der dritten Berathung der
Vorlage die einzig zutreffende Antwort gegeben: „ich sage es Ihnen auf richtig, Sie bekommen unter diesen Bedingungen keinen Frieden". Preußische Jahrbücher. Bt. XLV1. Heft 1.
7
Und
Politische Torrespondenz.
98
Herr von Puttkamer fügte dem hinzu: „Ich freue mich im Namen der preu
ßischen Staatsregierung erklären zu können, daß sie in dieser Beziehung mit
dem Abgeordneten Dr. MiquA, und ich denke, mit der ganzen preußischen
Landesvertretung mit Ausnahuie des Centrums absolut auf demselben Boden stehe."
Und im weiteren Verlauf seiner Rede formulirte Herr von Putt
kamer seine Auffassung und diejenige der Regierung dahin:
Wenn das
Centrum in dieser Weise, wie bisher geschehen ist, thatsächlich die Hand,
die ihm zum Frieden oder doch wenigstens zur Einleitung des Friedens geboten wird, zurückstößt und nicht acceptiren zu können glaubt, so erkläre
ich hiermit feierlich, dann falle die Verantwortung auf Sie zurück, die übernehmen Sie,
die Regierung
ihrerseits lehnt sie ab".
DaS Centrum, vielleicht in Erinnerung des früheren Geständnisses
des Ministers: wenn die Vorlage Gesetz werde, so müsse das Centrum in kurzer Zeit „verduften" — trug kein Bedenken, die Verantwortlichkeit
zu übernehmen, nachdem die Regierung mit den Conservativen die von
seinen
Führern
zurückgewiesen
formulirten hatte.
Von
Abänderungsvorschläge
der
ganzen
großen
als
unannehmbar
conservativen Partei
(107 Mitglieder) wären — nach dem Ergebniß der Fractionsberathung — nur 13 bereit gewesen, die Vorlage im Sinne des Centrums zu refor-
miren.
Aber selbst diese fügten sich der Entscheidung der Majorität.
Wir sind bereit, hatte ja einer von diesen Aeußersten, Herr von Kroecher erkärt, dem Centrum soweit entgegen zu kommen „als die Regierung es
zuläßt".
In der Enttäuschung darüber, daß alles Liebeswerben umsonst
gewesen, daß die seit dem Beginn der Session genährte Hoffnung auf die
Bildung einer conservativ-clerical-welfisch-polnischen Majorität eine Chimäre
gewesen, scheint den Conservativen endlich ein Licht aufgegangen zu sein, daß ihre politischen Grundsätze und diejenigen des Centrums schlechterdings unvereinbar seien. Herr von Rauchhaupt cttirte in der Sitzung vom 26. Juni die Resolutionen der westfälischen Katholikenversammlung in Dortmund,
welche bestimmt waren, das Centrum zur Ablehnung der Vorlage aufzu
muntern, Resolutionen, welche in erster Reihe ein Gesetz über Ministerverant wortlichkeit, allgemeines direktes Wahlrecht, Beseitigung der Beschränkung
der Preßfreiheit sowie des Vereins- und Versammlungsrechts, wahre
Selbstverwaltung der Gemeinden, Kreise und Provinzen, Verkürzung der Dienstzeit in der Armee und Verminderung der Präsenzstärke deS HeereS
im Frieden fordern.
„Wenn Sie alle diese Sätze conservattv nennen,
rief Herr von Rauchhaupt aus, so befinden wir uns auf einem politisch diametral entgegengesetzten Standpunkte.
Selbst in liberalen Programmen
sind so radikale Forderungen nicht enthalten".
Neu sind indessen diese
Sätze nicht; sie wiederholen nur das alte Wahlprogramm der Centrums-
Politische Torrespondenz. Partei.
99
Die Dortmunder Versammlung hat am 17. Mai stattgefunden;
also vor der Einbringung der kirchenpolitischen Vorlage.
Wenn die con-
servative Partei trotzdem die Hoffnung nicht aufgab, auf dem Boden dieser Vorlage ein Bündniß mit dem Centrum zu schließen, so konnte sie für daS Scheitern deS Versuchs nur sich selbst, nicht aber das Centrum
Der freilich etwas späten Erkenntniß, daß mit
verantwortlich machen.
dem Centrum nicht zu pactiren ist (Rede des Grafen Udo zu Stolberg-
Wernigerode im Herrenhause) hat der CultuSminister im Abgeordneten
hause einen noch schärferen Ausdruck gegeben, indem er dem Centrum zu
rief:
„Sie werden sich in einem dauernden Krieg mit dem preußischen
Staat befinden müssen, es sei denn, daß Sie ihre Hoffnungen richten auf
große Katastrophen, vor denen Gott unser Vaterland beschützen möge und auf welche Ihre Hoffnungen zu richten Ihr eigener Patriotismus Ihnen
verbieten muß". So hat die parlamentarische Friedensaction zu demselben Ergebniß
geführt, wie die diplomatischen Verhandlungen mit der Curie.
Schon in
den Ende Mat veröffentlichten diplomatischen Aktenstücken wird daS Ver
hältniß des Centrums zur Curie mit einer mindestens überraschenden
Brette behandelt.
Mit
der
ihm eigenen Rücksichtslosigkeit
weist der
deutsche Reichskanzler die lächerliche Fiction zurück, als ob das Centrum
eine selbstständige politische Partei sei, deren Verhalten sich jeder Ein wirkung
seitens des
Papstes entziehe und die also
auch nach einer
zwischen Regierung und Papst erzielten Verständigung fortfahren könnte,
durch ihre Opposition in den Angelegenheiten, die daS kirchliche Gebiet
gar nicht berühren und selbst in den kirchlichen Fragen die Regierung zu weiteren Zugeständnissen zu drängen.
Die Bildung der CentrumSfractton
im Jahre 1871 mit dem ausgesprochenen Zweck, das neue deutsche Reich den römischen Interessen dienstbar zu machen, hat den kirchlichen Conflict
recht eigentlich geschaffen; was ist da natürlicher als daß Fürst Bismarck eine Garantie dafür verlangt, daß der Kampf gegen Reich und Staat nach der Wiederherstellung deS Friedens mit der Curie eingestellt wird?
„WaS hilft uns die theoretische Parteinahme deS römischen Stuhls gegen die Socialisten", heißt eS in der Depesche vom 20. April,
„wenn die
katholische Fraction im Lande unter lauter Bekennung ihrer Ergebung in
den Willen deS Papstes, in allen ihren Abstimmungen den Socialisten
wie jeder anderen subversiven Tendenz öffentlich Beistand leistet?
Unter
Becheuerung guter Absichten, welche niemals zur Ausführung gelangen
und unter dem Vorwande, daß man gerade so, wie die Regierung eS betreibe, die Socialisten nicht bekämpfen wolle, im Uehrigen aber sie verurtheile, stimmt das Centrum stets mit den Socialisten; und wählte die
Politische Correspondenz.
100
Regierung andere Wege, so würden auch gerade diese wieder für das
Centrum nicht die annehmbaren sein.
AIS vor einem Jahre die katho
lische Partei in der Zollfrage uns ihre Unterstützung lieh, glaubte ich an
den Ernst des päpstlichen Entgegenkommens und fand in diesem Glauben die Ermuthtgung zu den stattgehabten Unterhandlungen.
Seitdem hat die
katholische Partei, die sich speciell zum Dienste deS Papstes öffentlich be
kennt, im Landtage die Regierung auf allen Gebieten, bei der Eisen bahnfrage, bei dem Schanksteuergesetz, bei dem Feldpolizeigesetz, in der polnischen Frage angegriffen.
Ebenso in der Reichspolitik und gerade in
Existenzfragen wie der Militairetat, das Socialistengesetz und die Steuer
vorlagen steht die katholische Partei wie ein Mann geschlossen unS gegen über und nimmt jede reichsfeindliche Bestrebung unter ihren Schutz. Mag
eine solche von den Socialisten, von den Polen oder von der welfischen Fronde ausgehen, das System bleibt constant dasselbe, die Regierung deS
Kaisers nachdrücklich zu bekämpfen.
Fraktion irre geleitet
Wenn man nun sagt, daß
diese
werde durch einige Führer, welche vom Kampfe
leben und bei dem Frieden fürchten überflüssig zu werden, so ist mir das nicht glaublich angesichts der Thatsache, daß so viele Geistliche, hohe und
niedere, unmittelbare Mitglieder dieser regierungsfeindlichen Fraktion sind, und daß deren Politik, den Socialisten Beistand zu leisten, von den Mit
gliedern deS reichsten und vornehmsten Adels unterstützt wird, bei dem kein anderes Motiv denkbar ist, als die Einwirkung der Beichtväter auf
Männer und noch mehr auf Frauen.
Ein Wort von dem Papst oder
von den Bischöfen, auch nur der diskretesten Abmahnung würde diesem
unnatürlichen Bunde des katholischen Adels und der Priester mit den Socialisten ein Ende machen.
So lange statt dessen die Regierung in
den Basen ihrer Existenz durch die römisch-katholische Fraktion bekämpft
wird, ist eine Nachgiebigkeit für die erstere ganz unmöglich." ES ist natürlich eine Entstellung der Absichten deS Reichskanzlers,
wenn aus dieser Argumentation der Schluß gezogen worden ist, Fürst
Bismarck wolle die Nachgiebigkeit der Regierung gegen die als zulässig
anerkannten Wünsche der Curie davon abhängig machen, daß der Pabst die Abstimmungen der katholischen Fraktion im Sinne der Regierung beeinflusse.
Wer die Einwirkung im bejahenden Sinne als berechtigt an
erkennt, kann die Berechtigung einer Einwirkung im verneinenden Sinne nicht ablehnen.
Was Fürst Bismarck verlangt, ist das, daß die Neutralt-
sirung der politischen Ueberzeugungen der verschiedenen Elemente, auS denen die katholische Fraktion besteht, zu Gunsten rein kirchlicher.Ge sichtspunkte aufhöre.
Das Centrum
umfaßt alle politischen Nüancen,
Adelige und Bürgerliche, Priester und Laien, Welfische Particularisten und
Politische Correfpondenz.
101
Demagogen; aber alle Parteiunterschiede treten zurück vor der Parole:
Für oder Wider die Regierung in majorem ecclesiae gloriam.
Die
bloße Existenz einer solchen Partei ist eine gefährliche Fälschung deS
Parlamentarismus; gleich gefährlich für die Regierung wie für die politi schen Parteien.
Die Forderung, daß der Pabst, indem er die ihm er
gebene Partei zwingt, auf die systematische Opposition zu verzichten, den
alleingültigen Beweis für seinen guten Willen liefere, mit dem Staate in Frieden zu leben, diese Forderung kann nur darauf berechnet sein, die Curie selbst von der Gefährlichkeit einer solchen Vertretung ihrer Inter
essen zu überzeugen.
Die Erklärung der Depesche vom 20. April:
„so
lange die Regierung in den Basen ihrer Existenz durch die römischkatholische Fraktion bekämpft wird, ist eine Nachgiebigkeit für die erstere
unmöglich" war denn auch, wenn man unter „Nachgiebigkeit" jede Aen
derung deS Wendung.
Status quo versteht, nichts mehr
keine andere Folge haben können, als die:
katholischen Fraction zu befestigen. welcher
als eine diplomatische
In der Praxis wird die Verewigung des „Culturkampfs" die Existenzbedingungen der
In der Depesche vom 14. Mat, in
die Haltung deS Centrums
einer
wiederholten Kritik unter
worfen wird, zieht Fürst Bismarck aus denselben Prämissen den entge gengesetzten Schluß.
„ES drängt sich die Frage auf, schreibt der Reichs
kanzler an den Prinzen Reuß, ob der päbstliche Stuhl nicht den Willen
oder nicht die Macht hat, die clertcale Fraction von der Beschützung der jenigen Bestrebungen abzuhalten, die er selbst so entschieden verdammt. Jedenfalls hat diese Wahrnehmung
bei der königlichen Regierung die
Hoffnung, daß das Entgegenkommen ein gegenseitiges sein werde, und das
Vertrauen, daß die Verhandlungen in jetziger Sachlage zur Verständigung führen werden, wesentlich abgeschwächt.
Demungeachtet wird die königliche
Regierung in derselben friedliebenden Gesinnung, welche sie den ersten Eröffnungen Seiner Heiligkeit entgegenbrachte und in der Theilnahme,
welche sie stets für die verwaisten Gemeinden empfunden hat, nicht länger
zögern, aus ihrer eigenen Initiative heraus diejenigen Maßregeln
den gesetzgebenden Faktoren vorzuschlagen, welche mit den unveräußerlichen Rechten des Staates verträglich sind und nach ihrer Ueberzeugung und nach ihren Wahrnehmungen in anderen Ländern die Wiederherstellung
einer geordneten Diözefan-Berwaltung und die Abhülfe des eingetretenen Priestermangels möglich machen."
Diese Depesche hielt noch an der Vor
aussetzung weiterer Verhandlungen fest.
Curie,
angesichts der Ankündigung,
Nachdem aber
inzwischen die
die Regierung werde ohne vor
gängige Verständigung mit ihr, den Umfang der zulässigen Abän
derungen der Maigesetze gesetzlich feststellen, die in dem Breve vom
Politische Correspondenz.
102
24. Februar ausgesprochene bedingte Anerkennung der Anzeigepfltcht zurück
gezogen hatte, schreibt Fürst Bismarck in der Depesche vom 21. Mai, mit der die Veröffentlichungen abschließen:
„Wir werden unsere Absichten in
der Gesetzgebung zu verwirklichen suchen, ohne von der Curie eine
Gegenconcession
zu
erhalten
oder zu erwarten, lediglich
Interesse der katholischen Unterthanen Sr. Majestät des Königs.
im
Wenn
diese Bestrebungen der königlichen Regierung durch den Widerstand der päpstlichen Partei im Landtage zu Fall gebracht werden, oder wenn die
Geistlichkeit von der ihr zu gewährenden Möglichkeit, die Seelsorge zu üben, keinen Gebrauch machen sollte, so können wir das nicht ändern, wissen uns aber auch für die Folgen nicht verantwortlich."
Das Bevollmächtigungsgesetz, welches also einen Keil zwischen die
„Geistlichkeit" und die „päbstliche Partei" im Landtage treiben sollte, ist von der letzteren, und zwar, wie die lehrreichen Artikel der päbstlichen „Aurora" bewiesen haben, unter Connivenz der Curie abgelehnt worden.
Die Fractionsinteressen haben sich stärker erwiesen, als die Rücksicht auf
den kirchlichen Nothstand der preußischen Katholiken.
Daß das Gesetz in
der vorgeschlagenen Fassung für die liberalen Parteien nicht annehmbar
war, bedarf nicht mehr des Nachweises.
Wie sehr aber die Vorlage den
Interessen, die das Centrum zu vertreten behauptet, entgegen kam, ist unseres Erachtens nicht zur Genüge anerkannt und seitens der Regierung
aus
leicht zu errathenden Gründen nicht hervorgehoben worden.
Die
Wortführer des Centrums im Abgeordnetenhause haben ein gutes Theil
Beredsamkeit verschwendet, um den Nachweis zu führen, daß die Erfüllung der Anzeigepflicht bet der Anstellung von Geistlichen, wie dieselbe durch
die 88 15 und 16 des Gesetzes vom 11. Mai 1873 begründet ist,
eine
baare Unmöglichkeit sei; sie haben aber sorgfältig verschwiegen, daß von
dem Augenblick an, wo der Artikel I gesetzliche Kraft erlangt haben würde, von allen Voraussetzungen, an welche das Maigesetz die Zulassung
zum geistlichen Amt in Preußen knüpfte, nur diejenige übrig geblieben wäre, deren Erfüllung im gemeinsamen Interesse des Staates und der zum Frieden geneigten Kirche gelegen hätte.
Wir meinen die Voraus
setzung des § 16 Nr. 3 des Maigesetzes: der Einspruch (des Oberpräsi denten gegen die Anstellung) ist zulässig, wenn gegen den Anzustellenden
Thatsachen vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, daß derselbe den Staatsgesetzen oder den innerhalb ihrer gesetzlichen Zuständigkeit erlassenen
Anordnungen der Obrigkeit entgegenwirken oder den öffentlichen Frieden stören werde.
Wenn die geistlichen Oberen, wie sie daS
in anderen
Staaten thun, sich enthalten hätten, solche Personen zur Anstellung zu
bringen, so hätte eS zur vollen Ausführung deS neuen Gesetzes genügt,
Politische Torrespondenz.
103
daß die geistlichen Oberen das thaten, was selbst Frh. von Schorlemer als zulässig erachtete, nämlich daß sie dem Oberpräsidenten die Namen der
Anzustellenden mittheilten.
Selbst die Aufnahme der Clausel bezüglich der
Anzeigepflicht „in Gemäßheit des Gesetzes vom 11. Mai 1873" in den Artikeln I und IV würde an diesem Verhältniß in dem Rahmen der Vor
lage nichts geändert haben.
Hätte das Centrum sich von sachlichen Er
wägungen, nicht von FractionSinteressen leiten lassen, so würde eS die
Vorlage in der Specialberathung unterstützt, und, wie die Regierung in der That erwartete, die Annahme derselben in der entscheidenden Schluß
abstimmung durch Stimmenthaltung herbeigeführt haben, wenn es durch sein Votum den Entschließungen der Curie nicht gewissermaßen präjudiciren
wollte.
Die falsche Taktik des Centrums hat leider in die Haltung der national liberalen Fraction ein Schwanken gebracht, welches gerade in diesen Fragen unter allen Umständen hätte vermieden werden müssen. Sobald einmal fest stand, daß das Centrum i. e. die Curie die ganze Vorlage ablehnen, also soviel an ihm liegt, die Friedensvorschläge zurückstoßen würde, konnte die Frage,
ob eS angezeigt sei, von nationalliberaler Seite die Hand zu bieten, um mit
den Conservativen ein möglichst unschädliches Surrogat an die Stelle der Vorlage zu setzen, ebenso gut bejaht wie verneint werden. Wenn Herr Miquel in der Schlußberathung ausführte, daß der Gesetzentwurf, wie er sich in
der Umarbeitung gestalten sollte und wie er sich schließlich auch, von der Ablehnung des Artikels I abgesehen, gestaltet hat, ein ganz anderer, mit
der Regierungsvorlage nicht auf demselben Boden stehender sei und daß deshalb er und ein Theil seiner politischen Freunde, „obgleich sie nicht
wissen, wohin man sie führt", für die neue Fassung stimmen würden, so erklärte Herr Dr. Rickert mit demselben Recht, weil wir nicht wissen,
wohin man uns führen will, lehnen wir es überhaupt ab, der Regierung Vollmachten zu geben, von denen, nach der Versicherung der Herrn von
der katholischen Partei, die Curie ohnehin keinen Gebrauch machen wird. Herr Miquel will die neue Fassung nicht ablehnen, weil er den Inhalt
derselben als ein Entgegenkommen gegenüber begründeten Klagen unserer katholischen Mitbürger betrachtet.
Diejenigen Bestimmungen, welche in
der That diesen Charakter haben, die neuen Artikel I, V, VI war auch
Herr Rickert bereit anzunehmen; aber den Artikel II, betreffend die An
stellung von BisthumSverwesern in den durch den Tod der Bischöfe erle
digten Bisthümern, sowie die mit diesen zusammenhängenden Artikel III und IV lehnt Herr Rickert ab, weil sie ohne vorheriges Entgegenkommen
der Curie unausführbar sind. Welche Erwägungen oder welche Stimmungen man als ausschlaggebend
Politische Eorrespondenz.
104
betrachten will, so konnte doch eine große Partei, wie eS die national liberale trotz alledem ist, eine Partei von 97 Mitgliedern, die an Zahl
dem Centrum nur um 3, der konservativen Partei nur um 10 Mitglieder nachsteht, keinen bedenklicheren'und für ihr Ansehen gefährlicheren Schritt
thun, als, wie geschehen, sich in zwei nahezu gleichstarke Gruppen auf lösen.
Ein Bischen
mehr FractionSparticulariSmuS würde die Partei
vor dem Schicksal bewahrt haben, die Entscheidung aus der Hand zu geben und den Schein eines Zwiespalts über die kirchenpolitischen Fragen
hervorzurufen. Den Schein eines Zwiespalts — denn, wie Herr Miquöl mit Recht behauptete, würden; die Nachgiebigkeit der Curie in dem
scheidenden von beiden Theilen der Fraktion festgehaltenen Punkte, die Anzeigepflicht nämlich, vorausgesetzt, auch die Gegner des Gesetzes einer sehr viel Wetter gehenderen Milderung der Maigesetze zustimmen.
Und
wenn
wenigstens
das
Zusammengehen
des
einen
Theiles
der Fraktion mit den Conservativen und Frei-Conservativen hingereicht hätte, eine feste, daS Terrain beherrschende Majorität zu bilden!
So
aber spaltete sich daS HauS in zwei ganz gleiche Theile und nur die Stimmen der vier Minister, welche dem Hause angehören, gaben den
Ausschlag zu Gunsten der Annahme des Gesetzes.
Die Leitung der Fraktion hat wieder einmal sehr unglücklich operirt; und da
nun
augenblicklich die skandalsüchtige Journalistik nichts An
deres zu thun hat, so wird die Differenz, die im FracttonSzimmer nicht ausgeglichen wurde, jetzt in der Tagespresse auSgefochten — natürlich
zum Ergötzen der gemeinsamen Gegner, die sich an der Möglichkeit weiden, daß die nationalliberale Partei, in der Verstimmung über den parlamen
tarischen Fehltritt sich in geradezu selbstmörderischer Weise in
standtheile auflösen könnte.
ihre Be
Wem anders würde dieser neue und schwerste
Fehler zu Gute kommen, als den extremen Parteien, den Hochconservativen, die endlich von der unangenehmen Pflicht befreit würden, der liberalen
Mittelpartei Rechnung zu tragen und der Forlschrittspartei, die sich selbst verständlich beeilen würde,
den Herren Rickert und Genossen ihre Pro
tection angedeihen zu lassen. Denn wie will man auf *°m Boden der Abstimmung vom 28. Juni eine neue liberale Partei" begründen?
Die Minorität der Fraktion, welche gegen das praktisch werthlose Gesetz gestimmt hat, umfaßt vorwiegend freihändlerische Elemente; aber bewährte
Freihändler wie Grumbrecht haben mit Herrn von Bennigsen für daS Gesetz gestimmt.
Und der eigentliche Führer der Minorität, Staatsminister
Dr. Falk hat am 12. Juli 1879 int Reichstage seine Stimme für den
neuen Zolltarif abgegeben.
Der Boden, auf dem sich die Minorität zu
sammenfand, ist der der Verneinung gegenüber einer zur Zeit als unzu-
Politische Correspondenz.
105
lässig und überflüssig erkannten Friedensdemonstration an die Adresse der jedes Entgegenkommen verweigernden Curie.
Gesetzes
Mit der Publication des
aber ist die Phase der Verhandlungen und für die nächsten
Jahre auch diejenige der „organischen Revision" der Maigesetze zum Ab schluß gebracht.
Von neuen Verhandlungen' oder weiteren gesetzgeberischen
Actioneir kann erst wieder die Rede sein, wenn die Curie durch Aner
kennung
der gesetzmäßigen Anzeigepflicht den
drückten Beweis ihre Friedensliebe geliefert hat.
beseitigt,
dtlrch Thatsachen
ausge
Vorerst ist die Gefahr
daß ein preußischer Gesandter im Vatikan die Lücke ausfüllt,
velche dtlrch die Abberufung des belgischen Gesandten entstanden ist.
Wie
in Belgien der Versuch gescheitert ist, trotz des vatikanischen Concils die Verantwortlichkeit der Curie für die staatsfeindliche Haltung der Bischöfe
abzulehnen, so ist auch in Preußen der Curie die Möglichkeit verschlosseu, deil Schein der Versöhnlichkeit aufrecht zu erhalten, solange die katholische
Fraktion den Kampf gegen Staat und Reich fortführt. So unnatürlich auch die Vermischling grundverschiedener Elemente in der nationalliberalen Partei erscheinen mag:
Die Abstimmung über
das Kirchengesetz bietet keinen genügenden Anlaß zur Trennung.
In Frankreich sehen wir bereits das Vorspiel zum letzten Akte der Begründung der „Republik für die Republikaner" in Scene gehen.
Während
Gambetta die Radikalen drirch die Amnestirung der Commune mittelst eines
Gesetzes, welches auch die Brandstifter und Mordbrenner in die bürger lichen und politischen Rechte wieder einsetzt, zu versöhnen
bestrebt
ist,
soll die Auflösung der Jesuiten-Niederlassungen den clerical-legitimistischen Gegnern der Republik endlich den letzten Halt entziehen.
So soll
der Boden vorbereitet werden, um aus den Neuwahlen zur Deputirtenkammer und aus den Ergänzungswahlen zum Senat im nächsten Jahre die unvermeidliche Dictatur Gambetta's hervorgehen zu lassen.
Die Ab
neigung Frankreichs gegen auswärtige Abenteuer ist zur Zeit noch be
dingt durch den Wunsch, in regulärer Weise die Krönung des Gebäudes vorzubereiten; aber die Gährung, in der sich das republikanische Frank
reich befindet, kann jeden Augenblick zu einer Krisis führen, welche den Dictator „.o^gt, vor der Zeit auf die Scene zu treten und die aus wärtige Politik oder, um ohne Umschweife zu sprechen — die Revanche
politik zur Ueberwindung der inneren Schwierigkeiten nach dem bekannten Recept.zu benutzen.
Die Beschleunigung dieses Processes wäre um so
mehr zu befürchten, wenn die Türkei den Versuch machen sollte, sich den
Consequenzen des Berliner Vertrages und ihrer eigenen Schwäche durch ein fatalistisches Va-Banque«®piet zu entziehen.
Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1. Heft 1.
•8
Notizen. A. v. Taysen.
Die militärische Thätigkeit Friedrich deS Großen
im Jahre 1780.
Berlin 1880.
Mittler u. S.
8°. 38 ©.
Herr Major v. Taysen läßt seinen Schriften: Friedrichs des Großen Lehren
vom Kriege (1877) und der Ausgabe und Erläuterung des militärischen Testaments Friedrichs des Großen (1879 aus
den Miscellaneen zur
Geschichte König
Friedrichs des Großen) im gleichen Verlag die vorliegende Studie zur militäri schen Geschichte des großen Königs folgen und beabsichtigt dieselbe in Zukunft
bis zum Tode Friedrichs des Großen fortzusetzen.
Nach einer Einleitung über die politische Lage deS Jahres 1780 — bei welcher der berühmte Fall des Müllers Arnold der gestellten Aufgabe zu fern
liegt, um so ausführlich berührt zu werden — stellt der Herr Berfaffer nach
umfassendem archivalischem Material in anregender Weise die unermüdliche mili
tärische Thätigkeit des körperlich bereits leidenden Helden dar und giebt uns ge wissermaßen im Durchschnitt ein anschauliches Bild dieser so wichtigen Seite
seiner Regierung.
Die große Sorgfalt des Königs in der Auswahl, Beförde
rung und Durchbildung der Offiziere tritt in's hellste Licht.
Erbfolgekrieg verwilderten Elemente wurden beseitigt.
Die im bairischen
Bei den Husaren beför
derte Friedrich der Große im Gegensatz zu seiner ausschließlichen Vorliebe für
adlige Officiere hin und wieder sogar tüchtige Wachtmeister „damit nicht so viel
jung Zeug von Officiers bei die Husaren ist".
Bei dieser Truppe wünschte er
noch weniger als sonst, daß die Officiere heiratheten.
Kriegsräthe, — wie es
ja von dem verdienten Schaffner bekannt ist, beim König nicht sonderlich be
liebt, — sollen nicht adliger Herkunft sein.
Trotz seiner großen Sparsamkeit, auch in Bezug auf Pensionirung invalider Officiere, kargte der König nicht mit Belohnungen an besonders tüchtige Offi ciere und mit ehrenden Auszeichnungen für die heldenhaften Generale.
1780
wurde das — jetzt bekanntlich öffentlich nur in Bronzenachbildung aufgestellte — Seydlitzdenkmal von Taffaert auf dem Wilhelmsplatz errichtet, und der alte
Zielen, dessen 150jähriges Militärjubiläum jüngst so glanzvoll gefeiert wurde, erhielt Erlaubniß, sich bei einer Revue „der Vorrechte eines Veteranen bei den Römern" zu bedienen, nämlich die schweren Adlerflügel und die Tigerdecke seiner Uniform abzulegen.
Friedrich vermied Gunstbeweise für ihm werthe Persönlichkeiten, wenn da durch Andere geschädigt wurden.
Geburts- und Neujahrswünsche, Geschenke,
Notizen.
107
namentlich an Wild und Früchten bekundeten, wie nahe der ruhntgekröule könig liche Feldherr persönlich seinen Officieren stand.
Den Werth und die Bedeutung der nach seinem Tode so vielfach vernach lässigten kriegswissenschaftlichen Bildung würdigte der große kriegswissenschaftliche Schriftsteller natürlich vollkommen, war jedoch ungehalten, daß der Mineur-
capitän v. d. Lahr eine Schrift über die Minirkunst drucken ließ: „Wenn wir das wissen, ist das gut für uns und nicht für andere Leute."
Nach sorgfältiger
Untersuchung einer Erfindung des Lieutenant von Freitag wurden bis zum Februar 1781 alle in den Händen der Truppe befindlichen Gewehre mit koni schen Zündlöchern versehen, wodurch das zeitraubende Zuschütten von Pulver
vor dem Schuß unnöthig wurde.
Eine fernere von einem Büchsenmacher vor
geschlagene Verbesserung des Zündlochs wurde bei den Borrathgewehren ein geführt. Der Herr Verfasser veröffentlicht und erläutert eine bisher ungedruckte „Instruction an die Inspecteurs der Infanterie", welche namentlich durch einige
Vorkommnisse des bairischen Erbfolgekriegs veranlaßt war.
Vor Allem sollte
die Dorfvertheidigung, auf deren Wichtigkeit der letzte deutsch französische Krieg die Aufmerksamkeit wieder in erhöhtem Maße gelenkt hat, besser geübt, auf das Nachrichtenwesen größere Sorgfalt verwandt werden.
Die Offensive soll kühn
und doch maßvoll und besonnen sein; je widriger die Umstände, desto mehr soll
durch, neue Anstrengungen ein Umschwung herbeigeführt werden, ein Streben, welches die preußische Heerführung in jeder glänzenden Periode bis auf die jetzige beseelt hat.
Die in der Instruction von 1780 vorgeschriebenen Uebungen
können als Keim der heutigen Officieraufgaben angesehen werden.
Friedrich
der Große duldete keineswegs, wie man ihm vorgeworfen hat, bei den berühmten
Potsdamer Manövern Dinge, welche nur auf dem Exerzierplatz ausführbar find, dieselben waren durchaus nicht künstlich.und auf imposante Tableaus berechnet,
sondern sollten Führung und Verhalten großer Truppenmassen in der Schlacht lehren.
Friedrich der Große allein suchte die ungefüge Form der Lineartaktik
flüssig zu machen.
So wenig der Herr Verfasser die Uebelstände auch des fridericianischen Heerwesens der letzten Zeit verkennt, so hat er doch mit Erfolg nachgewiesen,
daß dasselbe bisher zu ungünstig beurtheilt worden ist.
Nicht nur der Militär,
sondern auch jeder GeschichtSfreund wird seine Schrift mit Vergnügen lesen,
v. K.
v. Estorfs.
Taktische Betrachtungen über das Jnfanteriegefecht
auf dem Schlachtfeld von Gravelotte — St. Privat. 1880.
Mittler u. S.
8°.
Berlin.
75 S.
Es kann in dieser Zeitschrift nicht beabsichtigt sein, ein Urtheil über die taktischen Lehren auszusprechen, die Herr Major v. Estorfs aus dem Verlauf
der Schlacht von Gravelotte — St. Privat zieht, vielmehr kann es nur gelten,
108
Notizen.
auf seine Schrift als auf einen kritischen Beitrag zur Geschichte der furcht barsten Schlacht im deutsch-französischen Kriege, eine Ergänzung der objektiven
Darstellung im Generalstabswerk hinzuweisen.
Der Verfasier spricht als die
herrschende Ueberzeugung in unserem Heere aus, daß wir nufere damaligen
Erfolge bei oft großen taktischen Fehlern der Vorzüglichkeit unserer Strategie,
unserer Organisation und der Truppen danken. Wesentlichen
Compagnie
noch die
nur
durch
eine
Es herrschten damals im
allzuweitgehende
Selbständigkeit der
modificirten Anschauungen der auf den Erfahrungen der napo
leonischen Kriege begründeten Taktik.
Erst im Lauf des Krieges gewann die
deutsche Kavallerie das vielgerühmte Geschick im Aufklärungsdienst.
Dies trug
namentlich bei der Ueberlegenheit der Chassepotgewehre wesentlich zu den großen Verlusten und dazu bei, daß sich der linke französische Flügel in einer na türlich starken und geschickt befestigten Stellung gegen die Uebermacht deutscher
Truppen auf der Hochebene des Point du jour zu behaupten vermochte.
Die
Deckung der zu weit vorgehenden Artillerie und das Waldgefecht verbrauchten nutzlos viele kostbaren Kräfte, während gleichzeitige Angriffe nach gründlicher
Vorbereitung durch die Artillerie schließlich gegenüber St Privat zum Ziele führten.
Der Verfasser kann am Schluß darauf Hinweisen, daß gleichzeitig mit
ihm Oberstlieutenant von Boguslawski im I. Bd. der Entwickelung der Taktik
seit dem Kriege 1870 -1871 zu denselben taktischen Ergebnissen gelangt ist. v. K.
Verantwortlicher Redacteur:
H. v. Treitschke.
Druck und Verlag vvn G. Reimer in Berlin.
Der deutsche Prosastil in unsern Tagen. Motto:
„Wir sind nicht philiströs, intolerant, reactionär, aber wir wollen nicht, daß Freiheit heiße, was Frechheit ist, geistreich, was Unsinn ist, Bildung, waS Verunstaltung, Regel, was Unwissenheit sich nuSklügelte." LanthippuS.
Als Goethe in dem viel besprochenen und viel angefochtenen 29. vene-
tianischen Epigramme das merkwürdige Bekenntniß ablegte, daß er, der so Mancherlei unternommen, nur Ein Talent der Meisterschaft nahe ge
bracht habe, „Deutsch zu schreiben", da hat er unS bestimmter, als
er sonst wohl pflegt, auf die Schwierigkeiten hingewiesen, mit denen er Zeit seines Lebens im Kampfe lag.
Viele von seinen Nachfolgern, zum
Theil grade solche, die den Namen dieses größten Genius unserer Nation ganz gern im Munde führen, lassen weniger klar erkennen, daß sie be
müht sind, den schwer zu behandelnden Stoff der deutschen Sprache kunst voll zu bändigen.
Als Thatsache darf zunächst htngestellt werden, daß die
Kunst des Schreibens, speciell die Handhabung des deutschen Prosastils, seit Goethes Tode in einer, nahezu beleidigenden Weise vernachlässigt worden ist, daß grade die Prosa-Arten, welche quantitativ am meisten ge
lesen werden, die in den politischen Zeitungen und den endlosen „spannen den" Romanen vertretenen, an Nachlässigkeit und Unsauberkeit des Stils daS äußerste leisten und viel dazu beigetragen haben, den Sinn für die
Kunstform der deutschen Prosa leider nicht bloß in döv großen Masse ab zustumpfen.
Diese Thatsache braucht nur hingestellt, nicht bewiesen zu
werden; seit einigen Jahren wird sie in der That nicht mehr bezweifelt
außer natürlich von denen, die sich getroffen und doch außer Stande fühlen ihre Sünden abzuthun.
Wie weit die Erkenntniß dieses Uebelstandes sich
schon verbreitet hat, beweist unter Anderm die umfangreiche Literatur, welche auf diesem Gebiete im Verlaufe des letzten Jahrzehnts anklagend
und heilen wollend erwachsen ist*).
Die Tagesliteratur, welche dabei zu-
*) „Die Gallicismen in der deutschen Schriftsprache mit besonderer Rück sicht auf unsere neuere schön-wissenschaftliche Literatur." Eine patriotische Mahnung
Preußische Jahrbücher. Bd. XLVL Heft 2.
9
110
Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.
meist angegriffen wurde, aber auch zunächst Veranlassung gehabt hätte, sich diese Angriffe zu Gemüthe zu führen, hat in pharisäischer Selbstge-
rechtigleit entweder gar keine Notiz davon genommen, oder ist hochmüthig
über sie zur Tagesordnung übergegangen.
Indessen ist das angeregte
Thema ein so wichtiges, daß es eine immer wiederholte intensivere Be handlung im höchsten Grade wünschenSwerth erscheinen läßt.
Mir kommt eS hier hauptsächlich auf die Beantwortung der Frage an: was erschwert den Schriftstellern unserer Tage die Behandlung der deutschen Prosa als einer Kunstform?
Eine Antwort hierauf läßt sich,
wie mir scheint, nur in der Weise geben,
daß
auch einzelue weitere
Probleme dabei berührt und andere eng damit zusammenhängende Fragen erörtert werden. Ein kunstmäßiger Gebrauch der ungebundenen Sprache, neben der Poesie einerseits und der bloß naturalistischen Anwendung derselben an
derseits, ist durchaus keine neue Erfindung; alle occidentalischen Cultur völker haben neben der Entwickelung der Poesie eine nach bestimmten Ge setzen sich vollziehende Formvollendung der Prosa aufzuweisen, und zwar will es scheinen, als ob die letztere zu den feinsten Culturblüthen zähle
und mit der Culmination der jedesmaligen Entwickelungen der Völker
coincidire.
Bei den Culturen, die wir in jeder formellen Hinsicht als
unsere Vorbilder anzusehen pflegen, der hellenischen und italischen, trifft dies entschieden zu.
Die größten attischen Prosaiker stehen chronologisch
in der Mitte zwischen Phidias und Praxiteles,
Alexander.
zwischen Perikles
und
Der Stil PlatoS muß vielleicht überhaupt an erster Stelle
genannt werden, wenn von den höchsten Hervorbringungen menschlichen
FormensinnS die Rede ist, eS hat wohl niemals die Arbeit eines Men schengehirns in schönerer, schlichterer, vollkommenerer Weise die ihm eigen
thümliche Ausdrucksform gesucht und gefunden, als eS in den platonischen Schriften geschieht.
Auch bei den Römern fällt die höchste Entwickelung
des Prosastils mit dem Wirken Cäsars, des größten produktiven Genies dieser Nation zusammen, und ebenso begleitet anderthalbtausend Jahre
später die toskanische Prosa den schönen Entwickelungsgang der Kunst in ziemlich parallelem Laufe.
Von Spanien und Frankreich läßt sich Aehn-
licheS nachweisen; der größte castilianische Prosaiker, Cervantes der Einvon Dr. Franz August Brandstäter. Leipzig, Johann Friedrich Hartknoch. — „Sprachliche Sünden der Gegenwart" von Professor Dr. August Lehmann, Braunschweig, Wreden. — „Deutscher AntibarbaruS. Beitrage zur Förde rung des richtigen Gebrauchs der Muttersprache." Von K- G. Keller, Stuttgart, A. Liesching & Comp. — Ueber Verrottung und Errettung der deutschen Sprache." Von HanS von Wolzogen. Leipzig, Edwin Schlömp. — „Das Wort sie sollen lassen flau. Ein Mahnwort an die Freunde unserer lieben deutschen Muttersprache" von ZkanthippuS. Schwerin, Stillersche Hofbuchhandlung.
Der deutsche Prosastil in unfern Tagen.
111
zige, steht in der Mitte zwischen den beiden CulminationSpunkten der
spanischen Cultur, dem Zeitalter der Conquistadores und dem des Murillo, ebenso wie die Thätigkeit des gleichfalls in seiner Art einzigen Voltaire den Raum zwischen dem specifischsten französischen Helven Ludwig XIV. bis zur ebenfalls echt französischen „großen" Revolution hin auSfüllt. Richt so einfach ist das Verhältniß bei den Deutschen, deren Ge
schichte sich auS lauter Anomalien zusammenzusetzen scheint. Die mönchisch
ritterliche Cultur deS romanischen Zeitalters, sowie die kriegerisch-bürger
liche des „gotischen" finden in Kirchenbauten und Kriegszügen den ent sprechendsten Ausdruck für ihren Thatendrang.
Darf auch die sich daneben
entwickelnde Literatur nur in geringerem Grade als eine Repräsentantin
des geistigen Lebens jener Zeit gelten, so ergänzt sie uns doch in sehr willkommener Weise das Gesammtbild der deutschen mittelalterlichen Cultur.
DaS ungefüge deutsche Idiom, vor Kurzem noch die Sprache der Bauern,
gewinnt dilrch die Behandlung der priesterlichen und ritterlichen Dichter eine größere Geschmeidigkeit und bereitet sich zu ihrem Beruf vor, daS
trefflichste Ausdrucksmittel deS Denkers, Redners und Erzählers zu wer
den.
Von großer Bedeutung ist in dieser Hinsicht die literarische Thätig
keit der volkSthümlichen Geistlichen des
vierzehnten Jahrhunderts.
In
den sogenannten Mystikern ahnen wir schon die Anfänge deS neuen deut schen ProsastilS; den größten Künstler auf diesem Gebiete, Luthern, können
wir uns ohne ihre Einwirkung kaum denken.
das Geheimniß,
Sie verrathen uns zugleich
wie ein vollkommener Prosastil
allein entstehn kann,
nämlich die äußerst einfache Regel: willst du gut schreiben, so habe einen
bedeutenden geistigen Gehalt und suche diesen auf eine ganz einfache, dir gemäße Weise zum Ausdruck zu bringen.
Wer unter solchen Voraus
setzungen die formgebende Kraft besitzt, wird dann zum Künstler.
Luther
besaß diese letztere im höchsten Maße; wohlverstanden, nachdem er in un geheurer Anstrengung danach gerungen hatte, sie auS sich zu entwickeln.
Denn die Thätigkeit der beiden größesten deutschen Sprachkünstler, Luthers und Goethes, würde man ganz falsch verstehen, wollte man annehmen, diese Kunst sei ihnen sonder Mühe als reife Frucht in den Schoß gefallen.
Bei Luther traf Mehreres in glücklichster Weise zusammen: eine gewaltige innere Leidenschaft, die ihn oft genug befangen und ungerecht machte, aber
ihn trieb, sich rücksichtslos seine eigene Welt aufzubauen; jene Simplicität und Wahrhaftigkeit, die das sicherste Merkmal des echten Genies sind, und die ihn immer die natürlichen und einfachsten Mittel ergreifen ließen;
endlich sein inniger Zusammenhang mit den Wurzeln deS deutschen VolkSthums.
DaS wunderbarste an seiner Thätigkeit als deutscher Prosaiker
ist vielleicht doch seine Wortwahl.
Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.
112
Er hat dadurch die AuSdruckSformen deS deutschen Denkens und Empfindens so erweitert, daß die nächstfolgende Zeit mit diesem von ihm
geschaffenen Reichthum kaum etwas anzufangen wußte.
Erst Goethe, der
sich auch hierin als Nachfolger und Schüler Luthers wiederholt bekennt,
hat sehr bestimmt an ihn angeknüpft.
Luther schuf Vorbilder für die
erzählende und rhetorische Prosa; einen kunstmäßigen Prosastil für wissenschaftliche Darstellung zu finden, blieb der Zukunft überlassen. ES dauerte lange genug, ehe hier die Erben deS großen Reformators
kamen.
Mit der Verarmung des geistigen Lebens der Deutschen, wie wir
sie von der Mitte des 16. Jahrhunderts an wahrnehmen können, ging auch ein Verfall der deutschen Sprache Hand in Hand.
Ja es hatte in
dem nun folgenden Zeitalter des Barock- und dem des RococcostilS den Anschein, als sollte die edle deutsche Schrift-Sprache, die einzige europäische, die ein wirklich gewachsenes ursprüngliches Idiom ist, kein bloß zur
Schriftsprache entwickelter Dialekt, auf die Stufe eines PatoiS herab sinken.
Die eleganteren, bequemeren romanischen Idiome, französisch und
italienisch hatten sich die Gunst der höheren Stände erobert, die rein
wiffenschaftliche
Literatur
blieb
beim
Lateinischen
stehen,
oder kehrte
wieder zu ihm zurück, anstatt zu versuchen, die deutsche Sprache auch
für diese Denkformen ausdrucksfähig und geschmeidig zu machen.
Die
literarischen Zustände der salischen Kaiser schienen wiedergekehrt.
In
dessen blieb jener Besitz, den uns der höchste Aufschwung der deutschen
Volkskraft im ReformattonSzeitalter erworben hatte, unverloren und trat wieder in sein volles Recht, als vom zweiten Drittel deS vorigen Jahr hunderts an das geistige Leben der Deutschen auf allen Gebieten, wie
mit einem Schlage, erwachte; als Bach eine völlig neue Ausdrucksform
für Empfindungen und Leidenschaften schuf, als Winckelmann den Schutt
von Pedanterie und Plattheit hinwegräumte, der unsern Blick auf das hellenische Alterthum verhinderte, als Kant dem wichtigsten aller wissen
schaftlichen Probleme auf der Spur war und Friedrich dem verkümmerten Nationalgefühl einen neuen Halt gab.
Diese vier zeitgenössischen Männer
wußten wenig von einander; sie hatten genug zu thun, jeder seinen eigenen
Weg zu verfolgen, aber sie haben thatsächlich zusammen gewirkt.
In
Winckelmann und Kant fand zugleich der beleidigte Genius der deutschen
Sprache zwei tüchtige und berufene Vertreter.
Das wichtige an ihrer
sprachbildenden Thätigkeit ist wiederum, daß Jeder sein ganz besonderes geistiges Leben führte und für diesen ihm eigenthümlichen Gehalt mit tiefstem Ernst und treustem Fleiß den speciellen dazugehörigen Ausdruck
suchte.
DieS macht ihren Stil, dem es übrigens nicht an Härte und
Monotonie fehlt, so überaus werthvoll.
Sie sind, mit Lessing und Herder
113
Der deutsche Prosastil in unsern Tage».
zusammen, die Schöpfer des modernen deutschen Prosastils für wissen
schaftliche Darstellung. Wollte ich nun hier den Namen des größten deutschen Sprachkünstlers einfach als das Glied einer langen Entwickelung als einen von den Vielen anreihen, so würde ich mir eine häufig begangene Ungerechtigkeit gegen den Dichter und eine große historische Unrechtfertigkeit zu Schulden kommen Wunderbar, daß eine ganze Anzahl aus der langen Reihe un
lassen. serer
gelehrten und breiten Literaturhistorien völlig
befangen
werden,
wenn sie auf Goethe» zu sprechen kommen; sie behandeln ihn einfach als
das Mitglied einer größeren Dichterrepublik, als einen der vielen deut schen „Classiker", anstatt ruhig zu bekennen, nicht bloß, daß wir es
bei ihm mit einer ganz besondern Cultur zu thun haben,
sondern auch
daß seine Sprache, die gebundene ebensowohl, wie die ungebundene, ihren ganz incommensurabeln Kunstwerth besitzt.
Es ist ein großes Ver
dienst H. Grimms, in seinen Vorlesungen über Goethe hierauf, und zwar meines Wissens zum ersten Male, mit allem Nachdruck hingewiesen zu
haben; eS bleibt nur wunderbar, daß die deutschen Philologen hundert Jahre von dem Erscheinen des Werther an nöthig gehabt haben, um diese
Thatsache zu constatiren. Von einer Aneignung dieser Kunst im gewöhnlichen Sinne ist bei Goethe keine Rede, mit Recht durfte er von sich aussagen: Als Poet fand ich Ruhmes Gewinn, Frei Segel, freie Wimpel, Mußt' aber alles selber thun,
Konnte Niemand fragen.
Schon in dem ersten Prosawerk des fünfundzwanzigjährigen Jüng lings tritt uns seine Sprache in ihrer ganzen unnachahmlichen Schönheit, Farbe und Modellirung entgegen:
eine vollkommnere, genialere Hand
habung der deutschen Prosa als in Werthers Leiden kenne ich überhaupt
nicht.
Er hat sich diese Kunst erworben, wie eben ein Genie lernt, alles
beeinflußte ihn, was ihm verwandt war, die Franzosen,
die Römer,
Wielands leichte Eleganz hat er auf sich wirken lassen, aber die Wurzel
seiner sprachlichen Kraft war sein Vermögen, die Welt in klaren, gerun deten, plastischen Bildern in sich aufzunehmen, und den gewonnenen Ge-
sammteindruck in einfacher, möglichst prägnanter und bildlicher Weise
wiederum zum Ausdruck zu bringen.
Diese Richtung, die ihm indivi
duell eigen war, obwohl er sie einmal als ein Gemeingut seines heimath lichen Stammes bezeichnet, stellte ihn in einen ganz analogen Gegensatz
zu der
verschnörkelten Kunst und Rede der
eleganten
Kursachsen im
Rococcozeitalter wie schon ehedem seinen großen Glaubensgenossen Winckel-
Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.
114 mann.
ES war gewiß eine treue und zuverlässige Erinnerung, wenn sich ersten Aufenthalt unter den feinen
der 60 jährige Dichter über seinen Leipzigern also äußert:
„Ich war in dem oberdeutschen Dialekt geboren
und erzogen und obgleich mein Vater sich stets einer gewissen Reinheit der Sprache befliß und uns Kinder auf das, was man wirklich Mängel
jenes Idioms nennen kann, von Jugend an aufmerksam gemacht und zu
einem besseren Sprechen vorbereitet hatte, so blieben mir doch gar manche tiefer liegende Eigenheiten, die ich, weil sie mir ihrer Naivetät wegen ge fielen, mit Behagen hervorhob und mir dadurch von meinen neuen Mit
bürgern
jedesmal einen
strengen
Verweis
Der
zuzog.
Oberdeutsche
nämlich drückt sich viel in Gleichnissen und Anspielungen aus, und bei
einer inneren menschenverständigen Tüchtigkeit bedient er sich sprüchwörtlicher Redensarten.
In beiden Fällen ist er öfters derb, doch, wenn man
auf den Zweck deS Ausdrucks sieht,
immer gehörig;
nur mag freilich
manchmal etwas mit unterlaufen, was gegen ein zartes Ohr sich anstößig erweist.
Jede Provinz liebt ihren Dialekt:
denn er ist doch eigentlich
das Element, in welchem die Seele ihren Athem schöpft" u. s. f.
Ferner:
„Mir sollten die Anspielungen auf biblische Kernstellen untersagt sein, so
wie die Benutzung treuherziger Chroniken-Ausdrücke.
Ich sollte vergessen,
daß ich den Geiler von KeiserSberg gelesen hatte und des Gebrauchs der Sprüchwörter entbehren, die doch statt vieles Hin- und Herfackelns, den
Nagel gleich auf den Kopf treffen, u. s. f."
Die ganze Stelle, Dichtung
und Wahrheit, gegen Ende des 6. Buches verdient im Zusammenhang
nachgelesen zu werden. Man begreift nun auch, wie diese Richtung ihn auf Luther Hinweisen
mußte, speciell auf dessen Bibelübersetzung, vielleicht das einzige Buch, das
ganz direkten,
Sprache geübt hat.
intensiven
und nachhaltigen Einfluß
auf Goethe's
Noch in spätem Alter empfiehlt er sie jungen Dichtern,
damit sie „deutsch schreiben lernen". Wenn das Wunder der deutschen Prosa schon in dem Erstlingswerk deS Dichters nach einer Richtung hin vollendet dasteht, so ist doch in
seinen weiteren Dichtungen eine erstaunliche Entwickelung in die Breite
wahrzunehmen. Schönheit
ist
Von ähnlich ursprünglicher Kraft und höchster rhetorischer
vor Allem der kostbare kleine Aufsatz „Natur",
den er
später selbst glaubt in das Jahr 1780 zurückverlegen zu müssen. nun sich
folgenden Hauptwerke,
Die
Wahlverwandtschaften, Dichtung und
Wahrheit und, die Prosa-Dichtung par excellence, der langsam und all mählich sich entwickelnde Wilhelm Meister zeigen, welcher Reichthum an
Ausdrucksmitteln und Farben dieser einzige Künstler zur Verfügung hat:
Charakteristiken von Menschen, Situationen und Gegenden, Schilderungen,
Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.
115
Erzählungen, alles gelingt ihm mit derselben Leichtigkeit, für Alles findet
er die gleiche glückliche Form sowohl was Wortwahl als den Satzbau anlangt.
Der vollendete Meister in der gebundenen Sprache, ist er es
auch in der ungebundenen.
Auch hat uns der große Herzenskündiget das
Geheimniß nicht vorenthalten, worin nach ihm das Wesen des großen
Stilisten liegt, wenn er mit unnachahmlicher Einfalt das Leben des
Dichters schildert: „Er fühlt, daß er eine kleine Welt In seinem Gehirn brütend hält,
Daß die fängt an zu wirken und zu leben, Daß er sie gern möcht' von sich geben. Er hätt' ein Auge treu und klug, Und wäre auch liebevoll genug,
Zu schauen manche» klar und rein, Und wieder Alle» zu machen fein;
Hätt' auch eine Zunge, die sich ergoß, Und leicht und fein in Worte floß."
Die Schilderung, welche Goethe hier von der Thätigkeit des Dichters
entwirft,
auch von der des Prosaschreibens.
gilt von jeglicher Kunst,
Hiermit ist denn auch das oben schon Gesagte atlsgedrückt, daß diese Kunst
sich nicht anders lehren läßt als durch die schlichte Regel: habe eine innere Welt und erwirb dir die Form, sie mitzutheilen!
Diese Form freilich ist
in gewissem Sinne lehrbar und speciell von der Goetheschen Sprache
können, müssen wir fort und fort lernen.
sächlich nur in sehr geringem Maße;
ES geschieht dies aber that
Goethe ist noch nicht der große
Lehrer deS deutschen Volkes, sondern nur der vertraute Freund einer
ganz kleinen Gemeinde, denn die von der Menge ausschließlich gelesene Prosa der politischen Zeitungen, inclusive „Feuilleton" und „wissenschaft
liche" Beilagen, der Unterhaltungsblätter,
der Roman- und Novellen
literatur, ist durchschnittlich von einer solchen Jncorrectheit, Verdorbenheit und Häßlichkeit, daß sie für jeden einfach unerträglich sein muß, für den
Goethe die tägliche Lectüre bildet.
Bei so strengem Urtheil, für das ich
als weitere Bestätigung die Beschaffenheit unserer Literaturhistorien schon
oben angeführt habe, werden natürlich immer einzelne Ausnahmen gelten, aber ich wiederhole: wer an der Diction deS Durchschnitts unserer TageSliteratur — es bleibt Jedem überlassen sich hier auS dem Kreise seiner
Erfahrung bestimmte Typen statt deS allgemeinen Begriffs zu setzen — sein Genüge findet, der spare sich
die
verlorene Mühe, als Jünger
Goethes gelten zu wollen. Vor 50 Jahren war die deutsche politische Zeitung noch ein ganz
zahmes bescheidenes Geschöpf, aber in den drei Decennien nach Goethes
. Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.
116
Tode nahm das Zeitungsunwesen immer riesigere Dimensionen an. . Dem
Philister wurde nun plausibel gemacht, daß in der That täglich etwa zehn
Spalten wissenSwerther Dinge mitzutheilen
seien; diese Weisheit des
TageS ward ihm so servirt, daß sein weiteres Nachdenken überflüssig ja
unmöglich gemacht wurde. — Wer sind diese berufenen Lehrer der edelen deutschen Nation?
Gewiß befinden sich viele tüchtige Männer darunter,
die ein ehrlicher Eifer für die Sache treibt.
Aber soll ich über die zahl
reichen anderen Physiognomien sprechen die sich an den RedactionSpulten und unter den Correspondenten der deutschen politischen Zeitungen, nicht
bloß der Börsenblätter, zeigen? Den nichtsnutzigen Studenten trieb vielfach die Furcht vor dem Examen, den bankerotten Kaufmann die Noth zu dem
Berufe, das Volk über Politik, Nationalökonomie, Literatur rc. zu be lehren.
sächlich.
Das bekannte geflügelte Wort des Kanzlers ist durchaus that In dem widerwärtigen Stil vieler unserer Zeitungen erkennt
man oft genug mit großem Verdruß diese catilinarischen Existenzen.
Wie
soll man aber nun von Einem, der zwei Stunden über der Lektüre seiner
so beschaffenen Zeitung zugebracht hat, erwarten, daß er sich noch irgend welchen Sinn für sprachliche Schönheit rettet?
Dieser entnervende Ein
fluß wird von den Romanschreibern vielleicht in noch eindringlicherer und
erfolgreicherer Weise ausgeübt.
Allen voran steht hier Gutzkow, einer der
unheimlichsten Zerstörer und Verderber der edeln deutschen Sprache.
Wenn
das vorherrschende Gefühl gegen einen zeitlebens kranken und unglücklichen
Mann das Mitleiden ist. Iso kann uns dies doch Thatsache nicht hindern, daß
am Aussprechen der
er den Reigen jener unseligen Roman-
„Dichter" eröffnet, die mit kaninchenhafter Fruchtbarkeit ihre endlosen,
bänderetchen Romane produciren und diese Wunderwerke der erstaunten Mitwelt gleichzeitig „unter dem Strich" einer politischen Zeitung, in einem Unterhaltungsblatt, in einer wohlfeilen und einer theuren Buchausgabe anbieten.
Es wäre natürlich pedantisch bei solchen Massenproduktionen
eine edle durchgebildete Form zu erwarten.
Der Philister aber Hat hier
endlich seine „Klassiker" gefunden, und kann recht bös werden, wenn man
sie ihm
nicht ohne Weiteres gelten läßt.
die Leidenschaften —
In solchen Romanen werden
freilich nicht die edeln — angeregt, da giebt cS
politische, religiöse rc. Anspielungen, ja auf Verlangen hat man zugleich
ein historisches Collegium, man braucht gar nicht erst ägyptische Alter thümer zu studiren, sondern erfährt zu seiner größten Befriedigung, daß
eS schon vor zwei und vier Tausend Jahren am Nil so platte Bursche gegeben hat, wie jetzt an der Spree.
Einer unserer besten historischen
Dichter im guten Sinne dieses Wortes, W. Alexis, der ein wahrer Lehrer
des Volks sein könnte, wurde über solche Afterautoren schier vergessen;
117
Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.
der treffliche G. Freitag war, wenn man ihn aus den Kritiken gewisser ZeitungS-FeuilletonS und Wochenschriften hätte kennen lernen wollen, ein
verdrehter, ungeschickter Sonderling.
Mitten
auS diesem Hexensabbath heraus erhob zum ersten Male
Arthur Schopenhauer seine nachdrucksvolle Stimme, als Stilist ersten Ranges,
wie wenige berufen, dieses Wächteramtes zu wahren.
Sein
Aufsatz „über Schriftstellerei und Stil" ist noch heute ca. 30 Jahre
nach seinem Entstehen in hohem Grade beachtenswerth, und die oben an geführte kritische und polemische Literatur
Besseres thun als an ihn anzuknüpfen.
konnte in der That nichts Zuvörderst freilich war seine
Stimme die des Predigers in der Wüste; sie verhallte wirkungslos.
Heute
aber ist die Reaktion gegen die Sprach-Corruption in ihrer Zunahme deutlich erkennbar; auf einen, der seine Stimme erhebt, kommeil hundert, die mit ihm empfinden, ohne das Wort zu ergreifen.
Freilich stelle man
sich selbst nach der gründlichsten Diagnose die Therapie des anerkannten
Uebels nur gar nicht leicht vor!
Der Mehrzahl der Lesenden ist durch
die Masse des zu bewältigenden Stoffes die Fähigkeit benommen, über haupt noch klar zu schauen und scharf zu beuten.-
Statt vor einer, wenn
auch noch so bescheidenen Kunstform stehen sie vor einem Trümmerhaufen,
aber ihr abgestumpftes Stilgefühl erlaubt ihnen nicht mehr diesen Unter
schied zu erkennen.
Wer es unternehmen will hier zu heilen, muß offen
bar damit beginnen, unser Sprechen und Denken correkt zu gestalten.
Freilich ist ein Stil, der frei von Verstößen gegen Logik und Grammatik
ist, noch lange keine Kunstform, aber die nöthigste Vorbedingung dazu ist er doch, und mit dieser negativen Seite unserer Aufgabe, der Purifikation
des Stiles sind wir wenigstens am Anfänge des WegeS zu einer kunst mäßigen Veredelung unsrer Sprache.
Hierbei
ist nun oft genug ein
grober taktischer Fehler gemacht worden, dem man auch jetzt noch ge legentlich begegnet, ich meine die unbedingte Kriegserklärung gegen alle
Fremdwörter. Die abgeschmackten Versuche und Vorschläge der teutonischen Puristen sind zu bekannt, um noch einmal erörtert zu werden.
UebrigenS
ist auch diese Frage aufs leichteste zu erledigen: ein Fremdwort, das uns für einen neuen Begriff eine neue, unserm Idiom mangelnde Form bietet und das sich der deutschen Sprache anpassen läßt, ist keine Verderbung sondern
eine Bereicherung derselben.
Unnölhige Fremdwörter statt
guter, völlig synonymer deutscher anzuwenden wird den Eindruck deS
Gespreizten und Manierten machen; der Gast aber, der uns aus irgend
einem fremden Lande etwas Neues, Werthvolles bringt, ist willkommen.
Weit wichtiger schon ist die Frage nach den Construktionen, die wir fremden Sprachen entlehnen.
Die sprachliche Wendung ist in weit höherem
Der deutsche Prosastil in unser« Tagen.
118
Grade das Eigenthum deS specifischen Sprachgefühls,
als das einzelne
Wort; aber eine Bezeichnung unserer Ausdrucksmittel durch fremde Ent lehnungen ist auch hier von vornherein durchaus nicht ausgeschlossen.
ist Sache deS feineren Sprachgefühls hier zu wählen.
ES
Nachweisbar ver
danken wir der in Deutschland verbreiteten Beschäftigung mit den beiden
alten Sprachen eine Reihe von werthvollen geradezu unentbehrlich ge wordenen Construktionen und Wendungen, ohne daß der Geist der deut
schen Sprache dadurch entartet wäre.
Noch erkennbarer ist vielleicht der Einfluß deS Französischen.
Die
zahlreichen Gallicismen in unserer Sprache, zuvörderst weniger in pole mischer. Absicht, als
einfach
im Interesse der sprachlichen Statistik, zu
sammeln und zu ordnen, hatte sich Brandstäter zur dankenSwerthen
Aufgabe gemacht.
Sein Buch bietet eine interessante Uebersicht, wie stark
der französische Einfluß auf unsere gesammte Literatur ist, wie bei Goethe sich einzelne Gallicismen finden, die wir nachzuahmen offenbar nicht nöthig
haben, wie vor Allem Lessing sich seinen Stil unter dem Einfluß französischer Vorbilder geformt hat.
Brandstäter ist indessen selbst bereit, zuzugeben, daß nicht jede nach weislich aus
dem Französischen in unsre Sprache übergegangene Con-
struktion eo ipso verwerflich wäre.
Schließlich gilt von den Sprach
formen doch das Gleiche, was von den Rechtsformen, Kunstformen kurz jeder Ausdrucksweise unseres geistigen Lebens zu sagen ist, daß der Glaube
an unsre eignen Götter uns nicht abhalten darf, auch die geistigen Er
werbungen Fremder gelegentlich für uns zu verwerthen. Weit wichtiger ist eS, auf die Formen der Corruption in der deut schen Sprache zu achten, die ohne den Milderungsgrund eines fremdsprach
lichen PräcedenzfalleS entstanden sind und sich fortpflanzen.
Der Auf
deckung und Bekämpfung derselben gelten die ferneren oben erwähnten
Schriften.
Der
„Antibarbarus"
von Keller
und
die
„sprachlichen
Sünden" von Lehmann stehen wesentlich
auf
Bon der beobachteten Thatsache ausgehend,
daß unsre deutsche Sprache
demselben Standpunkt.
sich in einem Zustande beklagenSwerther Entartung befindet, suchen sie das
schwach gewordene Sprachgefühl dadurch zu stärken, daß
sie die land
läufigsten Verstöße gegen Logik, Grammatik, Wohlklang, guten Geschmack rubrikenweise aufzählen und nachweisen.
umfassender und
prinzipieller
als
Indessen ist die Arbeit KellerS
die LehmannS, vor Allem
ist sein
Material an Belegstellen von der nöthigen Reichhaltigkeit und Univer
salität.
Denn ganz mit Recht citirt er nicht bloß anerkannte Autoren,
sondern greift auch hinein in den Jargon der TageSblätter, obrigkeitlichen
Verordnungen rc. — was ja bei dem Zwecke seines Unternehmens durch-
119
Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.
aus unerläßlich war.
Damit soll indessen Daniel Sanders keineswegs
gerechtfertigt werden, wenn er in seinem „Handbuch" da wo es sich ledig lich um Feststellung des aktuellen, anerkannten
guten Sprachgebrauchs
handelt, in Einem Athem neben Goethe und Ranke etwa Gutzkow und Adolf Stahr citirt.
energisch danken!
Für solche „Classiker" müssen wir ebenso höflich wie Bei dem großen Verdienst, welches
ich willig der
fleißigen Arbeit des „AntibarbaruS" zuerkenne, will ich nicht verhehlen, daß das Buch einerseits gelegentlich über das Ziel hinausschießt, andrer
seits nicht durchaus vollständig ist.
Der Verfasser will, — um nur Ein
Beispiel herauszugreifen — nicht zugeben, daß das Verbum fahren im
transitiven Sinne der deutschen Sprache gemäß sei und hält diese An wendung für einen Provinzialismus der Norddeutschen — entschieden mit
Unrecht!
Ferner vermisse ich eine Rüge des sehr verbreiteten. Fehlers,
das Passivum von solchen Verben zu bilden, welche das Objekt im Dativ
haben.
Zu sagen, „er wird gefolgt von" rc. wird dadurch nicht richtig
und erlaubt, daß es selbst von einem unserer besten Historiker und Stilisten mit Vorliebe angewendet wird*). schreibt sogar: „ich werde geholfen!"
Einer der modernsten „Classiker"
Je mehr selbst der feinere Sprach
sinn sich gegen eine solche Fehlerhaftigkeit des Ausdrucks abzustumpfen beginnt, desto lebhafter und energischer müssen wir dagegen protestiren.
Noch einzelne Uebertreibungen, Pedantereien und Mängel des Keller-
schen Buches ließen sich moniren, doch entspricht es nicht dem Zweck unserer Untersuchung Einzelheiten aus dieser Sammlung, die ich in der Hand
des Lehrers und Schriftstellers wissen möchte, hier mitzutheilen.
Wer im
Wesentlichen unsrer Ansicht ist, wird viel aus ihm lernen und — oft
genug wird ihm sein eigenes Gewiflen schlagen, denn fürwahr wir sind allzumal Sünder, und die allgemeine Krankheit hat nur wenige, auch von
den Besten, ganz unberührt gelassen.
Nur muß hier — es geschieht vielleicht zum Ueberfluß! — vor dem
Irrthum gewarnt werden, als sei Mangel an Fehlern das einzige, oder
selbst nur ein genügendes Kennzeichen eines kunstvollen Prosastils.
Zu
nächst verzeiht man den genialen, reichen, wirklich großen Sprachkünstlern
gern einzelne Jncorrektheiten und Unebenheiten, — kann man doch der gleichen selbst bei Goethe nachweisen, und grade bei besonders herrlichen
*j Der Gallicismus „gefolgt von" (gebildet nach „suivi de“) kommt fast bei allen unseren guten Prosaisten vor, von Klopstock und Goethe bi« herab auf Gottfried Keller, und kann heute wohl als erlaubt gelten, zumal da man dabei eher an „Gefolge" als an „folgen" denkt. Auch besitzt unsere Sprache schlechterdings keinen anderen Ausdruck, der den einfache» Begriff ebenso kurz und ebenso anschaulich wiedergäbe. Selbst I. Grimm findet das Wort wenigstens „erträglich". A. d. R.
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Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.
Stellen wird man durch das Uebermaß der Schönheit wie durch einen Zauber über gewisse Fehler hinweggetäuscht.
Ein recht merkwürdiges
Beispiel hierfür bietet der Anfang des berühmten Monologs: „Verlassen
hab' ich Feld und Auen, die eine tiefe Nacht bedeckt rc.", der eine offen
bar grammatisch-falsche Satzbildung enthält, an welche man sich indessen so gewöhnt hat, daß man sie nur mit Mühe spürt und dann nicht hin wegwünscht.
Keller macht hierauf, so wie auf AehnltcheS aufmerksam.
Umgekehrt ist es möglich, daß eine Schreibweise absolut „correkt" und
trotzdem völlig werthloS ist,
in dem Falle nämlich, daß jene Correkthett
rein negativer Art ist und uns niemals die Ueberzeugung verschafft, daß sie für den gegebenen Stoff genau die entsprechende Form bietet, daß in ihr Gedanke und Wort sich völlig decken.
Hierdurch
aber entsteht doch
allein erst daS, was wir Classicität des Stils nennen, vorausgesetzt natür lich, daß der Gedanke überhaupt mittheilungSwürdig war. Ich spreche von der Schreibweise solcher Leute, die dem Genie die
äußeren Manieren, „wie er sich räuspert, wie er spuckt" ablernen und nicht die Kraft besitzen eine eigene Form aus sich zu erzeugen.
Ihr Ge
baren hat etwas durchaus CastratenhafteS. Diese sogenannte Correktheit ist schließlich doch lediglich daS Resultat
der Feigheit.
Künstlergröße hat, wie jede menschliche Größe in der Kühn
heit eine ihrer Hauptwurzeln.
Der Sprachkünstler muß den Muth haben
nach den bezeichnendsten Worten zu greifen, um grade das zu sagen, waS
er zu sagen hat; er darf vor kühnen Bildern und Metaphern nicht zurück
schrecken um seiner Diktion Licht und Schatten zu geben.
Hier erkennt
man ehesten, ob und in welchem Grade man eS mit einem Sprachgenie
zu thun hat.
Auch nach dieser Richtung ist Goethe der größeste von allen
denen, welche die deutsche Sprache behandelt haben; in
der Wahl der
Bilder und der Formung der Worte zeigt er jene nachtwandlerische Sicher
heit des Genies, in der ihn bis jetzt noch keiner der deutschen Sprach muster erreicht hat.
Im Gegentheil ist in dieser Hinsicht unsäglich ge
frevelt worden, und mit dem gerechten Kampf gegen eben diese unsinnig
corrumpirte Bildersprache unsrer modernen Prosaliteratur beginnt HanS
von Wolzogen sein dänkenSwertheS Buch.
Die Grundstimmung, die
ihn leitet, ist die gleiche, , wie die der beiden zuletzt genannten Werke, aber
sein Angriff richtet sich ganz speciell gegen die Sprache der letzten zwei Decennien, gegen den Stil der „Jetztzeit", wie der genügend gebrand-
markte Terminus lautet, mit dem viele Journalisten ihr Zeitalter zu be nennen pflegen.
Wolzogen hat mit ehrlichem Fleiß und feinem Ver
ständniß sich der nicht sehr angenehmen, aber sehr erfolgreichen Arbeit
unterzogen einige der gefeiertsten Romane, Zeitschriften rc. der jüngsten
Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.
121
Gegenwart mit der Gesinnung des Inquisitors zu durchmustern, und führt unS nun eine lange Reihe von Autoren auf die Anklagebank.
ES ist über die Maßen lehrreich, und, je nach dem Standpunkt, den man einnimmt, ergötzlich oder niederdrückend, die von Wolzogen angeführte Auswahl von Belegstellen nachzulesen, die natürlich ohne sonderliche Mühe
auS andern modernen Werken, selbst wissenschaftlichen, sich beträchtlich ver mehren ließe.
WolzogenS Buch tritt nicht mit dem Anspruch auf eine
vollkommene Statistik der jetzt landläufigen Fehler und Verirrungen zu liefern;
er hat einen erfolgreichen Fischzug gethan, breitet vor unsern
erstaunten Augen die mißgestalteten
Ungethüme auS
und überläßt
es
Andern, ebenfalls ins volle Leben der „jetztzeitigen" Literatur Hineinzu
greifen.
Diesen Charakter der Studie trägt auch die kleine Schrift von
Xanthippus, ein Pseudonym, hinter welchem sich ein Sprachforscher von feiner Empfindung, wohlthuender Liebe zu seinem Gegenstände und treff lichem Humor verbirgt.
Das sehr unscheinbare Gewand in welchem seine
Briefe erschienen sind, nöthigt mich zu desto ausdrücklicherer Anerkennung. Seine beredten Worte verdienen ein zahlreiches Publikum auch deßhalb
zu finden, weil er neben seiner sehr berechtigten Polemik, reizvolle positive
kleine Beiträge zur deutschen Etymologie und zur Erläuterung des deut schen Sprachgebrauchs liefert, — alles, in ziemlich tadelloser, wohlthuen
der Form. Wäre nur die Zeit schon gekommen, da die mit beredter Ueberzeugung vorgetragenen Worte des braven LanthippuS in der Brust jedes für feine
edele Muttersprache interessirten Germanen ein Echo fände! jeder,
daß
Fühlte doch
ein Ende gemacht werden muß mit dem heillosen Sündigen
gegen den heiligen Geist der deutschen Sprache! Denn sie ist ein Tempel, der unsre Ehrfurcht erheischt, von dem nicht jeder Erste Beste diesen und jenen Zierrath abreißen dürfte! Aber wie soll es hier beffer werden?
Von den genannten Werken
beschäftigt sich nur Wolzogen in einem besondern Kapitel mit der Frage
nach der Errettung des deutschen Sprachstils.
Nach ihm ist die moderne
„deutsche" Sprache überhaupt so gründlich undeutsch geworden,
daß sie
zu kunstmäßtgem Gebrauch nicht mehr zu retten ist, die einzige Form in welcher sich
die wahrhaft deutsche Sprache,
freilich
ohne
jegliche
„Modernität" erhalten kann, ist nach ihm das musikalische Drama Richard Wagners.
Einem so einseitigen Pessimismus gegenüber muß ich denn doch einige
andre von Wolzogen nicht beachtete Gesichtspunkte geltend machen.
Denn
wenn es auch keine Frage ist, daß WagnerS Diktion eine äußerst frische,
wahrhaft deutsche und was hier vor Allem in Betracht kommt, seine Prosa
Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.
122
von durchgängiger Correkthett ist, so hat doch sein ganzer Stil, so wie überhaupt seine Kunst in ihrer ganz individuellen Richtung nur eine äußerst geringe schulbildende Kraft.
selbst,
Den Beweis liefert u. A. Wolzogen
der seine Prosa-Diktion, offenbar nicht zu seinem Vortheil, zu
ängstlich nach des Meisters Vorbild geformt hat.
Mit solcher Einseitig
keit ist uns nicht geholfen.
Sie ist aber auch ungerecht; denn es ist zu
nächst einfach nicht wahr,
daß
unsere Zeit überhaupt
keine anderen
echten und wahrhaft deutschen Prosaiker aufzuweisen hätte.
Jacob Burckhardts, um nur
Der Stil
ein. mir zufällig nahe gerücktes Bei
spiel herauszugreifen, ist bei vollkommener Correktheit so ausdrucksvoll, reich und treffend,
zähle.
daß
ich ihn getrost
den
ächten Kunstformen zu
Ueberhaupt lassen sich einige unsrer modernen deutschen Historiker
anführen, deren Schreibweise die Anforderungen einer Kunstform zu er füllen scheint.
Ohne grade vollständig in meiner Aufzählung sein zu
wollen, nenne ich Ranke, Mommsen, Sybel, Max Duncker, Baumgarten, Max Jordan in seiner auch formell hervorragenden Bearbeitung Crowe und Cavalcaselle'schen Werkes.
Vielleicht wird
des
man den Stil
einiger der genannten, besonders etwa Mommsens, zu individuell finden, um ihn grade für vorbildlich halten zu können; vielleicht kann ferner Einigen der Genannten in formeller Hinsicht hie und da etwas am Zeuge geflickt werden, aber wie reichlich werden solche etwaige vereinzelte Jn-
correktheiten ausgewogen durch die rhetorische Kraft des Ausdrucks, durch
die Sicherheit der Wortwahl und die Schönheit des Satzbaues. Unter den poetischen Erzählern verdient vor allen Anderen der vor
treffliche Schweizer Dichter Gottfried Keller genannt zu werden, der mehr von Goethe gelernt hat, als vielleicht irgend ein andrer Novellen
dichter und ihn doch nirgends (wie etwa Jmmermann) direkt nachahmt. Diese Aufzählung, weit davon entfernt, ein annähernd vollständiges Inventar aufzunehmen, soll nur beweisen, daß die Kraft der deutschen Sprachbildung nicht überhaupt erloschen ist, sondern noch unter uns be steht und in einzelnen tüchtigen deutschen Schriftstellern neue Keime treibt.
In der größeren Masse aber und unter den sogenannten „Gebildeten"
scheint diese Kraft in der That geknickt, das deutsche Sprachbewußtsein erheblich getrübt.
Also nochmals die Frage: wie ist hier zu helfen? Das
Nächste was zu thun ist, müßte ein negatives Verfahren sein: man suche
die Umstände zu beseitigen, welche der Reinheit und Entwickelung des deutschen SprachbewußffeinS hindernd im Wege stehen; man beschneide
den ungebührlichen Raum, den das Interesse für die großen politischen Zeitungen und die endlosen Romane bei Volk und „Gebildeten" einnimmt.
Dann erwecke man statt der Lust am politischen Kannegießern, die Freude
123
Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.
an der wahren im Dienste deS Staates gethanen Arbeit, man bilde
den Sinn für die ächte Poesie statt des Interesses an deren Afterarten.
Die Schule kann hierin etwas thun, aber lange nicht Alles, wie man ihr wohl gelegentlich hat zumuthen wollen.
Ganz richtig ist, wie
ihr Xanthippus vorwirft, daß sie in der letzten Zeit häufig dazu gekommen ist,
mehr
ein dünkelhaftes Halbwissen als ächte Bildung zu erzeugen.
Aber die Schule ist hierin nur ein getreuer Ausdruck der unsre ganze Zeit beherrschenden Gesinnung, ihre Unzulänglichkeit lediglich ein Symptom, keine primäre Erscheinung.
Wir können also im Interesse unseres Zweckes
die etwaigen Mängel der Schule füglich außer Acht lassen. Unsere gesammte Cultur hat einen hektischen Zug, der ihr verliehen
wird durch den Charakter der Gährung und deS Uebergangs. Dies wenig
stens wird ziemlich allgemein empfunden, und es giebt vielleicht von der Etsch bis an den Belt jetzt Keinen, der mit seinem Zeitalter völlig zu
frieden wäre.
Das Schlagwort derer, welche dieser Unzufriedenheit Aus
druck geben wollen, pflegt heutzutage die sogenannte „Halbbildung" zu sein,
überall begegnet man dem Kampf gegen dieses Gespenst,
ganze
Bücher werden darüber geschrieben, grade als wollte man aufs allerbe
stimmteste beweisen, daß man eben noch gar nicht recht weiß, was man will.
Die „Bildung" d. h. die Entwickelung der Kräfte eines Menschen
zu dem denkbar vollkommensten Grade hin, ist stets etwas Werdendes,
also Unvollkommenes, Halbes. daß seine Bildung ganz war?
Wer hat denn von sich sagen dürfen, Noch Goethe sagt als Greis:
„stet- geforscht und stets gegründet, nie geschlossen, ost gekündet".
Also auch er fühlte sich nur theilweise gebildet, ich kann nicht sagen
ob grade halb oder dreiviertel.
Nun, was man ausdrücken wollte, als
man jenen schlaffen schielenden TermintlS substituirte, war vielmehr wohl „Halbwissen".
Das Wissen von einer Sache muß entweder ganz da
sein, oder es fehle ganz; daS halbe, unklare, unsichere Wissen ist verwerf
lich, und wenn man Letzteres als einen verbreiteten Fehler unserer Zeit erkannt zu haben glaubt und dagegen streitet, hat man sehr Recht. Aber
dieses eine Beispiel falscher Begriffsbestimmung — und wie zahlreich sind sie! — beweist, daß auch die vordringlichen Apologeten vielfach gar nicht
wissen, was sie eigentlich wollen.
Nicht darin,
daß unsere Bildung unvollkommen ist, besteht ihr
Hauptmangel, .sondern daß Pseudo-Ideal ist
ihr ein
die Polymathie.
falsches Ideal
Nicht,
daß einer
vorschwebt.
Dies
seine Kräfte in
seiner Weise entwickelt und so eine wenn schon vielleicht einseitige so doch
erfreulich harmonische Größe auS sich erzeugt, sondern daß er von allem
124
Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.
Möglichen etwas versteht und ein wanderndes Conversations-Lexikon bildet,
danach strebt man heute in der Schule, wie im Leben.
Eine solche Stimmung vernichtet nun grade das, was die unentbehr lichste Grundbedingung aller und jeder echten Kunst bildet: die Wahr
haftigkeit der Gesinnung, die Naivetät der Empfindung.
Ist unsere
Zeit nicht im Stande, diese beiden der Menge des Volkes immer mehr
abhanden kommenden Eigenschaften ihr wieder zu erwerben, so gebe sie die Hoffnung auf den so ängstlich gesuchten deutschen Stil in der Kunst
zu finden, oder die sprachbildende Kraft neu zu beleben.
schulen,
Alle Kunst
Museen, Akademien rc. schaffen uns ebenso wenig eine deutsche
Kunst, wie Gymnasien, Universitäten und Akademien allein im Stande
sind den Verfall der deutschen Prosa aufzuhalten.
Eine naive Gesinnung
d. h. ein gesunder Volks-Instinkt würde im Stande sein, uns wenigstens
einige der Güter wieder zu erwerben, deren Verlust von Allen empfunden, von Wenigen klar erkannt wird:
Einfalt der Sitten, gesunde Freude an
der produktiven Arbeit, Uebereinstimmung des Jndividualbewußtseins mit
den Idealen der Zeit und Umgebung. Die Frage nach den Ursachen unserer Sprach-Misere wird somit zu einer recht eigentlichen Zeitfrage, die gesuchte und etwa gefundene Heilung
deS Uebels würde zugleich die richtige Cur für andere Krankheiten dar
bieten, deren Symptome deutlich erkennbar sind. Die Aufgabe des Dichters in gebundener und ungebundener Sprache wird hiermit zu einer hohen
und heiligen,
er muß sich somit auch die höchsten Ansprüche an seine
Thätigkeit gefallen lassen.
„Vom Poeten, sagt der wackere XanthippuS,
fordern wir die genauste ängstlichste Correktheit der Sprachbehandlung. Grade er soll am wenigsten Sprachbildner sein, er soll der treuste Depositär der heiligen, unantastbaren Ueberlieferung sein. ist Gnade.
Ueberlieferung
Damit ist nicht gemeint, daß wir vom Dichter nicht Neues
lernen sollten.
Nur soll das Neue nicht subjective Willkühr sein, sondern
aus dem Geiste der Volkssprache geboren,
edleS altes soll er uns zu
frischem Gebrauch wieder schenken, den Worten in die klugen Augen schauen, sie sagen lassen, waS sie eigentlich sagen wollen, und was sie
sagen können. . .
Für wen die Sprache nichts ist, als ein conventioneller
Kram zu möglichst schneller Mittheilung der ungemein interessanten „TageSinteressen", der ist wenigstens nicht werth, daß unser Herrgott eine so hochherrliche Sprache hat werden lassen, wie unsere liebe deutsche Mutter
sprache.
WaS der Zeitungsmensch verhunzt,
erhalte der Dichter uns
reinlich!" —
Eine glänzende Bestätigung meiner nachdrücklichst aufgestellten Be hauptung, daß es die Naivetät der Gesinnung und die innere Schlichtheit
125
Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.
des Wesens sind, welche nicht weniger für die Reinheit und Schönheit deS Prosastils die erste und unentbehrlichste Grundbedingung bilden, wie für
jede sonstige ächte künstlerische Leistung, bietet unsere jüngste vaterländische Geschichte.
Es dürfte unter unS wenig Menschen geben, welche nicht bloß
durch ihr Thun und Wirken, sondern auch durch ihr Sein und Leben so
sehr den Eindruck wahrhaft genialer Naturen machen, wie Graf Moltkx. Schwerlich hat er in seiner Jugend zu den Füßen germanistischer Pro fessoren gesessen, um deutsche Sprache ex officio zu studiren, aber sein erstaunliches Sehvermögen, den Dingen und Gedanken ganz klar und scharf in die Augen zu schauen und ihnen das Wesentliche abzugewinnen,
d. h. seine ächte Künstlernatur macht ihn den Beherrscher des GefechtS-
feldeS zugleich zu einem Künstler auf dem Felde deutscher Prosa. Die Einleitung zu dem Werke deS großen Generalstabs über den letzten Feldzug giebt eine schöne Bestätigung der Thatsache, daß daS ächte Genie in
allen seinen Lebensäußerungen groß ist, sie beweist einmal wieder daS Zutreffende der Schillerschen Sätze, mit denen ich meine Beobachtungen schließe:
„Wenn der Schulverstand, immer vor Irrthum bange, seine
Worte, wie seine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik schlägt,
hart und steif ist , um ja nicht unbestimmt zu sein, viele Worte macht,
um ja nicht viel zu sagen, und dem Gedanken, damit er ja den Unvor sichtigen nicht schneide, lieber die Kraft und die Schärfe nimmt, so giebt
das Genie dem feinigen mit einem einzigen glücklichen Pinselstrich einen
ewig bestimmten festen und dennoch ganz freien Umriß." — „Eine solche Art des Ausdrucks, wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet, und wo die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam nackend läßt, da ihn die andere nie darstellen kann, ohne
ihr zugleich zu verhüllen, ist es, was man in der Schreibart vorzugsweise genialisch und geistreich nennt."
April 1880.
Preußische Jahrbücher. ?Bt. XLV1. Heft 2.
Bernhard Förster.
10
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft. Dem Andenken Carl Friedrich Schinkel's gewidmet*). Von
Professor Dr. Guido Hauck.
Wohl dürfte eö jedem von uns ein Bedürfniß sein, in dem Einerlei
des Alltaglebens, wo jedem nur das einförmige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre tönt, sich von Zeit zu Zeit einen Rasttag zu gönnen,
an dem der Geist sich frei macht von dem Mechanismus der
Berufsthätigkeit und den Blick auf das große Ganze richtet,
um sich
Rechenschaft zu geben über die Beziehungen der persönlichen Arbeit zu den allgemeinen Fragen, welche die Zeit bewegen,
und zu den großen
Aufgaben, deren Lösung daS ideale Ziel menschlichen Daseins bildet. Solche Rasttage empfangen ihre schönste Weihe durch daS Andenken
unsrer Geistesheroen, die nicht blos in ihrem speciellen Berufsfache sich den Ruhm der Virtuosität errungen, sondern die weit über die Grenzen
des
engeren Kreises ihrer Thätigkeit hinaus Leben weckend und Licht
spendend gewirkt haben und damit von entscheidendem Einfluß auf die ganze Richtung ihrer Zeit geworden sind.
Die innige Vertiefung
in
daS geistige Leben und Schaffen eines solchen Genius ist gerade um so anregender und erfrischender, je weiter der Schwerpunkt seines Schaffens von dem engeren Gebiete unsres eigenen Berufsfaches entfernt liegt.
Es
bildet sich ja jeder seine Lebens- und Weltanschauung von seinem indivi
duellen Standpunkte auS; so
weit auch sein Gesichtskreis reichen mag,
so laufen doch die perspektivischen Linien seines geistigen Erkenntnißbildes alle in einem einzigen, ihm eigenthümlichen Augpunkte zusammen.
Und
je weiter nun zwei Standpunkte auseinanderliegen, um so schöner werden *) Nach einer Festrede, gehalten bei der Schinkel-Feier am 13. März 1880 im Architekten-Verein zu Berlin. —
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
127
sich die beiderseitigen Anschauungen gegenseitig ergänzen, um so kräftiger werden die Schlaglichter sein, welche die eine auf die ändere wirst, um
so lebendiger und fruchtbarer die Anregungen, welche jede von der anderen
empfängt. In diesem Sinne möge es gedeutet werden, wenn ein Mathematiker
sich in die Betrachtung einer Künstlernatur versenkt, widerstehlichen
Anziehungskraft
nachgibt,
die
ein
wenn er der un
Genius
wie
Carl
Friedrich Schinkel auf seine Seele auSübt. Schinkel's Bedeutung ist in der That eine universelle.
Sie ist
nicht beschränkt auf den engern Kreis seiner Fachgenossen, sein Name ist nicht
blos
mit
goldenen Lettern eingegraben am Ruhmestempel der
bildenden Kunst, er bedeutet vielmehr einen der Marksteine in der allge meinen Geschichte menschlicher Cultur.
Und jeder, der sich den Sinn für
die idealen Ziele der Menschheit bewahrt hat, wird liebend und verehrend zu dem Manne emporblicken, der durch Wort und Werk und That uns die sittlichen Aufgaben der Wissenschaft und Kunst zu neuem Bewußtsein
gebracht hat, der die Bestimmung der Kunst dahin definirte, daß ihre Werke „ein Bild der sittlichen Ideale der Zeit" sein sollen.
Wohl mag eS in erster Linie dem Künstler oder Kunsthistoriker ge
ziemen, den Mann zu preisen, der uns den reinen Quell der Schönheit in seiner lebensprudelnden Kraft neu erschlosien hat, und wohl mag viel
leicht der Künstler allein im Stande sein, Schinkel in seinem ganzen Denken und Fühlen vollkommen zu erfassen.
Wohl aber darf und soll
auch der außerhalb der Kunstgenossenschaft Stehende, der sich mächtig an gezogen fühlt von der sympathischen Gewalt, welche dieser herrliche Geist
in seiner harmonischen Einheit und Ganzheit auf ihn ausübt, — der Frage nachspüren: Was ist eS denn, was mich an dem Manne so sym pathisch berührt? WaS ist der Anknüpfungspunkt, der mir sein Denken und Fühlen als ein dem meinigen geistesverwandtes erscheinen läßt?
Der Mathematiker braucht nicht lange zu suchen um diesen An
knüpfungspunkt aufzufinden.
Kaum wird eines Mannes Denkarbeit mit mehr Recht ein vom Geiste mathematischer Schärfe durchdrungenes genannt tocrben können, als
wir dies von Schinkel sagen dürfen.
DaS Wesen der Mathematik beruht ja nicht in dem Zauber der
Formeln, sondern vielmehr in der Schärfe der Abstraktion, in der Zurück führung der Probleme auf ihre Principien, von denen aus dann eine Kette von Schlußfolgerungen — in streng logischer Folgerichtigkeit eine
aus der andern herauswachsend — fortgeführt wird, so weit, bis das letzte Glied der Kette die Antwort auf die gestellte Frage enthält.
10*
128
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
Und wenn wir nun Schinkel in seiner geistigen Thätigkeit belauschen, wenn wir beobachten, wie er nicht blos die allgemeine Frage nach dem Wesen und der Aufgabe der Kunst begrifflich zergliedert und mit zwingen
der Logik der Gedanken zum bewußten Systeme klärt, sondern wie er auch jede einzelne Specialaufgabe auf den principiellen Gedanken zurück führt, dessen künstlerische Verwirklichung ihm das Problem repräsentirt,
wenn wir dann weiter beobachten, wie er die tectonischen Form-Elemente zu organischen Complexen combinirt, die gleich einem auS mathematischen
Symbolen gefügten Formelsystem den vollen Inhalt seiner geistigen Vor stellungen wiedergeben: — müssen wir da nicht das Wesen Schinkel'scher
Geistesthätigkeit als ein mathematisches im eminentesten Sinne des Wortes
bezeichnen? Schinkel selbst sagt*): „Nur da wo man sucht, ist man wahrhaft
lebendig, .... und in jeder künstlerischen Darstellung muß die Kritik heraustreten, die dem schöpferischen Geiste nothwendig beiwohnen muß".
Und dasselbe drückt er in seinem Wahlspruche ebenso kurz als bezeichnend „Unser Geist ist nicht frei, wenn er nicht Herr
aus mit den Worten:
seiner Vorstellungen ist". Wenn bei Schinkel die Poesie des Künstlers und die Strenge des Mathematikers sich vereinigen zur Kraft der schöpferischen Originalität,
so mag eö wohl gerechtfertigt erscheinen, daß wir bei einer Erörterung über die Stellung der Mathematik zur Kunstwissenschaft ge
rade den Namen Schinkel'S als Ausgangs- und Anknüpfungspunkt wählen.
Die Stellung der Mathematik zur Kunstwissenschaft! — Kann man denn heute
überhaupt noch von Beziehungen zwischen
beiden
reden?
Scheint es nicht vielmehr, als ob gerade in gegenwärtiger Zeit, wo der
Gegensatz zwischen humanistischer und realistischer Bildung sich zur höchsten
Schroffheit gesteigert hat, eine Kluft zwischen jenen zwei Wissenschaften befestigt wäre, die eine gegenseitige Annäherung unmöglich erscheinen läßt?
In der That!
Die Zeiten der Lionardo da Vinci,
Angelo, Albrecht Dürer, sind längst vorüber.
Michel
Verächtlich schaut der
Vertreter der exakten Forschung auf die speculattven Bemühungen der Kunstphilosophen herab,
und abwehrend ruft die Kunst der Mathematik
das Veto zu: Rühr mich nicht an mit Deiner kalten Hand,
Von Deinem Hauche fürcht' ich zu erstarren I--------*) Diese und die folgenden Citate sind dem Werke entnommen: „Aus Schinkel'S Nachlaß". Berlin, 1862.
von Wolzogen,
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
129
Das war freilich alles ganz anders in jener sonnigen Zeit, wo die
poetisch-ästhetische Weltauffassung eines Plato dem JdeenleLen der jugend frohen Menschheit ihre erhabene Weihe gab. Dort in den heiteren Gefilden des alten Hellas,
dort in
der
LiebeSheimath unsres Schinkel, war jene großartig-künstlerische Idee der
Pythagoräischen Weltanschauung zum Leben gereift, welche die Welt als ein nach
einheitlichem Plane harmonisch gegliedertes Ganzes
auf
faßte, in dem die durch einfache Zahlenverhältnisse repräsentirte Ord
nung
als
beherrschte.
allwaltendes Bildungsprincip Ausgehend
daS
Ganze
wie
die Theile
von der Wahrnehmung, daß die musikalische
Harmonie in einfachen Verhältnissen der SchwingungSzahlen
dercon-
sonirenden Töne begründet und daß also daS reine freie Entzücken der
Seele am Wohllaut der Töne durch einfache Zahlenverhältnisse bedingt ist, sah Pythagoras allgemein in der Verwirklichung einfacher Zahlen gesetze die Ursache und daS Wesen des befriedigten Wohlgefallens der
Seele am Schönen und Wahren.
Und insofern die befriedigte Seligkeit
der Welt der Endzweck alles Seienden ist, so mußte auch die Welt als
Ganzes einen harmonisch gegliederten Organismus darstellen, in dem das
Princip der nämlichen arithmetischen Verhältnisse das Grundgesetz des harmonischen Gefüges 'repräsentirte.
Gleich den Saiten an Apollon'S Lyra
waren die Himmelskörper angeordnet und gleich dem reinen Vollklang der Aeolsharfe erzeugten sie im Umschwung
um den
centralen Quell des
Lebens — „harmonisch all das All durchklingend" — die Harmonie der
Sphären. Und mit dieser großartigen, poetisch-mathematischen Naturanschauung verknüpfte nun Plato die sittlich-ernsten Grundsätze der Sokratisch-en
Philosophie. Er sieht in der Welt ein Abbild deS göttlichen idealen Ur bildes, ein Abbild, das den ewigen Gedanken der Gottheit zur Erscheinung
bringt.
Daher die göttliche Vernunft die ganze Natur durchdringt und
sie zu einem harmonisch in sich zusammensttmmenden Kunstwerk stempelt,
dem
geometrische
Symmetrie
und arithmetische Harmonie die scheinbare Willkür ordnet.
In dieses
zu
einem
lebendigen
Organismus,
in
Kunstwerk göttlicher Vernunft ist der Mensch
gesetzt, seine unsterbliche
Seele ist aus der Idealwelt in die sinnliche Welt herübergekommen. kann und soll sich wieder zur Idealwelt aufschwingen.
Sie
Die Schönheit
ist es, welche ihre Sehnsucht nach dem Göttlichen weckt und befriedigt,
und — um von unserem Schinkel die Worte zu entlehnen—: „darum bilde der Mensch sich in allem schön, jede Handlung sei ihm eine Kunst
aufgabe! . Nur das Schöne ist der höchsten Liebe fähig, und darum handle
man schön, um sich selbst lieben und dadurch selig werden zu können!" —
130
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kuustwisseuschaft.
Wahrlich! goldene Worte, die, wenn sie nicht von Schinkel wären, von
Plato sein müßten!--------Solange die tief-ernste Poesie der platonischen Philosophie die Geister beherrschte, gingen Mathematik und Kunst in schwesterlichem Vereine Hand
in Hand.
Und mächtig ist der Einfluß, den diese aus dem universellen
hellenischen Geiste herausgewachsene ästhetische Wektbetrachtung, — die in gleicher Weise als ästhetische Theorie der Form und Zahl wie als mathe
matische Theorie des Schönen bezeichnet werden könnte, — auf die Ent wickelung ebensowohl der Mathematik als der Kunst ausgeübt hat.
Wer
wollte so vermessen sein, es einen Zufall zu nennen, daß das Heimath-
land eines Pythagoras und Euklid auch dasjenige eines Phidias und
Praxiteles war?
Noch weit über die Grenzen der politischen Lebensdauer des Hellenen
volkes hinaus hat der Platonismus seine Kraft bewährt.
Platonischer
Geist war eS, welcher das herrliche Zeitalter der Renaissance durch
wehte und die erstorbene Kunst zu neuem Leben entfachte. auch
heute die spekulative Idealwelt Plato's
Und wenn
die Bedeutung objektiver
Möglichkeit für uns verloren hat, wenn sie dem Regenbogen zu vergleichen
ist, der vor der greifenden Hand des entzückten Beschauers entflieht:
so
werden wir eS uns doch nie nehmen lassen, mit Plato die Unvollkommen
heiten der sinnlichen Welt in Gedanken zu eliminiren und uns zu Bildnern
einer schöneren Welt zu träume», in deren innerer Anschauung die von
den Mühen des Lebens ermattete Seele sich wieder neue Kraft mit) neue Freudigkeit zum Kampfe schöpft.
Die lebenskräftigen Elemente der platonischen Weltansicht sind in unsere moderne Naturanschauung übergegangen.
Ja, so sehr hat die
ideale Weltausfassung Plato's ihre schöpferische Kraft bewährt, daß eben sie es ist, die im 16. Jahrhundert dem Phönix gleich die neue Welter kenntniß aus sich selbst heraus erzeugt hat. Johannes Keppler ist der Mann, an den sich jener ewig denk
würdige Zeugungsproceß knüpft, — Johannes Keppler, auf den sich unser Auge mit besonderes Interesse richten muß, infoferne er uns die an Schinkel gerühmte mathematisch-künstlerische Geistesrichtung gewissermaßen
in symmetrisch umgekehrtem Spiegelbilde widerstrahlt. Schinkel den mathematisch denkenden Künstler, so
Sehen wir in
zeigt
sich uns in
Keppler der künstlerisch fühlende Mathematiker. Mit dem glühendsten Feuer jugendlicher Begeisterung hatte Keppler
den pythagoräisch-platonischen Gedanken der Weltharmonik erfaßt.
ans Ende seiner ruhmerfüllten Laufbahn blieb
er
dem
Glauben an diese großartig-künstlerische Idee treu,
Bis
enthusiastischen
und 'fein
ganzes
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
131
Streben ging darauf, dieselbe mit der Copernicanischen Weltansicht und mit den experimentellen Erfahrungsthatsachen in Einklang zu bringen.
Er war kein enthusiastischer Schwärmer, der die empirischen That sachen mit den schönen Träumen seiner dichterischen Phantasie hätte ver
schwimmen lassen.
ihm der poetische
ES vereinigte sich vielmehr in
Schwuitg einer kühnen Einbildungskraft mit der strengen Gewissenhaftig
keit eines ernsten Ringens nach Wahrheit.
Sein Wahlspruch lautete:
„Amicus Plato, amicus Aristoteles, sed magis amiea veritas.“
Und
so wurde er eben an der Hand seiner philosophischen Speculationen zur reinen Quelle der Wahrheit geführt; so wurde er, der begeistertste An
hänger der alten spekulativen Methode zugleich der Begründer der modernen
experimentellen
Forschungsweise.
Wenn
er
an
seinen
Idealen mit der ganzen Innigkeit des deutschen Herzens bis 311 Ende fest
hält rind nun in seinem letzten Werke, der „Harmoniee mundi“ dem
kühnen Bau, dessen Grundstein einst Pythagoras gelegt hatte, den Schluß stein einfügt, indem er sein bekanntes „drittes Gesetz" triumphirend als den Träger des durch zwei Jahrtausende hindurch gesuchten harmonischen
Weltgesetzes verkündet: so legt er eben mit diesem Schlußstein zugleich den Grundstein zu dem neuen Gebäude der modernen Weltbetrachtung.
Denn
jenes dritte Kepplcr'sche Gesetz schließt das Princip des Newton'schen An ziehungsgesetzes in sich, auf welches sofort Newton den stolzen Bau seiner
himmlischen Mechanik gründete*).
In der letzteren feierte
die
exakte
Forschung ihren höchsten Triumph, und fortan ist diese es, welche die
moderne Wissenschaft voll und ausschließlich beherrscht. Es
ist
für unsere weiteren Betrachtungen von größter Wichtigkeit,
daß wir uns das Wesen dieser modernen experimentellen Forschungsmethode
zu recht klarem Verständniß bringen. Der Laie ist nicht selten geneigt,
der Mathematiker
zu glauben,
„beweise" die Naturgesetze durch seine untrügliche Rechnung. Gegen diese Ansicht ist
vor allem zu bemerken:
kann nicht aus Nichts Etwas machen;
Die Mathematik
sie kann nur von gegebenen
Voraussetzungen auSgehen, auf denen sie dann vermittelst fortgesetzter Um
formungen ihre logischen Schlußfolgerungen aufbaut.
DaS Resultat dieser
Schlußfolgerungen enthält aber genau dasselbe Quantum von. positiven
Thatsachen, das schon in der Voraussetzung enthalten war; eS giebt diese Thatsachen nur in anderer Form, in anderem Ausdruck wieder.
Nicht
ein Minimum mehr, als zu Anfang in die Rechnung hineingetragen
*) Bergl. hierüber Förster, Joh. Keppler und die Harmonie der Sphären. Förster'S „Sammlung wissenschaftlicher Vorträge". Berlin. 1876.
In
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
132
wurde, kann wieder von ihr zurückgefordert werden; das Zurückgegebene ist nur qualitativ, nicht quantitativ von dem Hineingetragenen verschieden.
Wenn sich daher die Naturforschung der Mathematik bedient, so kann sie von derselben nimmermehr verlangen, daß sie ihr Gesetze a priori beweise, sondern nur, daß sie die experimentellen ErfahrungSthatsachen
qualitativ umforme.
Und nun besteht das Wesen der modernen For
schung darin, daß für eine größere Summe von Erscheinungsthatsachen eine allen gemeinschaftliche Form des mathematischen Ausdruckes gesucht
Mit andern Worten:
wird.
man
sucht
eine größere Mannigfaltigkeit
von empirischen Thatsachen auf einzelne Principien zurückzuführen,
als
deren mathematische Umformungen oder logische Folgerungen die That sachen sich mit strenger Nothwendigkeit erweisen.
gleichgiltig,
Dabei ist es vollkommen
ob jene Prinzipien dem Vorstellungsvermögen
weniger plausibel erscheinen,
mehr
oder
„sufficit hoc uuum, si calculum obser-
vationibus congruentem exhibeant“ (Copernicus). Je größer aber die Anzahl der Erschcinungsthatsachcn ist, welche sich auf das nämliche Princip zurückführen lassen, um so mehr werden wir die Berechtigung haben, von dem Princip aus umgekehrt den Schluß auf das muthmaßliche Eintreten von neuen Erscheinungen
zu machen;
mit
andern Worten: um so mehr wird das Princip das Recht auf den Namen
eines „allgemeinen Naturgesetzes" beanspruchen können.
Die schönste Illustration für das Gesagte bietet eben die Astronomie, die Königin der Wissenschaften.
Die That Keppler'S bestand darin, daß
er die unendliche Mannigfaltigkeit der astronomischen Beobachtungsthat sachen zurückführte auf drei Principien, nämlich auf seine berühmten drei Gesetze.
Die That Newton'S bestand sodann darin,
daß er die drei
Keppler'schen Gesetze noch weiter zurückführte auf die zwei einfachen Prin
cipien deS Galileischen „Trägheitsgesetzes" und des Newton'fchen „An
ziehungsgesetzes".
Wenn dann nachträglich von diesen zwei Principien
aus umgekehrt auf das Eintreten neuer Erscheinungen geschlossen wurde,
ja wenn sich die Kühnheit solcher Schlußfolgerung bis zur theoretischen Construction von neuen, bisher unbekannten Weltkörpern steigerte (NeptunLeverrier): so hat bis jetzt das wirkliche Eintreten einer jeden solchen vor
hergesagten Erscheinung
die Allgemeingiltigkeit
jener Principien aufs
glänzendste bestätigt. Als unrichtig werden sich dieselben nie erweisen.
Denn sie reprä-
sentiren ja nur eine Darstellung der positiven BeobachtungSthatsachen in
abgeleiteter, aber mit den Thatsachen äquivalenter Form.
Es kann sich
nur der Kreis der Erscheinungen, innerhalb dessen sie Giltigkeit besitzen,
enger oder weiter schließen.
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
133
Daß die Galilei - Newton's chen Prinzipien nicht die allgemeinsten
Naturgesetze darstellen, sondern daß sie zusammen mit andern in den übrigen naturwissenschaftlichen Gebieten giltigen Gesetzen sich
auf noch
allgemeinere Grundprincipien zurückführen lassen werden, ist nicht blos
möglich, sondern es weisen bei dem heutigen Stande der Wissenschaft so gar alle Anzeichen darauf hin.
Kehren wir nunmehr wieder zu unsrem eigentlichen Thema zurück, so scheint es freilich beim ersten Anblick, als ob zwischen dem strengen,
nüchternen Ernst dieser modernen Forschungsmethode einerseits und dem poetischen Schwung der Phantasie, wie er sich in den Werken der Kunst
ausspricht,
lassen.
zwischen
andererseits — kaum
eine Gemeinschaft sich werde herstellen
Es scheint, als ob in der modernen Wissenschaft die Beziehungen
Mathematik
und
Kunst
abgebrochen
„Descriptive ^Geometrie", welcher
seien
und
als
ob
die
die Pflege dieser Beziehungen
vorzugsweise obliegt*), kein Bindeglied mehr, sondern nur ein Streit
objekt zwischen beiden bilde.
In der That liegen die Verhältnisse bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge nicht viel anders.
Die Deskriptive Geometrie hat sich mehr
und mehr auf die reine Mathematik zurückgezogen, die ihr gerade in
jüngster Zeit ungleich günstigere Chancen bot als die Kunst, auf deren
unsicherem Boden es ihr nicht gelingen wollte festen Fuß zu fassen.
Und
fragen wir, welche mathematischen Elemente in der Kunstwissenschaft heute noch unbestrittene Giltigkeit haben, so schrumpft deren Zahl auf ein
Minimum zusammen.
Selbst die scheinbar so festen Stützen der geome
trischen Perspective wurden jüngst für morsch erklärt.
Längst schon
galt es unter den Künstlern als ausgemacht, daß die Centralperspective auf menschliche Figuren nicht in gleicher Weise anwendbar sei
als auf
architektonische Objekte; wie denn z. B. Raphael die Figurengruppen, mit
denen er seine centralperspektivischen Jnnenräume belebte, stets in parallelperspectivischer, gerader Ansicht bildete.
Hat schon durch diesen inneren
Widerspruch die Autorität der Perspective einen bedenklichen Stoß erlitten, so wurde gar in allerjüngster Zeit die Behauptung offen ausgesprochen, daß
dem seitherigen System der geometrischen Perspective eine aprioristische Berechtigung nicht zuerkannt werden könne**). *) Dabei ist der Begriff „deskriptive Geometrie" im weitesten Sinn des Wortes zu verstehen. Ihre Aufgabe, die Vermittlerin zwischen Mathematik und bildender Kunst zu sein, mag geradezu als Definition des Begriffes dienen. **) Bergt. Häuck, die subjective Perspective und die horizontalen Lurvaturen des dori schen Stils. Stuttgart, Verlag v. C. Wittwer. 1879. — Die Frage, inwieweit jene Behauptung gerechtfertigt ist, mag immerhin verschiedene Beurtheilung finden. Hier genügt die Thatsache, daß ein solcher Angriff überhaupt gewagt werden konnte.
134
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
Was hält da noch fest? — Wie wird sich die Mathematik gegen den
Borwurf vertheidigen, den ihr die zürnende Kunst ins Antlitz schleudert:
„Belogen und betrogen hat mich Dein falscher Mund!"? Die Mathematik wird keinen Versuch machen, sich zu vertheidigen. Sie wird vielmehr glücklich sein,
daß
auf die lange schwüle Zeit des
Mißverständnisses endlich ein reinigender Gewittersturm losbricht, der das Dürre und Todte herabschlägt, so daß, wenn nun der Sonnenschein der
Versöhnung folgt, die frischen und gesunden Keime Raum haben, sich zu
entfalten. Worin aber, fragen wir, beruhte denn das Mißverständniß, welches uns einen sicheren Boden für die Beziehungen zwischen Mathematik und Kunst bisher nicht hatte finden lassen? Unsere vorangegangenen Betrachtungen über das Wesen der exakten Forschungsmethode geben uns darauf die Antwort.
ES liegt in der Natur der Sache, daß die mathomatische Kunstbc-
trachtung nur zu leicht geneigt ist, mit vorgefaßten Meinungen auf speku
lativem Wege an die Lösung der Probleme heranzutreten.
Knnstgesetze
lassen sich aber ebensowenig a priori „ausrechnen" wie Naturgesetze. Auch für die kunstwissenschaftliche Forschung
wie überhaupt für
jede
wissenschaftliche Forschung gilt der allgemeine Grundsatz, daß man nimmer mehr
mit der dogmatischen Feststellung der Begriffe und Axiome be
ginnen darf, daß vielmehr die Grnndprincipien sich erst als das Re sultat der ganzen Untersuchung ergeben können.
Auch in der Kunst
wissenschaft stehen die allgemeinen Gesetze nicht a priori fest, sie können
vielmehr nur an ihren Aeußerungen in den Kunst-Erscheinungen erkannt werden. Als die pythagoräisch-platonische Weltanschauung der Keppler-Newton'schen das Feld räumen mußte, da wurde der mathematischen Kunstbetrachtung
der alte Boden unter den Füßen weggezogen, und auf dem neuen Boden fand sie keinen Punkt, auf dem sie wieder festen Fuß hätte fassen können.
Empirische Thatsachen, deren Vorhandensein für die exakte Forschungs methode die unerläßliche Vorbedingung ist, waren auf dem Gebiete der
Kunst nicht gegeben oder wenigstens nicht gekannt.
Erst jetzt,
nach
dem der unermüdliche Fleiß der Kunsthistoriker ein reiches Material von Beobachtungöthatsachen gesammelt, geordnet,
gesichtet und zur weiteren
Verarbeitung vorbereitet hat, erst jetzt ist eS möglich, daß auch in der
Kunstwissenschaft die Grundsätze der modernen experimentellen Forschung praktische Anwendung finden können, um die Prin
der
cipien,
die
Genius
bewußt
divinatorische
Instinkt
oder unbewußt befolgte,
deS
künstlerischen
aus seinen wohl-
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
135
geprüften Werken zu erkennen und in Gesetze zu formuliren. Erst jetzt ist wieder ein Boden für nähere Beziehungen zwischen Mathe
matik und Kunst gewonnen. Kaum dürfte eS nothwendig sein, den Satz noch ausdrücklich zu be
gründen, daß die Gesammtheit der Schöpfungen des künstlerischen Genius eine Summe von Thatsachen vorstellt, an die wir berechtigt sind, die nämlichen Werkzeuge der Forschung
anzulegen
wie an die Werke der
Schöpfung, die aus der Hand der Gottheit komplt.
Spiegelt doch das Werk des im Liebesaufschwung der Begeisterung
der Stimme göttlicher Inspiration folgenden Künstlers dasselbe göttliche Ideal wieder, als dessen Abglanz und Offenbarung wir die Natur mit
ihren Schönhcitswundern
erkennen.
Oder — um
ein Wort unsres
Schinkel zu citiren — hat doch die Kunst „den Beruf, die innere, sicht bar gewordene Vernunft der Natur weiter zu bilden".
Auch der Begründer der modernen Weltanschauung:
Newton be-
wllndert den sinnvoll schönen Zusammenhang der N'atuvordnung als die Quelle des reinsten ästhetischen Genusses.
Und wenn nun einerseits die
natürliche Schöpfung uns als ein ideales Kunstwerk erscheint, und andrer
seits die Werke der Kunst die in der Natur verkörperte göttliche Vernunft wiederspiegeln: so werden die Bildungsgesetze, in welchen jene Vernunft zum Ausdruck gelangt, im einen wie im andern Fall auf die nämliche
Weise sich dem forschenden Mcnschengeiste erschließen müssen. Um das Gesagte sofort an einem Beispiele zu erläutern, so löst sich von diesem neuen Standpunkte aus die vorhin berührte Frage der Be
rechtigung der geometrischen Perspective auf sehr einfache Weise. Die Mathematik lügen.
als solche hat nicht „gelogen", sie kann nicht
Die Täuschung ist vielmehr auf folgenden Punkt zurückzuführen:
Die Mathematik construirt eine ganze Reihe von Systemen der bild lichen Darstellung.
So viele kartographische Systeme existiren, nach denen
die Erdkugel abgebildet werden lassen sich aufstellen.
kann, so
viele perspectivische Systeme
Von rein mathematischem Gesichtspunkte aus
wohnt allen diesen verschiedenen Systemen genau die nämliche Wahrheit
und die nämliche Berechtigung inne.
Wenn aber nun die Speculation aus all diesen Systemen ein ein ziges herausgegriffen und dessen monopolistisches Anrecht auf die An
wendung in der Ktinst a priori als dogmatisches Axiom aufgestellt hat, so ist dies von wissenschaftlichem Standpunkte aus als ein Willkür-Ver fahren zu bezeichnen, welchem an und für sich jede Berechtigung abzu sprechen ist, und welches,
wenn es von Seiten der Mathematik aus
erfolgen sollte, als eine unerlaubte Ueberschreitung ihrer Befugnisse ge-
136
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
rügt werden müßte.
Ganz ebenso in der Skulptur.
Es ist als eine
Ueberschreitung ihrer Befugnisse zu bezeichnen, wenn die Mathematik —
wie es in der That ab und zu geschieht — sich unterfängt, die soge nannte geometrische Reliefperspektive als die einzig mögliche Form
der reliefistischen Darstellung zu Privilegiren und sich darob zu echauffiren, daß gerade der bedeutendste Reliefistiker, Thorwaldsen sich am wenigsten an dieselbe kehrte.
Die Frage nach demjenigen System oder denjenigen
Systemen der Darstellung, welche in der Kunst zur Anwendung gebracht
werden dürfen, kann vielmehr nur dadurch erledigt werden, daß die Werke
der ersten Meister der Malerei und Skulptur auf ihr Zusammentreffen mit den verschiedenen möglichen mathematischen Systemen geprüft werden und daß dann aus dieser Vergleichung das Urtheil über die Ver
wendbarkeit derselben mit Bezugnahme auf die äußeren Verhält nisse und Besonderheiten der einzelnen Fälle gewonnen wird.
Man könnte zwar cinwerfen, es müsse bei der Beantwortung solcher Fragen doch vor allem die Physiologie der Sinnesempfindungcn ein Wort mitzusprechen haben.
stätigen.
Dies ist allerdings
vollauf zu
be
Es wird jede Untersuchung, die sich mit den Methoden bildneri
scher Darstellung befaßt, von physiologischen Erwägungen ihren Ausgangs punkt nehmen müssen.
Allein abgesehen davon, daß wir bei bloßer
Rücksichtnahme auf den äußeren Sinneseindruck Gefahr laufen, in das bedenkliche Fahrwasser eines seichten Realismus zu geratheu, liefert die
Unzahl von verunglückten optisch-ästhetischen Theorieen, welche auf diesem
Wege schon zu Tage gefördert worden sind, den schlagenden Beweis da für, daß die Physiologie für sich allein nicht im Stande ist, uns über das Geheimniß der ästhetischen Wirkung einer bildnerischen Darstellung Auf schluß zu ertheilen.
ES rührt dies eben daher, daß innerhalb btr reinen physiologischen
Thatsachen noch ein unendlich weiter Spielraum für daö künstlerische Ge schmacksurtheil offen bleibt.
Es darf sich eine Darstellungsmethode aller
dings nicht im Widersprüche mit allgemeinen physiologischen Wahrheiten befinden; allein nicht' jede Methode, die dieser Grundbedingung genügt,
kann damit schon den Anspruch auf ästhetische Wirkung und künstlerische Annehmbarkeit erheben.
ES kommt eben in der Kunst eine höhere
Physiologie in Betracht, in welcher neben den anatomisch-physiologischen
Gesetzen auch »loch
psychologische Momente als
bestimmend für die
ästhetische Wirkung mit in Rechnung gezogen werden.
Und gerade auf
dem Gebiete dieser höheren Physiologie ist nun daS kritische Urtheil des gebildeten Künstlers, wie sich dasselbe in klarer und bestimmter Weise in
seinen Werken ausspricht, ein Factor von ausschlaggebendem Gewichte.
137
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
Es können in diesem Sinne die ausgewählten Meisterwerke der Kunst geradezu als eine Summe der vorzüglichsten physiologischen BeobachtungSthatsachen angesehen werden.
Helmholtz sagt in dieser Beziehung:
„Wir müssen die Künstler als Individuen betrachten, deren Beobach tung sinnlicher Eindrücke vorzugsweise fein und genau, deren Gedächtniß
für die Bewahrung der Erinnerungsbilder solcher Eindrücke vorzugsweise
treu ist.
Was die in dieser Hinsicht bestbegabten Männer in langer
Ueberlieferung und durch zahllose, nach allen Richtungen hin gewendete Versuche
an Mitteln und Methoden
der Darstelluüg gefunden
haben,
bildet eine Reihe wichtiger und bedeutsamer Thatsachen, welche der Phy
siolog, der hier vom Künstler zu lernen hat, nicht vernachlässigen darf." So werden wir denn gerade von physiologischem Gesichtspunkte aus
auf eine neue Bestätigung der Richtigkeit unseres Princips geleitet.
Alles
weist uns auf den einzig sicheren Weg der exacten experimentellen For schungsmethode hin.
Und wie in der Malerei und Skulptur —, so ist es auch in der Baukunst.
Sehen wir von den unerbittlichen absoluten Gesetzen der
Statik und Festigkeitslehre ab, welche keinerlei Beeinflussung durch den künstlerischen Geschmack gestatten, sondern umgekehrt von sich aus eine
Einwirkung auf das ästhetische Bewußtsein auSüben:
so handelt es sich
in der Baukunst vor allem nm die Gesetze, nach welchen sich „Begriff, Zweck und statische Funktion" der einzelnen Strukturtheile eines Bauwerkes
in die Sprache der geometrischen Formen übertragen, und ferner um die
Gesetze der Eurhythmie und Symmetrie*), das heißt um die Principien, nach welchen jene geometrischen Form-Elemente zu einer rhythmisch geglie
derten und in schönem Gleichmaß geordneten Gesammtheit zu combiniren
sind, um in ihrer lebendigen Wechselwirkung einen einheitlichen, harmonisch zusammenstimmenden Organismus vorzustellcn, in welchem — alles sich
zum Ganzen webt, eins in dem anderen wirkt und lebt.
Und nun möchte ich fragen:
Ist es nicht gerade — Schinkel, der
uns für die Aufgabe, diese Gesetze festzustellen, den Weg der empirischen
Forschung gewiesen hat?
Sagt er doch in der Vorrede zu dem von ihm
projektirten architektonischen Lehrbuche klar und deutlich:
„Nachdem im Verlauf der Zeiten für das Wesen der Architektur — durch das Bestreben der würdigsten Männer auf dem Wege geschichtlicher Forschung, auf dem Wege der genauesten Messung architektonischer Mo-
*) „Symmetrie" ist hier im antiken Sinne des Worte« zu verstehen. (Vergleiche Vitruv I. 2: „Symmetria est ex ipsius operis membris conveniens Con sensus, ex partibusque separatis ad universae figurae speciem ratae partis responsus“.)
138
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
numente aller Zeiten, endlich durch vielfältige Bearbeitung der einzelnen
Constructionen in ganzen Werken der Baukunst in empirischer Weise und durch veranstaltete Sammlungen von Darstellungen solcher Gegenstände — der ganze Umfang der Baukunst, wie sie sich bis auf unsern Tag herab
gestaltet hat, zur übersichtlichen Anschauung vor uns ausgebreitet und dar gelegt worden ist: dürfte es vielleicht kein ganz vergebliches Bemühen
sein, den Versuch zu machen, in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen dieser vielfältig und verschiedenartig behandelten Kunst, besonders was
den Stil betrifft, die Gesetze festzustellen, nach welchen die Formen und die Verhältnisse, die sich im Verlauf der Entwickelung dieser Kunst ge
stalteten, und außerdem jedes nothwendig werdende Neue in dieser Be ziehung bei den vorkommenden Aufgaben der Zeit eine vernunftgemäße Anwendung finden können." Ist in diesen Worten nicht eben die emptrisch-exacte Methode klar
und deutlich als das Grundprincip Schinkel'scher Kunstforschung ausge sprochen? — .Kaum wird cs nothwendig sein, noch ausdrücklich darauf hinzuweiscn,
daß eS das nämliche Princip ist, daS in den Schwesterkünsten der Poesie
und Musik längst unbestrittene Anerkennung gefunden hat. Wo hat eS je ein Theoretiker wagen dürfen, ein aprioristisch aufge-
stelltes Gesetz der Metrik oder deS Generalbasses dem selbstschaffenden
Genius aufzuoktrohiren? — Metrik und Generalbaß sind vielmehr nichts, als der Inbegriff der Gesetze, die auS den ursprünglichen Schöpfungen
des Genius nachträglich abstrahirt und formulirt worden sind.
Als
Beethoven einmal von seinem Verleger auf einen angeblichen Schreib fehler in seinem Manuskripte, der einem Verstoße gegen den Generalbaß gleichkommen sollte, aufmerksam gemacht wurde, erwiderte er die stolzen
Worte:
„Meine Noten bestimmen den Generalbaß!"
Die Nothwendigkeit einer empirischen Kunstbctrachtung ist denn auch
in der That den Kunstgelehrten längst zum Bewußtsein gekommen. sind „Aesthetiker" und
„Kunsthistoriker"
fast identische Begriffe.
rastlosem Eifer werden die Thatsachen gesammelt, geprüft, shstematisirt, analogisirt.
Heute Mit
geordnet,
Man hat erkannt, daß in aller Mannigfaltig
keit ded Erscheinungen doch gemeinsame Bildungsgesetze walten, daß
auch in der Kunst Freiheit und Nothwendigkeit vereinigt sind.
Man hat
begonnen, die in den gemeinsamen Gestaltungsmomenten zum Ausdruck gelangende Nothwendigkeit von der durch die künstlerische Individualität bedingten Freiheit zu trennen und die Wechselwirkung beider zu beobachten.
Trotz ihrer Jugend
hat diese „praktische Aesthetik"
Triumphe der Erkenntniß aufzuweisen.
schon die schönsten
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
Mehr und mehr macht sich ihr aber das Bedürfniß
139
fühlbar, die
übrigen Gebiete des Wissens mit ins Interesse zu ziehen, und hier ist eS
denn vor allem die Mathematik, deren Mithilfe sie schlechterdings nicht entbehren kann.
Auö dem Zusammenwirken beider Wissenschaften, aus der innigen Verschmelzung der ihnen charakteristischen Operationsmethoden läßt sich
tausendfältige Frucht der Erkenntniß erhoffen.
Und sicher wird auf diesem
Wege vieles, waS heute noch außerhalb unseres Gesichtskreises liegt, früher
oder später in den Bereich unseres Wissen« fallen. —
Zu einem ersprießlichen Zusammenwirken ist aber freilich die Er füllung einer Vorbedingung unerläßlich: Wir müssen uns vor allem gegenseitig besser kennen und
verstehen lernen! Wohl kann und soll man in unserer Zeit der Theilung der Arbeit
von dem Vertreter einer Wissenschaft nicht verlangen, daß er gleichzeitig noch auf einem zweiten Gebiete thätig sei.
Die wirkliche Vertiefung in
ein engeres Gebiet der Forschung erfordert schon den ganzen Mann.
Und nur zu häufig verbirgt sich hinter der scheinbaren Vielseitigkeit der schlimmste Feind der Wissenschaft: wisserei.
die
dilettantisch-oberflächliche Viel
Allein doch bleibt der Ausspruch Schiller's ewig wahr, daß
die einseitige gymnastische Uebung einzelner Körpertheile zwar athletische
Virtuositäten züchtet, daß aber nur im freien gleichförmigen Spiel der Glieder sich die Schönheit ausbildet.
In gleicher Weise muß auch der
Vertreter einer Specialwissenschaft sich stets bewußt bleiben, daß er nur
ein Glied des Ganzen ist und daß das Ganze nur in dem harmonischen Zusammenwirken aller seiner Glieder gedeihen kann.
Sobald er aber das
im Auge behält, wird er den übrigen Gliedern wenigstens sein Interesse nicht versagen dürfen.
Jede Specialwissenschaft hat das Recht, von den Vertretern einer andern Specialwissenschaft — zwar nicht ein Hinübergreifen in ihr Ge
biet, wohl aber ein Interesse und vor allem die gebührende Achtung vor
ihrem Ziel und Streben zu verlangen. In dieser Beziehung kann ich nun leider die Thatsache nicht ver
schweigen, daß zwischen den Vertretern der Mathematik und der Kunst vielfach nicht diejenige Fühlung und das gegenseitige Interesse und Wohl
wollen vorhanden ist, wie es zu wünschen wäre.
Sie stehen sich nicht
blos kühl und fremd, sondern meist antipathisch, ja sogar mit einem ge-'
wissen Mißtrauen gegenüber. Der Jünger der Kunst hüllt sich so gerne in seinen aristokratischen
140
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
Künstlermantel und sieht mit souveränem Mitleid auf den Mathematiker
herab als auf den kalten Pedanten, den trocknen Zahlenmenschen, „das Thier auf dürrer Heide, von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt, und ringS umher liegt schöne grüne Weide".
Der Mathematiker andererseits, dem die Strenge und Exaktheit seiner Wissenschaft in Fleisch und Blut übergegangen ist, drapirt sich so gerne mit
dem Talare schulmeisterlicher Unfehlbarkeit itnb sieht auf den Künstler als einen in der Verstandesbildung tief unter ihm stehenden Menschen herab;
er moquirt sich über die speculativen Combinationen des Kunstgelehrten, bei denen der poetische Instinkt so häufig den Leitstern bildet und bilden
muß, und macht ihnen den Vorwurf schönrednerischer
chimärischer Schwärmerei.
schränktheit geltend,
Hohlheit
oder
Nur zu oft macht sich jene pedantische Be
welche „die Regeln des eigenen Geschäftes jedem
Geschäfte ohne Unterschied anpassen" will.
Es ist so rasch der eine mit
dem Urtheil über den andern fertig, und nur zu leicht wird vergessen,
daß jeder — wenn auch in verschiedener Weise — doch der nämlichen
reinen Schönheit der Erkenntniß dient. Beim Lichte betrachtet ist die geistige Thätigkeit des einen keineswegs
so sehr verschieden von derjenigen des andern. Der Mathematiker einerseits kann die Hilfe der Combinationsgabe einer poetischen Phantasie eben so wenig entbehren, als andererseits der
Kunstgelehrte für die Resultate seiner speculativen Conjecturen den An
spruch auf Beweiskraft erheben kann, wenn dieselben nicht die nachträg liche mathematische Probe auf ihre Uebereinstimmung mit den Thatsachen
bestehen.
Die
versuchsweise
Speculation
einer
kühnen,
wahrheitahnenden
Phantasie bildet für den Mathematiker die Sondirruthe des Eklaireurs,
der die Fürthen des Stromes entdeckt, die dann von der exacten For schung mit dem Senkblei des Experimentes untersucht werden, bis die richtige Stelle gefunden ist, über welche schließlich
Brücke der Erkenntniß schlägt.
die Mathematik die
Nie dürfen wir vergessen, daß Keppler
durch keine andere Geistesthätigkeit als durch feine künstlerifch-divinatorifchen Spekulationen
zu der großen Entdeckung
feines dritten Gesetzes
gelangen konnte. Auf der andern Seite aber wollen wir auch stets im Auge behalten,
daß es unserem Schinkel niemals möglich gewesen wäre, seine große That zu vollbringen und die Kunstsprache längst entschwundener Zeiten in
das Denken und Fühlen der modernen Zeit zu übersetzen, wenn er nicht zuvor die Form-Elemente derselben mit der Schärfe des mathematischen
Secirmessers zergliedert hätte.
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
141
Ihr Künstler und Kunstgelehrten! betrachtet Ihr unsern Keppler als einen der Eurigen, und wir Mathematiker wollen Euren Schinkel als
einen der
unsrigen betrachten, — dann werden
wir uns
ver
stehen! — Eben diese zwei Seiten der Beziehung zwischen Mathematik und
Kunst, die wir in jenen zwei Geistesheroen in so charakteristischer Weise
verkörpert sehen, — wie schön und sinnig bringt sie Schinkel selbst zum Ausdruck, wenn er in seinem herrlichen Farbengedichte in der Vorhalle seines Museums den Genius der Mathematik,
der das Senkblei der
messenden Forschung in die Tiefe senkt, dem trauten Vereine der Musen
gesellt, von denen die eine seinem Werke mit sinnendem Blicke folgt, die andere die segnende Hand über ihn breitet.
Es ist jedoch noch ein weiteres künstlerisches Element in dem Wesen
der Mathematik hervorzuheben, das vielleicht in noch höherem Maße ge eignet sein dürfte,
einen Vereinigungspunkt zwischen ihr und der Kunst
zu bilden. Wie gerne möchte ich Euch, Ihr Künstler,
einen Einblick in das
Innerste unsrer mathematischen Werkstätte ermöglichen!
Ihr würdet ge
wahr werden, daß eS darinnen keineswegs so kalt und öde ist, als Ihr vielleicht glaubt.
verspüren,
deren
Ihr würdet darinnen das Geisteswehen einer Poesie
Reinheit
und
Erhabenheit
der Eurigen
geistesver
wandt ist.
In der That!
Wenn es wahr ist, daß das Wesen des reinen ästhe
tischen Wohlgefallens darin begründet ist, daß innere Ideale des Geistes
ihre verklärenden und belebenden Strahlen auf die todte Form des An geschauten werfen —: schwelgt dann der Mathematiker nicht beständig
im reichsten Genuß reinster ästhetischer Freuden? Wo kommt das Princip
der Belebung der Form durch den Inhalt der Vorstellungen reiner und geistiger zum Ausdruck als in der Formelshmbolik der Mathematik?
Der Laie sieht in den a b c und x y z der mathematischen Formel freilich nichts als unverständliche Zeichen, denen er gegenübersteht wie der Muselmann der hellenischen Kunstwelt.
Dem Mathematiker aber ist
jeder Buchstabe ein Symbol, jede Formel der Ausdruck einer Idee.
Seiner Formeln künstliche Gefüge zeigen ihm, wie in melodisch reichem Fluß des Reizes Linien sich winden, wie der Curven Netze sich verschlingen, wie der Flächen Wölbungen sich dehnen; und der leere Raum belebt sich
ihm zu einer Welt voll Schönheit und Entzücken. In dem schlichten Kleide seiner Buchstabensymbole sieht sein Seher-
Auge — jetzt die in geometrisch strammer Ordnung gelagerten Massen atome, — jetzt das fröhliche Getümmel der von Helios begeisterten, in Preußische'Jahrbücher. Bd.Xl.Vl. Heft 2.
11
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
142
muntrem Reigentanz sich schwingenden Aethermolecüle, — jetzt die ge wallten Welten, die in stolzer Majestät ihre sichren Bahnen durch das
Weltall wandeln.
Und wenn dann seine Symbole sich zu schön gegliederten Complexen
gruppiren, zwischen denen er unerwartete tiefe Beziehungen und Verbin
dungen wahrnimmt, so sieht er in diesen Verbindungen den Abglanz der erhabenen Gesetzlichkeit und Harmonie, welche allwaltend das Universum
durchdringt
in der Fluth der wechselnden Erscheinungen Ordnung
und
und Einheit schafft.
Ein Blatt voll Formeln wird ihm zum Gemälde,
welches das großartige Gesetz der Erhaltung der Energie des Weltalls seinem staunenden Blicke entschleiert.
hebt
So
Schwingen der
er
sich
an der Hand seiner Formelsymbolik
auf
den
Phantasie empor — bis zu jenen Höhen, wo ihn die
überirdische Gewalt jenes
stillen sanften Sausens erfaßt,
in dem
sich
seiner ahnenden
Seele die Nähe deS WeltgetsteS offenbart, — zu jenen
Höhen, wo der
strahlende Schein der Erkenntniß der göttlichen Weltord
nung erwärmend und erquickend in sein Herze fällt, wo er den geheimniß
vollen Kreislauf des Beginnens und Zerrinnens, Vergehens
als
des Entstehens
und
die Bethätigungen der ewigen allwirkenden Kräfte und
Gesetze erkennt, die von des Schöpfers Hand als formbildende und leben
gebende Principien in die todte Materie gelegt worden sind, und er erschaut „in reinen Zügen die wirkende Natur vor seiner Seele liegen".
Und eben dort in jenen Höhen, wo sich der Forscher Klarheit schafft
über die weitesten und höchsten Fragen, wo er sich seiner Menschenwürde
voll bewußt wird und Stellung nimmt zu den hohen Aufgaben und Pflichten, deren Verwirklichung den Zweck menschlichen Daseins und das
Ziel seines Ringens und Strebens bildet, — eben dort begegnet er dem Künstler, der — getragen von den Sehnsuchtsschwingen heiliger
Begeisterung für das ewig Wahre und Gute und Schöne — derselben
Quelle reiner Erkenntniß, demselben „Strahlensitz der höchsten Schöne" zustrebt.
Dort tauschen sie den Bruderkuß, und — Hand in Hand und
Herz in Herz — schwelgen sie im Anschauen des reinen Lichtquells ewiger
Wahrheit und Schönheit.
Und wenn dann jeder wieder herabsteigt in die Wirklichkeit des täg
lichen Lebens und der. praktischen Berufsthätigkeit, so wird die Erinnerung an die gemeinsam verlebte selige Stunde ihrem Werke eine höhere Weihe
geben; sie wird sie vor Engherzigkeit und egoistischer Einseitigkeit bewahren und ihren Blick ungetrübt auf das große Ganze gerichtet erhalten.
Und
ist ihnen das schöne LooS zu Theil geworden, einen Einfluß auf die Er
ziehung der Heranwachsenden Jugend zu haben, so wird sie derjenige Geist
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
143
beseelen, der es.allein ermöglicht, die Ausbildung des jugendlichen Ver
standes und Gemüthes in harmonischen Einklang zu bringen. ES sei mir gestattet, schließlich noch diesen Punkt zu berühren.
Die
Gedanken, denen wir im Vorangehenden Ausdruck verliehen haben, hängen
zu
innig
mit den brennenden Fragen des ErziehungS- und Unterrichts
wesens zusammen, als daß es mir möglich wäre, hierüber mit Still
schweigen hinwegzugehen.
In dem Getriebe des geschäftlichen Lebens,
wo jeder nur ein Rad
in der großen Maschine ist, mag die Theilung der Arbeit eine Forderung unabänderlicher Nothwendigkeit sein; es mag ferner im Unterrichtswesen
die Trennung in Fachabtheilungen schon auS Verwaltungsrücksichten noth wendig geboten sein. Trennung
Aber hüten wir uns, daß wir diese
nicht auf den
äußerliche
inneren Organismus des Unterrichts über
tragen! Hier wirkt die Einseitigkeit als Gift; und daS Specialistenthum,
das bei der nächtlichen Lampe ein Segen ist, wird auf dem Katheder unheilvoller Saat so gar leicht nur geistlose
zum Fluche,
aus dessen
Rolltine und
pedantischer Formalismus
erwächst.
Jeder sei vielmehr
vom Geiste deS Ganzen ergriffen, um seine Specialwissenschaft als ein organisches Glied des Ganzen zu begreifen! Nur in der klaren Erkenntniß der Gesammt-Aufgabe, nur in einem bewußten einheitlichen Zusammen wirken aller Kräfte läßt sich das hohe Ziel erreichen, der Jugend den
jenigen Fonds von Verstandes- und Herzensbildung zuzuwenden, der sie be
fähigt, die praktischen Bedürfnisse der Zeit mit dem idealen Streben des nach Erkenntniß ringenden Geistes zu vereinigen, — das hohe Ziel, das
nach Schinkel'S Definition darin besteht,
Mitarbeiter an der heiligen
Aufgabe der sittlichen Vervollkommnung deS menschlichen Geschlechtes zu
erziehen.
Fassen wir unsere Aufgabe in diesem Sinne, so erscheint manche
Frage in anderem Lichte, und die Möglichkeit ihrer Lösung wird uns näher gerückt. Ich will den Streit zwischen humanistischer und realistischer Bildung
hier nicht heraufbeschwören.
Aber meiner Ueberzeugung darf ich wohl
Ausdruck verleihen, daß die mögliche Ausgleichung auch dieses Gegensatzes nicht in unerreichbarer Ferne liegt.
Wenn wir einerseits unser Augenmerk auf eine solche Ausbildung
des jugendlichen Geistes richten müssen, welche in gleicher Weise die Kraft deS mathematischen Denkens schärft und den Sinn für daS Ideale weckt, so daß die Erziehung von Verstand und Gemüth in ein harmonisches
Gleichgewicht gebracht wird, — wenn wir aber andererseits in unseren
vorangegangencn Betrachtungen gesehen haben, wie ein solcher harmoni11*
144
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft,
scher Einklang zwischen Verstandes- und Herzensbildung in den beiden
Repräsentanten modernen Geisteslebens, Schinkel und Keppler nach zwei verschiedenen Richtungen hin entwickelt erscheint: so dürfte sich hier aus ergeben, daß sich daS Ziel wohl auf doppelte Weise erreichen lassen Die Vergeistigung mathematischen Ernstes mit künstlerischer Poesie,
wird.
die Vermählung deutscher Geistesvertiefung mit hellenischem Idealismus
wird sich ermöglichen lassen entweder dadurch, daß wir von der klassischen Bildung auSgehen und
diese mit den Elementen der modernen exakten
Wissenschaften innerlich durchtränken, oder dadurch, daß wir die realistische
Bildung als Fundament wählen und ihr durch den Geist antiker Kunst
und Poesie eine ideale Richtung geben*).
In beiden Fällen erscheint unser heutiges Unterrichtswesen einer Re organisation bedürftig. Eine solche aber wird nur dann zu einem erfreulichen Ziele ge langen, wenn wir die alten Gegensätze zwischen sogenannter klassischer und sogenannter moderner Bildung fallen lassen und unS auf einen
neuen Boden stellen.
Und hier ist es nun wieder Schinkel, der unS
diesen neuen Boden vorgezeigt und geebnet hat. Auch in dieser Frage muß und wird die große Idee der helleni
schen Renaissance ihre schöpferische Kraft bewähren.
Schiller sagt in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen:
„Der Freund der Wahrheit und Schönheit lebe mit seinem
Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf" .... „Eine wohlthätige Gott heit reiße den Säugling bei Zeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn
mit der Milch eines besseren Alters und lasse ihn unter fernem griechi schen Himmel zur Mündigkeit reifen.
Wenn er dann Mann geworden
ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück;
aber
nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie AgamemnonS Sohn, um es zu reinigen.
Den Stoff zwar wird er von
der Gegenwart nehmen, aber die Form von einer edleren Zeit, ja, jenseits aller Zeit, von der absoluten, unwandelbaren Einheit seines Wesens ent
lehnen."
Schinkel hat dieses Dichterwort in seiner Kunst zur Wahrheit ge macht.
Wenn er aber diese That in der Art vollbrachte, daß er sich
die Frage stellte — nicht: wie haben's die Hellenen gemacht? sondern
wie würden sie'S heute mit Berücksichtigung der veränderten Verhält
nisse machen? —: so würde Schinkel sicherlich auch die in Rede stehende Unterrichtsfrage nicht in der Weise behandeln, wie sie in dem heutigen *) Ich weise ausdrücklich darauf hin, daß die Begriffe „Latein und Griechisch lernen" und „den idealen Geist der Hellenen in sich aufnehmen" keineswegs identisch sind.
Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.
unerquicklichen und unfruchtbaren Parteigezänke erörtert wird.
145
Er würde
vielmehr der Frage die einfache Fassung geben: Wie würden die Hellenen heute verfahren, wenn ihnen
die Aufgabe gestellt würde,
die Erziehung der Jugend den
Ansprüchen der modernen Zeit zu accommodiren? Ich denke, daß diese Form der Fragestellung den Interessen beider Parteien in gleicher Weise gerecht würde und daß sie daher wohl den Aus
gangspunkt für den Versuch einer Verständigung bilden könnte. aber auch die feste Ueberzeugung,
Ich hege
daß sie eine befriedigende Lösung deS
Problems wirklich herbeizuführen im Stande ist. Der gesunde Sinn des deutschen Volkes
hat von demselben Ge
sichtspunkte aus schon schwierigere Fragen zur glücklichen Lösung gebracht.
Wenn uns die herrliche Zeit hellenischen HeldenthumeS, wo Geistes männer wie Aeschhlus und Sokrates sich glücklich priesen, des Armes
Kraft im Dienste des Vaterlandes erproben zu dürfen, wiedergekehrt ist durch die Wohlthat unsrer Wehrverfassung, wenn die gymnastische Aus
bildung des hellenischen Jünglings wieder aufgelebt ist in
dem Segen
unsrer allgemeinen soldatischen Schulung, —: Können wir das nicht auch
eine glückliche Lösung moderner Bedürfnißfragen
in hellenischem Geiste
nennen? Und wenn der gesunde Sinn des deutschen Volkes diese Aufgaben
glücklich bewältigt hat, so müßte eö doch merkwürdig zugehen, wenn er
nicht auch über die noch schwebenden Fragen Herr werden sollte, sobald er sie nur im richtigen Geiste erfaßt.
Schiller, Schinkel und Scharnhorst haben unS den Weg ge zeigt.
Folgen wir ihrer Weisung!
Die Wichtigkeit der Aufgabe ist deS
Versuches werth. Bringen wir Schinkel den Tribut unsrer Dankbarkeit und Ver ehrung damit dar, daß wir sein großes reformatorisches Werk der helle
nischen Renaissance in seinem Sinne fortführen und die Wiederbelebung hellenischen Geistes aus deutscher Kraft zur Vollendung bringen. Wenn der Rasttag, den wir seinem Andenken geweiht haben, vor
über — und
die ernste TageSarbeit wieder ausgenommen ist,
so um
schwebe uns sein Geist und erleuchte unsern Sinn, auf daß unser Werk
seinem Andenken zur Ehre, dem Vaterlande zum Heil und der Mensch
heit zum Segen gereiche!
Zur Geschichte des deutschen Adels*). So weit wir auch immer in der Geschichte aller Culturvölker rück wärts gehen, überall — auch in den primitivsten Anfängen staatlicher
Organisation — stoßen wir auf eine mehr oder weniger scharfe Trennung
des BolkSganzen in einzelne, durch erbliche Vorrechte,
kennzeichnete Classen.
bez. Pflichten ge
Dies ist daö Wesen der Stände, wie man heutzu
tage diese Abtheilungen der Bolksgenoflenschaft nennt. Das eine Moment des Begriffs ist ein bestimmtes Maaß von Rechten bei den oberen, von
Lasten bei den unteren Ständen, das andere
die Erblichkeit derselben.
Jene Rechte und Pflichten decken sich dabei stets insoferne, als die Lasten
der Niederen eben die Rechte der Höheren ausmachen, die dadurch zu Vorrechten für diese werden.
Die Erblichkeit gibt dann solchen Verhält
nissen erst das Constante und Wesentliche, ohne welches keine geschichtliche Erscheinung gedacht werden kann.
Würden jene Vorrechte lediglich in
vorübergehender Weise an den betreffenden Stand geknüpft sein, so würde dies auf einen Act der gesetzgeberischen Thätigkeit oder aus ein vertrags
mäßiges Uebereinkommen sich zurückführen kaffen: dadurch aber, daß der Anfang
solcher Verbindungen in jedem bestimmten Zeitpunkt historisch
oder wenigstens juristisch nicht mehr nachweisbar ist, nehmen dieselben den Charakter geschichtlich gewordener Verhältnisse an.
Vorrechte mannig
facher Art gewährt z. B. auch der sogenannte persönliche Adel, trotzdem wird Niemand denselben als einen wirklichen Adel gelten lassen, weil ihm eben das Merkmal der Erblichkeit fehlt;
erst wenn er durch mehrere
Generationen hindurch immer wieder von den Descendenten durch eigenes Verdienst erworben wird, wird er zum ächten, d. h. erblichen Adel.
Wenn ich im Folgenden — als Abschluß meiner in diesen Blättern veröffentlichten Studien zur deutschen Ständegeschichte — die historische *) Benutzte Literatur: Waitz, Deutsche Berfafsungsgeschichte; Maurer, Ueber das Wesen des ältesten Adels der deutschen Stämme; Savigny, Beiträge zur RechtSgeschichte des Adel« im neueren Europa; Mundt, Geschichte der deutschen Stände; Göhrum, Die Lehre von der Ebenbürtigkeit; Löher, Ritterschaft und Adel im spätern Mittelalter u. a.
Zur Geschichte des deutschen Adels.
147
Entwicklung unseres Adelsstandes zu zeichnen versuche, so werde ich, außer
jener Einschränkung, die ich, wie dem Begriffe des Adels, so insbesondere auch den
Arbeit ziehen
Grenzen meiner
muß,
auch gleich hier den
charakteristischen Inhalt desselben kurz kennzeichnen müssen.
Ich nehme mir
zmn Gegenstand also bloß den historischen Adel, denn nur dadurch wird es mir möglich, eine einheitliche Idee in den wechselnden Formen des
selben herauszufinden.
Die Anschauungen über diesen Punkt gingen von jeher und gehen Ohne mich hier in eine weitläufige
heute noch weit von einander ab. Controversc einzulassen,
will ich sofort das mir einzig und allein als
Grundinhalt des AdelSbegrisis giltige Prinzip benennen; meine historische
Ausführung wird dann, wie ich hoffe, die Richtigkeit desselben feststellen. Es ist — um
es kurz zu
sagen — der politische Macht-Begriff,
welcher überall und immer das Wesen des ächten Adels ausgemacht hat; wo dieses Merkmal fehlt, kann voll einem wahren Adel keine Rede sein.
Es gilt dies übrigens nicht bloß vom Adel, auch die werden erst dadurch zu
solchen,
daß sie Stellung
übrigen Stände
zu jenem wichtigsten
Staatsbürgerrecht nehmen. Wahrhafte Stände gibt eS nur da, wo diesen eine wesentliche Theilnahme an den politischen Rechten,
regierung
zusteht.
Dies
ist
das Princip
an der StaatS-
aller Bürger,
Bauern und
Adeligen, ein gemeinsames in Deutschland von jeher gewesen; keine Idee davon,
daß
sich
der Adel jemals durch ein besonderes Erbrecht in den
germanischen Staaten gebildet habe.
Auch in England ist das Majorat
ein allgenieincs Institut für alle Stände, und in Deutschland hatten einst
die Freien, namentlich die Bauern, dasselbe Erbrecht wie der Adel.
Bildung eines gesunden und für
Die
das Volk erträglichen Adels ist viel
mehr immer auf politischem Wege angefangen und beendet worden; sein Untergang lag da, wo er seine politischen Rechte gegen persönliche Vor
züge aufgab oder verlor, damit war immer auch sein ständischer Begriff dahin, denn nur im Gegensatz und in der Verbindung
mit anderen
Volksständen kann der Adel etwas bedeuten. Sobald daher in Deutschland,
etwa seit dem 17. Jahrh., die alten
Formen ständischer Verfassungen untergraben wurden, und namentlich in
den größeren Territorien Administration der Regierung
an die Stelle
fürstlicher und ständischer Herrschaft trat, verlor mit den Bürgern und Praelaten zugleich der LandeSadel seine Bedeutung.
Mehr oder weniger
bestanden die Staaten seitdem aus Classen von Administrirten, nur ein
zelne persönliche Vorzüge blieben,
die immer etwas Gehässiges in den
Begriffen der großen Menge der Staatsbürger behielten.
In unserm
Jahrhundert haben nun die meisten deutschen Staaten wieder eine all-
8ur Geschichte des deutschen Adel-.
148
sie haben Verfassungen erhalten,
umfassende Restauration durchgemacht,
die alle auf der Voraussetzung ständischer Gliederung in den Stämmen Deutschlands beruhen, welche Voraussetzung freilich insofern nicht ganz
der Wirklichkeit angemessen war, als gerade die freiheitbildenden politi schen Rechte der Stände
überhaupt
untergraben oder ganz vernichtet
ES wäre eine Thorheit gewesen, alle gothischen Ruinen der alt
waren.
ständischen Verfassungen wieder aufzubauen, eine Unmöglichkeit eS durch
zusetzen und eine Revolution eS nur zu versuchen.
Denn wo war jene
Leibeigenschaft oder Unterthänigkeit des heute zahlreichsten Standes der
Bauern, wo war jene Selbstverwaltung des Bürger-, Prälaten- und Ritterstandes, wo war jene Autonomie der Corporationen, wo waren die
ständischen Cassen, theilung,
ihre Beamten
zur
Steuerhebung und Steuerver-
wo war die ständische Verwaltling
der Staaten geblieben?
Hätte man sollen die ganze Organisation der Regierung umstürzen, hätten die Fürsten sich selber aller ihrer Macht, der man so viel Treffliches im
Staatsleben verdankte, entschlagen, das Volk des Landes wieder knechten
sollen, bloß um einen Antiquitätenstaat mit Wappen und Schildern, einen Schatten ohne Fleisch und Bein mit Patriziern und Plebejern, mit Rittern
und Harnischen, Minne- und Bänkelsängern wieder heraufzubeschwören? Man war also in Deutschland gezwungen, auf der Grundlage des Be
stehenden, ächt conservativ, repräsentative Verfassungen zu geben, d. h. Grundzüge vorzuzeichnen, nach welchen die weitere Bildung des politischen Lebens geschehen sollte. Man fing damit an, den Ständen ihre politischen
Rechte, Steuerbewilligung, Theilnahme an der Gesetzgebung rc. wiederzu geben.
Dies war die allgemeine Grundlage der Restauration; die spezielle
war die,
daß
man dem Bauern- und Bürgerstande die Gemetndever-
fassungen gewährte, daß man also anfing auch die ständischen Rechte in ihren einzelnen Kreisen demokratisch Leben gewinnen zu lassen, daß man
Freiheit und Luft gab sich zu entfalten.
Es war ein Glück für die deut
schen Staaten, daß sich die meisten Fürsten bestimmt fanden, nicht allzu lange mit der Vorzeichnung
jener Grundzüge, d. h. der Constitutionen
zu zögern, und die Einsicht hatten, man müsse die weitere Ausbildung
und Entfaltung der Stände der Zeit überlassen, denn man hörte wohl hie und da solche Stimmen erschallen, eS sei ein Unding Constitutionen zu geben, wo eS an aller Aristokratie in Deutschland fehle; eS müsse ein conservativeS Prinzip, ein Beharrendes, Stabiles da fein, wo man reprä
sentative Kammern bilden wolle.
Allerdings ist eS wahr, daß eS keinen
gesunden Adel in den reinen AdmintstrationSstaaten gab und geben kann, ebensowenig
wie einen wahrhaften Bürger- und Bauernstand.
Die
Elemente zu einem politischen Adel fanden sich aber und finden sich noch
Zur Geschichte des deutschen Adels.
149
im ganzen Deutschland; es waren die großen Grundbesitzer; aus diesen
konnte hervorgehen und ist der eigentliche Adel in den meisten constitutsonellen Staaten zum Theil hervorgegangen, nicht etwa dadurch, daß man
ihm persönliche Vorzüge anwies, sondern dadurch daß er politische Rechte als Stand erlangte, welche in der Standschaft der ersten Kammer zu
sammengefaßt sind, und daß er dafür auch zu seinem Theil die Lasten
des Staates übernahm.
So viel bleibt aber wahr:
ohne Reichsstände
gibt es keinen wahren Adel; nur mit den andern Ständen deS Volks steht und fällt der Adel, gewinnt oder verliert er seine Bedeutung.
Um die Richtigkeit des Vorstehenden zu beweisen, weise ich ans ein Land hin, dessen Adel allgemein als der gesundeste und entwicklungs fähigste anerkannt wird: ich meine natürlich England.
Bei unS ist eine
scharfe Grenzlinie zwischen dem Adel und dem Nichtadel; diese Grenzlinie wird einzig und allein durch die Geburt und Abstammung bestimmt, und
eS ist also genau genommen eine physische Unmöglichkeit sie zu über
springen, weil kein Mensch sich andere Väter geben kann, als er von Haus auS gehabt hat.
In England ist die Geburt allerdings auch ein
Moment und wohl das vornehmste aller der Momente, die in Rücksicht gezogen werden, um die Stellung, welche Einer einnimmt, zu bemessen.
Außerdem aber sind Reichthum,, politischer und moralischer Charakter, Amt und Würde ebenfalls sehr große Gewichte.
Die Geburt hat aber
weit mehr Stufen als bei uns, und diese Stufen gehen von der obersten Peerage bis zum untersten Mob weit gleichmäßiger und gewissermaßen
in einander greifend und sich verschlingend hinab. blos
Adel (nobility) heißen
die betitelten ältesten Söhne der betitelten Väter.
Die jüngeren
Söhne treten, wiewohl von adliger Geburt, aber nicht von adligen Rechten,
zu dem Nichtadel fühle.
über und bringen zu diesem ihre aristokratischen Ge
Obgleich sie keine PeerS sind, bleiben sie doch, wäs ihnen kein
Gesetz nehmen kann, verwandt und verbunden mit den Peers und LordS
des Reichs, mit einem Worte, es entsteht daraus jene merkwürdige Ueber-
gangSclasie von Menschen, die man in England very respectably connected oder auch highly connected people nennt.
Wie in zwei große,
durch eine tiefe Kluft getrennte Wasser gespalten liegt unsere und auch anderer Völker Gesellschaft da.
In England hilft daher auch der aristo
kratische Sinn der Nation zur Kraft und selbst zur Einigung und Milde
rung der politischen Parteiungen in der Gesellschaft.
weg im ganzen Volk willkommen und populär.
Der Adel ist durch
Mit derselben Leichtigkeit,
mit welcher der hohe englische Adel seine Blutsverwandten auS seinem Kreise ausschließt, nimmt er auch neue Mitglieder in seine Mitte auf und amalgamirt sie schnell.
Wilhelm IV. creirte auf einmal mehr als
Zur Geschichte des deutschen Adels.
150
60 Peers, und dieselben waren schon bald als ebenso gute LordS als irgend welche angesehen.
Es ist dies natürlich, denn man schafft diese
Leute nicht auS dem bloßen Nichts; sie standen schon vorher groß da und
waren längst der schönen Frucht nahe, die ihnen dann allmählig reif in
den Schooß fiel. Kein Adel eines anderen Landes ist seiner ganzen Natur nach so politisch und staatsrechtlich bevorrechtet wie der englische.
Im Oberhause
sitzen nicht nur die durch Geburt als weltliche LordS dazu Berechtigten,
sondern auch die aristokratischen Häupter der Kirche, die auf Lebenszeit oder für jede Parlamentsdauer gewählten LordS von Irland und Schott
land, die höchsten Richter des Landes und die durch ihre Talente ausge
zeichneten Männer, welche der Krone besonders geeignet erschienen sind in die Aristokratie des Landes einzutreten. besitz einer Herrschaft
ES ist also außer dem Grund
auch daS Princip der monarchischen Ernennung,
daS der Wahl des Standes der Aristokratie und das der höchsten StaatSund Kirchenämter im englifchen.Oberhaufe repräfenttrt.
lichen Principien auch
Da diese sämmt
den ersten Kammern deutscher Verfassungen zu
Grunde gelegt sind, so sollte man glauben, eS müsse sich auch die deutsche Aristokratie homogen der englischen entwickeln oder bereits entwickelt haben. Dem ist aber bis jetzt nicht so.
Der englische Adel besteht bei über 28
Millionen Einwohnern allein aus ein paar hundert politischen Personen,
der deutsche auS einer Unzahl von Geschlechtern, die gar nicht einmal in ihren persönlichen Rechten gleichstehen, viel weniger in ihren politischen; der englische Adel ist rein politisch, durch Staatsrechte als Stand ge bildet, gar nicht privatrechtlich, nicht durch ein unterschiedenes Erbrecht,
welches sich fast in ganz England unter allen Landbesitzern als dasselbe
erhalten hat.
Eben wegen dieser seiner politischen Natur ist der Begriff
der Ebenbürtigkeit der englischen Nobility fremd; sie hat ihre Abstammung von den Normannen den Sachsen gegenüber vergessen, alle aus Vorur theilen oder
aus bloß natürlichen Verhältnissen der Geschlechter ent
sprossenen Rechte aufgegeben; keine Ahnentafel, kein Stammbaum gibt
Rechte; der englische Herzog verbindet sich ohne Nachtheil für sich
und
seine Kinder mit einer Gemeinen; nur wer im Oberhause Standschaft
hat, ist von Adel, alle andern desselben Geschlechts, die jüngeren Söhne
und Töchter sind Gemeine; jeder Gemeine kann eine Erbin oder Peereß
hetrathen, sein ältester Sohn wird adelig.
So
ist dieser Stand keine
Kaste, das ganze Volk von England ist adelsfähig.
Bon so jungem Adel
auch die meisten Mitglieder des Oberhauses sind — unter den deutschen
Geschlechtern gibt es weit mehrere von älterm Adel —, so ist die eng lische Nobility doch die erste Aristokratie, welche die Geschichte kennt; nicht
151
Zur Geschichte des deutschen Adels.
Rom, nicht Sparta, nicht Venedig haben einer solchen ewigen Aristokratie sich zu rühmen, denn der englische Adel hat sich in denselben wesentlichen
Rechten als Stand seit 800 Jahren immer erneut, immer verjüngt, immer neue Wurzeln im Volk geschlagen und seine Gipfel bis in die Regionen
der Krone erhoben.
Er ist derselbe geblieben seit seiner Geburt, das
deutsche in der
Alter hat ihn nicht gealtert;
er ist nicht wie der hohe
Landeshoheit untergegangen;
er hat nicht das Königthum überwunden,
obgleich gegen die unbeschränkte Fürstenherrschaft gekämpft; auch hat er sich nicht wie der französische in der Hoffähigkeit und in dem Hofdienst
verloren;
er hat am frühesten die Leibeigenschaft seiner Bauern aufge
hoben und
doch seinen Landreichthum
behalten;
er hat Radicale und
Demokraten, Whigs und Tories, die größten Talente ohne Unterschied in sich ausgenommen und doch sein Wesen bewahrt, seine Stellung zwischen
Monarchie und Demokratie, und ist aus dem Grabe der Republik itach Cromwell in voller Kraft auferstandcn.
So ist er eine fast einzige Er-
scheinling in der politischen Geschichte geblieben; gerade durch den Wechsel der Personen, durch die Mischung des Blutes und die Verjüngung des Geistes hat sich das politische Princip seines Standes, seiner Rechte er
halten.
Das alles vermag der Staat, die Gemeinsamkeit einer gesunden
Corporation, das politische Princip, das seine richtige Anwendung findet.
Allerdings hat auch der englische Adel eine historische Erinnerung für sich, er hat eine Geschichte;
sie läßt sich aber nicht von der Volksgeschichte,
auch nicht von der des Königthums trennen; sie ist keine Geschichte der
Wappen und Bilder, keine Familienanekdotensammlung, keine Genealogie, die mit Cäsar Augustus oder Adam als Stammvater der Geschlechter be
ginnt, sondern sie ist die Geschichte der englischen Verfassung, der eng lischen Freiheit und nebenher auch die deS englischen Adels als Stand.
Wohl ist eS richtig,
daß man in den englischen Biographieen großer
historischer Charaktere gern mit dem ausgezeichneten Geschlechte beginnt,
daß man die hohen Verbindungen deS Helden rühmt, daß man ihm oft das zum Verdienste anrechnet,
was er nur seiner Geburt zu verdanken
hat: aber dies ist nur die immer wiederkehrende Schwachheit der Menschen
natur, die einen Zug auf das Aristokratische hat; tischen Adels hilft dies wenig oder nichts.
zum Wesen deS poli
Napoleon, als er von Elba
zurückgekehrt seine wankende militärische Herrschaft durch Volksrechte und Constitution stützen wollte, gab dem Drängen deS ehemaligen Republika
ners Benjamin Constant, der eine erbliche unabhängige Pairie als Bürg schaft der verfassungsmäßigen Freiheit für Frankreich verlangte, nach und
schuf sie, er konnte sich aber nicht enthalten, da er die Mehrzahl der alten
Seigneurs als feindlich kannte, in Bezug auf die Marschälle und Diener,
152
Zur Geschichte des deutschen Adel«.
die neuen Pairs, hinzuzusetzen: „ohne Erinnerungen, ohne geschichtlichen
Glanz, ohne große Besitzungen, werden?
auf waS
soll meine Pairie gegründet
Die englische Pairie ist etwas ganz Anderes.
dem Volke, aber in ihm und war nie gegen dasselbe.
Sie steht über
Der englische Adel
gab England die Freiheit; die magna Charta stammt von ihm.
Mit
er steht auf der Seite derselben.
Aber
der Verfassung ward er groß,
schon in dreißig Jahren von jetzt an werden meine Pilze von Pairs nur Soldaten oder Kammer-Herren sein.
Man wird nur ein Feldlager öder
em Vorzimmer sehen."
Dieselbe enge Verbindung zwischen Adel und politischer Macht zeigt
uns unsere ganze deutsche Geschichte.
Die Blüthezeit desselben fällt genau
mit derjenigen Periode zusammen, in welcher ihm ein bedeutender An
theil an der Regierung des Landes, überhaupt ein hohes Maaß politischer Rechte eingeräumt war und während welcher gleichzeitig seine kastenartige
Absperrung gegen die untere Volksklasse sich noch nicht oder wenigstens nicht in der engherzigen Art wie späterhin vollzogen hatte: sein Nieder gang datirt von der politischen Ohnmacht desselben, von seiner Absperrung
nach unten und seinem Sichverlieren in kleinlichen äußerlichen Spielereien. DaS letztere ist dabei nur die folgerichtige Consequen; des ersteren:
der
menschliche Geist, mag er sich nun in der Einzelpersönlichkeit oder in großen Volks- und Gesellschaftsgruppen repräsentiren, will stets einen
Gegenstand seiner Thätigkeit haben; verliert er die tieferen Zwecke auS dem Ange, so wirft er sich auf Aeußerlichkeiten, wird schrullenhaft, eigen
sinnig und kleinlich. Gehen wir
auf die ersten glaubwürdig überlieferten Anfänge un
serer Geschichte zurück, so bietet sich uns bezüglich der Standesverhält nisse folgendes Bild.
Die gesellschaftliche Grundlage, auf der Alles in
seinen bestimmenden Wurzeln steht, bildet die Freiheit. meinde und mit ihr das
Die freie Ge
demokratische Princip nimmt unter dem be
günstigenden Einfluß der noch halbnomadischen Agrarverhältnisse die erste Stelle im germanischen Volksleben ein. heitsprincip nicht so gedeutet werden,
Trotzdem darf aber dieses Frei als ob unter ihm nicht doch eine
Sonderung nach Standesunterschieden und der Rechte möglich wäre.
eigenthümlichen Abstufungen
Wenn wir auch den Zustand unseres Volkes,
wie er uns von den großen römischen Geschichtschreibern geschildert wird, als den Naturzustand desselben annehmen wollten — was er, beiläufig
bemerkt, keineswegs ist —, so dürften wir dennoch in ihm nicht das Evangelium der Freiheit und Gleichheit erblicken.
Der Naturzustand eines
Volkes ist vielmehr stets die fretwüchsige Auseinandersetzung aller ur
sprünglichen Unterschiede, die in Natur- und Menschenwesen vorhanden
153
Zur Geschichte des deutschen AdellS.
sind.
Die Gleichheit tritt erst als historischer Prozeß auf, in der Natur
ist sich
nichts
gleich, am allerwenigsten der Mench.
Jene beiden im
ältesten germanischen Gesellschaftsleben gegen einamdir ringenden Principe — auf der einen Seite die Freiheit als Grundlage des ganzen socialen
Baues, auf der andern daS tief in der Menschenmatur schlummernde Be
streben nach Vernichtung dieser allgemeinen Freiheit und Gliederung der Gesellschaft vielmehr nach Stufen der Ungleichheit — werden wir scharf
im Auge behalten
müssen,
wollen wir anders
dcS merkwürdige Bild
unserer frühesten sozialen Zustände richtig verstehen.
aufs
Das erste hängt
innigste mit der ältesten Wirthschaftsgeschichtc unseres Volkes zu
sammen, das letztere ist nebenbei namentlich auch durch den äußeren Gang der Geschichte gefördert worden.
Ein Viehzucht und
Weidcwirthschaft
treibendes Volk, wie daS unsrige noch zu Cäsars, in gewisser Beschrän kung auch noch zu Tacitus' Zeiten war, wird immer in seinen gesellschaft
lichen Verhältnißen das Bild demokratischer Gleichheit Aller darbieten;
wenn
sich
dabei
aristokratische oder monarchische Bildungen offenbaren,
bewegen sich solche doch lediglich in den Grenzen deS Patriarchalismus,
der von der Freiheit und den Rechten Aller nur gerade so viel an sich nimmt, als zur Wahrnehmung der gemeinsamen Jn'.eressen absolut noth
wendig Form
bringt.
ist, und
einer
seine sanfte Gewalt überdies noch in der natürlichen
Herrschaft der
Familienältesten
zur äußeren
Erscheinung
Die Nachklänge eines solchen WirthschaftssystemS und einer solchen
Verfassung liegen noch wahrnehmbar in der Germania des Tacitus vor; was in der Schilderung nicht zu diesen Tönen stimmt, kommt auf Rech
nung eines mehr äußerlichen geschichtlichen Prozeßes, den unser Volk vor und während der Zeit seines römischen SittenschildererS durchgemacht hat.
Ich meine seine Wanderungen von Osten nach Westen, die höchst wahr scheinlich zu Cäsars Zeiten noch in vollem Fluße waren, zu denjenigen
des Tacitus jedenfalls einen gewissen Abschluß erreicht hatten, wenngleich ein definitives Ende erst durch die große Völkerwanderung herbeigeführt
worden ist.
Wären jene ersten Wanderungen friedlich vor sich gegangen,
so würde dennoch das Culturbild unseres Volks wenig verändert worden
sein; daß daS Vordringen nach Westen auf ernste Hindernisse stieß, daß
alteingesessene Völkerschaften sich -mit Waffengewalt den wandernden Ger manen
entgegenstellten und
von diesen mit denselben Mitteln nieder
geworfen werden mußten — das wissen wir, nicht etwa aus Mittheilungen
griechischer oder römischer Geschichtschreiber, die darüber vielmehr absolutes
Stillschweigen beobachten — wahrscheinlich weil jene Wanderungen Jahr hunderte hinter der Blüthe Hellas' und Roms zurückliegen — sondern einzig und
allein aus den in der Schilderung des Tacitus von dem
Zur Geschichte des deutschen Adels.
154
Wirthschaft-bild eine- Hirtenvolkes abweichenden Linien und Conturen. Das Bild, das uns die Germania von dem Culturzustand unserer Alt
vorderen entwirft, weist deutlich die Spuren einer früheren Unterwerfung fremder Völkerschaften ailf.
Denn nur auS mit Waffengewalt Uilterjochten
können, da die von Tacitus aufgeführten Quellen der Unfreiheit nume
risch gar nicht in Betracht kommen, die jedenfalls zahlreichen Sklaven hergeleitet werden.
Erwägt man, daß auf diesen nahezu die ganze Last
der wirthschaftlichen. Arbeit ruhte, und daß diese letzteren selbst von den freien Germanen mit Verachtung betrachtet wlirde, so ist der Schluß wohl
kein voreiliger, daß die Klasse der Unfreien, wie sie numerisch die der Freien weit übertroffen haben wird, auch' qualitativ in scharfem Gegen
satze zu dem herrschenden Stande gestanden hat, in einem Gegensatze, der nach einer bei allen erobernd vordrtngenden Culturvölkern gemachten Be
obachtung nur der der Race, des Blutes gewesen sein kann.
Dies war
die erste, durch den äußeren Gang der Geschichte herbeigeführte Durch
löcherung deS ursprünglichen Freiheitsprincips, wenn es nicht vielleicht richtiger ist, das Princip der Unfreiheit, als einen fremden Blutstropfen,
unserm Volke durch die Berührung mit tiefer stehenden Stämmen auf« octroyirt, überhaupt nicht als Durchbrechung der germanischen FreiheitSidee gelten zu lassen.
Erklärt sich so in ungezwungener Weise das Vorkommen eines zahl
reichen Sklavenstandes bei einem die gemeine Freiheit so nachdrücklich an die Spitze seiner Verfassung stellenden Volke, so ist dagegen die daneben
auftretende Erscheinung eines über den Freien stehenden Adelstandes schwer zu verstehen.
Leider sind die wenigen Nachrichten, die uns Tacitus hin
sichtlich desselben gibt, eben nicht durch klare Durchsichtigkeit ausgezeichnet. Ganz dunkel bleibt namentlich sein Ursprung.
Man hat an eine Ver
bindung desselben mit dem Priesterthum gedacht: sei es in historischer, sei
eö in fernliegender Urzeit hätten bestimmte Familien in priesterlicher Würde gestanden und um deßwillen auch höherer Auszeichnung sich er
freut, als besonderer Ehre theilhaftig, vielleicht selbst in gewißem Maaße als heilig gegolten.
Aber wenigstens
in den Zeiten, von denen wir
Kunde haben, ist nichts der Art vorhanden.
An sich würde eS auch viel
mehr einen Priesterstand als einen Adel'begründen, und jenen hat es
nach bestimmten Zeugnissen bei den Deutschen nicht gegeben.
Daß ein
solcher früher vorhanden war, ist an sich nicht wahrscheinlich; daß er seinen ursprünglichen Charakter aufgegeben und in einen Adel ohne priesterliche Funktionen sich verwandelt habe, nicht denkbar: auch gar nichts in den
Verhältnissen des Adels weist auf einen solchen Ursprung hin.
Die Vor
steher des Volks, die Könige, haben wohl auch priesterliche Functionen
155
Zur Geschichte deS deutschen Adel».
geübt, aber weder hat dies auch bei den Königen etwas mit ihrem Adel zu thun, noch hat sich daraus ein Standesvorzug ergeben, ein Adel ge
bildet. Noch weniger darf an eine Stammesverschiedenheit des Adels gedacht
werden:
weder ist er so zahlreich, noch nimmt er eine solche Stellung
ein, daß davon irgend die Rede sein könnte.
Adel und Freie zusammen
bilden vielmehr, wie wir gesehen haben, einen herrschenden Stamm und Stand gegenüber der abhängigen unfreien Bevölkerung.
So werden wir uns denn bescheiden
müssen, den Ursprung des
deutschen Adels als ein Räthsel der Geschichte, wie so manches andere,
hinzunehmen.
Jedenfalls reicht er mit seinen Wurzeln in die graue Vor
zeit ztlrück, indem er vielleicht zugleich mit der ersten Ordnung und Gliede
rung deS Staates entsprungen ist. an Götter
Anknüpfung
Darauf deutet auch seine sagenhafte
oder Helden überirdischen Ursprungs hin.
So
wurden die angelsächsischen Königshäuser, die ja auch ursprünglich nur anglischcr,
sächsischer
oder jütischer Adel sind,
so die Könige bei den
Langobarden, deren Ahnfrau uns deutlich genug
als eine Walküre be
zeichnet wird, die Amaler bei den Gothen, an deren Spitze sogar ein Stammheros
des
ganzen Volkes zu
stehen scheint, mit übernatürlichen
Kräften in Verbindung gebracht, und noch bei den jedenfalls aus altem schwäbisch-baierischen Adel entsprossenen Welfen hat sich die Sage von einem außerordentlichen,
wenn auch nicht mehr
heidnisch-göttlichen Ursprünge
erhalten.
WaS ist nun das Wesen des ältesten deutschen Adels? Die Antwort ist nicht
leicht,
und wir werden zu einer richtigen Vorstellung erst auf
dem Umwege gelangen, daß wir vorerst die Punkte feststellen, die nicht
feinen Inhalt ausmachen.
Vor Allem müssen wir uns hüten, in ihm
etwa verwandte Anklänge an die römische Nobilität zu finden.
Der Adel,
von dem TacituS spricht, ist kein Ritterstand im Sinne der Römer.
Da
er sich auch bei solchen Stämmen vorfindet, wo von Königen nie die Rede ist, so ist auch das Königthum nicht die Quelle desselben; vielmehr waren die edlen Geschlechter der Urzeit, aus welchen die Könige gewählt wurden,
denselben völlig ebenbürtig, eine Anschauung, welche sich durch daS ganze Mittelalter hindurch erhalten hat.
Stirbt das Königliche Haus aus, so
daß sich gar kein Sprößling desselben auch in weiter Ferne mehr findet, so wird dasselbe meist wieder durch ein anderes edles Geschlecht ersetzt,
und wie großen Werth man dabei auf den Adel legte, zeigt sich nament
lich auch darin, daß sogar ein besonders edles Geschlecht eines fremden Stammes auf diese Weise zur Herrschaft berufen werden konnte.
Der
Adel der alten Deutschen beruht auch nicht auf besonderem Landbesitz, wie
Zur Geschichte des deutschen Adels.
156
überhaupt die Beschaffenheit des GrtlndbesitzeS, den er hat, von keinem Belang für seine Stellung
gewesen ist.
Auch den Anspruch auf ein
höheres Wcrgeld dürfen wir ursprünglich nicht alö ein Dorrecht des Adels
es beruht jener vielmehr zu Anfang lediglich auf der höhere»
ansehen;
Macht und thatsächlichen Anerkennung, welche dem Adel zu theil wurde:
erst in einer Zeit, in welcher die alten Zustände überhaupt sich schon um
gestaltet hatten, wurde die thatsächliche Bevorzugung in Wergeld und Buße
zu
einer rechtlichen.
So kommt denn auch nirgends ein Verbot
der Wechselheirathen zwischen Edlen und Gcmeinfreien vor, wie ein solches für die Heirathen zwischen Freien und Unfreien, ja sogar zwischen Freien und Halbfreien, allgemein besteht.
Von besonderen Abhängigkeits- oder
Schutzverhältnissen anderer Klassen der Bevölkerung zum Adel finden sich in der Urzeit keine Spuren.
Daö Recht, ein Gefolge zu halten, gebührt
nur den Fürsten, obwohl es scheint, daß durch große KriegSthaten oder
auch durch ein gewaltsames Hervordrängen von Macht und Stellung jene Berechtigung gewonnen werden konnte.
Bestimmte politische Rechte lassen
sich außer dem Anspruch auf das Königthum überall nicht nachweisen. Näher kommen wir einem richtigen Verständniß, wenn wir uns der
Art und Weise erinnern, auf welche die alten Deutschen in den Besitz
des von ihnen schließlich zu dauernden Siedelungen occupirten Landes gelangt waren.
Wir haben aus der frühesten Wirthschaftsgeschichte unseres
Volkes Heraus den Beweis entnommen, daß die Klasse der Unfreien von
fremden unterjochten Stämmen ihren Ursprung genommen.
Der Krieg
war also schon in der grauen Vorzeit, wie noch zur Zeit der römischen
Geschichtschreiber,
ein hervorragendes Element der Volksgeschichte.
Auf
dem nämlichen Principe nun, auf welchem der Gegensatz zwischen Freien und Unfreien beruht, beruht auch der zwischen den gemeinen Freien und
dem Adel.
Wie einerseits die Ueberwundenen ihre kriegerische Ehre und
ebenbannt Recht und Freiheit verloren, so gewannen andererseits einzelne hervorragende kriegerische Persönlichkeiten eine höhere Bedeutung
ihren Volksgenossen.
Um angesehene Krieger sammelte sich
leicht
unter
eine
Schaar rüstiger, ihnen treu ergebner Männer, anfangs zu vorübergehen
den Kriegszügen, späterhin als ständige Gefährten. Durch solche Comitate gehoben, erlangten Gefolgsherren nicht nur bei auswärtigen Völkerschaften, sondern auch bei ihrem eigenen Volke ein höheres Ansehen; sie bildeten
die natürlichen Häupter desselben
und man durfte sie füglich die Ersten
(principes), die Mächtigeren (potentiores, potentissimi) ihres Stammes
nennen.
Daß ihnen eine besondere öffentliche Bedeutung zukam, kann
nach dem Gesagten nicht
es ausdrücklich.
mehr befremden
Auch die Quellen bestätigen
Sie erhielten von den einzelnen Gliedern der Volks-
Zur Geschichte des deutschen Adel«.
gemeinde freiwillige Gaben zum
157
Unterhalte ihrer Gefolgschaften;
auS
ihrer Mitte, als den Tüchtigsten der Nation, wählte man vorzugsweise die Volksrichter und Heerführer; ihnen überließ man die Besorgung der
unbedeutenderen und die Vorberathung der bedeutenderen Volksangelegen heiten. Neben dem Gegensatz zwischen plebs und principes erwähnt TacituS noch einen zweiten: den zwischen ingenui und nobiles.
Die Abstammung
von einem persönlich bedeutenden Vater, von einem princeps, zeichnete dessen Sprößlinge unstreitig vor andern Freien auS; allein wirkliche Vor
rechte waren damit nicht verbunden.
Eine edle Geburt gewährte nur
insofern einen Vorzug, als tu nobiles einen weiteren Sporn persönlicher
Auszeichnung darin fanden und ihren Bestrebungen die günstigen Vorurtheile ihrer Volksgenossen zu Statten kamen.
Schon in frühester Jugend
verschaffte ihnen die Gunst eines Gefolgsherrn die ersten Rangstufen im Comitate;
waren sie zu Männern herangewachsen und hatten sie durch
ihre persönlichen Eigenschaften ihrer Geburt entsprochen, so mochten sie um so leichter eine ständige Gefolgschaft um sich versammeln und
aus
der Maße des Volks, der sic bis dahin angehörten, in die Reihe der proceres übertreten.
Der Gegensatz zwischen nobiles und ingenui be
ruhte somit auf einem Unterschiede der Geburt,
der Gegensatz zwischen
der plebs und den principes aber auf einem Unterschiede der politischen Bedeutung.
lichkeit
Sofern sich also die letztere auf eine hervorragende Persön
gründete, könnte man die principes als eine Art persönlichen
Adels bezeichnen; insoweit ihnen ihre Abstammung zu jener verhalf, auch als eine Art von GeburiSadel.
Beide Gegensätze deckten sich nicht: eine
höhere politische Bedeutung stand wohl mit einer ausgezeichneten Geburt in einiger Verbindung, nur in keiner rechtlich nothwendigen.
Zwei Hauptmerkmale ergeben sich unS also bezüglich des Inhalts des ältesten deutschen Adelsbegriffs: einmal eine Reihe bedeutender that
sächlicher Vorzüge, sodann die vollständige Unabgeschlossenheit desselben nach unten.
Die alten germanischen Geschlechter stellen durchaus keine
Kaste mit erblichen Vorrechten dar:
wäre dies der Fall, so
ließe sich
schwer begreifen, wie eine so kerngesunde und freiheitliebende Nation, wie die deutsche bei ihrem Eintritt in die Geschichte war, dem Adel so neidlos
den ersten Rang in ihrem Gesellschaftsbau überließ.
Das demokratische
Princip der ältesten Verfassung unseres Volkes ist absolut unvereinbar mit erblichen Vorrechten eines einzelnen in sich geschlossenen Standes. Was dagegen recht wohl neben jenem Platz fand, ja mit innerer Noth wendigkeit aus ihm sich ergeben mußte, das war ein nach unten offener
Stand der Tüchtigsten des Volks, Preußische 2>>hrl>ncher. 80. XLV1. Hefe 2.
der
nur dann vom Vater auf den 12
Zur Geschichte des deutschen Adels.
158
Sohn fort erbte, wenn er von diesem durch eigenes Verdienst neu erworben
wurde, und der sich mit Vorzügen begnügte, die ihm die öffentliche Mei
nung fteiwillig darbrachte.
Der älteste deutsche Adel stellt nur die Vor
züge der ganzen Nationalität auf höchster Stufe an sich dar und gleicht
sich dabei in jeder Weise mit dem Volke aus, in dessen Mitte er lebt
und von dessen Art er ist.
Nur der freien Wahl desselben verdankt er
seine Stellung, nicht eigenem festbegründeten Rechte.
Im engsten Anschluß
an da- übrige Volk zieht er alle seine Kraft lediglich aus dem Verbände mit diesem.
Daher die eigenthümlich begeisterte Anhänglichkeit, die das
Volk überall an seinem Adel zeigt, die sich am deutlichsten in der bereits hervorgehobenen Anknüpfung desselben an dir Gottheiten und Helden deS Volks äußert.
Die Urgeschichte des Adels ist unzertrennbar verflochten Wie sich die Freien überhaupt den Un
mit der deutschen Heldensage.
freien gegenüber als edlerer Art betrachteten, wie selbst ein Volk vor dem andern den Vorzug höheren Adels ansprach, so wieder die hervorragenden Geschlechter gegenüber den eigenen freien Stammgenoffen; wie das ge-
sammte Volk seine Freiheit und seinen Adel auf die Abkunft von den
Göttern stützt, so wieder im Einzelnen dessen edelste Geschlechter.
Auch
hier erscheint demnach der Adel keineswegs als eine außer oder über dem Volke stehende Classe, sondern lediglich als der persönlich gewordene Aus
druck des innersten Wesens der gemeinen Freiheit;
es hat derselbe seine
Grundlage in den Freien und besitzt alle Eigenschaften dieser letzteren nur in weit höherem Maaße.
DaS ist ohngefähr das Bild, das uns TacituS von dem Wesen des ältesten deutschen Adels entwirft.
Vergessen wir jedoch nicht, dabei eines
Umstandes uns zu erinnern, der die volle Glaubwürdigkeit des Berichts einigermaßen abzuschwächen geeignet sein dürfte.
Wir kennen die Ereigniße und Zustände der Vergangenheit nur noch
auS den Beobachtungen Anderer, unserer eigenen sinnlichen Wahrnehmung bleibt daneben nur ein sehr beschränktes Feld der Beobachtung, und sogar
diese
ist zahlreichen Schwankungen und Irrthümern unterworfen.
Der
Geschichtschreiber vollends hat bei seiner Arbeit vorwiegend ein künstlerisches
Jntereffe im Auge: er will wohl Begebenheiten erzählen, Zustände und Charaktere schildern, aber er will dies nur in einer schönen Form, zu einem bestimmten Zwecke thun.
Unter dem Einflüße der ersteren nehmen
die unvermittelt neben einander liegenden Bausteine seiner Erzählung eine
Gestalt an, von der wir nicht wissen,
ob sie dem wirklichen Bilde ent
spricht, oder ob sie nicht vielmehr lediglich ein Erzeugniß der künstlerischen Phantasie deS Historikers ist;
ist dann weiter die Absicht desselben über
das rein künstlerische Interesse
an dem schöngefügten Werke hinaus auf
Zur Geschichte des deutschen Adels.
159
die Erweckung bestimmter Affecte in dem Gemüthe des Lesers gerichtet,
dann sinkt, genau in dem Maaße als der künstlerische und sittliche Werth
der Quelle sich steigert, ihr rein geschichtlicher Werth für denjenigen, dem
es lediglich um die nüchterne Beobachtung deS factisch Geschehenen und Bestandenen jit thun ist.
des Tacitus Zeiten.
Wir bewundern mit vollem Recht die Germania
als eine der künstlerisch vollendetsten Culturstudien
aller
Aber sollte dieses Urtheil nicht ein wenig beeinflußt sein von der
stolzen und freudigen Genugthuung, daß unsere Altvordern eS waren, von
denen der große Römer ein wie WaldeSgrün und Quellenfrische inmitten
von Sonnengluth versengter Gefilde anmuthendeS Bild entworfen hat? Muß sich nicht, gerade weil die Farben desselben so wunderbar harmonisch
in einander fließen, der Zweifel aufdrängen, ob sie auch überall der wirk
lichen Gestalt der Dinge entsprechend gewählt sind? Seiner in Sinnen lust und Knechtssinn entarteten Nation wollte der große Geschichtschreiber in der Schilderung eines keuschen und fretheitliebendcn Naturvolks einen
Spiegel Vorhalten, in welchem sie ihre eigene Schande gewahr werden sollte: ist er hier nicht zu weit gegangen, indem er die fremden Sitten
zustände nicht genau schildert, wie sie wirklich waren, sondern wie er sie
sich
dachte, wie er sie brauchte,
um ein wirksames Gegenbild zu dem
Sittenbilde seines eigenen Volks zu gewinnen? Einzelnes mag auch der Beobachtung des Historikers entgangen oder von ihm mißverstanden worden
sein.
Jedenfalls ist eine Aristokratie, wie sie Tacituö als bei den ältesten
Deutschen bestehend
annimmt,
in der Geschichte noch nicht da gewesen,
oder, wenn sie einmal existirt hat, so hat sie doch sehr bald diesen reinen
idealen Charakter eingebüßt.
Ein Umstand ist eS namentlich, der sich dem
längeren Fortbestehen eines solchen Musteradels feindselig entgegenstellt. Tief in der Menschennatur begründet liegt das Streben, erworbene Vor
züge auf die Nachkommen forterben zu lassen, gletchgiltig ob diese durch
eigene Verdienste der gleichen Auszeichnung sich würdig machen oder nicht. Diesem Streben kommt dann auf Seiten der Menge ein gewisser aristo
kratischer Grundzug entgegen: man ist geneigt, den Abkömmlingen die
Verdienste ihrer Voreltern ohne weiteres zu gute zu schreiben, in ihnen die gleichen Vorzüge vorauszusetzen.
ES läßt sich ja auch nicht leugnen:
die Eltern leben in der Race der Kinder fort.
Auf dieser Uebertragung
und Fortpflanzung deS eigenen Wesens beruht die Continuität der Familie,
bet Gemeinde, des Volkes und des Staates.
Man leugnet sie wohl ge
legentlich in der Theorie, aber beachtet sie täglich in der Praxis.
Die
Kinder spiegeln schon in ihrem Körperbau, in ihrer Physiognomie, in ihrer Haltung, in ihrer Stimme das Bild ihrer Eltern wieder. 12*
Und wie
Zur Geschichte des deutschen Adels.
160
könnten wir von Familien und Geschlechtern reden, wenn diese natürliche
Erbgemeinschaft nicht da wäre? An diesen Umstand knüpft die Umwand lung deS Personaladels in einen Erbadel an, und
auch bei den alten
Germanen werden sich Einflüße dieser Art wirksam gezeigt haben, wenn gleich
hier
das
demokratische
FreiheitSprincip
gegen
die
Ausbildung
eines eigentlichen Geburtsadelsstandes unübersteigbare Schranken aufge richtet hat. Bei einzelnen deutschen Stämmen' hatte sich daneben noch aus grauer
Vorzeit her ein ächter Erb- und Geburtsadel erhalten. wissen wir von ihm nicht.
Freilich viel
Er scheint, da wir zuerst von ihm hören,
vielleicht schon im Absterben begriffen zu sein.
Jedenfalls ist er für die
Entwicklung deS späteren Adels völlig einflußlos geblieben; nur wenige
leise Spuren deuten in der folgenden Periode auf eine vereinzelte Fort dauer desselben über die heidnische Zeit hinaus hin.
Auf ihn bezieht
sich jene vorchristliche Sage des Nordens, welche, wie die Entstehung der
Stände überhaupt, so auch den Ursprung deS Adels als eines erblichen
Standes auf die erste Erzeugung der Menschen zurückführt und, ähnlich der göttlichen Schöpfung der indischen Kasten, Hörige, Freie und Edle
aus drei verschiedenen Zeugungen des menschenschaffenden Gottes entstehen läßt.
Nach dem Liede in der Edda vom Äsen Rigr, dem Schöpfer der
Stände, war schon zuvor der Stand der Unfreien und der der Freien
geschaffen.
Dann erst erhob sich der Gott zur Erzeugung der erhöhten
Freien und der Edeln.
Die Bilder, welche das alte Lied von der be
sonderen Erscheinung und Lebensart der Urstände gibt, sind sehr bezeich
nend für die Auffassung jenes alten Erbadels.
Der Freie hat „eine freie
offene Stirne, gekämmten Bart, funkelnde Augen, rothe frische Farbe",
sein Weib „trägt den Halsschmuck, auf dem Haupt die Haube, ein Tuch um den Nacken, aber in eng anschließendem knappen Kleide; sie wechseln
unter sich die Ringe".
Aber glänzender ist das Aeußere der Edeln.
Die
edle Frau erscheint „in wallendem weiten Gewand, ein Geschmeid an der
Brust,
glänzender die Braue, weißer die Brust, lichter der Nacken als
leuchtender Schnee".
Der neugeborne Jarl (der Edle), in Seide gelegt,
hat „lichte Locken, leuchtende Wangen, die Augen scharf, als lauerten
Schlangen".
In schlichtem Hause wohnt der Freie, ein Bauer, der seine
Aecker bestellt, die Scheune füllt, seine Stiere zähmt oder auch Tücher
webt.
Ihm hilft die Hausfrau in der Arbeit und spinnt vom Rocken ihr
Garn ab.
Der Edle dagegen wohnt in weiten Hallen und ist reich an
Erb und Eigen und Schlössern, reich an Gütern, die er an seine Mannen und Knechte vertheilt, reich an schlanken Pferden, an Schmuck und Ge
schmeiden.
Sein Beruf ist:
Zur Geschichte des deutschen Adels. „Linden schälen,
Sehnen winden
Bogen spannen,
Und Pfeile schäften,
161
Spieße werfen,
Lanzen schwingen,
Hengste reiten,
Hunde hetzen.
Schwerter ziehen,
Den Sund durchschwimmen."
Und Edle erlernen die Wissenschaft der Runen und den Zauber: „Menschen zu bergen,
Schwerter zu stumpfen.
See'n zu dämmen,
Die Bögel verstehen,
Feuer zu stillen,
Die See zu besänftigen.
Sorgen zu heilen."
Wo die Freiheit die gesellschaftliche Grundlage des Adels bildet, da muß dieser untergehen, sobald erstere schwindet.
als ständebildender Factor ver
Der älteste deutsche Adel, aufs engste mit der alten Demo
kratie verbunden, steht und fällt mit dieser.
In dem monarchischen Staats
wesen, wie es sich bald nach dem Schluß der großen Wanderungen von dem fränkischen Gallien aus als allein giltige Staatsform über alle Lande
der Christenheit verbreitete, war kein Platz für Ansprüche, die ihre Quelle wo anders als in dem Alles bestimmenden Willen des Herrschers suchten.
Daher die auffallende Thatsache, daß in den ältesten Quellen der fränkischen Periode keine Spur eines Adelselements im alten Sinn sich vorfindet. Das fränkisch-salische Rechtsbuch weiß nichts von einem Geburtsadel, noch überhaupt von persönlichen und rechtlichen Vorzügen, die in einem ständi schen Element begründet liegen könnten.
Als persönlicher Vorzug, der
durch die Höhe des Wehrgeldes bestimmt wird, tritt statt des Adels die Zugehörigkeit zur Gefolgschaft des Königs oder der Dienst im Heere ein.
Von einem Adel, wenn wir unter einem solchen eine GesellschaftSclasse mit anerkanntem Vorrang vor den übrigen Classen deS Volks verstehen, kann dabei noch keine Rede sein.
Aber die fruchtbaren Keime zur Bildung
eines neuen Adelsstandes waren gegeben.
Wir haben oben auf die hohe
Bedeutung des Gefolgschaftswesens für den Charakter deS ältesten deutschen
Adels hingewiesen; das Institut deS Principals ruht sogar mit seinen Wurzeln vollständig auf der im Kriege, inmitten einer Schaar treuer gebener Waffengefährten gewonnenen ausgezeichneten Stellung.
Es leuchtet
daher ohne weiteres ein, daß in einer Zeitperiode, in welcher der Krieg
mit allen seinen Abenteuern fast den ausschließlichen Inhalt der VolkSgeschichte ausmachte — und das war gerade in den letzten Jahrhunderten
der antiken Welt, im ersten Jahrhundert der fränkischen Zeit der Fall — gerade jenes altgermanische Gefolgschaftswesen eine weitere Fortbildung
erhalten
mußte.
In erster Reihe äußerte diese erhöhte Bedeutung deS
162
Zur Geschichte deS deutschen Adels.
kriegerischen Comitats ihren Einfluß auf die Bildung einer größeren An
zahl mächtiger Fürstengeschlechter.
Der germanische princeps war, trotz
der Auszeichnung, die ihm und seinen Abkömmlingen in der Volksgemeinde zustand, doch immer nur ein Orgail derselben, das mit allen seinen Be
fugnissen lediglich auf der Gewalt des LolkSwillenS basirt war: der Ge folgsherr der späteren Zeit löste sich, eben weil die Grundlage des ganzen Volkslebens eine völlig andere geworden war, mehr und mehr von jener Unterlage der Volksherrschaft ab, um seine Gewalt auf das Recht seiner
eigenen Persönlichkeit zu stellen.
Hatte er ursprünglich ein kriegerisches
Gefolge bloS zu vorübergehenden Gelegenheiten um sich versammelt und war dasselbe nach dem AuSgang des Kriegs- oder Raubzugs meist wieder
auseinander gegangen, so schloß jetzt daS zur Regel, zum ausschließenden Lebensinhalt gewordene kriegerische Handwerk
einem dauernden Verbände zusammen. Auffassung noch zweifelhaft sein,
Führer und
Gefolge zu
Konnte eS nach altgermanischer
ob nicht die strenge Abhängigkeit im
Dienste eines Gefolgsherrn die Standesehre schmälere, so galt jetzt solcher Dienst als eine Auszeichnung unter sonst gleichstehenden Genossen.
Gerade
der Umstand, daß der Germane, dem im Uebrigen jeder Dienst — und
bestände derselbe auch nur in einem von ihm innegehabten, einem Andern eigenthümlich zugehörigen Grundstück — wie eine mit dem Principe der
gemeinen Freiheit unvereinbare Fessel erschien, den kriegerischen Dienst im Gefolge eines Mächtigen für nicht freiheitschmälernd ansah — nec rubor
inter comites adspici sagt TacituS — gibt den schlagendsten Beweis
von dem hohen Ansehen, in welchem das Institut der Gefolgschaft schon bei den ältesten Deutschen gestanden hat, wenn freilich dieses Ansehen vorerst noch nicht so weit gestiegen war, daß der Gefolgsdienst höhere
Standesehre verliehen hätte.
DieS letztere wurde erst möglich, als daS
alte demokratische Gemeindeprincip aufgehört hatte, die Alles bestimmende Grundlage des Volkslebens auszumachen.
Ein förmlicher Codex gefolg
schaftsrechtlicher Bestimmungen bildet sich nunmehr auS.
Strenger Ge
horsam auf der einen, Gewährung von Schutz und Antheil an den Er rungenschaften des Krieges auf der anderen bildeten die Grundbedingungen
des Verhältnisses.
In der Verherrlichung des Führers erblickten seine
Getreuen den Gegenstand ihrer heiligsten Verpflichtungen; sie wetteiferten mit ihnen in Thaten der Tapferkeit, deren Vollbringung jedoch nicht ihnen selbst, sondern ihrem Führer zum Ruhm gereichte.
Wenn er im Kampfe
fiel, war es entehrend für daS ganze Leben und schmachvoll, den Fürsten
überlebend auS der Schlacht gewichen zu sein. für den Fürsten, der Fürst für den Sieg.
Die Begleiter stritten nur
Die Gefolgsherren dagegen,
deren Ansehen nächst ihrer eigenen Tüchtigkeit auf dem Glanze ihres Ge-
Zur Geschichte des deutschen Adel«.
163
folge« beruhte, strebten durch das zahlreichste und tapferste Comitat sich die
Daher die reichen
überwiegendste politische Bedeutung zu sichern.
Zuwendungen an Waffen
äußeren Vortheilen.
und Rossen,
an Kriegsbeute und
sonstigen
Im Uebrigen bestand die Gefolgschaft keineswegs
bloß als eine Geleitschaft im Kriege, sondern bildete ebenso im Frieden, wenn auch in verringerter Anzahl, das Ehrengefolge des Führers.
Da
mithin alle Bestrebungen der Gefolgschaft auf einen Mittelpunkt, auf ihren Führer, zusammentrafen, und dieser die ihm zu Gebot stehenden Kräfte
nicht sowohl für ein Standesinteresse gegen die Freien, als vielmehr für
die Erweiterung seines eigenen politischen Einflusses gegenüber anderen
Principes einsetzte, so ist es auch erklärlich, wie sich vorerst daS monarchische Princip kräftiger als das aristokratischste entwickelte, und wie gegen daS Ende dieser Periode nicht etwa ein scharf ausgeprägter Adelsstand, son
dern eine größere Anzahl von Fürstengeschlechtern hervortrat.
Gerade nun
aber in den Mitgliedern einzelner fürstlicher Familien, welche vermöge
Geburtsrechts in die Krone succedirten, kam zuerst ein eigentlicher Ge burtsade! zur Erscheinung. Die Aufgabe, alle diese zahlreichen größeren und kleineren StammeSfürsten unter einer einzigen Herrschaft zu vereinigen, war einem genialen
Häuptling der salischen Franken vorbehalten.
Die Gründung deS großen
Frankenreichs durch Chlodowech ist auch für die Entwicklung deS deutschen
Adels von einschneidendster Bedeutung geworden.
Was wir eben über
die Ausbildung des Gefolgschaftswesens bemerkt haben gilt in gesteigertem Maße auch für die erste Zeit des fränkischen Reichs.
Das Dienstgefolge
des fränkischen Königs bildet einerseits gleichsam das Musterbild,
die
höchste Blüthe der Entwicklung, wie es anderseits wieder der Ausgangs punkt für eine völlig neue Schöpfung, wie sie unS fertig in dem Feudal adel des Mittelalters vorliegt, geworden ist.
Versuchen wir eS, in kurzen
Zügen das Wesen deS königlichen Dienstgefolges zu schildern!
Eine Bezeichnung desselben ist es vorerst, die uns einen tiefen Blick in den 'Charakter des Verhältnisses thun läßt: die Bezeichnung deS Ge folges mit convivae regis.
Es drückt diese daS enge Band aus, in dem
König und Gefolge nicht nur im Kriege, sondern auch während der ganzen übrigen Zeit ihres Lebens zu einander stehen.
Namentlich der eigentliche
Hofdienst, der vorzugsweise in jene Bezeichnung mit eingeschlossen ist, ist
für die spätere Gestaltung deS Adels bedeutsam und vorbildlich geworden. Am Hofe war jedem Gefolgsmann fein eigenes Geschäft angewiesen, und hieraus entwickelte sich, zum Theil an byzantinische Einrichtungen sich an
schließend, eine Reihe von Hofämtern, deren jedes ursprünglich nur für die Privatbedürfnisse deS Königs zu sorgen hatte, die aber später geradezu
Zur Geschichte des deutschen Adel«.
164
in wahre Staatsämter übergingen.
Der König war durchaus an keine
Bedingung hinsichtlich derer gebunden, welche er in sein Dienstgefolge und
in die Umgebung seiner Person aufnehmen wollte.
Dieser monarchische
Dienstadel wurde im Gegensatz zu dem alten demokratischen Nationaladel
aus allen Elementen der Gesellschaft zusammengeschöpft; es kam dabei zu nächst so wenig auf das Blut in den Adern dieses neuen Adels an, daß
selbst Freigelassene die Leiter des Königsdienstes bis Ehrenstufen emporklimmen konnten.
zu
den höchsten
Diese Gefolgsleute nun gebraucht
der König naturgemäß als seine nächsten Rathgeber.
Besondere Ver
trautheit mit ihm einerseits und großes Ansehen beim Volke wegen ihrer kriegerischen Lebensweise andererseits befähigten sie dazu vor Allen.
Aus
ihnen nimmt er die Anführer zu Kriegszügen, Statthalter über unter
jochte Länder, ja sogar Könige für unterworfene Völker, Vormünder für minderjährige Könige; die Geschichtsschreiber nennen in dieser Beziehung
vornehmlich ehemalige Sklaven als damit Beauftragte.
Seinen Gefolgs
leuten überträgt der König wohl auch am liebsten die ständigen Aemter
eines Herzogs, Grafen, Aldermannes, Schultheißen und dergleichen, so bald er über diese zu verfügen die Macht hatte. Die Auszeichnungen für diese Königsdienstleute beginnen mit der
Hochstellung
ihres Wehrgeldes.
Der König ließ sich für die Tödtung
oder Verletzung eines ihm Dienstbaren neben dem volksrechtlich dem Ver letzten gebührenden Betrage von Wehrgeld oder Buße noch eine weitere
Summe für die Verletzung seines Schutzrechtes bezahlen; später wurde diese von ihm, wie eö scheint, dem Beleidigten selbst überlassen, so daß nunmehr dessen Wehrgeld und Buße erhöht erscheint.
Für den Antrustio
beträgt dasselbe gerade dreimal so viel als für den freigebornen Franken, während der römisch-geborne Dienstgefolgsmann, der vorzugsweise als
Tischgenosse des Königs bezeichnet wird, in dieser Abstufung nur halb so viel gilt als der fränkisch-geborne Antrustio.
Da der Antrustio zunächst
als ein unter dem besondern Königsschutz stehender Freier betrachtet wird,
so steht dadurch seine Schätzung zu einem dreifachen Wehrgeld an ihrer
richtigen Stelle; denn eö erscheint als ein allgemeines Princip in den
Volksgesetzen, daß die zum königlichen Dienstgefolge Gehörigen nach einem Dieser Maßstab
um das Dreifache erhöhten Maßstab geschätzt werden.
der Verdreifachung des Werthes kehrt dann auch im Felde wieder, wo die Schätzung
des Antrustio sich auf 1800 Solidi steigert,
aber auch nur
wieder in regelmäßiger Einhaltung der Scala, indem dann auch der Gemetnfreie, der sonst 200 gilt, aus 600 erhöht wird.
Die übrigen Vor
züge, deren der Antrustio genoß, erscheinen deßhalb weniger formulirt,
weil sie ganz der individuellen Entwicklung angehörten, die sein persön-
Zur Geschichte des deutschen Adels. licheS Verhältniß zum Herrn nahm.
165
Ihre Stellung vor Gericht scheint
aber nicht minder eine bevorzugte gewesen zu sein. Doch ist das Gefolge nicht der einzige Bestandtheil der neu sich
bildenden Aristokratie: als ein zweiter kommen noch hinzu die Staats beamten.
Diese waren wahrscheinlich schon zur demokratischen Zeit durch
höhere Buße und höheres Wehrgeld geehrt.
AlS die Macht der Volks
gemeinde in die Hand des Königs übergegangen war, wurden die Beamten
von diesem ernannt; in ihrer äußeren Stellung änderte sich dadurch aber weiter nichts, als daß sie die Treue, die sie bisher der Gemeinde ge schuldet hatten, nunmehr auf den König übertrugen.
Damit traten sie
aber sofort in ein Verhältniß, welches dem der Gefolgsleute sehr ähnlich war, obwohl man sie mit diesem keineswegs zusammen werfen darf; wie die Gefolgsleute sind auch sie nunmehr dem Könige zu besonderer Treue
verbunden und genießen daher dessen Schutz, während sie andererseits ihren alten Einfluß sich großentheits erhalten haben. Aus beiden Elementen,
der Gefolgschaft und
den Staatsbeamten,
entwickelt sich nunmehr eine
Aristokratie des Dienstes, welche, erst schwankend und nichts weniger als
selbständig, allmählich sich befestigt und zuletzt zu einem wahren Adel her anwächst. WaS dem neuen Dienstadel in den ersten Jahrhunderten feinst Ent
wickelung noch fehlte, um für einen in sich abgeschlossenen Adelstand gelten
zu können, war namentlich das Princip der Erblichkeit.
Dieses lag durch
aus nicht in der Natur des neuen Verhältnisses, das aus individuellen
Beweggründen eingegangen und aus denselben wahrscheinlich auch wieder
gelöst werden konnte.
Doch beginnen derartige Stellungen oder wenigstens
ihre Vorzüge hier und da bereits auf die Söhne sich zu übertragen.
Es
wurde das in gleicher Weise von den Interessen der Krondienstleute wie
des Königs geboten.
Den ersteren gewährte der Königsdienst zu bedeu
tende Vortheile, als daß sie demselben die Unabhängigkeit des einfachen freien Grundherrn vorgezogen hätten; der König hingegen mußte bei den
zahlreichen inneren Streitigkeiten stets dafür Sorge tragen, diese einfluß
reichen Geschlechter immer von neuem
an sich zu fesseln.
Dies letztere
scheint aber hauptsächlich durch die Knüpfung der Aristokratie an den Grundbesitz vermittelt worden zu sein, wie solche in dem Benefizialwesen sich ausspricht; doch ist nicht zu verkennen, daß auch abgesehen hievon der
durch das ganze deutsche Rechtsleben gehende Trieb nach Erblichkeit öfters
zu Erscheinungen geführt hat,
aus welchen
ein solcher Adel erwachsen
konnte.
Aber auch sonst mußte die volle Entfaltung dieser neuen Aristokratie
durch einige andere Umstände vorerst noch znrückgehalten werden.
Einmal
Zur Geschichte de« deutschen Adels.
166
genoß, trotz deS UebergangeS deS Herrschaftsprincips von der Volks
gemeinde auf den König, die gemeine Freiheit immer noch eine so hohe Bedeutung, daß sogar Adel und Freiheit geradezu für identische Begriffe
galten,
und selbst der
Eintritt
in daS königliche Dienstgefolge
von
Manchen als eine beschimpfende Erniedrigung der angestammten Freiheit Gleichwohl gestalteten sich schon in der gegenwärtigen
betrachtet wurde.
Periode — abgesehen von dem Aufkommen deS KönigSdienstcs — manche Verhältniße, welche den Werth der gemeinen Freiheit herabzudrücken
Wegen mangelnden Grundbesitzes waren viele Freie genöthigt,
drohten.
sich auf den Gütern wohlhabender Grundherren niederzulassen
denselben gleich den Unfreien entweder
und
sich
als Bauern zu Abgaben und
knechtischem Dienste oder als Vasallen zu gefolgschaftlichen Obliegenheiten
zu verpflichten.
wurde zwar im Allgemeinen ihre politische
Hierdurch
Stellung noch nicht verrückt:
sie huldigten dem Könige, sie dienten im
Heerbanne und erschienen auf dem Grafendinge wie die freien Allodial besitzer.
Wurde also auch durch solche Abhängigkeitsverhältniße die persön
liche Freiheit nicht aufgehoben, so blieb doch eine Schmälerung derselben
zurück, welche wiederum auf d,ie Schätzung der von ihr Betroffenen un
günstig einwirken mußte.
In dem Maaße aber,
in welchem ein Theil
der gemeinen Freien unter das Niveau der Freiheit herabsank, stieg ein anderer — eben die reichen und angesehenen Grundherren — über dasselbe
hinaus.
Diese fielen aber vorerst keineswegs mit den königlichen Gefolgs
leuten zusammen; es konnten vielmehr neben denselben noch eine Anzahl von jedem Dienstverbande unabhängiger vornehmer Freier existiren, die an äußerer gesellschaftlicher Schätzung die Erstgenannten aufwogen, viel
leicht sogar überboten. vornehmen Freien
Jedenfalls sind wir nicht befugt, diese unabhängigen
in einer Zeit, in welcher der neue Adelsbegriff sich
noch so wenig fixirt hatte, von diesem auszuschießen; die Theilnahme am
Gefolge deS Königs war bislang wohl der wichtigste, nicht einzige Factor in jenem Werdeproceße.
aber der
Das Wort Adel findet demgemäß
vorerst auch noch Anwendung auf die verschiedenartigsten Verhältnisse, in
denen Volksgenossen als hervorragend über die Menge erscheinen,
vor
zugsweise gerade auf die, welche auf eigenem Grund und Boden saßen
und aller der Rechte theilhaftig waren, die von Alters her den Freien zustanden.
In den Schenkungsurkunden aller Stämme wird „adelig" un«
zählige Male in diesem Sinne gebraucht, auch Standesgenossen oder der selben Person, sei es abwechselnd, sei es zugleich, Adel und Freiheit bei
gelegt: man spricht von freiem Adel, von Adel der Freiheit.
Und wenn
mitunter Adlige und Freie neben einander genannt werden, so ist es eben auch nicht anders, als wenn die verschiedensten Ausdrücke für diese zu-
Zur Geschichte des deutschen Adels.
167
sammengefügt sind, um den weiten Umfang, den der Stand der Freien
hat, vollkommen zu begreifen und die verschiedensten Bestandtheile desselben zusammenzufassen, derselben
unter Umständen vielleicht wieder die Angeseheneren
herauözuheben.
So
stehen die
Adligen auch
allgemein im
Gegensatze zu dem gemeinen Volk, den Bauern: man theilt das ganze Volk in Adlige und Unadlige. So lange nun die äußere Stellung der Dienstleute noch keine vor
dem übrigen Volke wesentlich ausgezeichnete war, konnte von einer eigent
lichen Aristokratie des Dienstes noch keine Rede sein.
Diese Bezeichnung
wird erst möglich, nachdem die Gefolgschaft sich über die ganze vornehmere
Klasse deS Volkes ausgedehnt und allen oder doch fast allen Einflllß im
Staate an sich gezogen hatte. wahrhaften Aristokratie
Ein weiteres Hinderniß der Bildung einer
lag darin, daß
die rechtliche und thatsächliche
Stellung der KönigSdienstleute lange Zeit hindurch von der freien Willkür
deS Königs als Dienstherrn abhängig war.
Ein bedeutsamer Fortschritt
zur Gewinnung eines freieren Standpunkts lag nun bereits in der von
unS schon oben namhaft gemachten Erhöhung des Wehrgelds und der Buße, beziehungsweise der Zuschlagung der Königsbuße zu dem einfachen Wehrgeld des Gefolgmanns.
Aber auch sonst gelang
dienstleuten, ihre Stellung mehr und mehr zu festigen.
es den Königs Zu Statten kam
ihnen bei diesem Bestreben namentlich die Schwäche der späteren mero-
vingischen Könige und deren Verwicklung in zahllose Kriege.
Es bildete
sich unter solchen Einflüssen eine förmliche Corporation königlicher Dienst männer aus, mit bestimmten Rechten und Ansprüchen nicht sowohl gegen
das übrige Volk, als vielmehr gegen den König.
Und von Franken aus
verbreitete sich diese Entwicklung nach dem innern Deutschland und nach Italien, zu den Westgothen und Angelsachsen.
Hatte bis dahin der König
als der absolute Spender aller Rechte und Gnaden gegolten, so daß das persönliche Verhältniß zu ihm ausschließlich den größeren oder geringeren
Grad von Bedeutsamkeit jedes Staatsangehörigen geregelt hatte, so be
trachtete das Volk nunmehr die Ehre und die Vorzüge der Dienstleute für in ihrer eigenen Stellung begründet; der König sah dieselben sich ge
genüber zu einer selbständigen Macht erwachsen, die zu brechen ihm die Kraft fehlte.
Alle bedeutenden Aemter des Staates und Hofes werden
ihnen anvertraut, bei allen wichtigen Angelegenheiten müssen sie zu Rathe gezogen werden.
So vollendete sich allgemach die Umwandlung der alten Geburts stände in HerrschaftSklassen. Ich habe hier nur die Entwicklung des Adels
zu verfolgen; dennoch glaube ich von dem allgemeinen historischen Gang, den ohngefähr vom 6.—8. Jahrhundert im ganzen christlichen Europa die
Zur Geschichte des deutschen Adels.
168
Geschichte der ständischen
Grundzüge
genommen hat,
Verhältnisse
einige leitende
als auch für unsere spezielle Aufgabe wichtig kurz andeuten
zu dürfen. Nächst dem Uebergang des Mittelalters in die neuere Zeit ist keine Zettperiode von solcher Wichtigkeit für die Gesellschaftsgeschichte, als gerade die Epoche der merovingischen Könige.
Allgemein tritt in dieser eine
durchgreifende Umwandlung der Geburtsstände hervor, beruhend auf der
steigenden Bedeutung aller herrschaftlichen Verhältnisse, verbunden mit dem Zurückweichen der genossenschaftlichen.
Einst standen Adlige, Freie und
Liten in scharfer ständischer Sonderung,
und unter ihnen die unfreien
Knechte; nur die Freilassung bahnte den Uebergang von der Rechtlosigkeit dieser wenigstens zu einem besseren Recht.
Nun sind die alten Ordnungen
Ein Prozeß der Zersetzung ist von unten nach
in Auflösung begriffen.
oben immer weiter geschritten.
Die zahlreichen Freilassungen, welche bald
nicht blos die mindere, sondern auch die volle Freiheit gaben, brachten
der Volksgemeinde
weiteres
stets neue Elemente zu, welche doch nicht so ohne
mit dem alten Stamm
der Bevölkerung verwachsen konnten.
Zu den Formen des heimischen Rechts kommen die fremden hinzu, zu den
Abhängigkeitsverhältnissen, welche dort mit der Ertheilung von Land zu
sammenhingen,
die des Patronats und der Clientel, welche sich dann
wieder mit denen deS deutschen Mundiums und mit anderen freieren auf Treue und persönliche Ergebenheit
beruhenden Verbindungen
mischten.
Auch Deutsche, die kein eigenes Land hatten oder einen mächtigen Schutz
suchten, treten freiwillig oder gezwungen in solche Verhältnisse ein, aber
bald dienten sie für den Preis ihrer Freiheit,
aus-verschiedene Weise:
bald wurden sie Colonen; hier gaben sie sich in persönlichen Schutz, dort übertrugen sie ihr Land und behielten bloß einen Nießbrauch.
Zugleich
brachte die Eroberung größere Landbesitzungen in eine Hand, die zu ver änderten Wirthschaftseinrichtungen Anlaß gaben und den Inhaber häufig auch zu einem Herrn über zinöpstichtige Ackerbauer machten.
Besonders
in den westlichen und südlichen Gegenden deS erweiterten deutschen Landes
war dies der Fall; diese wurden der Sitz großer Grundbesitzer, die Wiege
mächtiger Geschlechter.
So schwand die alte Regelmäßigkeit in der Ver-
theilung der Aecker, auf der die Gleichberechtigung der Freien wesentlich
beruht hatte.
Dagegen erlangten alle Verbindungen, mochten sie auf Amt
und persönlichem Dienst oder auf dem Empfang königlicher Güter beruhe», eine steigende Wichtigkeit.
Es ist nicht mehr die Genossenschaft der Freien
allein, welche in Betracht kommt, sondern das Volk in allen seinen Be
standtheilen und seiner mannigfachen Gliederung.
ES ist nicht die Ge
sammtheit wesentlich gleichstehender gleichberechtigter Volksgenossen, welche
Zur Geschichte des deutschen Adels.
169
den Staat ausmacht, sondern verschiedene Reihen sich über einander er
hebender Personen und Gewalten führen hinan bis zu den Stufen deS Die einen haben sich den anderen übergeordnet, ja sie fangen
Thrones.
an, diese so von sich abhängig zu machen, daß sie auS der unmittelbaren
Verbindung mit dem Oberhaupt des Staates und mit dem Staate selbst hinaustreten.
Ganz besonders kam diese Umwandlung den königlichen Dienstleuten
zu statten.
Dazu trat dann noch als ein weiteres die Gleichartigkeit der
ihrer Klasse Angehörigen, ihre feste Abschließung gegen außen begünstigendes Moment die Ausdehnung des königlichen Dienstverbandes über die ganze vornehme Klasse deS Volkes.
Dies letztere war das Ergebniß der stetig
wachsenden Bedeutung des Benefizialwesens, welches in seinen Anfängen wiederum aufs engste mit dem Gefolgschaftswesen zusammenhängt.
Schon
Montesquieu hat mit intuitivem Scharfblick den Ursprung des gesammten
LehnwesenS, dieses spezifisch germanischen Institutes, in der Gewohnheit der alten Germanen gefunden, sich, wo es sich um die Ausführung eines größeren EroberungS- oder Raubzuges handelte, freiwillig unter den Be fehl eines prineeps zu stellen und dessen Führerschaft unbedingt anzuer
kennen.
So oft nun ein germanisches Volk einen neuen Landstrich eroberte
und besetzte, wurde ein Theil deS Grund und Bodens unter die Eroberer vertheilt unb von diesen in Besitz genommen. türlich solchen,
die die
Der König erhielt na
größten Ländereien und von diesen überließ er gewöhnlich bei ihm in besonderer Gunst standen oder die sich durch
Tapferkeit um daS Gelingen des Eroberungs-ZugeS besonders verdient
gemacht hatten, größere oder kleinere Stücke als Lehen.
Im Uebrigen
beließ man den Boden im ruhigen Besitz des unterjochten Volkes — nicht
auS irgend welcher der damaligen Zeit unverständlichen Großmuth, son dern aus dem einfachen Grunde, weil in den dünnbevölkerten und durch
fortwährende Kriege arg decimirten Landstrichen noch genug herrenloser Grund übrig war, der für den Sieger vollständig ausreichte.
DaS sind
die Anfänge des mittelalterlichen Lehenswesens, dessen weitere Entwick
lung — so wichtig sie für die Geschichte unseres Adels geworden ist — wir hier auch nicht einmal kurz skizziren können.
Es genüge die Fest
stellung der Thatsache, daß durch die Aufnahme eines dinglichen Moments — eben jener königlichen Landverleihung an das Gefolge — in das ur sprünglich rein persönliche Treuverhältniß die Idee des GefolgschaftSwesens, wie ihren endgiltigen Abschluß, so auch ihre Ausdehnung auf
den gesammten Kreis aller durch irgend welche Vorzüge ausgezeichneten Personen erlangt hat: das Benefizialwesen ist der Schlußpunkt des neuen
ständischen Umbildungsprozesscs, aber auch die alle mittelalterlichen Lebens-
Zur Geschichte des deutschen Adels.
170
Verhältnisse beherrschende, befruchtende und erfüllende Idee.
Nur wer ein
wenn auch noch so geringfügiges Glied in der Kette auSmacht, die nun
mehr, von dem Könige als letztem und oberstem Herrn alles Bodens und
Inhabers aller Rechte ausgehend, die ganze Gesellschaft mit allen ihren Rechten und Pflichten, allem ihrem Thun und Lassen umschließt, hat An
spruch auf politische und sociale Geltung.
Auch andere Volksklassen, wie
der Bürger- und Bauernstand, andere Lebenskreise, wie die Kirche, haben sich diesem allbeherrschenden Einfluß der Lehensidee nicht entziehen können: doch ist es naturgemäß, daß ihre Wirkungen sich am lebhaftesten und ein-
schneidensten bei derjenigen Gesellschaftsklasse fühlbar machten, bei welcher sie zuerst zur Erscheinung gekommen waren, deren ganze Lebensart und
sociale Aufgabe die engste Verwandtschaft mit ihr aufwies, die endlich ihrer Spitze, dem Könige als obersten Lehnsherrn, zunächst in der Rang ordnung stand.
Die Vornehmen deS Volks — beruhe nun die Grund
lage ihrer Auszeichnung auf ihrer Verbindung mit dem Könige, auf großen Grundbesitz, auf Abstammung von einem besonders verdienten Geschlechte
oder auf Vorzügen irgend welcher Art — hatten bis dahin eine natür
liche Aristokratie, wie sie jedes Culturvolk in sich schließ!, gebildet;
in
dem Dienstgefolge des Königs war dann auS ihrer Mitte eine Gesellschafts klasse aufgetreten, welche den fruchtbaren Keim zu einem wirklichen Adel in sich trug: das Streben nämlich, factische an die Einzelperson geknüpfte Vorzüge in erbliche Familien- und Standesvorrechte zu verwandeln — ein Streben, das Verwirklichung namentlich dadurch erfuhr, daß, während bis dahin der Genuß persönlicher Auszeichnung ein Gnadenact des Königs
war, nunmehr die Gefolgsleute in corporativen Zusammenschluß ihrem Herrn
gegenüber sich zu einem gleichberechtigten Factor emporarbeiten
und ihre dadurch bereits wesentlich gefestigten Vorrechte noch weiter da
durch zu stützen sich anschicken, daß sie dieselben dinglich radiziren, mit Grundbesitz in Zusammenhang bringen.
Oberflächlich betrachtet änderte
dies an dem Wesen ihrer Rechte noch nichts, da die Lehen von Anfang
an ebenfalls nur auf Ruf und Widerruf gegeben wurden, der Verleiher nicht bloß ideeller, sondern factischer Eigenthümer blieb.
Aber es ist doch
ein gewaltiger Unterschied, ob die Ertheilung von Vorrechten lediglich an die Person des Begnadigten geknüpft ist, oder mit ihr zugleich jene Land leihe verbunden wird.
ES mag eine solche auch in der dem Beliehenen
wenigst günstigen Form, sie mag auch ganz ohne inneren Zusammen
hang mit der persönlichen Stellung desselben erfolgt sein,
so wird sich
doch alsbald ein doppelter Vorgang bezüglich des Verhältnisses zwischen
Leihendem,
Belehnten und Lcihgegenstand bemerkbar machen.
Zunächst
trachtet die flüchtige Form nach fester, dauernder Gestalt: aus der Leihe
Zur Geschichte de« deutschen Adels.
17'1
auf Zeit wird eine solche auf Lebenszeit des Empfängers, dann eine Erb iethe; in diesem Stadium erhält sich dann das Verhältniß lange Zeit,
weil meist das faktische Besitzrecht deS Erbbelehnten dem wahren Eigen
thum sehr nahe kommt, bis schließlich die Umwandlung in ächtes Eigen
fast kaum mehr als Vortheil empfunden wird.
Noch merkwürdiger ist die
Wandlung, welche das Verhältniß zwischen dem Belehnten und dem Lehens
stück erfährt.
Wir machen hier nämlich schon bald die Beobachtung, daß
der Belehnte seine persönlichen Vorrechte so sehr mit dem von ihm leih
weise besessenen Grund und Boden im Zusammenhang bringt, daß nicht mehr die Person, sondern daS Gut als der Träger der ausgezeichneten Stellung seines Inhabers erscheint.
ES ist daS eine wirthschaftliche That
sache, die ihre Erklärung zumeist in den conscrvativen Charakter alles
Grundbesitzes, findet.
aller
der Bodenbearbeitung zugewandten Hantierungen
Es ist daher ein Ereigniß von der größten Tragweite gewesen,
alS die königlichen Gefolgsleute aufhörten, ihre Zeit nicht mehr ausschließ lich zwischen Krieg und Hofdienst zuzubringen, sondern daneben sich der
Bewirthschaftung des ihnen vom Könige verliehenen Landes zu unterziehen.
Aber noch ein anderes folgte aus dieser Radizirung des Königsdienstes
auf Grundbesitz.
den
Bis dahin hatte nämlich eine scharfe Trennung zwischen
Gefolgsleuten
und
den
übrigen angesehenen Persönlichkeiten
des
Volkes bestanden; es hatte an einem Band gefehlt, das alle diese hervor
ragenden Volkselemente zu einer Corporation mit gemeinschaftlichen Inter
essen zusammengeschlossen hätte; der königliche Dienstmann befand sich,
wenn er nicht in kriegerischen Unternehmungen auswärts war, am Hofe des Fürsten, der reiche Grundherr dagegen saß vereinsamt, ohne den ge ringsten Zusammenhang mit dem Getriebe des Hoflebens und der Staats
verwaltung, auf seinem Herrengut, umgeben von zahlreichen Hörigen und sonstigen Abhängigen, über die er allerdings wie ein kleiner Fürst herrschte, ohne daß jedoch dieser sein Herrschaftsbezirk in näherem Contact mit dem Staate als solchem stand.
Die alten Grundlagen der Volksfreiheit, die
solche kleinen und kleinsten Herrschaftskreise wesentlich zu ihrer Unterlage
gehabt hatte, war geschwunden und an ihrer Stelle die absolute Monarchie
getreten: noch bestanden allerdings die alten Formen der demokratischen Zeit, aber sie waren taube Schalen geworden, in denen der volle Frucht
kern auf ein Minimum zusammengeschrumpft war; noch immer besuchte der freie Grundbesitzer die alten Volksdinge, ja er wurde dann und wann
sogar zu allgemeinen Hof- und Reichstagen entboten, aber dort präsidirte jetzt ein königlicher Beamter, das Urtheil wurde in dessen Namen gefällt
und von seinem Unterbeamten vollzogen, hier stand die Berufung völlig in der Willkür des Königs und auch so erschien die Einholung des Volks-
Zur Geschichte des deutschen Adels.
172
willen- fast nur noch als eine Formalte; auf die Fassung der wichtigsten Beschlüsse ist derselbe so gut wie einflußlos gewesen.
Jetzt dagegen war
die Möglichkeit gegeben, auch ohne daß man den strengen Anforderungen
des GefolgSdiensteS sich unterzog, in ein diesem ähnliches persönliches Ver hältniß zum Könige zu gelangen.
Der König hatte selbst die treffende
Parole auSgegeben, indem er seinen Dienstmannen Güter, Höfe und Forsten anwieS.
Diese Belehnung wurde nun Vorbild und Antrieb für die un
abhängigen Grundherren.
Wenn sie in Form und Ehre mehr sein wollten
als Grundbesitzer, die blos durch die größere Zahl der Aecker und Hörigen
sich von den gemeinen Freien unterschieden, so gab es jetzt eine bequeme Art, dieS zu bethätigen, eben jene persönliche Verbindung mit dem Fürsten,
welche das LehenSband gewährte. festen und
Das war daS Mittel, um an Hos-
bei anderen Gelegenheiten einen hohen Stand einzunehmen.
Und lockte nicht auf diesem Wege die Aussicht, Aemter und Güter zu er
langen, Zölle, Zehnten und Vogteirechte über Kirchen und Klöster, die man nicht selbst gestiftet? Auch sanfte Gewalt deS Fürsten mochte mit
wirken, daß allmählich die großen freien Grundbesitzer sich in seine LehenSmannen umwandelten.
Sie trugen ihm ihre Güter auf, d. h. der Form
wegen übergaben sie ihm dieselben, um sie unter dem feierlichen Treuge löbnisse als Lehngüter wieder zu empfangen.
Nur Wenige erhielten sich
frei von aller Lehnspflicht, sie trugen ihre Burg sammt den zugehörigen Höfen von Keinem zu Lehen als von der Sonne, welche Thurm und Aecker in ihren Strahlen glänzen ließ. Sonnenlehen.
Man nannte ihr Besitzthum ein
War ihr Gebiet einigermaßen ansehnlich, so trachteten sie
reichsunmittelbar zu werden.
Auf diese Weise vollzog sich die Verschmelzung der Dienst- und Lehensmannen zu einem mächtigen Adelsstände mit bestimmten StaatS-
Wohl lebte in den Lehensmannen die Erinnerung, daß sie mit
interessen.
Person und Gut nicht, wie die Dienstleute, aus der Unfreiheit hervorge gangen.
Doch das gleiche adlige Leben, das gleiche Vermögen und An
sehen bei Hofe und im Lande, der gemeinschaftliche Dienst bildete eben soviel leichte Uebergänge zwischen beiden Klassen.
Wo das Wesen einer
Sache besteht, bleibt auf die Dauer auch der Rang nicht aus.
Die Erben
der vornehmsten Hofämter saßen mit ihren glänzenden Titeln längst auf ihren Gütern, nur noch ihr Amt.
bei seltenen und feierlichen Anläßen verrichteten sie
Die stolzesten LehenSmanncn hatten kein Bedenken mehr,
sich um solche Aemter voll Ehren mit wenig Dienst zu bewerben.
WaS
aber Lehens- und Dienstmannen mehr verschmolz als gleiches Ansehen und Besitzthum war der gemeinschaftliche Gewinn und Schaden; ihre An
strengungen
hatten ganz dasselbe Ziel nach oben und nach unten.
Fest
Zur Geschichte deS deutschen Adels. standen die Belehnten dem Herrn gegenüber
verbündet
173 und
schirmten
jedes ihrer Mitglieder mit den Waffen in der Hand bei seinem Besitze. Wollte jener Gehorsam, so fand er stillen Widerstand, der nicht zu brechen war; wollte er Dienste in der Noth, so mußte er sie mit neuen Gütern
und Zugeständnissen erkaufen. So wurde die königliche Herrschaft allmählich ihres Inhaltes ent
Das Land zersplittert in unabhängige Herrschaften, der König
leert.
nichts als Häuptling der Adelsherren, — das war das Ideal der Va
sallen.
Durch Lehens- und Diensthörigkeit waren die großen Grundbesitzer
hindurchgegangen, um zuletzt sich wieder in germanischer Weise frei und
eigenherrlich auf ihrem Gebiet zu finden, zahlreicher und mächtiger als jemals in der alten Zeit.
Blos in Deutschland gab es kein Hemmniß
gegen diese unglückliche Zersetzung.
In Spanien fesselte der Kampf gegen
den maurischen Erbfeind alle Kräfte der Nation, daß sie an den König
gebunden blieben. In England hatte die normannische Eroberung ein ähnliches Resultats In Frankreich wurde es erreicht durch die Jahrhunderte lang fortgesetzte Politik eines einzigen Königshauses, welches schon von den Römern her die Gewöhnung an eine centrale Regierung vorfand. In dem weiten deutschen Reiche fehlten alle diese Thatsachen: hier mußte der Lehensstaat zuletzt das Reich in Fürstenthümer zersplittern, aber das
selbe Princip suchte auch die Fürstenthümer in Baronien zu zersetzen. Es würde uns hier zu weit führen, wollten wir die Umwandlung
der alten Reichsämterverfassung in den mittelalterlichen Feiwalstaat näher
darlegen.
Wir müssen uns mit obigen kurzen Andeutungen begnügen und
unsere Aufmerksamkeit nunmehr auf die Folgen richten, welche jene Um bildung der äußeren Reichsverfassung speziell für die Gestaltung des deut schen Adelsstandes nach sich gezogen hat.
(Schluß folgt.) Posen.
Preußische Jahrbücher. Sb. XLV1. Heft 2.
Christian Meyer.
13
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung. Die Vollendung des Tasso; Goethe und Schiller 1788—1789.
In den Beziehungen zwischen Goethe und Schiller liegt etwas Dämoni sches; bei ihrer Bedeutung für die deutsche Literaturgeschichte geht das
Interesse dafür weit über daS Persönliche hinaus.
Durch verschiedene neue
Publicationen Hal die Geschichte mehr Farbe gewonnen; die folgenden Blätter sollen den Versuch machen, von ihrem ersten Zusammenstößen und
den dabei mitspielenden Umständen ein Bild zu entwerfen, das freilich Fragment bleiben muß.
Damals — bet Goethe'S Rückkehr aus Italien, bei Schillers Fort gang aus Weimar — entschied sich auch in sittlicher Beziehung beider
Schicksal.
Wie das alles sich, bewußt und unbewußt, im „Tasso" wieder
spiegelt, vielleicht der wunderbarsten Dichtung Goethe'S, soll angedeutet
werden. Goethe'S italienische Briefe, wie ehemals die WinckelmannS, sprechen Begeisterung aus und theilen Begeisterung mit.
Nicht erst 1817, wo sie
veröffentlicht wurden: sie circulirten, und wer sie nicht zu lesen bekam,
hörte wenigstens davon erzählen.
Kräftiger als Winckelmann'S zündete
Goethe'S Wort: in immer größeren Kreisen, immer weiter und mächtiger verbreitete sich der Glaube an die alleinseligmachende Kirche der griechi
schen Kunst, der griechischen Schönheit, der griechischen Götter. „Alles bei unS will nach Italien!" schreibt Frau von Stein an
ihre junge Freundin Lottchen von Lengefeld.
„Ich selbst lobe mir mein
Zuhaus, und wem zu HauS nicht wohl ist, dem ist nirgend wohl, und ist eine solche Reise nur eine Palliativcur." — Goethe'S reiche und schöne Correspondenz hatte sie einigermaßen die Trennung verschmerzen
kaffen; aber noch immer lauschte sie mit Mißtrauen auf daS, was nun
kommen sollte. Zu denen, die Italien aufsuchen wollten, gehörte die Herzogin Amalia; nun wünschte der Herzog, daß Goethe noch bleibe, um ihren
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
Cicerone zu machen.
175
Ein solches Geschäft aber kam ihm
unerträglich
vor; er beschloß zurückzukehren. „Gar manches macht nzir den Rückweg reizend", schreibt er 25. Jan.
1788 an den Herzog.
„Die Hauptabsicht meiner Reise war, mich von
den physisch-moralischen Uebeln zu heilen, die mich in Deutschland quälten
und mich zuletzt unbrauchbar machten; wahrer Kunst zu stillen.
sodann den heißen Durst
nach
Das Erste ist mir ziemlich, das Letzte ganz ge
glückt. Zur Ausübung bin ich zu alt, auf dem rechten Wege des StudillmS und der Betrachtung bin ich." — „Das Herz, merk' ich, wird in einem fremden Lande leicht kalt und frech." — „Meine beste Zeit habe ich mit
Ihnen, mit den Ihrigen gelebt und dort ist auch mein Herz und Sinn, wenn sich gleich die Trümmer einer Welt in die andere Wagschale lagern. Der Mensch bedarf wenig:
Liebe und Sicherheit seines Verhältnisses zu
dem einmal Erwählten und Gegebenen kann er nicht entbehren." Freilich verschwieg er, namentlich gegen Herder, seine Besorgnisse „Ich bin dies Jahr moralisch sehr verwöhnt worden.
nicht.
Ganz ab
geschnitten von »der Welt, habe ich eine Zeit lang allein gestanden:
nun
hat sich wieder ein enger Kreis von Menschen um mich gezogen, die alle gut sind, alle auf dem rechten Weg, und die Freude an meiner Gegenwart finden.
Ich bin unbarmherzig, unduldsam gegen Alle, die schlendern oder
irren, und doch für Boten gehalten werden wollen; mit Scherz und Spott
treib' ich'tz so lange, bis sie sich von mir scheiden.
Wie sonst zu schweigen,
oder für krank und bornirt gehalten zu werden, ziemt mir weniger als jemals."
„Ich darf wohl sagen", schreibt er an den Herzog 17. März, „ich habe mich in dieser anderthalbjährigen Einsamkeit selbst wiedergefunden — als Künstler! — Was ich sonst noch bin, werden Sie beurtheilen und
nutzen.
Sie haben durch Ihr fortdauerndes wirkendes Leben jene fürst
liche Kenntniß, wozu die Menschen zu brauchen sind,
weitert und geschärft.
immer mehr er
Nehmen Sie mich als Gast auf, lassen Sie mich
an Ihrer Seite das ganze Maß meiner Existenz ausfüllen und des Lebens
genießen, so wird meine Kraft, wie eine neu geöffnete, gesammelte, ge reinigte Quelle von einer Höhe nach Ihrem Willen leicht dahin oder dorthin zu leiten sein — Ihre Gesinnungen für mich sind bis zur Be
schämung ehrenvoll! kommen sein.
Jedes Plätzchen, das Sie mir aufheben, soll will
Mir wird eS Freude machen, in eine eingerichtete Haus
haltung zu treten, nicht als einer der ordnen und entscheiden hilft, sondern als einer, der sich in das Entschiedene und Geordnete mit Freuden fügt."
Goethe's Stelle im Cabinet wurde dem Geh.-Rath Schmidt, Fanny'S
Bruder, übertragen; den Ehrenvorsitz behielt der Herzog schicklicher Weise 13*
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
176
dem alten Freunde vor, aber eS war das beiderseits als bloße Form auf gefaßt:
Goethe sollte wieder, was er zuerst gewesen, der ungebundene
Freund des Herzogs sein. Bon
dieser Last fühlte sich Goethe nun frei;
Scheiden!
aber nun kam das
„Es ist immer eine sonderbare Empfindung (22. März), eine
Bahn, auf der man mit starken Schritten fortgeht, auf einmal zu ver lassen.
Doch muß man sich darin finden und nicht viel Wesens machen.
In jeder großen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn, man muß sich
hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen." „ES wird Goethe schwer, Italien zu verlassen", schreibt Knebel 14. April: „ich fürchte, daß er sich sobald nicht wieder an deutsche Luft ge
wöhnen möchte. -Unser elendes ReichSshstem, Borurtheile aller Art, Plump heit, Ungefühl, Ungeschmack sind noch schlimmer als die schlimmste Luft. — Das Seinsollen, mit deutscher Armuth und Elend, ist mir nachgrade un
erträglich.
■
Halbheit richtet jeden ehrlichen Charakter zu Grund."
Gegen das Ende seines römischen Aufenthalts nahm Goethe noch von
einer schönen Mailänderin, die seine Neigung erregt, Abschied.
„Den
Gang des anmuthigsten Gesprächs, das, von allen Fesseln frei, das Innere
zweier sich nur halbbewußt Liebenden offenbarte, will ich nicht entweihen durch Wiederholung; eS war ein wunderbares, zufällig eingeleitetes, durch innern Drang abgenöthigteS lakonisches Schlußbekenntniß der unschuldigsten und zartesten wechselseitigen Gewogenheit, das mir auch nie aus Sinn
und Seele gekommen ist." liebe Mädchen
blickt
Er gab ihm einen poetischen Ausdruck; das
sehnsüchtig
dem Geschiedenen nach:
„Schon seit
manchen schönen Jahren seh' ich unten Schiffe fahren; jede- kommt an
seinen Ort.
Aber ach, die steten Schmerzen fest im Herzen schwimmen
nicht litt Strome fort."
Auch diese Sehnsuchtslaute legte er seiner Mignon
in den Mund, wie früher seine eigene Sehnsucht nach den Citronen und den Marmorbildern Roms.
Aber noch eine andere seiner poetischen Ge
stalten tauchte in diesem Abschied auf:
schuldig- halb unschuldig entflieht;
Nausikaa, der Odysseus, halb
„von ihr hat ahnungsvoll mein Lied
gesungen!" Am 22. April reiste er aus Rom ab. „Diese Hauptstadt der Welt, deren
Bürger man eine Zeitlang gewesen, ohne Hoffnung der Rückkehr zu ver lassen, giebt ein Gefühl,
das sich durch Worte nicht überliefern läßt.
Niemand vermag es zu theilen, als wer eS empfunden.
Ich wiederholte
mir immer und immer Ovid'S Elegie, die er dichtete, als die Erinnerung
eines ähnlichen Schicksals ihn bis an'S Ende der bewohnten Welt verfolgte. Jene Distichen wälzten sich zwischen meinen Empfindungen immer auf und
ab:
Wandelt von jener Nacht mir das traurige Bild vor die Seele,
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
177
welche die letzte für mich ward in der ewigen Stadt, wiederhol' ich die
Nacht, wo des Theuern soviel mir zurückblieb, gleitet vom Auge mir noch jetzt eine Thräne herab. — Nicht lange jedoch konnte ich mir jenen fremden
Ausdruck eigener Empfindung wiederholen, als ich genöthigt war, ihn
Doch scheute ich mich eine Zeile
meiner Lage am besondersten anzneignen.
zu schreiben, aus Furcht, der zarte Dllft inniger Schmerzen möchte ver schwinden.
Ich mochte beinahe nichts ansehn, um mich in dieser süßen
Qual nicht stören zu lassen. — Doch gar bald drang sich mir auf, wie herrlich die Ansicht der Welt sei, wenn wir sie mit gerührtem Sinn be trachten.
Ich ermannte mich zu einer freiern poetischen Thätigkeit; der
Gedanke an Tasso ward angeknüpft, und ich bearbeitete die Stellen mit
vorzüglicher Neigung, die mir in diesem Augenblick zunächst lagen.
Den
größten Theil meines Allfenthalts in Florenz verbrachte ich in den dortigen Lust- und Prachtgärten.
Dort schrieb ich die Stellen die mir noch jetzt
jene Zeit, jene Gefühle unmittelbar zurückrufen." — Zwei Acte des „Tasso" hatte Goethe fertig nach Italien mitgenommen,
in poetischer Prosa, Inhalt uitb Gang ungefähr derselbe wie in der spätern Version; aber grade diese Acte wurden unter dem Hauch der Florentiner
Eindrücke anders gefaßt.
Augenscheinlich sind oben die Gartenscenen des
1. Acts gemeint.
Wir könnten stundenlang uns
„Ja es umgiebt uns eine neue Welt! in
die
goldne Zeit der Dichter träumen. . .
Morgenwinde
sich
die jungen Zweige.
Schwankend wiegen im
Die Blumen von den Beeten
schauen uns mit ihren Kinderaugen freundlich an. . .
Der blaue Himmel
ruhet über uns, und an dem Horizonte löst der Schnee der fernen Berge
sich in leisen Drift."
In dieser dichterischen Luft wird selbst der prosaische Antonio verzückt, in ein Mährchenland versetzt.
Er malt
sich
Ariosto's Schaffen
aus.
„Wie die Natur die innig reiche Brust mit einem grünen bunten Kleide deckt, so hüllt er alles Große in's blühende Gewand der Fabel ein; alles
Große scheint geistig in seinen Liedern persönlich wie unter Blüthenbäumen
auSzuruhn, bedeckt von Schnee der leicht getragenen Blüthen, umkränzt von Rosen, wunderlich umgaukelt vom losen Zauberspiel der Amoretten." Nicht blos der Geist des Alterthums, der Geist der italienischen Renaissance war Goethe in Italien aufgegangen; wie den italienischen
Dichtern und Malern des 16. Jahrhunderts kam ihm jetzt das nordische Klima und die nordische Sitte barbarisch vor.
„Wie mit Ovid dem Local nach, so konnte ich mich mit Tasso dem Schicksal nach vergleichen.
Der schmerzhafte Zug einer leidenschaftlichen
Seele, die unwiderstehlich zu einer unwiderruflichen Verbannung hinge-
Au« der Blüthezeil der deutschen Dichtung.
178
zogen wird, geht durch das ganze Stück.
Diese Stimmung verließ mich
auf der Reise nicht trotz aller Zerstreuung."
Bei der öffentlichen Ankündigung seiner Werke, Juli 1786, hatte er für den 7. Bd. angemeldet:
„Tasso, zwei Acte"; also was aus dem
Jahr 1782 fertig war; die Vollendung des Stücks hatte er aufgegeben.
Indeß hatte er seinen Sinn geändert.
Bald nach seiner Ankunft in Rom
hatte er den Tasso vorgesucht, lange fteilich, ohne die rechte Stimmung dafür zu finden.
„Hätte ich nicht besser gethan", schreibt er 16. Februar 1787 auS Rom, „nach meinem ersten Entschluß diese Dinge fragmentarisch in die Welt zu schicken, und neue Gegenstände, an denen ich frischen Antheil nehme, mit frischem Muth und Kräften zu unternehmen? Thät' ich nicht
besser,
„Iphigenie auf Delphi" zu schreiben^ als mich mit den Grillen
des Tasso herumzuschlagen?
Und doch habe ich auch dahinein schon zu
viel von meinem Eignen gelegt, als daß ich es fruchtlos aufgeben sollte. — Tasso muß ganz umgearbeitet werden; von dem, waS dasteht, ist nichts
zu brauchen."
„Der Gegenstand ist noch beschränkter als Iphigenie, und will im Einzelnen doch mehr ausgedrückt sein.
werden kann.
Doch weiß ich noch nicht, waS eS
Das Vorhandene muß ich ganz zerstören, das hat zu lange
gelegen, und weder die Personen, noch der Plan, noch der Ton haben mit
meiner jetzigen Ansicht die mindeste Verwandtschaft."
16. März.
„Das soll mich nicht abschrecken, mit Tasso eine ähnliche
Operation vorzunehmen wie mit Iphigenie. Feuer.
Lieber würf ich ihn ins
Aber ich will bei meinem Entschluß beharren, und da eS einmal
nicht anders ist, so wollen wir ein wunderlich Werk daraus machen." In der That liegen zwischen der Zeit, in der die zwei ersten Acte
geschrieben wurden — 1780—1781 — und der gegenwärtigen manche
Erfahrungen. DaS merkwürdige Schicksal Tasso'S fand damals eine Art von Gegen bild in Rouffeau'S „Confessions“; mehr noch in größerer Nähe, in
dem Auftreten von Lenz in Weimar.
In dem vergeblichen Streben, in
die edlere Gesellschaft der Ehrenbürger einzutreten, war Lenz in Irrsinn
verfallen, verdorben.
Goethe hatte über seine imaginäre Nebenbuhler
schaft von Friederike Dinge erfahren, die er seinem Tasso gegen Antonio
in den Mund legt.
„Irr' ich mich in ihm, so irr' ich gern!
Ich denk'
ihn mir als meinen ärgsten Feind, und wär' untröstlich, wenn ich mir ihn nun gelinder denken müßte." Goethe hatte ihm damals mit der Härte
eines Antonio gegenübergestanden; in sein Gemüth hatte sich doch wohl daS Unglück eingegraben.
Aus der Bliilhezeit der deutschen Dichtung.
179
Aber Lenz' Figur war nicht zu brauchen; Goethe machte cS wie im
„Werther" mit Jerusalem, er substituirte ihm seine eigene Persönlichkeit. Tasso empfängt den Lorbeer von der Princessin, wie der Dichter der
„Iphigenie" aus den Händen Corona'S. zu Frau v. Stein wird
„dem
Das Geheimniß der edlen Liebe
holden Lied bescheiden anvertraut" —
es ist das durch die gleichzeitigen Briefe bezeugt.
Frau v. Stein bewegt
sich im Verkehr mit gebildeten Männern gerade wie die Princessin.
Der
Dichter will nur für seine Geliebte, nur für seine Freunde leben, nur
von ihnen verstanden werden; die Gesellschaft von Weimar erscheint ihm
im rosigen Licht; die goldne Zeit der Dichter erscheint ihm wieder, wo edle Frauen entscheiden, was sich ziemt.
DaS war nun anders geworden.
Der Dichter hatte das Entnervende
empfunden, das gerade für sein Geschäft in der Beschränkung des Kreises
„Ein edler Mensch kann einem engen Kreise nicht seine Bildung
liegt. danken.
Vaterland und Welt muß auf ihn wirken.
Ruhm und Tadel
Muß er ertragen lernen."
Die Sehnsucht nach großem Leben hatte -den Dichter nach Rom ge trieben.
„Spricht in jener ersten Stadt der Welt nicht jeder Platz, nicht
auch in der Fiille des
jeder Stein zu uns?" — Und doch wollte ihn
römischen Lebens der alte innere Zwiespalt nicht freigeben.
„Manchmal
gedenke ich Rousseau's lind seines hypochondrischen Jammers, und doch
wird mir begreiflich, wie eine so schöne Organisation verschoben werden
konnte.
Fühlt ich nicht einen solchen Antheil an den natürlichen Dingen,
und säh' ich nicht, daß in der scheinbaren Verwirrung hundert Beobach
tungen sich vergleichen und ordnen lassen, wie der Feldmesser mit einer
Linie viele einzelne Messungen probirt, ich hielte mich oft selbst für toll." Ein volles Jahr lang stockte die Arbeit.
„Ich lese jetzt", schreibt
Goethe 28. März 1788, „daS Leben des Tasso
vom Abbate Serrassi.
Meine Absicht ist, meinen Geist mit dem Charakter und den Schicksalen dieses Dichters zu füllen.
Ich wünsche daS angefangene Werk wo nicht
zu endigen, doch weit zu führen, ehe ich zurückkomme. angefangen, so würde ich es jetzt nicht wählen.
Hätte ich es nicht
Indeß, wie der Reiz, der
mich zu diesem Gegenstand führte, aus dem Innersten meiner Natur ent
sprang, so schließt sich jetzt die Arbeit, die ich unternehme, um eS zu en digen, ganz sonderbar an's Ende meiner
italienischen Laufbahn.
Wir
wollen sehri, waS es wird". Serrassi'S Werk, der Princessin Beatrice von Este gewidmet, war
1785 erschienen, und bemühte sich, die alte Legende von Tasso zu wider legen und daS Verhalteir des fürstlichen HauseS in ein milderes Licht zu
stellen.
Dem Dichter sehr willkommen: da er Weimarer Sitten ideali-
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
180
fiten wollte, konnte er den grausamen Tyrannen Alfons, die italienische
Tücke und verzehrende Leidenschaft, die Gift- und Dolch-Atmosphäre des 16. Jahrhunderts nicht brauchen.
Freilich nahm Goethe von dem überlieferten Material nur, was ihm für seine Zwecke paßte: manches, was sich garnicht fügen wollte, z. B.
die Pilgerschäft Tasso's zu seiner Schwester, trat als Vision auf.
Ein
zelnes Gleichgültige, Historische blieb stehen, nicht mit Unrecht: solche Ne benumstände, bereit sich auch Shakespeare gern bedient, machen den Leser
zutraulich.
Der ganze Inhalt aber ist nicht historisch: die leuchtende, oft
grelle Farbe deö Südens und der Renaissance ist durch das gedämpfte
Lebensgefühl deutscher Sitten aus dem 18. Jahrhundert abgeblaßt.
„Uebrigens bin
ich
23. Mai aus Mailand
ganz
entsetzlich verwildert!"
an den Herzog.
schreibt Goethe
„Ich habe zwar in meinem
ganzen Leben nicht viel getaugt, und da ist mein Trost, daß Sie mich nicht so sehr verändert finden sollen.
Der Abschied aus Rom hat mich
mehr gekostet, als für meine Jahre recht und billig ist; indessen habe
ich
mein Gemüth nicht zwingen können, und habe mir auf der Reise
völlige Freiheit gelassen, darüber habe ich denn jede Stunde wenigstens
siebenerlei Humor, und es freut mich im Herzen, daß die Sudelei dieses Briefes in's lustige Siebentel fällt."
Am 18. Juni kam er in Weimar an. Hof und Gesellschaft drängten sich an ihn, vom gelobten Land zu hören.
Aber der Enthusiasmus, mit dem
er es that, seine Klagen über den Verlust beleidigten: „die Freunde, statt
mich zu trösten und wieder an sich zu zweiflung.
ziehen,
brachten mich zur Ver
Mir geht es, wie dem Epimenides nach seinem Erwachen."
An italienische Sitten gewöhnt- sah er in den besten Menschen kleinbür gerliche Beschränktheit. Er hatte gelernt, das Sinnliche antik zu genießen
und darzustellen, nicht mehr im Farbenreiz schüchterner Empfindung, son dern in plastischer Nacktheit.
Natur empfunden.
Er hatte Jugendfrische und ungezwungene
Nun wurde er gewahr, daß die geliebte Freundin,
die er gleichsam zum ersten Mal mit Künstleraugen anschaute, über 45 Jahr alt sei. „Goethe", schreibt Knebel 30. Juni
an Lottchen v. Lengefeld,
„kennt die Dinge, und weiß, daß man die vergangenen als einen Traum ansehen muß.
Indeß wenn der Traum gut gewesen, bleiben doch Er
innerungen, die den Zeitpunkt, worin wir stehen, glücklich und reich machen
können."
Seine Amtsgeschäfte hatten aufgehört, dafür zog man ihn fast täg
lich an den Hof, und das langweilte ihn.
Der Herzog war öfters un
wohl, er trieb Politik und hatte eine Liebschaft: „beides hat feisten Zweck,
181
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
Wie soll es Zufriedenheit gewähren!"
Er ließ ihn nicht von sich:
„so
vergeht eine Zeit nach der andern, man wird des Lebens weder gewahr
„Ihr Gemüth", schreibt er ihm einmal, „muß in einem
noch froh."
immer geschäftigen,
doch meist genußlosen Leben leiden.
Ihr Unmuth
liegt ganz außerhalb des Kreises meines Raths und meiner Hilfe." Sich zu einer ernsten Arbeit zu concentriren, war er mit seinen Jnteressetl noch
zu zerstreut. Es war die mißvergnügteste Zeit in Goethe's reichem Leben. Selbst die deutsche Sprache, auf der er mit solcher Meisterschaft spielte, wurde
Er war so unausstehlich, wie es ein so lieber Mensch nur
ihm verhaßt. sein kann.
Italien hatte ihn nicht zu neuem Leben erfrischt, sondern ihn
gegen die deutsche Art völlig verstimmt, seine Augen getrübt.
Wie herr
lich hatte er früher unter dem deutschen Himmel sein Naturgefühl ent
wickelt!
Das
war
jetzt vorbei.
„Das
Wetter ertötet meinen
Geist:
wenn das Barometer tief steht und die Landschaft keine Farben hat, wie
kann man leben!" „Ich will so fortleben", schreibt er 20. Juli an
es gleich eine sonderbare Aufgabe ist.
alle Farbe.
Der trübe
Frau v. Stein, „ob
Himmel verschlingt
Die Witterung macht mich ganz unglücklich, ich fürchte mich
vor Erde unb Himmel, und befinde mich nirgends wohl als in meinem Stübchen: da
wird ein Eaminfeuer angemacht, und
es mag regnen wie
es will. — Gern will ich alles hören, was Du mir zu sagen hast; ich
muß nur bitten, daß Du es nicht zu genau nimmst mit meinem jetzt so zerstreuten, ich will nicht sagen, zerrissenen Wesen!"
— „Es ist gefährlich, wenn man allzu lang sich klug.und mäßig
zeigen muß.
Es lauert der böse Genius dir an der Seite, und will
von Zeit zu Zeit ein Opfer haben. . .
Bei Freunden läßt man frei sich
gehen, man ruht in ihrer Liebe, man erlaubt sich eine Laune, ungezähmter wirkt die Leidenschaft, und so verletzen wir am ersten die, die wir am zärtsten lieben." — So erläutert Antonio nach seiner Rückkehr aus Rom
sein Betragen. „Ihre Kränklichkeit", schreibt Lottchen v. Lengefeld, von Frau v. Stein,
„und manches andre machen sie in sich verschlossen, und es ist schwer, ihr
nahe zu kommen." Wiederholt fiel es Caroline Herder auf, wie trocken und kalt sich Fratl
v. Stein gegen Goethe hielt. Freilich war auch sie empört, wenn Goethe auf einem Piknik mit keiner gescheuten Frau ein Wort redete, sondern den Fräuleins nach der Reihe die Hand küßte und ihnen schöne Sachen sagte.
„Die Kalb findet das abscheulich."
Zu den Fräuleins gehörte auch die
Nichte der Frau von Stein, die schöne Amalie von Imhof. —
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
182
— „Ihr strebt nach fernen Gütern, und lich sein.
euer Streben muß unend
Ihr wagt es, für die Ewigkeit zu handeln, wenn wir ein einzig
noch beschränktes Gut auf dieser Erde nur besitzen mögen, und wünschen, daß eS uns beständig bleibe.
Wir sind von keinem Männerherzen sicher,
Die Schönheit ist vergänglich,
das noch so warm sich einmal unS ergab. die ihr doch allein zu ehren scheint.
WaS übrig bleibt, das reizt nicht
mehr, und was nicht reizt ist todt. — Wenn'S Männer gäbe, die erkennen möchten, welch einen holden Schatz von Treu' und Liebe der Busen einer Frau bewahren kann; wenn das Gedächtniß einzig schöner Stunden in
euren Seelen lebhaft bleiben wollte; wenn euer Blick, der sonst durch dringend ist, auch durch den Schleier dringen könnte, den uns Alter oder Krankheit überwirft; wenn der Besitz, der ruhig machen soll, nach fremden
Gütern euch nicht lüstern machte: — dann wär' uns wohl ein schöner Tag erschienen, wir feierten dann unsere goldene Zeit." — Wie kommt die Princessin dazu, diese Rede über die Männer an Tasso zu richten, der doch nicht daran dachte, ihr untreu zu werden? —
Aber Frau v. Stein, wenn ihr Goethe das vorlas, mußte es wohl heiß und kqlt über den Rücken laufen.
Immer öder wurde es um Goethe.
3. August erhielt er von dem
alten Jugendfreund Merck einen entsetzlichen Brief.
Merck hatte seine
Spekulationen über das Maß seiner Kräfte ausgedehnt und
Rande des Bankrotts. schreibung.
stand am
„Meine Situation übertrifft an Elend alle Be
Ohne Schlaf und ohne Muth, physisch und
moralisch
zu
Grunde gerichtet, wandre ich ohne Ruhe noch unter den Lebenden herum,
Jedem zur. Last, und fürchte für meinen Verstand." — Noch gelang es Goethe, Merck mit Hülfe des Herzogs aus der drängendsten Noth zu
retten: fein Freund, der Banquer Willem er in Frankfurt
war
der
Vermittler.
Nun sollte er auch Herder's entbehren.
Dieser hatte ein beträcht
liches anonymes Geschenk erhalten, und war von dem Domherrn v. Dalb crg, dem jüngsten Bruder des CoadjutorS, aufgefordert worden, mit ihm nach
Italien zu gehen; leider sollte auch die Geliebte des Domherrn, eine Frau v. Seckendorf, von der Gesellschaft sein.
6. August reisten sie ab.
5. September ging Goethe mit Caroline Herder nach Kochberg zu Frau von Stein, die ihn sehr kalt empfing.
Dort fand er Lottchen von
Lengefeld; lange war er mit ihrer Familie befreundet gewesen; nun sollte ihm durch sie der Mann, dessen meteorisches Wirken er mit Unmuth ver
folgt, näher treten. Lottchen hatte Januar bis April 1788 in Weimar gelebt, wo sie
ursprünglich zur Hofdame ausgebildet werden sollte; Schiller sah sie
183
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
wiederholt und faßte bald eine lebhafte Neigung; er machte gegen Körner 6. März eine leise Andeutung.
„Doch daS schläft tief in meiner Seele,
und Frau von Kalb selbst, die mich fein durchsieht und bewacht, hat noch nichts davon geahnt. — Vor einer übereilten Heirath laß Dir nicht bange
sein; die Wieland'sche Tochter ist so gut als versprochen." Um den ewigen Aufregungen zu entgehen, die doch mit der Nähe
Charlottens verknüpft waren,
hatte er mit Lottchen verabredet,
die
Sommerfrische in ihrer Nähe, auf einem Dorf bei Rudolstadt, zu neh
„Was für schöne Träume bilde ich mir für diesen Sommer, die
men.
Sie alle wahr machen können.
Aber ob Sie eS auch wollen? ES beun
ruhigt mich oft, ob nicht das, was meine höchste Glückseligkeit Ihnen nur ein vorübergehendes Vergnügen gab!
macht,
Könnte ich hoffen, daß
von der Glückseligkeit Ihres Lebens ein kleiner Antheil auf meine Rech
nung käme, wie wenig sollte eS mir kosten, den Bezirk, den Sie bewoh
nen, für meine Welt anzunehmen!" 14. Mai 1788 kam er in Rudolstadt an. — „Doch werde ich," be
ruhigt er Körner, „eine zu ausschließende Anhänglichkeit zu vermeiden suchen.
Es hätte mir etwas der Art begegnen können, wenn ich mich
Aber jetzt wäre es grade der schlimmste Zeitpunkt, wenn ich das bischen Ordnung, das ich mit Mühe
mir selbst ganz hätte überlassen wollen.
in mein Herz gebracht habe, durch eine solche Distraction wieder über
den Haufen werfen wollte." Er fühlte, ein neues Band könne nur geknüpft werden nach schmerz lichem Zerreißen eines alten, und das scheute er.
einem
Eben noch hatte er in
alten Verpflichtungen
übereilten Augenblick zu den
gegen Frau
v. Kalb eine neue übernommen.
21. Juni erhält Lottchen von Frau v. Kalb ein großes Packet für Schiller, angeblich aus dritter Hand: chen, „sehe ich Sie diesen Sominer".
„vielleicht", schreibt sie an Lott
Was in dem Packet enthalten war
erzählt sie in ihren Memoiren. Schiller hatte an sie geschrieben und sie nach Rudolstadt eingeladen: „Sie finden daselbst Bekannte, die Ihre Freundinnen werden können."
In dem Brief war viel von einem Ideal der Freundschaft die Rede, und es wurde die Ansicht ausgesprochen, daß eine junge, lebenslustige Frau, die mit ihrem Manne nichts anzufangen weiß, am besten thäte, sich schei den zu lassen.
Schiller hatte die Tragweite dieses Briefes nicht überlegt.
Char
lotte lehnt nicht ab, aber sie verlangt, daß Schiller durch einen öffent
lichen Schritt ihre absolute Zusammengehörigkeit feststelle: er soll persön lich kommen und sie holen.
„In diesem Schreiben waren meines Lebens
184
Aus der Blülhezcit der deutsche» Dichtung.
Loose enthalten. — Es vergingen Wochen, Monate, und ich erhielt keine Antwort." „Seit geraumer Zeit geht's mir wie dem Orest, den die Eumeniden
Herumtreiben: den Muttermord freilich abgerechnet, und statt der Eume niden etwas Anderes
gesetzt, das am Ende nicht viel besser ist."
schreibt Schiller einmal an Lottchen.
nach
So
An Körner, 20. August: „Es ist
und nach ein Gemüthszustand in mir aufgekommen, der garnicht
wohlthätig auf dich wirken würde.
immer und ewig.
Herz und Kopf jagen sich bei mir
Ich kann keinen Moment sagen, das; ich glücklich bin,
daß ich mich meines Lebens freue. . .
Bin ich nicht Herr meines Schick
sals? warum verharre ich in einem Zustand, der garnicht für mich ist? — Das sind Betrachtungen, die ich jetzt so oft und so anhaltend anstelle,
daß sie es endlich doch zu einem Beschluß bringen werden ... Du wirst fragen, was ich eigentlich will? — DaS weiß ich selbst nicht."
21. August meldet ihm Lottchen, sie wolle an Frau von Kalb schrei ben,
ob er etwas zu bestellen habe? — Diese
fragt
an,
ob
er ihren
Brief erhalten?
Schiller hatte so lange mit der Antwort gesäumt, weil er nicht
wußte, was er schreiben solle.
Einen Eclat, wie sic ihn sich dachte, wollte
er nicht; aber doch fühlte er sich engagirt.
So schrieb er einen leeren
Zettel: „Ich habe Ihren Brief erhalten, bin aber auf manche Weise be hindert worden, ihn eingehend zu beantworten."
Frau v. Kalb, wieder
in Weimar, hat die Haltung, an Lottchen einen freundlichen Brief zu
schreiben, auch über Schiller.
Als sich Körner nach Frau v. Kalb erkun
digt, giebt Schiller 1. September eine ausweichende Antwort:
„Wie ich
höre, ist sie wohl, und die Zerstreuung hat ihr gut gethan."
Um sich auf Goethe ju stimmen, las der Dichter der „Götter Griechen
lands" verschiedene griechische Schriftsteller, freilich in französischen Ueber» setzungen, und bemühte sich sie nachzubilden.
„In den nächsten zwei Jah
ren lese ich keine modernen Schriftsteller mehr; nur die Alten geben mir
wahre Genüsse." Endlich, 9. September, erschien Goethe, von Frau v. Stein und Caroline Herder begleitet, in Rudolstadt; Schiller hatte ihn mit bren nender Ungeduld erwartet. „Auf des Lebens leicht bewegter Woge bleibt Dir ein stetes Herz.
So seh' ich Dich.
Und was wär' ich, ging ich Dir nicht entgegen? sucht
ich begierig nicht auch einen Theil an dem verschlossenen Schatz, den Du bewahrst?
Ich weiß, es reut Dich nicht, wenn Du Dich öffnest! ich weiß,
Du bist mein Freund, wenn Du mich kennst! . . Still ruhet noch der Zukunft goldne Wolke mir um's Haupt."
185
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
So spricht Tasso, von dem Goethe in Rudolstadt viel erzählte, zu
Antonio; so empfand Schiller gegen Goethe.
Das Resultat der sehn
suchtsvoll erwarteten Zusammenkunft war niederschlagend. „Sein erster Anblick", schreibt er an Körner, „stimmte die hohe Meinung ziemlich tief herunter, die man mir beigebracht hatte.
mittler Größe,
trägt sich
steif und
Er ist
geht auch so; sein Gesicht ist ver
schlossen, aber sein Auge sehr ausdrucksvoll, lebhaft, und man hängt mit Vergnügen
an seinem Blick.
viel Wohlwollendes.
Bei vielem Ernst hat seine Miene doch
Seine Stimme ist überaus angenehm,
seine Er
zählung fließend, geistvoll und belebt. — Unsere Bekanntschaft war schnell gemacht und ohne den mindesten Zwang.
Freilich war die Gesellschaft
zu groß und Alles auf seinen Umgang zu eifersüchtig, als daß ich etwas Anderes als allgemeine Dinge mit ihm hätte sprechen können. gern und mit leidenschaftlicher Erinnerung von Italien . .
Er spricht Im Ganzen
ist meine, in der That große Idee von ihm nach dieser persönlichen Be kanntschaft nicht vermindert worden, aber ich zweifle, ob wir einander je
sehr nahe rücken werden.
Vieles, was mir jetzt noch interessant ist, was
ich noch zu tvünschen und zu hoffen habe, hat seine Epoche bei ihm durch lebt ; er ist mir (an Jahren weniger als an Lebenserfahrungen und Selbst entwickelung) so weit voraus, daß wir unterwegs nie mehr zusammenkommen werden, und sein ganzes Wesen ist schon von Anfang her anders angelegt als das meinige; unsere Vorstellungsarten scheinen wesentlich verschieden."
Goethe's allgemeine Verstimmung hatte noch einen besonderen Grund. Seine Werke hatten nicht den Anklang gefunden, den er zu erwarten berechtigt war; durch die lange Pause hatte er sich dem Publikum ent
fremdet.
Im vorigen Jahr war erschienen:
„Zueignung",
„Werther",
„Götz", „die Mitschuldigen", „die Geschwister", „Iphigenie", „Clavigo",
„Stella", „Triumph der Empfindsamkeit", „die Vögel", — also Schriften
sehr verschiedenen Stils, über deren Zusammenhang man sich nicht leicht orientiren konnte.
Der fünfte Band nun enthielt „Egmont", „Claudine"
und „Erwin"; diesen Band hatte Schiller eben recensirt. Bei dem besten Willen, zu loben, hatte er doch den hochverehrten Dichter ziemlich unsanft zurechtgewiesen.
„In der Lit.-Ztg.", schreibt Goethe 1. Oct. an den Herzog, „steht eine Recension meines Egmont, welche den sittlichen Theil des Stückes
gar gut zergliedert.
Was den poetischen Theil betrifft, so möchte Recen
sent Andern noch etwas zurückgelassen haben".
die Recension zur Hälfte gut, zur Hälfte schief.
Caroline Herder findet
Dem Recensenten freilich
erzählte man, Goethe habe mit sehr viel Achtung und Zufriedenheit davon
gesprochen.
186
Aus der Bllithezeit der deutschen Dichtung.
Zu dem
decidirten Ton konnte Goethe den Dichter des
Carlos" doch kaum für berechtigt halten.
„Don
ES verstimmte ihn, daß die
junge Generation ihn wie Einen behandelte, der noch seine Proben zu
machen habe.
Auch das Urtheil des Herzogs über den „Egmont" fiel
nicht günstig auS, dagegen mußte er von nahestehenden Frauen — z. B. Frau von Stein — übertriebene Lobreden auf den Dichter vernehmen, der sich als seinen Nebenbuhler ausspielte.
„Du gehst mit vollen Segeln!
Scheint es doch, du bist gewohnt
zu siegen, überall die Wege breit, die Pforten weit zu finden. . ."
. . . „Wenn ein wackrer Mann mit heißer Stirn von saurer Arbeit kommt, und spät am Abend im ersehnten Schatten zu neuer Mühe aus
zuruhen denkt, und findet dann von einem Müßiggänger den Schatten breit gesessen: soll er nicht auch etwas Menschliches in dem Busen fühlen?"
„O mein Bruder!" schreibt Goethe 22. September an Herder, „wel cher böse Geist trieb dich, mich zurückzurufen!
Ich hätte dich auffangen
können, und wir hätten sie alle auSgelacht!" „Frau v. Kalb", meldet Schiller aus Rudolstadt 20. Oktober an Körner, „habe ich diesen Sommer gar wenig geschrieben; es ist eine Ver stimmung unter unS, worüber ich dir einmal mündlich mehr sagen will.
Ich widerrufe nicht, was ich von ihr geurtheilt habe: sie ist ein geistvolles
edles Geschöpf: aber ihr Einfluß auf mich ist nicht wohlthätig gewesen." „Ich bin
ihre Vertraute", schrieb Caroline Herder 31. Oktober
an ihren Gatten,
„und glaube, daß sie jedesmal gestärkt von mir geht.
Sage aber Niemand von unsrer nahen Freundschaft, ich bin der einzige,
zu dem sie spricht.
Sie ist in einem unwürdigen Verhältniß, das ich
nicht dem Papier anvertrauen kann; es wird sich über kurz oder lang ändern". —
— Schiller's Sommerfrische hatte ein volle« Halbjahr gedauert. Fast täglich war er mit der Familie v. Lengefeld, privatim und in Ge sellschaften, zusammen gewesen.
Frau v. Lengefeld, eine klar sehende und
herzensgute Frau, mochte sich wohl mitunter die Frage vorlegen, ob nicht etwas weiteres dabei herauskommen werde?
Sie ließ alles gehen, nur
mitunter schickte sie Lottchen zu Frau v. Stein nach Kochberg.
Das Ver
hältniß gewann noch dadurch an Unbefangenheit, daß Caroline, die
ältere Schwester, in der Regel die Unterhaltung leitete. sind ein wahres Sprühfeuer von Witz und Malice.
Ihre Briefe
Sie war mit einem
Gatten versehen, Herrn v. Beulwttz, der nicht blos von seiner Frau,
sondern auch von seiner Schwägerin schlecht behandelt wurde; die Schwieger
mutter, streng moralisch, nahm für ihn Partei. Endlich nahte die Zeit des Abschieds; Schiller's letzte Billets an
187
Aus der Bliithezeit der deutschen Dichtung.
Lottchen waren nicht blos zärtlich, sondern streifen an'S Leidenschaftliche. „Ich denke mit Verwunderung nach, was in einem Jahr alles geschehen
kann!
Heute vor einem Jahr waren Sie für mich so gut als garnicht
auf der Welt, und jetzt sollte es mir schwer werden, mir die Welt ohne Sie zu denken."
Gleich da er in Weimar ankommt, 14. November:
„Alles ist mir
hier fremd geworden; ein Interesse an den Dingen zu schöpfen, muß man das Herz dazu mitbringen, und mein Herz lebt nur Ihnen. — Empfangen
Sie hier meine ganze Seele!" — Auf dergleichen wiederholte Aeuße rungen pflegt sonst ein Heirathsantrag zu folgen; aber Schiller, sonst schnell genug bei der Hand, that nichts dergleichen. „Mein Abzug aus Rudolstadt", schreibt er an Körner, ist mir schwer
geworden; ich habe dort schöne Tage gehabt und ein werthes Band der Bei einem geistvollen Umgang, nicht ganz frei von
Freundschaft gestiftet.
einer gewissen schwärmerischen Ansicht der Welt, wie ich sie liebe, fand
ich dort Herzlichkeit und Delicatesse, Freiheit von Vorurtheilen und Sinn für das was mir theuer ist. Trost.
Ich habe redlich
Aber mein Herz ist ganz frei. Dir zum
gehalten,
was ich Dir angelobte:
ich habe
meine Empfindungen durch Vertheilung geschwächt, und so ist
das Verhältniß innerhalb
der
Grenzen
einer
herzlichen
vernünftigen
Freundschaft." Schiller hatte sich die Sache wohl noch selbst nicht ganz klar gelegt; zudem drückte ihn daö Vorgefühl der bevorstehenden Explicatio» mit Frau
v. Kalb, die bis jetzt auf Lottchen noch keinen Verdacht hegte. Goethe
war
in
einer
ähnlichen
Lage.
Der Gatte der Frau
v. Stein war krank, glaubte bald zu sterben und räumte alles bei sich auf;
ihre Unruhe wuchs, da nun eine Entscheidung bevorstand.
In derselben
Zeit schickte ihr Goethe „Morgenklagen" und ähnliche Liebesgedichte höchst
sinnlicher Art, von der sie nur zu gut wußte, daß sie nicht ihr gelten konnten.
Seit geraumer Zeit stand Goethe in einem Verhältniß, das für seine Zukunft entscheidend werden sollte.
Bald nach seiner Rückkehr au»
Italien, 13. Juli, trat ihn ein hübsches junges Mädchen an, Christiane
VulpiuS, eine Blumenmacherin, und bat für sich und ihren Bruder, der verschiedene Räuberromane verfaßt und sich einmal atlch dem Dichter
der „Räuber" vorgestellt hatte, um Unterstützung. Sie fand Beifall.
Die Freunde in Rom und Neapel hatten ohne
Arg frische Mädchen im Hause gehabt; auch Goethe hatte sich dieser Sitte nicht entzogen.
Christiane hatte schwellende Lippen und zierliche Füße;
sie verstand nichts von Spinoza und Kant, aber gern hörte sie zu, wenn
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
188
ihr Goethe von den Verwandlungen der Pflanzen erzählte, wie er früher
dem kleinen Fritz Stein von den Verwandlungen der Erde erzählt hatte. Gewiß verstand sie wenig davon, aber es ließ ihr gut, wenn sie hörte; sie half ihm Pflanzen suchen. Er hatte die große Gabe, sich die Geschöpfe
zu idealisircn.
Sie hatte manche Fehler, obgleich man ihrem Rtif nichts
Schlimmes nachsagen konnte.
Sie gehörte nicht zur guten Gesellschaft,
die „zum kleinsten Gedicht keine Gelegenheit giebt."
Sie war zärtlich,
demüthig ergeben, nicht eifersüchtig, nicht gebieterisch; sie machte keine Scenen; sie störte ihn nicht in seinen Studien und seinen Vergnügungen.
Es ließ sich an ihrem Busen ruhn, und Goethe war nun in das Alter
gekommen, das zu schätzen. Die gute Gesellschaft freilich, sonst in ihren sittlichen Begriffen nicht
sehr difficil, war empört über diese Begünstigung des Bürgermädchens. Wiederholt ermahnten die Schwestern ihren Freund, Goethe jit be
Schiller brannte vor Verlangen, aber er wollte nicht zudringlich
suchen.
sein.
Endlich sand sich eine amtliche Gelegenheit.
Die „Niederländische Rebellion"
hatte Aufsehn gemacht; man bot
Schiller eine Professur in Jena an, zu Ostern anzntrcten, freilich ohne
Gehalt.
Schiller stellte sich Goethe vor, und nahm ans sein Zureden die
Stelle an, 15. December: es war ihm nicht ungelegen, aus Charlottens
unmittelbarer Nähe zu kommen. „Mein ganzes Absehn bei der Sache ist, in eine gewisse Rechtlichkeit nnd bürgerliche Verbindung einzutretcn.
Meine Idee war es. immer:
freilich wollte ich gern ein paar Jahre zu meiner bessern Vorbereitung
verstreichen lassen.
In der neuen Lage werde ich mir selbst lächerlich
vorkommen: mancher Student weiß vielleicht inehr Geschichte als der Herr-
Professor.
Indeß müßte es schlimm zugehen, wenn ich in jeder Woche
nicht soviel zusammenlesen und zusammendenken könnte, um es
einige
Stunden lang auf eine gefällige Weise auskramen zu können." Schiller glaubte Goethe Dank schuldig zu sein; er ahnte nicht, wie stark
dieser gerade damals gegen ihn eingenommen war.
Dazu hatte namentlich
Goethe's römischer Freund Moritz beigetragen, der 1. December 1788 in
Weimar ankam: er hatte die Reise von Rom, wo er mit dem von ihm
so hochverehrten Herder einen Monat verlebt, zu Fuß gemacht.
Goethe
empfahl ihn dringend dem Herzog; von Frau Herder, Frau von Kalb und Frau von Stein wurde er auf Händen getragen:
„er ist", schreibt
die letztere, „wie ein überirdisch Wesen, so rein, so gleichmüthig; zu jedem
Wesen läßt er sich herab und bleibt vornehm in sich".
In Goethe weckte
er wieder die leidenschaftliche Erinnerung an Italien. Moritz hatte Schiller's erste Stücke mit großer Härte besprochen; er
Aus der Bliithezeit der deutschen Dichtung.
bestärkte Goethe leidenschaftlich in seiner Abneigung.
189
Goethe empfand den
äußersten Verdruß über den Beifall, welchen „die ethischen und theatra lischen Paradoxen dieses kunstvollen und unreifen Talents, von denen er
selbst sich zu reinigen gestrebt", ebenso bei dem wilden Studenten wie bei der gebildeten Hofdame (Frau v. Stein?) fanden.
Bemühn verloren, was
mich am
„Ich glaubte all mein
die Art, wie ich mich gebildet, schien mir gelähmt;
meisten
schmerzte,
alle mit mir verbundenen Freunde,
Moritz li. s. w., schienen mir gleichfalls gefährdet: denn wo war eine Aus sicht, jene Productioncn von genialem Werth und wilder Form zu über
bieten?"
In einer Schrift von Moritz, die Goethe damals herausgab, „von der bildenden Nachahmung des Schönen", .einer begeisterten Verherrlichung der absoluten Kunst, fand Schiller, den Moriz trotz ihrer alten Fehde wiederholt besuchte, willkommenen Stoff für ein großes Gedicht, mit dem
er sich damals trug, „die Künstler".
Entworfen hatte er es schon in
Rudolstadt, wo er eö 9. November den Freundinnen vorlaS.
Zum Ab
schluß gab ihm eine Unterredung mit Wieland Gelegenheit, über die er
9. Februar 1789 an Körner meldet. Wieland empfand es sehr unhold, daß die Kunst nur Dienerin einer höheren Cultur sein sollte; auch die Wissenschaft habe die Aufgabe,
sich zum Kunstwerk zu adeln. — „Diese Vorstellung schien in meinem Ge
dicht unentwickelt zu liegen, und nur der Heraushebung zu bedürfen." — „Die Kunst hat die wissenschaftliche und sittliche Cultur verbreitet, aber
diese ist noch nicht das Ziel, sondern nur eine Vorbereitung dazu:
denn
erst ist die Vollendung da, wenn sich wissenschaftliche und sittliche Cultur wieder in Schönheit auflöst." Indem eS nur die Griechen vor Augen hat, schreibt das Gedicht der
Kunst eine schöpferische Kraft zu: sie habe die Religion des Grauens und
der Furcht in
eine Religion der Freude verwandelt.
Als
Gott den
Menschen in die Sinnlichkeit verbannte, „und eine späte Wiederkehr zum Lichte auf schwerem Sinnenpfad ihn fühlen ließ", folgte von allen himm
lischen Geistern ihm nur die Kunst, und da dem Wilden, der nur durch die Fessel der Begierde an die Erscheinungen gebunden war, unempfunden
die schöne Seele der Natur entfloh, löste die Kunst mit leiser Hand daS
Bild, den Schatten von den Dingen ab, „von ihrem Wesen abgeschieden, ihr eignes liebliches Idol", und aus den Freuden der Ferne, die seine Be
gier nicht reizten, erkannte der Mensch zum erstenmal seine Freiheit.
Die
Kunst sammelte die verschiedenen Strahlen der menschlichen Natur in ein
Bild, und brachte so die wahre Religion hervor.
„Der Mensch erbebte
vor dem Unbekannten, er liebte seinen Wiederschein." Preußische Jahrbücher. Bb. XLVl. Hcfl 2.
Die Sittlichkeit
14
Aus der Bliithezeit der deutschen Dichtung.
190
wie die Wissenschaft nährten sich an den Symbolen der Kunst: von den
Schrecken des Lebens durch das schöne Spiel befreit, lernte der Mensch das unverständliche Schicksal ertragen, und als nun die Barbaren diese schöne Zeit zerstörten,
wurde (im 14. und 15. Jahrhundert) der
letzte
Opferbrand den entheiligten Altären des Orients entrissen und durch ihn der neue Tag herbeigeführt.
Kühne Geister haben sich dann bemüht, durch
die Macht des Gedankens dies Licht 311 nähren,
aber ihre wahre Be
stimmung werden sie erst erfüllt haben, wenn die Wahrheit in gefälligeiu Dienst zu Füßen der Schönheit liegt.
Die Frage, wie weit die historischen Thatsachen der Auffassluig dieses Gedichts entsprechen, kommt erst in zweiter Linie; die Hauptsache ist, daß
es Schillers wirkliche und bleibende Ueberzeugung ausspricht.
Den Ideen
des Marquis Posa hatte er in aller Form abgesagt, und kehrte nie wieder
zu ihnen zurück; Weltbildes.
er stand auf dem Boden des rein ästhetischen
„Was schöne Seelen schön empfinden, mnß trefflich und
willkommen sein." Die Freunde hatten an der Form viel auszusetzen.
„Du hast deu
Hang", schreibt ihm Körner, „Deine Producte durch Schmuck im Ein
zelnen zu überladen.
Manche schöne Idee geht dadurch verloren, daß
man sie blos im Vorübergehen mitnehmen soll.
Jnteressirt man sich für
die Hauptidee Deines Gedichts, so kann man unmöglich auf all diese ein zelnen Züge soviel Aufmerksamkeit heften, als erfordert wird, sie ganz zu verstehn." „Gleich über der Schwelle strauchelte Wieland: eine Allegorie, die
nicht gehalten sei, sich alle Augenblicke wieder in eine neue Allegorie ver
liere oder gar in philosophische Wahrheit übergehe, das Durcheinander werfen poetisch wahrer und wörtlich wahrer Stellen incommodire ihn; die malerische Sprache und
das
luxuriöse Uebergehn
von Bild zu Bild
blende ihn, so daß er vor Licht nicht sehe" u. s. w. Schiller hatte mit seinem Gedicht hauptsächlich an Goethe gedacht;
er wußte wohl, wie nahe ihre Ideen sich berührten.
Freilich hatte Goethe
den Schleier der Dichtung, „aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit", nur aus der Wahrheit Hand empfangen wollen.
Schiller hörte nichts
Erbauliches von ihm; er wurde irre an seinem Talent, sechs Jahre lang
bleiben „die Künstler" sein letztes größeres Gedicht. — „Dichten, das ist vorbei!" schreibt er einmal an die Schwestern. Februar 1789 brachte der Herzog selbst Moritz nach Berlin, wo
ihm eine kleine Stelle bei der Akademie geschafft wurde.
Gemeinsam mit
dem Capellmeister Reichardt begründete er nun, hauptsächlich mit geist
reichen
Jüdinnen,
eine
stille Gemeinde,
die
in
lebhafter Opposition
191
A»S der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
gegen das alte Berlinerthum dem poetischen Idealismus einen Altar er
richtete. „Die Abgötterei, die Moritz mit Goethe treibt", schreibt Schiller
2. Februar 1789 an Körner, „hat mich von seinem nähern Umgang zu rückgehallen. — Oesters um Goethe zu sein,
machen.
würde mich unglücklich
Er hat auch gegen seine nächsten Freunde keinen Moment der
Ergießung, er ist an nichts zu fassen.
Er besitzt das Talent, die Men
schen zu fesseln, aber sich selbst weiß er immer frei zu halten.
Ein solches
Wesen sollten die Menschen nicht um sich herum aufkommen lassen.
Eine
ganz sonderbare Mischung von Haß und Liebe ist, die er in mir erweckt,
eine Empfindung, derjenigen ähnlich, die BrutuS und CassiuS gegen Cäsar gehabt haben müssen; ich könnte seinen Geist umbringen, und ihn dann
wieder von Herzen lieben." Aehnlich hatte sich Schiller gegen Lottchen geäußert.
„Goethe hat
sich durch seinen Geist und taufenb Verbindlichkeiten Freunde, Verehrer
und Vergötterer erworben; sich selbst aber hat er nie gegeben." Lottchen bestreitet das nicht ganz.
„Er kann den Menschen viel geben,
Andre ihm nichts, das habe ich schon oft bemerkt.
Er kommt sich oft so
einsam vor, weil er sich zu groß fühlt, und ich glaube, das macht ihm
manchen trüben Augenblick." Darauf Schiller, 25. Februar.
„Wenn ich auf einer wüsten Insel
mit ihm allein wäre, so würde ich allerdings weder Zeit noch Mühe
scheuen, diesen verworrenen Knäuel seines Charakters aufzulösen.
Aber
da Jeder in der Welt, wie Hamlet sagt, seine Geschäfte hat, so habe ich
auch die meinigen; und man hat wahrlich zu wenig baares Leben, um Zeit daran zu wenden, Menschen zu entziffern, die schwer zu entziffern sind. —
Ich habe zu viel Trägheit und zu viel Stolz. — Wenn einmal meine Lage so ist, daß ich alle meine Kräfte wirken lassen kann, so wird Er
mich kennen, wie ich seinen Geist jetzt kenne. — Erwarten Sie nicht zu
viel Herzliches von Menschen, die von allem was sich ihnen nähert, in Bewunderung und Anbetung gewiegt werden.
Sollte ich einmal berühmt
werden, so sein Sie mit Ihrer Freundschaft vorsichtiger!" —
Denselben Tag an Körner.
er seine Kraft anwenden will.
„Mit Goethe messe ich mich nicht, wenn Er hat weit mehr Genie als ich, weit
mehr Reichthum an Kenntnissen, eine sichere Sinnlichkeit und einen ge
läuterten Kunstsinn, was mir in einem Grad mangelt, der bis zur Un wissenheit geht." 9.'März. — „Du wirst mich wohl recht in meiner Schwäche gesehn
und im Herzen über mich gelacht haben.
Aber mag es immer!
mich gern von Dir kennen lassen, wie ich bin.
Ich will
Dieser Mensch, dieser
14*
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
192
Goethe, ist mir einmal im Wege, unb er erinnert wich so oft, daß das
Schicksal mich hart behandelt hat.
Wie leicht ward sein Geilie von seinem
Schicksal getragen, und wie muß ich bis auf diese Minute noch kämpfen!" Schiller ahnte nicht, daß grade damals Goethe wenig Grund hatte,
sich für glücklich zu halten. „Wenn Du es hören willst", schreibt Goethe an Frau von Stein,
„so will ich Dir gern sagen, daß Deine Vorwürfe, wenn sie auch für den
Allgenblick empfindlich sind, keinen Verdruß lind Groll im Herzen zurück lassen.
Wenn Du manches an mir dulden mußt, so ist es billig, daß
auch ich wieder von Dir leide.
Es ist besser, daß man freundlich ab
rechnet, als daß man sich immer einander anähnlichen will, lind »ernt das nicht reussirt, ciilander
aus dem Wege geht.
Mit Dir kann ich am
wenigsten rechnen, weil ich bei jeder Rechnluig Dein Schuldner bleibe." „Ich war den Winter immer nicht recht wohl", schreibt sic an Lottchen 29. März, „und da wird man geneigter zum Nachdenken, das einen im Leben nicht glücklicher macht. — Ich habe keine Anhänglichkeit an's Leben, und freue mich auf den Schlaf, denn ich bin müde. — Der andere mir-
mühsame Begriff von meinem ehemaligen 14 Jahre lang gewesenen Freund
liegt mir auch manchmal wie eine Krankheit auf, und ist mir nun wie
ein schöner Stern, der vom Himmel gefallen.
Wenn ich Sie sehe, will
ich Ihnen mancherlei darüber erzählen, was ich nicht schreiben mag. — Schiller hat sich so zur Einsamkeit gewöhnt, daß er, glaube ich, gar keine Sprache für die Menschen mehr hat." „Die Leute", erzählt Schiller 9. März, „wunderten sich anfangs;
endlich gewöhnte man sich daran.
Charlotte besuche ich noch am meisten;
sie ist diesen Winter gesünder und im Ganzen auch heiterer wie im vorigen.
Aber ich habe, seit ich wieder hier bin, Principien von Unabhängigkeit in mir aufkommen lassen, denen sich mein Verhältniß zu ihr, wie zu allen
übrigen Menschen, blindlings unterwerfen muß!
Alle romantischen Lust
schlösser fallen, und nur was natürlich ist, bleibt stehn. — Hintergangene Erwartungen haben mich in dem Umgang mit Menschen scheu und miß
trauisch gemacht, ich habe den leichtsinnigen Glauben an sie verloren." Noch ein anderer Besuch bestärkte Goethe in seiner Abneigung gegen
Schiller:
Goethe's
Capellmeister Reichardt aus Berlin, der übernommen hatte, Dichtungen
zu
componiren;
Goethe's; nach Schiller's Urtheil
ein
leidenschaftlicher
Verehrer
„ein unerträglich aufdringlicher und
impertinenter Bursch". Er trat auch Bürger in den Weg, der 29. April nach Weimar kam. Klopfenden Herzens ging er zu Goethe, er suchte den alten Ton anzu
schlagen.
Goethe empfing ihn kalt, gemessen; er fragte ihn nach den
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
Es war wohl nicht blos Ver
Verhältnissen der Universität Göttingen.
legenheit:
193
er wollte den Zudrang des einen Sturm- und Drangdichters
abwehren, nachdem er den andern losgeworden war.
Bürger war em
pört: die Epigramme, in denen er seinem Groll Luft machte, haben am
meisten dazu beigetragen, Goethe in den Ruf eines herzlosen Menschen, eines höfischen Antonio zu bringen. Von Schiller wurde er freundlich ausgenommen.
„Er hat nichts
Ausgezeichnetes 'm seinem Aeußern und seinem Umgang, aber ein grober
guter Mensch scheint er zu sein. zuweilen ins Platte.
Wie in seinen Gedichten verliert er sich
Das Feuer der Begisterung scheint in ihm zu einer
rostigen Arbeitslampe herabgekommen zu sein." 11. Mai ging Schiller nach Jena ab, eine Woche vorher waren
sein neues Amt anzutreten;
in Versailles die Etats Geueraux
eröffnet.
Erwartungsvoll richteten sich alle Blicke nach Paris.
Mai bis Juli 1789 wurde der „Tasso" vollendet: diese Arbeit fällt
zwischen das Zusammentreten der Generalstände in Versailles und die Er
stürmung der Bastille. „Es hat der Mann, der unerwartet zu uns trat, nicht sanft aus einem schönen Traum mich aufgeweckt. . .
Was daS Herz im Tiefsten
mir bewegte, es waren die Gestalten jener Welt, die sich lebendig, rastlos,
ungeheuer um einen großen Mann gemessen dreht. . .
ich auf. . .
Begierig horcht'
Doch ach! jemehr ich horchte, mehr und mehr versank ich vor
mir selbst. . ."
.Zum Theil um dem ewigen Gerede vom großen Friedrich, den hoff nungslosen Beschäftigungen mit der deutschen Union zu
entgehn,
war
Goethe nach Italien gewandert; er hatte in der schönen Welt deS Alter
thums und der Renaissance geschwelgt.
Nun klopfte die Revolution, die
er schon vor seiner Abreise mit Grauen kommen gesehn, drohend an die Thür deS Hauses; Kunst und Wissenschaft schienen gestört;
Rom sollte
nicht mehr die Hauptstadt der Welt sein: „die Wirklichen, sie dringen auf
mich ein!" — In Goethe'S „Tasso"
findet
der Geist
der Renaissance,
den
die
deutsche Literatur im vorigen Jahrhundert den andern Weltmächten gegen
überstellte, seinen edelsten, vornehmsten Ausdruck; etwas Vornehmeres hat Goethe kaum geschrieben.
Die Form verräth mehr als die der Iphigenie
die ausgeschriebene Hand, sie ist vollendet künstlerisch.
Bild ist gewählt, nicht eine unedle Zeile läuft ein.
Jedes Wort, jedes
Der Ton liegt hoch
über dem des gewöhnlichen LebenS, aber man merkt es kaum bei der gleich
schwebenden Temperatur: so möchte man nicht nur wünschen zu reden, so
schmeichelte man sich auch wohl, in guten Stunden reden zu können.
Die
194
Ans der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
subjectivsten, paradoxesten Empfindungen und Gedanken kommen zur Sprache,
aber sie sind alle ins Gebildete übertragen; bei aller individuellen Echtheit erscheinen sie als allgemein wahr, als rein menschlich.
Und doch machen
sie nie den Eindruck einer abgezogenen Sentenz, sie drängen sich in Farben
und Gestalten auf.
Es ist eine Studie von unendlicher Lebenshelle, von
einer Tiefe, die bis zum Schaudern geht; bis ins kleinste Nervengeflecht
vom Geist der Poesie durchhaucht. Im Stil ist „Tasso" den Werken der Sturm- und' Drangzeit ent gegengesetzt; im Problem nicht.
„incompleten
Pflanzen",
von
Tasso ist wieder Werther, eine von jenen jenen
„problematischen
Naturen",
„die
keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug
thut."
„Daraus entsteht der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne
Genuß verzehrt."
Aber das Problem ist vertieft.
Werther entschädigt für sein Proble
matisches nur durch Liebenswürdigkeit und Güte; bei Tasso hängt eö mit
dem Höchsten zusammen, waS in seiner Seele liegt: mit seinem Dichten.
Jedes Bild setzt seine Seele in schwingende Bewegung, und ruft eine Reihe anderer Bilder hervor.
Man giebt ihm Stubenarrest: sogleich er
scheint ihm das häßliche Gefieder der Nacht, das in Kerkern zu weilen pflegt.
Man warnt ihn vor der Reise nach Neapel: sogleich sieht er sich
in Pilgerkleidern geheimnißvoll von Thür zu Thür schleichen.
Man setzt
ihm den Lorbeer auf: sogleich träumt er von einem siegumlaubten Jüng ling der Vorzeit,
über dessen Geschick die Nachwelt grübelt. — Diese
Association der Bilder ist dichterische Eigenschaft; aufs Leben übertragen, durch keine andere Eigenschaften eingeschränkt, bringt sie den Menschen in
die verkehrtesten Lagen; sie spielt ihm Täuschungen unter und macht ihn mißtrauisch.' „Wie ein Dichter am fähigsten ist, einen andern auszulegen, so wird
er auch tiefer ergründen, wie sich in einer Dichterseele die Triebe zart in einander weben; feiner belauschen, wie die Regung sich allmälig zur That
bildet."
Das ist eine Bemerkung A. W. Schlegels.
Werther ist viel dramatischer als Tasso: die Katastrophe erschütternd.
der Fortgang ist deutlich,
Im „Tasso" scheint nichts rechtes vorzu
gehn; der Dichter begeht eine Unschicklichkeit, aber deswegen wird die gute
Gesellschaft, wie sie hier erscheint, ihn nicht ins TollhauS werfen, wie der Tyrann von Ferrara wirklich gethan.
Dennoch ist der Eindruck tragisch:
Tasso erwacht, und bricht im deutlichen unabweisbaren Bewußtsein, eine
„incomplete Pflanze" zu sein, in sich zusammen. Es ist ebenso gefährlich wie reizend, sich in den Abgrund seines
Innern zu stürzen.
Aber der Dichter kann nicht anders.
„Verbiete Du
An« der Blllthezeit der deutschen Dichtung.
195
dem Seidenwurm zu spinnen, wenn er sich schon dem Tode näher spinnt! Das köstliche Geweb' entwickelt er aus seinem Innersten, und läßt nicht
ab, bis er in seinen Sarg sich eingeschlossen. . .
Ich scheine nur die
sturmbewegte Welle; doch überhebe nicht Dich Deiner Kraft!
In dieser
Woge spiegelte so schön die Sonne sich, es ruhten die Gestirne an dieser
Brust, die zärtlich sich bewegte." „Werther"
hatte augenblicklich gezündet;
„Tasso" gehörte zu den
Dichtungen, in die das Bolk erst hineinwachsen muß; er war zu vornehm,
um sofort verstanden zu werden.
„Der Eindruck, den
der Tasso das
erstemal zurückläßt",
schreibt
Huber an Körner, „ist peinlich verworren. Die Charaktere und Situationen
behalten unter dem zarten Hauch eines miniaturähnlichen Colorits eine
gewisse Unbestimmtheit, die den Eindruck des Ganzen kaum wohlthätig
macht, und sie sind in der innigen und seelenvollen Behandlung, Goethe
eigen ist,
ungefähr
ebenso
die
auf eine Nadelspitze gestellt wie
manche Charaktere und Situationen in Lessings subtiler und sinnreicher Manier."
A. W. Schlegel in Göttingen schreibt:
„Ein Schauspiel, das sich
mehr durch sorgfältige Ausführung, durch Feinheit und Zierlichkeit deS
Dialogs als durch Kühnheit und Kraft auszeichnet, muß auf den Leser
stärker wirken als auf den Zuschauer.
der einschmeichelnden Anmuth
Aber auch jener wird mehr bei
einzelner Stellen
Interesse des Ganzen hineingezogen werden.
verweilen
als itt das
Köine der handelnden Per
sonen ist so geschildert, daß man ihr Wohl und Wehe mit vollem Herzen
zu dem seinigen machen könnte.
Tasso selbst erregt nur eine mit Un-
muth über sein grillenhaftes Betragen gemischte Theilnahme, und die Princessin äußert
jh
matte, kränkliche Gefühle, als daß man lebhaften An
theil daran sollte nehmen können."
So die beiden ausgezeichnetsten Kritiker
des nächsten Jahrzehnts. In gewissem Sinn hatte es Goethe gemacht wie Schiller: um die
Gestalten rein zu haben, hatte er seine Empfindung durch Vertheilung geschwächt.
„Zwei Männer sind's, ich hab' es lang gefühlt, die darum Feinde
sind, weil die Natur nicht Einen Mann aus ihnen beiden formte." — So grausam war in Wirklichkeit die Natur nicht gewesen:
sowohl Tasso als Antonio: jeder Zoll ein Dichter,
Goethe war
hatte er doch vom
Bater mit der Statur auch „des Lebens ernstes Führen" geerbt.
Es ging
ihm im „Tasso" wie Schiller im „Don Carlos": je älter der Dichter wurde, desto stärker entwickelte sich seine ernste Charakterseite; Posa ge
wann den Vortheil über Carlos, Antonio den Vortheil über Tasso.
196
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
Die krankhafte Empfindlichkeit Tasso'S, sein ewiges Mißtrauen, sein Bedürfniß, sich verzieh» und verzärteln. Andre für sich sorgen zu lassen,
lag Goethe'S gesunder und tüchtiger Natur völlig fern; eine solche Hülflosigkeit war eS nicht, was die Frauen an ihn fesselte.
Aber viel vom
Taffo steckte in ihm, dem Liebling aller Frauen.
„Sein Ohr vernimmt den Einklang der Natur; was die Geschichte reicht, das Leben giebt, sein Busen nimmt eS gleich und willig auf: das
weit Zerstreute sammelt sein Gemüth, und sein Gefühl belebt das Un
belebte.
Oft adelt er, was uns gemein erschien, und das Geschätzte wird
vor ihm zu nichts.
In diesem engen Zauberkreise wandelt der wunder
bare Mann, und zieht unS an, mit ihm zu wandeln, nehmen.
an ihm theilzu-
Er scheint sich uns zu nahn, und Geister mögen an unsrer
Stelle seltsam ihm erscheinen."
— „UnS liebt er nicht!
AuS allen Sphären trägt er, was er liebt
auf einen Namen nieder, den wir führen, und sein Gefühl theilt er unS mit: wir scheinen den Mann zu lieben, und wir lieben nur in ihm das
Höchste, waS wir lieben können." Die Gräfin Sanvitale beobachtet fein.
Etwas von dieser idealisi-
renden, poetischen Liebe, die vom Gegenstand einigermaßen unabhängig war, hatten Annette, Lucinde,' Friderike, Lotte, Lilli, Corona u. s. w. wohl empfunden.
Aber Frau von Stein war diese Selbstbeobachtung neu und
fremd: gegen sie war er nicht so gewesen, er hatte ihr willenlos zu Füßen
gelegen, im tiefsten Herzen abhängig von jedem ihrer Blicke, gehorsam
jedem ihrer Winke. Hatte er auch sie getäuscht! auch gegen sie seine Empfindung über
trieben?
Denn die wilde Leidenschaft, in die Tasso zuletzt ausbricht, ist
ihm nicht natürlich; er empfindet sich in sie erst hinein, und eS erfolgt
eine tolle Reaction.
Hatte die Princessin am Ende Recht, wenn sie
scherzhaft deS Dichters Herz zwischen den beiden Leonoren getheilt schilderte? und Unrecht,
jüngere,
wenn sie ihm Gleichgültigkeit, ja Abneigung gegen die
schönere Rivalin
vorwarf?
Sie selbst,
der zuerst
Tasso'S
unbedingte Huldigung galt, erkannte sie sich denn auch zuletzt in diesem Bilde? — „Ihre Neigung zu dem weichen Manne ist ihren andern Leiden
schaften gleich.
Sie
leuchten wie
der
stille Schein des Monds dem
Wandrer spärlich auf dem Pfad zu Nacht; sie wärmen nicht, und gießen keine Lust nach LebenSfreud' umher." —
Ihre Neigung sollte nicht wärmen? sie sollte matt sein wie kränklich? — So hatte, nach der Auffassung deS Dichters, die ältere Freundin am Ende mit dem Jüngling ebenso gespielt wie die jüngere!
197
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
--------- „Sie wird mich gern entlassen, wenn ich gehe, wenn es zu
meinem Wohl gereicht. — O fühlte sie eine Leidenschaft Im Herzen, die
mein Wohl und mich zu Grunde richtete! willkommener ergriffe mich der Tod, als diese Hand, die kalt und starr mich von sich läßt." — Welcher
Undank! — Goethe war es vielmehr, der zu ihrem tiefen Schmerz sich von ihr losgerissen hatte!
Möllere hatte im „Misanthrop" einen ähnlichen ThpuS zu zeichnen versücht, der noch heute bei den Franzosen als sein Meisterstück gilt. Wir Deutsche können das nicht leicht nachempfinden; im Grunde hat der
„Misanthrop"
in all' seinen Urtheilen Recht: die Leute, gegen die er
auftrttt, sind schlechtes, unbedeutendes Gesindel; die einzige interessante
Person ist eine herzlose Coquette.
Wer mit dieser Welt nicht lügen will,
muß Misanthrop werden.
So einfach liegt die Sache im Tasso keineswegs.
Im Grunde alles
gute, brave, gebildete Leute, die man achten, mit denen man gern ver
kehren mag; selbst die leichtfertigste unter ihnen, die Gräfin Sanvitale, ist doch überwiegend
Wo kommt nun der Ekel her vor
wohlgesinnt.
dieser Welt, der uns nicht blos aus der Seele des hypochondrischen Tasso, sondern aus dem ganzen Gedicht anweht? — Das Gefühl: diese schöne,
anständige, gebildete, wohlmeinende Welt mit kleinem Wollen und leichtem ist doch am Ende auch eine Sphäre, in der eine freie Seele
Entsagen
verzweifeln möchte!
„Die Menschen kennen sich einander nicht!
Nur die Galerensklaven
kennen sich, die eng an eine Bank geschmiedet keuchen; wo keiner was
zu fordern hat und keiner was zu verlieren hat: die kennen sich! wo jeder sich für einen Schelmen giebt, und Seinesgleichen auch für Schelmen
nimmt.
Doch wir verkennen nur die andern höflich, damit sie wieder
uns verkennen sollen." —
Freilich ist es nur der historische Tasso, den der Dichter so reden läßt, noch dazu in einem Augenblick halber Raserei; aber solche Farben
für die gesuchte Empfindung findet der Dichter nicht, wenn er nicht selber
im tiefsten Herzen darunter mitleidet.
Goethe selbst erzählt später, er
habe in dem Tasso deS Herzbluts mehr als billig tranSfundirt.
„Wundern kann ich mich nicht, daß die Menschen die Hunde so lie ben:
denn ein erbärmlicher Schuft ist wie der Mensch, so der Hund!"
DaS ist nicht lange nach dem „Tasso" geschrieben, aber nicht im Namen „Tasso'S". Die Stimmung im Tasso
Werther.
ist
eigentlich viel bitterer,
als die im
Das ganze Leben sieht wie eine Krankheit auS: als ob Träume
die Menschen von einander sonderten, sie in dunkle Kammern einschlössen.
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
198
Man schaudert vor dem Blick,, der bis in die Tiefe des Abgrundes zu dringen scheint. Das Stück erweckt die tiefste Rührung, und doch weiß
man nicht
warum? — Im „Hamlet", an den sich „Tasso" in der Weltliteratur wohl am nächsten anreiht, versteht man den Hauch des Todes wohl, der
sich über die entsetzlichen Begebenheiten breitet; aber was geht eigentlich
im „Tasso" vor? — Man muß zum Verständniß die Stimmung erwä gen, in der Goethe den „Tasso" vollendete.
Das Verhältniß zu Frau v. Stein hatte einen traurigen Abschluß
gefunden.
Um sich von beit ewigen Aufregungen zu erholen, machte sie
eine Reise nach Süddeutschland zu Sophie Laroche; sie ließ Goethe einen bittern Brief zurück.
„Er hat mich", schreibt dieser 1. Juni, „aus
mehr als eine Weise betrübt.
Ich zauderte zu antworten, weil eS in
einem solchen Falle schwer ist, aufrichtig zu sein und nicht zu verletzen. —
Wie sehr ich Dich liebe, habe ich durch meine Rückkunft auS Italien be wiesen . .
Was ich in Italien verlassen, mag ich nicht wiederholen, Du
hast mein Vertrauen darüber unfreundlich genug ausgenommen.
Leider
warst Du, als ich ankam, in einer sonderbaren Stimmung, und ich ge
stehe aufrichtig, daß die Art, wie Du mich empfingst, mir äußerst emfindlich war...
Ich mußte mir hartnäckig wiederholen lassen, ich hätte
nur wegbleiben können, ich nähme doch keinen Theil an den Menschen
u. s. w. — Und das Alles,
ehe von einem Verhältniß
die Rede war,
daS Dich so sehr zu kränken scheint. — Und welch ein Verhältniß ist es?
wer wird dadurch verkürzt? wer macht Anspruch die ich dem armen Geschöpf gönne? ...
an die Empfindungen,
Es müßte durch ein Wunder
geschehen, wenn ich allein zu Dir daS beste, innigste Verhältniß verloren
haben sollte.
Aber die Art, wie Du mich bisher behandelt hast, kann
ich nicht dulden.
Wenn ich
gesprächig war, hast Du
mir die Lippen
geschlossen, wenn ich mittheilend war, hast du mich der Gleichgültigkeit, wenn ich für Freunde thätig war, der Kälte und Nachlässigkeit beschul digt.
Jede meiner Mienen
hast Du controllirt, meine Bewegungen,
meine Art zu sein getadelt, und mich immer mal ä mon aise gesetzt.
Wo sollte da Vertrauen und Offenheit gedeihen, wenn Du mich mit vor sätzlicher Laune von Dir stößest! — Ich möchte gern noch manches hin
zufügen, wenn ich nicht befürchtete, verfaffung
eher beleidigen
daß es Dich bei Deiner GemüthS-
als versöhnen könnte. — Unglücklicherweise
hast Du schon lange meinen Rath in Absicht des Kaffees verachtet.
ES ist
nicht genug, daß es schon schwer fällt, manche Eindrücke moralich zu über winden, Du verstärkst die hypochondrische quälende Kraft der traurigen
Vorstellungen durch ein physisches Mittel."
199
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
Der Brief war hart, er stieß Charlotten ins Herz. übte Nothwehr,
er konnte das Verhältitiß nicht
Aber Goethe
Der
länger ertragen.
Brief war hart, aber nicht höhnisch; er war durchaus ehrlich und auf
richtig gemeint; auch die Warnung vor dem Kaffee, den Goethe einmal für Gift hielt.
Der Brief war hart, aber er hatte dem Absender viel
leicht ebenso viel Schmerz gemacht als der Empfängerin. „Nicht leicht ist mir ein Blatt so sauer geworden!
8. Juni.
Indeß
ist doch wenigstens die Lippe geöffnet. — Wenn bei uns alles folgenlos
wird, wenn man hier fast seinen. Menschen nennen kann, der in seinem Zustand behaglich wäre, so gehört schon Kraft dazu, sich aufrecht in einer gewissen Thätigkeit zu erhalten
und sich
nicht nach und nach zu lösen;
wenn aber gar ein übles Berhältniß zu dem Nächsten entsteht, so weiß man nicht mehr, wohin man soll.
Es schmerzt mich unendlich, Dich unter
diesen Umständen noch so tief zu betrüben . . will ich nichts sagen.
Zu meiner Entschuldigung
Nur mag ich Dich gern bitten: hilf mir selbst,
daß das Verhältniß, das Dir zuwider ist, nicht ausarte,-sondern stehen bliebe wie es steht!
Schenke mir Dein Vertrauen wieder, sieh die Sache
aus einem natürlichen Gesichtspunkt an, erlaube mir. Dir ein gelassenes Wort darüber zu sagen, und ich kann hoffen, es soll sich Alles zwischen
lins rein und gut Herstellen."
Auch der Brief war ernst und ehrlich gemeint; es stand völlig in der Macht der alten Freundin, Christiane in die zweite Stelle zurückzu
drängen.
Sie hatte herrliche Erinnerungen, an denen sie zehren durfte:
sie tonnte echte Freundschaft finden.
Aber ihr
Stolz bäumte sich
auf
gegen das Mädchen aus dem Volk, und wilder Haß bemächtigte sich ihrer Seele.
Wäre sie nur Goethes Freundin gewesen, so war ihr Verhalten
der reine Wahnsinn.
Aber sie hatte mehr gehabt; es hatte sie große
Kämpfe gekostet, ehe sie das einging; nun bot ihr Goethe, was sie ihm
zuerst geboten, die reine Frermdschaft; da empörten sich ihre Eingeweide, und in der zurückhaltenden Weltdame brach die ursprüngliche wilde Natur
hervor.
Sie war nicht vornehm genug, ihren Groll in sich zu verschließen; leidenschaftlich genug, ihn viele Jahre festzuhalten.
In den nächsten Jah
ren sahen sie sich garnicht: dann glich sich äußerlich das Verhältniß wie der aus; aber wo es irgend anging, sprach sie sich bitter und höhnisch
über Goethe aus, der doch der Mittelpunkt ihres Sinnens blieb.
Aller
böswillige Klatsch gegen Goethe fand in ihrem Hause bereitwillige Auf nahme und geschäftige Verbreitung; das Unglück hatte sie nicht besser
gemacht. „Wohl ist sie schön, die Welt!
In ihrer Weite bewegt sich so viel
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
200
GuteS hin und her. sich
zu
entfernen
Ach daß es immer nur um einen Schritt von uns
scheint,
und unsere lange Sehnsucht durch das Leben
auch Schritt vor Schritt bis nach dem Grabe lockt! daß die Menschen finden, was ihnen doch
bestimmt
So selten ist es, gewesen schien,
selten, daß sie das erhalten, was einmal die beglückte Hand ergriff!
so Es
reißt sich los, was erst sich uns ergab, wir lassen los, was wir begierig faßten. — Es giebt ein Glück, allein wir kennen's nicht: wir kennen's
wohl, und wissen's nicht zu schätzen." Tief erschüttert über dies Scheiden, athmete Goethe dennoch auf, da
er der schwülen Luft des „Tasso" entfloh.
„Nun", schreibt er 10. August
an Herder „sind wir frei von der Leidenschaft, solch eine consequente Eom-
position zu unternehmen: die Fragmentenart erotischer Späße behagt mir besser."
Er arbeitete die „Römischen Elegien" aus, ein lieblicher Blumen
kranz griechischer Bilder, halb Nachklänge aus der römischen Zeit, halb zu Ehren des neuen Liebchens gewunden.
„Laß Dich, Geliebte! nicht reue», daß Du mir so schnell Dich er geben !
Glaub es, ich denke nicht frech, denke nicht niedrig von Dir. . .
Reizendes Hinderniß will die rasche Jugend; ich liebe, mich des versicher ten Guts lange bequem zu erfreun."
Er besingt die Göttin Gelegenheit: „einst erschien sie auch mir, ein bräunliches Mädchen, die Haare fielen ihr dunkel und
reich
über
die
Stirne herab; kurze Locken ringelten sich um's zierliche Hälschen, unge flochtenes Haar brauste vom Scheitel sich auf.
Und ich verkannte sie nicht,
ergriff die Eilende: lieblich gab sie Umarmung und Küsse bald mir ge
lehrig zurück."
Zwischen Fama, der Göttin des Ruhms, und Amor ist eine bestän dige Fehde: „wie sie sich Helden erwählt, gleich ist der Knabe darnach.
Wer sie am höchsten verehrt, den weiß er am besten zu fassen, und den Sittlichsten greift er am gefährlichsten den bringt
er vom
an.
Will ihm Einer entgehen,
Schlimmen in's Schlimmste . .
schämt, der muß erst leiden. . .
Wer sich
seiner
Aber auch sie, die Göttin, verfolgt ihn
mit Augen und Ohren . . strenge vcrruft sie das Haus. . .
Uud
so
geht es auch mir: schon leid' ich ein wenig; die Göttin, eifersüchtig, sie forscht meinem Geheimnisse nach." „Schwer wird es mir, ein schönes Geheimniß zu wahren!
Lippen entquillt Fülle des Herzens so leicht!
Ach den
Mein Entzücken, dem Hain,
dem schallenden Felsen zu sagen, bin ich endlich nicht ping, bin ich nicht einsam genug.
Dir Hexameter, dir Pentameter, sei es vertrauet, wie sie
des Tags mich erfreut, wie sie des Nachts mich beglückt . . . und blühet, geliebte Lieder!
Wachset
und wieget euch im leisesten Hauch lauer
201
Aus der Blüthezeit der deiltscheu Dichtung.
und liebender Lust, und entdeckt den Quirilen geschwätzig eines glücklichen
Paars schönes Geheimniß zuletzt."
In diesem Schwelgen in den Italienischen Erinnerungen mußte ihm, was Herder aus Italien schrieb, halb verrückt vorkommen.
ist kein
„Rom
Ort
Jahren ist hier zu suchen;
für mich.
Alles
Eine Welt von drittehalbtausend so weit
liegt
einander und hat
aus
Ideen neben und vor sich, daß ich mir jeden Tag unwissender dünke . .
Rom erschlafft die Geister, es ist ein Grab des Alterthums, in dem man sich gar zu bald an ruhige Träume und an den lieben Müßiggang ge
Man fühlt sich wie in einer Tiefe, in der man nicht viel weiter
wöhnt.
kommt, je mehr man mit Händen und Füßen strebt.
Die Fäden, die
sich aus Rom in alle Geschäfte schlingen, sind so vielartig, daß es. besser ist, zu guter Zeit sie aus den Händen zu lassen und nur deu Knäuel in
seinem Gemüth
zu behalten. . .
man ganz, weil
wozu das Denken?
Sein
Das Denken und die Mühe verlernt
sich immer der Gedanke
einziger
aufdrängt:
wozu
die Mühe?
Es ist doch Alles ein Traum!"
Trost
ist
Angelica
Kaufmann,
„dies
seltene
jungfräuliche Kunstwesen; eine wahre himmlische Muse voll Grazie, Be scheidenheit und einer ganz unnennbaren Güte des Herzens; dabei viel leicht die cultivirteste Frau in Europa."
In Neapel besserte sich seine Stimmung etwas. Rom befreit,
fühle ich mich wie einen ganz
geboren an Leib
Ort. . . unsinnlich,
hätte.
und Seele.
Ich lebe in der
Rom
„Vom drückenden
andern Menschen, wieder
ist eine Mördergrube
gegen diesen
höchsten Sinnlichkeit
von außen so ätherisch
daß ich selbst in Deutschland keinen
Begriff davon gehabt
Wo Alles
sinnlich ist, wird man unsinnlich;
man sucht mit der
Seele etwas, das man mit den Sinnen nicht findet. Aus einer Unzufriedenheit fiel er in die andere.
„Zartheit und Nach
giebigkeit", sagte Goethe zu Caroline, sind seine Eigenheit, und nun leidet
er darunter . . Daher kommt's manchmal, daß er nachher am unrechten Ort das Rauhe hcrauskehrt."
Freilich machte es Goethe in Weimar
nicht anders.
Die italienische Reise war 'im Ganzen für Herder eine falsche Ten denz: für einen ältern, kränklichen, hypochondrischen Mann von schwachen
Augen war der Genuß zu angreifend.
Zudem wollte er nicht wie Goethe
incognito leben sondern als Prälat auftreten; das kostete Geld, und er
wußte sich auch darin nicht zu helfen.
Er war von den Launen seines
Reisegefährten und mehr noch von der Maitresse desselben abhängig, und verstand nicht, sich aus dieser falschen Position zu ziehn.
Wieder spricht Caroline Herder in den Briefen an ihren Mann
Aus der Blüthezeit der deutsche» Dichtung.
202
mit großer Wärme von Goethe; nach Herder's Gefühl Wärme.
mit zu großer
Sie ertheilt ihm in Goethe's Namen Rathschläge, wie er sich
zu benehmen habe.
Der fünf Jahre jüngere
Schüler, will ihn bevormunden!
Mann, sein ehemaliger
Und dabei nennt ihn dieser nur fünf
Jahre jüngere Mann einmal den „guten Alten!"
Die Art, wie Herder
das aufnimmt, ist für den Unbctheiligten äußerst komisch, aber es wirft
ein Streiflicht auf seine Natur und zeigt, wie schwierig es war, mit ihm Die Art, wie er für,sich sorgen ließ und doch
dauernd zu verkehren.
darüber empfindlich war, ist ganz Tasso. „Verdrießlich fiel mir stets die steife Klugheit, und daß er immer Anstatt zu forschen, ob des Hörers Geist nicht
nur den Meister spielt.
schon für sich auf guten Spuren wandle, belehrt er Dich von manchem,
tiefer fühltest . . . Verkannt zu sein, verkannt von
das Du besser und
einem Stolzen, der lächelnd Dich zu übersehen glaubt!
Ich bin so alt
noch nicht, daß ich nur duldend gegen lächeln sollte!" —
15. März erhielt Herder von Heyne den förmlichen Antrag einer
Professur in Göttingen; dort war alles für ihn eingenommen, auch Planck und Spittler verwandten sich lebhaft für ihn. Für Weimar und Jena wäre es ein schwerer Schlag gewesen. Goethe warnte den Freund.
„Hier ist zu rechnen und nicht zu fühlen, zu erwägen
und nicht in einen Lostopf zu greifen.
macht mir bange.
Dein und Deiner Frauen Zustand
Wenn ihr euch nicht im Glauben und Zutrauen an
einem Freund halten mögt, den ihr lange genau kennt, so seid ihr in Ge fahr, euch auf Zeitlebens zu Grunde zu richte«.
Bedenke, daß Dr« nicht
als ein junger Mensch Dein einzeln Schicksal aufs Spiel setzest, sondern
daß Du in Jahren, mit einer großen Familie Dich veränderst, und daß Dein Gemüth, wie das Deiner Frau nicht aushalten würde, wenn der
Göttinger Zustand mißlingen sollte."
Ruhig zu erwägen,
war
noch Carolinen's Art;
weder Herder's
sie waren in der äußersten Aufregung und kamen zu keinem Entschluß.
Goethe veranlaßte — mitten in der Arbeit am Tässo — den Herzog
zu Anerbietungen,
genug
waren,
und
die
sehr bedeutend klangen,
deren
Tragweite
keiner
der
aber nicht
bestimmt
Betheiligten
völlig
übersah. Herder empfing sie 31. Mai in Bologna; dazu einen sehr herzlichen Bries der Herzogin Luise.
Er vertagte die Entscheidung.
9. Juli kam
er in Weimar an, wo man ihn zum Vicepräsidenten des Consistoriums ernannt hatte.
Verschiedene Kränkungen und Mißverständnisse,
die er
schwerer nahm als nöthig, machten ihn mißmüthig; er wußte nicht, wem
er trauen sollte.
Daß Goethe ihn davon abhielt, daö Geschäft contractlich
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
zu ordnen, machte die Sache noch unklarer.
203
Erst Ende September schrieb
er definitiv in Göttingen ab.
In Weimar gab er Anstoß, daß er die Schicksale seines Lebens auf die Kanzel brachte. Schiller.
„Noch ein Beispiel von seinem Savoir-vivre!" schreibt
„Bei der Tafe.l der Herzogin nannte er den Hof einen Grind
kopf und die Hofleute die Läuse, die sich darauf herumtummelten." —
lind das in den Tagen des Bastillesturms!
Wenn Herder dem alten Freunde wiederholt den Tasso-Thpus ver trat, so fehlte es nicht an Exemplaren derselben Gattung in der Nähe.
„An der innern Wahrheit der dargestellten Charaktere ist nicht zu zweifeln.
Tasso lebt zwiefach für uns in Rousseau und noch Jemand,
dessen Bild bei seiner Trennung von uns mich nicht verlassen hat." So
Huber an Körner.
„Ich weiß sehr gut, was ich Dir bin, und es be
schämt mich nicht, daß ich durch das Sinken eines Andern bei Dir gestiegen bin."
Huber war April 1788 als kurfürstlicher Legationssecretär nach Mainz
gegangen;
vorher hatte er sich mit Körner's Schwägerin, der Malerin
Dora Stock verlobt. Der Andre, der noch Jemand ist Schiller, den Huber auf der
Reise aus Dresden, aber nur im Fluge gesehen hatte. vollgültig, Körner urtheilt im Grund ebenso.
Das Zeugniß ist
Schiller hat in der That
die Tasso-Stimmung durchgemacht, aber er hat sich in seinen reiferen
Jahren völlig davon befreit.
6. Akai schlug ihm Körner eine reiche Partie vor.
„Ich zweifle, ob
Du Talent zur häuslichen Glückseligkeit hast, und in diesem Fall würde ich ein liebenswürdiges Geschöpf bedauern, das Dich durch innern Werth
reizte, aber doch nicht auf immer fesseln konnte." Seit lange hatte Körner mit seiner Familie einen Besuch in Aus
sicht gestellt; Schiller, sehr erfreut, war doch in einiger Unruhe über die Berührung desselben mit Frau v. Kalb. Die Lengefeld'schen Schwestern, die Jena 10. Juli berührten, fanden wenig Gelegenheit zum ruhigen Ver
kehr.
Schiller schreibt ihnen 24. Juli nach Lauchstädt, wo sie sich auf
hielten, einen gefühlvollen Brief, doch ohne bestimmte Erklärung.
„Sie
glauben nicht, wieviel Muth ich brauche, dies freundlose Dasein hier fort zusetzen!
Meinem Herzen fehlt es an einer beseelenden Berührung, und
durch keinen Gegenstand um mich her geübt, verzehrt sich mein Herz an wesenlosen Idealen". —
Die Sache hätte noch lange fortgehen können, wenn sich nicht Caro line entschlossen hätte, ein Ende zu machen.
Sie nahm 2. August in
Lauchstädt Schiller bei Seite uud wies ihm nach, daß er Lotte und daß
204
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
Lotte ihn liebe.
Schiller erhielt in Jena 5. August von Lottchen schrift
lich die Bestätigung.
Man beschloß, vor der Mutter die Sache vorerst geheim zu halten —
vielleicht weil Caroline sie gleich mit der Nachricht überraschen wollte, sie sei Willens, sich von Beulwitz scheiden zu lassen. Schiller's Briefe nach der Verlobung klingen mitunter recht seltsam,
es sieht so aus, als wolle er beide Schwestern heirathen, seelisch.
„Ihr seid mein!
wenigstens
O wie sehnlich wünsche ich, daß Ihr mich
ganz durchschaut haben möchtet, alle meine Schwächen gesehen und mich dennoch gewählt . . . Dein Brief, theuerste Caroline! hat meine Seele
tief bewegt
Aber vor meiner Seele steht eS verklärt und hell, welcher
Himmel in der Deinigen mir bereit liegt ..."
Gegen Körner, der grade in den Tagen der Verlobung seinen Be such in Jena auSgeführt hatte und verstimmt abgereist war, hatte Schiller
kein gutes Gewissen.
„WaS wir im stillen Umgang mit einander hätten
abmachen können", schreibt er ihm 31. August, „war bei diesem geräusch
vollen Zusammensein freilich nicht möglich.
Wir schieden fast wie im
Traum, und ich hätte Dir gern tausend Dinge gesagt, die mir zu spät einfielen."
„Daß Du Dich", antwortet Körner 7. September, „unseres Zusam menseins mit Vergnügen erinnert, war mir um desto lieber, da ich wirk
lich schon auf den Gedanken gekommen war, als ob diese Zusammenkunft unS mehr entfernt als genähert hätte.
Du wirst mich verstehn und kannst
mir glauben, daß ich auch Dich verstanden habe." — Er grollte dem Freunde, daß er ihm wegen seiner Verlobung auch jetzt nur ein halbes
Vertrauen schenkte. „Ich werde mich hüten", schreibt Schiller an die Schwestern, die er 18. September in Rudolstadt besuchte, „ihm Aufschluß zu geben. Brief an ihn enthielt meine Seele nicht.
Mein
Es ist mir jetzt auf eine Zeit
lang viel Freude entzogen, daß ich mein Herz nicht gegen ihn reden lassen
kann — aber wie vieles macht Ihr mich vergessen!" „Ich bin", schreibt Schiller 11. September an Lottchen,
„jetzt in
einem recht guten Verhältniß mit Frau v. Kalb, und wünsche, daß es so bleiben möchte.
Sie hat auf meine Freundschaft die gerechtesten An
sprüche und ich muß sie bewundern, wie rein und treu sie die ersten Em pfindungen unserer Freundschaft in so sonderbaren Labyrinthen, die wir
mit einander durchirrten, bewahrt hat.
Sie ahnt nichts von unserm Ver
hältniß, auch hat sie, mich zu beurtheilen, nichts als die Vergangenheit,
und darin liegt kein Schlüssel zu der jetzigen Stimmung meines Gemüth-. Aber sie ist mißtrauisch und auch die Freundschaft kann empfindlich sein.
Aus bet DliitheM der deutschen Dichtung.
205
Ihr begreift also wohl, wie wenig ich wünschen kann, sie in unserm Kreise
zu sehen." „Uebrigens macht sie mich doch etwas verlegen.
Das Verhältniß,
worin sie sich mit ihrem Mann versetzen will, hat mich ihr in gewissem
Betracht unentbehrlich gemacht.
Sic verlangte und konnte mit Recht ver
langen, daß ich nach Weimar kommen
und die Lage mit ihr berathen
sollte. — „Aber — —" Er hatte keine Zeit! und schlug ihr vor, nach Jena zu kommen.
übcrzengt.
Sie lehnte ab.
Ihre Lage ist
„Zum Theil haben mich ihre Gründe
jetzt doppelt dclicat,
daß die Sache unbeachtet bleiben werde.
und
sie glaubt nicht,
Ich habe nun das Meinige
gethan." „Mit der Kalb", schreibt er 28. Seprember an Körner, wahrscheinlich zur Scheidung kommen.
„wird cs
Auf den Brief, den sic ihrem Mann
darüber schrieb, hat er so geantwortet, daß er ihrem Willen nicht Gewalt anthun wolle, und die Hindernisse, die er entgegensetzt, hat sie durch einen Er beruft sich auf eine Liebe, die sic ihm nie
neuen Brief widerlegt.
gezeigt und nie für ihn gefühlt hat, und auf die (einige, die sie nie er fahren hat.
Sein Brief zeigt Delicatcsse und Empfindung, aber er ist
schlaff und verbessert seine Sache nicht." Sie erlebte schreckliche Scenen:
man wollte ihr die Kinder nehmen.
Wenn Schiller fürchtete, die Stein möge plaudern, beruhigte ihn Lottchcn.
„Wenig Menschen können unser Verhältniß so ahnen wie es
ist, und zumal was Du mjr bist; ich kann es Dir ja selbst nicht be schreiben".
Aber etwas Anderes beunruhigte sie. — „Schon bei Deinem
vorjährigen Aufenthalt" schreibt sie ihm 28. October, „kam mir zuweilen
ein Mißtrauen an mich selbst an, und der Gedanke, daß Dir Caroline mehr sein könnte als ich, zog mich auch mehr in mich zurück.
Ich fürchtete
lästig zu sein." „Soll ich es Dir gestehn?" erwidert Schiller. nicht mehr für ganz frei.
„Ich hielt Dich
Eine frühere Neigung, fürchtete ich, hätte Dich
gebunden." An Caroline an demselben Tag:
„Den schönsten Strahl möchte
ich nehmen vom Licht der Sonne wie Iphigenie, und ihn vor Dich nieder legen, das Reinste in der Natur, rein, wie Du selbst bist, und in seiner
Einfachheit unvergänglich wie Deine Seele! . . Ich kann Dir nicht sagen, nicht Worte finden, wie meine Seele Dich umfaßt!
Alle meine Gedanken
umschlingen Dich, und könnte ich nur, in welcher Gestalt es auch sei, wär'
es nur mit diesem Herzen, um Dich wohnen!" — Solche überschwängliche
Aeußerungen gegen die künftige Schwägerin mußten der Braut zu denken Preußisch« Jahrbücher.
XLVI. Heft 2.
15
206
AuS der Blüthezeit der betitschen Dichtung.
geben; Schiller hatte wohl Grund zu der Aeußerung, es sei überflüssig,
daß die Schwestern ihre Correspondenz einander mittheilten.
Caroline hat später ihre eigenen einige haben sich erhalten.
Briefe an Schiller verbrannt;
Hier eine merkwürdige Stelle:
„In unserm
Herzen däucht es mir ein schöner Irrthum, daß wir die Gänseblumen mit gleicher Liebe wie die Gebern umfassen möchten.
Er deutet mir auf das
Dasein einer schönheitsreichen Welt, deren Ahnung unsere inneren Sinne Sich selbst hielt sie wohl nicht für ein Gänseblümchen.
ergriffen hat."
ES klang wirklich, als ob der wunderliche HerzenSconfliet aus Ja-
cobi'S „Woldcmar" sich zum zweiten Mal in einem Dichterleben abspielte: als ob eS Schiller ging wie Goethe's Tasso, bei dem das Bild der einen
Geliebten sich in das der andern verwob. 15. November.
„Unsere Liebe
braucht keine
Wachsamkeit.
Wie
könnte ich mich zwischen Euch beiden meines Daseins freuen, wenn meine Gefühle für Euch beide, für jede von Euch, nicht die süße Sicherheit hätten, daß ich der Andern nicht entziehe, was ich der Einen bin. .. Ca roline ist mir näher im Alter, und darum auch gleicher in der Gedanken
form; sie hat mehr Empfindungen in mir zur Sprache gebracht als Du, meine Lotte!
Aber ich wünschte nicht, daß dies anders wäre.
Was Ca
roline vor Dir voraus hat, mußt Du von mir empfangen:
mein Ge
schöpf mußt Du sein, Deine Seele muß sich in meiner Liebe entfalten,
Deine Blüthe muß in den Frühling meiner Liebe fallen!" Lottchen, 23 Jahre alt, konnte doch wohl glauben, bereits geschaffen
zu sein; eigentlich war sie bereits fertig. — Sie hatte schon die Idee, zu Gunsten ihrer
Schwester
zurückzutreten.
Sie theilt
diese Idee einer
Herzensfreundin mit, Caroline, der Tochter des Präsidenten v. Dache-
röden in Erfurt.
„Es ist ein Gedanke", antwortet diese, „werth in Deinem schönen
Herzen geboren zu sein, aber Du würdest dabei alle Kräfte Deines Lebens aufreiben. . .
Es ist ein Hirngefpinnst Deiner getrübten Phantasie. . .
Schiller's Herz umfaßt Euch beide, vermischt Euch, und doch steht Ihr
wieder
allein und verschieden in seiner Seele, jede in schöner eigner
Grazie.. .
Wenn Du die Idee nicht als eine krankhafte Vorstellung weg
räumen kannst, so sei offen gegen Deinen Geliebten! . . O Lotte! ich
fürchte, Du umfaßt ein Ideal, daß Du nie beseffen hast!
Die Männer,
selbst die besten, können nicht lieben, wie wir, sie fühlen auch ihr Wesen,
während wir es vergessen haben." Nicht wenig hatte Frau v. Stein dazu beigetragen, Lottchen unruhig
zu machen. über Goethe:
Auf einem Besuch in Rudolstadt spricht sie mit Caroline
„es sind böse Reminiscenzen in ihr geblieben".
„Sie ist
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
207
ein verständiges Weib, aber für zarte Hcrzcnsverhältnisse ist ihr jetzt der Sinn verschlossen, sie ist ohne Glauben daran.
Diese Stellung der Ge
müther wirkt Entfernung zwischen uns; ihr Zustand thut mir weh, und
ich kann ihr nichts geben; nichts tönt in ihrem Wesen wieder, dessen daS meine voll ist. . .
Nach ihren Erzählungen wird mir die Weimarische Ge
sellschaft als ein Gewebe von Coquetterie, Rivalität und Armseligkeit
deutlich. . . mit ihr.
Die letzten Tage unseres Zusammenseins stimmte ich besser
Sie war in eine stille Trauer über ihr Verhältniß mit Goethe
gesunken, und da schien sie mir wahrer als in der widernatürlichen Stim mung der Gleichgültigkeit oder Verachtung.
Ein zwölfjähriges zärtliches
Verhältniß kann sich nicht in so widrige Empfindungen auflösen, ohne die
besten Kräfte des geistigen Lebens zu vernichten. — Sie ist aufgerieben
in sich. — Arme Seelei" Lottchen wünschte sehr, daß Schiller ihr näher träte.
„Sie fühlt
Deinen Werth." — In der That nähert sich Schiller immer mehr der
Stein, Goethe immer mehr der Kalb. „Die Kalb", schreibt Schiller 3. November, „ist doch ein seltsam
wechselndes Geschöpf, ohne Talent, glücklich zu sein: wie könnte sie geben,
was sie selbst nicht hat!
Vor ihrer Neugier muß man sich hüten, die
sie oft verleitet, sich selbst nicht zu schonen, und vor ihrer Starkgeisterei,
die sie leicht verführen kann, es mit den Lastern Anderer nicht genau zu
nehmen."
Nun kamen die beiden Schwestern in die Lage nach Weinjar zu gehen'und dort Frau von Kalb zu treffen.
„Es wird wunderliche Sce
nen geben", schreibt Caroline an Schiller; „sie dauert mich, aber nach
allen Bildern, die ich von ihr fasse, danke ich dem Himmel, daß sie Deine
Frau nicht wird."
Sie verspricht ihm, jede Intimität zu vermeiden.
Schiller geht die bevorstehende Zusammenkunft sehr im Kopf herum. „Ich vermuthe, sie wird gegen Lottchen abgemessen sein. — Ich zweifle,
ob sie Wärme
geben kann. — Ihr lauernder Verstand, ihre prüfende
Klugheit, die auch die zartesten Gefühle zerschneidet, fordert einen immer auf, auf seiner Hut zu sein.
Sie hat mich immer mißverstanden, und
würde sich auch jetzt in meine neue Lage zu ihr garnicht zu finden wissen." Er will eö vermeiden, sie zu sehen.
Die Zusammenkunft findet 5. December statt; Frau v. Kalb ist gegen
Lottchen sehr entgegenkommend überrascht.
und freundlich.
Beide Schwestern sind
„ES ist wahr", schreibt Caroline, „der Ausdruck ihres Ge
fühls elektrisirt nicht; sie hat gar keinen ungezwungenen Ton. mir nun
denken, wie Euer Verhältniß war,
anfänglich anzog."
Ich kann
aber nicht, wie sie Dich
Aus der Blülhezeit der deutschen Dichtung.
208
Schiller warnt wiederholt.
„Sie kann Dich", schreibt er 2. Dec.
an Lottchen, „nicht lieben, selbst wenn sie eö wollte!
verzeihen sich niemals.
Gewisse Dinge
Ihr Betragen bringt mich fast auf den Gedanken,
daß sie mein Verhältniß zu ihr noch nicht ganz aufgegeben hat." — Er
kam selbst nach Weimar, ohne Frau von Kalb zu besuchen, die sich über diese „Unhöflichkeit"
gegen Lottchen etwas indignirt aussprach.
befremdete es sehr",
meint diese:
„Mich
„ich besäße zu viel Stolz, über eine
Vernachlässigung mich, beleidigt zu zeigen."
Auch zwischen den Schwestern war noch nicht alles
in Nichtigkeit.
„Lina", tröstet Caroline v. Dacheröden ihr Lottchen, „wird ja auch wahr scheinlich bei Euch wohnen; ich glaube nicht, daß etwas sie an der Aus
führung dieses Gedankens hindern kann." So auch Schiller an Körner, 12. December. sehr übel mit ihrem Mann.
„Die Beulwitz stimmt
Er ist ein recht schätzbarer Mann von Ver
stand und Kenntnissen; dabei denkt er gut und edel, aber es fehlt ihm
an Delikatesse, und seine Frau weiß er nicht zu behandeln.
Sie hat
viel mehr Geist als er iyib eine ganz eigene Freiheit der Seele, für die
er nun ganz und garnicht gemacht ist." — Genau dasselbe Verhältniß
wie zwischen Frau v. Kalb und ihrem Gatten! — „Diesem Übeln Ver hältniß wird abgeholfen, wenn wir mit ihm und seiner Frau zusammen leben.
Wir Beide vertragen uns gut, und wenn die Beulwitz nicht auf
die Gesellschaft ihres Mannes eingeschränkt ist, so geht auch mit ihr alles
besser.
Im Hause haben wir Platz.
Frau v. Lengefeld war bisher nicht im Geheimniß; sobald fie es
erfahren, ertheilte sie in der würdigsten Art ihre Zustimmung, 24. Dec. Um diese zu erleichtern, hatte sich Schiller vom Herzog von Weimar ein
kleines Gehalt, vom Herzog von Meiningen den Hofrathstitel auSgewirkt; Coadjutor v. Dalberg in Erfurt sicherte ihm, sobald er als Kurfürst
in Mainz succedirt haben würde, eine glänzende Zukunft.
In Erfurt um Dalberg und Caroline von Dacheröden sammelte sich jetzt um Weihnacht die ganze Gesellschaft.
Von jener schreibt Lottchen
kurz vorher: „sie hat etwas so Erhabenes, daß eS mir oft ist, wenn ich bei ihr bin, als müßte ich vor ihr niederknien, als sei sie ein höheres
Wesen!. Wenn es viel solche Art Menschen gegeben hätte, so könnte ich mir recht gut denken, wie man auf die Ideen von Engeln und Halb göttern kam." Ueber das Verhältniß
zu Männern dachte sie ziemlich frei;
einige
ihrer Beziehungen hatten selbst in diesem Kreis, der darin doch nicht difficil war, Anstoß gegeben.
helm von Humboldt verlobt.
Eben hatte sie sich mit dem jungen Wil
„Er sagt", schreibt die andere Caroline,
Ans der Blüthezeit der deutsche» Dichtiuig.
„daß er sie nicht liebe, doch glücklich mit ihr sein werde. sehr zartes Gewebe unter ihnen sein. . .
209 Es wird ein
Sie sind im Klaren zusammen
und einverstanden, daß die Heirath kein Band der Seelen ist; so werden sie sich nicht falsch begegnen."
Die Erfurter Zusammenkunft hatte bei Schiller keinen guten Eindrlick hinterlassen.
„Es ist mir gar lieb, daß auch ihr es gefühlt habt,
meine Lieben! wie wenig eigentlich bei unserm lärmenden Zusammensein
für unser Herz gewonnen ist.
Es war wirklich Zeit, daß wir uns trennten.
Nichts Schlimmeres konnte uns je begegnen, als in unsrer eignen Gesell
schaft Langweile zu empfinden, und eö war nahe dabei.
Der Himmel
verschone uits davor, daß wir je alle zusammenleben!"
— „Humboldt ist mir zu flüchtig, zu sehr aus sich herausgerissen,
zu weit verbreitet; ich traue ihm viel Fläche lind wenig Tiefe zu.
Sein
Geist ist reich und geschäftig, sein Herz edel, aber ich vermisse in ihm die Stille der Seele, die ihren Gegenstand mit Liebe pflegt." werther erster Eindruck eines Mannes,
Bemerkens
der Schiller einmal so nahe
treten sollte!
In derselben Zeit entschied sich Goethe'S Schicksal:
zu Weihnacht
schenkte ihm Christiane einen Knaben; wie es scheint, sein erstes Kind.
Bon dieser Zeit datirt er seine „Gewissensehe", die 27 Jahre dauerte. „Ich will nicht wagen", schreibt Herzogin Luise, an Lavater, „über Goethe zu urtheilen, weil die schönen Geister bisweilen unergründlich
sind."
— „Geht!
Ihr seid der Frauen nicht werth!
Wir tragen die Kinder
unter dem Herzen, und so tragen die Treue wir auch; aber ihr Männer,
ihr schüttet mit eurer Kraft und Begierde auch die Liebe zugleich in den Umarmungen aus!" — „Also sprach die Geliebte, und nahm den Kleinen
vom Stuhle, drückt' ihn küssend an's Herz, Thränen entquollen dem Blick. Und wie saß ich beschämt, daß Reden feindlicher Menschen dieses liebliche Bild wir zu beflecken vermocht!" — Nun da die Verlobung erklärt war, durfte Schiller auch dem Dres
dener Freund zuversichtlicher entgegentreten.
„Du hast", schreibt ihm
Körner 27. Januar 1790, „nach Deinen individuellen Bedürfnissen ohne ärmliche Rücksichten eine Gattin gewählt. . .
Du bist nicht fähig, als
ein isolirtes Wesen blos für selbstsüchtigen Genuß zu leben.
Irgend eine
lebhafte Idee, durch die ein berauschendes Gefühl Deiner Ueberlegenheit
bei Dir entsteht, verdrängt zwar zuweilen eine Zeitlang alle persönliche Anhänglichkeit; aber das Bedürfniß, zu lieben und geliebt zu werden,
kehrt bald bei Dir
zurück.
Ich kenne die aussetzenden Pulse Deiner
Freundschaft; aber ich begreife sie, und sie entfernen mich nicht von Dir;
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
210
sie sind in Deinem Charakter nothwendig, und mit andern Dingen ver bunden, die ich nicht anders wünschte.
Mit Deiner Liebe wird es nicht
anders sein; und Deiner Gattin, wenn ich vertraut genug mit ihr wäre, eine solche Aeußerung zu wagen, würde ich nichts Besseres an ihrem Ber-
mählungstag wünschen können, als das Talent, Dich in solchen Momenten nicht zu verkennen."
— ES war daS letzte Grollen; wenig Tage darauf ist die alte schöne
Freundschaft völlig wtederhergestellt. nie von Dauer sein. wird
„Mißverständnisse unter uns können
DaS aufzugeben, waS wir einander sein können,
sich keiner von uns so leicht entschließen."
Fortan dauerte die
Freundschaft der beiden Männer unentwegt bis an den Tod. 11. Januar 1790 ist Lottchen wieder bei Frau v. Kalb, wieder sehr
freundlich und theilnehmend ausgenommen.
Aber nun geht das Geträtsch
in Weimar loS; man trägt Lottchen angebliche gehässige Aeußerungen ihrer Nebenbuhlerin zu, und bringt sie in Aufregung:
„ihre Eifersucht haben
viele hier bemerkt (4. Februar): wären wir zusammen in Italien, so könnte
mir ein Dolchstoß in eine andere Welt helfen.
Gut, daß unser rauhes
Klima unsre überspannten Köpfe mäßigt."
Nun verliert Schiller völlig die Haltung.
„Auch ohne italienischen
Himmel würde ich Dir nicht rathen, in gewisien Augenblicken mit ihr zusammenzutreffen:,
ich
weiß,
sie fähig ist.
wessen
Leidenschaft
und
Kränklichkeit haben sie manchmal an die Grenzen des Wahnsinns ge bracht."
Immer toller wird der Klatsch; man hat sie im Berdacht, Briefe zu
unterschlagen.
Frau v. Kalb bittet Schiller wiederholt um eine Zusammen
kunft; er lehnt ab: er zweifle, ob sie jetzt die Stimmung schon gefunden habe, worin die Zusammenkunft erfreulich sein könne; er läßt seinen Ver dacht merken.
Sie antwortet, er irre sehr, wenn er ihr jetziges Betragen
mit jenem ungeschickten Traum in Zusammenhang brächte, der schon lange nicht mehr in ihrer Erinnerung sei.
DaS erzürnt ihn wieder, und um
sich zu rächen — so berichtet er ausdrücklich an Lottchen, schildert er ihr
in beredten Worten seine neue Liebe.
„Hat sie eS nicht durch die
Plattitüde verdient, womit sie ihre eigene Empfindung herabsetzt?
Sie
war nie wahr gegen mich, außer etwa in einem leidenschaftlichen Augen blick; mit List suchte sie mich zu umstricken."
Lottchen, die zuerst von diesen Briefen nichts wußte, geräth ganz außer Fassung,
als ihr die Kalb eine furchtbare Scene macht.
einmal (10. Februar) treffen sie sich bet der Stein:
Noch
„sie sah aus wie
ein rasender Mensch, bei dem der ParoxtSmuS vorüber ist, so erschöpft,
so zerstört.
Sie saß unter uns wie eine Erscheinung auS einem andern
Aus Der Blülhezeit der deillschen Dichtung. Ich fürchte für ihren Verstand.
Planeten.
211
Ich beklage sie wohl, aber sie
rührt mich nicht." 17. Februar gab Schiller Charlotte ihre Briefe zurück, sie hat sie
später vernichtet. — Man kann nicht sagen, daß Schiller in dieser Sache gut abschloß; er machte es weniger feinfühlcud als Goethe,
solche Ver
hältnisse werden nicht gelöst, ohne daß beide Theile einigermaßen schuldig
werden.
Schiller war in die Leidenschaft hineingezogen, er wußte nicht
recht wie; eine Verpflichtung nach der andern hatte sich ihm aufgedrängt und lastete auf ihm.
Er fand nicht die rechte Form, sie abzuschütteln;
die Unruhe darüber machte ihn hart, ungerecht
und weitigsteits einen
Augenblick ungenteel. Es spricht für beide Theile, daß sehr bald ein leidliches, in wenig
Jahren ein ziemlich herzliches Verhältniß sich wiederherstellte.
Charlotte
hatte bei allen Fehlern etwas Hochherziges, und Schiller war ihr dank
bar, obgleich er sein Urtheil über sic nicht änderte. 22. Februar wurde Schiller in Jena getraut.
„Die Veränderung
ist so unmerklich vor sich gegangen, daß ich selbst erstaune.
Ich bin noch
Meinem künftigen Schick
iin Taumel, und mir ist herzlich wohl dabei.
sal sehe ich mit heiterem Muth entgegen, jetzt da ich am Ziel stehe, er staune ich selbst, wie alles über meine Erwartungen gegangen ist.", „Gebe der Himmel", schreibt Wieland, „daß der Ehestand dazu
beitrage, Schiller von der Ueberspannung zu heilen, die ihm bisher in manchem Betracht nachtheilig, wiewohl der Grund seines großen Nuss
gewesen ist.
Sobald er in sich selbst zu einer gewissen Ruhe gekommen,
ivird er unfehlbar einer der größten Männer unserer Zeit sein, wie er
einer der besten Menschen ist, die ich kenne."
Als Frau v. Stein einmal
gegen ihn den Engelscharakter Lottchen's rühmte, sprang Wieland auf
und rief: dafür müsse er ihr die Hand küssen!
ES war doch wohl auch ein Glück für das junge Ehepaar, daß sich
im Hause kein Platz für die Familie Beulwitz fand.
Schwägerin Ca
roline fand für ihr Herz zunächst eine andere Nahrung: sie wandte ihre
Neigung eiuem geistlichen Herrn, dem Coadjutor v. Dalberg zu. 30 Jahre war Schiller alt, da er heirathete.
14 Jahre dauerte
die edle und glückliche Ehe; nicht die leiseste Spur einer Herzensirrung kommt in dieser Periode vor.
Er lebt nur mit seinem Lottchen, die an
deren Damen müssen sich mit dem bescheidenen Platz begnügen, der guten
Freundinnen zukommt. Schiller ist derjenige Dichter, der die Ansicht des deutschen Publi
kums über den häuslichen Beruf des Weibes hauptsächlich fixirt hat; seine „Würde der Fratien", seine „Glocke"
sind
noch heute
in Aller Mund.
212
Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.
ES ist erfreulich, zu verfolgen, wie fein Leben mit seiner Dichtung sich deckte.
Als unerfahrner Jüngling hatte er sich zeitweise über sich selbst
getäuscht: auch sein Beruf wie seine Natur lag im Sittlichen.
„Mir kommt vor", hatte er schon Nov. 1788 an Lottchen geschrieben, „daß die Frauen
geschaffen sind, die liebe heitre Sonne auf dieser
Menschenwelt nachzuahmen, und ihr eignes und unser Leben durch milde Sonnenblicke zu erheitern.
Wir stürmen und regnen und schneien und
machen Wind; Ihr Geschlecht soll die Wolken zerstreuen, die wir auf Gottes Erde zusammengetrieben haben, den Schnee schmelzen und die
Welt durch ihren Glanz wieder verjüngen." Julian Schmidt.
Die Chamäleonsnatur des Ultramontanismus. Politische Correspondenz.
Berlin, 8. August 1880. Bon den zahlreichen und für die Entwickelung Europa'S wichtigen Gedenktagen des Jahres 1880 ist nur einer von den Nächstbetheiligten mit fast ängstlicher Sorgfalt ignorirt worden: wir meinen den zehnjährigen
Jahrestag der feierlichen Verkündigung des Dogma'S der päbstlichen Un fehlbarkeit durch Pabst Pius IX. am 18. Juli 1870.
Die katholische Presse
in Deutschland hat kein Wort der Erinnerung an die bedeutungsvolle
Thatsache gehabt, daß an demselben Tage, an dem die französische Re gierung Preußen und dessen Verbündeten den Krieg erklärte, Pius IX., unter
den Blitzen und
dem
Donner eines die Siebenhügelstadt
schütternden Gewitters feierlich das von dem
vatikanischen
er
Concil be
schlossene Decret vorlas, welches nichts anderes ist und sein sollte als eine
Kriegserklärung des Pabstthums an den modernen Staat, die Ankündigung einer neuen Phase in dem alten Kampfe Rom's um die Weltherrschaft.
Das Ideal der Theokratie, welches Gregor VII. und Bonifacius VIII. vor der Reformation zu verwirklichen getrachtet hatten mit geistigen und vor
allem mit weltlichen Mitteln, sollte jetzt durch eine absolutistische auf die
Unfehlbarkeit des römischen Bischofs gegründete Kirchengewalt in die Praxis eingeführt werden.
Der Verlust der weltlichen Herrschaft, welche in Folge
der Constituirung des italienischen Königreichs auf Rom und das städtische
Gebiet beschränkt war, hatte das Pabstthum von jeder Rücksicht auf die politischen Verhältnisse entbunden und den Ausspruch Thiers' bestätigt:
„Nur der Kirchenstaat hielt noch den Pabst im Zaum; ein Mönch ohne
Pflichten gegen den Staat würde sich allmächtig dünken."
Die unbe
dingte Herrschaft des geistlichen Hauptes der katholischen Kirche über die Gläubigen aller Nationalitäten sollte der Hebel sein, mit dessen Hülfe
das Pabstthum die Staaten nöthigen würde,
das Postulat der Bulle
Unam sanctam Bonifacius' VIII. zu realisiren:
„die zwei Gewalten,
die weltliche und die geistliche, sind in der Macht der Kirche, d. h. des
Pabstes, welcher jene — die weltliche — durch Köüige und Andere, aber
Die Chamäleonsnatur des MtramontauiSniuS.
214
nach seinem Winke und solange er sie duldet, verwalten läßt.
Der geist
lichen Macht steht es gemäß der von Gott an Petrus verliehenen Diacht
vollkommenheit zu, die weltliche Gewalt einzusetzen und, falls sie nicht gut ist, zu richten; wer sich diesen ihren Geboten widersetzt, ist ein Empörer
wider Gottes Stiftung."
Vor und unmittelbar nach dem Concil ist über die Frage, ob die Verkündigung der päbstlichen Unfehlbarkeit
als Glaubenswahrheit eine
praktische Wirkung auf die bestehenden Beziehungen zwischen Staat und
Kirche, auöüben würde, vielfach diskutirt und von den Einen bejaht, von den Andern verneint worden.
Die theologische Facultät der Münchener
Universität hat selbst die Frage, ob in dem vorausgesetzten Falle die öffentlichen Lehrer der Dogmatik und deS Kirchenrechts sich verpflichtet er
achten würden, die Lehre von der göttlich angeordneten Herrschaft deS
PabsteS über die Monarchen und Regierungen, fei eS als potestas directa oder indirecta in temporalia als jeden Christen im Gewissen verpflichtend zu Grunde zu
legen, bejaht,
freilich
mit dem Zusatz,
daß der Ge
brauch oder Nichtgebrauch jener Gewalt im einzelnen Falle ganz von dem Ermessen deS jeweiligen PabsteS abhängig sei.
Am 20. Juli 1871, nach
dem die Hoffnungen, welche das Papstthum auf „die älteste Tochter der katholischen Kirche", auf Frankreich gesetzt hatte, durch den Frankfurter
Frieden vernichtet worden waren, hat PiuS IX. als einen der „malitiöfesten
Irrthümer" den erklärt,
als fei in der Unfehlbarkeit das Recht einge
schlossen, Fürsten abzusetzen und die Völker vom Eide der Treue zu ent
binden.
Dieses Recht sei einige Male in äußerster Noth ausgeübt wor
den, habe aber mit der päbstlichen Unfehlbarkeit durchaus nichts zu thun. Gleichwohl weist auch PiuS IX. das Verlangen zurück, in officieller Form,
d. h. in einer für ihn und feine Nachfolger verbindlichen Weife das ton«
cilianische Decret zu ergänzen und somit auch für Fälle der äußersten Noth auf jenes „Recht" zu verzichten.
Alle abschwächenden Erklärungen
der Unfehlbarkeitslehre scheitern an der einfachen Thatsache, daß die un
fehlbaren Entscheidungen des römischen PabsteS die den Glauben odör die Sitten betreffenden Lehren umfassen; daß aber der Begriff „Sitten" das gesammte Leben der Staaten und Völker, der Körperschaften und
Individuen umfaßt; wie das schon aus den Ueberschriften der zehn Kapitel deS Shllabus vom 8. December 1864 hervorgeht.
Vor allem von dem
Decret über die Unfehlbarkeit gilt, was Graf Arnim in seiner vertrau
lichen Depesche an den Staatssekretär Antonelli vom 23. April 1870 von gewissen Dekreten sagte, „welche, indem sie unter der Form von dogmati schen Definitionen tiefgreifende Aenderungen in der jedem
Grade der
Hierarchie zugewiescnen Autorität einführen, nicht verfehlen könnten, zu-
Die Chailiälevlisnatur beü UltramoutauiSmus.
215
gleich die gegenseitige Stellung der weltlichen und geistlichen Macht zu
stören.
Solche Decrete,
weit entfernt eine unbestimmte Drohung
für
die Zukunft zu sein, scheinen vielmehr darauf berechnet, alte hinreichend bekannte und beständig von der bürgerlichen Gesellschaft aller Zeiten und
aller
Constitutionen wieder aufleben zu
Nationen bekämpfte päbstliche
lassen und mit einer neuen dogmatischen Sanction zu umgeben.
Diese
Principien heute von dem päpstlichen Lehrstuhl herab proklamiren und sie
mit allen Mitteln der Ueberredung, über welche die Kirche verfügt, stützen
zu wollen, das tvürde, fürchten wir, Berwirrung in die Gesammtheit der Beziehungen der Kirche zum Staate werfen und Krisen herbeiführen, von welchen die päbstliche Regierung, trotz ihrer traditionellen Weisheit, sich
vielleicht feine' Rechenschaft giebt, weil sie weniger im Stande ist, als wir, über die Stimmung der Gemüther in unsern Ländern zu urtheilen."
Die
kirchenpolitische Geschichte der letzten zehn Jahre hat in einem für alle
Theile überraschenden Umfange jene Prophezeiungen bestätigt.
Freilich selbst in Deutschland würde die gegen die Unfehlbarkeits lehre gerichtete altkatholische Bewegung allein ein dauerndes Zerwürfniß zwischen Regierungen und Curie nicht hervorgerufen haben.
Aber die
Frage deö Dogma's bildete nicht den Inhalt des Streites, sondern nur
den Ausgangspunkt oder vielmehr den Vorwand.
Niemals würde ein
Concil den Pabst mit der absolut unumschränkten Gewalt über die Kirche bekleidet haben, wenn nicht andere Rücksichten als diejenigen auf die Ein
heit des Glaubens den Ausschlag gegeben hätten.
noch 1870 war das Dogma bedroht.
Weder im Jahre 1864
Der Shllabus war die Kriegser
klärung des Papstthums nicht sowohl gegen den modernen Staat über haupt, (obgleich das die weitere Conscquenz war) als gegen den italienischen nationale» Staat, der den weltlichen Besitz des Pabstthums im Namen der Selbstbestimmung und der Einheit der Nation zurückforderte. Das vatikanische
Concil sollte alle Machtmittel der katholischen Kirche in die Hand des einzigen Pabstes legen, um die weltliche Macht des Pabstthums wiederherzustellen.
Zunächst freilich hatten die deutschen Siege über das kaiserliche Frank reich und der Sturz des Kaiserthums die Folge, daß die italienische Armee
sich der Hauptstadt selbst bemächtigte.
Aber schon im October wendete
sich der Bischof von Hildesheim in einer Adresse an den König von
Preußen, mit der Bitte, seinen mächtigen Arm zum Schutze des weltlichen
Thrones des Pabstes auszustrecken.
Der Anfang November findet den
Erzbischof Grafen Ledochowski in Versailles, um, zugleich im Namen des Bischofs
von Culm,
gegen die
schreiende Verletzung
der Rechte
von
200 Millionen auf der ganzen Erde zerstreuten Katholiken zu protestiren.
„So wollen Allerhöchstdieselben, heißt es in
der von dem Erzbischof
216
Die Chamäleonsnatur des UltramontamsmuS.
übergebenen Adresse, gnädigst geruhen, für uns und alle unsere Glaubens genossen großmüthig
einzutreten,
damit wir in Frieden den Arm des
Herrschers segnen, der unsern heiligen Vater aus seiner Bedrängniß be freit und den hochherzigen König, der die verletzte Majestät des verlassenen
Königs gerächt hat, preisen."
Der Schtlderhebung der clertcalen Partei
bet den Neuwahlen zum preußischen Abgeordnetenhause (16. Nov.) folgt im
März 1871 bei den Wahlen zum ersten deutschen Reichstag die Bildung einer 63 Mitglieder umfassenden clertcalen Fraktion, in deren Namen Herr Dr. A. Retchensperger bei der Adreßdebaite
und Pabst" verlangte.
„die Einheit von Kaiser
Mit der Ablehnung des JnterventionSgedankens
zu Gunsten des PabsteS und der von der katholischen Fraktion bei der
Berathung der revidirten RelchSverfassung beantragten „Grundrechte", in
denen die Preß- und Vereinsfreiheit zum Deckmantel der dem Artikel 16 der preußischen Verfassung nachgebtldeten Bestimmung über die Selbst
ständigkeit der Kirchen dienten, war der Zwiespalt zwischen dem ReichS-
gedanken und dem UltramontaniSmus Thatsache geworden.
Und nun er
eignet sich daS Seltsame, daß der Eifer der Bischöfe für das UnfehlbarkeitSdogma gerade in Preußen, wo nach Bischof v. Ketteler der Artikel 15 der Verfassung
den religiösen Frieden garantirt, wo sich, nach Herrn
Reichensperger,
in Folge des Art. 15 die kirchlichen Dinge immer ge
sunder und normaler gestalten, einen heftigen Conflict mit der Staats
gewalt hervorrufen; und diese Conflicte führen schließlich zur Beseitigung eben jenes Artikels 15 und zu einer kirchenpolitischen Gesetzgebung, welche
auf den im Jahre 1848
verlassenen Boden des preußischen Landrechts
zurückkehrend, die Unterwerfung auch der katholischen Geistlichkeit unter die Staatsgesetze fordert.
Die katholische Partei im Frankfurter Parlament
hatte die konstitutionelle Schablone mißbraucht, um die Unabhängigkeit der
Kirche von der Staatsgewalt zu statuiren, nach dem Eintritt der Reaction aber die liberale Partei im Stich gelassen und
sich der Staatsgewalt
als Bundesgenossen gegen die revolutionäre Bewegung unentbehrlich zu
machen gesucht.
Im deutschen Reichstage setzt die Partei, in der sich süd
deutsche Conservattve,
Vertreter des
welfische Conservative,
mit norddeutschen demagogischen Elementen und
rheinisch-westfälischen Adels und
Budgetweigerern zusammenfinden, wieder die konstitutionelle Maske auf — trotz der Verfluchungen des syllabus errorum!
weist die
Dieses Mal aber
liberale Partei das unnatürliche Bündniß mit den Fahnen
trägern der herrschsüchtigen Hierarchie zurück,
während die preußischen
Conservativen, den Phrasen von der Solidarität von Thron und Altar Glauben schenkend, die Regierung zur Berufung an die Wähler zwingen. Als die conservative Partei bei den Wahlen der Jahre 1873 und 1874
Die Chamäleonsnatur des UltramontanismuS.
geworden war,
machtlos
trug
das
Centrum
217
jener Solidarität
Rech
indem eö seine Bundesgenossen bei den Polen und Welfen, bei
nung,
den Partikularisten aller Schattirungen und vor allem auf der äußersten Linken bei der Fortschrittspartei Fichte.
Und dabei konnte man immer
beobachten, daß die Tonart, in der die Mitglieder des Centrums sich ver nehmen ließen,
genau dieselbe war wie diejenige, welche der Pabst in
seinen Enchclikcn und Allocutioncn,
briefen mit) Protesten anschlugen.
und die Bischöfe in ihren Hirten
Wenn der Pabst in seiner Allocution
von Weihnachten 1872, welche die Abberufung des deutschen Geschäfts
trägers zur Folge hatte, den preußischen Staatsmännern vorwarf, daß sie, während sic die katholische Kirche mißhandelten, nicht anständen, „scham loser Weise zu behaupten, von ihrer Seite widerfahre derselben keine Benachtheiligung", wer kann sich da wundern, daß die Herren von Mallink rodt und Windthorst von der Tribüne des Abgeordnetenhauses herab über
Rcchtsbruch klagten und ihrer Freude darüber Ausdruck gaben, daß eö einen Mann gebe, der in der Lage sei, Hoch und Niedrig, ohne Ansehen
der Person und Stellung, von Zeit zu Zeit die ungeschminkte Wahrheit
zu sagen.
Und wenige Monate später, in dem denkwürdigen Schreiben
an den Kaiser vom 7. August 1873 eignet Pabst Pius IX. sich diesen Gedanken an: „Ich rede mit Frcimuth, denn mein Panier ist Wahrheit", um den König von Preußen daran zu mahnen, daß, wenn die auf „Ver
nichtung des Katholicismus" zielende Politik fortgesetzt werde, diese Maß regeln
keine andere Wirkung haben,
als diejenige „den Thron Eurer
Majestät zu untergraben".
Erst das Jahr 1878 bringt eine neue Wendung.
Der endgültige
Sieg der Republikaner in Frankreich hat die Hoffnung auf eine mon
archische Restauration, deren Träger die Hülfe des Clerus
durch eine
Intervention zu Gunsten des Pabstes wett machen sollte, zu Grabe ge tragen; die Eventualität eines französischen Culturkampfes rückt immer
näher.
des
In Deutschland dagegen trifft der Tod Pius' IX. und die Wahl
angeblich friedfertigen
Cardinals Pecci zu dessen Nachfolger sehr
glücklich zusammen mit der tiefgehenden Erschütterung, welche die Atten
tate auf den Kaiser Wilhelm und das bedrohliche, durch die wirthschaftliche Noth der letzten Jahre geförderte Anwachsen der socialdemokratischen
Bewegung in allen Kreisen Hervorrufen.
Die bedingungslose Ablehnung
des ersten Entwurfs eines Socialistengesetzes seitens der nationalliberalen
Partei drängt die Regierung wieder nach Rechts, während Fürst Bismarck
gelegentlich seines Badeaufenthalts in Kissingen mit dem päbstlichen Nun tius
in München, Msgr. Masella die vielbesprochenen
wegen Anbahnung eines modus vivendi beginnt.
Verhandlungen
Da mit Einem Male
Die ChamälconSuatur des UltramontaniSmnS.
218
erinnert sich das Centrum
seiner konservativen Principien, von denen
freilich in seinen Wahl- und Parteiprogrammen bis dahin nie die Rede gewesen war.
Natürlich:
der ConservativiSmuS des Centrums ist nur
eine andere MaSke für die kirchlichen Tendenzen, was Herr Windhorst gelegentlich durch die Phrase verhüllte, „die konservative Partei habe nicht die wahrhaft konservativen Grundsätze", sobald nämlich die konservative
Partei sich -weigerte, die kirchenpolitischen Forderungen des Centrums zu unterstützen.
Gleichwohl konnte das Centrum sich nicht entschließen, für
daS Socialistengesetz zu stimmen, weil eS das gerade vorliegende Gesetz nicht für geeignet zur Bekämpfung der socialistischen Agitation hielt, deren
Gefährlichkeit — für den Staat nämlich — die Partei, so zu sagen mit Wohlgefallen anerkannte.
Etwas später hat Niemand anders als Pabst
Le.o XIII. die authentische Interpretation zu dieser Behauptung deS Cen
trums gegeben, indem er in der Enchclica über den Socialismus auSführte, daß dieses Uebel nur durch eine von den Fesseln der Staatsgesetze befreite Kirche wirksam bekämpft werden könne.
Auf eine Bethätigung der konservativen Gesinnungen der römischen
Partei haben die Conservativen seither vergebens gewartet.
Daß Fürst
BtSmarck in einem diplomatischen Aktenstück und in der hochdiplomatischen ReichStagSrede vom 8. Mai die Zustimmung des Centrums zu dem Ge
setze über den Zolltarif als ein erstes Entgegenkommen gelobt hat, freilich
mit dem Zusatz, dabei habe es leider sein Bewenden gehabt, ist eben nur eine diplomatische Wendung gewesen, welche die Führer
des Centrums
wiederholen oder ablehnen, je nachdem sie ihre verkannten Verdienste um
'den Fürsten Bismarck oder die Consequenz ihrer Politik hervorzuheben für nöthig halten.
Für die Beurtheilung des Verhaltens des Centrums
ist die Thatsache von Wichtigkeit, daß die am 17. Oktober 1878 von 204 Mitgliedern der unter Führung von Varnbüler, Kardorff, Löwe stehenden
„volkSwirthschaftlichen Vereinigung" deS Reichstags erlassene Erklärung zu
Gunsten einer Reform deS deutschen Zolltarifs zum Schutze der nationalen
Arbeit von den 103 Mitgliedern des Centrums nicht weniger als 87 unterschrieben hatten, zu einer Zeit, wo die Bekehrung deS Fürsten Bis
marck zu der neuen WtrthfchaftSpolitik noch ein Geheimniß der Büreau'S
war.
Nicht die Connivenz gegenüber der Regierung, sondern die Rück
sicht auf die Wähler war es, welche das Centrum bestimmte, die land-
wirthschaftlichen und industriellen Schutzzölle durch die Erhöhung der Ft-
nanzzölle zu erkaufen. Dieser innere Zusammenhang darf um so weniger übersehen werden, als in der nächsten Session eine Wiederholung dieser
zweideutigen Operation in Aussicht zu stehen scheint, wenn eS sich darum
handelt, den Interessen der landwirthschaftlichen Kreise, welche durch die
Die Chamalconsnatiir des UltramontauiSmus.
219
Mitglieder des Centrums vertreten sind, Rechnung zu tragen.
Weder in
der vorigen noch in der diesjährigen Session, weder im Landtage noch im Reichstage hatte die Regierung und hatten die Conservativen die Un
terstützung des Centrums auch nur in einer einzigen rein politischen Frage. Und da, wo eS sich wie bei den Präsidentenwahlen um eine conservativclericalc Demonstration handelte, war das Centrum besorgt, der Action
eine Spitze gegen die Regierung zu geben.
Die Coincidenz der parla
mentarischen Taktik des Centrums mit der diplomatischen Haltung der
Curie
gegenüber
dem
Gesetzentwurf,
betreffend
die Abänderung
der
kirchenpolitischen Gesetze in der Nachsession des preußischen Landtags ist
notorisch.
Das vatikanische Princip der Ueberordnung der Kirchengewalt
über die Staatsgewalt mußte gewahrt werden gegenüber dem Versuche
der Regierung, ohne vorgängige Verständigung mit dem Pabste eine an derweitige Regelung der kirchenpolitischen Verhältnisse anzubahnen, ganz
ohne Rücksicht auf die Art der Regelung. war da nicht mehr die Rede.
Von Conservativ oder Liberal
Die Bedenken gegen den doctrinären Cha
rakter deS Gesetzes, die „Diktatur", welche das Gesetz begründen sollte,
machen einen eigenthümlichen Eindruck, wenn sie aus dem Munde von
Vertretern einer Kirche kommen, für welche die Dictatur des unfehlbaren Oberhaupts durch den Beschluß eines allgemeinen Concils zum Glaubens
artikel erhoben worden ist.
Die Conservativen im preußischen Abgeord
netenhause waren schmerzlich enttäuscht über die Weigerung deS Centrums, auf dem Boden des Gesetzes die lang ersehnte conservativc Majoritäts
partei zu schaffen. öffneten ihnen
Erst die fanatischen Naivetäten deS Herrn vr. Lieber
die Augen über die eigentlichen Tendenzen der Partei.
Da erst hat Herr von Rauchhaupt in der Erregung,
in der ihn diese
Erkenntniß versetzte, den Versuch gemacht, das Centrum zu entlarven. „Sollte Herr Windthorst, welcher immer und immer wieder uns Vor lesungen über ConservativiSmuS hält, dies auch im vorliegenden Falle ver
suchen, so muß ich dagegen Verwahrung einlegen, indem ich die Herren vom Centrum einfach auf die politischen Grundsätze verweise, welche sie selbst bis in die neueste Zett in ihrem Parteiprogramm vertheidigt haben
und welche in der That großenthetls das Gegentheil von dem waren, was
wir für conservativ erachten.
Es liegt uns hier ein Beschluß der großen
westfälischen Katholikenversammlung vom 17, Mai dieses Jahres vor und
in diesem Beschlüße heißt eS: Die Versammlung giebt dem festen Ver trauen Ausdruck, daß das Centrum seine, im heißen Kampfe errungene Stellung gegen jeden Angriff vertheidigen und daß eS festhalten wird an folgenden, in allen Wahlprogrammen der Centrumspartei ent
haltenen Forderungen: a) Endliche Verwirklichung des von der Verfassung
220
Die Chamäleonsnatur des UltramontaniSmuS.
geforderten und gegenwärtig mehr als je nothwendigen Gesetzes über Vie Verantwortlichkeit der Minister; (Bravo! im Centrum) b) Allgemeines direktes Wahlrecht — behufs Formirung einer auf gesunden Grundlagen beruhenden Vertretung der verschiedenen Volks interessen; (Bravo! im Centrum) c) Beseitigung der Beschränkun
gen der Preßfreiheit sowie deS Vereins- und Versammlungs
rechtes; (Bravo! im Centrum) ä)Deccntralisation der Verwaltung; wahre Selbstverwaltung der Gemeinden, Kreise und Provinzen; (Bravo! im
Centrum) e) Gesetzlichen Schutz gegen Ueberschreitung der Befugnisse der Verwaltung und der Polizei; (Bravo! im Centrum) , k) Festhaltung der
föderalen Stellung Preußens zum deutschen Reiche und Bekämpfung aller gegen den verfassungsmäßigen föderativen Charakter der staatlichen Verhältnisse in Deutschland gerichteten politischen und wirthschaftltchen Bestrebungen; (Bravo! im Centrum) g) Beschränkung der Staatsausgaben, insbesondere für die Armee durch angemessene Verkürzung der Dienstzeit und Verminderung der Präsenz stärke des Heeres im Frieden; (Bravo! im Centrum) h) Gleich
mäßige und gerechte Vertheilung der Steuern und Lasten; Beseitigung der Doppelbesteuerung u. s. w. (Bravo! im Centrum). Meine Herren! Sie rufen bei jedem Satze Bravo, nun gut, — wenn Sie alle diese Sätze konservativ nennen, so befinden wir uns auf einem diametral entgegen gesetzten Standpunkt. Selbst in liberalen Programmen find so radikale Forderungen nicht enthalten. (Rede deS Herrn von Rauchhaupt in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 26. Juni.) Der Redner der Conservativen zog aus diesem Programm den sehr richtigen Schluß, daß die katholische Kirche, „in dem Augenblicke, wo sie ihr hierarchisches Gerüst dogmatisirt habe, in dem paritätischen Staate einer politischen Partei bedürfe, durch deren Mund sie das Gerüst aufrecht erhalte"; er hätte aber auch den weiteren Schluß ziehen müssen, daß das Centrum eine politische Partei überhaupt nicht ist, wenigstens keine Partei, welche ihre auf staatlichem Gebiete liegenden Ziele mit festen politischen Mitteln verfolgt. Oder glaubt irgend Jemand, das Centrum würde für Mtnisterverantwortltchkeit schwärmen, wenn Herr von Kleist Minister wäre? Oder die römische Partei würde das allgemeine direkte Wahlrecht
fordern, wenn sie von der Ausdehnung des Wahlrechts auf die Ungebil deten einen Protest gegen die Macht der Priesterschaft befürchtete? Würde der Pabst die Verfluchung der Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit
im Shllabus zurückziehen, wenn ein klerikales Ministerium das Heft in der Hand hätte? Und wo bliebe in diesem Falle der Ruf nach gesetz lichem Schutz gegen Competenzüberschreitung von Verwaltung und Polizei?
221
Die Ehamäleonsnatur des UltramontaniSmus.
Und endlich, würde das Centrum die Beschränkung der Staatsausgaben
für die Armee verlangen, wenn die deutsche Regierung gewillt wäre, auf den Trümmern des
italienischen Staats die weltliche
Herrschaft
des
PabsteS wiederherzustellen?
Wen die Entwickelung des preußischen CulturkampfS von der grund sätzlichen Grundsatzlosigkeit der ultramontanen Partei nicht überzeugt, der
mag seinen Blick durch den Vergleich der deutschen Zustände mit den
französischen und belgischen schärfen. In Belgien wie in den katholischen Gebieten Deutschlands sind die
Massen der Bevölkerung, die Arbeiterklasse und der Kleinbürgerstand der eigentliche Sitz der ultramontanen Leidenschaften.
In diesem rein katho
lischen Lande aber steht dem katholischen Fanatismus nicht die protestan tische Nüchternheit, sondern der freigeistige Radikalismus gegenüber.
Die
Antipathie der katholischen und der liberalen Belgier gegen daS protestan tische und konservative Holland war bekanntlich der Ausgangspunkt der
secessionistischen Bewegung, welche angefacht durch die französische Juli
die Trennung Belgiens und die Gründung des belgischen
revolution,
Staates herbeiführte.
Die belgische Verfassung, das Vorbild der Charte
Waldeck trägt denn auch den breiten Stempel der Union der katholischen und der liberalen Parteien, welcher der belgische Staat seine Existenz
verdankt.
Dieses Muster einer konstitutionellen Verfassung hat zugleich
das Ideal der Römlinge,
die freie Kirche im
freien,
politisch
aber
der Kirche gegenüber gebundenen Staat, unter der Verpflichtung des letzteren zur Zahlung der Gehälter und Pensionen der Geistlichen ver
wirklicht.
Der Unterricht
ausgeliefert
und
unter
ist
dem
„frei", d. h. in die Hände deS CleruS
ausdrücklichen
maßregel", d. h. jeder staatlichen Controle.
Verbot
„jeder Präventiv
Diese gepriesene Verfassung
hat den Culturkampf zu einer verfassungsmäßigen Institution, zu einem dauernden Kampf um die politische Macht in Belgien gemacht. Aber
ein Culturkampf im deutschen Sinne, d. h. unter Auflehnung deS CleruS gegen das Gesetz, hat erst in dem Augenblick begonnen, wo daS liberale Ministerium
Fröre—Orban,
UltramontanismuS,
erschreckt durch die steigende Fluth deS
die verfassungsmäßige Garantie der
Freiheit
des
Unterrichts für die Gründung von Staatsschulen unter Leitung von Laien in Anspruch nahm.
Der CleruS weigerte sich nicht nur, Religionsunter
richt in diesen öffentlichen Schulen zu ertheilen.
Die Bischöfe haben die
Seelsorger angewiesen, den Lehrern, den Mitgliedern der Schulcomitee'S,
dell Schulinspektoren und endlich allen Personen, die die Staatsschulen in irgend einer Weift begünstigen (also auch den Eltern, die ihre Kinder in
diese Schule schicken) oder dieselben vertheidigen, die Communion, sogar
Preußische Jahrbücher. Bb. XLV1. Heft 2.
16
222
Die ThamäleouSnatur des UltramontaniSmuS.
öffentlich zu verweigern!
In Belgien aber bilden die Gesinnungsgenossen
unserer radikalen Ullramontanen die konservativen Partei par excellence! Conservativ und Clerical sind identische Begriffe.
Aber diese eigenthüm
lichen „Conservativen" haben sich stets gut vertragen mit den Radikalen,
welche in jeder Beschränkung auch der Zügellosigkeit der Gegner eine Be
drohung der konstitutionellen Freiheit sahen. Erst die bitteren Erfahrun gen, welche Belgien mit einem dem SyllabuS, der heute noch an der ka
tholischen Universität Löwen durch vom Staate bezahlte Professoren ge lehrt wird, und dem unfehlbaren Pabst ergebenen CleruS gemacht hat,
führten zu der Bildung einer liberalen Partei,
welche die Freiheit der
Kirche auf dem kirchlichen Gebiet, aber nicht die politische Herrschaft der
Bischöfe anerkennt, und die entschlossen ist, die geistige Selbstbefreiung
des Volkes zu vollenden. Wie in Preußen das Schulaufsichtsgesetz, in Belgien das VolkSfchulgefetz den latenten Widerstreit deß katholischen CleruS gegen den mo dernen Staat zum offenen Ausbruch brachte, ist auch in Frankreich die
Schulfrage der Ausgangspunkt des CulturkampfeS gewesen.
Die Volks
schule dem beherrschenden Einfluß des ultramontanen CleruS und der kirch
lichen Genossenschaften zu entziehen, die Erziehung und den Unterricht der
neuen Generation in „nationalem" Sinne zu sichern, das hatte sich wie in Deutschland und in Belgien, so auch in Frankreich als ein absolutes
In Frankreich vor Allem deßhalb, weil die ultra
Bedürfniß erwiesen.
montane Partei von dem Augenblick an mit allen Feinden der republi kanischen Jnstutionen gemeinsame Sache machte, wo die Hoffnung sich als
eitel erwies, daß die moralische und materielle Macht des neuen Staates
gegen die Räuber des weltlichen Besitzes des heiligen Stuhls gewendet werde.
Hätten die französischen Ultramontanen vor drei Jahren das ge
than, was die „Germania" ihnen heute vorschlägt, d. h. hätten sie bei Zetten ihren Frieden mit der Republik gemacht, sie würden einen Kampf
vermieden haben, dessen AuSgang schon zu errathen ist.
der römischen Politik hätten sie nicht hindern können.
Die Traditionen
In Frankreich ist
nicht die Masse deS Volkes der Träger des UltramontaniSmuS, sondern
der monarchistisch gesinnte Adel, die bonapartistischen Parvenüs,.die kein
Bedenken trugen, den CleruS als Sturmbock gegen die Republik der Re publikaner zu benutzen.
Der französische CleruS kann nicht vergessen, daß
es der erste Consul war, der die französische Kirche in Frankreich wieder herstellte, daß unter der Herrschaft Napoleon' III. die klösterlichen Genossen schaften, allerdings im Widerspruch mit dem Concordat deS Jahres 1801, von der Verpflichtung, für ihre Niederlassungen die Erlaubniß der Re gierung einzuholen,
befreit blieben.
Gegen die Thätigkeit dieser nicht-
Die EhainaleonSnatur des UltramontaniSmuS.
autorisirten
Genossenschaften —
223
im Jahre 1877 wurden 500 Nieder
lassungen mit 22000 Mitgliedern gezählt — auf dem Gebiete deS öffent
lichen Unterrichts richtete sich der Art. VII des Ferry'fchen Unterrichtsgesetzes mit der Bestimmung, „Niemand welcher einer religiösen, nicht autorisirten Genossenschaft angehört, möge eS ein Orden sein, welcher es wolle, darf Unterricht ertheilen oder eine Schule leiten".
Im Senat, wo bisher die
Gegner der Republik die Majorität behauptet haben, wurde dieser Artikel
mit 148 gegen 129 Stimmen abgelehnt und dadurch die Regierung ge zwungen, unter Berufung auf das Concordat die Auflösung der Jesuiten niederlassungen sowie der Niederlassungen der übrigen Genossenschaften, wenn dieselben nicht die staatliche Zulasiung nachsuchen sollten, anzuordnen.
Die republikanische Regierung handelt im Stande der Nothwehr, in-. dem sie die Herrschaft der Jesuiten und ihrer Helfershelfer über die Schule
energisch bekämpft, solange in deren Anstalten die Jugend, nicht weniger als 70,000 Knaben und 200,000 Mädchen, in dem Hasse gegen die neue Ordnung der Dinge erzogen werden.
Es mag freilich zweifelhaft er
scheinen, ob die Schließung der Niederlassungen und der UnterrichtSan-
stalten der Jesuiten genügen wird, die Macht derselben zu brechen, welche eS nicht verschmäht, neben den geistigen Mitteln auch weltliche (Soll doch eines der größten Modemagazine von Paris „Au bon marche“ Eigen
thum der Jesuiten sein) in Anwendung zu bringen.
Die Regierung wird
aber ohne Zweifel, in der Passivität, welche das französische Volk bei der
am 30. Juni erfolgten Schließung der Jesuitenniederlassungen beobachtet hat und in dem vorwiegend republikanischen Ergebniß der letzten General-
rathSwahlen*) eine Ermunterung sehen, auf dem eingeschlagenen Wege
*) In der Verzweifelung über die Niederlage der französischen Tlericalen »nd ihren Verbündeten bei den Wahlen am 1. August schreibt die „Germania" vom 7. August also: „DaS Prätendententhum ist augeuscheinlich dem Bolte verhaßt; selbst die weiße Fahne erweckt in dem Bauern kein anderes Gefühl als das der Angst vor Wiedereinführung der Frohndienste. Also warum das Geschick der Kirche und der couservativen (sic!) Ideen an die schlechten Chancen der Prätendenten fesseln? Wenn die große Mehrheit deS Volkes, wie kaum noch zu bezweifeln ist, die re publikanische Regierungsform liebt, dann rennt der kluge Mann sich doch nicht den Kopf ein an diesem republikanischen SiegeSwagen, sondern er springt hinauf und ergreift die Zügel." Den Royalisten, welchen diese republikanische Farce bedenklich erscheinen möchte, ruft daS leitende Blatt der deutschen Ultramontanen zu: „Ein Tropfen demokratischen Oeles würde der Krone der allerchristlichsten Könige nichts schaden; denn der Rost der zahllose» Verbrechen der Vorgänger Heinrichs V. klebt noch an dieser Krone. ES ist nicht genug immer nur von den Rechten deS Königs zu reden; man rede auch von den Pflichten. Die Zeit ist vorbei, als man glaubte, daS Volk fei des Königs wegen da. Die Legitimisten müssen voll nnd ganz den Gedanken erfassen, daß also daS französische Volk mehr Beachtung verdient, als die Stimmung iu Frohsdorf, daß die conservative Sache sich nicht auf Roß und Reisige, sondern auf die „Liebe des freien Mannes" stützen muß. Kurz — man gebe die unfruchtbare Hof- und Kastenpolitik auf und wende sich einer Volk?-
224
Di« EhamäleonSuatur des UltramontaniSmus.
weiter zu gehen.
Cs sei denn, daß die Curie, gerade mit Rücksicht auf
die den katholischen Genossenschaften und namentlich
den Jesuiten un
günstige Stimmung der Bevölkerung, welche einem Culturkampf nach preußischem Recept unüberstetgltche Hindernisse entgegensetzt, die übrigen Genossenschaften anweist, die staatliche Genehmigung nachzusuchen, um zu
retten, was noch zu retten ist.
Andernfalls bleibt ihr auch hier, nur die
Hoffnung auf die Revolution oder auf den Revanchekrieg.
So ist also das Bleibende in dem Wechsel der Farben, in welche sich die ultramontane Politik in den einzelnen Ländern und zu verschie denen Zeiten kleidet, das Streben nach politischer Macht, nach der Herr
schaft der katholischen Kirche über den Staat — eine Tendenz, welche ur-
.sprünglich nur dem Jesuitismus eigen, durch das vatikanische Concil das
herrschende Princip der Kirche und des Pabstthums geworden ist.
Und
so lange der JesuitiSmuS diese Herrschaft im Vatikan behauptet, so lange nicht eine Reaction aus dem Schooße der Kirche selbst diesem Mißbrauch
der Religion zu weltlichen Zwecken ein Ende macht, wird ein dauernder,
auf fester Grundlage beruhender Friede zwischen Staat und Kirche nicht mehr möglich sein.
Jedes Zugeständnis, welches die Regierungen im
vermeintlichen Interesse
der Religion
oder aus
egoistischen Rücksichten
machen, kann nur dazu dienen, dem unversöhnlichen Gegner neue Waffen in bk Hand zu geben.
Auf diesem Boden können Compromisse nur den
Staat compromittiren.
Der Staatsgewalt bleibt nichts übrig als dem
in stets wechselnden Verkleidungen andringenden Gegner gegenüber den
Boden des Rechts und des Gesetzes mit unerbittlicher Strenge zu ver theidigen. — thümlichen Politik zu, denn salus reipublicae (und fügen wir hinzu ecclesiae) suprema lex esto.“ Das Heil der Kirche sei daS höchste Gesetz, daS ist der Wahl spruch dieser „conservativen" Partei.
Berantwortlicher Redacteur: H. v. Treitschke. Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.
Zur Geschichte des deutschen Adels. (Schluß.) Der Schwerpunkt des Adelsbegriffs lag in der merovingischen und der
ersten fränkischen Zeit in gefolgschaftlichen Beziehungen, nach den nunmehr
eingetretenen Veränderungen aber äst er in dem Besitze eines reichSunmittelbaren Gebietes und dem damit gegebenen ReichSstandschaftSrechte zu suchen. Trotz der wesentlichen Veränderungen, welchen hienach dieser Begriff jetzt
unterlag, bleiben gleichwohl dessen frühere Attribute noch erkennbar; nur treten sie jetzt entwickelter als in der vorigen Periode hervor.
Die fränki
schen Edlen besaßen Reichsämter und Grundherrlichkeiten:
ebenso der
mittelalterliche Adel, nur freilich mit ausgedehnteren Befugnissen.
Selbst
der kleinere Herrenstand hatte nunmehr das volle Grafenrecht über seine immunen Besitzungen erworben.
Die Reichsämter, welche ehedem als
Benefizien vom Könige verliehen worden waren, hatten sich in erbliche Reichslehen verwandelt und einen patrimonialen Charakter erhalten.
Aus
dem ursprünglichen Jmmunitätsrecht der Adligen, d. h. der Befugniß, die königlichen Beamten bezüglich der Handhabung ihrer Amtsgewalt von
ihren Besitzungen fern zu halten, hat sich allgemach das Recht der vollen Gerichtsbarkeit über alle in ihrem Herrschaftsbezirk Ansässigen entwickelt. Haben sie früher lediglich ihre Hintersassen zur Leistung ihrer Verpflich
tungen angehalten, so hat sich jetzt der privatrechtliche Charakter solcher
Abgaben in einen öffentlich-rechtlichen verwandelt und erscheint demgemäß ausgedehnt auf alle Unterthanen des Territoriums.
Waren sie vordem
als Mittelsperson lediglich zwischen dem König und ihren Schutzbefohlenen gestanden, so war jetzt jeder direkte Zusammenhang zwischen dem ersteren und dem einzelnen Staatsangehörigen aufgehoben: der König entbietet
nunmehv nur sie,
nicht ihre Unterthanen zum Reichsdienst.
Deßhalb
werden auch in den späteren Reichsmatrikeln die Reichslasten zunächst nur dem Herrenstande, nicht dessen Untersassen auferlegt.
Auf diese Weise gelangten allmählich die Edlen zu einer der Reichs
hoheit untergeordneten Regierungsgewalt über ihre Gebiete. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 3.
17
Ihr privi-
Zur Geschichte des deutschen Adels.
226
legirter Gerichtsstand vor dem Könige, welchen sie bereits zur fränkischen
Zeit in beschränktem Maße gehabt hatten, erweiterte sich jetzt dahin, daß
alle Gegenstände, welche ihre Person, Ehre, Lehen, Eigen und Erbe be trafen, vor dem Könige verhandelt und entschieden werden mußten.
Die
Edlen schwangen sich folglich zu reichsunmittelbaren Landesherren empor; doch zeichnete sie nicht sowohl der Besitz der Reichsfreiheit, als vielmehr
der Besitz landesherrlicher Rechte vor allen übrigen Geburtsständen aus,
denn es gab nicht nur reichsunmittelbare Ritterbürtige,
sondern
auch
Die geistlichen Fürsten und die reichs
reichsfreie Bürger und Bauern.
städtischen Corporationen genossen zwar hierin
dasselbe Recht wie die
Edlen; der bedeutsame Unterschied liegt aber darin, daß das Recht der
ersteren auf ihrer Abstammung beruht, gerade wie dies auch mit der
Reichsstandschaft der Fall ist.
Versinnbildlicht wird dieses Recht durch
ihre Belehnung Seitens des Kaisers unter Entfaltung der Reichsfahne, während bei den geistlichen Fürsten die Belehnung bloß mit dem Scepter
geschieht. Daneben bildete ein zweites Hauptmerkmal ihrer hohen Stellung ihr alle andere Klassen ausschließendes Recht der Reichsstandschaft, d. h. des in ihrer Äeiziehung zu den reichstäglichen Verhandlungen zur Er scheinung kommenden Mitwirkungsrechts beim Reichsregiment.
Der Begriff des Adels schließt sich demnach
deutsche Reichsverfassung an.
aufs engste an die
Alle Familien, deren Häupter sich im Be
sitze eines reichsunmittelbaren Territoriums befanden und das Recht der
Reichsstandschaft genossen, wurden nach mittelalterlichem Recht den edlen Geschlechtern beigezählt.
Zwar fand unter ihnen selbst wiederum eine
Verschiedenheit des Ranges statt: zuerst kommen die Grafen, welche bis
1180 allesammt zugleich Fürsten sind, sodann die edlen oder freien Herren, von gleichem Range mit den Grafen, aber deS amtlichen Einflusses ent
behrend und in der Regel nicht so reich begütert.
Zu ihnen werden dann
manchmal auch die Grafen selbst gezählt und beide Klassen zusammen als
nobiles den Ministerialen gegenüber gestellt. Indessen begegnet man selbst jetzt noch einzelnen Zeugnissen, welche
lebhaft an die frühere Stellung der Edlen erinnern. mentlich der Sachsenspiegel.
Hierher gehört na
Die Fürsten und freien Herren stellt er in
Buße und Wergeld noch den Schöffenbarfreien, d. h. dem Geburtsstande
der alten Freien gleich und gesteht somit noch die Ebenbürtigkeit beider Klaffen von Freien zu.
Ueberhaupt spricht er nur wenig vom Herren
stande und selbst da, wo er die beste Gelegenheit hätte, ihn als einen be
sonderen Geburtsstand
gegenüber
den
anderen
Freien
hervorzuheben,
schweigt er wie geflissentlich von demselben; wo.er die verschiedenen Klaffen der Freien aufzählt, nennt er nur die Schöffenbarfreien, Pfleghaften und
Zur Geschichte des deutschen Adels. Landsassen.
227
Allein andererseits anerkennt er doch auch wieder die höhere
Stellung der Edlen, indem er festsetzt, daß man ihnen Buße und WerDagegen scheidet sie der Schwaben
geld in Gold entrichten soll u. a.
spiegel unter der Bezeichnung „Semperfreie" von den übrigen Klassen der Freien aus und stellt sie an die Spitze des ständischen ShstemS.
Die
Bezeichnung ist nur ein verdorbener Ausdruck für die Sendbarfreiheit, für die dem Stande einwohnende Fähigkeit, sowohl selbst einen Send
(Gericht) abhalten zu können, als auch auf dem Send des Kaisers, dem
Reichstag, in Ausübung der Reichsstandschaft erscheinen zu dürfen. sind die freien Herren,
Ganz
strenge
darf
ES
welche andere Freie zu ihren Mannen haben.
freilich dieses diskretive Moment
nicht
genommen
werden, da auch bloße Ritterbürtige nicht selten in der nämlichen Eigen
schaft auftreten.
Ebensowenig ist umgekehrt die Nobilität durch das Va
sallenverhältniß zum Könige bedingt; denn wenn gleich die Fürsten durch
gängig Lehensmannen des Königs, die einfachen Ritterbürtigen dagegen wenigstens sehr häufig Lehensmannen der Fürsten sind, so findet sich doch
immerhin eine Anzahl von Herren, welche sich in keine Lehensabhängigkeit begeben haben, und deren Freiheit gerade deßhalb als eine besonders aus
gezeichnete gerühmt wird.
Die hohen Freien — wie man die Edlen nach
dem Vorgang der Spiegel gleichfalls nennen kann — bilden somit den erblichen Herrscherstand der Nation.
Zu dieser regierenden Aristokratie
gehören nun:
1.
die drei geistlichen und die vier weltlichen Kurfürsten,
2.
die übrigen geistlichen Fürsten (Erzbischöfe,
Bischöfe und ge
fürstete Aebte), 3.
die übrigen weltlichen Fürsten (Herzöge, Pfalzgrafen, Markgrafen,
4.
die Grafen und freien Herren,
gefürstete Grafen), die zwar keine Fürstengewalt,
aber doch Landesherrschaft und Reichsstandschaft besitzen. Beobachten wir genau das innere Wesen dieses Adels, so springen unS alsbald zwei scharfe charakteristische Merkmale desselben in die Augen.
DaS eine ist seine Geschlossenheit, die wiederum aufs engste mit seiner
Vererbungsfähigkeit zusammenhängt.
Der älteste germanische Adel war —
wenige Ausnahmen abgerechnet — ein offener Stand: indem er aus den Tüchtigsten des Volksstammes sich zusammensetzte, gehörte ein beständiger
Ab- und Zugang zu seiner Natur.
Zwar hat das Vererbungsprincip auch
an ihm seinen Einfluß geübt, so daß wir in den späteren Jahrhunderten die freiwillig ertheilten persönlichen Vorzüge der Edlen mehr oder we
niger in erbliche Vorrechte derselben umgewandelt sehen:
trotzdem blieb
daS Grundprincip unangetastet und brach sich, wenn auch häufig gedeckt, 17*
228
Zur Geschichte des deutsche» Adels.
doch immer wieder Bahn.
Ebensowenig kann der fränkische Dienstadel als
ein geschlossener Stand mit erblichen zeichnet werden.
Vorrechten seiner Mitglieder be
Geschlossenheit und Vererbung liegen nicht in der Natur
des Dienstes, auch nicht des Königsdienstes; erst mußte die Verpflichtung, die dieser auflegte, von dem Recht, das er gab, überwunden werden, ehe
er als Grundlage eines Standesrechts betrachtet
werden konnte.
Und
dies letztere" geschah erst durch die Verknüpfung des KönigSdiensteS mit
dem Benefizialwesen.
Von da ab datirte das Streben, sich zur Sicherung
seines Besitzstandes, wie nach oben gegen den Herrn, so nach unten gegen
die übrigen Volksklassen in korporativem Verbände abzuschließen.
Trat
in der germanischen Zeit das Individuum als einzig maßgebender Factor
bei der Zuerkennung höherer Rechte und Ehren hervor, so ist eS jetzt die Rasse, das. Blut, die Abstammung von einem edeln Vater und einer edeln
Mutter, welche den Adel verleiht.
Doch finden auch da wieder merk
würdige Durchbrechungen deS strengen Princips statt — Durchbrechungen,
welche jedenfalls mit der bereits
oben gekennzeichneten Auffassung der
Standesverhältnisse im Sachsenspiegel zusammenhängen. Einmal sah man zuweilen lediglich auf das Blut des edlen Vaters, indem man den Söhnen
eines Edeln auch Adel zuschrieb, wenn nur die Mutter von Geburt eine Freie war.
Wichtig ist die Durchlöcherung, welche die Kirche des Mittel
alters geschaffen hat.
AuS der obenstehenden Classifizirung dcS Adels er«
giebt sich nicht nur die Zugehörigkeil, sondern auch der theilweise Vorzug der hohen Geistlichkeit vor den weltlichen Großen. diese geistlichen Reichsämter mehr
Freilich wurden auch
oder weniger ausschließlich von der
weltlichen Aristokratie in Beschlag genommen, aber ganz konnte doch eine
Kirche von dem Princip deS Jndividualadels nicht Abstand nehmen, deren
Stifter und Apostel größtentheilS hatten.
den
untersten Volksständen angehört
Aber auch in die Kreise deS weltlichen Adels wußten sich schon
damals einzelne begünstigte oder verdiente Persönlichkeiten durch eine förmliche Standeserhöhung seitens deS Reichsoberhaupts Eingang zu ver schaffen.
Ein zweites augenfälliges Merkmal des mittelalterlichen Adels, auf das wir übrigens schon mehrmals im Gange unserer Untersuchung hinzu weisen Gelegenheit gehabt haben, ist sein politischer Charakter. Auch hierin weicht er — wenn auch nicht in dem Maße wie hinsichtlich des erstge
nannten Punktes — von dem Wesen des ältesten germanischen Adels ab. Zwar der Ursprung ist bei beiden derselbe.
Beide Male erzeugte sich ein
Adel auS dem kriegerischen Dienstgefolge hervorragender Führer; während
aber der germanische Adel im Wesentlichen auf dieser Stufe stehen blieb — eine weitere Ausdehnung desselben wäre auch bei dem demokratischen
Zur Geschichte deS deutschen Adels.
229
Charakter der öffentlichen Verfaffnng nicht möglich gewesen —, bildete
sich der fränkische Dienstadel zu einem herrschenden Stande fort.
Und erst
in seiner politischen Machtstellung kam er zur vollen Entfaltung seines
Wesens.
Geschlechter und Familien, welche diese in den äußeren Ver
hältnissen geoffenbarte Macht nicht erlangen oder nicht behaupten konnten,
verloren sich allmählig in den übrigen Volksständen; andere, obwohl we nige Familien, welche zur Herrschaft sich aufschwangeu, begründeten eben dadurch neue Dynastenfamilieu.
Eigentlich waren nur diese Herrschergeschlechter die wirklichen Träger
des Adels.
Das Wort „Adel" wurde daher während eines großen Theils
des Mittelalters nur auf sie bezöge«.
Die Urkunden des 13. Jahrhun
derts unterscheiden noch regelmäßig, wenn sie die Namen der Zeugen auf
führen: Mobiles, niilites, niiuisteriales.
Erst gegen Ende des Jahr
hunderts und vorzüglich im 14. ändert sich der Sprachgebrauch und man fängt
an, auch die Ritter, zuletzt die Dienstleute unter dem
gemein
samen Namen der „Edelleute" zusammenzufasseu und
mit dem Worte
„Adel" den hohen und den niederen Adel zu begreife».
Welcher Art sind
nun diese neuen Adelselcmente und auf welche Weise haben sie sich mit
jenen alten Bestandtheilen zu einer socialen Klasse zusammengeschlossen?
Wir müssen, um eine richtige Vorstellung von diesem merkwürdigen Prozeß zu gewinnen, hier noch einmal an die allmählige Entwickelung
deS alten Adelstandes erinnern.
Denn genau dieselben Momente, welche
in der merovingischen und karolingischen Zeit das Aufkommen des dynasti schen
Adels begünstigten, sind auch für die Ausbildung deS
Adels maßgebend gewesen.
niederen
Ein Unterschied besteht nur darin, daß es
bei dem ersteren der Königsdienst in der fränkischen Zeit, bei den letzteren
der Hofdienst bei den späterhin den Begriff deS hohen Adels ausmachen den Dynasten war, der die Umbildung aus einer dienenden Klasse in einen Adelstand bewerkstelligt hat.
Und wie dort
mittelst
des Lehens
bandes ursprünglich unabhängige größere Grundherren in eine derjenigen
der vornehmen Gefolgsleute ähnliche Stellung zum Könige eintraten, so sind hier durch Auftragung ihres Grundbesitzes an einen Dynasten zahl reiche angesehene Freie der gleichen Ehrenrechte wie die ursprünglich un
freien Ministerialen theilhaftig geworden.
Vom Standpunkt des Mittel
alters aus betrachtet besteht dann ein weiterer bedeutsamer Unterschied
zwischen beiden Classen deS Adels darin, daß der Dhnasten-Adel damals schon längst ein historischer, nach unten abgeschlossener erblicher Geblüts
stand ist, während der Ritter- und Ministerial-Adel das ganze Mittelalter hindurch — wenn ich so sagen darf — im Flusse deS Entstehens be griffen ist, in seinem Anfang und Fortgang aus den einfachen Freien
Zur Geschichte de« deutschen Adels.
230
und selbst auS hörigen Familien sich herleitet. Derselbe bleibt daher auch
im Blute nach wie vor mit jenen ersteren verbunden, trotz allen Versuchen
deS Kastengeistes, ihn ebenfalls nach Art des hohen Adels abzuschließen. Nur mit den Unfreien ist die Ehegenossenschaft beschränkt.
Der Grund der allmähligen Standeserhöhung ist nun zu suchen theils in einem ansehnlichen Grundeigenthum von mindestens 3 Huben, theils
in bedeutendem Lehenbesitz.
Mit jenem verband sich das Recht, in dem
gräflichen Gerichte als Schöffe zu sitzen und zu urtheilen (Schöffenbar
freiheit), sowie die höhere KrtegSpflicht und KriegSehre des Ritters, auf
diesem beruhte ebenso die ehrenvolle Vasallenverbindung mit dem LehenSherrn zu Schutz und Trutz, In Hoffahrt und Heerfahrt.
Das wichtigste
Moment ist jedenfalls der Ritterdienst, der, nachdem späterhin beide Ver
hältniße — Grundetgenthum und Lehenbesitz — in einander übergegangen
sind, höher geschätzt wurde als das schöffenbare Grundetgenthum.
Es
hängt dies aufs innigste zusammen mit der Art deS Kriegsdienstes und der damit verbundenen Lebensweise.
Als der alte Heerbann immer mehr
in Verfall gekommen war, bildete sich ein neues KriegSshstem, in welchem der Dienst zu Pferde, die bessere Bewaffnung, die schwerere Rüstung und
gewisse Anfänge der Taktik dem kriegsgeübten Manne eine höhere Stellung gaben; die Waffenübung wird im Laufe von Menschenaltern allmähltg zu
einem Lebensberuf in stufenweiser Ausbildung.
Gewöhnlich rücken daher
jetzt nur noch die Dtenstmannen und Vasallen der Fürsten und andere begüterte Freie ins Feld.
Diese vertreten — hierin
einem durch die
ganze mittelalterliche Geschichte gehenden Zug auf korporativen Zusammen
schluß durch gleichen Lebensberuf verbundener folgend — in eine beson dere Genoffenschaft zusammen, deren sämmtliche Mitglieder eine blos krie
gerische Lebensart führen und. als deren höchste Würde die Würde des
Ritters betrachten.
Hierin liegt der Ursprung der ritterlichen Geschlechter.
Selbstverständlich waren die Söhne derer, die das ritterliche Leben führten,
diejenigen, welche auch zunächst durch die Schwertleite der Ehre und des Rechts der Väter theilhaftig wurden.
Und wenn auch dieses vorerst noch
kein ausschließliches Recht war, und mehr als das Geschlecht der wirkliche
Dienst belohnt wurde, so- ist doch in der staufischen Zeit auf die Ritterbürttgkeit ein entscheidendes Gewicht gelegt worden. hängige Bauer befand sich in einem solchen Gegensatz.
Aber nur der ab Wo er in alter
Weise sich auf eigenem Grund und Boden erhalten, führte er auch wohl
ritterliche Waffen.
Der holsteinische Adel, wie er uns im 12. Jahrhun
dert entgegentritt, besteht aus freien Bauern, die zu der Grenzvertheidigung verpflichtet waren und deren Recht hierauf, wie auf der Theilnahme am Landesgericht beruhte.
231
Zur Geschichte deS deutschen Adels.
Im Laufe der Zeit sonderte sich dann jene Klasse der Bevölkerung, die im Waffendienst ihren Beruf sah,
als geschlossener Ritterstand von
den übrigen Ständen des Ackerbaues,
deS Handels und der Gewerbe.
Die Grundlagen ihrer ständischen Auszeichnung bestehen in einem Grund
besitz, verknüpft mit der persönlichen Freiheit und
ritterlichem Leben.
Ihr Besitz und ihre Freiheit büßten dadurch nichts ein, daß ihr Inhaber in ein Lehens- und Vasallenverhältniß zu einem Fürsten trat: im Gegen
er gelangte damit erst zu einem Platze in der Heerschildordnung,
theil,
die jetzt die Grundlage der ganzen Gesellschaftsordnung wurde. Fürst durch das Fahnenlehen
hinangerückt ist,
Wie der
unmittelbar an die Person deS Kaisers
so erscheint der ritterliche Grundbesitzer durch die Auf
tragung seines Gutes an den Fürsten an diesen angeknüpft und gewinnt dadurch Fühlung mit dem Reichsoberhaupt.
Und nur eine solche, wenn
auch mittelbare Verbindung schaffte dem begüterten Freien eine Stellung, einen Rang im Heerschilde.
DaS Rittergut mußte nothwendig Lehngut
werden, wenn es in das ganze LehenSshstem passen sollte.
Die Bedin
gungen für den Eintritt in diesen Ritterstand sind dann schon frühzeitig
rechtlich fixirt worden.
Um als ritterbürtig vor seinen Genossen und vor
dem Volke zu gelten, mußten zwei Voraussetzungen erfüllt sein:
erstens
vier freie Ahnen, zweitens soviel Vermögen, daß man für den Schmuck des Lebens übrig hatte und niemals blos vom Werk seiner Hände zu
leben brauchte.
Die erste Bedingung stellte das Gesetz auf, der Sachsen
spiegel und der Schwabenspiegel sind darin deutlich und fast gleichlautend. Beide Großeltern und beide' Eltern mußten vollfret sein: dies, aber nur dies
war
nach dem Gesetze unerläßlich zur Ritterbürtigkeit.
Wer also
selbst noch hörig war oder dessen Eltern hörig gewesen, mußte, wenn
er in den Rang der Ritterbürtigen eintreten wollte, erst vom höchsten Herrn
im Lande feierlich als ein Mann von Rittersart anerkannt werden.
Dies
geschah durch Erkheilung des Ritterschlages zum Zwecke der Erhebung in
den Adelsstand.
Die zweite Bedingung war von der Sitte vorgeschrieben.
Sie ließ trotz der persönlichen Freiheit nicht zu, daß bloße Bauern und
Handwerker sich unter die Leute von Rittersart mischten.
öffneten diese ihre Gesellschaft vor dem Manne,
der
Wohl aber
thatsächlich
ihnen
werth wurde an Freiheit, Vermögen und Bildung, und sie schlossen ihre Kreise hinter demjenigen, welchen die natürlichen Unterlagen eines adligen
Lebens entschwanden.
Tausende, deren Großeltern noch als Bauern oder
Handwerker arm und unfrei begannen, traten fort und fort in die Reihen der Ritterbürtigen ein, wenn die Großeltern frei, vermögend und ange
sehen geworden und die Eltern diese vornehmere Lebensstellung fortgesetzt hatten.
Zur Geschichte des deutsche» Adels.
232
Die ritterliche Art des Kriegsdienstes hat aber nicht blos die
eine
Folge gehabt, die ihm als Beruf ergebenen begüterten Freien zu einem besonderen Stand zusammenzuschließen, sie hat auch nach oben und nach
unten gewirkt: nach oben, indem sie den hohen Adel, der ja gleichfalls in der Führung ritterlicher Waffen, wenn auch nicht wie die Vorbezeichneten
seinen Lebensberuf, so doch eine seiner hauptsächlichsten Aufgaben erblickte, in dieser einen Beziehung auf die gleiche gesellschaftliche Stufe mit den
bloßen Ritterbürtigen brachte, nach unten, indem sie die ursprüitglich un freien Dienstleute, in soweit sie das Waffenhandwerk zum Berufe hatten, trotz dieser ihrer persönlichen Unfreiheit zu der Stufe der freien Ritter
bürtigen heraufnimmt, bis schließlich der gleiche Berns bezüglich aller drei, in ihrem Ursprung und sonstigeil Lebensverhältnißen so weit auseinander
gehenden Klassen eine so mächtig ausgleicheilde Wirkung erzeugt, daß sie nach
außen wie ein einziger Stand auftreten.
Dies war der höchste
Triumph der ritterlichen Waffenführung: daß das Ansehen und die Ehre,
welche sie gab,
derart überwogen, daß die ursprünglichen Grundlagen:
Herrschaft, Freiheit und Unfreiheit dagegen zurücktratell.
Adel war nun
Ritterstand; der Ritter galt als adelig, auch wenn er als Ministeriale
der vollen Freiheit entbehrte.
Nicht auf einmal hat sich dieser merkwürdige Prozeß vollzogeil.
Lang
sam pflegen die Veränderungen der socialen Welt vor sich zu gehen, und der Schritt voir der nahezu bedingungslosen Unfreiheit des herrschaftlichen
.Dienstmannes bis zur vollen Freiheit des Rittermannes hat Jahrhunderte in Anspruch genommen.
Die Anfänge dieser Personenklasse sind wohl in
den servi beneficiarii der Volksrechte zu suchen.
Schon Tacitus hat beu
merkwürdigen Zug des germanischen Charakters wahrgenommen, daß der
Dienst an dem Hofe eines hohen Herrn den Dienenden emporhebe.
Es
äußerte dieser Zug seine Wirkung bei der Bildung des fränkischen Adel
standes, wie später bei der Hinaufhebung der unfreie« Dienstleute der Dynasten zur Stellung freier ritterbürtiger Herren.
Der Glanz des
Herrn beleuchtet auch die nächsten Diener, der nahe persönliche Umgang
mit jenem gab diesen Einfluß und Ansehen. Der Gang dieser Entwicklung dürfte ohngefähr folgender gewesen sein. Ursprünglich stehen sie, gleich den gemeinen Unfreien, wenn auch nicht in dem
selben Grade der Rechtlosigkeit, im Eigenthum ihres Dienstherrn.
In der
Wahl ihrer Frauen sind sie auf die Ministerialinnen desselben beschränkt. Ihr
Eigen fällt nie aus dessen Gewalt. sie durch ihn vertreten.
Gegenüber von dritten Personen werden
Solange man also diese Seite ihrer Stellung be
sonders ins Auge faßt, muß man sie unbedingt unter die niedrigste Klasse
der Freien stellen.
Sie werden deshalb auch im Sachsenspiegel noch nicht
Zur Geschichte des deutschen Abels.
233
in der Ordnung der Heerschilde genannt und erhalten durch ihre Frei
lassung blos daS Recht freier Landsassen; .selbst noch der Verfasser des
Schwabenspiegels trägt kein Bedenken, sie geradezu Eigenleute zu heißen. Im Gegensatz zu den übrigen Unfreien durften die Dienstmannen jedoch nur zu ehrenvollen, namentlich kriegerischeil Diensten verweildet werden.
Dies war der eigentliche Ausgangspunkt ihrer späteren hohen gesellschaft lichen Geltung.
Und mit der Zeit kam die vermögensrechtliche Ausstattung
mit Gütern hinzu, welche an llmfang und Erträgniß den ritterlichen Lehen
gütern nicht nachstanden.
Diese Güter wurden zwar ursprünglich nicht
zu Lehensrecht verliehen, sondern aus Gunst des Herrn zu Hofrecht ge geben.
Aber das Hofrecht der Dienstleute ward großentheils dem Lehen
rechte der Vasallen nachgebildet und in dem Hofgericht des Herrn so gut
gestützt,
wie dieses Besitzes.
und dort wie hier kam es zu fester Erblichkeit des
Daher konnte ihnen der Schwabenspiegel nach ihrer Freilassung
,licht mehr die nämliche Stellung wie den gemeinen Eigenleuten anweisen,
sondern mußte ihilen das Recht der Ritterbürtigen und damit den fünften Heerschild
Es entstand so
zugestehen.
um die Fürsten und Edleil her
neben dem erstell Kreise der ritterlichen Vasallen ein zweiter Kreis vor nehmer Dienstleute,
welche durch Hofämter und Hofdienst allsgezeichnet
und durch hosrechtlichen Gruildbesitz begütert waren. An der höheren Bil
dung und der feinen höfischen Sitte der Zeit hatten sie nicht minder
Sie führten ritterliche Waffen und folgten dem
Theil als die Ritter.
Herrn in die Fehde, wie die Ritter.
Wie eng allmählig die Berührung
beider Klassen wurde, davon gibt unter anderm der Umstand Zeugniß, daß die alte Dienstmannenordnung der Rahmen wurde, in welchen sich nach und nach alle Ritterschaft einfügte.
Alle die Bezeichnungen, die von
jetzt an die Skala der Grade des Ritterthums auSmachen (Schildknechte, Knappen,
Ecuyers,
Hidalgos,
Bedeutete früher Knabe
Famlili),
und Knecht
erinnern
an
Dienstbarkeit.
den unfreien Dienstmann eines
Herrn im Gegensatz zu dem freien miles, so wurde jetzt diese Bezeichnung einfach vom Standpunkt des edlen Waffendienstes aus, ohne Rücksicht auf die persönliche Stellung des Betreffenden, aufgefaßt: die Knaben (Knappen)
waren nicht die Herrn, sondern die Knechte der Waffen.
Auf diese Weise streiften die Dienstmannen allmählig ihre früheren knechtischen Eigenschaften ab und verschmolzen mit den ritterlicheil Freien
zu einem Gebürtsstande.
Die zunftmäßige Abschließung des Ritterthums,
die in seinem Wesen lag, brachte auch die in ihm wirkenden Ideen in
ein System.
Nur das Wichtigste kann ich hier berühren.
Wie schon in
der Germania des Tacitus die Wehrhaftmachung der jungen Männer
einen bedeutungsvollen Act des nationalen Lebens gebildet hatte, so war
Zur Geschichte des deutschen Adel«.
234
jetzt die Schwertleite daS Zeichen der Mündigkeitserklärung des ritterlichen Jünglings.
Vorausgegangen war dieser meist eine längere Prüfungs
und Dienstzeit bei einem hervorragenden KriegSmann.
Hatte sich
der
Knabe wacker gehalten, so erhielt er nunmehr mit gewisser Feierlichkeit die Manneswaffen, die volle ritterliche Rüstung.
Und wie schon in alt
germanischer Zeit mit der Wehrhaftmachung die Jünglinge auS dem Kreise
deS Hauses heraustreten und fortan als Männer und Glieder deS Volks
angesehen wurden, so stand auch jetzt dem ritterlichen Jüngling, wenn er
auS dem Leibdtenst seines Lehrherrn entlassen war, die Welt offen.
Der
eigentliche Ritterschlag ist von dieser Freilassung ganz unabhängig und
seiner Bedeutung nach nichts als der ideale Abschluß in der Rangordnung der Ritterbürtigen.
Meist liegen beide Akte weit auseinander, Froissard'S
Liebling, der Marschall Bouciquaut, und Lalain, der Spiegel aller Ritter
schaft, hatten, nachdem sie die ritterlichen Waffen angelegt, schon eine
hübsche Reihe von Heldenthaten verrichtet, ehe der eine auf dem Schlacht felde, der andere, bevor er in einen schweren Zweikampf ging, sich den
Ritterschlag erbat; Bayard und FrundSberg galten längst als die besten
Ritter im Heere, als sie zu Rittern geschlagen wurden.
Der Schwer
punkt der gesellschaftlichen Bedeutung des Ritterstandes lag in der ihm besondern Art der Waffenführung.
Schwert und Lanze waren der Stolz
des Ritters, und das Recht des Waffentragens im Frieden sollte seine Auszeichnung bleiben.
Der Landfrieden von 1156 bestimmte, daß der
Richter jedem Bauern, der Lanze, Schwert oder überhaupt Waffen trüge, entweder diese oder 20 Schilling abnehmen solle.
Auch dem Kaufmann,
der in Handelsgeschäften die Provinz durchreiste, durfte nach demselben
Gesetz das Schwert nur am Sattel hängen oder auf dem Wagen liegen.
Ritterliche Preiskämpfe boten den KriegSleuten Ehre und Auszeichnung auch im Frieden, der Menge, die sich um die Schranken drängte, ein will
kommenes Schauspiel.
Um nach außen hin in die Ferne der Welt zu
wirken, bildeten sich die Ritterorden, in welchen der Krieg als ein neues
Weltprincip auf ideeller Grundlage aufgefaßt wurde.
so
vielen Gestaltungen deS
Mittelalters,
Auch hier, wie bet
hatten die Institutionen der
Kirche Muster und Vorbild gegeben, wie auch der Endzweck dieser Orden immer nur die Verherrlichung des Christenthums war. Ueberhaupt machen die Ideen eines christlichen Weltreichs, die Ausbreitung und Aufrechter-
haltung seiner Principien das Grundelement des
aus.
ganzen Ritterwesens
Im Cultus der göttlichen Jungfrau gewinnen diese halbmystischen
Bestrebungen eine sichtbare Spitze,
das ewige Göttliche verkörpert sich
darin zum ewig Weiblichen und gibt von da aus den Anlaß zu einem charakteristischen Cultus des FrauendienstS überhaupt.
Endlich muß noch
Zur Geschichte des deutschen Adels.
235
eines mehr äußerlichen Merkmals des RitterthumS erwähnt werden, das
späterhin von großer Wichtigkeit für den gesammten Adelsstand geworden ist: ich meine die zuerst bei jenem und durch jenes vorkommende Führung von Familiennamen und Wappen.
Die ersteren begegnen uns zuerst im
eilsten Jahrhundert, wo sie sich auf Güter oder Schlösser beziehen, die der Familie angehören.
Doch
entbehren sie noch der festen Constanz,
wechseln in den sich folgenden Generationen oder sind gerade bei Brüdern
verschieden nach dem Besitze, den jeder hat, oder anderen Umständen.
Die
Grafen hatten sich ihren Namen ursprünglich nach dem Gau gegeben, der
ihren Amtssprengel bildete.
Durch den Prozeß, in dem aus Amt Ge
schlecht gemacht wurde, hatte sich auf diesem Territorium allmählig auch ein Hauptgut herausgehoben, auf dem sich der neue Herrschaftsbegriff vor
nehmlich zu concentriren begann und von dessen Bezeichnung der Graf dann auch am liebsten seinen eigenen Namen sich übertrug.
Diese Be
zeichnung wurde der Hauptursprung der neuen aristokratischen Geschlechter namen.
WaS das Aufkommen der Wappen betrifft, so hatte schon in den
ältesten Zeiten das Zusammenstehen der Verwandten im Kampfe zu einer eigenthümlichen Gliederung der Heerhaufen geführt, wobei die Schilder
durch gleichartige Farben und Abzeichen diese Gemeinschaft auch äußerlich wahrnehmbar charakterisirten.
ES
entsprang daraus der Gebrauch der
Waffen, deren Sinnbilder sich besonders in den Kreuzzügen feststellten und mit denen die Familien die Geschlossenheit ihrer Geschlechter be
siegelten.
Es würden aber diese äußerlichen Motive zu einer selbständigen Ge schlechterbildung nicht ausgereicht haben, wenn daS Ritterthum nicht zugleich
die materiellen Besitzverhältnisse zur Grundlage seiner Entwickelung er
griffen hätte.
DaS
Ritterwesen
verwuchs mit der Lehensfähigkeit zu
einem und demselben Begriff.
Es wurde dadurch diesem Stande vorzugs weise die Bahn eröffnet, höheres Eigenthum an das Geschlecht zu fesseln. Der ritterliche Grundbesitz wurde für die ganze Zeitanschauung der Höhe punkt und Werthmesser aller politischen und materiellen Rechte.
Steuer
freiheit, Landtagsfähigkeit und richterliche Gewalt erschienen als die von diesem bevorzugtem Besitz getragenen Realberechtigungen.
In socialer Be
ziehung aber bezeichnet das Ritterthum, wie das ganze Lehnwesen, einen
ungeheuren Fortschritt des Mittelalters, einen entscheidenden Schritt zur
Befreiung und ehrenhaften Erhebung der Arbeit und ihres Verdienstes gegenüber dem Besitz.
von
einem
Der
anderen Mann
alte Germane hätte sich einen Mann, geliehenen Grundbesitz
gegen Leistung
Diensten angenommen, nicht anders denken können, wie als Knecht.
der
von Die
bewaffneten Hintersassen der Großen sind in der That bewaffnete Knechte.
Zur Geschichte des deutschen Adels.
236
Daß jetzt der bewaffnete dienende Mann als ehrenhaft galt, obgleich er nur auf geliehenem Gut, nicht auf echtem Eigenthum faß, daß der Name Knecht sogar zum Ehrentitel werden konnte, ist ein bedeutsamer Fortschritt der Zeit, herbeigeführt durch
ein gemeinsames Bedürfniß der Völker
Daher der kosmopolitische Sinn des Instituts, welcher beson
Europa'«.
ders seit den Kreuzzügen unter der Pflege der Kirche gedieh; und dieser
Sinn war eS denn auch,
welcher den großen Grundherrn mit dem klei
neren Besitzer, den Vasallen mit dem Astervasallen vereinigte; Erziehung, Lebensberuf und kriegerische Ehre waren ihnen gemeinsam.
Der Stand
des Ritterbürtigen wurde der eigentliche Grundstock des sogenannten nie dern Adels, der in Deutschland bald auf der breitesten Grundlage und
in einer gewissen Massenhaftigkeit sich zu entwickeln und fortzupflanzen begann.
Einen Grundstock bildeten die freien Grundbesitzer
auf dem
Lande, welche wohlhabend genug geblieben, um geharnischt zu Rosse auf« zurciten, jedoch nur unter der einen Bedingung, daß sie oder ihre Vor
fahren auf ihrem Hof keine bäuerlichen Dienste oder Lasten, wie die Hö rigen und Leibeigenen sie leisteten, übernommen hatten.
Von ihnen sagte
das Sprüchwort: „Ein Edelmann mag Vormittags zum Acker gehen und
Nachmittags im Turnier reiten."
Dazu kamen die zahlreichen großen
und kleinen Gutsbesitzer, welche früher Dienst- oder Burgmannen gewesen,
die aber ihre ritterliche Lebensweise aus dem Stande der Unfreien heraus gehoben hatte.
In einer Menge von Dörfern, wo jetzt keine Spur von
Adligen zu finden, weisen die Urkunden ritterbürtige Leute nach.
Häufig
saßen auf einer Burg oder einem Hofe, der seinen Thurm hatte, zwei oder drei Familien zusammen.
Der Sternerbund in Hessen und Um
gegend zählte über 2000 adelige Männer, welche zusammen nur vierthalb-
hundert Burgen hatten.
Die Glosse zum Sachsenspiegel sagt, daß nur
diejenigen nicht das Recht der Leute von Rittersart übten, welche keinen
eigenen Grund und Boden hätten und Pferde blos zu ihrer LeibeSnoth-
durft hielten.
Man hat in neuerer Zeit vielfach bezweifelt, ob auch die Patrizier unserer alten Reichsstädte diesem Adel der Ritterbürtigen beigezählt wer
den dürfen.
Ich denke, daß nach den obigen Ausführungen dieser Punkt
kaum mehr in Frage kommen kann.
Wenn genügender Grundbesitz, ver
bunden mit ritterlicher Lebensweise, dazu ausreichten, den Mann aus der
Klasse der gemeinen Freien in den Kreis des Ritteradels hinaufzuheben,
so ist der Patrizier sicherlich ritterbürttg gewesen.
Er besaß nicht nur
innerhalb der Stadtmauern, sondern auch auf dem Lande eine Anzahl
Burgen, Höfe, Zehnten, grundherrliche Gefälle, Jagden, Zölle und andere Berechtigungen,
er stand meist
in LehnSbeziehungen
zu geistlichen und
Zur Geschichte des deutschen Adels.
237
weltlichen Fürsten, er hielt sich eine Menge Untergebener und Schützlinge —
das
Institut der Muntmannschaft kommt zunächst im Gefolge des Pa
triziats vor —, er führte eine ritterliche Lebensweise, tummelte sich mit
seinen Knechten im Kampfe, wie im Turniere, kurz er erfüllte getreulich alle Pflichten eines echten Ritters.
konnte ihm in den Augen
Daß er daneben Großhandel betrieb,
seiner Standesgenossen
so
wenig Nachtheil
bringen, als dem Landedelmann, welcher sein Gnt bewirthschaftete: nur durfte er, gleich wie jener
nicht zum gemeinen Bauer herunter
sinken
solüe, nicht ein bloßer Krämer sein; er sollte nicht nach Pfunden auswiegcn
und nicht nach der Elle
ausschneideu.
Würde im Mittelalter — und
lediglich mit dessen Anschauungsweise haben wir es hier zu thun — eine andere Auffassung gültig gewesen sein, so müßten auch die venetianischeu
und
slorentinischen Nobili, die Deutsch-Ordensritter, die alle schwung
haften Handel betrieben, es müßten auch solche hochgestiegene Familien, wie die Mediceer und Fugger, die mit den Wurzeln ihrer Größe und ihres Reichthums auf den Handel und Gelderwerb zurückgehen, aus den Reihen des Adels gestrichen werden.
Erst gegen Ende des Mittelalters,
als Kraft und Leben deö Adels erstarben, suchte der Landadel die Pa
trizier von Turnieren, Domstiftern und Ritterorden auszuschließen.
So
viel der Adel damals an Bedeutung im Volksganzen einbüßte, um ebenso viel suchte er sein Selbstgefühl zu
steigern, indem
er sich kastenmäßig
abschloß und nicht mehr dem Volke, sondern immer nur seinen Genossen
ins Gesicht blickte.
werthvoller,
Nie war edle Abkunft
Ganz anders war das früher.
nie übte
der Adel
eine größere politische Macht,
als im
Mittelalter, aber niemals schien er auch weiter verbreitet, niemals frischer
und flüssiger.
Er stand damals wie eine organische lebendige Institution,
die sich fortwährend verjüngte und erneuerte, weil sie an Stelle der ab sterbenden Glieder sich neue aus dem Volke heranzog.
Der deutsche Adel des Mittelalters, wie er sich aus den dynastischen
und ritterbürtigen Geschlechtern zusammensetzt, hat so bezüglich seiner Ent
wickelung denselben Prozeß, wie die übrigen Volksstände durchgemacht. Drei große Wahrzeichen sind eS, welche die Geschichte unserer ständischen Verhältnisse in ebenso viele Perioden abtheilen:
Geburt, Besitz, Beruf.
Die altgermanische, ständische Gliederung fußte auf der Unterscheidung
der
Volksgenossen
in
Freie
und
Unfreie;
Adel
rechtliche Sonderstellung über der gemeinen Freiheit.
begründete
keinerlei
Das Mittelalter be
ginnt dann damit, dem Grundbesitz, der schon früher nicht ohne Einfluß auf die gesellschaftliche Schätzung seiner Inhaber gewesen ist, als vorzugs
weise» Factor bei der neuen socialen Ständegliederung Geltung zu ver schaffen ; geehrt und ausgezeichnet vor dem übrigen Volke ist jetzt vornehm-
Zur Geschichte beö deutschen Adels.
238
lich der reiche Grundherr, der auf immunem Boden sitzend über zahlreiche Hintersassen gebietet.
Daher hat nun durch die Anknüpfung des könig
lichen und später des fürstlichen Dienstes an die conservative Macht der GrundeigenthumSverhältniffe der erstere sich auS seiner ursprünglichen Beschränkung zur Stufe eines neuen ständebildenden Elements empor
Diese Verbindung von Dienst und Besitz erzeugt nunmehr
gearbeitet.
jenes dem ganzen Mittelalter eigenthümliche Institut des abgeleiteten Be
sitzes mit persönlicher Dienstpflicht, welche sich jedoch sehr bald auf eine
kriegerische Heerfolge beschränkt.
DaS ist das Wesen der Feudalität,
welche von jenem ersten engsten Kreise der königlichen Gefolgsleute auS allmählig alle irgendwie hervorragenden Volkselemente in seinen Bann zwingt und ihnen -neue Gestalt und neues Leben mittheilt.
Die gemein
same Grundbedingung dieser neuen ausgezeichneten Stellung innerhalb des Volksganzen bildet nunmehr die Führung ritterlicher Waffen und die damit zusammenhängende ritterliche Lebensart, die alten auszeichnenden Faktoren Herrschaft und Besitz schwinden daneben nicht ganz, aber sie
vermögen doch nur Unterabtheilungen innerhalb des großen Adelsbegriffs
zu schaffen.
Der hohe Adel gründete sich auf das dem gesammten Adel
gemeinsame Prinzip der Ritterbürtigkeit und auf den Besitz eines reichs unmittelbaren Gebietes und der Reichsstandschaft, der niedere lediglich
auf jenes erstere.
Streng genommen entspricht daher nur der Dynasten-
Adel den Anfordungen, die wir in der Einleitung als Grundbedingungen adeligen Wesens hingestellt haben.
Wir werden jedoch weiter unten in
der Jnterstitution der Reichsritterschaft eine UebergangSstufe vom hohen
zum niedern Adel kennen lernen, welche die wesentlichen Merkmale des
Adelsbegriffs aufweist und diese wenigstens theilweise auf die eigentliche niedrige AdelSklaffe hinübergelcitet hat.
Merkwürdig ist bei jenem Wechsel der den Adelsbegriff bestimmenden Faktoren, wie dieselben, wenn sie ihren Einfluß bei dem obersten Volks
stande verloren haben, immer in die nächste GesellschaftSschicht Hinabstet
gen, um hier ihre ständebildende Kraft neuerdings zu äußern.
Das gilt
dann gemeinschaftlich für die drei alten Volksstände: Adel, Bürger und
Bauern.
Wo die Freiheit aufhört, Adel und Gemeinfreie als zwei ver
schiedene Grade des einen Standes der Freien auseinander zu halten, fängt sie an, sich als scharf scheidendes Moment zwischen der zweiten und dritten Gesellschaftsklasse geltend zu machen; sobald sie auch hier diese
Wirkung verliert, steigt sie in die unterste Klasse hinab, um hier dann bis in die neueste Zeit herein sich in jener Eigenschaft zu erhalten.
In
der fränkischen Zeit wird bezüglich der Begriffsbestimmung des adeligen Standes das Moment der freien Geburt nicht weiter in Betracht gezogen:
239
Zur Geschichte beS deutschen Adels.
Sklaven arbeiten sich allmählig zu den höchsten Hof- und Staatsämtern
empor und treten damit in die Kreise der Aristokratie ein; tiefer unten aber dauert der Gegensatz zwischen Freien und Unfreien noch lange in
seiner alten Schärfe fort, bis dann derselbe durch das Aufkommen der
Städte seine Kraft einbüßt und von jetzt ab nur noch unter den Baltern der alte Geburtsunterschied zwischen Freien und Unfreien fortdauert.
In
gleicher Weise hat der Besitzbegriff, nachdem er aufgehört, eine Unter
scheidung zwischen Vornehmen und Geringen hervorzurufen, in den ersten Jahrhunderten des
die mit
Städtewesens
eigenem Grund und Boden
angesessenen altfreien Bürger von den grundbesitzlosen Beisassen getrennt,
bis mit dem Sieg der Zünfte der Beruf an seine Stelle getreten ist und
jetzt der Betrieb eines Gewerbes das charakteristische Merkmal des Bür
gers ausmacht.
Dieses Berufsprincip aber ist wiederum schon geraume
Zeit vorher bei der Bildung des neuen Adelsstandes
wirksam gewesen,
indem es hier alle diejenigen, welche berufsmäßig den kriegerischen Ge schäften obliegen, in einer Gesellschaftsklasse — die der Ritterbürtigen —
zusammenfaßt. Natürlich mußte, sobald erst diese Unterlage einer vor den übrigen
Volksklassen
ausgezeichneten Stellung
ins
der
gerieth,
Wanken
ganze
darauf aufgebaute gesellschaftliche Zustand stark erschüttert werden. Katastrophe trat mit dem Anbruch
Veränderungen im
Kriegswesen
kriegerische Bedeutung.
der neueren Zeit ein.
Diese
Die großen
frühere
raubten dem Ritteradel seine
An die Stelle der adeligen Lehensmannen treten
die meist aus den niedrigsten Volksklassen geworbenen Söldlinge.
Die
Ritterwürde wird nicht mehr blos an Edle, sondern auch an Unedle ver
liehen, ohne daß man dabei noch irgendwie an eine kriegerische Lebensweise gedacht hätte.
Selbst der Gemeinfreie kann jetzt Lehen erwerben.
Kurz
die Edlen verlieren ihre ursprüngliche Bestimmung, zu schirmen was des
Schirmens bedurfte.
Noch früher war mit dem Herrenstande unserer Nation eine beachtenswerthe Veränderung vorgegangen.
Seit dem Anfang des 15. Jahr
hunderts wurde hier und da die freiherrliche und
gräfliche Würde von
den deutschen Kaisern an bisher ritterbürtige Familien ertheilt.
ches HauS trat dann in die Genossenschaft der
Ein sol
alten dynastischen Ge
schlechter ein, eS erhielt die gleichen Vorrechte wie diese, namentlich auch
das Recht der Reichsstandschaft, ungeachtet es natürlich durch die bloße Standeserhöhung noch kein immediates Gebiet erworben hatte. eine
Familie ohne reichsunmittelbares Territorium,
selbst
eine
Selbst
land-
säßige Familie konnte daher zu der Genossenschaft der alten hochfreien
Geschlechter
gehören.
Namentlich
seit Karl V. wurde die hochadelige
Zur Geschichte des deutschen Adels.
240
Standeswürde so verschwenderisch von den Kaisern verliehen, daß die
reichsständischen Häuser sich genöthigt saheü, ihren althergebrachten Rechts zustand mit der strengsten Sorgfalt gegen die neuerhöhten Familien sicher zu stellen und den kaiserlichen Standeserhöhungen ihre frühere staats
rechtliche Wirkung zu benehmen.
Hierher gehören namentlich die zum
Schutze ihres Territorialrechts getroffenen Bestimmungen des Reichsabschieds
von 1548, der Wahlcapitulattonen Leopold I. von 1658 und Karl VII. von 1742.
Zur Wahrung seines reichstäglichen Ansehen traf der Herren
stand schon seit 1653 die nöthigen Bestimmungen in den Wahlcapitulationen.
So blieb im Allgemeinen die Stellung des hohen Adels, der
sich nicht wesentlich und ausschließlich auf die Kriegsverfassung gründete, auch in die neuere Zeit herein eine unveränderte.
Vielmehr bot ihm die
weitere Entwickelung der deutschen Staatsverfassung Gelegenheit genug, den Kreis seiner Gerechtsame sogar noch zu erweitern.
Denn im Laufe
der Zeit hatte das deutsche Reich eine wesentlich aristokratische Verfassungs form bekommen;
ein staatsrechtlicher Körper, dessen Haupt der Kaiser,
dessen Glieder die Reichsstände bildeten, war der Träger der Staats gewalt geworden.
Die Herrengeschlechter, mi8 deren Schooß ein beträcht
licher Theil der Glieder, das Haupt des souveränen Reichskörpers ent sprang, blieben mithin gerade durch diese ihre ausgezeichnetste Eigenschaft
fortwährend von allen übrigen Geschlechtern geschieden; blos sie waren im Sinne des Reichsstaatsrechts die herrschenden, die nichtreichsständischen die beherrschten Geschlechter.
Wir führen hier ihre einzelnen Vorrechte gegenüber dem nicht reichs ständischen Adel an:
1.
Nur reichsständische Personen durften sich des PrädicatS „Wir" bedienen;
2.
Sie allein wurden vom Reichskammergericht mit dem Titel „Herr"
3.
Bei ihren Prozessen hatten ihre Räthe kein Juramentum calum-
und „Frau" beehrt; niae zu leisten; 4. Zu gewissen Stellen waren sie ausschließlich befähigt.
Im Straß
burger Hochstifte ließ man nur Herren aus reichsständischen
Häusern zum Kanonikate zu.
Zu Präsidenten des Kammergerichts
und deren Vertretern sollten ebenfalls nur Personen aus reichs ständischen Familien genommen werden; ebenso zu Stellvertretem
des Kaisers in Reichsgeschäften; 5.
Genossen sie Sperrfreiheiten am kaiserlichen Hofe zu Wien.
Im Großen und Ganzen wird man sagen dürfen, daß der hohe deutsche Adel bis zur Auflösung des Reichs
seine
ursprüngliche Natur
Zur Geschichte des deutschen Adels.
241
eines in sich abgeschlossenen, historischen, mit bedeutenden politischen Herr scherrechten ausgestatteten Adelsstandes sich treu bewahrt hat. Dagegen hat — wie wir bereits hervorgehoben haben — der niedere
Adel in Folge der seit Beginn des 16. Jahrhunderts tiefveränderten Zeit
verhältnisse eine gründliche Umgestaltung erfahren.
Hatte der Herrenstand
im Mittelalter einen Herrscherstand gebildet, so war der Stand der einfach
Ritterbürtigen ein Kriegerstand gewesen.
Als daher Bewaffnung
und
Kriegsführung seit der letzten Hälfte des 15. Jahrhunderts allmählig eine andere wurde, mußte jene ihre Haupteigenschaft bedeutend an Werth ver
lieren.
Immer seltener wurden die Ritter zum Reichsdienst
entboten.
Damit entschwand ihnen aber die große Aufgabe, ohne die keine organische
Einrichtung der Geschichte sich auf die Dauer halten kann.
Statt für
jene, wurde nun die überschüssige Kraft in Roheiten und Gewaltthaten
aufgebraucht.
Ulrich von Hutten nennt seine Genossen rauh
freundlich und von
centaurischer Häbtigkeit.
Kriege im eigenen Interesse, waren Rachezüge
Mittel, sich gegen Beides zu schützen.
und un
Ihre Kriege waren nun oder Räubereien oder
Hatte der Nachbar das Waidwerk
über die Grenzen ausgedehnt, hatten seine Bauern das Vieh auf des
Andern Triften weiden lassen, so war der Grund zu langen und blutigen Raufereien gelegt; zeigte
sich Aussicht, die Pfeffersäcke reichsstädtischer
Kaufleute zu erbeuten, so war Veranlassung genug vorhanden, um derer von Nürnberg oder Augsburg Feind zu werden.
Tage und Nächte hin
durch lagerten die Ritter als Straßenräuber, wie Kaiser Maximilian I. sie bezeichnete, an den Handelswegen.
Wurden sie von den Städtern auf
gespürt, so verloren sie als Placker und adelmäßige Taschenklopfer durch Henkershand ihr Leben; blieben sie Sieger über die Bürger, so nahmen
sie ihnen nicht nur das Gut, sondern übten auch die rohsten Grausam keiten an denselben,
ermordeten die Gefangenen oder hieben ihnen die
Hände ab und ließen sie verstümmelt laufen.
Rühmt doch Götz von
Berlichingen als Zeichen besonderer Großmuth von sich selbst, er habe die Gefangenen niederknieen und ihre Hände auf den Stock legen lassen, als hätte er ihnen Kopf und Hände abhauen wollen; „dann aber", setzt er hinzu, „trat ich den einen mit dem Fuß auf den Hintern und gab dem
andern eins an das Ohr, das war meine Strafe gegen ihnen und ließ sie also wieder von mir hingehen."
Das Ehrlose und Verwildernde eines
solchen Lebens trat den Rittern nicht vor die Seele, die Räuberei erschien ihnen vielmehr als eine männliche und herzhaftige Unsrommheit; wenn
sie nur in der richtigen Form abgesagt hatten, dann ließen sie sich das Morden und Brennen nicht weiter kümmern. Noch einmal schien es jedoch, als wolle der Adel seiner natürlichen Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 3.
18
Zur Geschichte des deutschen Adels.
242
Aufgabe, Anwalt und Führer des Volkes zu fein und bei jeder wahr haften Nationalreform sich an die Spitze desselben zu stellen, eingedenk
sein.
Als die Idee des Humanismus über die Alpen zu den deutschen
Geistern herniederstieg, hatte sich zuerst der Stand der deutschen Ritter als der fruchtbarste Boden gezeigt, auf dem sie ausgenommen und ver
pflanzt werden konnte.
Mitten in seiner Corruption war der Adel doch
zuerst mehr als jeder andere Stand von der wiedergebornen Wissenschaft
getroffen und gereizt worden.
Und später sehen wir ihn auf politischem
Gebiete bestrebt für Herstellung einer zeitgemäßen, insbesondere die ver
schiedenen Stände und ihre Sonderinteressen einander mehr annähernden
Reichsverfassung, der Reformation gegenüber im Bunde mit dem Bürgerthum im opferfreudigen Kampfe für die neue Glaubensfreiheit.
aber hört dies mehr und mehr auf.
Bald
In den protestantischen Ländern
durch die Aufhebung der geistlichen Pfründen um die Mittel der Versor gung seiner jüngeren Söhne gebracht, fast allerwärtS durch die Herab
drückung der Stände in Abhängigkeit von der fürstlichen Gewalt und in
Unbedeutendheit in dieser seiner bisherigen, wenigstens zum Theil volksthümlichen Wirksamkeit beschränkt, sucht der Adel für jenes erstere wie für
dieses letztere Ersatz und Entschädigung im Hofdienst, drängt sich seitdem immer lebhafter an die Höfe, welche ohnehin von eben dieser Zeit an wie
an Macht so auch an äußerm Glanz einen Zuwachs erhalten, und nimmt
allmählig alle Hofämter in Besitz, während noch im 16. Jahrhundert Bür
gerliche bisweilen solche, selbst von
den höchsten, bekleideten.
Zugleich
sondert er sich durch üppige und nichtige Lebensweise, durch hochfahrende Anmaßung von dem Bürger und seiner Gemeinschaft und mindert durch
gewaltsame Ausbeutung deS ihm untergebenen moralisches Ansehen.
„armen Mannes"
sein
Der demokratisch-speculative Sebastian Frank, der
den volkSthümlichen Bewegungsgeist der Reformation am tiefsten in sich ausgenommen, nennt daher den Adel „ein fremdes Ding im Christenthum" und einen auf „heidnische Privilegien" niedergelassenen Stand, den er
mit dem Geist der Brüderlichkeit und Gleichheit nicht vereinigen kann. Die traurigen Zeiten deS dreißigjährigen Krieges steigerten, indem
sie die Kraft des BürgerthumS Adels noch mehr.
vollends brachen, den Uebermuth deS
Statt seinen verarmten Gutsunterthanen aufzuhelfen,
benutzte er zum großen Theil ihre Noth und Ohnmacht, um ihnen neue oder höhere Lasten auszulegen.
Statt die allgemeinen Lasten zu theilen,
suchte er dieselben möglichst von sich abzuwälzen, indem er für seine Güter Steuerfreiheit beanspruchte, obschon das frühere Aequivalent dafür, der
Ritterdienst, aufgehört hatte.
Statt durch eigene Bewirthschaftung seiner
Güter deren zerrütteten Zustand
zu bessern, dadurch auch der kleinen
Zur Geschichte des deutschen Adels.
243
ländlichen Bevölkerung ein gutes Beispiel zu geben und förderlich zu sein, zog er es meistens vor, sich an den Höfen oder auf Reisen ins Ausland
moralisch und finanziell vollends zu ruiniren. Nur an vereinzelten Stellen hatte sich die alte gute Zucht noch länger
auch unter dem Adel forterhalten.
So schwor z. B. auf dem stettinischen
Landtage im Jahre 1602 die Ritterschaft feierlich, denjenigen, der sich künftig weigern werde, richtige Schulden prompt zu bezahlen, für einen Unmann, Schelm und Bösewicht zu halten und mit ihm weder essen noch trinken zu wollen.
Versündigung am Vaterland, Höhnung des Gottes
dienstes, grobe Insolenz, muthwilliger Bankerott sollten der
ritterlichen
Vorrechte verlustig machen und den Gutsbesitz auf den niedigeren Agnaten bringen; bewährte Rechtschaffenheit und Gemeinsinn, was auch vom Bauer
gefordert werde, sei die erste Bedingung, um auf die adlichen Vorrechte
des Vaters Anspruch zu machen, und die Vorrechte sollten nicht durch Reichthum, sondern durch ausgezeichnete Verdienste ums Vaterland, also
auch stets mit gewissen Civil- und Militärstellen zugleich erworben werden. In solchem wahrhaft ritterlichen Sinn hatten der pommersche und bran denburgische Adel ihre Kinder meist in spartanischer Genügsamkeit für den Dienst des Königs erzogen, und die Schlachtfelder, auf denen Preußen seine
Ebenbürtigkeit mit den großen Mächten errungen, dem Stande den ersten Rang nach dem regierenden Hause gegeben. Dieser Standesgeist erlitt im Laufe des 18. Jahrhunderts eine nach
theilige Veränderung.
Ganz besonders ist diese dem Eindringen fran
zösischer Sitten und Anschauungen zuzuschreiben.
Der französische Adel
war seinem Wesen wie seinen Manieren nach vorzugsweise der Typus der europäischen Aristokratie geworden und wurde namentlich in Deutsch
land als das eigentliche Ideal adeliger Sitten und Lebensweise in For men, Bildung und Gesinnung angesehen und nachgeahmt.
Der deutsche
Adel büßte sowohl durch die Richtung seines Naturells, wie auch in der
allgemeinen Haltungslosigkeit der nationalen Verhältnisse allmählig jeden originellen Charakter ein und verfiel in seiner Sprache wie in allen seinen Anschauungen dem französischen Zuschnitt.
Die Theorie des adeligen
Blutes gewann an der exclusiven Bildung ein neues Motiv ihrer Ent
wicklung. Wie der edlere Nahrungsstoff den aristokratischen Körper weicher und zarter formte, so sollte auch eine spezifische Geistesbildung psychisch wirken und einen persönlichen Organismus darstellen helfen, der in seinem fein präparirten Geäder, wie in der Harmonie aller seiner Theile und
Formen mit keinem anderen menschlichen Product zu vergleichen wäre. Wie die Aristokratie ihr besonderes Blut hatte, so hatte sie auch bald ihren besonderen Gesichtsschnitt, Hände und Füße.
Zur Geschichte des deutschen Adels.
244
Selbst ein Friedrich der Große vermochte es nicht, sich von solchen
Anschauungen ganz los zu machen.
Nach seiner Meinung sollte der Lan-
deSadel nicht nur bei seinen alten persönlichen Vorrechten, sondern auch
bei seinem überkommenen Besitz erhalten werden. den Uebergang
adelicher
Güter
Er verbot deshalb
in bürgerlichen Besitz und
gestattete
davon nur während deS siebenjährigen Krieges eine Ausnahme.
Nach
dem Frieden aber kehrte er wieder zu dem zeitweilig verlassenen Princip zurück; in einer Verordnung vom Jahre 1774 bestimmt er sogar, daß,
damit ein in Concurs gerathenes adelicheS Gut nicht in seinem Werth ver ringert werde, für dasselbe eine besondere Administration durch einen von
der Kriegs- und Domänenkammer aus ihrer Mitte zu bestellenden Kriegs
rath einzusetzen sei.
Wo dennoch Bürgerliche in den Besitz von Ritter
gütern gelangten, wurden ihnen die mit denselben verbundenen adelichen
Ehrenrechte (Gerichtsbarkeit, Kirchenpatronat, Benennung nach dem Gute und die freilich illusorisch gewordene Landstandschaft) abgesprochen.
Eine
CabinetS-Ordre von 1785 verordnete dann unbedingt, daß „kein Mensch bürgerlichen Standes mehr die Erlaubniß haben soll, adcliche Güter an sich zu kaufen, sondern alle Rittergüter sollen bloß und allein für die
Edelleute sein und bleiben".
Solche Verbote waren freilich nicht durch
zuführen, da der Adel selbst nicht ungern sah, wenn das wohlhabende Bürgerthum ihm seine verschuldeten Güter zu guten Preisen abkaufte. Friedrich der Große aber empfahl dem Adel selbst die Errichtung von Majoraten, um das Grundeigenthum der Familien ungetheilt und unge schwächt in den Händen ihrer Erstgeborenen zu erhalten, wie er auch den
Mißheirathen zwischen StandeSverschiedenen im Interesse des Adels streng entgegentrat.
Edelleute und Bürger waren auch in ihrem gesellschaftlichen Auf treten nicht blos durch die principielle Auffassung, sondern, was fast noch
tiefer wirkt, durch Aeußerlichkeiten und Abzeichen aller Art, durch den dem
Adel ausschließlich zukommenden Degen an seiner Seite und durch den dreieckigen, mit den weißen Straußenfedern gezierten Hut auf seinem Kopf
geschieden.
Dies erstreckte sich bis auf die Ballfeste int Berliner Opern
hause, auf denen
es zu dem
exclusiven Recht deS Adels gehörte, in
Domino'S von Rosastoffen zu erscheinen, wie es die Standesgrenze der Bürgerlichen bezeichnete, daß sie in dem Tanzsaal nur hinter der durch eine Schnur gezogenen Schranke sich bewegen durften. Friedrich der Große ließ solche Verhältnisse bestehen, weil er den Adel als Princip in fein RegiernngS-System aufnehmen zu müssen glaubte.
Besonders aber suchte
der König in diesem Sinn die Offiziersstellen zu einer ausschließlichen Prärogative des Adelsstandes zu machen.
Einige junge Leute, die im
Zur Geschichte des deutschen Adels.
245
Kadettencorps ausgenommen worden und von denen er gehört, daß sie nicht von „rechten und wahren Adel" seien, -ließ er daraus entfernen und
gab anheim, solche Menschen lieber zur Artillerie abzugeben, wo sie eher
geduldet werden könnten. Solche Verhältnisse waren doppelt unerträglich, nachdem Besitz und
Bildung dem Adel gegenüber den übrigen Ständen keineswegs mehr ein
erhöhtes Ansehen gaben.
Die gegen Ablauf des Jahrhunderts einreißende
Gewinnsucht, der Güter- und Uuterthanenhandel desselben löste die sitt
lichen Bande, zog den Stand von seiner Höhe herab, uiib je mehr er sich auch in der äußeren Lebensweise den reichen Städtern näherte und mit ihnen in Berührung trat, desto mehr mußte sich die willige Anerkennung
der gesetzlichen Unterschiede verlieren.
Die Frage über die Zukunft des
Adels -war für denkende Staatsmänner um so weniger abzuweisen, als die Lehren und Waffen der französischen Revolution, so weit sie reichten,
auf Vernichtung desselben ausgingen, und die bevorstehende Einführung der allgemeinen Wehrpflicht mit erblichen Vorzügen im Dienste unver
einbar war.
Zur Kenntniß der zur Zeit der Stein'schen Gesetzgebung herrschenden einschlägigen Verhältnisse diene nur die eine Thatsache, daß sich in der
Mark Brandenburg das platte Land theils als unmittetbares, theils als
mittelbares Eigenthum in den Händen der vierthalbhnndert Ritterguts besitzer befand, denen die Gerichtsbarkeit und Ortspolizei zustand und die
meist das Patronatsrecht über Kirchen und Schulen übten; auch gehörte ihnen die mittlere und niedere Jagd und blieben ihnen die Gutseinge sessenen zu Geld- und Naturallieferungen verpflichtet.
Die Rittergutsbe
sitzer selbst waren von allen direkten Abgaben, bis 1799 auch von den
Zöllen befreit, sie waren dem gezwungenen Militärdienst nicht unterworfen, sie vertraten die übrigen Stände des platten Landes in allen land- und kreisständischen Angelegenheiten.
In diese Zustände griff nun die Stein'sche Socialgesetzgebung mit kühner, aber heilsamer Hand ein.
Das Edict vom 9. October 1807,
„den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigenthums, sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner betreffend", knüpft
an die Aufhebung des Unterschieds zwischen adeligen und nichtadeligen Grundstücken sofort in § 2 die Zulassung des Edelmanns zum Besitz
bürgerlicher und bäuerlicher, wie auch des Bürgers und Bauern zum Be sitz von Rittergütern.
Wenn auch die Freizügigkeit von Stand zu Stand
zunächst nur innerhalb der Volksstände erklärt wurde, so war doch da
durch ein tiefer Riß, der die weiteren Consequenzen von selbst ersichtlich machte, in das feudale Gesellschaftsshstem geschlagen worden.
Zu diesen
Zur Geschichte des deutschen Adels.
246
verschwiegenen Consequenzen gehörte, als eine der principiellen Forde rungen der Revolution, die Aufhebung des Adels selbst, welche zwar ganz und gar nicht unter den OrganisationS-Jdeen Stein's sich befand, die sich
aber logisch von selbst verstand, sobald überhaupt nach individuellem Be dürfniß von einem
Stand in den anderen übergegangen werden konnte
und sobald auf der andern Seite die Feudalität des Adels, welche immer
vorzugsweise seinen Begriff und sein Wesen ausmachen wird, für erloschen erklärt wurde.
Denn diese Feudalität fiel im ganzen Umfang
ihrer
Rechte durch das Edict selbst, welches die Theilbarkeit des GrundeigenthumS und die Auflösung aller und jeder Gutsunterthänigkeit anordnete und die Aufhebung der Lehne, Familien-Stiftungen und Fideicommisse
auf dem Wege der Familienschlüsse wenigstens anzubahnen begann.
Die unmittelbaren Anschauungen und Arbeiten Stein's
über die
jedenfalls von ihm bezweckte Reorganisation des Adels sind leider mit den Akten, in denen sie ntedergelegt wurden, auf eine ziemlich unerklär
liche Weise der Oeffentlichkeit entzogen worden.
Einen Rückschluß auf
dieselben dürfen wir mit großer Wahrscheinlichkeit aus den einschlägigen Ansichten seines Jugendfreundes August Wilhelm Rehberg machen.
Der
selbe hatte im Jahre 1804 in einer Schrift „über den deutschen Adel" den Gedanken entwickelt, den Adel durch Umbildung nach dem Muster
der englischen Peersgeschlechter in ein richtigeres Verhältniß za den übri
gen Ständen zu bringen.
Daß Stein einer- solchen Reform nach eng
lischem Muster zugeneigt war, darauf weisen auch mannigfache Andeutun
deutungen in seinem VerfassungS-Entwurfe hin.
Wie jeder ächte Staats
mann konnte er nicht unbedingt eine Einrichtung verwerfen, welche zwar
in ihrer gegenwärtigen Erscheinung Unzulänglichkeiten zeigte, aber in ver
jüngter Gestalt einen wohlthätigen Einfluß
auf das Ganze behaupten
konnte: er wollte Verbesserung, nicht Abschaffung des Adels.
Wie bet
allen seinen Neueinrichtungen geht er auch bezüglich seiner Reformge
danken über den Adel auf die historischen Grundlagen desselben zurück. Größerer Grundbesitz mußte ihm daher als die wesentliche Vorbedingung
adeligen Wesens gelten.
Zugleich sollte sich jedoch der Adel auch
auf
eigenes Verdienst um den Staat gründen, das aber schon dadurch festge
stellt sei, wenn Jemand einem Geschlechte des bisherigen Adels angehöre — hierbei wurde dann eben gleichsam das Verdienst der Vorfahren als
das eigene mangelnde ersetzend angenommen —, oder eine höhere Stellung im Staatsdienste etnnehme.
Zugleich dachte er daran, den Adel nach der
Verschiedenheit seines Einkommens in verschiedene Classen abzustufen, wo
bei er als den entscheidenden Grundsatz aufstellte, daß der Adel mit dem
unverminderten Landeigenthum sich vererben solle.
ES war dies eine an
Zur Geschichte des deutschen Adels.
247
das englische Muster erinnernde Unterscheidung zwischen Adel und AdelSfähigkeit, welche letzte nur denen zugeschrieben wurde, welche nicht in daS
Erbe des vollen GrundeigenthumS eingetreten waren, oder die als Mit glieder des bisherigen Adels doch nicht zum Eintritt in den neuen Adel für befähigt
erachtet werden sollten.
Dieser Punkt bot
die
größten
Schwierigkeiten dar, da er eine große Zahl ehrenwerther Menschen in ihren ererbten Gefühlen verletzen mußte — man denke nur an die Tau sende durch den Tilsiter Frieden brodlos gewordenen Offiziere! —, aber
die Noth der Zeit war so groß, daß man noch zu schwereren Opfern ent
schlossen gewesen wäre.
Der als wirklicher Standesrepräsentant aner
kannte Adel war dann, als erster Stand, dazu bestimmt, persönlich zu
den Provinzial-Landtagen und, theils persönlich, theis durch Abgeordnete
aus seiner Mitte, zu den Reichsständen berufen zu werden. organischen Verfassungsarbeiten aber
In seinen
erklärte Stein mehrfach eine aus
Geschlechts- und Güteradel zusammengesetzte erste Kammer oder Herren
kammer für eine nothwendige Institution.
Zur Hebung und Pflege dcS
aristokratischen Standesgeistes sollten StandeSgerichte constituirt werden,
um unwürdige Mitglieder des Adels aus demselben auszustoßen.
der anderen Seite stand ihm
auch wieder die
Auf
nationale Freiheitssache
höher als jedes Standesinteresse: als es sich um die Eröffnung des euro päischen Krieges gegen Frankreich handelte, machte Stein in einer ge heimen Berathung mit Scharnhorst, Gneisenau, Grolmann und Bohen
den Vorschlag, bei Ausbruch des Kampfes die Aufhebung des Adels zu erklären. Schon vor den Steinschen Reformen hatten äußere politische Ereig
nisse den Rechtszustand des gesammten deutschen Adels auf das Heftigste erschüttert.
Namentlich der hohe Adel verlor in Folge der Mediatisirung
seiner Gebiete die eigentliche Grundlage seiner ausgezeichneten Stellung,
und nur ein sehr geringer Bruchtheil seiner alten Vorrechte ist ihm durch die deutsche Bundesacte wieder zurückgegeben worden.
Der Artikel 15
derselben beabsichtigte, den im Jahre 1806 und seitdem mittelbar gewor
denen ehemaligen Reichsständen „einen gleichförmig bleibenden RechtSzustand" in allen Bundesstaaten zu verschaffen, und sicherte dazu diesen fürstlichen und gräflichen Häusern vor allen daS Wesen des „hohen Adels"
in Deutschland und „das Recht der Ebenbürtigkeit in dem bisher damit
verbundeneu Begriff
Nach dieser Bestimmung der BundeSacte sollten
die Häupter dieser Häuser die ersten Standesherren in dem Staate sein,
zu dem sie gehören, und in demselben nebst ihren Familien die „privilegirteste Klasse" bilden, welche Eigenschaft ihnen nicht nur in Ansehung der Besteuerung, sondern auch durch privilegirten Gerichtsstand, durch Be-
Zur Geschichte des deutschen Adels.
248
fretung von aller Militärpflicht für sich und ihre Familien, durch selbst eigene Ausübung der bürgerlichen und peinlichen Gerichtspflege in erster
und auf großen Besitzungen auch in zweiter Instanz, durch OrtSpolizei und Aufsicht in Kirchen- und Schulsachen, wie auch durch Ertheilung mancher anderer Rechte, wenn auch unter Hinweisung auf die besondern
Vorschriften der Landesgesetzgebung, zugesichert wurde. Eine Mittelstellung zwischen dem hohen und niedern Adel hatten zur
Zeit des alten deutschen Reichs die Reichsritter eingenommen.
Obschon
ihnen nicht die volle LandeSsvtlveränität der reichsständischen Geschlechter
zustand, so war ihre staatsrechtliche Stellung doch keine von derjenigen der letzteren wesentlich verschiedene.
Gewöhnlich hatten die Reichsritter, theils
in Folge langjährigen Herkommens, theils in Folge kaiserlichen Privilegs, die wichtigsten Territorialrechte über ihre Gebiete erworben und durften
daher jedenfalls nicht als bloße Grundbesitzer betrachtet worden.
Der Um
stand, daß die ReichSritter manche einzelne Befugnisse von spezieller kaiser licher
Concession herleiteten, konnte nicht im Wege
stehen, auf ihre
Territorial-Verhältniffe den Begriff der Landeshoheit anzuwenden, denn
auch die Reichsstände hatten bekanntlich viele ihrer landesherrlichen Rechte
auf die nämliche Weise erhalten, und gleichwohl zweifelte Niemand an deren Landeshoheit; im Gegentheil, als für die immer höher steigende Summe der reichsständischen Territorialrechte der allgemeine, aber freilich
stets unbestimmt gebliebene Begriff der LandeSobrigkeit oder der Landes hoheit geschaffen wurde, gebrauchte man denselben auch für die wachsende
Territorialgewalt der ReichSritter.
Auf ihrem Gebiete übten sie nicht nur
GesetzgebungS- und Besteuerungsrecht, sondern auch die Regalien
der
Münze, des Zolls, des Geleits, der Posten, der Jagd, der Gerichtsbarkeit
und Polizei.
Sie unterschieden sich also von dem hohen Adel nur da
durch, daß sie auf dem Reichstage keinen Sitz hatten.
Auf den tiefen
Verfall, in welchen ihre Corporation in den letzten Jahrhunderten vor
Auflösung des deutschen Reichs gerathen war, weiter
will ich mich hier nicht
einlassen, nachdem diese Verhältnisse in Perthes und später in
Häusser so treffliche Schilderer gefunden haben.
Es genüge also, wenn
ich noch bemerke, daß auch diese Gruppe des historischen Adels von den Wogen des Revolutionszeitalters mit fortgeschwemmt wurde.
Zum Wiener
Congreß nun trat die Reichsritterschaft zusammen und wählte Bevoll
mächtigte, die ihre Sache vertreten sollten.
Im Einzelnen wichen freilich
ihre Wünsche vielfältig von einander ab.
Während die ReichSritter am
Rhein und in der Wetterau, an deren Spitze Stein unterzeichnet stand,
nur verlangten, bei den Rechten geschützt und in deren Genuß wieder ein gesetzt zu werden, welche zur Erhaltung der adeligen Familien und zur
Zur Geschichte des deutschen Adels.
249
Sicherstellung des richtigen Verhältnisses des Adels zum Staate überhaupt
nothwendig und mit der künftigen Verfassung vereinbar seien, tauchten daneben bald Begehren auf, deren Erfüllung eine der unzweifelhaft wohl
thätigen Wirkungen der Revolution von 1803—1806 wieder aufgehoben hätte.
In einer Denkschrift, die nachher übergeben ward, war vorerst die
volle Restitution der früheren Stellung als ein wohlbegründetes Recht gefordert;
indessen wenn die künftige deutsche Verfassung gewisse Ein
schränkungen durchaus gebieten sollte, so sei der Adel wohl bereit, sich der
eisernen Nothwendigkeit insoweit zu unterwerfen, als er gewisse Rechte durch Vertrag an die Glieder des künftigen Bundes abtreten würde.
solche Einräumungen waren bezeichnet:
Als
die Anerkennung der landesherr
lichen Jurisdiction, die Aufsicht über die Rechtspflege erster und die Ueber-
lassung der Rechtspflege zweiter Instanz, die hohe Polizei, die Landes-
vertheidigungs-Anstalten, der keit u. a.
Schatzungsbezug, die Oberkirchenherrlich
Auf den übrigen Rechten glaubte man aber bestehe» zu müssen;
außerdem ward die Aufhebung des Lehnsverbandetz gegen die Fürsten des Rheinbundes und bei den künftigen Reichsversammlungen die Ertheilung
einiger Curiatstimmen gefordert. Hand in Hand mit diesen auf die Wiedergewinnung der verlorenen
äußeren Stellung gerichteten Bestrebungen gingen andere, welche eine in nere Reform des Adelstandes bezweckten.
Gerade in die Zeit des Wiener
Congresses fällt jener Plan der sogenannten Adelskette, welche unter diesem
symbolischen Namen zunächst einen aristokratischen Bildungsverein durch ganz Deutschland in's Leben rufen wollte, indem auf dem Grunde einer
gemeinschaftlichen und zusammenhängenden Organisation die körperliche, geistige und sittliche Ausbildung des Adels zu einer eigenthümlichen, alle anderen Stände überragenden Höhe gebracht und in jedem Sinne eine
aristokratische Musterwirthschaft, jedoch im Interesse und zur Ehre der
Nation selbst gegründet werden sollte.
In Kreise und Gauen getheilt,
durch Vorsteher geleitet und zu regelmäßigen Versammlungen zusammen tretend, sollte der Verein den gesammten deutschen Adel als eine organi sche Körperschaft umfassen, denselben „fest wie die Ringe einer Kette zu sammenhalten und weder Anfang noch Ende zeigen, an dem die Glieder
getrennt und von einander entfernt werden könnten".
Der Plan hat je
doch gleich bei seinem. Entstehen vielfachen Widerspruch erweckt, und es ist denn auch bei dem Entwürfe geblieben.
WaS von Adelsprivilegien die nach französischem Muster eingerich
teten Gesetzgebungen,
die Stein'schen Reformen,
endlich seit 1815 die
neuen konstitutionellen Verfassungen übrig gelassen hatten, damit räumte das Jahr 1848 vollends
auf.
Nur noch
geringe Reste der früheren
Zur Geschichte des deutschen Adels.
250
Sonderstellung hat der deutsche Adel in unsere Gegenwart herein gerettet.
Daher die eigenthümliche unsichere Haltung desselben:
einerseits keine
klare und bedeutende politische Stellung, die ihm das Gefühl großer
Pflichten nahelegen könnte, in seiner Mehrzahl auch ohne auszeichnende materielle Mittel, um damit eine hervorragende Rolle im öffentlichen oder
im socialen Leben zu spielen, andererseits doch wieder in seinen Namen und Titeln wie in seinen geschichtlichen Erinnerungen Ansprüche und An
triebe mit sich herum tragend, die ihn nicht ruhen, ihn zu einem völligen
Aufgehen in der Gesammtheit deS Volks schwer kommen lassen.
Da
wir hier blos Beiträge zur Geschichte deS deutschen Adels liefern wollten,
so fällt die Gegenwart und Zukunft desselben völlig unserer Aufgabe.
aus dem Bereich
Nur das eine wollen wir noch, gleichsam
als die
Grundlehre, die uns die Lehrmeisterin Geschichte für jede künftige Reform an die Hand giebt, hervorheben: daß nämlich jede solche, wenn sie Aus
sicht auf nachhaltigem Erfolg haben will, wieder auf die Grundlagen und Bedingungen unseres alten historischen Adels wird zurückgreifen müssen. Wie ein rother Faden zieht durch die ganze Geschichte unserer Gesellschaft
die Lehre, daß der Adel nur da an seinem richtigen Platze ist und ein
gesundes, entwickelungsfähiges Glied des Volksganzen repräsentirt, wo er, wie in England, auf historischem Glanz, großem Grundbesitz, unabhän
giger Stellung und insbesondere auf politischer Macht sich aufbaut. Hier aber liegt gerade für unseren heutigen Adel die Schwierigkeit.
Die deutschen Constitutionen haben sämmtlich die Repräsentation des Adels an den Grundbesitz geknüpft, sind aber der englischen Verfassung dadurch vollständig entgegengesetzt, daß man in Deutschland kaum sagen
kann, worin der Adel bestehe, während in England nur die Repräsen
tanten der vom Staate anerkannten, indeß numerisch sehr beschränkten Aristokratie von Adel sind.
Alle bedeutenden politischen Schriftsteller
(Montesquieu, Möser, B. Constant, Dahlmann, Zachariae) kommen darin
überein, daß die constitutionelle Monarchie
einen politischen Adel
als
Stand bedürfe, daß aber, um einen solchen zu bilden, außer dem Grund
vermögen als erster Bedingung Selbständigkeit der Personen dazu gehöre. Alle legen deshalb einen besonderen Werth auf bekannte, hochgestellte, freie, historische Geschlechter, die bei den Ernennungen zu PatrS in Zukunft zu
berücksichtigen wären, , so weit sie eS nicht schon sind. aber in Deutschland gar nicht zu finden?
Wären solche nun
Solche, die der Neid nicht
träfe, weil man in den Vorzügen, deren sie genießen, nur eine geringe
Entschädigung für frühere Verluste sieht?
ehemals
Ich meine die Mitglieder deS
reichsständischen, jetzt sogenannten
mediatisirten Adels, deren
.Häupter allein ihre Herrschaften vertreten, obwohl ihnen an Ehrenrechten
Zur Geschichte des deutschen Adels.
251
nach der alten deutschen Bundesverfassung die niederen Mitglieder der selben Familie gleichstehen.
Die politischen
Rechte derselben sind bis
jetzt nur vorgezeichnet, keineswegs zu einer Harmonie mit den Verfassun gen der Länder, in welchen sie sich aufhalten, gebracht, sie sind weit mehr persönlicher als dinglicher Natur, weil der Begriff einer Herrschaft und
die Rechte, die aus derselben fließen, nirgends vollkommen und gesetzlich festgestellt sind.
Welchen reellen Nutzen gewähren z. B. alle persönlichen
Vorzüge und Ehren der Mitglieder reichsständischer Familien, die nicht
Häupter derselben oder nicht Besitzer von Herrschaften sind, wenn sie nicht von dem Augenblick an, wo sie durch Kauf, Bermächtniß u. s. w. in den
Besitz solcher Herrschaften gelangen und Häupter werden, auch die poli tischen Rechte der Standschaft erhalten?
Und doch läge dies gerade im
Princip des Adels als Stand, im Princip eines wesentlichen Adels, wie ihn die deutschen Verfaffungen voraussetzen, daß nicht bloß die persön
lichen Vorrechte, sondern der Grundbesitz und die Lasten, die auf dem selben ruhen, die Staatsrechte gewähren.
Ein Gesetz, wie es zu Anfang
der vierziger Jahre in der ersten Kammer Bayerns durchgegangen ist: „daß dem Könige das Recht zustehe, nach dem Erlöschen einer ehemals reichSständtschen Familie oder nach dem AuStreten derselben aus dem Be sitze einer vormals reichsständischen, im Königreich gelegenen Herrschaft einer anerkannten reichsständischen Familie, welche seitdem zu dem Besitz einer normal reichsständischen, im Königreich gelegenen Herrschafft gelangt ist, die erbliche ReichSrathSwürde für das Haupt dieser Familie zu ver
leihen" — ein solches Gesetz dürfte sich der Zufriedenheit aller constitutionellen Stände mit Recht erfreuen.
Denn will man überhaupt zu einer
Reform deS Adels schreiten, so dürfte eS am gerathensten sein, denjenigen Theil dieses Standes in seiner Grundlage zu festigen, der die wenigste
Abneigung gegen sich hat und der sich noch am meisten der Selbständig
keit erfreut.
Denn wer möchte es diesen alten reichsständischen Familien
streitig machen, daß sie die wesentlichen Bedingungen einer vernünftigen
Aristokratie in sich tragen?
Durch ihre Ebenbürtigkeit stehen sie den
Souverainen am nächsten; ihre Macht ist meistentheils durch großes Ver mögen und schon durch persönliche Rechte geschützt; sie sind eine Noth
wendigkeit geworden, der nur politischer Unverstand sich entgegenstemmen kann; für die Entwicklung deS StaatSlebenS selbst müßte es vortheilhaft
erscheinen, einen Adel zu haben, auf dem allein noch als solchem die Er innerung der alten deutschen ReichSfreiheit ruht;
sie haben historische
Namen, sie waren der heutigen Souveratne ehemalige Genossen und
Gleiche; sie werden nicht, wenn sie immer mehr und mehr an die Lan
desverfassungen geknüpft werden, die auch zu den ihrigen gemachten Ber-
Zur Geschichte des deutschen Adels.
252
fassurigSrechte fallen lassen, denn sie sind am stärksten gegen jede Willkür geschützt, können ihr am leichtesten entgegentreten und werden im Gefühl
der erlittenen Unterdrückung um so zäher an den ihnen gebliebenen Rech ten festhalten.
Ihr Adel stammt von keinem Landesherrn; der Kaiser,
der sie erhob, ist nicht mehr; sie sind ein durch und durch freier Stand.
Nur durch die Anknüpfung einer Reform unseres Adelsstandes an diese historischen Grundlagen seiner Existenz ist ein gedeihliches Wieder
aufleben desselben möglich.
Alle übrigen Verhältnisse und Eigenschaften,
welche vormals den Adel zum herrschenden, tonangebenden Stand gemacht haben: Besitz, Bildung, persönliche Thätigkeit, ritterliche Tüchtigkeit u. s. w.,
sind heutzutage Gemeingut aller Gebildeten.
Die Besitzverhältnisse wie
die Berufsarten und ihre entsprechende Geltung im gesellschaftlichen GesammtorganiSmuö sind wesentlich andere geworden. Diese Veränderungen rückgängig zu machen, wird weder einem
ganzen Stande gelingen.
einzelnen noch
selbst einem
Nur wer sie anerkennt und sich in sie schickt,
wird vermögend sein, einen Einfluß in der Gegenwart zu üben, der ihm selbst und dem Ganzen frommt. DaS ist die zweite Mahnung, die man bei jedem Reformversüch wohl beherzigen möge; auch in diesem Punkte,
dem frischen, sich immer wieder erneuernden Jneinanderfluß der einzelnen Volksstände, dem organischen Verwachsensein deS Adels mit den übrigen
Theilen des GesammtnationalkörperS, ist England und seine Aristokratie
ein leuchtendes Vorbild. Posen.
Christian Meyer.
Zur Würdigung Lavater's. Eine Nachlese über Lavater kann sich nur auf seine Theologie und auf seine Physiognomik, soweit dieselbe noch nicht gewürdigt worden ist,
unter steter Bezugnahme auf seine Gesammtstellung in der Geschichte der Cultur erstrecken.
Der Mensch, der Bürger und Patriot, der Dichter
geistlicher und nichtgeistlicher Lieder, der Beichtvater und Gewissensrath eine- engeren und eines weitesten Kreises, der Epistolograph Lavater — sie alle haben in der Literatur ihre genügende Beachtung gefunden; aber
der genannte Nachtrag steht noch auS.
Unstreitig ist Lavater'S theologischen Bestrebungen, die während seines Lebens und Wirkens von der Aufklärung in Bausch und Bogen verurtheilt,
von der Kirche sprachlos angestarrt, von Gleichgesinnten mehr mit einem
succös d’estime, als mit lebhaftem Beifall und klarem Verständniß be gleitet worden sind, neuerdings von Männern, wie Holtzmann, K. I. Nitzfch,
Geher, Hagenbach die gebührende Aufmerksamkeit zugewendet worden; noch
fehlt'S aber an einem gründlichen Bericht über deren Inhalt und an einer befriedigenden Ausmittlung der Stelle, die sie in der Geschichte der Theo
logie einnehmen.
Die wissenschaftliche Arena hat Lavater im Jahr 1769 mit einer Art akademischen Schrittes betreten, indem er „allen Freunden der Wahrheit
zur unparteiisch-exegetischen Untersuchung drei Fragen von den Gaben des
heiligen Geistes vorlegte".
Unter den Gaben des heiligen Geistes ver
steht er einmal die Mittheilung dieses Geistes, sodann die Kraft des Ge
bets, auf Gott eine bestimmende Wirkung hervorzubringen, endlich das
Vorrecht des Glaubens, Wunder thun zu können.
Diese Gaben seien,
wie niemand in Abrede ziehe, den Aposteln verliehen worden; aber sie seien seiner Ueberzeugung nach nicht auf die ersten Zeiten des Christen thums beschränkt, vielmehr seien sie der Bibel zufolge allen Christen aller
Zeiten und Orte aus gewisse Bedingungen hin ebenso unbeschränkt ange boten worden,
als die Vergebung der Sünden und das ewige Leben.
Er behaupte, es lasse sich in der ganzen Schrift keine Stelle finden, welche
Zur Würdigung Lavater'S.
254
dieselbe nur dem Urchristenthum beilege.
Lavater erhielt Zeitlebens auf
die genannten Fragen, die er bis an fein Ende auf dem Herzen trug, keine Antwort, die ihm entsprochen hätte.
Mochten ihm seine AmtSbrüder
beifallen, wenn er in dem ihnen vorgelegten „Etwas über meine Religion und mein Christenthum" (Herzenserleichterungen 1784) die Beiwohnung
des Geistes als eines specifischen Bindemittels mit Gott, als einer Bei hilfe zu ausgezeichneten Tugendleistungen, Geistesgenüssen, EwigkeitSausblicken beansprucht: sie konnten mit ihm nicht gehen, wenn er den GeisteS-
beitrag bis zu Verleihung des Vermögens der Divination und Prophetie
steigert, sowie sie und andere, in ihrer gut bürgerlichen Denkweise, über haupt vor einer Supranaturalisirung der Gegenwart durch Verpflanzung
einer
wunderhaften Vergangenheit
auf ihren
nüchternen
Boden
und
wiederum vor einer Naturalisierung der heiligen Geschichte durch Ein mischung der natürlichen Faktoren der Jetztzeit in ihre Vorgänge*) zurück
beben mochten.
Ja, Herder, wenn er sich gegen Nicolai über die drei
Fragen dahin ausspricht, sie seien ohne Kenntniß der Bibelsprache und der ersten Zeiten des Christenthums
gestellt und der Weg zu tausend
Schwärmereien, mochte bereits diese natürlichen Factoren näher kennen. Er mochte ahnen, daß hier dem selbstlosen Wirken heiliger Männer im
Dienste Gottes, der sie mit seinen großen Thaten begleitete, das persön liche Virtuosenthum des Wunderthäters oder der Seherin, der mitunter auf Magie sich richtende Genialitätsdrang der Sturm- und Drangperiode unterschoben worden ist**).
Gervinus, auf dem an sich richtigen Satze fußend, daß beim ersten
Auftreten Lavater'S alles, nicht nur Klopstock und die Klopstockianer, auch Herder, auch Goethe, selbst Lichtenberg mit oder ohne ihn geschwärmt
haben, beruft sich für die damalige formale Berechtigung Lavater'S, seine GeisteSgaben aufzustellen, darauf: wie konnte man es ihm verargen, die
Zeiten der Apostel wieder zu bringen, wenn man selber die Zeiten Ossian'S und Homer'S zu erneuern dachte?
Wir möchten hierauf bemerken, daß es
denn doch Lavater gar nicht um eine Restauration der Apostelzeit mit
ihrer Wesenheit, mit ihrer Einfalt und ihrer Sittenstrenge zu thun war. Er mochte zwar auch hie und da dorther etwas ihm Zusagendes, wie *) Vgl. Bodemann: Lavater nach seinem Leben, Lehren und Wirken 1856 S. 351: In der erste» Aufregung äußerte er sogar etwas überschwänglich von MeSmer: „ich verehre diese neu sich zeigende Kraft als einen Strahl der Gottheit, als einen königlichen Stern der menschlichen Natur, als ein Analogon der unendlich vollkommneren prophetischen Gabe der Bibelmänner". **) Gegen Spaltung erklärt 1786 Lavater die DivinationSgabe der magnetisierten Somnambülen für ein Analogon der Prophetie und die Befähigung des Magneti seurs, diese Exaltation zu bewirken, für ein Analogon der apostolischen Handaaflegung, welche ähnliche, nur unendlich höhere Effecte hervorbrachte.
Zur Würdigung Lavater'S.
255
gegen Symbolzwang den „unbtndenden Geist der Apostelzeit", reklamieren: noch mehr aber ging er auf das unveräußerliche Urrecht des Christen aus,
alle Segensfülle der christlichen Urzeit in seinen eigenen Besitz zu be
kommen.
Indem er auf diese Weise weniger nach Art der Teutonen und
Bardenanbeter romantisch schwärmte, als revolutionär gegen' sein nüch
ternes, glaubensträges Zeitalter vorging, ist die genannte formale Be rechtigung anderswo zu suchen, als GervinuS meint.
Sie beruht darin,
daß er im Interesse der Religion ein lebensfrisches, geistdurchdrungenes
Christenthum, mochte sich auch dasselbe unter seinen Händen recht indivi dualistisch gestalten, und im Interesse der Logik eine einheitliche, durch keine
Extrawunderperiode der Menschheit durchlöcherte, Weltanschauung reclamierte. Vorzüge die eS lohnen, den Prämissen nachzugehen, auf die sich seine GeisteSgabentheorie gründet.
Lavater hat seine theologischen Ideen am meisten im Zusammenhang
niedergelegt in:
„Briefe über die Schriftlehre von unserer Versöhnung
mit Gott durch Christum, an einen „„Graf"" 1793 geschrieben" und in
dem Artikel:
„Jesus Christus stets derselbe, nicht beschränkt durch Zeit
und Raum, nicht durch die Unwürdigkeit der Glaubenden an ihn oder
neue Ausgabe des alten Evangeliums für rechtgläubige Christen", Arbeiten,
die im zweiten, religiöse Briefe und Aufsätze enthaltenden, Band seiner
von Georg Geßner 1801—1802 edierten nachgelassenen Schriften stehen
und zu denen „die Aussichten in die Ewigkeit" 1768—1772 und aus seiner ausgebreiteten Correspondenz besonders der „Briefwechsel mit Hasen
kamp" (ed. K. Ehmann 1870) beizuziehen ist*). ES war im Zeitalter Lavater'S, in das noch kein kategorischer Im
perativ, noch weniger das später aufgestellte radicale Böse**) eingedrungen
war, nichts Neues, daß der Sünd- und Schuldbegriff theils abgeschätzt, theils zum mindesten abgeschwächt,
die menschlichen Fehler blos
noch
anthropologisch und psychologisch und nicht mehr theologisch taxiert, die
Erbsünde durch die ursprüngliche Güte und Trefflichkeit der Menschen-
*) Pontius Pilatus oder die Bibel im Kleinen und der Mensch im Großen in drei Bänden 1781—1784 bietet de« Dogmatischen wenig. Dafür ist diese Schrift, von der Goethe (erst beim letzten Band urtheilte er milder) wegen der in ihr präten dierten Dramatisterung der Leidensgeschichte Jesu und wegen ihres mitunter pro vokatorischen Tones über Gebühr angewidert worden ist, eine auch jetzt noch ver wendbare homiletische Fundgrube. **) Vgl. über dieses Novum eine der stärksten antilavater'schen Stellen Goethe'S, an Herder 1793: „Bon Lavater'S Zug nach Norden habe ich gehört, auch daß er den Philosophen deS Tags unterwegs gehuldigt hat. Dafür werden ste ihm ja auch gelegentlich die Wunder durch eine Hinterthüre in die Wohnung des Menschenver standes wieder hereinlaffen, werden sortfahren, ihren mit vieler Ruhe gesäuberten Mantel, mit dem Saume wenigstens, im Quarte des radikalen Uebels schleifen zu lassen."
256
Zur Würdigung Lavater'S.
natur, die stellvertretende Genugthuung Christi durch daö freiwillige Er barmen und Verzeihen einer im Lieben unerschöpflichen Gottheit abgelöst, über die tiefe Kluft des christlichen BußgefühlS mit dem kecken Ansprung
aufgeklärten Tugendeifers hinübergesetzt wurde.
Galt eS ja überhaupt
damals, daß die Menschheit wieder ein rechtes Herz zu sich und zu ihren
eigenen Hilfsquellen fassen sollte.
Lavater hat diese pelagianische Richtung
der vorkantischen Zeit verschärft und vertieft.
Er leistet fast Unglaubliches
in der Anpreisung deS moralischen lapsus als eines fast gesicherten TugendhebelS und Impulses zum sittlichen Fortschritt.
Wenn der Gläubige erst
der ErlösungSthat Christi bedurfte, um sich den Zutritt zu Gott zu er
möglichen, wenn selbst dem deistischen Auseinanderhalten des Göttlichen und Menschlichen die Scheu vor dem unnahbaren -Absoluten, vor Gott,
dem Heiligen zu Grunde lag:
Lavater hat sich von Kind auf gewöhnt,
für physische und moralische Bedürfnisse von seinem Gott Gebrauch zu machen, hat einen zu guten Glauben an die Menschheit und sein eigenes
redliches Streben, als daß er nicht keck bei der ihm zu dem noch durch Christus verbürgten Gerechtigkeit vor Gott
zugriffe.
Wenn aber die
Kirchenlehre durch die äußerliche Vorstellung von einer Uebertragung des Verdienstes Christi auf die Gläubigen in ihrem Bemühen, das Göttliche dem Menschenherzen immanent zu machen, gehemmt, die Aufklärung in der Streichung des Gottmenschen
die Verbindung zwischen Gott
und
Mensch fast aufgehoben hatte, so vertieft er die Theologie, hier durch Wiedereinschiebung Christi, des Regenerators der sinkenden Menschheit*),
dort durch Ueberwindung der Stufe der Vorstellung und Anbahnung der Stufe deS Begriffs.
Vor Allem gilt eS nun aber, daß der Gelehrte Lavater vor feinem
eigenen AmtSgewiffen, das
ihn übrigens zum Voraus vom kirchlichen
Symbol dispensiert hat, und vor dem Publikum feine christliche Loyalität decke.
Er muß seinen Standpunct exegetisch rechtfertigen können.
Eine
Aufgabe, der er in seiner durch rege Phantasiebeweglichkeit unterstützten
Pietät gegen den Buchstaben der Schrift eine gute Dosis von bona fides
entgegenbringt und der er, alles erwogen, Dank der Mannigfaltigkeit der biblischen Anregungen, auf eine Weise, deren er sich nicht zu schämen
braucht, gerecht geworden ist.
*) Vcrgl. eine Aeußerung vom 28. December 1785 (Lavater'S ausgewählte Schriften ed. Orelli 1844 ff.), wo beides nebeneinander steht: Christus, Sammelpunkt aller in den Menschen vorhandenen Ebenbilder Gottes, so daß er des Menschen GotteSwürde in stch aufgeschlossen hat und Christus, der diese GotteSwürde des Men schen durch stch rehabilitirt hat. Ueber das Ausschließen s. u. Christus, Interpret der Menschennatur.
257
Zur Würdigung Lavater'S.
Bei dem Angelpunct des Christenthums, der Versöhnung, geht Lavater von der Grundthesis auS: Christus hat Gott nicht versöhnt, son
dern unS.
Denn Gott war nie unser Feind, aber wir waren Feinde
GotteS, d. h. wir kannten ihn nicht; wir mußten also anders werden und
erst Gottes Liebe erkennen.
Der Grund davon, daß Gott nicht unser
Feind oder auf uns nicht böse geworden sei, kann bei Gott oder beim Menschen liegen.
Bei Gott nun sucht Lavater den Hemmschuh des Böse-
werdenS nicht; für ihn, der fortwährend bei seinem festen Glauben an
GebetSerhörungen für die Determinierbarkeit GotteS' grundsätzlich sprechen muß, existiert eine göttliche Unveränderlichkeit, die einen Goethe trieb, so
gar eine göttliche Sündenvergebung zu negieren*),, keineswegs. stärker steckt nach ihm der Haken beim Menschen.
Um so
Eine Sünde, meint
er, könne darum keine oder gar eine unendliche Beleidigung GotteS sein,
weil hiezu bei dem Sündigenden aller animus fehle.
Derselbe denke ja
während seines Sündethuns gar nicht an Gott, viel weniger an das, was man Unendlichkeit Gottes heißen könne; überhaupt könne ein Endlicher nichts Unendliches thun.
Damit falle aller Grund zu einer Ehrenrettung
der unendlich gekränkten Gottheit, oder zu einer Genugthuung der gött
lichen Gerechtigkeit durch den Tod Christi weg.
Wie so? Welt?
etwas wäre
Ist denn Christus nicht das Opfer für die Sünde der
Freilich ist er es, aber nicht in dem recipirten, sondern in einem anderen Sinne**).
eS denkbar,
daß
Weder auf Gottes, noch auf Christi Seite
Christus Strafen hätte übernehmen müssen,
Strafen hätte übernehmen können, welche den Menschen, bei denen ohne
dies der Verfasser der „Aussichten in die Ewigkeit" die positiven in die natürlichen Strafen zu verwandeln geneigt ist, gebührt hätten. „Wie konnte denn Gott zu einer Zeit, wo er seine Liebe auf eine Weise ver
herrlichte, daß alle aus Erlösung Hoffenden dadurch in Erstaunen gebracht sein müssen, wirklich zornig gewesen sein?
Mein Herz würde erbeben
für eine Religion, die lehren würde, daß Gott habe versöhnt werden müssen 1"
Und wäre es nicht bei Christo
wenn eS ihm zu Sinne
eine bloße Komödie gewesen,
gewesen wäre, als hätte er selbst gesündigt,
wenn er sich in eine Disharmonie mit Gott gesetzt, sich gar in die gottes lästerlichen Rasereien eines durch sich selbst Verdammten hineinversetzt
und sich damit so gebehrdet hätte, als ob er Gottes oder Gott sein Feind *) Siehe in den „Recensionen" AuSg. v. 1830. 33,81: „Zürnen und Vergeben sind bei einem unveränderlichen Wesen doch wahrlich nichts als Borstellungsart." **) Auch für einen blos symbolischen Werth der Opferidee spricht er sich gegen Hasen kamp auS (Briefwechsel zwischen beiden S. 105 ff.): „Liebe ist das Ziel aller Opfer. Mein Tod ist Anderer Leben. Für Andere sterben, sich auszehren, daS ist der Geist, den die Opferlehre einhauchen soll." Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 3.
19
Zur Würdigung Lavater's.
258
wäre?
er hat unsere Sünden getragen, findet
Der biblische Ausdruck:
auf ihn seine Anwendung, aber nicht, als ob er die Sündenleiden auSgestanden hätte; denn er ist sowenig von Gott verdammt worden, als er
darum, weil er nach Matth. 8, 16 f. unsere Krankheit getragen hat, krank geworden ist.
Getragen hat er die Sünden, indem er sie weggcnom-
men, sie mit äußersten Leiden weggehoben hat. Seine Leiden nemlich waren etwas Wirksameres, als es bloße Mär-
threrleiden sind, da vom Blute eines Märtyrers nie gesagt werden konnte,
was vom Blute Christi gesagt wird, eS reinige von aller Untugend. Das
Letztere aber tritt wirklich ein.
„Wenn wir beim Tode Jesu sehen, welche
entsetzliche Folgen Lesdenschaft, Neid, Bosheit, Heuchelei und alle Sün den haben, die Jesum an'S Kreuz brachten, sollten wir nicht durch den
schreckenden Anblick dieser Folgen, durch das Gericht, das dieser Anblick über unS selbst verhängt, von der Sünde weggeschreckt werden?"
Erfolgte nicht die sittliche Besserung, wie die physische Errettung der Brüder Joseph'S durch ihre Meinung, diesen ihren Bruder gelobtet zu
haben?
Und kann nicht auf gleiche Weise Gott es zwischen JesuS und
uns so geordnet haben, daß das Leiden der Unschuld Ursache unserer Be kehrung und damit Schulderlassung für die Schuldigen wurde?
Ist hier sichtlich da«: „für uns" in daS: „uns zu gut" bei'm Tode
Christi abgeschwächt, so hat Lavater doch gegen da« Moment der Stell
vertretung an sich nichts, da schon da« Mystische derselben ihn fesseln muß.
Verwirft er also die satisfactio Vicaria, so will er damit ja nicht
alles vicarium verwerfen.
ein Beispiel geliefert.
Hat er ja doch für die eigene Person davon
Auf seinem langen LetdcnSlager richtete er*) sich
an dem Gedanken auf, daß das Leiden in der Welt sein Kontingent haben
müsse und deswegen er durch Uebernahme übergewöhnlicher Pein andere in ihrer Beitragspflicht erleichtere.
liter auS:
„Christus ist das Opfer für die Sünde der Welt; sein Tod
ist daS Leben der Welt. als
So spricht er denn auch jetzt forma
Er ist statt unserer gestorben; denn seinem Tode,
einem stellvertretenden,
haben wir unsere Rettung, Entsündigung,
Wiedereinsetzung in verlorene Rechte, Rehabilitierung zu verdanken."
Er
würde, wenn nicht beim leidenden, so doch beim thätigen Gehorsam Christi eine Art Compensation für daS bei uns Fehlende durch Christi Leistung zugeben: seine Gerechtigkeit, Gehorsam, Genugthuung gegen das göttliche
Gesetz schaffte einen Ersatz von Tugend, Moralität, Religiosität zur Stelle oder brachte ein Gegengewicht gegen daS Sündenübel in die Welt, wo durch eS vertilgbar wurde.
Freilich die angeblich durch den Tod Christi
*) Siehe Lavater'S Lebensbeschreibung von G. Gegner 3, 528 f.
Zur Würdigung Lavater's.
259
erwirkte faktische. Versöhnung Gottes mit den Menschen schlägt für ihn
um in eine bloße durch Christum uns gewordene Gewißheit von der apriori
vorhandenen versöhnlichen Stimmung Gottes. Besonders die Auferstehung Christi soll die göttliche Sündenvergebung manifestieren.
„Was schien
unvcrtilgbarer, unvergütbarer, als der Tod des Heiligsten?
Was unver
tilgbarer, als dieses Todes Folgen?
stehung
Beides ist aber durch die Aufer
Also, wenn die schrecklichste aller
ausgehoben.
Sünden,
die
Kreuzigung Christi vergeben werden konnte, kann überhaupt jede Sünde
vergeben werden".
Kurz, Lavater eilt vom Christus für uns weg thun-
lichst schnell zum Christus in uns und bahnt sich den Weg zu einer durch unsere Gemeinschaft mit Christo möglichen gemüthlichen Annäherung an Gott, der ohne die Vorgänge bei Christus uns gleich einem verzeh renden Feuer wäre.
Mit Christus selbst geht dabei ein Proceß vor, bei dem in der
Lavater'schen Darstellung Socinianismus und fließen.
Spekulation ineinander
Lavater legt nemlich dem. alle Arten von Selbstverleugnung in
seinem Leiden durchwachenden Christus a la Socin eine sittliche Werde periode mit erfolgender Standeserhöhung bei und läßt den Jesus der Geschichte in Folge seines exemplarischen Tugendwandels und besonders
seines von ihm mit allen ungöttlichen Mächten bestandenen Kampfes zu
einer Regenerationspotenz der Menschheit aufquellen.
Mit Paulus setzt
er den Seorspo? A’8a;io, in dem alles lebendig wird, dem ersten Adam, in dem alle sterben, entgegen.
Er bedient sich eines Bildes, um uns die
dogmatische Bedeutung deö sterbenden und auferstandenen Herrn zu zeigen. Er vergleicht ihn einem Kronprinzen, der bei einer Seuche sein Blut
tropfenweise den Landeseinwohnern eine cuttert, daran entkräftet stirbt, um nachher wunderbar wieder auszuerstehen und jetzt erst seine segensreiche
Herrschaft anzutreten.
Daher der Schluß: „wie der Schooß Saft zieht
aus dem Weinstock, so der Christ wahres, unsterbliches Leben aus Christo,
dem Menschen, dem durch Leiden und Tod zum würdigsten Haupt und Mittler der Menschheit ausgeglühten und alles beseelenden
Menschen; daher bereits auch Anklänge an den Hegel'schen Gedanken, daß
die Apostel an dem Geist gewordenen Christus mehr hatten, als an dem zuvor leiblich vor ihnen Wandelnden, da er aus einer beschränkt wirken
den Kraft eine allwirkende Kraft geworden war, hinauf in die Höhe ge fahren war, nicht um die Erde zu verlassen, sondern um alles zu er füllen, überhaupt Ansätze zu einem frommen Pantheismus, dem natür
lichen Gegensatz gegen
einen ungläubigen Deismus, dem Lavater mit
aller Energie seines Wesens entgegenzutreten sich berufen fühlte.
Mit dem Bisherigen haben wir Andeutungen, aber nicht weiter, von 19*
260
Zur Würdigung Lavater'S.
dem, was Lavater an seinem Christus hatte, eine Frage, die mit der seitherigen Negierung des: „Gott war in Christo und versöhnte die
Welt mit ihm selber"
gegeben ist.
Denn dadurch ist der Schwerpunkt
deS ErlösungSprocesses von dem Interesse des heiligen und gütigen Gottes weg in das Interesse des heilsverlangenden Menschen verlegt und
Vorfrage: wie kommt man auf Christus? angeregt.
die
In dieser nicht
gestellten und dennoch beantworteten Vorfrage zeigt sich Lavater als der
erste moderne Theolog, als der Gelehrte, der bereits den „Apologeten räth, doch ja alles aus dem Puncte der menschlichen Bedürfnisse
herzuleiten und das Christenthum an diesem MaaSstabe zu prüfen*)."
Er bricht damit die Bahn für Schleiermacher, dessen Christologie sich be
kanntlich auf den Rückschluß von den Erfahrungen deS Erlösten auf den Erlöser auferbaut und dadurch den Verdacht, dem auch Lavater nicht ent
gehen kann, auf sich ladet, nicht sowohl den historischen, als den idealen Christus angestrebt und deduciert zu haben. Schroff lautet manche Aeußerung von Lavater, womit er seine sub-
jectivistische Christologie einleitet.
„Ich gebe alle Namen für Genuß
und Seligkeit hin, selbst Christ und Christenthum; wie viel tausendmal
eher, was ZwinglianiömuS, Calvinismus, Reformtertheit heißen mag. Ich
ehre alles, was geistigen Genuß verschafft, Leben gibt, daS kein Tod zerstören kann, Stärke gibt, wodurch die materielle Phänomenenwelt über
wunden werden kann. mein Himmel **)."
Was am meistert' mir gibt, das ist mein Gott und
„Meine Philosophie, Religion, Schwärmerei, wenn Sie
wollen, Epikureismus ist nur Eines.
Genuß!
Ich will so sehr wie
möglich existieren, leben, genießen, mich selbst besitzen.
Waö Mir kon
stanten, geistigen, reinen, vollen innigen, unzerstörbar scheinenden, nie gereuenden Selbstgenuß verschafft, daS ist mein Gott, mein Himmel***)". AuS solchen Kundgebungen spricht allerdings ein Eudämonismus, der den
Kantischen Purismus zur Genüge herausforderte, aber sinnlich, so daß Bequemlichkeit und Genußsucht das letzte Ziel dabei gewesen wäref), oder
rein egoistisch ist derselbe nicht gewesen.
Wenn Lavater'ir nach etwas,
was ihn „existenter, kraftreicher, seines Daseins froher
und
gewisser"
machen soll, verlangt, so darf man dabei kecklich an das Schleiermachersche Gefühl der Lebensförderung
ken: es handelt sich
hier
im Gegensatz
zu Lebenshemmungen den
eben von einer Totalbefriedigung deS mora
lischen, psychisch-physischen, auf seinen Gesammtzustand reflectirenden Men*) So August 1779 laut Lavater'« ausgewählten Schriften, ed. Orelli in „Fragen nnd Briefe weiser und guter Menschen". Art.: „Christus und Paulus." **) Bei Bodemann: Lavater nach seinem Leben, Lehren und Wirke» 1856. S. 361. ***) Bei GervinuS, deutsche Dichtung 5, 270 ff. t) So GervinuS a. a. O.
261
Zur Würdigung Lavater's.
scheu.
Die Egoismusfrage betreffend wird freilich
aufgestellt:
„Der
Mensch kann nie aufhören, Mensch zu sein, er ist das genußfähigfte, ge
nußbedürftigste Wesen", wir sind der Zweck unseres Seins, wir existieren, die höchste Existenz ist die höchste Glückseligkeit".
Aber eS wird unterschieden
zwischen dem Boshaften, der allein besitzen, genießen will, und zwar auf Unkosten anderer und zwischen dem „Edlen, der auch Genuß will, auch
Selbstgenießer und Allgenießer ist, eS jedoch ist durch das entgegengesetz teste Medium, durch den möglichst reinen UnegoismuS, durch das reinste
Jchvergessendste Theilnehmen an den Genießungen anderer Wesen seines gleichen*)".
Und nicht nur,
daß „wir Ein Ziel mit einander haben,
bessere Menschen zu werden mid zu bilden, d. h. Genußfähigere und Ge
nießbarere, wir existieren auch am existentesten, wenn wir am wenigsten
für unS, am meisten für andere existieren**).
Kurz, bestände nicht daS
landläufige Borurtheil gegen Lavater's Proselytenmacherei, die auf fremde
Frömmigkeit aus ist: man könnte ihm die Kantische „fremde Glück seligkeit" als ein Stück seines Motto gutschreiben.
Ueber daS, was Christus ihm ist, hat Lavater eine exoterische und
eine esoterische Auffassung, nicht, daß eine die andere ausschlösse, sondern nur, daß die eine die andere erweitert. Die esoterische gewährt dem Ein
geweihten mehr von Christus, als die exoterische dem Uneingeweihten ge währen kann.
Für Lavater ist Christus kurzweg der Höhepunkt und
der Inbegriff***) der Menschennatur, zu unserer Nutznießung und zu unserem Genusse bestimmt, als Einzelperson gefaßt Beispiel und Vorbild
für unS, als Allperson gefaßt unsere Lebenssubstanz.
So fordert er im
September 1785s) seinen Gegner Campe auf, einmal das der Welt-
weisheit Ohr beleidigende Wort: Christus wegzulassen und dafür mensch
liche Natur zu setzen.
„Ich bin ein Christ, d. h. ich glaube an die könig
liche Würde, an die nie bestimmbare Größe der menschlichen Natur. Sie
erfindet immer neu und in ihr wird immer Neues gefunden.
Und ich
will (natürlich meint er durch daS concrete Bild des Jesus der Geschichte) dem Menschen durch Menschen zeigen, was im Menschen ist, was der
Mensch ist, hat, kann, darf, soll.
Ist ja doch der Zweck aller Geschichte,
*) S. bei Orelli in „Fragen und Briefe". Art.: „Schwäche, Schlechtigkeit, Bosheit." **) So Lavater im November 1785 laut Orelli's Sammlung hinter dem längeren Art.: „über den thierischen Magnetismus". ***) S. die schöne Stelle an Spalding: „Was in dem Menschen Christus ist, denn er war ein completer Mensch, das ist auch in uns. . Freue dich, durch das Medium eines jede» Menschen dich selbst und mehr, als durch jedes andere Medium, durch Christum dich in deiner möglichsten Größe zu erkennen, durch seine Erkenntniß kräfte die deinigen, durch seine LiebeSkräfte die deinige», durch seine Willenskräfte die deinigen. Das ist Christenthum, das meinige wenigstens." Bei Orelli im Art.: „über den thierischen Magnetismus". t) Bei Orelli hinter dem Art. über den thierischen Magnetismus.
262
Zur Würdigung Lavater'S.
durch Menschenbeispiele die schlummernden oder lässigen Kräfte der Mensch
heit zu erregen, zu spannen, auf einen großen, wohlthätigen Genußzweck zu vereinigen".
Selbstverständlich kann eS der Schreiber auf dem Boden
der unbenannten Zahlen nicht lang
aushalten.
Auf religiösem Gebiet,
fährt er fort, stelle er als sein Ideal und Idol Christus auf, weil kein
größerer, besserer, kraftreicherer Mensch aufgetreten sei.
„Seine Existenz
ist mit der meinigen am Innigsten verbunden, determiniert mich mehr,
als alle andern mich allein, berührt die meisten oder vielmehr alle Theile meiner Natur, regt alle meine Kräfte auf, entwickelt, belebt*), stärkt sie,
bringt sie in Harmonie und vereinigt sie zu einem großen Zweck, dem der möglichsten Allgenußfähigkeit und Allgenießbarkeit". Weit eindringlicher noch wird von dem „Christus mir zu eigen"
im esoterischen Dortrag gesprochen.
Unleugbar, heißt es da, war ein
mal' in der Geschichte ein Zeitpunkt, wo der Herr den Seinigen Alles
gewesen ist; es war die Zeit, wo er mit den Aposteln wandelte und wo er sein Wort: „ich bin bei euch alle Tage" bei ihnen wahr machte.
ES
liegt nur an uns, daß wir uns das, was sie an Christo hatten, auch verschaffen; es gilt, recht Ernst zu machen mit dem Bedürfniß aller kon
sequenten Christen der Jetztzeit, mit Christo einen correspondenzähnlichen Verkehr
zu pflegen.
Der uns von Christo angeblich trennende Raum
soll unS davon nicht abhalten.
Gleichwie die Sonnenausstrahlung zwi
schen dem sehenden Auge und der gesehenen Sonne vermittelt, so kann auch der entfernte, in irgend einem Himmel figürlich, persönlich gesehene
Christus dauernde Präsenz bei uns haben.
Noch weniger darf uns der
Abstand unserer Zeit von dem ehemaligen Urchristenthum scheu machen.
„Was?
Wir wären der Zeitentferntheit wegen verurtheilt, zwar seine
Schafe zu heißen, aber zu darben und uns blos, wie alle Welt, mit seinem geschriebenen Evangelium zu begnügen, nichts zu haben, wovon
wir gewiß wissen: es ist von ihm, dem Lebenden, unserem Hirten? Wir
sollten uns nur mit dem Dermächtnißtnstrnmente begnügen, von dem Vermächtnisse selbst, daS auch wichtige Artikel für die gegenwärtige Zeit enthält, sollten wir keinen Gebrauch machen können?
Wir müßten
den glücklich aus der Kraftquelle schöpfenden Aposteln nachstehen und nach sehen und unS mit Seligpreisungen ihrer begnügen und dabei nichts erweislich Göttliches, von Jesu Herrührendes besitzen oder genießen? ..
DaS glaubwürdige Zeugniß der einfältigen und kraftvollen Männer von
*) Was Lavater von Christus sagt, gilt bei ihm, wie eS ja bei Zinzendorf auch ist, auch von Gott. Da hat er den schönen Satz: „Gottes Stellvertreter sind alle guten mit Demuth und Einfalt handelnden Menschen." „GottcS Augen sind alle liebevollen Herumblicker nach Hilfsbedürftigen.'"
263
Zur Würdigung Lavater's.
ihm kann unS wohl das Selbstsehen seiner, aber nicht ihn selbst er setzen. Sie sind nur Führer zu ihm.
Was nützt uns ihr Zeugniß, wenn
wir nicht zu ihm kommen können, wenn die Einen Zeiten den Zutritt
haben, die, in welchen wir leben, den Zutritt verwehren? Ein unzugäng
licher Gott ist kein Menschengott, ein unzugänglicher, ungenießbarer Hei
land kein Heiland der hilfsbedürftigen Menschheit.
Nein, es wäre von
uns übergutmüthig, nur Pflichten und nicht auch Rechte haben zu wollen
und von der Schrift uns nur immer ihre Vorschriften auferlegen und nicht auch ihre Verheißungen uns schenken zu lassen.
Die Christen aller
Zeiten haben, wie gleiche Pflichten, so auch gleiche Rechte.
ES gilt eine
Correspondenz mit dem Herrn zu pflegen, wo einer auf den andern, der
Herr auf mich und ich auf den Herrn wirke.
ES ist bis dahin leidig
genug gewesen, daß die Meisten nur den vor Jahrhunderten Gewesenen
als gewesen anbeten, da doch der Gewesene der Allerseiendste für unS
werden soll und daß eS so wenige giebt/ die ihn als existirend anbeten,
wie er einst auf Erden wandelte,
so liebkvoll für alle Individuen sich
interessirend und für jeden sich so verwendend, wie damals.
Und doch
habe Jesus nie eine Spur von Unwillen von sich gegeben, wo eines ihn erfahren,
ihn genießen wollte;
im Gegentheil habe ihm der unwagfame
Kleinglaube mißfallen, aber der kühne Glaube gefallen.
So Lavater vornemlich in: „Jesus Christus, stets derselbe, nicht be schränkt durch Zeit und Raum".
Bei dieser mystisch-speculativen, ratio
nalistisch - supranaturalen Theorie macht Hagenbach auf das Gemeinsame
bei Lavater und Zinzendorf, daß sie Christum gleichsam persönlich wollen, nur daß bei'm
ersteren das Sinnliche mehr zurück und das Geistige,
Ideale mehr hervortrete,
aufmerksam.
Eine Verinnerlichung
des
bis
herigen religiösen Bewußtseins liegt ohnedem darin, daß dem Ersteren
der Christus der Tradition,
mit dem Zinzendorf in seiner Blut- und
Lammtheologie noch einen Compromiß geschlossen hatte, nicht genügte, er
vielmehr einen Christus aus erster Hand, dem Gläubigen neu sich erzeugend postulirte.
immer gegenwärtig, immer Schon einmal war in La-
vaterS Nähe, wenn auch nicht in praxi, so doch in thesi von der Wissen schaft daS: mir unmittelbar zu eigen der göttlichen Offenbarung bean sprucht worden.
ES war dies von Rousseau*) geschehen, an welchem
*) Daß doch Rousseau immer in der gelehrten Welt oder auf der öffentlichen Arena den Vorgänger machen muß! Nicht allein daß die Schinznacher Gesellschaft, welcher der junge Lavater angehörte, und dessen treuherzige Schweizerlieder, die wir seiner Theilnahme an dieser Gesellschaft verdanken, auf Roussean'sche Impulse zurück führen: Gelzer (neuere deutsche Nationalliteratnr 3, 74) weist nach, daß bereits Rousseau im Emile: (Oeuvres completes, Frankfort 1855. 6, 287) die physiognomische Frage, und zwar speciell bezüglich der erworbenen Physiognomie be rührt habe.
Zur Würdigung Lavater's.
264
Lavater in dem Ton kecken Trotzes, in dem
er zu seinen matt- und
schwachgläubigen Freunden und College» spricht, erinnert.
Es scheint,
daS freie Gemeinwesen macht, wie eS nachher auch bei dem Halbschweizer
Fichte der Fall war, die Leute kühner, ihre Forderungen, aber nicht blos an ihre Erdengenossen,
auch an den Himmel
decidirt zu stellen.
Der
Erzbischof von Paris, Beaumont, hatte (s. Oeuvres complStes 7, 309)
eingewendet, warum denn der Vikar in der profession de foi du Vi-
caire Savoyard sich beklage, daß man nur durch die Hand menschlicher Zeugnisse etwas von göttlichen Offenbarungen erfahre, da man doch nur
auf diesem Wege auch über Sparta, Athen, Rom etwas zu wissen be
kommen habe.
Rousseau erwiedert:
„Ja, daS ist natürlich, daß zwischen
mir und einem andern Menschen, der weit von mir weg gelebt hat, andere
Personen in der Mitte stehen müssen.
Ist es aber selbstverständ
lich, ist eS natürlich, daß Gott hat Mosen gesucht, um mit Jean
JacqueS Rousseau zu reden?"
Und wie stimmt daS Lavater'sche
Dringen auf daS Selbst-, auf daS direct in die Hand nehmen des Ver
kehrs mit dem Himmel so gut zusammen mit dem Rousseau'schen Vor
gehen (Oeuvres 6, 384 f.) gegen die apologetischen Vorwerke: barung, Wunder, Weissagung, h. Schrift,
Offen
die eine Menge Menschen
zwischen Gott und die nach seiner unmittelbaren Ansprache verlangende
Seele in trennender Weise einschieben, überhaupt gegen jede Intervention einer gelehrten oder ungelehrten Tradition*)! Was Rousseau, der für sich bei seiner natürlichen Religion geblieben ist, nur hypothetisch gemeint hat: wenn eine außerordentliche Mittheilung
GotteS an die Menschen statthat, so muß sie der Einzelperson unmittel bar gelten, das hat der Mann, der das Dilemma:
aufstellt, thetisch fixirt und praktisch verwerthet.
Christ oder Atheist
Er befand sich von Kind
auf in gemüthlichen Beziehungen zu Gott und in der Folge auch zu Christo, der ihm mit der Zeit das Angesicht Gottes geworden war.
In
diesen Beziehungen schieden sich in ihm eine rein ethische und eine mit
Heteronomischen Bestandtheilen zersetzte Richtung von einander ab.
Wo
Lavater im Leben innerhalb der festen Schranken der objectiven Lebens
kreise zu gehen hatte, da haben sich durchaus nur die edleren Seiten
seiner Natur:
unendliches Wohlwollen**), unermüdliche Gutherzigkeit,
*). Ich verweise für diesen ganzen Abschnitt auf Michelet'S Gedanken 1861. S. 218 ff.
meine Rousseau'sche Studien in
**) Und wenn mau nur das Eine nimmt, daß er für die (Korruption im menschlichen Geschlecht nichts weiter, als die schnelle Vergessenheit, in welche die im Tode Borangegangenen fallen, anzuführen wußte, so ist damit schon seine zwanglose Liebe bewiesen.
265
Zur Würdigung Lavater's.
Pflichttreue,
Gewissenhaftigkeit, selbstlose Hingebung,
schauung der Dinge*)
geltend
gemacht.
Wo
er
unbefangene An
der Familie,
dem
Vaterland, der Landeskirche, dem Amte, den Collegen zu dienen hatte,
da war er musterhaft.
Seine asketischen, homiletischen, hhmnologischen
Erzeugnisse dürften nur wenig Ungesundes enthalten
und
sind vielfach
auch jetzt noch nicht veraltet. Aber in Lavater war von Anfang an das Bewußtsein vorhanden, daß er mit einer Extramission auf Erden betraut sei.
Und wer,
ein
moderner Dante, den Vorhang von der Ewigkeit zu ziehen wagt, wenn
auch nur, um die letzten sociRen und moralischen Ziele der Menschheit zu schauen**), wer zum proSlogischen Verkehr mit der Gottheit im Gebet***) und im Lied Luthers GlaubenSkraft und die Heilssicherheit der vorkantischen Zeit mitbringt,
wer das pectus facit theologumf)
so
wahr macht, wie Lavater, der darf und kann einem gewissen Propheten
dünkel verfallen.
Was bei Gellert noch naiv gewesen war, das Gefühl,
der christlichen Welt etwas sein zu können und sein zu sollen, das war bei ihm in reflectirterer Weise da; er war sich seiner christokratischen Be
fähigung bewußt.
Goethe sagt, er habe so ganz in seinen amtlichen Be
ruf hineingepaßt, aber dieser Beruf schloß in sich Netze und Fallstricke, vor denen Gellert, weil er eben kein Geistlicher gewesen ist, bewahrt ge
blieben ist.
Alle Sanftmuth, Demuth, ursprüngliche Lauterkeit seine-
WesenSj-s) konnten Lavater nicht davor schützen, die abschüssige Bahn des präsumtiven Kirchenfürsten zu betreten.
sonst nicht thut,
ES ist dabei etwa-, was man
in Anschlag zu bringen, da- ihm im Blut lag: der
*) Was hatte er z. B. für eine Freude au dem Gelingen eines sinnreich und kamerad schaftlich ausgeführten Entweichungsversuchs zweier Diebe, das ihm, weil „jeder Effort der menschlichen Natur dem Menschen gewissermaßen ehrwürdig sein sollte", den paradoxen Vorschlag auspreßt: „ich würde jedem Gefangenen ausdrücklich sagen, wenn du frei werden kannst, so sollst du frei fein 1" S. bei Orelli: Frag mente der unveränderten Fragmente anS dem Tagebuch eines Beobachters seiner selbst 1773.
**) Herder hat den Verfasser der „Aussichten in die Ewigkeit" für die Stellen, in denen er für den diesseitigen Menschen paranetisch wird, in denen er den morali schen Sinn, den künftigen Engel im Leser unmittelbar rührt, umarmt. **») Eigen: es scheint sich etwas von Lavater's Gebetseifer auf seine Zürcher Kanzeln vererbt zu haben, da der im Uebrigen speculativ angelegte Heinrich Lang auch dem GebetScultuS huldigte.
t) Vgl. „DaS eigene Ideal" von Schiller: Allen gehört, was du denkst, dein eigen ist nur, was tut fühlest. Soll er dein Eigenthum sein, fühle den Gott, den du denkst. ti) Wir möchten dieselbe gerade darin, daß man anS seinem Aeußern sein Inneres so gut wie herauslesen konnte (vgl. die frappante Schilderung seines Außenmenschen von F. W. Jung in seinen „Erinnerungen" an ihn 1812 S. 103 f. oder die Be merkungen über sein AeußereS von Ulrich Hegner in seinen „Beiträgen zur näheren Kenntniß Lavater'S" 1836. S. 269 ff.) prädestiniert sehen.
266
Zur Würdigung Lavater's.
Calvintst mit der Prätention, daS Reich Christi zu wahren und zu ver
breitendem Stück Calvinus redivivus, dem auch sein, ohnedem andern falls fast unbegreiflicher, Biblicismus entspricht.
Lavater war eine religiös
productive Natur, die darum den Gegensatz in seiner ganzen Schärfe wahrnahm, in den sie gegen die Nüchternheit und den Unglauben der
Zeit gestellt war und bei diesem Gegensatz über das Gemeinsame zwischen ihr und dem Gegenpart, die beiderseitige gesund ethische Richtung, hin
weg sah und bei ihrer propagandistischen Tendenz hinweg sehen wollte. So wurde ihm mehr und mehr sein Christus, den er in seinem öffent
lichen Wirken gewiß jederzeit in geeigneter Weise, sei's als den geschicht lichen zum Vorbild, sei's als den dogmatischen zur Anfeuchtung der Wur zeln des religiösen Lebens verwendet hat, das Schiboleth, das Gläubige
und Ungläubige trennen sollte.
Calvinismus, religiöse Disposition, geist
liches Metier trieben in einen stürmischen Bekehrungsetfer hinein, den
kein Abrathen von Freunden aus dem Kreise der Welt zu dämmen oder von ihrer eigenen Person abzuhalten vermochte.
Der Vorhalt gegen die
alten Freunde: „ihr habt mich verlassen, ich nicht euch", konnte von diesen heimgegeben werden: gerade weil du nicht von uns gelassen hast, nemlich
mit deinen Bekehrungsversuchen,
gangen.
ist eS zwischen beiden Theilen auSge-
Auf diese Weise mußte die theologische Parteistellung Lavater'S
sich immer mehr verschärfen.
Nicht als ob je von Jüngern, wenigstens
von solchen, die auSgeharrt hätten, die Rede gewesen wäre, aber bei der
Lavater'schen Zuspitzung
der Gegensätze
bis
zum:
Entweder positives
Christenthum oder Atheismus sah er sich der Natur der Sache nach zu
letzt von Gesinnungsgenossen umgeben.
Jedenfalls hat der anscheinend
so duldsame Mann, der davon sprechen konnte, Andersgläubigen an ihren
Cultuskosten zahlen zu wollen, mit deren Ausschließung auS dem engeren Kreise der loyalen Christen dem specifischen Bruderthum in Christo ge hörig Vorschub geleistet. Im Bisherigen war von zwei Punkten noch nicht die Rede, nemlich
von Lavater's Glauben an Wunder in der Jetztzeit und von seiner per sönlichen Beziehung
zu Christus.
Den ersteren erklärt der Faustische
Drang seiner Zeit nach Magie nicht ganz, denn dieser Drang konnte ihm nicht den moralischen Muth zu dem geben, was Campe ihm vorhält,
daß er auf Alle, welche in unserer wunderarmen, aber wundergierigen Zeit mit angeblichen Wunderkünsten prahlen, hinsehe und hinhorche, daß
er rastlos sich bemühe, Wunder, wo nicht selbst zu thun, doch thun zu
lassen.
Hatte sich einmal Lavater'n mit Fug und Nichtfug der Gedanke
aufgedrungen, zum Vorkämpfer deS Glaubens gegen den Unglauben be rufen zu fein,- so mußte er sich gedrungen fühlen, das, was ihm mit dem
267
Zur Würdigung Lavater'«.
Unglauben gemein war, ja was er mit in dessen Interesse mit Eifer und Energie zu betreiben pflegte, das Ernstmachen mit der menschlichen An
sicht von der Person Christi*) durch Ueberglauben gut zu machen.
La-
vater wurde darum irrational, darum anachronistisch, weil er so rational,
so zeitgemäß gerichtet war.
Der Partetchef hat in ihm den braven Geist
lichen und den Wahrheitsfreund hinuntergebracht. Seine Richtung auf ein
praktisches Wirken, die ihm früh zu Theil gewordene Berühmtheit, daS
Machen seiner Studien vor dem Publikum ä la Schelling,
hat ihn in
die fatale Lage versetzt, mit miraculösen Belleitäten nach Kinderart und
mit männlichem bon sens abwechselnd operiren zu müssen.
Freilich wer
in jener noch gährenden Zeit für die Religion auftrat, der konnte noch
nicht, wie später Schleiermacher gegen die gebildeten Verächter der Re ligion es that, mit blos idealen Potenzen kommen, er mußte mitunter
zu massiv realen Potenzen greifen.
Kein Wunder, wenn dann Goethe'n
der Gedanke an Mahomet und das Herunterkommen der
sublimen Richtung des Religionsgenie's
ursprünglich
in den Diensten der stupiden
Menge kam und der ehrliche Jacobi den Zürcher Freund vor dem überall hin Schönthun warnen mußte.
Nicht als ob apriori irgendwie Berech
nung zu Grunde gelegen wäre; sonst hätten die nächsten Freunde Lavater nicht als den lautersten, wahrhaftesten, ureigenthümlichen Menschen rühmen
können.
Aber die Einbildung von sich selber, der Jnspirirtenwahn, über
den ihn Freund Zimmermann als Prätendenten der Christuswürde nach
dem socinianischen Lehrbegriff beschreien mußte, bildete die Kehrseite des Wunderwahns.
Beide mit einander halfen dazu, daß er mitunter ein
rechtes Bild eines unglücklichen Bewußtseins in seinem Zeitalter geworden ist, weil dasselbe derlei Prätentionen nicht mehr ertragen mochte und sein
eigenes nüchternes Bewußtsein, strafte.
sein klarer Geist ihn immerfort Lügen
ES ist für seine Doppelnatur ungemein bezeichnend, wenn er in
der Correspondenz der 70er Jahre immerfort von Goethe sich muß auf
richten und darüber bedauern lassen, daß er eben gar keine „Ständigkeit kriegen" wolle, wenn aber dann auf einmal Geber und Empfänger wech seln, indem 1779 Goethe mit Carl August bei dem Menschen und nicht
bei dem Propheten Lavater auf Besuch sich im Heimwesen der Liebe wie der auf lang hinein erfrischt.
Wie tief aber in Lavater'S Gemüth die
Sehnsucht nach einer persönlichen Bezeugung deS Heilands gegen ihn in *) Lavater hat stets, ganz anders, als es Schleiermacher that, für die natürlich mensch liche Entwicklung Christi gesprochen; er wehrt sich zwar, wo's darauf ankommt für das wörtlich Nehmen der Wunderberichte in der heiligen Geschichte, geht aber dabei z. E. in dem überhaupt sophistisch gerathenen „Nathanael nicht ohne Sophistik zu Werke und hatte eine Zeit (cf. Geßner in der Biographie 1, 250) wo er Jesus, den moralischen Helden, über Jesus, den Wunderthäter stellte.
268
Zur Würdigung Lavater'S.
einem Extrazeichen gewühlt und gegraben haben mag,
davon liegt ein
Beweis in einem Brief feines damaligen Adepten Häfeli vom 24. No
vember 1784, der bei des Adressaten 44jährigem Geburtstag sich dessen „20jährigen Hoffens, Harrens, Schmachtens" unter dem Trost:
„Du
mußt noch erhört werden" entsinnt und ihm den 10. August 1785 zuruft: . „Bleibe fest bei deinem „„Dennoch""! Er kann sich doch nicht immer ent
halten, wie lange er sich auch enthalte".
Dieses „Dennoch", bei dem
Lavater bleiben soll, ist eines seiner besten, abgerundetsten Lieder,
mit
dieser Ueberschrift, welches die Wallungen eines unter wechselnden Aspecten
um den Herrn werbenden Herzens wiedergiebt.
Starke Stellen dar
aus sind: Dennoch will ich nicht verzagen, Schweigt auch Christus noch so lang! Dennoch SBär’ ich Dennoch Zeig' an
fortzuflehen wagen, zehnmal noch so bang! ruf ich Tag und Nacht, mir auch deine Macht!
Will auch niemand sie erfahren, Dennoch wünsch' ich Spur von ihr, Spur, wie einst vor 1000 Jahren, Wer dir glaubt, erfuhr von dir! Wenn du dich uicht offenbarst, Bist du nicht mehr, was du warst.
Nennten tausend Christusfeinde Spottend Thor und Schwärmer mich, Ja, vereinten alle Freunde Mit der Wahrheit Feinden sich; Dennoch ruf' ich bis du hörst,
Und mein Fleh'n durch Antwort ehrst. Amen, Amen! in die Höhen Deiner Himmel ruf' ich's hin! Täglich, stündlich schallt mein Flehen, Bis ich deiner sicher bin. Thränen — strömt in seinen Schooß, Bis er sagt: sein Glaub' ist groß.
Es zeugt übrigens für eine unbeirrbare Selbstlosigkeit bei Lavater,
daß er zwar dreist genug ist, den Herrn selbst bei der Ehre anzugreifen, ohnedies ihn beim Wort zu nehmen, mit. keiner Silbe aber sich seiner eigenen Verdienste um ihn rühmt.
Es heißt, den Sachverhalt in dem Processe zwischen Lavater und den alten Freunden schief auffassen, wenn Gervinus (a. a. O. S. 253 ff.) meint, er habe Anfangs Goethe und Genossen auf einem andern Glauben über
seine Person,
als sei es Spinozismus und bloße Kraftgenialität, wenn
er dem Menschen an Gottes Natur Antheil gab und analog den Genie
gaben von Geistesgaben redete, gelassen und sie erst durch den nachträg
lichen Einblick in die kleinlichen Seiten seines Wesens und durch den An blick seiner christlichen Don-Quixoterie enttäuscht. ganz, wie er war;
Lavater gab sich sogleich
er war seiner christlichen Mission viel zu sicher, als
daß er sie im mindesten hätte verbergen wollen.
Wie er Zeitlebens nicht
aus sich hinaus konnte, so bestrebt auch seine Zimmermann, Füßli, Spal-
ding, Hamann, Jacobi, selbst Fritz Stollberg waren ihn aus sich heraus
zu bringen, so wollte er vollends Anfangs, da bei ihm das nicht wähle-
Zur Würdigung Lavater'S.
269
risch sein mit den Mitteln noch nicht zutraf, nicht auS sich heraus.
Man
kannte den Propheten so zu sagen vom Kopf bis zu den Füßen und
rühmte an ihm gerade, und das mit Recht, seine Ganzheit, seine Urwüchsig
keit. Aber man übersah noch nicht die Tragweite seines hohen Selbstgefühls und die ganze Consequenz des eigenen Standpunkts.
Man mußte sich erst
nach und nach überzeugen, daß nach Lavater d.er Gedanke, die Potenz, die Parole Christus und wohlverstanden nicht des bequemen vergangenen Christus
der Orthodoxie, sondern des immer präsenten Christus den ganzen Men schen ausfüllen, er der Gegenstand alles und jedes dem Gemüthe mög
lichen Cultus sein müßte. DaS hieße wie Sinn und Ausdruck des Goetheschen Fühlens besagt, sich in Christus transsubstantiiren, die Humanität
verengen oder ihr die Christolatrie substituiren, zu Gunsten deö Paradies
vogels anderen auch schönen Vögeln die Federn auSrupfen, dem Einreich Christi die von Gott
gesetzte Aristokratie aufopfern, der
menschlicher Phantasie-,
Kunst-, Wissensthätigkeit in
Ausbreitung
profane Sphären
wehren, die Natur, die in ihrer Weitherzigkeit jedem Ding seinen Platz läßt und für keinen Christus und keine AuSerwählte Extraplätze kennt oder Extravorgänge reservirt hat, nicht kennen oder nicht kennen wollen. Goethe hat laut Dichtung und Wahrheit auch über diese Fragen seinen
Frieden mit dem Andenken Lavater's für seine Person gemacht;
sachlich
konnte er die beiden Standpunkte, den religiösen, den Lavater und den
humanen, den er vertrat,
nicht versöhnen.
Ein Versuch dazu liegt in
Schlciermacher's Bemühung vor, die teleologische Religion des Christen
thums in stetem Contact mit den übrigen Geistesgebieten
von Staat,
Kunst, Wissenschaft zu erhalten.
Ueber den Zusammenhang des Physiognomikers mit dem Men schen und Theologen Lavater ist schon viel nachgedacht worden.
Bedeut
sam stellt Vischer die gewagten Versuche, die Physiognomik zu einer
Wissenschaft zu erheben, in ihre zeitlichen Zusammenhänge hinein, indem er Aesthetik 2, 207 bemerkt: „Auf den dunkeln Punkt zurückzugehen, in welchem die Natur mit einem Schlage das sittliche und Has sinnliche Bild
eines Menschen anlegt, war ein wesentlicher Ausdruck jener Zeit, da La vater auftrat, wo man sich sehnte, in die Mitte deö Lebens, in das
volle
Ganze
einzudringen".
Worin
soll
auch
sonst
das
Interesse
Goethe'S an der Sache, so lange er noch seine physiognomische Periode
hatte, bestanden haben?
Damals war er noch der Faust, den in seiner
Naturerkenntniß nur Absolutes befriedigen konnte; mit seinen Fortschritten
in der Selbstbeschränkung hörte bei ihm
Naturmysterien auf.
auch das Errathenwollen der
Bei Lavater dagegen hatten an seiner Aufstellung
270
Zur Würdigung Lavater'S.
des Physiognomiken Problems der Pfarrer und der Prophet ihren Antheil und lag eS deswegen ganz in der Ordnung der Dinge, daß der Physiker und Verstandesmensch Lichtenberg*) die hohle Unterlage der
angeblichen neuen Wissenschaft aufdeckte. So oft und so feierlich Lavater aller Orten seinen Respect vor der Singularität deS einzelnen Menschen betheuert, so sehr in seiner Theo
logie seinen christlichen Feuereifer das Lessing'sche:
es soll nicht
allen
Bäumen nur Eine Rinde wachsen, durchkreuzt und seine Physiognomik
das: „sei, waS du bist und werde, was du kannst!"
predigt, so muß er
doch, wenn er sagt: man lernt jemand aus seiner Physiognomie erkennen,
ein Auseinanderkennen der Menschen nach
gewissen feststehenden Kate
gorien: klug, thöricht, gut, böse statuiren, oder eS liegt seiner Physiog nomik, um vom intellectuellen Gebiet abzusehen, die dem Prediger ge
läufige Rubricirung der Menschen nach ihrer moralischen Beschaffenheit
zu Grunde.
Nun hat der Prediger zu rubriciren, er hat das Subject
in der Einseitigkeit seiner sittlichen Zurechenbarkeit zu nehmen; er könnte ohne daS ewige Eindringen auf das Gewissen, den Sitz der Freiheit, daS Organ der menschlichen Jmputabilität, auf den Hörer gar nicht mo
ralisch wirken.
Aber der Menschenbeobachter, und daS will der Physiog-
nom sein, thut nicht, was seines Amts ist, wenn
er zum Classificiren
greift; denn ihm ist alles, waS er vor sich hat, Individualität, sui generis,
wie es nach Herder Machiavelli's Fürst ist, für sich mit Beachtung der
allein bei ihm so oder so vorhandenen Constellationen zu beurtheilen. Der Menschenbeobachter kommt dabei freilich auch auf Generelles, auf
dem und jenem Subject Gemeinsames,
aber wenn er aussprechen will,
wie er jemand gefunden habe, so muß er in concreter Brette auseinander
legen, welche Factoren zu dem
So und So seines Individuum bei
getragen haben und was das ungefähre Facit für Gegenwart und Zu
kunft dieses Menschen ist.
Indem die Physiognomik die ganze Breite
der Menschenexistenz auf generalia zusammenzieht, den Menschen nach
der und der Rubrik, der er zuzutheilen ist, zeichnet, kurz abbrevirend zu Werke geht, so bietet sie nur AllerallgemeinsteS, giebt nicht viel Auskunft;
die Menschen werden in ihr, wie die Gegner sagen, gleich einer Heerde Schafe mit ihren wenigen Unterscheidungszeichen abgeschätzt, nicht als In dividualitäten geehrt.
Eine Behandlung, die, wie gesagt, wohl in der
Praxis des Kirchendieners, für den gegenüber dem Sittengesetz der Eine
im Allgemeinen so, der Andere anders aussieht, aber nicht für die Auf*) In den „vermischten Schriften", ed. seine Söhne 1844. 1,204 ff. und „Ueber Physiognomik wider die Phystognomen zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntniß" im Göttinger Taschenkalender 1778.
271
Zur Würdigung Lavater's.
gäbe der Menschenbeobachtung zulässig ist.
Lichtenberg hat das Schiefe
der Uebertragung der pastoralen Taxirung
des
Menschen
auf dessen
Taxirung vor dem Forum der Physiognomik in dem ergreifenden Aus
ruf ausgedrückt: „Der Körper ist nichts so Einfaches, daß er nur so ohne Weiteres zu einem Abdruck und Spiegel der Seele erklärt werden könnte;
er ist auch ein Abdruck, ein Spiegel der übrigen Welt.
Er erzählt nicht
allein unsere Neigungen und Fähigkeiten, sondern auch die Peitschenschläge des Schicksals, Klima, Krankheit, Nahrung und tausend Ursachen, denen
uns nicht immer unser eigener böser Entschluß, sondern oft Zufall und oft Pflicht auSsetzen."
Die Neigung zum Wahrsagen, zum Enträthselnwollen dessen, was
der Natur der Sache nach nicht zu enträthseln ist,
zum Sehenwollen
sicherer Zeichen, wo keine sind, entspricht dem Lavater'schen Drang, Zeichen und Wunder zu thun oder geschehen zu lassen, Unmögliches zu ermöglichen.
Daß aber bei dem Urtheil des Physiognomen an sich ein Wahrsagerschlich statthabe, indem nemlich die Auskundschaftung des Mannes nach seinem
Charakter das Erste und dann die Stempelung dieses Aeußern zu dem
nothwendigen Ausdruck des Innern erst das Zweite ist, daß also zuerst „von Innen nach Außen und dann erst von Außen nach Innen judicirt
werde" — gegen diese Darstellung des MusäuS in den „physiognomischen Reisen" dürfte schwer aufzukommen sein.
Nicht genug damit: wie
heutzutag in manchen Köpfen der Plan spukt, die Physiologie zur Herrin der Rechtspflege zu machen, so ist Lavater sehr geneigt, die Physiognomik nicht blos zur Stifterin von Freundschaften, sondern auch zur Herrin der
Verwaltung und Justiz zu machen.
Er genehmigt es nicht nur, daß der
Richter, recht verstanden, nach dem Ansehen der Person richtet, der Regent seinen Minister, der Officier seinen Soldaten, Hausherr und Hausfrau den Knecht und die Magd nach dem Aeußeren wählt, er bricht in seinem
Eifer in die Worte auS:
„Furchtbar ist die Physiognomik dem Laster!
Lasset physiognomischen Sinn erwachen unter den Menschen und da stehen
sie gebrandmarkt die Kammern und Consistorien und Klöster und Kirchen
voll heuchlerischer Tyrannei, Geizhälse.., die unter der Larve der Religion ihre Schande und Vergifter der menschlichen Wohlfahrt waren.
Man
wird empfinden lernen, daß es Lästerung sei, solche bedauernswerthe Fi
guren für Heilige, für Säulen der Kirche und des Staats, für Menschen freunde und Religionslehrer zu halten"*).
Und, hierin begegnend dem
Ritter v. Sonnenfels mit seinem Ersatz der Tortur durch den Blick deS *) Ja, ergänzt Lichtenberg boshaft, „wenn die Physiognomik das wird, was von ihr erwartet wird, dann gibts physiognomifche Antodafs'S; man hängt die Kinder auf, ehe sie die Thaten thun, die den Galgen verdient haben".
Zur Würdigung Lavater'S.
272
Richters, weiß er nicht blos von einem DiebSblick und Diebsgesicht beim er sieht auch in einer Gerechtigkeit ohne Phy
zurechnungsfähigen Dieb;
siognomik etwas so Unnatürliches, als in einer Liebe mit verbundenen Augen, spricht der Unschuld und dem Laster ihre eigene Miene zu und
sieht, gewiß darüber, daß es Gesichter giebt, die gewisse Verbrechen nicht begangen haben können, mit Ungeduld der Zeit entgegen, wo Physiogno
mik die Tortur ersparen, die Unschuld retten, daS hartnäckigste Laster er
bleichen lassen muß.
Kein Wunder, daß MusäuS mit einem hochnoth-
peinlichen physiognomischcn Halsgericht solche Wahrsagerei ad absurdum führt.
-
Man kann nicht sagen, daß Lavater für seine Liebhaberei nicht mit Umsicht eingetreten sei.
Den naheliegenden Einwand: aber warum den
Menschen nicht nach seinen Handlungen beurtheilen? versuchte er durch die
Instanz zu entkräften: die Berichte könnten ja ungenau sein, könnten be
sonders nichts über die Motive enthalten, und ob denn nicht ein Holbeinschcr Christus Sichreres aussprcche, als ein Peitschen der Leute mit Stricken
oder das Wort: ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern Als ob man die Einzelhandlung zum Kriterium eines
das Schwert.
Charakters zu machen gedächte!
Im Uebrigcn lohnt es sich, Lichtenberg
zuzuhören, wie er den Abstractionen des Gegners zu Leibe geht.
Zuerst
greift er den Sprung an, vom Aeußern aufs Innere zn schließen, eS sei derselbe so stark, wie der Schluß von
Kommetenschwänzen auf Krieg.
Denn hier liege eine }ie-aßaat; et; aXXo yevo; zn Grunde, es sei doch et
was anderes, von gleichen Nasen auf gleiche Geistesanlagen zu springen und zu stolpern, als etwa vom Puls auf die Krankheit zu rathen.
Den
unbefugt zum Dienst sich anbictenden Kerl kann der Schisfscapitän wegen seiner schmalen Schultern abweisen; der einem Dritten seine Schelmen
physiognomie trotz seines redlichen Handelns Insinuierende müßte sich eine
Ohrfeige gefallen lassen. Character und Körper um.
stößt er die Abstracta: Seele oder
Sodann
Sagt man, die Seele baue den Körper: es
mag sein, aber es gehört in einen Plan hinein, den wir nicht übersehen,
in Gotkes Plan.
Immer aber trifft'S nicht zu, daß der Körper ein Pro
duct der Seele ist; eS kann die Hebamme sich bei der Behandlung deS Körpers von Neugeborenen versehen.
In der Seele , im Geist tritt eine
Veränderung ein, wenn eines auf den Kopf fällt und ein Narr wird.
Verändern sich damit auch Lippen und Augenknochen? Wohl mögen dem Menschen
in der
Gesellschaft untrügliche Spuren ehemaligen Getriebes
in seiner Physiognomie nachgehen.
Liederlichkeit, Geiz, Bettelei haben ihre
eigene Livree; aber darum kann man doch einem Menschen nicht sicher überhaupt einen inneren Hang am Aeußeren absehen. Eine Falte, die sich
Zur Würdigung Lavater'S.
273
bei dem Einen erst nach tausendfacher Wiederholung derselben Bewegung
bricht, zeigt sich bei dem Andern nach weniger; was bei dem Einen eine
Verzerrung, einen Auswuchs, man denke nur an physische Excesse, verur
sacht, geht dem Andern unbezeichnet hin.
Wie der Körper nicht als etwas Fixes, worauf die Seele nachweis baren Einfluß übt, genommen werden darf, so darf auch nicht Seele und
Man kann nicht so ohne Weiteres mit Böse-
Charakter fixiert werden.
wichtsphysiognomieen um sich werfen,
da böse Thaten aus einer unter
andern Umstände auf's Edle sich richtenden Leidenschaft hervorgehen. Der
selbe Mensch, der gehenkt worden ist, hätte mit all' seinen Anlagen unter
andern Verhältnissen statt
des
Stricks den Lorbeer empfangen können.
Nun — so schiebt der Phhsiognome den großen Mann und den Spitzbuben unter das Eine Prädikat der großen Anlage, die beide hatten.
Damit
aber wird factisch zugegeben, daß jeder aus sich machen kann, was er
will, und das Schwergewicht nicht auf dem Schein, sondern auf dem Thun
des Menschen liegt und das Lesen aus dem Gesicht des Nächsten mit dem Kennenlernen desselben aus seinen Früchten zu vertauschen ist.
der Phhsiognome steckt sich hinter die nach schlimmen Seite determinierbaren Anlage.
der
Oder aber
guten oder nach der
Warum dann aber nicht die
Entscheidung für Gutes oder Schlimmes gleich in die Anlage verlegen?
Warum es nicht gleich zu Sokrates' Veranlagung rechnen, daß in ihm
die Kraft lag, das Böse in seiner Anlage zu verbessern und ebenso um
gekehrt eine Ruinierung der ursprünglichen guten Anlage der ersten Ver anlagung zuschreiben?
Wie
aber, ergänzen wir,
vollends bei solchen
Complicationen jemandem seine sittliche Qualität im Gesicht ansehen? Dem
Seele
Favoritgedanken, den Lavater pro
domo hegte, die schöne
bewohne den schöneren, die häßliche den häßlicheren Körper, hält
der Göttinger Physiker die ernste Instanz entgegen, ob denn das Fleisch Richter sein solle über den Geist, was denn Leibesschönheit, diese vielleicht
nur verfeinerte Lustregung im diesseitigen Dasein, mit der Schönheit der dieser Lust entgegenstrebenden, ewigen Seele zu thun habe?
Ueberhaupt
sieht er sich für berufen an, der physiognomischen Seuche, die den Men schen nach seiner äußeren Form beurtheilen will, wie der Viehhändler
die Ochsen, zu wehren.
So wechseln die Rollen.
in Zürich muß sich des Vergessens
Der Menschenfreund
von Menschenwerth
und Menschen
würde beschuldigen lassen, der Menschenfeind in Göttingen bläst sich zum
Champion des Adels der Menschennatnr auf.
Die Annalen der Natur
wissenschaft, die Regesten der Culturgeschichte werden die Namen beider Gegner mit ihren, einander ergänzenden, anthropologischen und psycholo
gischen Forschungen in gleichen Ehren halten. Preußische Jahrbücher. Bd. XI.VI. Hefi 3.
Insbesondere aber werden
20
274
Zur Würdigung Lavater's.
sie dem freundlichen Züricher Geistlichen dafür Dank wissen, daß er über dem Tief präg' eS deinem Herzen ein, Welch Glück es sei, ein Christ zu sein
Das: Tief präg' es deinem Herzen ein, Welch Glück es sei, ein Mensch zu sein.
zu keiner Zeit seines Lebens vergessen hat. Er hat es sich sauer werden lassen, seinen „materiell gewordenen Gott" zu verherrlichen.
Emil Feuerlein.
Colberg und Gneisenau.
Die Schlachten von Jena und Auerstädt waren geschlagen.
„Preußen
ist verschwunden", hatte Napoleon in wilder Siegesfreude an den Sultan geschrieben, und „Preußen ist verschwunden", heulte jubelnd ihm nach der
rheinbündische Troß, der unversöhnliche Neider des jungen, aufblühenden Staates.
Mit der Schöpfung Friedrichs des Großen schien es auS und
vorbei für-immer.
Erfurt und Magdeburg, zwei der stärksten preußischen Bollwerke,
ergaben sich schmachvoll dem Feinde, es folgten die nicht minder schmach vollen Kapitulationen der einzelnen HeereStrümmer, und triumphirend zog der rachesprühende Imperator durch die Straßen Berlins.
Degen, Hut
und Schärpe des großen Königs, die ehrwürdigen Denkmale unvergäng
lichen Ruhmes, wanderten zu den Invaliden nach Paris, die eherne Victoria ward von dem brandenburger Thor herabgerissen,
um sieben
trostlose Jahre, vergessen und verschollen, in einem Winkel der fränkischen Hauptstadt zu rosten, und in dem Herrscherschloß an der Spree wurden jene Schmähschriften dictirt, die den Ruf der edlen Königin in buben
hafter Weise besudelten.
Und weiter trieb der Unersättliche seine siegberauschten Schaaren, denn der Gegner sollte nicht Zeit finden, auf Küstrin und Stettin sich stützend, an der Oder einen letzten Entscheidungskampf zu wagen. Stern lächelte dem Korsen auch hier.
Sein
Die Kommandanten der beiden
Oderfestungen thaten eö ihren Kameraden von Erfurt und Magdeburg
an feiger Erbärmlichkeit noch zuvor; Pommern fiel mühelos in FeindeS-
hand; jenseits der Weichsel, an den äußersten Grenzen des Vaterlandes mußten die trübseligen Reste der weiland ersten Armee Europa'» sich
sammeln. So weit das suchende Auge des Patrioten reichte, nichts als namen lose Schande, als ungeheure Schmach!
Und doch, gerade jetzt, in den Zeiten tiefster Entwürdigung; gerade hier, in dem preisgegebenen Pommern, sollte von einem entlegenen Fleckchen
20*
Colberg und Gneisenan.
276
Erde aus der Welt in erhebender Art bewiesen werden, daß in dem zer
malmten und zerquetschten Volke die alte Kraft noch fröhlich weiter blühte, daß in dem mit Hohn überschütteten Heere Friedrichs noch Männer wirkten, die eS mit den Besten aller Zeiten aufnehmen durften.
In Hinterpommern, weitab von der großen Straße, da, wo die Persante in daS baltische Meer sich ergießt, liegt Stadt
Colberg.
und Festung
Im Herbst des Jahres 1806, als noch Alles in schwindelnden
Hoffnungen sich wiegte und eitel Ruhm und Siegesfreude träumte, als die Elb- und Oderfestungen von Waffen und Mannschaft starrten, wer hätte damals gedacht, daß eine feindliche Heereswelle bis in diesen fernen
Winkel spritzen und an den verfallenen Mauern der alten Küstenstadt sich brechen sollte?
Napoleons scharfes Auge jedoch hatte frühzeitig ColbergS Bedeutung erkannt.
Während er gen Osten eilte, um die letzten vernichtenden Schläge
gegen die nunmehr vereinigten Preußen und Russen zu führen, durfte er
keinen festen Platz hinter seinem äußersten linken Flügel dulden, welcher dem Lande eine Art von Schutz, den preußischen Truppen einen sichern
Anhalt gewähren und vermöge seiner Seeverbindung einen Sammelort
und Stützpunkt für neue, von England und Schweden geförderte Rüstungen bilden konnte.
Vor Allem mußte verhindert werden, daß eine feindliche
Truppenmacht unter kräftiger Führung von Königsberg
aus
an den
Küsten der Ostsee ckandete, der französischen, jenseits der Weichsel, festge haltenen Armee in den Rücken fiele, die aus den Niederlagen und Kapi
tulationen entkommenen preußischen Heerestheile sammelte und die er bitterte Bevölkerung zwischen Oder, Elbe und Weser zu offenem Aufstande
mit sich fortrisse. Für's Erste wurde der Divisionsgeneral Teulis an der Spitze von
fünftausend Mann mit der Einschließung ColbergS betraut,
um später
dem noch entfernten General Victor, der sich hier den Marschallsstab ver
dienen sollte, daS Obercommando abzutreten. — Colberg war eine sturm
gewohnte Stadt.
Hinter seinen Mauern tummelte sich ein kernhafteS Ge
schlecht, selbstbewußt, opferwillig, voll kecken Unternehmungsgeistes, im Kampf mit Wind und Welle gehärtet, gesund an Leib und Seele durch
den belebenden Hauch des ewigen Meeres.
Dreimal während des sieben
jährigen Krieges hatte die kleine Festung alle Schrecken einer Belagerung
erfahren und dreimal dem überlegenen Feinde glorreich widerstanden. Noch lebten Viele, welche die großen Tage von Roßbach und Leuthen ge
sehen und unter dem tapfern von der Heyde Ruffen wie Schweden die Wucht pommerscher Hiebe hatten empfinden lassen:
Beste der Bürgerrepräsentant Joachim Nettelbeck.
als der Erste und
Neunundsechzig Jahre
277
Solberg und Gneisen«».
rastloser Arbeit hatten sein Haar wohj gebleicht, den stahlharten Körper aber nicht zu beugen vermocht.
Er war eine von jenen ächten SeemannS-
naturen germanischen Stammes, wie sie uns in der Glanzperiode der Hansa entgegentreten;
ein trotziger Vertheidiger seiner Vaterstadt aus
König Friedrichs Zeiten her, ein zäher Pommer von altem Schrot und
Korn, der sich auf allen Meeren, in Westindien, wie an der Küste von
Guinea, in der Pracht und Fülle der Weltstädte,
wie unter den be
rauschenden Wundern der Tropen sein deutsches Herz unwandelbar er halten hatte. Ein glückliches Ungefähr ließ ihn den Gefährten finden, wie er ihn in der gegenwärtigen Bedrängniß geeigneter sich nicht wünschen konnte.
Ferdinand von
Schill,
Unterlieutenant
regiment Anspach-Baireuth,
in dem berühmten Dragoner
war bei Auerstädt verwundet worden, der
Verfolgung aber glücklich entronnen.
Mit zweien seiner Leute hatte er
sich auf abgetriebenen Pferden und unter mancherlei Abenteuern durch die Feinde hindurchgeschlichen, bis er in Colberg endlich eine Zuflucht fand. Kaum daß seine Wunde Halbwegs geheilt war, setzte sich dieser geborene Führer für den kleinen Krieg an die Spitze einiger dreister Gesellen und
bekämpfte aus eigener Machtvollkommenheit den glühend gehaßten Fran zosenkaiser.
Anfänglich nur von einem halben Dutzend Reiter gefolgt, zog
er im Angesicht des Feindes auf Kundschaft aus, überfiel mit unglaub
licher Keckheit Gefangenentransporte,
Waffen und zahlreiches Schlachtvieh. Tage.
rettete Kassen,
erbeutete Pferde,
Sein Anhang wuchs
mit jedem
In kurzer Zeit gelang es ihm unter königlicher Genehmigung,
tüchtige Offiziere zu gewinnen und
aus Versprengten aller Truppen
gattungen ein kleines, nothdürftig bewaffnetes, aber von heißer Kampflust beseeltes CorpS zu bilden, mit dem er dem zwar stärkeren, doch über
weite Flächen zerstreuten und schlecht unterrichteten Gegner immer schmerz
hafteren Abbruch that.
Begegnete er einer entschiedenen Uebermacht, so
zog er sich unter die Kanonen Colbergs zurück, begierig ausspähend nach einer neuen Gelegenheit zu verwegenen Streichen.
Bald war der Name
Schill, ein Schreckensruf für die Feinde, das Losungswort aller wahren Patrioten; und wenn die Bedeutung des kühnen Freibeuters mitunter auch überschätzt wurde, was that das in diesem Augenblick? Seele des Volkes schrie nach einem Mann.
Die geängstigte
Hier war ein solcher, jung
und tapfer, dem die höchsten Kränze nicht unerreichbar schienen:
Grund
genug also, an seinem wackeren Bilde sich zu erfreuen und aufzuerbauen. Ohne Nettelbeck und Schill wäre eS trübe um Colberg bestellt ge-, wesen, denn die Vertheidigungsmittel befanden sich in einem wahrhaft
kläglichen Zustand.
Die Festungswerke waren verfallen und nicht pallisa-
278
Colberg und Gueisenau-
bitt, die Vorrichtungen zu einer Ueberschwemmung den neueren Anfor
derungen kaum noch entsprechend.
Neunundsechzig fast unbrauchbare eiserne
Kanonen rosteten im hohen Grase der Wälle; nur drei derselben, die am
wenigsten abgenutzten, hatte man aufgestellt, aber auch diese drohten bet wiederholtem Gebrauch zu springen und der bedienenden Mannschaft ver
derblich zu werden.
Das neue, von Berlin aus rechtzeitig abgesandte
Geschütz fiel durch die verrätherische Nachlässigkeit des stettiner Komman
danten in die Hände der Franzosen und wurde nun von den Belagerern
gegen die Festung gerichtet.
Auch die Besatzung erwies sich als unzureichend und wenig verläßlich. Drei ungeübte Depotbataillone, meist auS Polen recrutirt, die den ersten
günstigen Augenblick erwarteten, um überzulaufen oder in die Heimath
zu entweichen, waren Alles, was man dem krieg- und sieggewohnten Feinde entgegenwerfen konnte, während für die Artillerie nur eine geringe
Anzahl noch dazu altersschwacher Leute, Reiterei aber sogut wie gar nicht
zur Verfügung ftonb. • Endlich gab der Kommandant selbst zu den schwersten Besorgnissen Anlaß.
Wohl war Oberst Loucadou ein tapferer Soldat,
der in den
schlesischen Kriegen nicht ohne Auszeichnung gedient hatte, gewissenhaft und in seiner Weise entschlossen, den ihm anvertrautey Posten pflichtgetreu
zu behaupten; aber fünfundsechzig Jahre lasteten hart auf seinen Schlittern, er war erstarrt in Beobachtung abgelebter Formen und in seiner pedanti schen Langsamkeit dem Oberkommando unter so außerordentlichen Um
ständen nicht im entferntesten gewachsen. Loucadou that, was die Noth des Augenblicks erheischte.
Die schad
haftesten Stellen in den Festungswerken wurden ausgebessert, mehrere Vorstädte niedergebrannt und die den Wällen zunächst gelegenen Wiesen
unter Wasser gesetzt; wie eS ihm auch glückte, durch Einberufung der
Beurlaubten und Herbeiziehung der noch immer zahlreich herumschwär menden Versprengten mehrere Bataillone verschiedenartiger Waffengattungen
zu formtreu und die Artillerie durch ein Dutzend Zwölfpfünder zu ver stärken, welche auf dem Seewege von Danzig und Stralsund zu gelegener Stunde noch eingetroffen waren.
Aber nur widerwillig duldete der in
unseligen Vorurtheilen Befangene die Mitwirkung der Bürgerschaft, welche in schöner Hingabe an die Sache des Vaterlandes die Bewachung des
Hauptwalles, die Schanzarbeiten und Krankenpflege übernommen hatte, und endlos waren seine Klagen über den tapfern Schill, der durch seine Ausfälle und übermüthigen Streifzüge weit in das Land hinein Napoleons
besondere Aufmerksamkeit auf die arme Küstenfestung zu ziehen drohte. Wohin war es mit Preußen gekommen, wenn Gevatter Schneider
Solberg und Gneisenaü.
279
und Handschuhmacher sich erdreisten durften, an der Seite des Berufs
soldaten mitreden und mithandeln zu wollen; wenn sogar ein königlicher Unterlieutenant, ohne einer höheren Behörde Rechenschaft abzulegen, auf eigene Gefahr einen abenteuerlichen Guerillakrieg zu führen wagte?
Waö
frug der beschränkte Greis darnach, daß dieser Offizier vor Kurzem den zur Uebernahme seines Kommandos reisenden General Victor bei ArnSwalde aufgehoben und gefangen genommen, daß der findige Dragoner die im Nordwesten der Stadt gelegene Maikuhle, eine baumreiche An
pflanzung, besetzt und voll kluger Voraussicht befestigt hatte?
Mochte diese
wichtige Position, die den ungehinderten Verkehr zwischen Festung und
Hafen sicherte, immerhin in feindliche Hände fallen, wenn nur die altbe währte Methode aufrecht erhalten wurde, jedwede Vertheidigung auf Wall und Mauer zu beschränken, um eine regelrechte Bresche abzuwarten und dann in ehrenvoller Weise zu capituliren. Bürgerschaft wie Garnison vergalten diesen Hoch- und Kleinmuth
mit tiefem Mißtrauen, sie vergaßen keinen Augenblick, daß die Kleist und
Ingersleben Loucadou's Standesgenossen waren; eine bedenkliche Gährung bemächtigte sich der ohnehin erregten Gemüther, und eS dauerte nicht lange, so machte eine neue Thorheit des alten Gamaschenknopfs daS bis zum
Rande volle Gefäß des Zornes überfließen.
Schill war am 12. April
mit seinem Corps und einem Theil der Besatzung wieder einmal ausge fallen, hatte die französischen Posten jenseits der Persante über den Haufen
geworfen, den Westen der Festung vom Feinde gesäubert und schickte sich eben zu nachdrücklicher Verfolgung an, als ein Machtwort Loucadou's jede
weitere Ausbeutung des Sieges verhinderte. Schill zu viel!
Das war dem feurigen
Das brave Herz voll bittern Grimms, zog er mit dem
größeren Theil der Seinen nach Stralsund, wo Blücher mit einem preu ßischen Heerhaufen, den schwedische und englische Hilfsvölker verstärken
sollten, eine Diversion in Napoleons Rücken vorbereitete.
Hier hoffte der
vielfach Gekränkte ein besseres Verständniß seines Werthes zu finden, ein
lohnenderes Feld für seine ritterliche Wagelust.
Unwillen der Bürgerschaft in einem Schreiben
Nettelbeck aber gab dem an den König unver
hohlenen Ausdruck und forderte in beweglichen Worten die Sendung eines
andern, geeigneteren Kommandanten; ja, zwei Offiziere, Artilleriemajor
von Britzke und Vicekommandant, Hauptmann von Waldenfels, gingen so wett, in Gegenwart Loucadou's Pistolen zu ziehen und bei ihrem Ehren
worte zu erklären, daß sie Jeden ohne Ausnahme niederschießen würden, der ein Wort von Eingebung spräche.
DaS waren schlimme Aussichten!
In der zweiten Hälfte des April traf Marschall Mortier, gefolgt von
Colberg und Gneisen«».
280
zahlreichen Verstärkungen, bei dem Belagerungsheere ein, um an VictorStelle den Oberbefehl zu übernehmen.
In Tramm, ostsüdöstlich von
Colberg, schlug er sein Hauptquartier auf,
während Division-general
Loison beauftragt wurde, mit herzoglich sächsischen, Württembergischen und
italienischen Truppen die eigentliche Berennung de- Platze- zu leiten.
Neuntausend Mann standen, jetzt der durch Schill- Abgang schwer
geschädigten Besatzung gegenüber; aber schon war Hilfe unterwegs.
Am
26; April zog, enthusiastisch empfangen, da- in Memel gebildete zweite
pommersche Reservebataillon unter dem Hauptmann von Steinmetz durch das Münderthor, und drei Tage später erschien, fremd und unerwartet,
der neue Kommandant selbst. Nettelbecks Bitte hatte ein geneigte- Ohr gefunden.
Mit sicherm
Soldatenblick, der niemals fehlte, wenn ihn verwirrende Rathschläge Dritter
nicht trübten, hatte Friedrich Wilhelm den Mann gefunden, der großartig, wie kein Zweiter, seine Aufgabe in ihrer ganzen Bedeutung erfaßte. Neidhardt von Gneisenau hieß der Erwählte.
unbekannt.
Ein Name sogut wie
Die Regimentskameraden hatten ihn scherzend den „ewigen
Hauptmann" geheißen und lächelten über den Sonderling,
der in der
Einsamkeit einer abgelegenen Garnison Schlesiens die Siegesflüge des jungen Bonaparte
mit beinahe eifersüchtiger Aufmerksamkeit verfolgte.
Hin und wieder flüsterten sie sich wohl in die Ohren: er habe als aufgelesenes Kind ohne Aeltern, Vaterland und Glauben in einem sächsischen Landstädtchen die Gänse gehütet — weiter jedoch wußte man nichts von
dem Mann, der bald genug der Stolz eine- ganzen Volkes werden sollte. Aber sein König hatte ihm in entscheidender Stunde tief in daS Herz ge blickt und erwählte jetzt den unbekannten Major für die colberger Sendung.
Glänzender, als durch Gneisenau, ist das Vertrauen eines Fürsten
niemals gerechtfertigt worden. In finsterer Nacht, auf einem elenden Fischerboot und von einem Hagel von Kugeln verfolgt, war er durch den eisernen Gürtel gebrochen,
den Lefebvre um Danzig gezogen hatte, und am 29. April auf der Rhede von Colberg an das Land gestiegen.
und
Mit ihm stieg eine helle, ruhm-
ehrenschwangere Zeit für die bedrängte Stadt aus dem Meere.
Seiner Feuerseele entströmte ein Hauch erquickender Lebenslust, der all' die schwülen Dünste des Mißtrauens, der Unentschlossenheit und kleinlichen
Eifersucht mit Eins von dannen fegte, der die trüben Augen von Neuem blitzen, die gedrückten Herzen wieder hoffnungsfreudig pochen machte. Ein zuverlässiger Zeuge, Nettelbeck selbst, schildert un'S den über wältigenden Eindruck, dem Jeder unterlag, der in den Zauberbann des königlichen Mannes trat.
281
Solberg und Gneisenau.
Unter den Wölbungen des Münderthores war der Alte dem Haupt
mann von Waldenfels an der Seite eine- Unbekannten begegnet.
Er
hatte mit dem Unterkommandanten über wichtige Maßnahmen zu berath
schlagen; nun fühlte er sich durch die Anwesenheit eines Fremden beengt und wollte mit der Sprache nicht recht heraus. Waldenfels lächelte zu dieser
Vorsicht und führte beide, Nettelbeck und den Fremden, in sein Quartier.
„Als wir dort angekommen und unter sechs Augen waren — erzählt Nettelbeck weiter — wandte sich der Hauptmann zu mir mit den Worten: „»Freuen Sie sich, alter Freund, dieser Herr hier, Major von Gneisenau,
ist der neue Kommandant, den uns der König geschickt hat!"" seinem Gaste: „„Das ist der alte Nettelbeck!""
Und zu
Ein freudiges Erschrecken
fuhr mir durch alle Glieder; mein Herz schlug mir hoch im Busen, und
die Thränen stürzten mir aus den alten Augen.
Zugleich zitterten mir
die Kniee unterm Leibe, ich fiel vor unserm Schutzgeist in hoher Rührung
auf die Kniee, umklammerte ihn und rief auS: „„Ich bitte Sie um Gottes
Willen, verlassen Sie uns nicht: wir wollen Sie auch nicht verlassen,
so lange wir noch einen warmen Blutstropfen in uns haben; sollten auch alle unsere Häuser zu Schutthaufen werden! So denke ich nicht allein, in uns allen lebt nur ein Sinn und Gedanke: die Stadt darf und soll dem
Feinde nicht übergeben werden!""
auf und tröstete mich:
Der Kommandant hob mich freundlich
„„Meine Kinder, ich werde Euch nicht verlassen,
Gott wird Euch helfen.""
Und nun wurden einige Angelegenheiten be
sprochen, die wesentlich zur Sache gehörten, und wobei sich sofort der helle, umfassende Blick unseres neuen Befehlshabers zu Tage legte, so
daß mein Herz in Freude und Jubel schwamm." —
Und ein Nachklang dieses Entzückens — stolz dürfen wir es sagen — zittert auch durch unsere, der Enkel Seele, wenn wir vor des Helden Standbild treten, das sein dankbares Fürstenhaus
ihm gründete und
Christian Rauchs Meisterhand aus dem Erz französischer Kanonen schuf. „In Wahrheit, ein Verein und eine Bildung, auf die sein Siegel jeder
Gott, gedrückt!" Am Tag nach dieser ersten Bekanntschaft stellte sich Gneisenau auf
der Bastion Preußen den Truppen sowie den königlichen und städtischen Behörden vor.
Die Majestät seiner Gestalt, die heitre Ruhe und sonnige
Wärme, die über ter ganzen Erscheinung ausgebreitet lagen, verfehlten auch hier ihre sieghafte Wirkung nicht.
Jauchzen, Rührung, stammelnde
Schwüre der Treue und Hingebung umrauschten den Freudigbewegten, nachdem er seine begeisterte Anrede geendet, und die Kunde von der Herr
lichkeit des neuen Kommandanten verbreitete sich schnell bis in die ent legensten Winkel der Stadt.
282
Tolberg und Gneisenau.
In Noth und Gefahr darf dem Menschen die Tröstung der Religion
am wenigsten genommen werden, hatte Gneisenau gesagt, und die Kirchen thaten sich auf, die Loucadou geschlossen und in Magazine verwandelt
hatte; die Glocken luden wieder ein zu Sammlung und Gebet, und die fromme Gemeinde wohnte ungestört der Confirmation ihrer Kinder bet, wie wenn draußen der tiefste Friede waltete.
„Ein neues Leben und ein
neuer Geist kam nunmehr, wie vom Himmel herab, in Alles, was um
uns und mit uns vorging!" jubelt der selbst verjüngte Nettelbeck.
Unter des Letzteren Führung untersuchte nun der Kommandant die vorhandenen Vertheidigungsmittel.
Traurig genug sah es damit immer
noch au9-; es fehlte nicht mehr wie Alles. Da gab es keine Schanzkörbe,
keine Erdsäcke, weder Faschinen, noch Faschinenpfähle.
Trotz des eifrig
sten Forschens fand man kein Balkenholz für Brücken und spanische Reiter,
ebensowenig Bretter, geschweige denn Bohlen für Batteriebettungen. Die
Armuth an Holz war so empfindlich, daß im Verlaufe der Belagerung sogar gefallene Offiziere ohne Särge begraben werden mußten.
Die zur
Schanzarbeit erforderlichen Hacken und Schaufeln, das Handwerkszeug für die Zimmerleute wurde erst auS Königsberg verschrieben, während
die
Kommandeure der Jnfanteriebataillone vergebens um Blei, Patronenpapier und Flintensteine baten.
AIS Schmerzenskind aber erwies sich nach wie vor die Artillerie.
Von den eisernen Geschützen, die zum ernsteren Dienst schon längst nicht mehr taugten, war inzwischen eine bedeutende Anzahl gesprungen; oben
drein fehlte es an Lafetten, und die einzige Schmiede, welche sich auf deren Beschlag verstand, mußte wegen mangelnder Kohlen feiern.
Der
geringe Pulvervorrath hatte durch Nässe, das Schleusenwerk durch grobe
Vernachlässigung gelitten — kurz, wohin er auch schweifte, nichts Tröst liches bot sich dem prüfenden Blicke, und jeder Andere, als Gneisenau,
Aber diesen
leuchtenden Geist vermochte
einer Sorge zu trüben.
Nach allen Seiten flogen
würde zaghaft geworden sein. nicht der Schatten
seine Boten, nach Stralsund und Königsberg, nach London und Stockholm; überall trieb der Nimmerrastende zur Eile, überall wußte er die kräftig sten Hebel anzusetzen, und zuletzt verließ er sich doch auf das Beste: auf
die Tapferkeit seiner Truppen und das eigene mannhafte Herz. Vor Allem war er darauf bedacht, den neuerwachten Muth der Be
satzung nicht einschläfen zu lassen.
Der Morgen des dritten Tages seiner
Amtsführung dämmerte kaum empor, als er bereits den colberger Bür gern von der Zerstörung feindlicher Werke erzählen und Gefangene, Waf fen und zahlreiches Belagerungsmaterial als untrügliche Siegeszeichen vor
führen konnte.
Eine schwedische Fregatte mit sechs und vierzig Kanonen,
283
Colberg und Gneisenau.
die gerade jetzt auf der Rhede Anker geworfen, hatte ihn bei diesem nächt
lichen Unternehmen unterstützt, leider nur mit mäßigem Erfolg, da sie wegen ihres Tiefganges der Küste sich nicht genügend nähern konnte.
Recht im Gegensatz zu Loucadou sann Gneisenau
auf Mittel und
Wege, wie er den Feind möglichst lange von den Stadtmauern entfernt
halten, wie er die Uebermacht desselben zersplittern und lähmen könne. Ohne Säumen ging er an die Befestigung des Wolfsberges, eines Hügels am rechten Ufer der Persante, der, siebenhundert Schritte von
der Küste und in doppelter Entfernung von den Festungswerken gelegen, dreißig Fuß über den Meeresspiegel sich
erhebt.
Von diesem Punkte
aus vermochte er das ganze vorliegende Binnenfeld zu beherrschen und alle feindlichen Anschläge gegen seine Seeverbindung zu vereiteln. Während er mit herzlicher Freude den wiederversöhnten Schill im
Rücken der Belagerer das alte reiterlustige Wesen treiben ließ, warf er mit erbärmlichem Material in dem leichten Sandboden Wall und Brust
wehren auf, senkte Blockhäuser in die Erde, verpallisadirte den Graben und krönte seine Verschanzung mit elf Geschützen.
er sich schon hier.
Als Meister bewährte
Nichts konnte ohne ihn geschehen, aller Orten wurde
seine Gegenwart gefordert, keine Arbeit, wo er nicht selbst mit Hand an legen mußte; denn nur zwei Jngenieuroffiziere waren zur Stelle, der
ältere ein unverbesserlicher Trunkenbold, der jüngere erst neunzehnjährig und ohne alle Erfahrung.
Aber das Werk gelang; und als nun noch
die Garnison durch das dritte neumärkische Reservebataillon auf sechs
tausend Mann gestiegen war, durfte er den kommenden Ereignissen mit Ruhe entgegensehen.
General Loison war inzwischen mit Sicherung der eigenen Stellun gen zu sehr beschäftigt gewesen, um ein Auge für die Maßnahmen des Gegners zu haben; zu spät erkannte er sein arges Bersäumniß und suchte eS durch einen Gewaltstreich wieder gut zu machen.
Am 7. Mai ließ er
den Wolfsberg angreifen, wurde aber von WaldenfelS und dem pommerschen Reservebataillon mit blutigem Kopfe zurückgewiesen, so daß es ge
raumer Zeit bedurfte, bevor er von Neuem auf dem Kampfplatz zu er scheinen wagte. Vom Cavalier der Bastion Preußen, seinem gewöhnlichen Stand
orte auS,
bemerkte endlich Gneisenau kurz vor Pfingsten eine auffällige
Bewegung im französischen Lager.
Mit Sicherheit schloß
er auf eine
nahe bevorstehende Unternehmung und begrüßte seine Soldaten mit fol gendem Parolebefehl: „Es hat sich das Gerücht verbreitet, der Feind wolle morgen in der
Frühe den Wolfsberg angreifen.
Es ist mir lieb, solches der Garnison
284
Solberg und Gneise»«».
bekannt machen zu können, und freue ich Mich mit ihr, daß der Tag der Rache gekommen ist. Parole:
Friedrich Wilhelm!"
Er hatte
recht
gesehen.
Zweitausendsiebenhundert Mann
führte
General Teuliä in der Nacht des Pfingstmontags gegen die von hundertundfunfzig Pommern besetzten Verschanzungen vor.
Die Dunkelheit be
günstigte seine Annäherung; die preußischen Vorposten wurden überrascht
und nach hartnäckigem Widerstande zum Rückzug gezwungen; noch aber hatte er sich in dem eroberten Werke nicht festgesetzt, als, auf Gneisenau's
Befehl, WaldenfelS mit fünfhundert Grenadieren zur Unterstützung herbei
eilte, die Feinde mit unvergleichlicher Bravour in wirrer Flucht vor sich hertrieb und
in ihren Reihen ein unbarmherziges Blutbad anrichtete.
Sechshundertundfunfzig Franzosen waren die Opfer dieser mörderischen Nacht, unter ihnen dreizehn Offiziere und der Kommandeur der italienischen
Truppen.
General Teuli6 selbst entzog sich nur mit knapper Noth der
Gefangennahme. Die Niederlage war vollständig.
Marschall Mortier wüthete, denn
schon wurde der Kaiser ungeduldig und mahnte in drohenden Worten, die Wegnahme des winzigen Nestes zu beschleunigen.
Trotz eines zahlreichen
und tüchtigen Jngenieurcorps, einer weitüberlegenen und weltberühmten Artillerie, einer sieggewohnten, von glänzenden Führern geleiteten Trup
penübermacht war es nicht gelungen, dem einen Mann, der nichts, als eine Handvoll todesmuthiger Soldaten zur Seite hatte, den kleinsten Vor
theil abzugewinnen. Mit Betroffenheit erkannte der französische Feldherr, daß ihm hier eine geniale Kraft entgegenarbeite, die er schon längst nicht mehr
in dem preußischen Heere vermuthet hatte, die, an die stolzesten
Zeiten König
Friedrichs erinnernd, dem Feind
schon
an der Gurgel
saß, noch ehe er dem unvermutheten Anprall begegnen konnte, die bereits
vernichtende Schläge niedersandte, bevor der Gegner zum Hiebe auSzuholen vermochte.
Die Tatze des Löwen hatte der Marschall gefühlt; von
nun an war er auf seiner Hut.
Statt den Stier bei den Hörnern zu
packen, wie er es umsonst versucht, mußte er ihn nun auf Umwegen be
schleichen, statt die Festung in einem ersten wuchtigen Ansturm niederzu werfen, mußte er sich selber wider den Belagerten verschanzen und Zeit
und Geduld vergeuden, um gegen ein elendes, flüchtig aufgerichtetes Erd werk, das der Erbauer selbst als „eine wahre Schweinerei in der Aus
führung" verspottete, alle Künste einer regelrechten Belagerung mit Paral
lelen und Laufgräben spielen zu lassen.
In Colberg aber herrschte Freude, die sich noch steigerte, als Nettelbeck die Ankunft eines englischen Kauffahrers mit Munition und Aus-
285
Tolberg und Gneisenau.
rüstungSgegenständen meldete.
Der Alte leuchtete vor Glück, wenn er
seinem angebeteten Kommandanten gute Kunde bringen konnte. Zeigte sich
nur ein Segel am Horizont, gleich warf er sich in das Meer und forschte,
ob es vielleicht Freunde wären, welche Waffen oder Vorräthe gen Colberg trügen.
Kein Sturm hielt ihn von dieser Gepflogenheit ab, und mehr
als einmal führte der treue Pilot gefährdete Schiffe in den bergenden Hafen, wo
bewährte
Lootsen an der
Möglichkeit
des Gelingens
ver
zweifelten. Seine Kräfte schienen sich in den letzten Wochen verdoppelt zu
haben.
Hoch zu Roß ritt er mitten in den Kugelregen hinein, den er
schöpften Mannschaften Erquickung zu reichen und zuverlässige Nachrichten
über den Gang des Gefechts für Gneisenau zu sammeln; die Verwundeten
schaffte er auf Wagen
in die Stadt zurück, die Todten las er vom
Schlachtfeld auf und sorgte liebevoll für ein christliches Begräbniß; da bei kroch er spähend über die Böden der Häuser, in die dunkelsten Winkel
der Speicherdächer und zimmerte unverdrossen an dem veralteten Schleu
senwerk.
War doch seiner Gewissenhaftigkeit die Obhut der Lösch- und
Ueberschwemmungsanstalten anvertraut. . Wehe dem Ungehorsamen,
der
feuergefährliche oder leichtentzündliche Stoffe nicht am gesicherten Ort be wahrte; Wehe dem Fahrlässigen, der einen Tropfen Wassers nutzlos ver
schwendete! Während der Wolfsberg täglich mit hundert und mehr Granaten
beworfen wurde, und Gneisenau
ununterbrochen zu flicken und auszu
bessern hatte, gesellte sich zu allen andern Uebeln, als ob es an ihnen nicht genug gewesen wäre, schließlich auch noch die Sorge um das liebe
Geld. Die Kapitalien der wohlhabenderen Einwohner waren durch willig
gereichte Darlehen allmählich erschöpft und aus Königsberg durfte man
keine Unterstützung erwarten.
Soldaten aber und Handwerker mußten
bezahlt werden, wenn nicht alle Ordnung sich lösen sollte — so konnte
der Noth nur mit selbstverfertigtem Papiergeld gesteuert werden. Zu seinem Schrecken
erfuhr Gneisenau, daß
in der Stadt keine
Druckerei vorhanden wäre; aber rasch entschlossen berief er die Schüler des Lhceums, und nicht lange dauerte es, so waren kleine, mit verschieden artiger Dinte beschriebene und durch das Gouvernementssiegel beglau
bigte Pappdeckel im Betrage von vielen Tausenden
von Thalern
im
Umlauf. Wie schwer auch die Lasten waren, die Gneisenau bedrückten, über
den heitern Gleichmuth seiner sturmfesten Seele hatten sie keine Gewalt. Schloß er doch mitten in dem Drang und Wust der jetzigen Tage einen
nach Memel gerichteten Brief mit folgenden Worten: „Seit acht Monaten
habe ich keine Nachricht von meiner Frau und ihren sechs Kindern.
Dies
286
Solberg und Gneisenau.
will mich manchmal in meinen Anordnungen stören, aber ich denke immer
bald wieder daran, daß ich eher Soldat als Ehemann war. nur nicht durch diesen heillos eingeleiteten Krieg wäre und Bettler hinterlassen müßte!
Wenn man
ein Bettler geworden
Doch ein junger Mensch muß alles
versuchen, sagte jener Onkel seinem Neveu, der sich todtzuschießen drohte,
weil jener kein Geld geben wollte." Und wie der Meister, so seine Gesellen.
fester Glaube an den Helfer
Eine freudige Hingabe, ein
und Retter erfüllte Aller Herzen, ja, das
Vertrauen auf ihn und seine schützende Nähe ging so weit, daß es für die colberger Frauenwelt bald zum guten Ton gehörte, den schönen Kom
mandanten und seine Offiziere auf den Vorwerken zu besuchen und trotz der feindlichen Wurfgeschosse harmlos geselligen Vergnügungen nachzuleben.
Der Soldat aber begann sich wieder zu fühlen.
Eine unzerstörbare Sie
geszuversicht durchwärmte und hob sein ganzes Wesen; wie mächtig auch die Ueberzahl der Feinde wuchs, er wußte jetzt, daß preußische Waffen
tüchtigkeit, nach gut altfritzischer Lehre, dem Teufel selber nicht zu weichen
brauchte, und von den Wällen klangen spottend neuerfundene Schelmen lieder in das französische Lager hinüber.
Dort waren ja der Deutschen
genug, die die trotzigen Weisen verstanden.
IN der Nacht vom 10. auf den 11. Juni hatte der Belagerer seine Laufgräben bis auf vierzig Schritte gegen den Wolfsberg vorgeschoben, die Demontirbatterien vollendet, die eigenen Verschanzungen mit dem
schwersten Geschütz gekrönt und schüttete nun bei anbrechendem Morgen einen Regen von Kugeln und Haubitzgranaten über die schlaftrunkene
Stadt.
Die Zerstörung war groß, und verschiedene Gebäude fingen Feuer; aber kaum züngelte irgendwo die Flamme empor, so rasselte Nettelbeck
mit „seiner Artillerie", den Spritzen, herbei und bekämpfte, den Wasser schlauch mit nerviger Faust dirigirend, erfolgreich das entfesselte Element.
Greise, Weiber und Kinder wollten im Kampf für Ehre und Vaterland nicht zurückbleiben, mit nassen Tüchern und Rasenstücken suchten sie der verderblichen Wirkung der
Sprenggeschosse zu begegnen, indessen alle
streitbaren Männer, ohne an die Rettung ihrer Habe zu denken, Wall und Thore besetzten.
Mit nicht weniger als dreißig Kanonen und Mörsern arbeitete Loisön
gegen
den ohnehin erschütterten
Wolfsberg
und seine fünf Geschütze.
Dreitausend Kugeln machten an diesem einen Tage die Rippen des armen
Erdwerkes erbeben.
Nach zwölfstündigem Ringen waren sämmtliche Schieß
scharten, Sturmpfähle und Pallisaden zerstört, die letzten drei Geschütze
zerschmettert, die Blockhäuser dem Einstürzen nahe, und die tapferen Ber-
287
Colberg und Gneisenau.
theidiger auf ein Drittheil ihres Bestandes zusammengeschmolzen.
Oben
drein drohte daS Pulvermagazin, seiner Erddecke allmählich beraubt, bei der nächsten unglücklichen Granate mit Allem, was die Schanze noch barg,
in die Luft zu fliegen — dennoch wagte der französische General keinen
Sturm, sondern bot dem kommandircnden Hauptmann von Bülow freien
Abzug mit allem Geschütz und beweglichem Eigenthum an.
Gneisenau willigte ein.
Er war zufrieden, den morschen Sandhügel
fünfundzwanzig volle Tage gegen eine förmliche Belagerung gehalten und dem Feinde empfindlichen Abbruch gethan zu haben, der neben Tausenden
von Todten und Verwundeten auch den Verlust des trefflichen Generals
Teuliä beklagte.
Unter klingendem Spiel, mit allen kriegerischen Ehren verließ die kleine preußische Schaar den Schauplatz ihres Ruhmes und besetzte eine
weiter rückwärts gelegene, noch unvollendete Redoute.
Wie wenn sie an Gneisenau vermittelst seiner eigenen Schöpfung Rache nehmen wollten, mühten sich die Franzosen, das geräumte Werk so
schnell als möglich ihren Zwecken dienstbar zu machen.
Die Zahl der
vorhandenen Arbeiter schien für die wichtige Aufgabe nicht hinreichend,
Hunderte von Bauern wurden also weit aus dem Lande her zusammen
getrieben, eine formidable Angriffsposition aufzuwerfen, welche gleichzeitig
Stadt und Hafen unter
ihr verderbliches Feuer nehmen könnte.
durfte nicht gelitten werden.
DaS
Eben hatte ein englisches Schiff neue Ge
schütze und ausreichende Munition nach Colberg gebracht, der Muth der
Truppen war uizgebrochen und verlangte nach Gefechten, was konnte Gneisenau abhalten, dem flammenspeienden Ungeheuer, daS er selbst ge
schaffen, das ihm aber jetzt unter dem Namen „Fort Loison" feindlich gegenüberstand, mit einem kühnen Griff den gefräßigen Rachen zu stopfen?
Und wer wäre für diese rettende That geeigneter gewesen, als der ver
wegene Waldenfels? Der nächtliche Ueberfall gelang vollständig, noch einmal wehte die schwarz-weiße Fahne von dem blutgedüngten Hügel.
Drei zur Wiederer
oberung des FortS unternommene Stürme endeten mit kläglicher Flucht der Franzosen, und Alles, was in der Schanze niet- und nagelfest war,
wurde dem Feuer und der Vernichtung preisgegeben. Gegen Morgen, als sie das Zerstörungswerk vollendet und Loifon's
mühselige Arbeit um mehr als eine Woche zurückgeworfen hatten, berief
Gneisenau seine Grenadiere in die Stadt.
Die Heimkehrenden empfing
diesmal kein lauter Gruß, obwohl sie neben zahlreichen Gefangenen zwei
hundert gepreßte und nun befreite Bauern mit sich führten. der Freude hätte sich nur schlecht geschickt zu einem Traüerzuge.
Der Ruf Auf der
Solberg und Gneisen«».
288
Lafette einer eroberten Haubitze lag blutig und still der zweite Komman
dant, die Verklärung des Todes und Sieges auf der bleichen Stirn.
Gneisenau war tief erschüttert.
Zu gut wußte er, was ihm Walden-
felS gewesen; doch die Zeit verbot, weichmüthiger Trauer nachzuhängen.
Drohender berg auf.
mit jedem Tage thürmten sich die Wetterwolken über ColWohl gelang es ihm, in einem abermaligen, nach drei ver
schiedenen Richtungen
geleiteten Ausfälle den für das Nachtgefecht wie
immer untauglichen Feind zu werfen, aber der eigenen großen Verluste
wegen konnte er den Kampf außerhalb der Festung nicht lange mehr fort führen, um so weniger, als gerade jetzt aus dem eroberten Danzig sechs
tausend Mann Verstärkung mit gewaltigem Belagerungstroß im franzö sischen Lager eingetroffen waren, und die durch Regengüsse augeschwollene
Persante die schadhafte Hauptschleuse wegzureißen drohte.
Versagte diese
ihren Dienst, so war eS um Nettelbecks kunstvoll aufgestaute Ueberschwem-
mung
geschehen,
und Loison konnte
über das weite Binnenfeld
her
trocknen Fußes bis an die Thore der Stadt gelangen.
Um das Maß vollzumachen, erklärte in dieser Bedrängniß der Ka pitän der schwedischen Fregatte, daß höhere Befehle ihn zur schleunigsten Rückkehr in die Heimath nöthigten.
Segelte er wirklich ab, so war die
Seeverbindung für Gneisenau unrettbar verloren, der Hafen lag dann schutzlos dxn Kanonen des Forts Loison preisgegeben, und die schmerzlich
erwarteten, mit Kriegs- und Mundvorräthen beladenen Handelsschiffe aus Stockholm und Riga mußten unverrichteter Sache wieder umkehren. Hier galt es eine schnelle Wahl: entweder die Fregatte
Wolfsberg!
oder
der
Der Schwede blieb taufe- gegen jegliche Bitte, so mußte denn
das „verwünschte Mordloch" noch einmal dran. Festung und Fregatte
leiteten den Kampf mit einem
anhaltenden,
aber ziemlich wirkungslosen Feuer ein, dann ließ Gneisenau das Grena dierbataillon unter Hauptmann von Zülich zum Sturm antreten.
Mit
glühenden Blicken verfolgte er von der Bastion Preußen seine Lieblinge,
wie sie im Strahl der Junisonne mit voller Feldmusik, einen Tritt wie den andern, dem sichern Tode entgegenschritten.
Mochten die französischen
Kugeln auch ganze Rotten niederreißen, die klaffenden Lücken schlossen sich wieder, und Schulter an Schulter, das Gewehr zur Attaque rechts, ging
eS vorwärts, dem unheilvollen Bollwerk gerade auf den Leib.
Schon
stürzten die Pallisaden, schon war der Graben durchwatet und die Brust
wehr erklettert, schon ritten Einige auf den eroberten Kanonen, um die
selben zu vernageln; wenn jetzt,'nach Befehl, die Füsiliere vom Strande her energisch eingrisfen, so krönte ein voller Sieg das tapfere Wagestück.
Aber ein Unstern waltete heute über den sonst tüchtigen Leuten.
Ein
289
Solberg und Gneisen««.
Namenloses, wovon sie sich keine Rechenschaft zu geben wußten, erfüllte sie mit Schrecken; trotz der Bitten und Drohungen ihrer Führer waren sie nicht an den Feind zu bringen, sie stutzten, wankten und wandten sich
endlich zur Flucht.
Unterdessen verstärkte sich der Gegner von Minute zu
Minute; immer größere Massen entstiegen den Laufgräben.
Hauptmann
von Zülich fiel, mit ihm vier seiner besten Offiziere, zwei Drittheile des
Bataillons deckten todt oder verwundet den Boden, nirgends zeigte sich eine Aussicht auf Unterstützung — da mußte der kleine Rest sich zum
Rückzug entschließen.
Er trat ihn an in ungebrochener Ordnung, dem
Sieger bis zum letzten Augenblick die Stirne weisend, und erschien vor seinem Feldherrn, zerfetzt und blutend,
aber
mit
makellos bewahrter
Fahne. Die Kämpfe um den Wolfsberg waren zu Ende. Seinen Bericht an Scharnhorst, der schon damals die Wiedergeburt
des Heeres in sinnendem Geiste plante, schloß ein sachkundiger Augenzeuge voll schöner Begeisterung: „Gneisenau ist der erste Kommandant in ganz
Europa!"
Ein beifälliges Lächeln glättete die faltenreichen Züge des
großen Denkers, und in dem Merkbuch, wo die Männer verzeichnet waren, die ihm einst bet seinem gewaltigen Werke helfen sollten, stand seit dieser
Stunde der Name Gneisenau obenan. — Während so um Colberg gerungen wurde, war im Osten der ent
scheidende Schlag bereits gefallen.
Am 14. Juni hatte Benningsen, ohne
genügende Kenntniß der feindlichen Streitkräfte, bei Friedland einen un bedachten Vorstoß gewagt und eine vollständige Niederlage erlitten.
Muth-
loS überließ er das preußische Corps unter Lestocq seinem Schicksal und wich vor Napoleons Drängen über den Niemen aus.
Königsberg mit
seinen reichen Magazinen fiel in französische Gewalt, und der Welteroberer pflanzte seine Adler in der äußersten Grenzstadt Preußens auf.
Kaiser
Alexander aber trug schon am 21. Juni, mit schmählicher Nichtachtung
der bartensteiner Convention, auf einen vierwöchentlichen Waffenstillstand an.
Napoleon schlug freudig in die dargebotene Hand, und wenige Tage
später mußte der unglückliche, von seinem nächsten Freunde verrathene Friedrich Wilhelm dieser sauberen Abmachung seine Billigung ertheilen,
um nur zu bald die noch härtere Schmach von Tilsit zu erleben.
ColbergS war in dem unheilvollen Vertrage ausdrücklich Erwähnung gethan, aber der treulose Loison, der nach Mortier'S Abgang zur Haupt
armee daS Oberkommando übernommen hatte, hütete sich wohl, die von
der Außenwelt jetzt gänzlich abgeschnittene Stadt. über die jüngste Wen dung der Dinge aufzuklären. Die Lorbeeren Lefebvre'S, des neuen Herzogs
von Danzig, ließen ihn nicht schlafen, um jeden Preis wollte er dem er« Preußisch« Jahrbücher. JBb. XLVI. Heft S.
21
Colberg und Gneisxnan.
290
zürnten Kaiser die trotzige Festung, und wäre eS in Gestalt eines Trüm
merhaufens, zu Füßen legen. Damals schrieb Gneisenau seinem Freunde, dem Major von Chazot: „Leben Sie wohl; glücklich darf man nicht sagen in dieser unseligen Zeit.
Wer seine Gesundheit und Rechtschaffenheit daraus rettet, nur der ist einigermaßen zu preisen.
Am meisten der, der glorreich stirbt."
Mit düstrer Entschlossenheit blickte er der nächsten Zukunft entgegen.
Seit Wochen war er nicht aus den Kleidern gekommen, ebensowenig hatte er ein Bett gesehen.
Auf einer rohgezimmerten Holzpritsche, die in einem
armseligen Gemach über dem lauenburger Thor, einer ehemaligen Gefäng-
mßzelle, aufgeschlagen stand, gönnte er den erschöpften Gliedern eine kurze Erholung, jeden Augenblick bereit, Hilfesuchende mit Rath und That zu unterstützen.
Ihm war es nicht entgangen, wie der Feind erst in weiten,
dann immer enger werdenden Windungen der gierig begehrten Beute sich genähert hatte und nun voll unheimlicher Ruhe die günstige Gelegenheit
zum letzten tödtlichen Sprunge gefaßt.
erwartete.
Er war auf das Aeußerste
Aber selbst seine Nächsten ahnten nichts von dem, was in des
Feldherrn Busen stürmte; ihnen schien der quellende Reichthum seines
Innern unversiegbar, die Schwungkraft seiner Seele wie aus Stahl ge schmiedet.
Am 28. Juni hatte Loison die dritte Parallele eröffnet, zwei Tage später sein Geschütz in die aufgerichteten Batterien geführt, und am Mor gen des 1. Juli brach über die Stadt ein Bombardement ohne Gleichen
herein, das in ganzer Furchtbarkeit dreißig volle Stunden anhielt.
Der
Schrecken, so hoffte der General, das Entsetzen sollte sein mächtigster
Bundesgenosse werden, alle Bande der Ordnung innerhalb der Festung sprengen und Gneisenau'S starren Sinn verwirren und erschüttern.
Wie
erbarmungslos aber auch die Feuergüsse niederströmten, wie grauenhaft die Verheerung auch von Stunde zu Stunde wuchs, in ihren letzten Wir kungen hatte der Franzose sich dennoch getäuscht.
Die eiserne Disziplin der Truppen
wankte keinen Augenblick, die
Bürger wichen nicht von ihren Posten: Nettelbeck und dem alten pommerschen Herrgott vertrauend, ließen sie brennen, was eben brannte, und,
den Blick geradeaus gerichtet, blind und taub gegen das flammende, heulende Elend im Rücken, erwarteten sie, das Gewehr bei Fuß, den drohenden Sturm.
Endlich brauste er heran.
Von allen Seiten hetzte
Loison seine Bataillone gegen die Wälle, und in knirschender Wuth ar
beiteten Bajonett, Kolbe und Musketenkugel.
Hoch oben auf der Bastion
Preußen, umschwirrt von sprühenden Geschossen, mit olympischer Ruhe
kurze Befehle ertheilend, wachte indeß der Kommandant, der arme, bar-
Colberg und Gneisen«».
291
füßige Gänsejunge von Schilda, jetzt der Hirt einer edleren Heerde,
einer Heerde, die entschlossen war, mit ihrem Führer zu siegen oder zu
sterben. „Preußen ist verschwunden!" hatte der übermüthige Imperator ge
rufen — hier war es noch, in jungfräulicher Schöne, in seiner ganzen herben Herrlichkeit!
Und als die Sonne sank, und die Nacht über das weite Leichenfeld den mitleidigen Schleier breitete, hatten vierundzwanzigtausend Feinde nicht einen Stein der Festung gewonnen; nur die Maikuhle war durch die
Fassungslosigkeit eines Schill'scheu Offiziers verloren gegangen. Nettelbeck, der sich wieder als der alte bewährt hatte, giebt uns ein anschauliches Bild des Bombardements.
„Alles, was von Anbeginn der Belagerung bis jetzt vom Feinde
unternommen worden, mogte nur als ein leichtes Vorspiel von demjenigen gelten, wozu die dritte Morgenstunde des 1. Julius die Losung gab; denn
mit derselben eröffnete er auS all seinen zahlreichen Batterieen ein Feuer
gegen die Stadt, so ununterbrochen, so von allen Setten kreuzend, und so mörderisch und zerstörend, wie wir es noch niemals erlebt hatten.
Die
Erde dröhnte davon unter unseren Füßen, und man kann ohne Ueber treibung sagen, daß eS rings um uns war, als ob die Welt vergehen
sollte.
Sichtlich legten unsere Gegner eS darauf an, uns durch ihr Bom
bardement zwischen dem engen Raum unserer Wälle dergestalt zu äng
stigen, daß wir, nirgends mehr unseres Bleibens wissend, die weiße Fahne zur Ergebung aufstecken müßten.
Ich befand mich in dieser entsetzlichen
Nacht neben unserm Kommandanten auf der Bastion Preußen, als dem
höchsten Punkt, den unsere Wälle zum Umherschauen darboten.
Von hier
auS konnten wir beinahe alle feindlichen Schanzen übersehen, und ebenso
lag die Stadt vor uns.
ES ist nicht auszusprechen, wie höllenmäßig das
Aufblitzen und Donnern des Geschützes Schlag auf Schlag und Zuck auf
Zuck um uns her wüthete, während auch das Feuer unserer Festung in
seiner Antwort nicht- schuldig blieb.
In der Lust schwärmte es lichterloh
von Granaten und Bomben; wir sahen fie hie und da überall ihren lichten Bogen nach der Stadt hineinwälzen, hörten das Krachen ihres
Zerspringens, sowie das Einstürzen der Giebel und Häuser, vernahmen
den wüsten Lärm, der drinnen wogte und raste, und waren Zeuge, wie bald hier bald dort, wo eS gezündet hatte, eine Feuerflamme emporloderte. Von dem Allen war die Nacht so hell, als ob tausend Fackeln brennten,
und das gräßliche Schauspiel schien nicht ein Menschenwerk zu sein, son dern als ob alle Elemente gegen einander in Aufruhr gerathen wären, um sich zu zerstören.
WaS aber drinnen in der Stadt unter dem armen
21*
Colberg und Gneisen«».
292
wehrlosen Haufen vorging, ist vollends so jammervoll, daß meine Feder
nicht vermag eS zu beschreiben.
Da gab es bald nirgends ein Plätzchen
mehr, wo die zagende Menge vor dem drohenden Verderben sich hätte bergen mögen.
Ueberall die Gassen wimmelnd von rathloS umherirren
den Flüchtlingen, die ihr Eigenthum preisgegeben hatten, und die unter dem Gezisch der feindlichen umherkreisenden Feuerbälle sich verfolgt sahen
von Tod und Verstümmlung.
Geschrei von Wehklagenden, Geschrei von
Säuglingen und Kindern, Geschrei von Verirrten, die ihre Angehörigen
in dem Gedränge und der allgemeinen Verwirrung verloren hatten, Ge
schrei von Menschen, die mit Löschung der Flammen beschäftigt waren,
Lärm der Trommeln, Geklirr der Waffen, Rasseln der Fuhrwerke — nein, eS ist nicht möglich, das furchtbare Bild in seiner ganzen Lebendig keit auch nur von ferne zu schildern."--------------Die Nacht hatte den Kämpfen um die Wälle, aber nicht dem Bom
bardement ein Ziel gesetzt.
Nettelbeck schildert die Verwüstungen in seinem
eigenen Hause, wie eine einschlagende Bombe sein ganzes Branntwein
lager vernichtet habe, und fährt dann fort: „Solchergestalt von Schrecken umgeben, und auf noch Schrecklicheres gefaßt, sahen wir der nächsten Nacht entgegen.
DaS feindliche Geschütz
vereinigte sich zu neuen, noch höheren Anstrengungen; und die zerstörenden
Wirkungen desselben, im anhaltenden Geprassel einstürzender Häuser,
fallender Ziegel und klirrender Fensterscheiben, betäubten das Ohr derge stalt, daß auch der Donner des FeuerS nicht selten dabei überhört wurde.
Alle jammervollen Scenen der vorigen Nacht erneuerten sich in noch weiterem Umfange. Aber auch mitten in der ringsum drohenden Gefahr erzeugte sich allmälig eine Gleichgültigkeit bei Vielen, die nichts mehr zu
Herzen nahm. schöpft;
War auch nicht der Muth, so war doch die Natur er
Anstrengung,
Schlaflosigkeit, immerwährende Anspannung des
Gemüths und Sorge für Weib und Kind und Eigenthum steten auf die Meisten mit solch einem Gewichte, daß sie selbst in den Trümmern ihrer Wohnungen sich ein noch irgend erhaltenes Plätzchen ersahen, um den bis
in den Tod ermatteten Gliedern einige Ruhe zu gönnen."---------------
Eine Bombe trifft gegen Mitternacht das Rathhaus und zündet. Nettelbeck
eilt hinzu, aber er findet in der allgemeinen Noth Niemanden, der helfend und rettend beispringen will.
Es bleibt ihm nichts übrig, als den Bei
stand deS Militärs anzurufen, und so eilt er nach dem nächsten, auf dem
Wall gelegenen Wachthause.
„Wild stürme ich — so erzählt er weiter —
in daS halbdunkle Wachtzimmer hinein.
Ich sehe auf der hölzernen Pritsche
sich eine Gestalt regen» die ich zwar nicht erkenne, aber sie für den Mann
haltend, den ich suche, von ihrem Lager aufschrte, indem ich rufe: „„Bester
Lolberg und Gneisenau.
Mann, zu Hülfe!
293
Das RathhauS steht in Flammen!""
Aber weniger
meinen Schrei als mich selbst und mein Jammerbild beachtend, erhebt sich der Offizier mir gegenüber,
schlägt die Hände zusammen und spricht:
„„Ach, Du armer Nettelbeck!""
jutanten nebst einem
Jetzt erst an der Stimme erkenne ich
Er hört, er erfährt, er giebt mir einen Ad
ihn — eö ist Gneisenau!
Tambour mit; die Lärmtrommel wird gerührt,
Soldaten erscheinen, Patrouillen durchziehen die Straßen, kräftigere Lösch
anstalten kommen in Bewegung, die zwar den Brand nicht mehr zu unter drücken vermögen, aber ihm doch ein Ziel setzen, während die bereits er
griffenen Theile noch den ganzen folgenden Tag brannten."--------------General Seifen bebte vor Zorn.
Er hatte Gneisenau eine Auffor
derung zur Uebergabe unter den ehrenvollsten Bedingungen zukommen lassen und war abgewiesen worden.
Dabei drängte die Zeit zur Eile:
lange ließ sich das trügerische Gaukelspiel,
die tückische Verheimlichung
des Waffenstillstandes, nicht mehr aufrecht erhalten — also mußte mit ausgehender Sonne das Morden von Neuem beginnen.
In der Stadt
hatte man darauf verzichtet, den immer weiter um sich greifenden Feuers
brünsten Einhalt zu thun; jetzt kam eS nur noch darauf an,
wundeten und Kranken in möglichste Sicherheit zu bringen. kirche war zum Lazareth
hergerichtet worden.
und
die Ver
Die Marien
Zwanzig Bomben zer
unter
schmetterten
ihr
verbreitend.
Da trugen treue Bürgerhände, allen Gefahren zum Trotz,
Gewölbe,
Tod
Verderben
den Insassen
achthundert Hilflose, nach den kugelfesten Kasematten. Bis zum Nachmittag raste draußen die Schlacht mit gesteigertem
Grimm.
Endlich, gegen drei Uhr, ballte Loison seine Sturmhausen zu
einem entscheidenden Stoße zusammen und brach vom WolfSberg noch
einmal mit dem ganzen Ungestüm verzweifelnder Wuth gegen Gneisenau'S dünn und dünner gewordenen Linien vor.
Aber wiederum zerschellte die
wsende Fluth an der unerschütterten Ruhe der Grenadiere und rollte machtlos zurück zu ihrem Ausgangspunkt.
Die Sehnen der beiden Rin
ger, des Angreifers wie des Vertheidigers, waren zum Springen über spannt, nur die größere Kraft der Seele konnte hier den Ausschlag geben. In dem französischen Feldherrn regte sich endlich das Gewissen.
Biele Tausende hatte er mit Hintansetzung seiner Soldatenehre dem
Götzenbild der Eitelkeit geopfert und keinen Fußbreit Bodens gewonnen; nun gab er das schlechte Spiel verloren.
Eine Wiederholung
des abgeschlagenen Sturmes
erwartend, war
Gneisenau noch mit neuen Vertheidigungsmaßregeln beschäftigt, als das
Geschützfeuer
auf feindlicher Seite plötzlich schwieg und wie auf einen
Wink von allen Schanzen weiße Fahnen wehten.
Zu gleicher Zeit ge-
Solberg und Gneise»«».
294
wahrte man einen preußischen Offizier, der, eine Parlamentärflagge über dem Haupte schwingend, durch die Ebene daherjagte.
Colberg war gerettet! Lieutenant von Holleben, der Träger der frohen Botschaft, wäre schon
längst an Ort und Stelle gewesen, hätten die Franzosen seiner Reise nicht
allerlei Hindernisse in den Weg geworfen und ihn namentlich noch eben jetzt zwei Stunden im Hauptquartier zu Tramm fast gewaltsam zurück
gehalten.
Gneisenau kämpfte seine Erschütterung bei diesem jähen Wechsel des Geschicks gewaltsam nieder und sagte zu HolleKen, der bestürzt die grauen
haften Verwüstungen ringsumher überschaute, mit stolzer Gelassenheit: „Meine Kanonen würden noch lange nicht geschwiegen haben"; als er
aber dann die Kabinetsordre erbrach, worin ihn Friedrich Wilhelm zum
Oberstlieutenant ernannte und dem Kommandanten
wie der Besatzung
seinen königlichen Dank in tiefempfundenen Worten verkündete, da schüttelte
es den wetterfesten Leib, die krampfhafte Spannung des Innern löste sich,
das Herz wurde ihm weit und weich, und der gewaltige Mann weinte wie ein Kind.
Seit dem 2. Juli 1807 gehört der Name Gneisenau der Weltge schichte an.
Der corsische Dämon sollte bald genug erfahren, daß ihm
mit diesem Tage der größte und erbarmungsloseste seiner Gegner er
standen war. Unverweilt ging es an die Wiederherstellung der alten Ordnung. Nun mußten die friedlichen Gewerke sich tummeln.
Schutt und Trümmer
haufen verschwanden, die verwüsteten Gärten wurden gesäubert und neu
bepflanzt, leichte Nothhäuser stiegen aus dem Boden, wo Obdachlose eine schützende Unterkunft fanden, und nach wenig Wochen deuteten nur noch ver
einzelte Spuren auf die Schrecken deö Festungskrieges.
Hatte die Hand
des Feldherrn zum allgemeinen Besten schwer auf der kleinen Stadt ge legen, jetzt mühte sie sich voll zärtlicher Sorge, die geschlagenen Wunden
zu heilen und die hart Darniedergeworfenen wieder aufzurichten.
Gegen
zweimalhunderttausend Thaler sollte Colberg zu der ungeheuern Kriegscontribution beitragen, mit welcher Napoleon den preußischen Staat zu
erdrosseln gedachte; aber großmüthig erließ der König die kaum erschwing bare Forderung.
Außerdem lohnten mannigfache Ehren und Auszeich
nungen NettelbeckS wie der treuen Bürgerschaft Verdienste, und die ver einigten Jnfanteriebataillone der Besatzung
wurden zum Leibregiment
„Colberg" erhoben — Alles nach Gneisenau's Vorschlag und Wunsch.
Doch eine solche schöpferische Kraft durfte während des Friedens in
dem dürren $ntte eines Festungskommandanten nicht verkümmern, König
Solberg und Gneisenau.
295
und Vaterland heischten ihre Mitwirkung bei einem größeren Werke.
In
Memel trat unter Scharnhorsts Leitung die sogenannte Militär-Reorgani-
sationS-Commission zusammen, in ihr fand Gneisenau den gebührenden Platz. -
In der zweiten Hälfte des August brachte die Hamburger Zeitung folgende, offenbar aus Nettelbecks Feder stammende Bekanntmachung:
„Am 9. d. M. entrückten höhere Befehle unsern würdigen Herrn Kommandanten aus unserer Mitte, und mit dem Verluste dieses
mit
seltenen Tugenden geschmückten Mannes schwanden unsere stolzen Träume
dahin.
Gerne wären wir im Besitz des unverzagten Beschützers unserer
Wälle immer geblieben, und gerne hätten wir nach den vollbrachten verhängnißvollen Tagen die seligen Früchte des Friedens nur mit Ihm ge
theilt; aber nicht bestimmt, diese in unsern Mauern zu genießen, hatte Ihm unser Monarch — ganz von dem Werthe dieses großen Mannes überzeugt — einen andern Kreis vorgezeichnet, in welchem sein rastloser
und thätiger Geist sich ein neues Denkmal stiften sollte. „Doch ist dieser unserem Herzen so theuer gewordene Held gleich
nicht mehr unter uns, hat
er uns gleich verlassen,
um vielleicht nie
wiederzusehen den Ort, dessen beneidenswerthes Schicksal seinen einsichts
vollen Befehlen, in den mißlichsten Augenblicken, untergeordnet war, so
wird das Andenken an ihn — der bei den Tugenden des Kriegers nie die Pflichten der Menschheit vergaß — der von der ersten Minute seines
Erscheinens an, Vater eines jeden Einzelnen wurde, und es auch noch im Momente des Scheidens blieb — nie in unserer von Dank gegen ihn
erfüllten Seele erlöschen.
Wir haben Ihm ja Alles — die Erhaltung
unserer Ehre und Habe — die Zufriedenheit unseres Landesherrn, und die Achtung unserer ehemaligen Gegner zu verdanken. „Möge unserer spätesten Nachkommenschaft nur es erst Vorbehalten
sein, die Asche unseres Vertheidigers zu segnen! „Den Tag vor seiner Abreise wurden wir davon durch folgendes Schreiben benachrichtiget:
„„Meine Herren Repräsentanten der patriotischen Bürger von Colberg! Da ich auf unseres Monarchen Befehl mich eine Zeitlang von dem mir so lieb gewordenen Colberg trenne, so trage ich Ihnen, meine Herren
Repräsentanten,
auf,
den hiesigen Bürgern mein Lebewohl zu sagen.
Sagen Sie selbigen, daß ich Ihnen sehr dankbar bin für das Vertrauen,
das sie mir von meinem ersten Eintritt in die hiesige Festung an, geschenket haben.
Ich mußte manche harte Verfügung machen — manchen
hart anlassen; dies gehörte zu den traurigen Pflichten meines Postens.
Dennoch wurde dies Vertrauen nicht geschwächt.
Viele dieser wackern
Solberg und Gaeisenau.
296
Bürger haben unS freiwillig ihre Ersparnisse dargebracht, und ohne diese Hülfe wären wir in bedeutender Noth gewesen.
Viele haben sich durch
Unterstützung unserer Verwundeten und Kranken hochverdient gemacht.
Diese schönen Erinnerungen von Colberger Muth, Patriotismus, Wohl thätigkeit und Aufopferung werden mich ewig begleiten.
gerührtem Herzen von hier.
Ich scheide mit
Meine Wünsche und Bemühungen werden
immer rege für eine Stadt sein, wo Tugenden wohnen, die anderwärts seltener geworden sind.
Vererben Sie selbige auf Ihre Nachkommenschaft.
Dieses ist das schönste Vermächtniß, das Sie ihnen geben können.
Leben
Sie wohl und erinnern Sie sich mit Wohlwollen Ihres treuergebenen
Kommandanten Neidhardt von Gneisen»»."" —
— „Wir haben diesen Auftrag mit frohem Herzen erfüllet, und
zur Steuer der Wahrheit ruft die Bürgerschaft Ihnen, Herr Kommandant, öffentlich nach:
„Wir haben nie einen Zwang empfunden — uns haben keine
harte Verfügungen gedrückt, und dasjenige, was wir thaten, ge schah aus reiner Vaterlandsliebe.
Das höchste Wesen nehme Sie
dafür in seine besondere Obhut, lasse Sie nach Ihrem thatenvollen Leben auch bald die Früchte des Friedens im Schooße der
theuren Ihrigen genießen, und wenn uns neue Stürme und Gefahren drohen, so kehren Sie in unsere nicht überwundene Mauern unter denen Auspicien zurück, in uns noch das Völkchen
anzutreffen, von dem Sie so liebevoll schieden." — Unter strömenden Thränen und dennoch tief beglückt, las Königin Louise diese guten Worte.
Spürte die ahnungsvolle Dulderin in des
Feldherrn Rede das Wehen des Genius, der die Schwingen zu mächtigem
Siegesfluge rührte?
Hörte sie hinter NettelbeckS treuherzigem Dank das
Rauschen eines heiligen Völkerzorns? Sah sie aus der BlutSbrüderschaft,
geschlossen zwischen Soldat und Bürger, die erlösende Schöpfung der Zu kunft steigen, das Ideal eines Heeres, das Volk in Waffen? — Wir wissen es nicht; das aber wissen wir, daß es Gneisenau und seinen Freun
den an Tadlern und Feinden nicht fehlte, welche den Bruch mit den alt geheiligten Traditionen verdammten und die Neubildung der Armee einen
Verrath an Preußens Geschichte schalten. Es waren keine schlechten Männer, die also dachten und sprachen:
dafür bürgt schon der Name Jork! Es bedurfte langer, erbitterter Kämpfe,
eines Uebermaßes an Geduld, und die Zeit mußte erst als Lehrmeisterin eintreten, die Zweifelnden zu überzeugen.
Aber Allen, auch dem Unver
söhnlichsten kam die Stunde der Erkenntniß.
297
Solberg und Gneisen«».
DaS Gefecht von Wartenburg war geschlagen.
Aork hatte, wie im
mer, gegen Gneisenau's Anordnungen Einspruch erhoben, er hatte gewet tert und geflucht über „die hirnverbrannten Köpfe deS" Hauptquartiers", über
„das unüberlegte Stückchen, das schlecht ausfallen werde"; dann
aber war er an die Arbeit gegangen, einzig, unvergleichlich, wie nur er
es vermochte.
Am Abend, als die Truppen nach ihren Lagerplätzen rückten, ließ er sein tapferes Corps an sich vorbeimarfchiren.
Für Alle, für Fußvolk wie
Reiterei, für Linie wie Landwehr, hatte er ein Wort des Lobes, der Er munterung.
Da plötzlich klingen die Pfeifen heller, die Trommeln schla
gen eine raschere Gangart, und geführt von seinem Brigadier, dem küh nen General von Horn, naht das zweite Bataillon des pommerschen LetbregimentS, dem heute der blutigste Theil deS TageS zugefallen war.
Aller Blicke in AorkS Stabe leuchten hoch auf, in des Generals Antlitz
zuckt keine Muskel; aber die Rechte greift unwillkürlich nach der Feld mütze, und, entblößten Hauptes, das greise Haar dem Spiele des Oc-
wberwindeS pretSgebend, hält er auf seinem Roß, bis der letzte Mann des Bataillons vorüber ist.
Ein Wunder war geschehen:
der eiserne Jsegrimm, der glänzendste,
aber auch starrste Vertreter alter Kriegsherrlichkeit, er hatte sich geneigt
in
stummer Ehrfurcht vor dem jüngeren Geschlecht, vor Gneisenau's
Schülern, den Helden von Colberg.
Karl Koberstetn.
Reiseeindrücke aus Samogitien.
Alte Liebe rostet nicht — sagt man im bürgerlichen Leben. gilt gelegentlich auch von der Liebe der Staaten zu einander.
Das
Wie lange
hat die Freundschaft zwischen dem jungen Russenreich moderner Aera und
dem jungen preußischen Deutschland gedauert, zwischen diesen beiden Em porkömmlingen des neueren Europa, die ungefähr um dieselbe Zeit, zu
Anfang des vorigen Jahrhunderts sich den Grundstein legten zum Großmachtöbau und seitdem stetig unter Püffen und Placken vorwärts geschritten
sind.
Freilich im Innern durchaus verschiedener Methode folgend bei der
Entwickelung zum Großstaat.
Alte Liebe!
Aber im Grunde doch recht
wenig Herzensneigung dabei, ein Bund deS Verstandes, des nothgedrun
genen Interesses von jeher, soweit die Völker, die Staaten gemeint sind; eine politische Ehe, wie sie unter regierenden Herren geschlossen zu werden pflegt, kühl und berechnet, auf eine besondere conventionell-politische Liebe gegründet, die nur unterstützt wurde durch die minder politischen Ehen,
welche zwischen den beiderseitigen regierenden Häusern geschlossen wurden.
Wie sollte man auch an ein innigeres Verhältniß denken können, wo selbst die nothdürftigste gegenseitige Bekanntschaft, das nothdürftigste Verständ
niß der Völker untereinander so sehr fehlt als
hier.
Ist doch trotz der
hundertjährigen Freundschaft der Staaten für den Preußen eine Reise nach Rußland nicht minder eine Entdeckungsfahrt, als etwa eine solche in das
Gebiet der Seen Nordamerika's,
giebt es doch in ganz Europa keinen
Fetzen Landes, auf welchem sich der Deutsche und jeder Westeuropäer so
wenig zu Hause fühlt, als in den unbegrenzten Ebenen, die er betritt, so bald er bei Ehdtkuhnen oder Mlawa oder Granitza das alte Europa ver läßt! Denn drüben ist Neu-Europa oder ein anderer Welttheil, eine Welt für sich. —
Wenn man von der französischen Grenze her über Köln quer durch
Deutschland dampft, so ist eS, als ob die Kultur meßbar wäre an der Geschwindigkeit, mit der die Lokomotive dahinrollt.
Etwa 55 Kilometer
durcheilt man von Köln her in der Stunde, dann von Berlin ab nur
Reiseeindrücke ans Samogitien.
299
noch fünfundvierzig, dann von der russichen Station Wirballen etwa zwei
unddreißig, und sobald man den Petersburger Eilzug irgend wo verläßt, hört alle Berechnung für die Geschwindigkeit des Fortkommens auf, die
Ziffer sinkt auf 25, auf 20 Kilometer und darunter, ungerechnet die vielen Möglichkeiten, daß man irgend einen Anschluß versäumt und halbe Tage lang sitzen bleibt.
Ich habe das leider gleich bei Beginn meiner Reise
erfahren müssen.
Man wird übrigens von dieser dilatorischen Behand
lungsweise nicht unversehens überrascht, sondern — ich muß den Russen
die Gerechtigkeit widerfahren lassen — jeder Reisende wird gleich beim
ersten Schritt in das Reich auf sie gehörig vorbereitet.
Steigt man in
Eydtkuhnen aus dem Wagen, so blickt Einem die bequeme Gemächlichkeit sofort aus Allem entgegen.
Mehrstündiger Aufenthalt, eine Menge von
Gepäckträgern, die zu einem für dieses Geschäft monopolisirten Verein, Artell genannt, gehören, lungert umher, besorgt aber zuletzt in guter Ord
nung, was zu besorgen ist, nämlich die Ausstellung der Koffer und Kisten zur Zolluntersuchung.
Ein halbes Stündchen, auch mehr wartet man vor
seinen Habseligkeiten, dann beginnt das in der Mitte des großen Rau
mes um einen quadratischen mächtigen Tisch versammelte Tribunal der Zöllner und Genödarmen sich zu bewegen: die Pässe sind visirt, die Be
amten suchen, die Namen ausrufend, die Paßinhaber.
Endlich höre ich
meinen Namen, dränge mich in die Nähe des ausrufenden Beamten und mache durch Rufen und Winken über den parallel den vier Wänden lau fenden Gepäcktisch mich bemerkbar.
Ich erhalte meinen Paß zurück, die
Zollbesichtigung der Sachen geschieht in schonendster Weise, sofern man
in mir keinen Händler mit den mitgeführten Dingen wittert, und ich darf nun meine Füße ungehindert durchs ganze russische Reich setzen.
Ich be
eile mich beim Wechsler für je zwanzig Mark etwa zehn Papierrubel ein zutauschen, löse Billet und Gepäckschein und setze mich dann erschöpft von Warten und Spannung in dem Wartesaal nieder. Welch andere Welt!
Gleich zuerst das Fahrbillet.
Ueberall in
Europa dieselben Schriftzeichen, nur in Deutschland noch in einer vor
Jahrhunderten einmal corrumpirten und dann fälschlich gothisch genannten und vielfach für national deutsch gehaltenen Form: hier unbekannte Lettern,
dem klassisch Gebildeten die Erinnerung an die griechischen Zeichen weckend, aber gänzlich unlesbar für den Nichtrussen.
Auf dem Billet steht die
Monatsangabe fünf, also Mai, und doch verließ ich Berlin bereits im
Juni.
Ich blicke nach der Wanduhr und finde, daß ich etwa anderthalb
Stunden an diesem denkwürdigen Tage eingebüßt habe, da hier Peters burger Zeit gilt, meine Taschenuhr aber Berliner Zeit angiebt. In Ber lin wog mein Koffer 76 Pfund, hier ist er um etliche Pfund schwerer
300
Reiseeindrücke aus Samogitien.
geworden, oder, wie ich erfuhr, das russische Pfund leichter gegen das deutsche.
Keiner meiner mitgebrachten Maßbegriffe will mir hier mehr
aushelfen, wo man nur von Pud, Ssashen, Gärnitz, Wedro, Arschin was
wissen will.
Ich blicke hinaus in die Landschaft: wer hat jemals so et
was gesehen bei uns im Westen, wie diese sonderbare Kirche da in dem
kleinen Orte Ehdtkuhnen, mit bunten, morgenländischen Kuppeln, ich glaube
fünfen!
Selbst das christliche Kreuz darauf ist anders, mit doppeltem
Querbalken.
Mein gepäcktragender „Artellstschik", klein, pockennarbig und
von dunkler Hautfarbe, mit flacher Nase und kleinen Messingringen in den Ohren oder nur in einem Ohr,, gekleidet wie ich eS in ganz Europa
nirgends sah: Kaftan, Gürtel, Hosen in den Stiefeln.
Das Publikum
offenbar so verschiedenartig zusammengesetzt als möglich: in europäischer Kleidung einhergehende feine Leute, die französisch, russisch, auch englisch reden, viel FescheS in Haltung und Anzug zeigen, mit großer Sicherheit
den Petersburger herauskehren; allerlei Handlungsreisende und
andere
Fremdländer, die neugierig um sich blicken, dann Beamte und Offiziere,
ferner die Juden in den langen, schwarzen, glänzenden Röcken und sonsti gem altmosaischen Zuschnitt, sogar mit den bekannten „Peissaken", trotz
des staatlichen Verbotes dieses HaarschmuckeS; Russen niederen Standes im Bauernrock, sehr unterschieden von den Bauern der Umgegend, diesen mageren Litthauern mit langen, weißgrauen Röcken.
Mir fällt die Menge
von Beamten und Offizieren auf, der ich überall begegne, bis ich bemerke, daß es beim Russen Sitte ist, in Civil oder Heer zu dienen und dann,
nach der Verabschiedung die Uniform, wenigstens die Militärmütze zeit
lebens weiter zu tragen.
Daher wohl die vielen verlumpten Gestalten
mit abgeschabter Majorskleidung und noch vergangenerer Mütze, obwohl
der russische Offizier und Beamte selbst schon auffällt durch die oft starke Vernachlässigung des Aeußern.
Rohe, verlebte, fahle Gesichter mit schlecht
gepflegten Haarbüscheln zu jeder Seite der Wange und deS Halses, stets
die Cigarette im Munde, oft eine blaue Brille vor den Augen, alte ab
getragene Kleidung mit ursprünglich stutzerhaftem Schnitt — so sieht man
sie häufig vom Collegienregistrator bis zum Staatsrath und vom Fähn
rich bis zum General.
Alles um mich her trinkt Thee, Taffe auf Taffe oder vielmehr Glas auf Glas stürzt mein Petersburger Nachbar herunter, so daß ich mich end
lich auch dem allgemeinen Geschmack füge und den Kellner um ein GlaS
bitte.
Er versteht meine deutsche Anrede und ich finde, daß man auf
den Bahnstationen in Rußland allgemein besseren Thee trinkt als in den
Gasthöfen ersten Ranges in Deutschland — die erste angenehme Bemer kung diesseits der Grenze, die ich machte.
Mit Theetrinken vergingen
301
Reiseeindrücke auS Samogitien.
dann die noch übrigen dreiviertel Stunden, und nun setzte ich mich in die Ecke eines Wagens erster Klasse, froh, daß es endlich weiter ging.
Ich wußte, daß eS nicht gerathen ist, in Rußland zweiter Klasse zu fahren, wegen der Unreinlichkeit sowohl des dort fahrenden Publikums, als auch der Bahnbeamten, welche nicht darauf halten, daß die Wagen sorgfältig gesäubert werden.
Ich mußte schon als „anständiges Publikum" in die
Etwa eine Viertelstunde nach der festgesetzten Zeit setzte sich
erste Klasse.
der Zug in Bewegung.
Kaum aber rührt sich die Wagenreihe, so erhob
sich draußen im zuschauenden Publikum allgemeines Geschrei.
Wie ich
hinauSblicke, hängt ein Mensch unter dem Tritt eines Wagens und wird
fortgeschleift: er hatte in den bereits sich bewegenden Zug hineinspringen wollen, den Tritt verfehlt und war unter denselben gefallen. Gensdarmen-
offiziere und andere Beamte hatten das ruhig geschehen lassen und liefen
nun schreiend der Lokomotive nach. der Grenze, und daS
Also kaum ein Hundert Schritte von
erste Unglück war passirt, zum Glück ohne böse
Folgen für den Bedrohten.
Dann ging es Weiler.
Die Wagen sind
schön, wenn auch schlecht unterhalten, schon die größere Breite fällt ange
nehm auf.
Wir sind ja auf dem breitspurigen Bahnsystcm, wiederum
dem einzigen seiner Art in der Welt.
Was auch die Gründe gewesen
sein mögen, welche Kaiser Nicolaus veranlaßten, seine Bahnen um einen
Fuß breiter als die übrige Welt eS thut anzulegen, ich kann nicht leug nen, daß ich wünschte, die übrige Welt hätte dasselbe gethan.
Der Un
sinn Rußlands liegt nur in der Nichtübereinstimmung des Bahngeleises
mit demjenigen Europa's; der Vortheil und die Bequemlichkeit deS brei teren Geleises scheint mir aber klar zu liegen:
ohne große Mehrkosten
bedeutend größere Transportfähigkeit, Bequemlichkeit für den Personen wagen und
Sicherheit gegen Entgleisung.
Aber
die Hauptsache ist,
daß der russische Wagen an der Grenze stehen zu bleiben gezwungen ist, daß durch die Nothwendigkeit des Umladens der Wagenverkehr bedeutend vertheucrt und erschwert wird und Rußland wieder, wie in so Vielem,
sein
national
Eigenes
hat
ohne
Nutzen,
aber
um
theuren
Preis.
Man sagt, unter Nikolaus, als die ersten Bahnen gebaut werden sollten, wurde das vierfüßige Geleise beschlossen, damit die Preußen oder Oester
reicher nicht plötzlich mit ihren Wagen nach Rußland htneinfahren könnten: strategische Gründe der Defensive sollen dahinter stecken. zusammenhängt.
Gott weiß, wie'S
Jedenfalls hat Rußland heutzutage deshalb nun bereits
dreierlei verschiedene Geleise, nämlich fünf-, vier- und dreifüßigeS, letzte res auf einigen Grenzbahnen in Polen, links der Weichsel. —
Je weiter man sich von der Grenze entfernt, um so mehr unbebau tes Land, wilde Weiden und schlechte Wälder werden bemerkbar.
Anfangs
Reiseeindrücke aus Samogitien.
302
flach geht der Boden allmählich in ein von Natur anmuthigeS Hügelland über, das bei Kowno und besonders um Wilna reizende landschaftliche
Bilder gewährt.
Mein Weg führt mich nur bis zur Station Koschedari,
dem Kreuzungspunkt mit der Libau-Romnh Bahn.
Hier das zweite Un
glück: der Romnyer Zug hatte nicht über eine vom Regenwasser unter waschene Stelle des Dammes hinwegkommen können und man erklärte auf meine Frage, wann wir denn weiter fahren würden: das könne wohl ein zehn Stunden oder länger dauern.
Dabei keinerlei Ueberrafchung im
Publikum, keinerlei Aufregung im Bahnpersonal zu bemerken, als fei das so nichts Außerordentliches.
Und als nun die zehn Stunden mit Thee
trinken und den Versuchen das schlechte Essen zu genießen verflossen waren, begann das Bummeln von Station zu Station, kaum 20 Kilometer die
Stunde, und dazu
überall unendlicher Aufenthalt auf den Stationen.
Wahrlich der treffliche Wallace hat in seinem Buche über Rußland Recht': wenn in Rußland Zeit Geld wäre, so wären die Russen ungeheuer reich, denn Zeit haben sie stets in Menge.
Ich war froh, als ich endlich die
Bahn verlassen konnte.
Alles hier zu Lande trägt den Stempel des Gehenlassens, der Träg heit, der Langsamkeit, mit einem Wort der Schlaffheit, Charakterlosigkeit.
Sieht man den Bauer hinter seiner kleinen, zottigen Mähre sich her schleppen, die den winzigsten Hakenpflug hinter sich mit halb geschlossenen Augen herzerrt, sieht man den Beamten unsauber und gähnend in seine
Akten hineinstieren, den Offizier nachlässig durch die Straßen einer klei
nen Stadt schlendern, so fühlt man fröstelnd die Leere dieses DahinlebenS und die Leblosigkeit dieser Gesellschaft.
Ich rede von diesen ehemals pol
nischen Landestheilen, die staatlich unter dem Mamen „nordwestliches Ge
biet" zusammengefaßt werden.
Freilich hat man sich hier immer dessen
zu erinnern, daß eS ein Land ist, welches bis heute den Kampfplatz der staatlichen und nationalen Gewalten darbietet, welches seit 16 Jahren die
Folgen einer thörichten Revolution zu tragen hat.
Aber trotzdem ist der
Kulturzustand des Ganzen ein höherer als er vor der Revolution war,
und der alleinige Grund hiervon ist die Befreiung des Bauernstandes, welche damals decretirt wurde.
Nichtsdestoweniger diese Barbarei, diese
armseligen Verhältnisse, dieser Mangel aller staatlichen oder volklichen
Kraft, Elasticität.
Der Staat hat 1864 seine Herrschaft wieder herge
stellt; aber eben nur die Herrschaft der Gewalt, die fesselt, nicht belebt.
Und der bis dahin führende, wenn auch sehr wenig belebende Adel ist damals gebrochen worden, ohne daß an seine Stelle etwas Anderes ge
treten wäre, eine andere Klaffe, welche die Massen zur Entwickelung der
bürgerlichen Thatkraft führen könnte.
303
Reiseeindrücke ans Samogitien.
Aeußerlich betrachtet, vom Gesichtspunkt welch gesegnetes Land!
der Volkswirthschaft
aus,
Weder die dürren Sandflächen, wie zwischen Dir-
schau und Berlin, noch die ununterbrochenen schlechten Wälder und Moore wie zwischen PleSkau und Petersburg.
Meist ebener, fruchtbarer Boden,
von Bächen und Flüssen durchschnitten, humusreicher Lehm mit durch
gehendem Untergründe von Thonmergel;
Diluvial- und Alluvialboden
Was die Natur hier gab,
mit geringen Inseln jurassischer Formation.
ist gut, man könnte glückliche Zustände darauf erbauen.
elendes, im Ganzen armes Land.
Und doch ein
Denn Alles, was Menschenkraft er
fordert, ist elend bedient, die schönen Gaben der Natur werden nichts würdig verwaltet. Dieses litthauische Volk, wie ist ihm die Mißwirthschaft früherer
Vor Zeiten waren es die
Zeiten noch jetzt auf die Stirn geschrieben!
Polen, welche diesen Stamm knechteten und verdarben, es war eine Heerde
von Sclaven, die für den Polen arbeiten mußten; und seit der Pole vor
fünfzehn Jahren von der Herrschaft gestoßen wurde, ist das.Volk sich selbst, seinen katholischen Pfaffen und russischen Beamten überlassen.
drei schlechte Lehrmeister.
Das sind
Sich selbst überlassen in der Gemeindeverwal
tung und bäuerlichen Justiz, ohne Führung in dem Gewerbe, dem Acker bau, ohne alle Schule und sonstige Bildung, direct aus der viehischen
Sklaverei der Leibeigenschaft im Jahr 1864 hinausgestoßen in die Frei heit und Selbständigkeit — wo wollte das Volk da in sich die Kräfte
finden zu raschem Erwachsen?
gesegnet wie sein Land.
Der Stamm ist gut, die Natur hat ihn
Man braucht nur hinüberzublicken nach dem
litthauischen Preußen, um zu sehen was für ein kerniger, tüchtiger Acker bauer der Litthauer unter guter Leitung wird.
Arbeiter gesucht,
der Soldat gern gesehen
treue und fleißige Leute.
im
Dort ist der litthauische Heere,
großgewachsene,
Diese Eigenschaften findet man im Keim, in
der Anlage auch hüben bei dem russischen Litthauer wieder;
Wildling Kultur,
aber
der
ist unveredelt, kärglich und wild gewuchert, ohne Kraft und und darum mit geringer Frucht.
Und doch macht
das Leben
dieses armseligen Bauern so ziemlich die Summe der Sorge der Staats regierung aus,
doch liegt hier der Kern der Geschichte dieser sechszehn
Jahre umschlossen und der Keim für die Zukunft des Landes.
Sonderbar genug ist eS diesem „shamaitischen" oder Bauern in dieser Zeit ergangen.
samogitischen
Als die Revolution niedergetreten
worden war, an welcher der Bauer keinen Antheil nahm, vielmehr oft
sich gegen dieselbe erhob, da sollte er eilte Waffe der Staatsregierung
gegen das Polenthum werden.
Man erklärte die Polen für fremde Ein
dringlinge in dieses vorgeblich alt-russische Land, sagte dem Shamaiten,
Reiseeindrücke aus Samogitien.
304
er sei ein naher Blutsverwandter des Russen und der eigentliche Eigen thümer deS Landes.
Der Pole müsse hinausgetrieben werden.
Was das
Eigenthum am Lande betrifft, so predigte man offenen Ohren, und als nun die Landablösung kam, forderte der Bauer mit vollem Munde nur
immer Land, mehr Land und weniger Zahlungen.
Etwas Rache am
Polen spielte ja wohl auch mit, so gut als während der Revolution so
mancher Pole die drohenden Fäuste deS Bauern sah und fühlte.
Aber
Habsucht war doch die Haupttriebfeder, ein Sporn, der das größte Mit gefühl bei den Vertretern des Staates fand, welche über die Dinge die Gewalt hatten.
Denn es hatte sich gleich nach der Niederwerfung des
Aufstandes ein Heer, besser eine Heerde von solchen Staatsvertretern
über'S Land ergossen, der alle Arten und Formen der Habsucht durchaus
verständlich waren.
Eine Heerde von Spitzbuben war in diese Gebiete
eingebrochen, die nur zwei Ziele kannten: den Polen durch den Litthauer
umzubringen und sich dabei zu bereichern.
Man konnte daS dem Staate
nicht einmal so sehr verargen, denn dieser Staat konnte kaum anders
handeln.
Um die Erhebung zu ersticken, die Polen zu knebeln, mußte
das polnische Beamtenthum beseitigt werden. Im Jahre 1831, nach dem damaligen Aufstande der Polen, war ein kaiserlicher Befehl erlassen worden, in welchem vorgeschrieben wurde, daß
die biöhin ganz in polnischen Händen ruhende Verwaltung dieses lit«
thauischen Landes nach Möglichkeit an Beamte russischer Herkunft und russischen Glaubens übertragen werden sollte.
Namentlich sollten folgende
Posten von Russen besetzt werden: die Gouverneure, Vicegouverneure, die Glieder der Gouvernementsbehörden, die Kreisfiskale, die Postämter. Zu
gleich sollten die in Litthauen dienenden Polen in die großrussischen Gou
vernements versetzt werden.
Endlich
wurde in diesem geheimen Befehl
verordnet, daß kein Pole, er sei denn russischer Confession, in Litthauen anders angestellt werden solle, als wenn er vorher zehn Jahre in groß
russischen Gubernien gedient oder im Kriegsdienst als Officier gestanden habe.
Unbedingt aber sollten von Russen eingenommen werden die land
schaftlichen, städtischen und domanialen Aemter.
Nun erwies sich aber
bald, daß dieser Befehl auf die Dauer nicht ausführbar war.
Denn die
eifrigen russischen Patrioten begannen bald zu klagen, daß daS russische
Beamtenthum, welches jenem Befehl gemäß gewaltsam eingeführt wurde, sich nicht halten könne und von den Polen
verdrängt werde.
Joseph,
russischer Metropolit von Litthauen, klagt in einem geheimen Schreiben vom 10. Januar 1855 dem Oberprocureur des SynodS Grafen Protassow die Noth der Ruffen in seiner Eparchie:
trotz deS kaiserlichen Befehle-
werden die Russen überall von den Polen verdrängt, das russisch-orthodoxe
Reiseeiilbrücke aus Samogitien.
305
Landvolk gerathe immer mehr in die Gewalt der „Andersgläubigen", die Aemter seien zu neun Zehnteln in den Händen der Katholiken, von 141
obersten Justizämtern seien blos zehn durch Russen besetzt u. s. f.
„lateinisch-polnische Partei" sei stets im Wachsen.
Die
Es scheint, daß be
sonders die russische Geistlichkeit den Kampf gegen diese Partei begann; denn auch Philaret, Metropolit von Moskau, erhob seine Stimme.
Aber
offenbar vergeblich, denn die Erhebung von 1863 fand die Sachen in dem
von dem Metropoliten Joseph geschilderten Zustande: das Beamtenthum
des sogenannten „westlichen Gebiets" war ebenso polnisch, als im König reich Polen selbst.
Die Erhebung von 1863 gab den Anstoß zu neuen Anstrengungen
im Sinne der Befestigung der russischen Verwaltung.
Und man griff
zu demselben Mittel als vorher, man führte den Befehl von 1831 aus, nur rücksichtsloser,
entschiedener, gewaltsamer als
früher.
Die Polen
wurden in Massen von den Aemtern vertrieben, Russen traten ein. man konnte sofort die Beobachtung machen,
Aber
daß auch die rücksichtslose
Gewalt nicht im Stande war, das Gewollte zu vollbringen.
Die gesetz
lichen und praktischen Verhältnisse des Landes waren so verschieden von den russischen, daß auch ein tüchtiger russischer Beamter außer Stande
war, ohne Weiteres seine Obliegenheiten zu leisten.
Die gebildeteren
höheren Würdenträger konnten dort, wo sie unmittelbar den entstehenden Wirrwarr sehen mußten, nicht umhin, nach Abhülfe zu suchen, und die einzige Hülfe fanden sie in den gesetzes- und landeskundigen Polen.
Sie
konnten es nicht ertragen, notorische Spitzbuben in ihren Kanzleien zu dulden, während ehrliche Polen weit eher und zahlreicher für die niederen
Kanzelleistellen zu finden waren, als Russen.
So fand man denn bald
nach dem Aufstande in den Oberbehörden folgende Zusammensetzung: die
obere Schicht der leitenden, repräsentirenden, unterzeichnenden Beamten
war russisch; die untere der Schreiber, Kanzellisten, niederen Secretäre war polnisch.
Und da die letzteren Sachkenntniß besaßen, die ersteren
Neulinge waren, so wurden die Geschäfte im Grunde doch wieder von Das war an den oberen Behörden, wo Russen von Bil dung und Ehrlichkeit Einfluß hatten und nothgedrungen offene Ohren für
Polen besorgt.
den Gang der Geschäfte haben mußten.
Anders war es dort, wo niedere
Beamte oder Offiziere die Verwaltungspeitsche schwangen.
Was küm
merte sich der Kreis-Militär-Chef oder der Vorsitzende einer Kreisbehörde,
der selbst mit Bestechung und Trinkgelagen sich „ausgedient" hatte, darum,
wie es in seiner Behörde oder im Kreise zuging!
Die Hauptsache war:
dem Polen das Maul stopfen und berichten können, daß Alles ruhig sei.
Dort also wurde ohne Umstände mit dem Polenthum aufgeräumt. Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1. Heft 3.
22
Es
Reiseeindrücke ans Samogitien.
306
fehlte damals in Litthauen ohnehin nicht an Behörden und zu besetzenden
Aemtern.
Nun aber traten noch neue hinzu, indem nicht nur die Revo
lution allerlei außerordentliche Ansprüche
an die Verwaltung
hervorge
rufen hatte, sondern außerdem in diese Zeit auch noch die gewaltige Auf gabe fiel, die decretirte Befreiung und Landablösung der Bauern zu voll
ziehen. Wo sollte nun Rußland, das für seine eigenen Provinzen weitaus nicht die nöthige Zahl guter Beamten besaß, noch welche erübrigen für die vielen tausend leer gewordenen Stellen in Litthauen?
Zudem wollte
der bessere russische Beamte nicht in diese Mördergrube gehen, wo er
verpflichtet wurde, mit kaltem Blut einen ganzen Stamm und gerade die gebildete Volksklasse zu quälen.
Also kam eS, daß der Auswurf des
russischen Beamtenthums hieher geworfen wurde, und das will waS sagen!
ES kam vor, daß ganze Wagenladungen mit hierher beorderten Beamten schon vor der Ankunft am Bestimmungsort, auf der Reise, so arg ge
stohlen und sich sonst so schlecht aufgeführt hatten, daß sie unausgepackt zurückgesandt werden mußten an ihre heimathliche Strafbehörde.
Die
klügeren unter ihnen aber warteten ab, bis sie erst in ihren Aemtern fest
saßen. Die erste Arbeit war, den Polen und sonstigen Gutsbesitzern daS Land für die Bauern abzunehmen. Natürlich waren dabei keinerlei Nor
men der Volks- oder Landwirthschaft maßgebend, und da vorschriftsmäßig der Pole hart behandelt werden sollte, so bereicherte man sich vorzugs weise dadurch, daß man vom Bauern sich für übermäßige Landzutheilung, unberechtigte Plünderungen der Gutsherrn, bezahlen ließ.
that noch das ©einige dazu,
indem er diese Beamten
Der Staat
mit confiszirten
Gütern freigebig beschenkte, in der Meinung, auf diese Weise ein Stück
russischen Grundbesitzes zu schaffen. DaS war damals eine tolle Wirthschaft.
Nicht nur, daß durch die
Entfernung aller polnischen Beamten aus den alten Behörden plötzlich
das
Bedürfniß nach
Besetzung dieser Stellen durch Russen beftiedigt
werden mußte, eS kamen noch die neuen Behörden hinzu, welche durch die Einführung der befreienden bäuerlichen Institutionen von 1861 in's
Leben traten.
Nicht nur, daß die gesammte Verwaltung plötzlich russisch
werden sollte in Gericht und Polizei, Militärwesen und Finanzwesen, im Ressort der Domänen und des Unterrichts, so wurden auch die sämmt lichen Schulen der unteren wie oberen Kategorien geschlossen und sollten
durch russische ersetzt werden.
Man ging so weit, nicht blos die polnischen,
sondern auch die lutherischen und reformirten Volksschulen zu vernichten, welche in litthauischer, lettischer, deutscher Sprache lehrend sich unter Füh
rung der betreffenden Geistlichkeit und Gutsbesitzer entwickelt hatten; man
Reiseeindrücke auS Samogitien.
307
bedrängte ebenso das jüdische Schulwesen, welches in den zahlreichen jü
dischen Ortschaften, wenn auch in dürftigster Form, bestand.
Und alles
Dies sollte nun durch russische Lehranstalten ersetzt werden in einer Zeit,
wir in Rußland selbst etwa 3 Prozent der Bevölkerung des Lesens kundig war, wo in Rußland man stolz zu sein pflegte, wenn man in seiner Ge meinde eine Dorfschule überhaupt hatte und dieselbe mit einem ausge dienten Unteroffizier als Pädagogen ausgerüstet war.
Natürlich wurde es
mit dem Ersetzen nichts und man ließ es meist bei der bloßen Aufhebung
des bisherigen Bolksunterrichts bewenden.
Den einzigen Ersatz hat man
dann später allmählich dem Lande geboten in der Errichtung
einzelner
GemeindcbezirkSschulen, die hier und da verstreut einem geringen Bruch
theil der Bevölkerung zugänglich sind.
Der Verordnung nach soll jeder
Gcmeindcbezirk eine solche Schule haben, d. h. auf 10000 bis 30000 Seele«
eine Schule kommen.
Wo die Verordnung erfüllt wurde, da hätte also
doch der Einzelne es oft schwer, die Schule zu benutze», die auf mehrere Meilen von ihm entfernt liegt.
So ist
es natürlich, daß der Stand
der Bildung gegen früher zurückgegangcn ist, und zwar nicht blos im
Bauernvolk, sondern auch in den höheren Klassen.
Der tiefe Sturz der
katholischen Kirche mit ihren einstigen zahlreichen Lehranstalten hat auch
hier sich fühlbar gemacht:
standen diese ehemalige» polnisch-katholische»
kirchlichen Anstalten auch nicht gerade auf der Höhe der Zeit, so beher bergten sie doch viele Tausende von Schülern. Wie in dem Unterrichtswesen, so war in allen andern Zweigen des
öffentlichen Lebens die erste Wirkung des neuen Systems nach der Revo lution die tollste Verwirrung, Auflösung, Zerstörung.
Der Bauer wurde
vom Beamten gefressen und suchte sich am Edelmann schadlos zu halten, der, sofern er Pole oder Katholik war, jahrelang die Stellung eines
Proscribirten
einnahm, sich
trotz Mißwirthschaft und Schädigung still
halten mußte, wollte er nicht riskiren, vom nächsten Militärchef bei den
Ohren gekriegt und vielleicht plötzlich nach dem fernen Osten abgeführt zu werden.
Die Coalition der Beamten und der Bauern herrschte.
Und
nur sehr allmählich hat sich die Art von Anarchie, welche natürlich aus dieser Herrschaft hervorging, in einigermaßen geordnetere Zustände um
gesetzt.
Denn die tiefe Demoralisation, welche
durch die systematische
Polenhetze herbeigefühpt worden war, wirkte lange nach.
Jahre hindurch
mußte der Pole sich drücken und winden, sobald ein Russe, ein elender
kleiner roher Unterbeamter, in der Nähe war, um nicht von ihm grob
insultirt zu werden, ohne dagegen etwas thun zu können; jahrelang durfte der Pole,
auch wenn er nichts als seine Muttersprache verstand, nicht
wagen auf der Straße oder an öffentlichen Orten polnisch zu sprechen;
22*
308
Reiseeindrücke aus Samogitien.
jahrelang gab es kaum ein Recht außer demjenigen des Beamtentums
und des litthauischen Bauern.
Die empörendsten und die lächerlichsten
Geschichten aus jener Zeit kann man sich heute überall erzählen lassen. Und dabei kam eS doch vor, daß selbst der von Petersburg aus gehät
In
schelte Bauer zur Verzweiflung getrieben wurde.
der
Nähe der
preußischen Grenze wurde eS damals fast üblich, daß man in der äußer sten Noth sein Recht jenseits, in Preußen suchte:
man ging nach Tilsit
oder in einen anderen Grenzort und schickte von dort eine Bittschrift an
den König nach Berlin, später auch an den mächtigen BiSmarck.
oft mit Erfolg.
Und
So ist mir ein Fall bekannt, wo eine Bauergemeinde
von ihrem Friedensvermittler, der
sie gegen Gutsbesitzer und andere
Feinde schützen sollte und daS auch that, selbst mit Mißachtung jeglichen
privaten Rechts, so gebrandschatzt und mißhandelt wurde, daß sie endlich eine Petition an Herrn von BiSmarck schickte.
Der übersandte sie durch
den Botschafter in Petersburg dem russischen auswärtigen Minister, von
dort ging sie an die gehörigen Behörden und die Folge war, daß jener
Beamte entlassen wurde.
Er setzte sich freilich dann auf das Gut, welches
der Staat ihm so gut wie geschenkt hatte. — So wüthete in dem ver
wüsteten Lande eine Schaar von gewissenlosen Leuten, die keinerlei In teresse kannten, als ihre Tasche und die Gunst der Vorgesetzten.
Erst
ganz allmählich und besonders seit die niedere Justiz in die Hände des neuen Instituts der Friedensrichter überging,
Pahlen sich besonders
angelegen sein
als der
Minister Graf
ließ, für gute Besetzung
dieser
Posten zu sorgen, begannen wieder die Anfänge rechtlichen Zustandes
sich zu gründen.
Und mit der Mehrung der Sicherheit von Recht, von
Eigenthum und Person, fing dann auch die wirthschaftliche Noth sich zu
mildern an, die natürlich während jener Anarchie geherrscht hatte. Einige Jahre guter Ernten kamen hinzu, um dem Lande den Anstoß zu dem
raschen Forlschreiten zu geben, in welchem eS sich eben befindet.
Denn
wie traurig und öde es hier auch etwa dem Rheinländer erscheinen würde,
so bemerkt der kundigere Beobachter doch leicht überall das Erwachen der Bevölkerung auS langem Schlafe. Es ist ein Grenzland der Staaten und der Nationen, und mit dem
Unfertigen, welches der alte politische Streit um dieses Gebiet ihm auf gedrückt hat, verbindet sich der Wirrwarr, welcher die Folge einer man gelnden nationalen Einheitlichkeit zu sein pflegt.
Hier haben Deutsche
(als Ordensstaat), Polen und Russen abwechselnd geherrscht, kein Stamm aber hat die nationale Energie gehabt das litthauische und jüdische niedere
Volk sich national zu unterwerfen,
zu
verschmelzen.
Wer hier wohnt
müßte mindesten- dreier Sprachen einigermaßen mächtig sein, des offiziellen
309
Reiseeindrücke aus Samogitien.
Russisch, deS bäuerlichen Litthauisch und der deutschen Handelssprache des Juden.
Da aber fast Jedermann hier mehrere Sprachen, der Jude ge
wöhnlich alle drei und das Polnische dazu versteht, so mag man sich auch
durch Dolmetscher nöthigenfallS jahrelang ganz gut durchhelfen.
Man
braucht blos aus dem Eisenbahnwagen auf irgend einer Station hinauSzutreten um die Sprachenverwirrung zu erproben.
Ich verließ auf einer
Nebenstation die Bahn und trug einem Schaffner auf, mein Gepäck her beizuschaffen da ich landeinwärts zu fahren gedächte.
Diese Erklärung
war den gespitzten Ohren einer Schaar jüdischer und anderer Fuhrleute
nicht entschlüpft, worauf dann von allen Seiten Angebote von Wagen er
schollen.
„Lieber Herr, lieber Herr! — schrieen vier bis fünf Juden —
ich hob' a schiene Por Färd"; werd' ganz billig hinführen".
„wo wollen der Herr hinfohren?
Ich
„Panie, panie!" — tönte es dorther in
polnischer, anderswoher in litthauischer Rede, bis ich mich zu einem der jüdischen Rosselenker entschloß und mein Gepäck ihm übergab.
Bald eilte
der federloseste und schmuckloseste aller Wagen mit zwei kleinen, aber wohl
genährten Thieren davor auf der breiten Straße rasch dahin.
ES war
ein thautger FrühlingSmorgen, und welches Land erschiene in dieser Fär bung nicht lieblich?
Jede gesunde Bauerdirne hat mit 18 Jahren ihre
Zett deS Hübschseins, so häßlich sie ein paar Jahre später auch werden
mag, und auch die öde Haide zeigt Reize im Mai um sechs Uhr Morgens. So labte ich mich an den weiten grünen Wiesen, die oft von Bächen
durchzogen waren, an dem frischen Laub der Birken, Tannen, Eichen, Eschen, Ahorn und Erlen, an den Saaten und den Heerden, welche auf
weiten öden Buschflächen grasten.
Der Weg war zum Theil durch Kies
schüttungen gut in Stand gehalten, zum Theil freilich auch in fast un fahrbarem Zustande, je nachdem — so erklärte mein Fuhrmann — ob
der Friedensrichter an wollte oder nicht.
einem Orte einmal etwas für die Wege thun
Denn der Friedensrichter ist hier wohl die gefürchtetste
und mächtigste Person im Kreisbezirk, und da es kaum einem Sterblichen
hier zu Lande widerfährt, daß
er sein Leben beschlösse ohne vor die
Schranken dieses Mächtigen zu kommen, so vermag ein derber Wink des Richters auch die Wege zu bessern, obwohl ihn das eigentlich nichts an
geht.
Das Bäuerlein, dem diese Arbeit obliegt, ist gewöhnt den Polizei
mann, der die Aufsicht zu führen hat, mit etwas Korn oder Heu zu ge
winnen, daß eS von der Arbeit loskommt, und die jüdischen Stadt- und
Dorfgemeinden verstehen das erst recht; beide aber wissen, daß damit beim
Friedensrichter nicht durchzukommen ist,
und so sucht denn wenigstens
manche Bauergemeinde die Gunst deS Richters mit Wegerepariren zu ge
winnen, so lange eS eben nicht anders geht und der Richter diesen Weg
310
Reiseeindrücke aus Samogitien.
grade benutzt.um zur.Bahn- oder sonst wohin zu gelangen. wenig Jahren war es anders.
Noch vor
Da gab es kaum einen Beamten im
Lande, der nicht mit Vergnügen ein paar Rubel dafür genommen hätte, daß er die Bauern mit Wegebau ungeschoren ließ, ittib da war es denn
dahin gekommen, daß man kaum mehr von Wegen reden konnte.
Auch
war das Land damals, Adel wie Bauer, so herabgekommen, daß selbst
diese nothwendige öffentliche Last schwer wäre empfunden worden, wenn man sie gewaltsam hätte ins Leben treten lassen.
Jetzt ist der Bauer
wohlhabend genug, um diese Last so leicht zu tragen als die anderen. Denn die Hauptlast, welche auf ihm ruht, die Bezahlung der Zinsen und
Kapitaltilgung für die Ablösung seines Grundstückes, ist nicht drückend,
weil die Ablösung zu billigen Bedingungen vor sich gegangen ist.
Aber
jenes System äußerster staatlicher Zuvorkommenheit gegen den Bauern zum Zweck seiner Gewinnung für politische Eventualitäten hindert hier wie anderwärts vielfach die Erfüllung der bäuerlichen Verpflichtung.
In etwa zwei Stunden hatte ich eines der vielen kleinen Judennester erreicht, die hier überall umherliegen, eine Sammlung von Schmuzhaufen. Alle Wohnungen stets im Verfall begriffen, ich glaube fast, sie werden
schon
in diesem Zustande
erbaut.
Einige Schenken,
eine katholische,
hölzerne, in den größeren Ortschaften auch ansehnliche steinerne Kirche, selten eine gepflasterte Straße, stets ein Marktplatz.
Ich eilte aus diesem
Unrath fort zu kommen, dieseSmal nicht mehr mit jüdischem, sondern mit
litthauischem Gefährt, dem allerursprüngltchsten aller Postkarren, den ich von der örtlichen Gemeindepost gemiethet hatte.
Die Unterhaltung mit
meinem Kutscher war jetzt schwierig da er nur wenig Worte Deutsch — von seinem jüdischen Herrn, dem Posthalter erlernt — und etwas Russisch
außer seiner Muttersprache verstand.
So war ich auf die Beobachtung
der Gegend und eigene Betrachtungen beschränkt.
Und trotz Heller Sonne,
frischem Grün und Vogelsang beschlich mich eine gewisse Niedergeschlagen
heit, wie sie wohl in der Wüste in höherem Maße den Wanderer erfassen mag.
Diese Eintönigkeit der Landschaft bedrückte mich: wenig Elend in
der Natur, aber auch sehr wenig Ueppigkeit; kräftiger Waldtrieb, aber
nirgend guter Wald; schönes Wiesenland, aber selten gute Wiesen; reicher
Kornboden, aber mittelmäßiges, oft schlechtes Korn.
Vergebens meint
man, auf diesem reichen Boden müßten sich üppige, stolze Herrensitze er heben, von den einst so mächtigen polnischen Magnaten erbaut; vergebens
späht man stundenlang näch'den rothen Dächern, gepflegten Gärten, sauberen
Umzäunungen eines EdelhofeS, denn überall strecken sich die grauen Stroh
oder Schindeldächer der Edelhöfe lang hin, oft nicht einmal von dem üb
lichen kärglichen Gartengeviert geschmückt, dessen Seiten von Linden ringe-
Reiseeindrücke aus Samogitien.
faßt sind.
311
Man jauchzt auf wenn man nach sechsstündiger Fahrt an dem
Hofe eines polnischen Millionärs oder gar eines deutschen Edelmannes
voriiberkommt,
die etwas für das Aussehen ihres Wohnsitzes, für die
höhere Kultur ihrer Felder haben draufgehen lassen.
Dabei die endlosen
öden Flächen, mit Wacholder dünn überwuchert, ost den herrlichsten Acker
boden bergend, aber das Bild der Unkultur darbietend: es sind die gemeinen Weidetriften der Bauern, dank dein russischen Ablösungsgesetz von 1861. Meine anfangs fröhliche Stimnumg schwand unter diesen Eindrücken mehr und mehr und ich ward nur vorübergehend aus ihr erweckt, wenn die
Schaar zottiger Hunde, welche schon lange unserer Ankunft an der Pforte
des Bauerhofes oder Herrenhofes mit Spannung entgegengelauert, mit
wüthendem Gebell hervorstürzte,
oder wenn mein schweigsamer grauer
Kutscher bei einem besonders achtunggebietenden Heiligenbilde, an dem wir vorüberfuhren, die Mütze ein wenig lüftete.
Woran er eigentlich die
besondere Heiligkeit grade dieses Bildnisses erkannte, während er Dutzende
von Kreuzen und Gebilden, die ähnlich aussahen, unbeachtet ließ, ward
mir nicht recht klar.
Ich glaubte erst, dieser hölzerne, roth angestrichene
St. Georg, der einst, als er noch seinen Speer hatte, wohl den blauen Lindwurm da durchbohrte, sei sein höchsteigener Schutzpatron; oder jenes
fast menschenähnliche Bildwerk, das rings von Symbolen des Landbaues umgeben ist, könne seinem Acker Segen bringen; bis ich sah daß ein an derer St. Georg ihn völlig gleichgiltig ließ und nach vielem Fragen er
fuhr, daß er zu jener Klasse von Bauern gehöre, welche blos etwa zwölf Morgen Land erhalten haben, daher sein Brod auf andere Weise erwerben
müsse.
Zwölf Morgen Land, dachte ich, und dabei Gemeiitde-Postkerl mit
höchstens
100 Rubel jährlichen Verdienstes!
Und diese Erwägungen
konnten meine trüben Betrachtungen nur nähren, die immer wieder darauf
hinausliefen: wie schön Alles was die Natur hier schuf, und wie schlecht
Alles was der Mensch gethan! Die leitenden Autoritäten der Bauern sind hier der Beamte und der Pfaffe, nächst denen als einflußreiche Person der Jude steht.
Der Beamte steht natürlich zuoberst in der Würdenreihe.
Die
ganze Vergangenheit des Landes hat den äußern ServiliSmus gegen Staat und Beamtenthum groß gezogen, und nicht bloß beim Bauern.
Eines
Tages wohnte ich der Eröffnung einer jüdischen Schule bei, welche vor längst als hebräisch
talmudische Schule von der Regierung geschlossen
und nun als jüdische Schule mit russischer Unterrichtssprache auf höheren
Befehl wieder errichtet worden war.
Pflichtmäßig hatte man zum Ein
weihungsact die Autoritäten des Städtchens, darin die Schule lag, ein
geladen.
Der Vorsteher und die beiden Lehrer, jüdischer Herkunft und in
Reiseeindrücke aus Samogitien.
312
der blauen Uniform des Ressorts der „Volksaufklärung", erfüllten die
Pflichten der Wirthe und der sehr getreuen Unterthanen Se. Majestät
mit einer außerordentlichen Leidenschaft. Nationalhymne, in russischer
Natürlich begann man mit der
Sprache von den Schülern vorgetragen.
Nach einigen weihevollen Ceremonieen der Eröffnung schloß man wieder
mit jener Hymne.
Nun ward den Ehrengästen Champagner (elendester
Fälschung natürlich) gereicht, worauf denn dieser oder jener Würdenträger
des Ortes ein paar Worte vorbrachte, einen Toast auf den Zaren vor Allem.
Der Vorsteher hörte kaum das Wort Zar aussprechen als er
mit heftigen Gebärden nach dem Nebenzimmer hin schrie: „man gebe die Hymne!" und der Schülerchor in daö „Boshe Zarä chrani“ ausbrach. Ein anderer Toast, auf die Schule, folgte, und noch war der Redner nicht
am Schluß als der Director auch schon mit beiden Armen nach jenem staatstreuen Zimmer hin winkte und dann wieder schrie: „man gebe Boshe
Zarä chrani!" (die Anfangsworte der Hymne, welche bedeuten „Gott schütze den Zaren" und als Bezeichnung für die Hymne gebraucht werden).
Ein dritter und vierter Toast folgten, der Director aber ward nur um so leidenschaftlicher in der Gier nach dem „Boshe Zarä chrani“, welches
zur Antwort diente auf jegliche Meinungsäußerung des Polizeimannes, des
Friedensrichters, des garnisonirenden Kosakenobersten und anderer accreditirter und usurpatorischer Staatsvertreter.
Die Loyalität dieser Juden
schule und der ganzen Judengemeinde des Ortes sollte nun einmal über
allen Zweifel erhoben werden und trat wirklich mit einer so unwidersteh
lichen Gewalt auf, daß man vor lauter Staatstreue kaum reden konnte. Ich war froh als ich endlich unter den Klängen der Hymne zur Thür
hinauseilen durfte und wurde lange verfolgt von schrecklichen Vorstellungen
der qualvollen Stunden, in denen diese armen Judenjungen in jenem Hause künftig zur Ergebenheit gegen den Zaren erzogen werden würden.
Und sie haben im Grunde nicht so Unrecht:
ist es doch hier die vor
nehmste aller Tugenden, die Ergebenheit gegen Staat, Zar, Büreaukratie,
fast die einzige, deren Abwesenheit durchaus gefahrvoll ist.
Wehe Dem
der den Verdacht auf sich lüde, ihrer zu entbehren: auch ohne Belagerungs
zustand wäre er ein verlorener Mensch und es ist nur ein Glück, daß
man hier zu Lande fern von der Residenz ist; beobachtet.
so wird man weniger
Die wiederholten Revolutionen, die das Polenthum angezettelt
hat, haben ja leider dem Staate ein gewisses Recht zu solcher Gegenwehr
gegeben, ganz abgesehen von dem System, auf welchem das gesummte
Reich ruht.
Nicht blos der überall geschmeidige Jude weiß die Tugend
der Loyalität gegen Zar und Büreaukratie — darin besteht hier ja im Grunde der Staat — stets herauszukehren, sondern auch der Pole ist
Reiseeindrücke aus Samogitien.
Wenn auch
scheinen.
313
oft widerwillig beflissen als guter russischer Patriot zu er
Wenn man ihm auch heute nicht mehr wie vor zehn und fünf
zehn Jahren verbietet seine Muttersprache zu sprechen, so setzt ihn der
Berdacht ein staatlich „Unzuverlässiger" zu sein doch mancherlei Mißlich leiten aus und schneidet ihm jedenfalls die Möglichkeit ab einen öffent
lichen Dienst zu erlangen.
In öffentlichen Dienst zu treten ist aber nach
wie vor hier wie in Rußland das Streben eines Jeden, der sich gesell
schaftlich heraufbringen will.
Und die Staatsregierung hat zu keiner Zeit,
wie ich schon ausführte, die Dienste der Polen entbehren können.
So
dringt denn das Polenthum seit 1864 wieder schrittweise aber sicher in
den Behörden vor und wahren.
Dabei hält
ist nur stets besorgt die loyale Außenseite zn
der Pole aber an seiner Nationalität zähe fest.
Denn es ist ein hohler wenn auch schöner Wahn der Slavistcn, daß das Polenthum in absehbarer Zeit in das Russenthum aufgehen werde.
Russenthum hat national hier
in Litthauen
Boden gefunden als im eigentlichen Polen.
freilich
Das
einen günstigeren
Man hört heutzutage hier
weit häufiger russisch reden als ehedem: die allgemeine Wehrpflicht bringt eben mehr Leute als sonst nach Rußland und wieder zurück mit etwas
angelernter russischer Sprache, und einige Schuten sowie der öffentliche Verkehr in Behörden und anderen öffentlichen Anstalten tragen das Ihre zur Verbreitung der russischen Sprache bei.
Aber das trifft den Litthauer,
nicht den Polen, der im Wesen geblieben ist was er war, während der
Litthauer ohne die Stütze einer eigenen Knltur weit leichter die fremde russische annimmt.
Mit der russischen Einwanderung, die man versucht
hat, ist es nichts, denn die paar russischen Gutsbesitzer, welche seit 1864
hier angesiedelt wurden durch Schenkungen und Unterstützungen, sind bis auf sehr wenige bankerott geworden, haben sonst nicht gedeihen können,
kurz sind verschollen, und die bäuerlichen Kolonieen, die man hierher aus Rußland verpflanzte, sind zum Theil aufgegangen in wandernden Hand
werkern, Bänkelsängern, Strolchen, Pferdedieben und dergleichen, die dann gelegentlich wieder ostwärts zurückdeportirt werden; bestenfalls leben sie ein abgeschlossenes, gegen die Landbevölkerung fremd-feindseligeS Leben.
Langt in einem der kleinen Orte, welche übers Land hin zerstreut
sind und in denen die Verwaltungs- und Justizbehörden ihre Sitze haben, ein neuer Beamter an, so ist daö natürlich ein wichtiges Ereigniß.
Pole
und Jude — die maßgebende Gesellschaft in diesen Orten — geht vorerst scheu und beobachtend um den Mann herum.
aber sehr höflich.
Der Pole ist zurückhaltend,
Wo er dem neuen Machthaber, sei eS auch ein unbe
deutender Unterbeamter, begegnet, weicht er ihm vorsichtig auS; tritt er
zu ihm in amtliche Beziehungen, oder wird er mit ihm sonst bekannt, so
Reiseeindriicke aus Samogiüen.
314
wird das compliztrte polnische Zeremoniell sorgfältig beobachtet, mit tiefem
Bückling, ausgesuchten Schmeicheleien, schwarzem Anzuge nicht gespart.
Die Unterhaltungssprache ist russisch, die Vorgesetzten des Beamten, seine Collegen, besonders der Gouverneur der Provinz werden stark gelobt, öffent liche Dinge alle in dem Geiste der neuesten Nummer des „Negierungs
anzeigers" oder der letzten Aeußerungen, die der Beamte, oder gar der
Gouverneur bei seinem letzten Empfang in der Kreisstadt that, besprochen. Beträgt sich der neue Beamte höflich, so wird er vorläufig hiefür gelobt,
ist er ein hochfahrender Grobian, so schweigt utan oder zuckt höchstens die Achseln. — DaS eigentliche Urtheil über den Ankömmling aber wird von dem Juden gefällt, der sich alsbald an den Neuangekommenen herandrängt,
Dieser hat eine Wohnung zu
mit allen ersinnlichen Diensten natürlich.
vermiethen „a Pracht!"
Jener will Pferde anbringen,
ein Dritter em
pfiehlt sich als der Lieferant des Vorgängers im Amt für irgend welche
Waaren.
Bei wachsender Vertraulichkeit mäkelt dann wohl auch Einer
die eheliche Verbindung
Tochter
den
deS unverheiratheten StaatSdienerS mit einer
des benachbarten Gutsbesitzers.
Beamten
denn bald
kennen.
Und bei Alledem lernt man
Wirft
er
den
Juden
sofort zur
Treppe hinunter oder läßt er sich in ein Gespräch ein, ist er grob gegen
den armen, höflich gegen den reichen Juden, ist er vor 10 Uhr unsichtbar oder schon um 8 in seinem Beruf thätig, giebt er leicht Geld aus oder vergißt er fünf Pfund Zucker im Laden zu bezahlen — daS wird Alles notirt, dann zu Chaser, Dovid, Chaim umhergetragen, dort mit Dem zu sammengethan waS Andere hingebracht, und das Urtheil so schnell und meist scharf, richtig gefällt.
Noch vor wenig Jahren aber war eS ein
verhältnißmäßig günstiges Urtheil wenn es hieß, der neue Beamte sei für
Geld bereit etwas zu leisten.
DaS schlechte Urtheil lautete so, er lasse
sich bezahlen, thue aber nichts dafür.
Jetzt sind die unbestechlichen StaatS-
diener nicht mehr so rar aber doch noch so wenig in der Gewohnheit deS
Volkes, daß sie dann angestaunt und gepriesen werden — besonders wenn sie noch dazu arbeitsam sind.
Da sämmtliche Beamte mit Ausnahme ernannt werden, so ist
es sehr
einiger jüdischen
von der Regierung
selten daß einer
von ihnen tieferes Jntereffe für das Wohl deS Lan
des hat.
verdienen, Carriere machen,den Vorgesetzten und dem
Etwas
Gesetze genügen, schen Beamten.
daS
ist
die
durchgängigeRichtschnur
deSlitthaui-
Und so ist denn die Verwaltung des Landes eine für
europäische Begriffe durchaus ungenügende, schlechte.
ES wäke jedoch
ungerecht wenn man diesen Zustand der Verwaltung vollkommen der Re
gierung zur Last legen wollte.
Die Regierung ist eben außer Stande
etwas für europäische Ansprüche befriedigendes zu leisten.
Dieser Mangel
315
Retseeindrücke aus Samogitien.
ist ein in ganz Rußland allgemeiner und möge durch Folgendes erläutert werden. Auf einem Knotenpunkt der Libauer Bahn besteht seit ihrer Eröff
nung, also seit sechs Jahren, ein dringendes Bedürfniß nach einem Unter kommen für Reisende, welche dort einige Stunden oder auch eine Nacht
verweilen müssen; der Bahnhof hat kein einziges Gastzimmer für längeren
Aufenthalt, einen Gasthof giebt eS nicht.
Seit sechs Jahren fleht man
die Domänenverwalmng an, sie möge Bauplätze auf dem dem FiSkuS gehörigen umliegenden Lande verkaufen oder verpachten. Sechs Jahre gehen
die Verhandlungen, ohne daß die Domänenverwaltung etwa gegen die Er füllung dieser Bitten abgeneigt wäre, aber auch ohne Erfolg.
Die Ver
äußerung von domanialem Lande ist durch die gesetzlichen Formalitäten eine äußerst schwierige, langwierige Prozedur, die Verpachtung zu ErbzinS hat ebenfalls Schwierigkeiten.
Die Sache muß bis in die obersten Instanzen
gehen, und dort mögen ähnliche Gesuche zu Tausenden angehäuft liegen.
Eine Ordnung bei ihrer Erledigung muß eingehalten werden, woraus sich ergiebt, daß auch mit dem besten Willen der Domänenverwaltung zuvör
derst die Gubernien
Gesuche
früheren Datums
erledigt werden,
aus
einigen Dutzenden
anderer
ehe der Reisende auf jener Station der
Libauer Bahn ein Nachtlager findet.
Ein anderes Beispiel:
Etwa fünf
Meilen von jener Libauer Bahn entfernt liegt eine Kreisstadt Telsch, von
7 bis 8000 Einwohnern.
Täglich gehen zwei private jüdische Diligencen
zur Bahn und ebensoviele zurück.
Giebt man einen Brief dem Conducteur
einer derselben ab, so langt er in zwei Tagen an den Adressaten in Berlin
an.
Uebergiebt man dagegen den Brief unvorsichtiger Weise der Reichs
post, so braucht derselbe zehn Tage, um anzukommen.
Weshalb das?
Weil die Postverwaltung in Telsch gar kein Interesse an der Briefbe
förderung hat und weil die Staatspostverwaltung in Petersburg vielleicht kaum eine Ahnung hat, daß eine Postverwaltung von Telsch existirt, viel
weniger, daß der angeführte Mißstand vorhanden ist, und weil, wenn aus Telsch private Gesuche nach Petersburg gerichtet würden, Jahre ver gehen würden, ehe man daran dächte, die Briefe aus Telsch von ihrem
uralten Wege per Landpost ab und auf den neuen Weg der Eisenbahn Hinüberzuletten.
So schleppt sich also der Brief weiter über Tauroggen
wie vor hundert Jahren, obwohl ein Federstrich des Directors der Post
verwaltung genügen würde um ihn um ganze acht Tage rascher in Berlin
ankommen zu lassen. In einem so großen Reiche wie Rußland mit einer centralisirten
Verwaltung können die Interessen aller einzelnen Theile unmöglich ge wahrt werden. Diese Centralisation, die sich über den halben Erdball er-
316
Reiseeindrücke aus Samogitien.
streckt, ist nicht im Stande mehr zu thun, als weitgretfenden Noth
ständen abzuhelfen, starken und im Großen austretenden Bedürfnissen ge
recht zu werden.
Sie kann jedoch nicht die kleinen lokalen Interessen ver
folgen, wenn diese nicht lokal vertreten werden von den Interessenten selbst, was hier nicht geschieht, weil aller lokale Gemeinsinn aus jenen politischen Rücksichten natürlich unterdrückt wird.
So geht es denn auch mit dem lokalen Beamtenthum im Allge meinen.
Der Staat sorgt dafür, daß die betreffenden Aemter und die
zugehörigen Beamten einigermaßen
gesetze vorhanden sind:
nach den Vorschriften der Reichs
wie sie arbeiten, wie weit sie lokal genügen oder
etwa den besonderen Verhältnissen nicht entsprechen, das kümmert den
Staat nur sehr wenig.
Der Staat fordert, daß ihm in seinen Beamten
die allgemeine Autorität gewahrt bleibe, welcher er bedarf, um das Ge
jammte zusammenzuhalten: wie weit die staatliche Autorität durch die persönlichen Eigenschaften des Beamten, durch die persönliche Autorität desselben gestützt wird oder geschädigt, darum kann sich ein Minister kaum
kümmern, der heute ein Dutzend Beamte an die Weichsel, morgen ein anderes Dutzend um eine Hemisphäre östlicher an den Amur zu schicken
hat.
Und das einzige Mittel, um den localen Bedürfnissen vielleicht ge
recht zu werden, das Mittel der Errichtung einer decentralisirten Selbst verwaltung, wagt der Staat aus erklärlichen Gründen bisher nicht zu
ergreifen. arbeiten,
Mit welchen Mitteln der Staat gelegentlich gezwungen ist zu
davon folgendes Beispiel.
Pferdediebstahl und
Vor etlichen Jahren nahmen der
andere Verbrechen außerordentlich
stark überhand.
Um nur etwas dagegen zu versuchen, wurde angeordnet, daß jede Bauer
gemeinde auf allen Kreuzwegen Wächter aufstellen sollte, die Jedermann,
der vorüber ging, ritt oder fuhr, anzuhalten und nach seinem Paß zu sehen hatten. Zugleich wurde befohlen, daß Jedermann jederzeit mit einem Passe versehen sein müsse. Damit meinte man der paßlosen Vaga
bunden habhaft zu werden, deren viele entlaufene Gefangene waren.
Nun
fuhr man durchs Land und ward überall überrascht von je zwei oder drei
verlumpten Kerlen, die ob Tags ob Nachts an den Kreuzwegen in den
Weggräben lagen und besonders den Wagen der wohlhabenderen Reisen
den auflauerten--------- denn darin konnte ja ein Beamter sitzen, dem sie ihren Pflichteifer zeigen mußten. Wer die Umstände nicht kannte, glaubte
leicht von Räubern überfallen zu werden, und so war einstmals in der Nacht, als ich durch einen großen Wald fuhr, mein Revolver auch be
reits gespannt, ehe ich aus dem Schlaf auffahrend erkannte, daß ich es nicht mit Räubern, sondern nur mit Wächtern der Ordnung zu thun
hatte, von denen einer meinen Pferden in die Zügel gefallen war, zwei
317
Reiseeindrücke aus Samogitien.
andere zum Wagenschlage die Köpfe hereinsteckten.
Und das Lächerlichste
war immer, daß diese Kerle mm im Polizeitone nach dem Paß fragten und, wenn man ihnen denselben vorwies, so klug waren als zuvor, denn
nicht Einer von all diesen Tausenden
stand.
im Lande konnte lesen, was drin
So bin ich denn weit im Lande umhergefahren ohne Paß, das
eine mal auf einen Rigaer Börsenbankschein hin, das andere Mal mit einem Hamburger Lotteriebillet und dergleichen.
Und der Bagabund oder
Pferdedieb war damals nicht dummer als gewöhnlich, sondern ging nöthigen-
falls fünfzig Schritte um die bewachte Stelle des Weges herum. — Zu
solchen Sonderbarkeiten gelangt eine centralisirte Beamtenverwaltung, in deren Büreauacten es sich ganz weise
anläßt, den Landstreichern durch
Wachposten auf den Kreuzwegen auflauern zu lassen.
In den Acten steht
nicht geschrieben, daß diese Wachposten nicht zu lesen verstehen und daß
die Landstreicher anderswo als auf der großen Landstraße wandern können.
So ist das Hauptaugenmerk der Staatsregierung darauf gerichtet, die ganz äußere politische Ordnung aufrecht zu halten.
Die Ergebenheit,
welche dieser Art von Autorität gezollt wird, ist ihr angemessen: lich hohl.
Was die Staatsregierung
trotzdem
innerhalb
ziem
der fünfzehn
Jahre seit der Revolution für die lokalen Bedürfnisse geleistet hat, ist keineswegs gering zu schätzen.
Wenn man jenes allgemeine Unvermögen
den provinziellen Sonderinteressen gerecht zu werden, in Erwägung zieht, so darf man der Staatsregierung das Zeugniß ausstellen, daß sie Mancherlei
in der Richtung auf die materielle Wohlfahrt des Landes angebahnt hat. In erster Linie steht natürlich die Schöpfung eines freien besitzenden Bauern standes.
Und wenn das Landvolk, selbst das polnische nicht ausgenommen,
noch niemals sich in solchem wirthschaftlichen Aufblühen befunden hat, als gegenwärtig, so kann man getrost hinzufügen, daß das Land noch niemals, trotz der argen Mängel der heutigen Verwaltung, eine bessere Verwaltung
oder Justiz gehabt hat.
Niemals hat man hier noch so oft unbestechliche
Richter gefunden, niemals konnte man sich eines polizeilichen Zustandes rühmen, der etwa mehr auf Ordnung und öffentlichen Nutzen gerichtet war als heute.
Das ist freilich sehr relativ: es waren eben ehedem barbarische
Zustände;
allein man darf eben nicht zu viel erwarten von einer Re
gierung, welche überall mehr herrscht als regiert, und wo sie regiert,
meist zu viel regiert.
Und zuletzt ist auch das eine Wohlthat, daß an die
Stelle des ehemaligen polnischen Panthums eine wirkliche staatliche Auto
rität getreten ist, so inhaltsleer sie praktisch auch sein möge. (Schluß folgt.)
E. von der Brüggen.
Die Orientalische Frage seit dem deutsch österreichischen Bündniß. (Politische Correspondenz.)
Berli«, 7. September 1880.
In die Jubelfeier des zehnten Jahrestages der Schlacht von Sedan wirft der erste Jahrestag der Zusammenkunft der Kaiser von Rußland
und Deutschland in Alexandrowo seine Schatten.
Von der Begegnung
der beiden Kaiser in der kleinen russischen Grenzstadt datirt die endgültige
Auflösung des Dreikaiserverhältnisses, dessen mystischer Charakter durch den Abschluß des deutsch-österreichischen Zweikaiserbündnisses erst nachträg lich in daS rechte Licht gesetzt worden ist.
Die neutralisirende Kraft des
Verhältnisses zu Dreien war durch den Präliminarfrieden von San Ste
fano, der Deutschland zumuthete, die Interessen des Dritten, OesterreichUngarn'S, denjenigen Rußlands zu opfern, paralysirt worden. Die deutsche
Politik stand damals am Scheidewege.
War die Annexion der deutschen
Provinzen Oesterreichs, wie unsere Gegner Jahrelang behauptet hatten, ihr Ziel, war das Dreikaiserverhältniß nur daS Mittel, Oesterreich zu düpiren, so mußte Deutschland seinem russischen Freunde im Orient freie Hand
kaffen und die Nachtheile tragen, welche seinen eigenen Interessen daraus erwachsen konnten.
Die deutsche Politik auf und nach dem Berliner Con-
greß beruhte auf der Anerkennung der Interessengemeinschaft Deutschlands und Oesterreich-UngarnS und diese Gemeinschaft mußte sich naturgemäß,
den russischen Drohungen mit einem französischen Bündniß gegenüber, zu einem Defensivbündniß verdichten.
Je heftiger die patriotischen Beklemmungen waren, welche Deutsch land im August und September 1879 quälten, um so auftichtiger und lauter war der Jubel, mit dem die Nachrichten von dem Abschluß des
deutsch-österreichischeu
BündniffeS ausgenommen wurden.
Bündniß war nicht nur der
erste Allianzvertrag
Reiches, eS war auch der eklatante Sieg
DaS Wiener
des neuen Deutschen
einer vorschauenden Diplo
matie, welche den Präliminarfrieden von NikolSburg zum Ausgangspunkt einer Politik der Versöhnung gemacht hatte.
Die Wiener
Reise
des
Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Blindniß.
319
Fürsten Bismarck aber war mehr als der letzte Schritt zur Versöhnung
der ehemaligen Rivalen vom frankfurter Bundestage; sie vollendete die Niederlage der russischen Orientpolitik; und so war es psychologisch sehr
erklärlich, daß die Enttäuschung, welche der Mißerfolg der panslavistischen Bewegung in Rußland wachgerufen hatte, in eine gegen die ohnmächtige
Regierung gerichtete revolutionäre Bewegung umschlug, deren gefährlichste Symptome,
die
von
Attentate
Europa in Schrecken setzten.
Moskau
und
St.
Petersburg,
ganz
Mit der Ernennung Loris-Melikoff's, der
mit einer in Rußland seltenen Energie an die Stelle der Willkür gere
gelte
Gewalt zu setzen bemüht ist, schließt die Phase der nihilistischen
Attentate
vorläufig ab.
Ob die langsam,
aber wie
es
scheint,
nach
einem festen Plane sich anbahnende Reform der Staatsverwaltung einer friedlichen Entwickelung der russischen Politik günstig sein wird, entzieht sich zur Zeit uoch der Beurtheilung.
Auf alle Fälle ist die Aufmerksam
keit der politischen Kreise in Rußland zunächst vorwiegend durch die innere
Politik und durch die, zum Theil iu Folge der schlechten Ernte, bedenkliche wirthschaftliche Lage in Anspruch genommen. Um die Befriedigung zu verstehen, mit der jenseits des Canals der
Abschluß des deutsch-österreichischen Bündnisses ausgenommen wurde, muß man
sich der Versuche der russischen Diplomatie
erinnern,
Frankreich
ihren Racheplänen gegen das treulose Deutschland geneigt zu machen und gleichzeitig sich mit Oesterreich über eine gemeinsame Orientpolitik gegen
England zu verständigen.
Gerade diese, natürlich mißlungenen, Versuche
mußten dem deutschen Reichskanzler als Hebel dienen, um den Kaiser zur Gutheißung der in Wien getroffenen Verabredung zu bestimmen.
Drei
Tage nach der Ratification des Schutzbündnisses seitens des Kaisers Wil
helm, am 18. October hielt der englische Minister deö Auswärtigen in Manchester eine Rede über die Weltlage, die trotz der veränderten Stellung
der Regierung,
auch heute noch von Bedeutung ist.
Als Hauptaufgabe
der englischen Politik bezeichnete Marquis von Salisbury die Verhinderung
jedes Vordringens Rußlands oder russischen Einflusses in die europäische Türkei.
Wenn nur die Türkei ihre Verwaltung reformiren wolle, so
würde ihre militärische Kraft auch in Zukunft die mächtigste Schranke sein,
die dem Vorrücken Rußlands entgegengesetzt werden könnte.
„Wenn sie
fällt, fuhr Salisbury fort, so erinnern Sie sich, daß Oesterreich jetzt in NoviBazar steht und bis an das Gebiet des Balkans heran gerückt ist, und daß jetzt kein Vorrücken Rußlands über den Balkan oder über die Donau erfolgen kann, bevor der Widerstand Oesterreichs bezwungen ist. mächtig.
Oesterreich ist
Ich glaube, daß auf der Stärke und Unabhängigkeit Oesterreichs
die beste Hoffnung
der Stabilität und des Friedens Europas beruht.
Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Bündniß.
320
Was in den letzten wenigen Wochen geschehen ist, berechtigt uns zu hoffen,
daß Oesterreich, wenn angegriffen, nicht allein stehen würde.
Die Zei
tungen berichten, daß zwischen Deutschland und Oesterreich eine Defensiv
Ich will keine Ansicht über die Genauigkeit
allianz errichtet worden ist.
jener Nachrichten aussprechen, aber ich werde Ihnen und Allen, welche den Frieden und die Unabhängigkeit der Nationen schätzen, sagen, daß daS „good tidings of great joy“ sind."
Daß die Türkei, nachdem sie
in dieser Weise gewisser Maßen als Vormauer Englands, Oesterreichs
und Deutschlands gegen Rußland gepriesen worden, geringe Neigung bezeigte,
den auf dem Berliner Vertrag und der Cypern Convention
beruhenden Verpflichtungen bezüglich der Reform der Verwaltung nach
zukommen, kann nicht
überraschen.
der englische
Wenn Herr Layard,
Botschafter in Constantinopel, in den letzten Monaten deS Jahres 1879 und in den
ersten Monaten dieses Jahres
durch die
klägliche Rolle,
welche er in den von dem Sultan und seinen Ministern in Scene gesetzten
Reform-Comödien spielte, das Ansehen der englischen Diplomatie
am
goldenen Horn völlig untergrub, so war das vielleicht nicht so sehr die Schuld des Diplomaten,
als die Consequenz einer unmöglichen Lage.
Herr Layard hatte nur einen Trost, den nämlich, daß seine russischen
und französischen College« nicht glücklicher waren, als sie sich bemühten, der Eine, dem Fürsten von Montenegro das ihm durch den Berliner Vertrag zugesprochene Gebiet zu verschaffen,
der Andere die Verhand
lungen der Türkei mit Griechenland über die diesem zugesagte Grenzer weiterung auch nur in Gang zu bringen.
Die Furcht Englands, durch
Befürwortung der griechischen Ansprüche daS Wohlwollen der Türkei zu
verscherzen, kam der Verschleppungspolitik der letzteren sogar direkt zu Hülfe. Nicht glücklicher war das Tory-Cabinet mit seinen Versuchen, durch
Herstellung geordneter Verhältnisse in Afghanistan den Rückzug der eng lischen Truppen zu
Macht
ermöglichen.
in Mittelasien
Seit der Ausdehnung der russischen
auf Khiwa und Bochara war die Hauptsorge
Englands, den Russen Afghanistan zu verschließen.
Wer Afghanistan,
das Vorland Indiens, und mit ihm die Gebirgspässe nach Sindh und dem Pendjab beherrscht, bedroht die Sicherheit Indiens.
Kein Wunder,
daß England zitterte, als im Sommer 1878, ehe noch der Jubel über den AuSgang des Berliner CongresseS verrauscht war, die Nachricht ein
traf, in der Hauptstadt deS Emirs von Afghanistan, Schir Ali, verweile eine russische Gesandtschaft.
Der Vicekönig
von Indien
beeilte sich,
Schir Ali die Entsendung einer Gesandtschaft unter General Chamberlain anzukündigen, erhielt aber keine Antwort des Emirs und als Anfang September die englische Gesandtschaft an der afghanischen Grenze vor dem
Die Orientalische Frage seit dein deutsch-österreichischen Bündniß. befestigten Passe Ali Musdschid eintraf,
ihr den Eintritt.
verweigerte der Befehlshaber
Damit war die Nothwendigkeit eines Feldzugs gegen
Afghanistan entschieden.
Truppen,
321
Ende 1878 und Anfang 1879 besetzten englische
ohne weiteren Widerstand zu finden,
die sogenannte „wissen
schaftliche Grenze" Gundamak auf der Straße von Peschewar nach Kabul,
das Kurum-Thal bis zum Schutargadam-Passe und im Süden Kandahar. Schir Ali war entflohen, aber mit dessen Sohne Jakub Khan wurde am
26. Mai 1879 der berüchtigte Friede von Gundamak abgeschlossen,
in
welchem der neue Emir das Land östlich und südlich der „wissenschaftlichen" Grenze an England abtrat (welches damit in den Besitz der für die Ver
theidigung Indiens wichtigsten strategischen Punkte gelangte) rind sich ver pflichtete, einem englischen Residenten den Aufenthalt in Kabul zu gestatten.
Die englischen Truppen
traten den Rückmarsch an.
Am 24. Juli traf
der englische Resident Major Cavagnari in Begleitung von 3 Offizieren,
50 Infanteristen und 26 Reitern in Kabul ein. von kurzer Dauer.
lich von aufständischen Truppen mordet.
mit seiner gesammten Begleitung
Somit begann der zweite Feldzug.
nug war,
Der Friede war aber
Am 3. September wurde Major Cavagnari angeb er
Jakub Khan, der dreist ge
sich im englischen Lager cinzufinden, wurde als Gefangener
nach Indien geschafft; Kabul besetzt. Unter beständigem, thcilweise blutigem
Kampfe mit afghanischen Streifcorps, welche die Verbindungen der englischen
Truppen mit Indien bedrohten, verging der Winter von 1879 auf 1880; aber noch immer war kein Nachfolger des abgesetzten Emirs in Sicht, mit
dem ein die Zukunft sichernder Vertrag hätte geschlossen werden können. Unter dem Eindruck der diplomatischen Niederlagen in Constantinopel und der militairischen Verlegenheiten in Afghanistan erfolgten im Früh jahr d. I. die Neuwahlen zum Unterhause, die wegen des nahen Ablaufs
der Legislaturperiode nicht länger hinausgeschoben werden konnten. Resultat
ist bekannt:
ein für die Betheiligten wie für
ligten überraschender Sieg
der Liberalen.
Das
die Unbethei-
Angesichts der unglücklichen
Lage der auswärtigen Politik Englands wird man es durchaus begreiflich finden, daß Mr. Gladstone und seine Freunde das von Lord Beacons
field feierlichst verbürgte Ziel ver völligen Ausführung des Berliner Ver trags mit andern Mitteln zu erreichen versuchten.
Welches diese andern
Mittel sein sollten, hatten die „unverantwortlichen" Wahlreden des Herrn
Gladstone und seiner Freunde so deutlich verrathen, daß die Nachricht von dem Siege der Liberalen in Constantinopel panischen Schrecken und in
Wien lebhafte Besorgnisse für die Zukunft hervorriefen.
Die Stellung,
welche der Berliner Vertrag Oesterreich-Ungarn auf der Balkanhalbinsel
angewiesen, hat die handelspolitische Eifersucht Englands erregt. Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1. Heft 3.
23
Ocftet«
322
Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Bündniß.
reich hatte schon im Herbst 1878 Bosnien und die Herzegowina besetzt
und in eigne Verwaltung genommen.
Am 21. April 1879 kam die im
Artikel 25 des Berliner Vertrags vorbehaltene Verständigung zwischen
Oesterreich und
der Türkei über die Besetzung strategischer Punkte des
Distrikts von Novi Bazar, zwischen Montenegro und Serbien, zu Stande,
welche den neuen politischen Zustand und die Freiheit und Sicherheit der Verkehrswege Oesterrreich-Ungarns garantiren soll.
Unter diesen Ver
kehrswegen ist offenbar die lang projectirte Eisenbahnlinie nach Salonkchi
zu verstehen.
Die Feindseligkeit gegen den Habsburger galt vor allem
dem handelspolitischen Rivalen, der durch die Donaustraße die Verbin dung mit dem Schwarzen Meere, durch die Eisenbahn nach Salonichi die Verbindung mit dem aegäischen Meere und den Verkehr nach Klein
asien seinem eigenen Handel aus demjenigen des engverbündeten Deutsch lands eröffnen könnte.
Im Sinne der gemäßigten Wighs war die schleunige Ausführung der noch offenen Bestimmungen des Berliner Vertrags das Mittel, die Orientfrage zu schließen und England von den internationalen Verbind lichkeiten, welche ihm der Berliner Vertrag auferlegt, so bald als mög
lich zu befreien.
Das Programm der radicalen Partei aber,
welches,
von dem Premier abgesehen, durch einflußreiche Mitglieder in der Re
gierung vertreten ist, will den Berliner Vertrag nur als Hebel benutzen,
um, im edlen Wettstreit mit Rußland, der Unterdrückung der Balkan völker ein Ende zu machen und unter der Flagge einer Conföderation der Balkanvölker unter englischem Schutz dem Jnselreiche das Handelsmonopol
im Orient zu sichern.
Nicht umsonst hat Herr Gladstone dem gemäßigten
Staatssekretair deS Auswärtigen, Lord Granville den energischen Baronet Charles Dilke als Unterstaatssekretair beigegeben.
Sir Charles Dilke
war eS, der im Jahre 1871 wagte, sich an die Spitze einer Agitation für Einführung republikanischer Institutionen in England zu stellen, der
im Jahre 1873, allerdings
unter heftigem Widerspruch
des Premiers
Gladstone, durch den Antrag auf Rechnungslegung über die Civilliste
der Königin und die Ausgaben für Hofchargen einen ungeheuren Scandal
im Unterhaus« hervorrief.
In einer Anfang Mai stattgehabten Unter
redung mit einem Mitarbeiter des Pariser „Voltaire", versicherte der neue
Unterstaatssekretair:
„Wer da glaubt, daß unsere Regierung nach außen
schwach sein wird, der irrt sich.
Wir werden für die europäische Politik
durchaus nicht gleichgültig bleiben; unsere Stimme wird sich zum Besten
der Freiheit
und des allgemeinen Wohlergehens der Völker Gehör zu
verschaffen wissen.
Im Verein mit dem republikanischen Frankreich und
dem freien Italien würden wir den gordischen Knoten der orientalischen
Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Bündniß.
323
Frage durch Errichtung einer Consöderation freier Staaten zwischen der Donau, der Adria und den griechischen Gewässern zu lösen suchen
Wir würden ebensowenig die Uebergriffe Oesterreichs, wie die Rußlands
dttlden.
Die Herzegowina und Bosnien dürfen weder den Oesterreichern,
noch den Türken,
noch den Russen gehören.
vielmehr frei sein und sich selbst regieren. unser Programm."
Diese Provinzen müssen
„Keine Bedrückung" das ist
Nach dieser Einleitung ist es nicht mehr überaschend,
wenn Sir Ch. Dilke seine Stellung zu Rußland also präcisirt: bin ebensowenig ein Rtlssenfresser als ein Russenfreund.
leichter Centralasien
gegen uns
gegen Rußland
aufstacheln,
„Ich
Wir könnten
als Rußland
Indien
Wenn die Slaven noch Barbaren sind,
aufstacheln könnte.
so trägt Niemand anders daran Schuld,
als das Auswärtige Amt in
St. Petersburg, ein Ministerium, in welchem man Deutsch spricht und die ganze äußere Politik seit zehn Jahren von zwei Preußen, den Herren
Westmann und Hamburger, und einem Schweizer, Wir hassen die russische Autocratie,
besorgt wird.
„Bourreaucratie";
wir hassen die Regierung,
dem Baron Jomini Büreaucratie und
welche Polen unterdrückt
und Ungarn wieder unter die österreichische Herrschaft gebracht hat; aber wir schätzen das junge Rußland, welches in Prag (!) und Moskau das
Selbstgefühl und den Edelmuth der slawischen Race erweckt hat."
Nichts
destoweniger will der radicale Politiker von der Befreiung der Balkan slaven durch das junge Rußland nichts wissen; den slavischen Träumen
stellt er den
hellenischen Traum eines großen griechischen Staates mit
Constantinopel
als Hauptstadt
gegenüber.
Vorläufig wird
man dieses
Programm der englischen Radicalen nicht gar zu ernst nehmen dürfen; aber dasselbe bildet einen charakteristischen Hintergrund
für
die
große
diplomatische Action zur „Ausführung" des Berliner Vertrags — „Bis
marck zum Trotz", wie der englische Unterstaatssecretair seinem französischen
Interviewer insinuirte.
Kaum hatte Mr. Gladstone den Fuß in den Steigbügel gesetzt und durch den berühmten Brief an den österreichischen Botschafter in London Ab
bitte für die unklugen Angriffe des Candidaten Gladstone auf die Person des Kaisers von Oesterreich und die Politik des Kaiserstaates gethan, als Lord Granville
in einem Ende Mai erlassenen Rundschreiben an die
Congreßmächte gemeinsame Schritte bei der Pforte in Vorschlag brachte, um die letztere zur schleunigen Ausführung der auf Montenegro, Griechen land und die Reformen in Armenien bezüglichen Bestimmungen des Ber liner Vertrags zu veranlassen.
Der Gedanke,
diese drei Fragen zu
sammenzufassen und dadurch das Interesse Englands an der Erledigung
der
armenischen Frage, das
Interesse Frankreichs
an
der
griechischen
324
Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Btiudniß.
Grenzfrage und daS Interesse Rußlands an der Befriedigung Montene gros in enge Verbindung zu setzen, war an sich kein unglücklicher; der
Erfolg dieser diplomatischen Action in Form identischer Noten ist aber bis heute noch ein problematischer.
Während in der montenegrinischen Frage, mag eS sich nun um Gu-
finje und Plawa, oder um daS Zem-Gebiet, welches die Pforte in der
Convention vom 12. April abzutreten sich verpflichtete, in Wirklichkeit aber den Albanesen auslieferte, oder um Dulcigno und die Bojana-Mün-
dung handeln, die Abneigung der albanesifchen Bevölkerung, welche in Noralbanien meist muhamedanifch ist, gegen die Herrschaft der Montene
griner das Doppelspiel der Pforte erleichtert, tritt in Südalbanien die Rücksicht auf die meist christlichen ToSken, welche
gegen die Abtretung
Janinas an Griechenland protestiren, vor dem begreiflichen Widerstreben zurück, dem griechischen Königreich einen erheblichen Theil deS alten Epi rus und Thessalien, d. h. daS ganze PeneioS-Thal mit seinen Abhängen
abzutreten.
Die „interessante" albanesische Race wird freilich der Rege
lung jener Grenzfragen nur so lange Hindernisse bereiten, als die Pforte das zuläßt.
Wie die albanesische Deputation, welche zur Zeit des Ber
liner CongresseS die europäischen Höfe bereiste, in Wirklichkeit aus ver
kleideten Muhamedanern bestand, so ist auch jetzt die albanesische Liga nur
der Deckmantel für den schlechten Willen der Pforte.
daß der District von Dulcigno nicht vorherrschend wohnt ist.
Ist es doch notorisch,
von Albanesen
be
Und waS Janina betrifft, so wagt selbst die Pforte in ihrer
ablehnenden Antwort auf den Beschluß der Berliner Conferenz nur die
Behauptung, daß die Albanesen diese Stadt stets für die Hauptstadt von Unteralbanien gehalten hätten und daß sie dieselbe mit großer Hartnäckig keit festhielten.
Thatsächlich deckt sich die in der Conferenz beschlossene
Grenzlinie in keiner Weise mit der ethnographischrn Grenze.
Würde man
nur auf diese sehen, so müßte der Vorschlag deS russischen Bevollmäch
tigten auf der Berliner Conferenz, nicht den Thalweg deS KalamaS, son dern die Wasserscheide nördlich desselben, also daS Gebiet bis zum Cap Stylo Griechenland zuzusprechen, als durchaus gerechtfertigt erscheinen. In Folge der „Mäßigung" der übrigen Conferenzmächte hatte dieser Vor schlag nur Has Verdienst, die Tendenz der russischen Politik, daS Einver
nehmen der Mächte durch Ueberbieten der englisch-französischen Vorschläge
zu sprengen, hervortreten zu lassen.
England, Frankreich und Italien
aber blieben in dieser Frage wenigstens auf der gleichen Linie, und so
führten die Berathungen der Conferenz zu einem einstimmigen Beschlusse.
Je lebhafter die Befriedigung der englischen Politiker über diesen ersten diplomatischen Erfolg am grünen Tisch war, um so empfindlicher
Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Bünbniß.
325
wirkte die Wahrnehmung, daß Frankreich, welches seit dem Jahre 1878
das Verdienst in Anspruch genommen hatte, in der griechischen Frage die
führende Rolle zu spielen, jetzt, wo es sich um die Ausführung eines
Schiedsspruchs des europäischen Alreopags handelte, jeden Gedanken an
eine einseitige Intervention zu Gunsten des griechischen Schützlings peremp torisch zurückwies.
Gambetta, der wenige Wochen vorher Griechenland
als das französische „Schleswig" gefeiert hatte, scheint plötzlich zu der Er kenntniß gekommen zu sein, daß eine französische Intervention im Orient die Actionsfreiheit Frankreichs in Europa bedenklich gefährden könnte. Es
war das der erste Schatten, den das deutsch-österreichische Bündniß nach Westen und Osten warf.
Während so der „Mikado" der französischen
Republik sich mit etwas verlegener Miene hinter die Fronte zurückzog, kam zwischen Frankreich und Italien, dem dritten Verbündeten Sir Charles
Dilke's die tunesische Differenz zum Ausbruch.
Die Regentschaft Tunis, deren Theilung zwischen. Frankreich und Italien im Jahre 1870 der Preis einer französisch-italienischen Allianz
gegen Deutschland sein sollte, ist, seitdem Herr Waddington mit leeren Händen von dem Berliner Congreß zurückkehrte, das nächste Ziel der
französischen Mittelmeerpolitik geworden.
Die französische Presse, die es
liebt, den Ereignissen vorzugreifen, hat, seit das Ministerium Freyvinet
den Wiedereintritt Frankreichs in die europäische Politik proclamirte, die Entdeckung gemacht, daß Tunis „die Vorstadt von Algier" sei.
Unglück
licher Weise ist diese Vorstadt der französischen Colonie in Afrika histo
risch und handelspolitisch die Brücke, welche Italien mit Afrika verbindet. Als im Jahre 1871 eine
englische Gesellschaft die Concession für die
Eisenbahn erkaufte, welche Tunis mit dem Hafen Goletta
verbindet,
mußte sich der Bah verpflichten, weitere Concessionen zu Concurrenzbahnen nicht zu ertheilen.
Im Vertrauen auf diese Clausel erstand im Einver-
ständniß mit der italienischen Regierung, der die Zurücksetzung, welche
Italien von Frankreich und England in Aegypten erfahren, die Augen geöffnet halte,
battino, die
die
im vorigen vom
Gericht
Jahre ein zur
Auktion
italienischer Unternehmer,
gestellte
französische Gesellschaft Bona Guelma
auf eine fabelhafte Höhe getrieben hatte.
in
Bahnlinie,
Algier
Ru-
obgleich
den Kaufpreis
Als der Bey der französischen
Gesellschaft die Concession zum Bau einer Linie Tunis—Rades unter Be
rufung auf jene Clausel verweigerte, erzwang Frankreich durch Absendung eines Geschwaders die Zusage von Concessionen für zwei neue Bahnen, welche
Tunis nach Nordwest mit dem Hafen von Bisesta, dem italienischen Kriegs hafen von La Spezzia gegenüber, nach Südost mit dem Hafen von Susa ver
binden sollen. Die Rubattino'sche Bahn erhält dadurch eine um so gefährlichere
326
Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Bündniß.
Concurrenz, als die beiden neuen französischen Bahnen im Anschluß an die Bahn Algier—Tunis stehen.
DaS sind die Früchte der kopflosen und
mattherztgen Politik der Cairoli—Depretis, welche, dem Irrlicht der Italia irredenta folgend, die vitalen Interessen des Landes auf'S Spiel setzen. „Tunis, schrieb einst Mazzini, ist der Schlüssel für die Herrschaft im
Mtttelmeer; und es ist so mit den Seeverbindungen nach Sicilien und
Sardinien verkettet, daß sich Italien diesen Schlüssel nicht entreißen lassen darf.
Nach dem Falle von Carthago wurden in Tunis die römischen
Adler aufgepflanzt, und bis zum fünften Jahrhundert war es unser.
Heute strebt Frankreich nach dem, was unS gehört, und es wird es er halten, wenn wir nicht auf unserer Hut sind."
Hat Italien, nach den Er
fahrungen, welche eS mit seinen englischen und französischen Freunden in Aegypten und Tunis gemacht, wirklich noch ein Recht, zu erwarten, daß
seine Aspirationen an der Ostküste des adriatischen Meeres, von denen Graf Corti auf. dem Berliner Congreß nicht einmal zu sprechen wagte,
bessere Berücksichtigung finden werden? Die Hoffnung Sir Charles Dilke's also, im Verein mit dem re
publikanischen Frankreich und dem
freisinnigen Italien den gordischen
Knoten der orientalischen Frage lösen zu können, hat sich vorläufig we
nigstens als eitel erwiesen.
Freilich befindet sich die Gladstone'sche Orient
politik bis jetzt noch in dem vorbereitenden Stadium. Vor Allem ist die liberale Regierung bestrebt sich von dem afghani schen Hemmschuh zu befreien.
„Wir treten, sagte der englische Unter
staatssekretär in der oben erwähnten Unterredung, die Erbschaft des Lord
Beaconsfield mit der Rechtswohlthat des Inventars an.
Die afghanische
Frage ist unS sehr lästig; doch hoffen wir, daß Alles aufs Beste für un sere Interessen ablaufen wird." kleinsten Theile erfüllt.
Diese Hoffnung hat sich bislang nur zum
Der neuen Regierung ist eS allerdings gelungen,
einen Candidaten für den Thron deS Emirs ausfindig zu machen, und
zwar in der Person Abdurrahman Khan's, eines Verwandten und Rivalen Schir Ali'S, der sich feit dem Ende der sechziger Jahre als Flüchtling auf russischem Gebiet aufgehalten hatte und jetzt die Gunst der Umstände zu
benutzen versuchte.
Sobald Abdurrahman Khan an der Spitze einer kleinen
Armee von Balkh aus die afghanische Grenze überschritten hatte,
be
gannen die Verhandlungen wegen Anerkennung desselben zunächst nur als
Emir von Kabul, in denen sich der Nachkomme Dost Muhamed's als ge wandter Diplomat erwies.
sprechungen.
Die englische Regierung überbot sich in Ver
Der neue Emir sollte auf ihre Unterstützung gegen äußere
Feinde rechnen können, wenn er sich verpflichtete, keine Beziehungen zu fremden Mächten d. h. zu Rußland ju unterhalten — ein Versprechen,
Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen BUndniß.
327
welches die Regierung, sobald sie sich sicher fühlte, auf die Zusage
jährlicher Subsidien reducirte. Die Regierung verzichtete auf das Recht, in Kabul eine beständige Vertretung zu unterhalten. Die englischen
Truppen sollten sich sofort hinter die im Frieden von Gundamak stipulirte „wissenschaftliche Grenze" zurückziehen. In Kandahar sollte zunächst eine
englische Besatzung zurückbleiben, in Rücksicht darauf, daß die Straße von Kandahar nach Kabul, welche auch im Winter Passirbar ist, die Verbin dung mit Herat beherrscht, dessen sich ein jüngerer Bruder Jakub Khans, Achmed Ajub Khan, der seine Feindschaft gegen England offen zur Schau
trug, bemächtigt hatte. Monate lang schleppten sich die Verhandlungen hin, bis endlich am 22. Juli die Anerkennung des neuen Prätendenten unter nahezu vollständiger Preisgebung der im Frieden von Gundaman
beanspruchten militärischen Positionen erfolgte. Jetzt wurde sogar die Räumung Kandahar's und des Peimar- und Schaturgadam-Passes zugesagt. Kaum aber war die Regierung in der Lage gewesen, diese „erfreu liche" Wendung dem Parlament mitzutheilen, als ein neuer Rückschlag eintrat. Ajub Khan, dessen Anmarsch von Herat her schon längst signalisirt, aber von dem nordwestlich von Kandahar mit 5000 Mann stehenden General Burrow nicht zeitig genug berücksichtigt worden war, schlug am 27. Juli die englische Streitmacht und brachte ihr so große Verluste bei, daß General Burrow sich in größter Eile auf Kandahar zurück
ziehen mußte.
Die Hälfte des Burrow'schen Corps, auö Afghanen be
stehend, war während der Schlacht zum Feinde übergegangen, der sich
nun anschickte, Kandahar zu belagern. Auf die Nachricht von der Nieder lage General Burrow's erhielt General Roberts Befehl, Kabul zu räumen und zum Entsatz des einige 60 deutsche Meilen entfernten Kandahar zu eilen. Am 28. August traf General Roberts bei Kandahar ein, dessen Belagerung Ajub Khan bei der Annäherung der englischen Truppen
aufgehoben hatte.
Am
1. September
griff General Roberts,
dessen
Armee etwa 10,000 Mann stark war, Ajub Khan an und stellte, durch den glänzenden, aber in seinen Folgen noch nicht zu übersehenden Sieg
bei Mali Baba die englische Waffenehre wieder her. Auf alle Fälle ist die Gefahr einer völligen Vernichtung der englischen Streitkräfte vor läufig beseitigt, wenn auch die Aussicht, die gänzliche Räumung Afghanistan's bis zum 1. Oktober in's Werk setzen zu können, erheblich getrübt ist. Für die nächste Zeit wird die englische Politik sich noch gezwungen sehen, mit der „lästigen" afghanischen Frage zu rechnen, selbst wenn Abdurrahman Khan das auf ihn gesetzte Vertrauen rechtfertigen sollte.
An
die ständige Besetzung auch nur der wichtigsten strategischen Punkte Afghanistan'S, dessen Ausdehnung diejenige Frankreichs weit überragt, kann
328
Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Bündnist.
England nicht denken; seine Truppen aber werden den Rückzug nach In dien immer nur
als Sieger antreten
dürfen,
Indiens nicht moralisch geschwächt aus dem
wenn die Beherrscher
langwierigen Unternehmen
hervorgehen sollen. Die retardirenden Momente der eigenen Politik und derjenigen der
beiden „Alliirten", welche bisher die Verwirklichung
der kühnen Con
ceptionen Gladstone'S verhindert haben, glauben wir der bisherigen Dar
stellung ziemlich vollständig berücksichtigt zu haben.
aber eventuell
Auf die abwartende,
zu entschiedenem Eingreifen geneigte Haltung Rußlands
und auf den Gegendruck, den die beiden Verbündeten, Oesterreich und
Deutschland, auSgeübt haben und heute noch ausüben, soll demnächst zu
rückgekommen werden. DaS Resultat dieser Strömungen und Rückströmungen ist zunächst die Verflüchtigung des kühnen Projekts, die griechische Grenzfrage durch Ab sendung eines englisch-französischen Geschwaders nach dem ionischen und dem aegaeischen Meere einer raschen Lösung entgegenzuführen.
An die Stelle
deS zur Zeit der Berliner Conferenz in Aussicht genommenen englisch französischen Geschwaders ist nach monatelangen Verhandlungen das aus
Kriegsschiffen der sechs Großmächte gebildete combinirte Geschwader unter dem Commando des ViceadmiralS Seymour als Senior-Admirals ge
treten, welches sich soeben in dem von österreichischer Seite zur Dispo
sition gestellten Hafen von Ragusa bildet.
Ein Geschwader von Kriegs
schiffen, mit dem ausdrücklichen Auftrag, jeden feindlichen Act zu ver meiden, ist eine der merkwürdigsten Anomalien.
Das englisch-französische
Geschwader, von dem im Juni die Rede war, hatte durchaus praktische
Zwecke.
Seine Anwesenheit an den griechischen Küsten sollte Griechen
land, wenn es mit eigener Hand die Beschlüsse der Berliner Conferenz
zur Ausführung bringen würde, gegen die türkische Flotte schützen.
Die
Griechen aber weigerten sich, selbst unter dieser günstigen Voraussetzung, die Befreiung
ihrer unter türkischer Herrschaft stehenden StammeSge-
nossen, welche der Berliner Congreß und in aller Form die Conferenz als für die Lebensfähigkeit des griechischen Reiches unentbehrlich aner
kannt hatte, ohne fremde Hülfe in die Hand zu nehmen.
Die Aengst-
lichkeit deS CabinetS von Athen spiegelt sich naturgemäß wieder in der „Flottendemonstration", die eine entscheidende Wirkung auf die Entschlie
ßungen der Pforte nur auSüben kann, wenn das Ziel des friedlichen Kreuzzugs nicht die albanesische Küste, sondern die Dardanellen sind.
Notizen. M. Philippson: Geschichte des preußischen Staatswesens vom Tode Friedrichs des Großen bis zu den Freiheitskriegen.
Erster Band.
Leipzig, 1880.
Das vorstehende Werk hat sich die ebenso dankenswerthe als schwierige
Aufgabe gestellt, eine Geschichte des preußischen Staatswesens von 1786—1815 zu liefern: dankenswerth, weil wir — abgesehen von einigen durchaus ver
alteten Werken (von Manso, K. A. Menzel, Förster) — für den benannten Zeitraum bisher fast ausschließlich auf einige kurze Abschnitte in den Werken von Hausier und Treitschke angewiesen waren, schwierig, weil das in Betracht
kommende Aktenmaterial noch unedirt im Geheimen Staatsarchive ruht, der
Berfafler also auf eigene Durcharbeitung und Sichtung deffelben angewiesen
war.
Vielleicht hätte derselbe sein Buch richtiger eine Geschichte der preußi
schen Staatsverwaltung genannt, denn diese letztere bildet fast ausschließlich den
Gegenstand der Darstellung; die äußere Politik bleibt daneben außer Betracht
oder wird doch nur nebenbei als Erläuterung der inneren in kurzen Zügen angedeutet.
Freilich waren hier nach den
Forschungen Sybels, DunckerS,
Treiffchkes u. a. neue Gesichtspunkte und Resultate kaum mehr zu gewinnen.
Die Erschließung unbekannten bedeutenderen Quellenmaterials
zur äußeren
'Geschichte Preußens in dem Zeitraum von 1786—1815 scheint in nächster Zu
kunft — wenn wir etwa von einigen zu erhoffenden Publikationen der dermaligen preußischen Archivverwaltung absehen - kaum bevorzustehen: durch die
Eröffnung der österreichischen Archive seit Arneths liberalem Regime und durch
eine ebenso umfassende als eindringliche Benutzung der übrigen in Betracht kommenden Archive Deutschlands und des Auslands im Laufe der letzten fünf
undzwanzig Jahre ist die Forschung, wenn sie auch im Großen und Ganzen
die Grundlinie, welche Häuffer in seinem bekannten Geschichtswerke, fast nur
unter Benutzung der gedruckten Literatur in genialer und patriotischer Weise für die Geschichte des mehrgenannten Zeitraums gezogen, nicht hat verwischen
können, doch in zahlreichen Einzelpunkten zu völlig anderen Resultaten gelangt. Daneben blieb jedoch, abgesehen von der Darstellung der Stein-Hardenbergschen Reformen, die innere Geschichte Preußens fast ganz außerhalb des Be
reichs der Untersuchung; erst jetzt, nachdem die Forschung für das Gebiet der
großen europäischen und deutschen Politik Preußens zu einem vorläufigen Ab schluß gelangt ist, wendet sie sich der Darlegung der gleichzeitigen inneren Ver
hältnisse unseres Staates zu. Dem Verfaffer muß vorerst das günstige Zeugniß ausgestellt werden, daß er ein großes Quellenmaterial mit ausdauerndem Fleiß und sichtbarem Geschick
benutzt hat.
Das geheime Staatsarchiv bot ein Aktenmaterial von überwälti
gender Fülle, nicht weniger bedeutend ist die gleichzeitige gedruckte Literatur, die namentlich in zahllosen Broschüren, Pamphleten, Zeitungen und Zeitschriften Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 3. 24
330
Notizen.
die gährende Bewegung der Zeit verräth.
Daß der Verfasser die mitgetheillen
Ordres, Berichte u. s. w. in ihrer originalen Form bringt, wollen wir nicht
tadeln, obschon uns diese Form doch zu wenig characteristisch für die Schreiber und deren Zeit zu sein scheint, als daß sie wie die Ausdrucksweise früherer Jahr hunderte ganz unverändert und unverkürzt mitgetheilt werden sollte; wohl aber
müssen wir es rügen, daß diese Quellenstellen sämmtlich im Texte, statt unter demselben abgedruckt sind, die Uebersichtlichkeit der Darstellung wird empfindlich beeinträchtigt, wenn dieselbe häufig durch solche Quellenmittheilungen unter
brochen wird.
Auch sonst scheint uns der Verfasser in der ausführlichen Dar
legung der innern Verwaltung Preußens des Guten häufig zu viel gethan zu
haben.
Die Vorverhandlungen zu erlassender Edicte u. a. sind meist viel zu
ausführlich mitgetheilt, Nebensächliches (wie die Angelegenheit des Predigers Schulz in Gielsdorf) mit einer ermüdenden Breite vorgetragen; der Verfasser hätte eingedenk sein müssen, daß die ganze Regierungszeit Friedrich Wilhelm II.
durchweg einen Stillstand, auf manchen Gebieten einen Rückschritt gegen das fridericianische Zeitalter bedeutet.
Keine festen Grundsätze, keine Consequenz
und Ausdauer, dafür unsicheres, von jedem Zufall des Augenblicks beeinflußtes Unlhertappen und Abspringen — das ist im Allgemeinen die Signatur der Staatsverwaltung unter Friedrich Wilhelm II.
Eine knappe, concise Darstel
lung ist hier nicht nur am Platze, sie ist geradezu nothwendig, wenn der Leser ein klares Bild des Geschehenen gewinnen soll.
Der Verfasser gelangt mit
dieser weitschweifigen Darstellungsweise im ersten Bande nicht weit über das Jahr 1790 hinaus: das würde für einen Zeitraum von 28 Jahren sieben Bände
geben, wobei wir die für die preußische Verwaltungsgeschichte so hochwichtige Jahre 1807—1812 als einer ausführlicheren Darlegung bedürftig noch gar
nicht in Anschlag bringen. Eine eingehende Kritik des historischen Urtheils des Verfassers kann hier
unsere Aufgabe nicht sein.
Wenn er in der Einleitung bezüglich der Aufgabe
des wahren Historikers bemerkt, daß derselbe stets auf den Gesichtspunkt der
Personen und die Lage der Verhältnisse, die er zu schildern übernimmt, zurück
zugehen bemüht sein soll, so können wir dieser Auffassung nur aus vollem Herzen beistimmen. Nur hätte der Verfasser sich auch strenge an dieselbe halten müssen, anstatt durch häufige Abschweifungen auf das Gebiet persönlicher Be merkungen und durch Betonung seiner eigenen Anschauungen bei dem Leser
doch immer wieder die Ueberzeugung zu erregen, als seien jene Grundsätze eben nur schöne Worte.
Herr Philippson gehört zu jener Classe von Politikern,
denen das Laisser-aller im Staatsleben oberstes Gesetz ist. Alles soll sich frei
und ungehindert von dem Zwange und der Aufsicht des Staates entwickeln können, wenn schon dieser wieder gut genug ist, im Falle jene freie Entwicklung schief geräth, mit. seiner Hülfe beizuspringen.
Wenn diese Art Politiker Ge
schichte schreiben, tragen sie ohne weiteres ihre Anschauungen, die noch nicht
einmal in der Gegenwart die Probe ausgehalten haben, auf entschwundene
Culturperioden über, indem sie auch bei diesen alle Mißstände als eine Folge
Notizen. des Abgehens von ihren Theoremen hinstellen.
331 Oder ist es vielleicht etwas
Anderes, wenn Herr Philippson das Fehlschlagen der wirthschaftlichen Reform versuche während der ersten Regierungsjahre Friedrich Wilhelm II. von deren
schutzzöllnerischem Charakter herleitet und dagegen annimmt, daß Alles sich herr lich gestaltet haben würde, wenn man nur von Staatswegen sich möglichst wenig
um Handel und Industrie gekümmert und namentlich die abscheulichen Schutz zölle beseitigt hätte?
Wir nennen dies eine unhistorische Auffassung, ja eine
Captivirung des Urtheils der Leser, weil Herr Philippson recht wohl weiß, daß staatliche Bevormundung und Unterstützung der Industrie des vorigen Jahr hunderts, welches Preußen noch unter der Nachwirkung der bis zur äußersten ma
teriellen Erschöpfung geführten Kriege, in den ersten schwachen Anfängen wirth-
schaftlicher Entwicklung und in totaler Abhängigkeit von anderen wirthschaftlich weit vorgeschrittenen Staaten fand, ebenso nothwendig gewesen ist als dem Kornfeld Regen und Sonnenschein. Jenes Hineintragen moderner Parteiprin cipien in den zu behandelnden Geschichtsstoff hat Herrn Philippson auch in an dern Beziehungen ungeschickt und ungerecht urtheilen lassen: manches, was er
den reacüonären Bestrebungen einzelner Persönlichkeiten in die Schuhe schiebt,
erweist sich bei näherem Zusehen lediglich als der natürliche Rückschlag der
fridericianischen Politik.
Das mit so bewunderungswürdiger Scharfsicht und
Energie aufgeführte Staatsgebäude Friedrichs des Großen stand doch wieder insofern auf schwachem Fundamente, als alle Bausteine ihre Last schließlich auf
einen einzigen Grundstein, eben das persönliche Regiment des großen Königs,
Es war eine solche Einrichtung allerdings eine historische Nothwen
entluden.
digkeit, sollte anders unser Preußen der Staat der Jetztzeit, der Führer und Einiger Deutschlands werden; aber mit derselben geschichtlichen Logik müssen
wir die Nothwendigkeit — nicht tadeln und kritisiren, sondern hinnehmen und zu begreifen versuchen, daß jenes Staatsgebäude ins Wanken gerathen und
schließlich zusammenstürzen mußte, nachdem jener Grund- und Eckstein aus ihm
herausgenommen war.
Wir begnügen uns für heute mit diesen kurzen Andeutungen und behalten uns ein näheres Eingehen auf den Inhalt des interessanten Buches bis zu dem Zeitpunkt vor, wenn die Darstellung die ganze Regierungszeit Friedrich Wilhelm II
abgehandelt haben wird.
CH. M.
Eine neue russische Stimme zur innerasiatischen Frage. Der russische Oberst Kostenko hat kürzlich eine militär-statistische Beschrei
bung des Militärbezirks Turkestan herausgegeben,
an deren Schlüsse er in
Betreff der militärischen und politischen Beziehungen zu den Nachbarstaaten, speziell über die Turkmenen-Frage, folgendes sagt:
„Die Lösung der Turkmenischen Frage ist im Prinzipe leicht, da wir ja die Erfahrung bei Lösung der völlig analogen Kirghizischen Frage vor Augen haben.
Der in den Jahren 1864—1865 bewirkten Herstellung einer Berbin-
332
Notizen.
düng unserer weststbirischen und
orenburgischen Grenze
entspricht jetzt eine
Verbindung der Grenzen des Turkestanischen und des Kaukasi schen Militärbezirks.
Nur durch eine solche Verbindung unserer Grenz
linie zwischen den beiden genannten Militärbezirken wird die Ruhe in der Turk-
menen-Hteppe herzustellen und der Feindschaft zwischen den verschiedenen Turkmenen-Stämmen ein Ende zu machen sein; dann wird ein geregelter Handels verkehr aus dem Bassin des Amu nach dem Ostufer des Kaspischen Meeres sich einrichten und eine direkte Verbindung des Europäischen Rußland mit Mittel asien sich eröffnen lasten, d. h. der Gedanke, den der Genius Peters
d. Gr. uns hinterlassen hat, findet seine Verwirklichung. Die Verbindung der Grenzen zwischen den Bezirken Turkestan und Kau kasus wird auch noch einen anderen wesentlichen Vortheil bringen. Unsere Ge
biete grenzen dann unmittelbar an Persien und nähern sich den Gebieten Eng
lands d. h. wir kommen in Berührung mit Mächten, welche internationale Ver
träge zu halten wiffen, und mit denen das Eingehen regelrechter Beziehungen möglich ist.
Besonders nützlich wird für uns die Nachbarschaft eines so
starken und mächtigen Reiches wie England sein. Die Furcht der Engländer
vor unserer Annäherung an die Grenzen Indiens verschwindet allmälig, sie überzeugen sich, daß keine ehrgeizigen Gedanken und keine andern eigennützigen Berechnungen Rußland bei seiner vorschreitenden
Bewegung in Mittelasien
leiten, als nur der Wunsch dies Gebiet zu beruhigen, seinen produktiven Kräften
die Bahn frei zu machen und den kürzesten Weg für den Absatz der Produkte
Turkestans nach dem europäischen Theile Rußlands zu eröffnen."
Dem deutschen Leser sind derartige Anschauungen nicht mehr fremd. Neben einer ganzen Reihe politischer Abhandlungen ähnlichen Inhalts hat im vergan genen Winter ein Artikel der Preuß. Jahrbücher (Februar ff.) neben der poli
tischen und wirtschaftlichen auch die militärische Nothwendigkeit eines solchen Vorgehens zu begründen versucht; es ist aber unseres Mistens das erste Mal,
daß ein russischer Officier und berufener Theilnehmer an den Vorgängen in Mittelasien die Herstellung einer zusammenhängenden Grenzlinie
zwischen den Militärbezirken Turkestan und Kaukasus, das Er reichen der Nachbarschaft mit den englischen Besitzungen und die
Verwirklichung der Gedanken Peters d. Gr. öffentlich als das Pro gramm des russischen Vorgehens aufstellt. Nicht minder bezeichnend ist es aber
auch, daß diese Veröffentlichung gerade zu einem Zeitpunkte erfolgt, wo Eng land den freilich vergeblichen Versuch macht sich von dieser Nachbarschaft mög
lichst weit an seine indische Grenze zurückzuziehen.
Daß ferner Oberst Kostenko
für die Zukunft nicht blos an freundliche Beziehungen Rußlands zu England und Persien denkt, zeigt die Angabe in einem früheren Abschnitte des Buches, wo er ausdrücklich sagt, daß die Bassins des Serafschan und des Amu
als Berpflegungsbasis für eine beträchtliche Armee dienen können. Verantwortlicher Redacteur:
H. v. Treitschke.
Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.
Reiseeindrücke aus Sanwgitien (Schluß.)
Weit eindringender als die Autorität der Beamten ist die, welche die katholische Kirche, eigentlich die niedere Geistlichkeit auSübt. Das Volk
ist roh, die Ergebenheit gegen die Kirche entsprechend blind.
Die Pfarrgeist
lichkeit steht auf einer niederen Bildungsstufe, ist geboren aus demselben rohen Volke, in dessen Mitte sie lebt. Jedes größere Dorf hat seine kleine armselige
hölzerne Kirche, neben welcher der Geistliche in einem Hause wohnt, das sich nicht von den umgebenden Bauerhäusern unterscheidet.
Sein Gehalt ist
sehr dürftig, der Lebensunterhalt fließt ihm hauptsächlich aus den Amts
fahrten ein, auf welchen er, besonders im Spätherbst, von Bauerhof zu Bauerhof fahrend, sein Korn, Butter, Honig, Fleisch, Kartoffeln einheimst.
Die höhere Geistlichkeit hat zum größeren Theil ein gutes Einkommen, mancher
Propst bezieht seine 10000 und mehr Rubel im Jahr. In den Städten findet man meist stattliche große Kirchen, welche aus der Zeit der jesuitischen Gegen reformation zu Anfang des 17. Jahrhunderts herstammen und einstmals reich
mit Land bothet waren, bis die Staatsumwälzung von 1791 und dann die russische Regierung diesen Besitz einzog. Die zahlreichen Festtage und kirch
lichen Feierlichkeiten bringen den höheren Geistlichen dieser Kixchen viel Geld ein. Ist ein Kalwarienfest im Lande, so sieht man die Schaaren der
Wallfahrer fünfzig und mehr Meilen weit herbeiströmen, und die Meisten bringen ihr Scherflein
dar.
Bon diesen Scherflein
veranstaltet dann
die Geistlichkeit der Kalwarienpfarre oder deS Klosters einen Markt, der
beträchtlichen Gewinn abwirft.
Der Klöster giebt eS nur noch sehr we
nige, da sie staatlich aufgehoben worden sind: nur einzelne sind noch übrig gelassen, darin die letzten Kapuziner und Dominikaner ihr Leben beschließen dürfen; Novizen dürfen nicht ausgenommen werden, und so sterben auch
diese wenigen Klöster langsam auS. Die Kirchen sind gefüllt, der Beicht stuhl ist besetzt, und die Autorität dieser Führerschaft ist stärker als eine andere, weil sie die unmittelbarste, gegenwärtige und gewohnte ist.
WaS
die russische Regierung auch gethan hat, um der Reichskirche hier Stellung Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 4. 25
Reiseeindrilcke aus Samogitien.
334
zu schaffen, wie viel kostbare orthodoxe Tempel sie auch überall hat er
bauen lassen: das Gefüge der römischen Kirche hat sich doch zu fest er wiesen, um so von Staatswegen gebrochen zu werden durch den absoluten
Mit der Propaganda für die griechisch-russische Staatsreligion
Willen.
ist es nichts und wird es wohl auch nichts werden.
Etwas mehr Erfolg
hat der Staat in seinem Bestreben gehabt, den örtlichen Katholicismus
von dem Polenthum zu trennen, mit dem er vordem völlig verwachsen war und dann auch sein Theil an den Aufständen für das Polenthum hatte.
Die Regierung war seit 1863 bestrebt, das Litthauerthum, das
Bauerthnm anch in der Kirche dem Polenthum entgegenzustellen. Bischöfe und Geistliche wurden vorzugsweise aus dem litthauischen Stamm gezogen und an der Hand oder durch die Hand litthauischer Bischöfe eine litthauischc Partei innerhalb der hiesigen Kirche großgezogen.
Es ist die
von der russischen Regierung überall befolgte Politik, das niedere Volk gegen die widerspenstigen oberen Klassen zu setzen, welche sie hier in der
Kirche angewandt hat.
Indessen dürfte sie sich auf dieses kirchliche Jung-
litthauen nicht allzu fest verlassen,
denn zuletzt ist die katholische Dis
ciplin doch stärker als nationale Empfindungen.
Wie fest die katholische
Kirche hier steht, sieht man daraus, daß alle Verlockungen des Staats zum Uebertritt in seine Kirche vergeblich sind, obwohl er nicht zögert, mit
materiellen Prämien vorzugehen, beispielsweise in einem Bezirk den or
thodoxen Landgensdarmen Schenkungen an Land macht und den anders
gläubigen Collegen nur die Aussicht eröffnet, daß sie dasselbe sich ver dienen könnten durch den Glaubenswechsel,
und
dergleichen
mehr.
—
Materiell hat die katholische Kirche durch den Aufstand von 1863 unge
heure Verluste erlitten, indem viele Güter confiscirt, die Klöster und viele Pfarren aufgehoben wurden.
Immateriell hat sie, wie es die Absicht
und Meinung der Regierung war, verloren durch die Vernichtung ihrer
Schulen.
Aber doch wohl nur scheinbar, denn die Beförderung der Ver
dummung des Volkes, welche dadurch angebahnt worden ist, da keine
Staatsschulcn an die Stelle traten, hat wohl noch niemals der Macht
der Kirche geschadet, und so auch hier nicht. — Die katholische Kirche hat ihre wohlthätigen Wirkungen
auf das
Volk, sie hält es zusammen, befördert die Seßhaftigkeit, erhält die Auto
rität.
Die Auswanderungslust,
welche in den Nachbarländern in Ost
und Nord zu Hause ist, blieb hier bisher unbekannt.
ihre Schattenseiten.
Fasten.
Aber sie hat auch
Dazu gehören in erster Reihe die Feiertage und
Es giebt schwerlich ein Land — das eigentliche Rußland aus
genommen — in welchem das Volk so oft feiert als hier, man kann an nehmen, je einen Tag
wöchentlich,
meist zu kirchlichen, außerdem
zu
Reiseeindrücke ans Samogitien.
335
staatlichen Ehren, so daß nur höchstens 261 Arbeitstage übrig bleiben. Das Fasten wird
streng
geübt.
Es ist sonderbar,
daß die sonst so
praktische römische Kirche in dieser Beziehung so starr am tödtenden Princip
mag recht wohlthätig sein für Leute, welche durch
Das Fasten
hält.
vieles Essen und Trinken von dem. religiösen Bewußtsein abgezogen wer den, in Ländern, wo Fleisch und Fett unnütze Nahrungsmittel sind und
leicht blos die Lust des Fleisches nähren.
Aber wie kann man sich den
Nutzen der Enthaltung von diesen Speisen dort vorstellcn, wo diese Ent
haltung eine leidige Regel der täglichen eisernen Nothwendigkeit ist, wo Fleisch und Fett eigentlich nothwendige Bedürfnisse sind und wo die re ligiöse Andacht durch den leeren Magen gestört wird, weil die ohnehin elende Nahrung zur Feier des Tages noch kärglicher
ausfiel?
Diese
Litthauer fasten aus Noth das runde Jahr über in Bezug auf Fleisch und Butter und alle kräftigen Dinge, und nun wird ihnen noch an zwei
Tagen der Woche und an sechs Wochen außerdem im Jahr untersagt, das bischen Fett zu genießen, welches sic auf ihr trockenes Brod legen.
Dabei fordert das rauhe Klima unbedingt eine tüchtige Menge Fettes zur Ernährung und Erwärmung des Körpers, besonders desjenigen eines
Ist es da nicht naturgemäß nothwendig, daß der Arbeiter
Landarbeiters.
das fehlende Fett und Fleisch durch ein anderes wärmeerzeugendes Mittel,
den Schnaps, ersetzt? Hat er zwei Tage gefastet, so greift er zum Brannt wein, sobald er Sonntags die Kirche verläßt und nicht zu den hier sehr
verbreiteten Genossen der Mäßigkcitstheorie gehört.
Wenn man trotzdem
hier so wenig Trunkenheit sieht — jedenfalls weit weniger als in Ost oder Wcstpreußen — so hat mir das stets eine achtungsvolle Verwunde
rung abgenöthigt.
Denn ob der Branntwein hier auch theurer ist als
in Preußen, so fehlt es doch dem Bauern nicht an Geld ihn zu bezahlen wenn er trinken, über das Maß trinken wollte. — Nur die Feiertage und Fasttage bringen Trunkenheit zum Vorschein in größerer Menge.
ebenso
geht
es
bei
den großen
Osterfasten.
Osterfasten sind eine gefahrvolle Pest für daS Landvolk. Tage vor Beginn derselben wird
Lebewohl gesagt.
der
dem
Fleisch und
Am letzten
dem Branntwein
Das ist dann ein herzerschütternder Abschied.
überhaupt Branntwein genießt, vertilgt an diesem
Fleisch und Branntwein,
Und
Diese sechswöchentlichen
Tage so
Jeder viel
als er irgend hinunter bekommen kann, und
hält in der unbefangenen Art dieses rohen Volkes das wirklich für ein Vorausarbeiten, für eine Vorbereitung auf die karge Zukunft.
essen und trinken sich dabei krank.
Tausende
Dann kommen die sechs Fastenwochen,
und da der Körper der Leute ohnehin schlecht ernährt ist, so wird er von dem nun ganz ungenügenden Essen erst recht angegriffen.
Etwas Hanf25*
336
Reiseeindrücke aus Samogitien.
öl, etwas Fisch, Milch und schlechtes Brod aus unreinem Roggenmehl, Kartoffeln, und dabei die schwere Arbeit des Frühlings!
das Ende der Fasten.
Wochenlang schaut Alles
Nun kommt
gierig auf die vollen
Fleischtöpfe und gefüllten Schnapsbecher des ersehnten Tages hin.
End
lich ist er da, Alles stürzt, ausgehungert und geschwächt, auf das Labsal, und es entsteht eine Schwelgerei, die, wenn man diese Körper und diese
Sinne in Betracht zieht, viehischer, ausschweifender, ärger ist, als die Gastmähler des Lucullus eS waren.
lich dieser Tag
Es ist nur natürlich, daß alljähr
eine gute Anzahl von den armen Schwelgern mordet.
Das Osterfest wird stets zum Todestage so Mancher, und Krankheiten
und Betrunkenheit sind in seinem Gefolge.
Es ist eben immer derselbe
Unsinn, wie beispielsweise das Verbot des SchweineeffenS bei den Juden.
MoseS hatte, wie er in seinen Satzungen überhaupt weise war, so auch darin gewiß recht, das Schwein für die damaligen Wohnsitze seines Volkes zu verbieten.
Aber wenn das fette Schweinefleisch unter der Sonne
Jerusalems ungesund war, so ist eS äußerst gesund unter der Sonne Londons oder Petersburgs oder KownoS, und diese locale Gebundenheit
seiner Satzung muß der heutige Talmudjude in Litthauen und sonstwo theuer genug bezahlen.
Der dritte Herrscher neben Beamten und Pfaffen ist in diesem Lande
der Jude.
Der polnische Jude ist heutzutage in ganz Europa bekannt
und typisch geworden.
Reinheit der Rasse auf.
Unangekränkelt von Kultur tritt er hier in voller Ich glaube, daß kein Volk Europa'S so wehr
los dem Judenthum gegenübersteht als das slavische mit seiner Energie losigkeit, Sinnlichkeit, Genußsucht, seiner passiven Schmiegsamkeit.
Der
russische Staat hat bisher nicht mit Unrecht sich vor der Kraft des Judenthums gescheut und daS nationale Rußland gegen dasselbe verschlossen.
In der Kunst deS Handels freilich steht der Russe dem Juden nicht zu weit nach, er ist auf diesem Gebiete rührig, gewandt, verschlagen.
Als
man einst Peter dem Großen vorschlug Rußland den Juden zu öffnen, soll der radikal-liberale Reformator seine Weigerung mit den Worten be
gründet haben:
„Meine Russen sind selbst Juden genug".
gewiß nur auf die Befähigung zum Handel gemünzt.
Das war
Denn im Uebrigen
ist der Jude auch dem Russen ein sehr gefährlicher Nachbar, und wenn
ich kaum zweifele, daß daS Heranwachsende doktrinär-demokratische Rußland die alte Schranke brechen wird, so zweifele ich eben so wenig daran, daß
dieses von großen und üblen Folgen für die Russen sein werde. All jenen Eigenschaften deS slavischen Charakters paßt sich der Jude
so vortrefflich an, daß er ganz an den Körper deS SlaventhumS anwächst und sein parasitisches Leben in genauer Uebereinstimmung mit dem Wohl
337
Reiseeindrücke aus Samogitien.
und Wehe des Landes führt.
Neben dem traditionellen Beruf deS Han
dels mit Waaren und Geld findet man hier auch eine erhebliche Menge von jüdischen Handwerkern, die einer wenn auch armseligen Production
obliegen.
Da das Land trotz seiner natürlichen Fruchtbarkeit doch arm
ist, so ist auch der Jude arm; und da er zahlreich ist, so daß der Handel nicht alle diese 2 7, Millionen russischer Juden ernähren kann, so ist er genöthigt, zu manchen Gewerben zu greifen — Schneider und Schuster,
Klempner und Glaser, auch Maurer und Schmied, vor allem aber Schenk-
wirth, Branntweinbrenner, Milchpächter.
werben hat
der Jude
die
and)
Und neben diesen ehrlichen Ge
unehrlichen monopolisirt, als da sind
Hehlerei, Schmuggel, Pferdediebstahl und — Advocatur.
Ich kann den
deutschen Collegen vom Fach den Aerger nicht ersparen, des edlen Advocaten-
berufs hier in so verletzender Nachbarschaft erwähnt zu sehen.
So viel ich
sehe, ist nahezu die gesammte Advocatur hier in jüdischen Händen und
gehört zu den betrügerischsten, unsaubersten Gewerbsarten, mehr noch als
z. B. der Pfcrdediebstahl.
Um Advocat zu werden, bedarf es rechi geringer
Kenntnisse: russisch Lesen, Schreiben, Sprechen; Vertrautheit mit den Praktiken
und Kniffen der Behörden, einige Kenntniß mit den Gesetzen, das ist Alles. Der Knabe tritt erst als Laufbursche bei einem Beamten ein, wird dann
Copist, dann Schreiber und in ein paar Jahren thut er sich als Advocat auf.
Nun beginnt das Geschäft des Einfangens der Clienten.
In allen
Vorzimmern der Behörden lungert er umher und beobachtet die Ein- und
Ausgehenden.
Sobald sich eine sorgenvolle Stirn blicken läßt, ist
Jude bei der Hand und tröstet;
der
es giebt keine Sache, die so verzwei
felt, kein Handel, der so schlimm wäre, daß sich daran nicht die lockend
sten Aussichten, die rosigsten Hoffnungen knüpfen ließen, und da das Bäuerlein vom Gesetze eben so wenig oder noch weniger weiß als der Tröster, so läßt eS sich jederzeit überreden und überläßt seine verlorene
Sache gegen gute Vorauszahlung oder Antheil am Gewinn dem Verlocker.
In jedem Vorzimmer eines Friedensgerichts und Gattung
von
Behörde
Rechtsvertheidiger,
lauert
und die
eine
große
in
Meute
mancher anderen solcher
hungriger
lange Praxis sowie der Scharfsinn dieser
Wegelagerer bringt eö zu Wege, daß die ohnehin schwach besetzten Be hörden von der Last der unsinnigsten Processe und von der Wucht der
Frechheit und Sophistik meist
stark
beeinflußt werden.
Versucht nun
aber ein Richter sich von dieser Bande zu befreien, ihnen die Praxis zu
erschweren oder abzuschneiden, so vereinigt sich sofort die gesammte Juden schaft der Gegend zu dem Streben, den widerspenstigen Richter vom Amt
zu treiben, was denn auch oft genug gelingt. Wie mit der Verwaltung und dem Rechtsleben, so geht es mit allen
Reiseeindrücke aus Samogitien.
338
anderen Berufsarten, deren der Jude sich bemächtigt oder in welche er ein
dringt.
Er zersetzt überall mehr, als daß er einte, er wirkt entsittlichend,
er arbeitet billig und schlecht.
Er könnte freilich in dem hiesigen Rechtsleben
nicht eine solche Rolle spielen, wenn dieses russische Recht nicht eine solche
wüste Anhäufung-systemloser Gesetze wäre, die überall der Spitzfindigkeit eine Handhabe bietet zur Verdrehung oder Umgehung des Buchstabens. Er könnte nicht so entsittlichend auf allen andern Gebieten wirken, wenn die öffentlichen
und privaten Zustände nicht auf einer so niederen, haltlosen Stufe ständen.
Allein, da es nun einmal so ist, da der Litthauer arm und geistig wenig, an Charakter noch weniger entwickelt ist, so hat daS Geld und der Ver stand deS Juden gewonnen Spiel. Denn während in diesem Lande Alles
Andere eine schlechte Organisation, eine nur sehr lockere Verbindung unter einander zeigt,
bildet daS Judenthum eine feste Körperschaft, eine ge
schlossene Theokratie innerhalb der Monarchie, wodurch alle die Mittel
deS Erwerbes und der Macht in den Händen der Einzelnen gesteigert werden.
DaS Rabbinat mit seinem Talmud in der Hand beherrscht die
Masse des Judenvolkes in unvergleichlich höherem Grade
liche Gewalt eS thut.
als die staat
Die Tradition und der Rabbiner sorgen dafür,
daß stets der Jude bei seinem Stamme Schutz findet gegen Unrecht und auch Recht des Christen, daß er stets in dem Bewußtsein seiner natio
nalen Sonderstellung und Gegnerschaft gegen
alle Nichtjuden erhalten
werde. DaS Ergebniß meiner Erfahrungen geht dahin, daß in diesen Gegen
den das jüdische Volk in Rücksicht auf die Intelligenz durchaus zu den obersten Klassen der Bevölkerung gehört, eine nationale Aristokratie der Intelligenz bildet; daß es aber andrerseits gerade in Verbindung mit dieser
hervorragenden Intelligenz sittlich eine unverhältntßmäßig niedere Stufe ein nimmt.
Ferner zeigt sich hier, daß der Jude in der äußersten Noth zwar
sich herbeiläßt zu manchen productiven Beschäftigungen zu greifen, und
zwar in der Stufenleiter der zwingenden materiellen Noth; daß er aber mit jedem Rubel, der sich in seiner Tasche mehr einfindet, sich auch wie der weiter von der körperlichen Arbeit zu entfernen sucht.
Man statte
jeden Juden mit tausend Rubeln aus und man wird keinen mehr finden, der den Hammer oder Hobel, geschweige denn die Schaufel führt; man
wird keinen finden, der als Werkmeister jene Instrumente führen läßt,
sondern das ganze Judenthum wird in Unternehmungen des Handels und
der Industrie aufgehen.
Von dem Pfluge läßt ohnehin auch der jüdische
Bettler stets die Hand. — Mit diesen Eigenschaften, mit einer Freiheit der Selbstverwaltung wie
sie keiner Provinz des russischen Reiches, keinem andern Volksstamm zwischen
339
Reiseeindrücke aus Samogitten.
Weichsel und Ural in solchem Maße gewährt ist, mit dem Fortwuchern einer GeisteSrtchtung, welche von keinerlei staatlicher Erziehung oder Unter
richt in modernem Sinne gemildert wird, behauptet der Jude hier eine Stellung, die in geistiger Hinsicht stachelnd, belebend, in sittlicher aber um
so ätzender wirkt, und das eben so wohl auf die oberen Klassen wie auf den Bauer.
Materiell ist natürlich der Bauer am meisten in seiner Ge
walt, der in bekannter Weise mit Schuldscheinen und Branntwein bear beitet wird.
Der jüdischen Dialektik gegenüber ist der Bauer, der zur
Zahlung einer Schuld eines Rubels bedarf, eben so wehrlos wie der, welcher mit seinem Korn zu Markte kommt oder dessen Gewissen zu einem
Diebstahl oder einem Prozeß überredet werden soll. Der Beutel des Bauern gewinnt dabei äußerst selten, und seine Moral niemals.
Moral! wo sollte
der litthauische Bauer die wohl gelernt haben unter der Zucht der drei führenden Klassen: Panthum, Pfaffenthum, Judenthum!
Und doch ist eS
damit wie mit dem Acker den der Bauer pflügt: der Acker wurde niemals gut bearbeitet, nothdürstig von oben angekratzt, trug niemals gute Ernte — aber ward auch nicht vernutzt, und sobald er gute Pflege erhält, so zeigt sich seine Dankbarkeit.
Der Bauer ward niemals gut behandelt,
geführt: aber die gute Kraft ist diesem Stamme geblieben, sie verlangt
nur guter Pflege, fester und vernünftiger Regierung und Leitung.
DaS
einzige Verdienst des hiesigen JudenthumS, welches ich zu erkennen ver
mag, ist die Belebung in Handel und Wandel.
Niemand handelt so
leicht, schnell, billig, ist so unternehmend.' Als solches belebendes Werk zeug in der Hand einer festen Regierung, einer kräftigen Bevölkerung hat
der Jude seinen guten Werth. Das
polnische Element,
welches hier zu Lande großentheils
aus dem litthauischen Stamm hervorgewachsen, verpolteS Litthauerthum ist, hat nicht durchweg die üblen Eigenschaften, welche man sonst dem Polenthum nachsagt.
Ich meine hier hauptsächlich den niederen Adel, in
dem das shamaitische Blut stark überwiegt.
Das ächte Polenblut ver
leugnet sich auch in dem hiesigen höheren und mittleren Adel nicht.
Wir
haben da die Magnaten, die mit großen Titeln und großem Grundbesitz prunken, und daneben den mittleren Grundbesitzer polnischer Abstammung,
der auf jene Magnaten schwört.
Eitelkeit ist bei beiden eine hervor
stechende Eigenschaft, Willkür eine andere und Unbildung eine dritte. Fürst X, ein Nachbar meines Freundes, gebietet über mehre Quadrat meilen Landes.
Seine „Residenz", wie der Magnat seinen Wohnsitz zu
nennen pflegt, zeigt äußerlich ganz die Ansprüche eines herrschaftlichen
Schlosses.
Große Mauern umgeben den Hof, große Wappenschilder
schmücken daS Thor, durch welches wir einfahren, sowie die Thüren des
Reiseeindrücke aus Samogitien.
340
Schlosses, Säulen ragen über der Freitreppe auf, die uns ins Vorgemach führt.
Aber die
Mauern haben
nur
Mörtel be
wenig von ihrem
halten, die Wappenschilder sind von Holz und die Farben darauf stark
vom Regen verwaschen, die Kapitale der Säulen sind dunkel von dem Unrath, den die Schwalbennester auSwerfen, am Schlosse ist manche Stelle
längst der Ausbesserung bedürftig, das Dach ist vielfach mit Brettern ge flickt.
ES ist Sonntag.
Vor der Freitreppe hält eine große altmodische
Kutsche mit sechs Pferden davor und zwei in blau und Gold glänzenden Livreelakaien hinten.
Auf dem Schlage und den Knöpfen der Lakaien
sowie des mit dreieckigem Hut bedeckten Kutschers breitet sich das fürstliche
Wappen aus.
Auf unsere Fragen erfahren wir, daß die Fürstin im Be
griff sei zur Sonntagsmesse zu fahren.
Sie erscheint am Arm des
Fürsten^ gefolgt von Kammerlakai und Gesellschaftsdame, und fährt ab.
Sofort rollt eine zweite Kutsche mit vieren vor, gleichfalls mit Wappen
und betreßtem Kutscher, nur statt der Livreelakaien reiten zwei Leute in Kosakenuniform zur Seite des Wagens.
ab zur Kirche.
Der Fürst nebst Sohne fahren
Wir gehen die Freitreppe hinauf und werden von einem
mächtigen Thürner empfangen, wieder in großer Livree mit dreieckigem
Hut und hohem, goldbeknöpftem Stock.
halten die höflichste Einladung einzutreten.
Wir begehren Einlaß und er
Dabei schlägt ein neugieriger
Windstoß den langen Schooß von der Livree des ThürnerS zurück und
wir bemerken, daß unter dieser vornehmen Hülle eine schmutzige Hose von
gröbstem Linnen und eine zerrissene Weste aus dem gewöhnlichen bäuer
lichen Wollenzeuge sich befinden.
Da der Schloßherr nicht zu Hause ist,
so sind wir diScret genug nicht weiter vorzudringen, sondern fahren zu einem andern Nachbarn.
Unterwegs höre ich denn von meinem Freunde,
daß Fürst X. ein gefürchteter und gewaltthätiger Mann sei, der auf jede Weise seine Stellung im Lande zu erhöhen strebt.
Er bekleidet ein an
gesehenes Amt, ist stets von Leuten belagert, die durch ihn etwas in dieser oder jener Behörde zu erringen wünschen, ist für Jedermann zu sprechen und hat für Jedermann das Benehmen herablassender Huld.
Allen öffent
lichen Anstalten hat er Geschenke gemacht, keiner ein kostbare- oder be sonders werthvolles; von allen öffentlichen Anstalten hat er sich öffentlich
eine Danksagung erstatten lassen und jede einzelne hat er nachher und nach vorgängiger Anzeige mit seiner Besichtigung beehrt.
Die inneren
Verhältnisse aller dieser Anstalten sind ihm gänzlich unbekannt.
In der
Kreisstadt wird er von Jedermann ehrfurchtsvoll gegrüßt und hat für die Meisten höfliche Worte.
Dafür weiß man, daß ihm fast alle Mittel
gleich gut sind, wenn es gilt Jemanden, der ihn reizt, niederzuwerfen.
Er hat auf Leute schießen lassen, die ihrem Recht gemäß
in seinem
Reiseeindrücke aus Samogitien.
341
Walde ihr Vieh weideten, er hat Bestechung und Gewalt oft und erfolg
reich
angewandt
um schlechte Sachen zu
günstigem Ende zu bringen.
Seine Stellung in der Provinz und in der Residenz, bei Hofe, ist eine solche, daß er noch fast immer Sieger blieb.
Es ist natürlich, daß er in
einer so demoralisirten Gesellschaft, als die hiesige ist, eines höheren An sehens genießt als die öffentlichen Autoritäten. —
Endlich langen wir beim andern Nachbar meines Freundes an, dem
Pan U, Eigenthümer eines Gutes von etwa 300 Hektaren. Das Wohnhaus steckt in einem ungepflegten Garten, der von einer Lindenallee nach allen Seiten
hin eingefaßt ist.
Sieben halbwilde Hunde, deren feder einer besonderen
Rasse anzugehören scheint, stürzen mit einem Gebell gegen uns vor, als
ob Wölfe in den Hof brächen.
Alle Gebäude hier sind aus Holz, mit
Stroh oder Schindeln gedeckt, einige darunter im Begriff einzustürzen, die Dächer vielfach schadhaft.
Der Eingang zum ebenerdigen Wohnhause
ist von einem sehr einfachen und alten Bretterhäuschen geschützt, Fenstern drin.
spannt.
mit
Davor steht wieder eine Kutsche, mit drei Pferden be
Die Kutsche ist noch weit antiker als die fürstliche, die Gäule
davor schlecht gehalten
und
ebenso geschirrt.
Auf dem Bocke sitzt ein
simples altes Bäuerlein, nur ausgezeichnet durch die Reste einer silbernen Tresse an der Mütze.
Auf beut hinteren Tritte schwankt eine lange dürre
Figur mit blauer Mütze und langem blauem Rocke.
Aus Wißbegier
trete ich näher um zu untersuchen, welches Wappen auf den Metallknöpfen geführt wird, die mit Abwechselung von einigen Hornknöpfen bett blauen
Rock zieren.
Zu meinem Erstaunen sehe ich den russtschen Reichsadler
und lese um denselben die Bezeichnung „Ministerium der Volksaufklärung". Mein Freund lacht ohne mein Erstaunen zu theilen und beruhigt mich
über meine Sorge, daß ich da etwa einen würdigen Präzeptor, aus der nächsten Kreisschule vor mir habe.
Er meint, nur die Knöpfe oder auch
der Nock mögen wohl daher stammen.
Nach den Erfahrungen vor der
fürstlichen Hausthür konnte ich dem Reiz nicht widerstehen, auch bei diesem Lakaien nach der schwachen Stelle des Anzuges zu forschen, und fand,
daß die Füße dieser Kutschenverzierungett mit Lumpen umwunden waren und in Bastschuhen staken.
Auf unsere Frage erfuhren wir daß der Pait
ebenfalls sofort zur Kirche eile, weshalb wir die weiteren Besuche auf
gaben und nach Hause zurückkehrten.
Mein Freund erzählte mir, dieser
Pan I sei an Bildmtg ein Bauer, und lebe wie ein Bauer.
Aber er
sei sehr eifersüchtig auf die Anerkennung seiner adligen Stellung und strebe darnach sich in die Sphäre des Magnatenthums möglichst zu er
heben.
Daher versäume er nie zur Kirche zu fahren sobald der Fürst X.
die Kirche besuche, tittb sich dort im Gespräch mit einem Gliede der fürst-
342
Reiseeindrücke aus Samogitien.
lichen Familie dem Volke zu . zeigen.
Daö erhöhe seine Stellung beim
Volk, wofür wiederum das Ansehen deS Fürsten wachse durch die Ehr
furcht, welche Pan A ihm erweise. DaS ist daS alte Polenthum.
Es giebt aber auch ein junges Polen-
thum, welches durch lebhafteren Verkehr mit Fremden jene häßlichen Cha
rakterseiten vielfach überwunden hat, seinem Beruf lebt.
welches arbeitsam
und intelligent
Auch ist daS polnische Element schon vielfach durch
setzt von deutschen Grundbesitzern, welche dazu beitragen, die Härten der polnischen Art zu mildern.
Und im Ganzen hat der mittlere, zwischen
Magnaten und niederer Schlacht« stehende polnische Grundbesitzer auch
heute noch, wie in früheren Jahrhunderten, am meisten Kulturkraft.
In
diesem Stande findet man am meisten Arbeit, Sparsamkeit, bürgerliche
Tüchtigkeit. — Vom hiesigen Polenthum wäre niemals eine polnische Revolution
ausgegangen, und wenn Litthauen mit dabei war, so trieb nicht sowohl jener polnische Nationalpatriotismus dazu an, als vielmehr soziale und
materielle Verhältnisse.
Der Pan, der große Grundbesitzer, wünschte sich
zu der altpolnischen Herrschaft zurück, welche ihm volle Willkür im Lande
sicherte; der polnisch-litthauische Schlachtiz aber, der kleine Edelmann, das Hauptcontingent der Revolution, war und ist mit gutem Grund zu jedem
Umsturz bereit, weil sein Adel nichts mehr gilt, seit das Polenthum zu herrschen aufhörte, und er thatsächlich wenn auch nicht förmlich zum ge wöhnlichen Landbauern herabgedrückt worden ist, weil er grimmig oder traurig in sein Adelsdiplom aus der Zeit König Augusts H. oder Kasimirs
schaut und täglich sieht wie sein Nachbar eS besser hat blos weil er nicht
„adlig" ist.
Er hat wenig Glück mit diesem Dokument, wenn er versucht
brauchte mein
sich damit Stellung zu schaffen.
Einst
„Buschwächter" oder Waldaufseher.
Unter Anderen erscheint ein Candidat
Freund
einen
mit litthauischem Namen, er empfängt ihn mit dem üblichen „Du" und
läßt ihn an der Thür stehen, während er auf und ab wandelnd mit ihm
verhandelt.
Alsbald zieht der Pole ein Papier hervor, sein AdelSdiplom,
das mein Freund als nicht zur Sache gehörig durchzusehen verweigert. Mein Freund steckt im Gehen eine Cigarre an, Herr „von Gentillo" be nutzt den Augenblick um sich auf einen Stuhl niederzulassen und eine Cigarette hervorzuholen.
Ehe er zum Rauchen kommt bedeutet ihn mein
Freund, daß er sich nicht in der Schenke befinde, etwas in barschem Tone, worauf denn von Stund an der Edelmann verschwunden war und Herr Gentillo sich betrug wie ein anderer Bauer, freilich mit der Zugabe, daß er mehr als Andere sich mit Pferdediebstahl beschäftigte. — Aber das ist es, daß das unglückliche Dokument immer in der Tasche sitzt und Gentillo
343
Reiseeindrücke aus Samogitien.
und den Tausenden Seinesgleichen, die größtentheils weder zn lesen noch
zu schreiben verstehen, den Kopf verdreht, daß sie sich berechtigt glauben sich für Beraubte zu halten und dann bereit sind den Polensäbel zu schwingen wenn ein Pan ihnen sagt, es gelte die polnische Freiheit und die polnische
Schlachta wieder aufzurichten.
Wären sie noch vollständig zu Bauern ge
macht, auch formell ihrer Diplome beraubt oder entledigt worden, eS wäre besser für sie.
Jetzt haben sie ihre Diplome, die ihnen nicht nützen, und
haben nicht die diechte der Bauern, welche ihnen von großem Nutzen hätten
sein können.
Denn nun sind sie sämmtlich bei der Landablösung leer aus
gegangen und haben nicht einmal das Recht, Grundeigenthum zu kaufen für ihr gutes Geld.
Das erbittert diese Leute, das treibt sie gewaltsam
in die Hand der polnischen Grundherren.
Darin besteht für die hiesige
Schlachta (den kleinen Adel) die ganze polnische Frage, und man vertilge
jene Documente, so wird sich die Schlachta schon beruhigen.
Ein polni
sches Bürgerthum giebt es hier nicht, wie es in Eongreßpolen und Galizien
besteht.
So
ist das
ächt und unächt
polnische Element in Wahrheit
numerisch nicht groß gegenüber dem litthanischen.
Ein polnischer Aufstand
hätte fortan hier keinen Boden mehr, seit das Litthauerthum durch die
Befreiung der Bauern ans eigene Füße gestellt ist.
Und je mehr der
Litthauer erstarkt, um so mehr saugt er das riiedere Polcnthum auf, und
es wird nicht gar zu lange dauern, so
sind diese Gebiete wieder
so
litthauisch als sie vor Jagello und der Vereinigung mit Polen waren.
Dann erst beginnt wieder der Kampf um die nationale Herrschaft, und dann könnte es allerdings Rußland gelingen, den Sieg 311 erringen, das
Litthauerthum zu verschlucke«, natürlich vorallsgesetzt daß dann diese Ge
biete noch wie heute staatlich zu Rußland gehören.
Dann wird eben der
Schutzwall gefallen sein, welchen das Polenthnm bisher der Russifizirung
auch des LitthauerS entgegenstellte.
Es ist dasselbe Verhältniß hier wie
in jenen russischen Ostseeprovinzen, wo heute das deutsche Element herrscht:
ist das Polenthum hier, das Deutschthum dort erst gebrochen, dann werden
Litthauer wie Letten weit leichter voit dem höher stehenden Russenthum überwältigt werden. —
Vorläufig blüht daS Litthauerthum auf, wenigstens materiell.
Der
litthauische oder shamaitische, auch shmudische Stamm Rußlands zählt
über eine Million Köpfe; er gehört zur indogermanischen Rasse und hat seine
nächsten Verwandten in den Letten; seine Sprache soll nach der Ansicht der Sprachforscher dem Mutteridiom unserer Rasse, dem Sanskrit am itächsten stehen unter den bekannten Sprachen Europas.
Der Name Shmude ist ur
sprünglich wohl kein nationaler Eigenname. Im östlichen Theil des Gebietes
herrscht der Name Litthauer vor; der Bewohner des, die Küste des Meeres
Reiseeindrücke aus Samogitien.
344
berührenden Westens nennt sich selbst „Niederländer" oder Shamaite, was dem deutschen Samogitier entspricht, während er unter Shmude ganz all
gemein das Volk, die Menge, die Leute, Viel oder Viele versteht. Daher hat
der Russe diesen Sammelbegriff in einen Eigennamen für den litthauischen
Volksstamm verwandelt.
Der Litthauer hat nie eine nationale Kultur
gehabt, auch vor seiner Verbindung mit dem Polenthum im 14. Jahr
hundert nicht.
Seit dieser Verbindung wurde er als Nation Sklave des
höher entwickelten PolenthumS, und diese nationale
fünfhundertjährtge
Sklaverei ist in ihren Wirkungen auch heute leicht erkennbar.
Aber die
Herrschaft verschiedener Völker, die auf ihm ruhte, der Polen, der Deut
schen, der Russen hat ihm eine gewisse Geschmeidigkeit verliehen, die ihn befähigt, unter guter Leitung und Herrschaft rasch emporzukommen.
Er
ist durchaus seßhaft und Ackerbauer, weit mehr als der Pole und der
Russe eS sind.
Dabei ist dieser schmächtige, magere, aber sehnige Shmude
intellectuell gut begabt und für seine Verhältnisse ausdauernd. kulturlich höher als der russische Bauer.
Er steht
ES ist fast wunderbar, mit wie
Wenigem der Litthauer zufrieden dahinlebt.
Er ist grade wie sein Pferd,
dieses kleine Thier mit zottigem Haar und gesunden Beinen, das neuerer Zeit zahlreich nach Preußen gebracht wird,
kennen
lernt sein Lebelang
Ein
Litthauer
ihm
ein
erscheint
Stück
wüsten
bei
in
das keinen Hafer
und doch unverwüstlich ist in der Arbeit.
meinem
Landes
Freunde
verpachten.
und Im
bittet, nächsten
er
möge
Frühjahr
thürmt er fünf bis sechs im Winter herbeigeholte Balken im Geviert
auf, deckt ein Strohdach drüber, führt einen großen Ofen innen auf, macht ein Fenster und eine Thür hinein, und die Wohnung
ist fertig.
Darin lebt er mit Frau und Kind; unter einem Abdach, das an der
Wohnung anliegt, steht das Pferd, die Kuh, drei Schafe. sieht man bis in den Winter hinein im Hemde umherlaufen.
Die Kinder Die Frau
geht oft hinter« Pfluge, hinter der Egge her, spinnt und webt für die
Kleidung, besorgt das Essen; der Mann schafft das Uebrige im Felde. Fleisch wird nie, außer höchstens zu Ostern und vor den Fasttagen ge gessen, unreines Brod, Milche Kartoffeln, allenfalls Fett machen die
Nahrung aus.
Dabei wird Sommers oft von früh vier bis Abends neun
Uhr, mit einer Mittagsruhe, gearbeitet. die eines schwachen Menschen.
Allerdings ist die Arbeit auch
Sonntags zur Kirche und Schenke, Frei
tags zum Markt und zur Schenke; das sind
die Vergnügungen.
Ich
schildere hier natürlich nur die Armen; der Reiche lebt besser, sauberer,
bequemer, fährt öfter zum Markt mit zweien, auch dreien.
Mit jedem
Jahre gewinnen gegenwärtig die Höfe dieser Wohlhabenderen ein blühen
deres Aussehen, besonders in den Landstrichen, wo der Shamaite nicht
Reiseeindrücke auS Samogitien.
345
in Dörfern, sondern in Einzelhöfen wohnt, das ist zwischen Windau und Memel, im Herzen des alten Samogitien, und es macht sich um so stärker
der Widerspruch merkbar, der zwischen diesem äußern Wohlbefinden, der
Klugheit und dem Grade der geistigen Beweglichkeit dieser Leute einerseits und der
völligen Leere ihres Wissens besteht.
Bei dem Mangel
an
Schule und dem Berbot litthauischer Drucksachen, von dem ich unten noch
reden werde, ist die geistige Entwicklung des Litthauers gänzlich auf die Erfahrungen des praktischen Lebens gegründet, so daß man oft den Eigen
mit großer Schärfe der Auffassung
thümer eines solchen Bauernhofes über seine Rechtsverhältnisse
und auch über allgemeinere
Dinge kann
reden hören und dabei die Beobachtung machen, daß er niemals den Ver such gewagt habe, die Theorie der vier Spezies sich anzueignen oder sei nen Namen anders als durch drei Kreuze oder durch Beidrückung eines Petschaftes zu Papier zu bringen.
Die Größe des bäuerlichen Grund
eigenthums wechselt zwischen etwa einem und vierzig Hectaren, die Ab-
lösungszahlnngen, welche dafür an den Staat gezahlt werden, der seiner
seits die Gutsbesitzer einigermaßen entschädigt hat, beträgt 1 Rubel 20 Kopeken bis über 3 Rubel für den Hectar jährlich, eine geringe Summe,
da darin Zinsen und Kapitaltilgung eingeschlossen sind.
Der Bauer ist
fleißig wie er es versteht, aber leider versteht er nicht viel davon.
Er
liebt es, wenn sein Acker nicht zn wenig Sand enthält, weil er dann leichter
zu bearbeiten ist; sein Geräth und Haus sind leicht und billig gebaut, seine Erzeugnisse schlecht und billig.
Wo er aber ein Vorbild besserer
Wirthschaft vor Augen hat, da eifert er mit Verständniß nach. Wie man
aus dem Vorhergehenden
entnehmen
kann, ist der gute Verstand des
Litthauers mit keinerlei Schulweisheit belastet.
Seine ganze empirische
Weisheit bezieht er aus dem Kampf mit jenen drei Gewalten
WaS er
da lernt, ist denn auch nicht eben was im Katechismus für Volkserziehung
zu finden wäre.
Seine natürliche Intelligenz setzt sich in Verschlagenheit
um; seine täglichen Erfahrungen mit dem Juden machen ihn leicht zu einem
verhältnißmäßig
geriebenen
Geschäftsmanne;
die
Rechtlosigkeit
früherer Jahrhunderte und die Rechtsunsicherheit oder wenigstens die ge
ringe Entwickelung des Rechtslebens in der Gegenwart fördern nicht das
Wachsthum feines Rechtsbewußtseins; aus einem Sumpf moralischer Ver kommenheit konnte der Bauer von heute nicht plötzlich in makelloser mo ralischer Reinheit emportauchen, vielmehr ist sein moralischer Charakter
ein recht unsauberer, er lügt, stiehlt, betrügt gern und viel, und vor
etlichen Jahren noch sagte mir
ein Kenner des
Landes
mit
gutem
Grunde: der billigste Artikel im Lande seien falsche Zeugen, da man ihrer überall und stets für 60 Kopeken den Kopf (etwas über eine Mark) be-
Reiseeindrücke aus Samogitien.
346 kommen könne.
Aber auch hierin bemerkt man leicht die rasche Wirkung
besserer heutiger Justiz und die Wirksamkeit der besseren Leitung wohlge sinnter Gutsbesitzer.
den.
Gute Kultur würde auch dieses Unkrauts Herr wer
Dabei ist es ein leichtlebiges heiteres Volk,
und Liedern.
überreich an Sang
Wie tönt am Sommerabend überall Acker und Wiese von
dem Gesang der Arbeiter!
Hinterm Pfluge, mit der Sense in der Hand,
so gehen sie gern singend ihrer Arbeit nach; und kaum ist die Tages
arbeit beendet, so sieht man im Nu die Arbeitenden zu Gruppen zusammentreten, einen Jeden mit dem Werkzeug in der Hand,
das er eben
führte, die Männer mit der Sense oder Sichel, die Weiber mit der Harke,
und der dreistimmige Gesang beginnt, mit dessen Klängen sie nach Hause ziehen.
Da giebt es traurige und lustige Weisen, Liebeslieder und Helden
lieder in erstaunlicher Fülle.
Ein Vorsänger oder Vorsängerin beginnt
gewöhnlich die Strophe mit ein paar Versen, worauf dann wieder ein
paar Verse Chorgesang schließen, stets mit einem lang gehaltenen drei stimmigen Schlußaccord.
In
historischer Vorzeit, besonders
die
Balladen
mischen sich
Sagen aus
gern von dem litthauischen Jagello; die
polnische Herrschaft mit ihren stolzen und gewaltthätigen Panen, der Soldatendienst, Liebe und Tanz finden stets neue Dichter und Formen. Hier ist ein noch wenig bearbeitetes reiches Bergwerk für die Forscher
und den Freund der Volkspoesie. ES läßt sich leben in diesem Lande trotz aller Unkultur.
Denn es
läßt sich überall leben, wo die Natur mit ihren Gaben nicht allzusehr gekargt hat und wo das gemeine Wesen im Vorschreiten begriffen ist. DaS ist aber hier heute beides der Fall.
DaS Land ist ausschließlich dem
Ackerbau gewidmet. Daß der Ackerbau vorschreitet, dafür zeugt am sichersten der Gang des Bodenwerthes.
Bor zehn Jahren kaufte man den Hektar
Landes, in größeren Wirthschaften, mit Acker, Wiese, Weide und Wald,
duchschnittlich zu etwa 25 bis 40 Rubeln.
Heute wird der Hektar bezahlt
mit 60 bis 100 Rubeln, und der Preis steigt alljährlich. Holzes ist in zehn Jahren um daS vierfache gestiegen.
Der Preis des
Zwei Eisenbahnen,
welche seit sieben Jahren durchs Land gebaut worden find, die Libauer Bahn mit ihrer Zweigstrecke Kalkuhnen—Radsiwtllischek, haben wenigstens auf einen Theil dieses Guberniums von Kauen oder Kowno, darin wir unS befinden, anregend gewirkt.
Ganz allmählich dringen Ordnung und
Rechtspflege vor, und besonders das Verständniß für den Segen beider.
Thäte der Staat mehr für Bahnen und Verkehrswege, so würde das
Land sich rasch heben.
Denn an Bevölkerung mangelt es nicht: es wohnen
hier über 1500 Menschen auf der Quadratmeile, mehr als in den be
nachbarten Ostseeprovinzen Kurland und Livland.
Die.Nähe der Hafen-
Reiseeindrücke auS Samogitien.
347
Plätze Königsberg, Memel, Libau und Riga gewähren einen bedeutenden
Vorsprung gegenüber den innerrussischen Ausfuhrgebieten.
Das Klima
ist nicht all zu rauh, wenn auch ein ausgesprochen nordisches; die Meeres
nähe mildert und bringt häufige Niederschläge.
Die Fläche des bebauten
Landes hat sich seit zehn Jahren sehr beträchtlich ausgedehnt infolge ein mal der Emanzipation des Bauern und dann der Noth der polnischen Gutsbesitzer, welche finanziell gedrängt waren ihre Wälder zu Gelde zu
machen.
Ein Hinderniß deS Fortschrittes ist die falsche Politik der Re
gierung, noch immer die Ucbergangsperiodc der Bauernbefreiung nicht abgeschlossen zu haben.
Es giebt noch immer ganze Klassen von Bauern,
welche nicht unter das allgemeine bäuerliche Recht und Verwaltung ge
stellt sind, sondern als sogenannte „freie Leute" unter besonderer Vor
mundschaft der Regierung stehen.
Es giebt ebenso noch ungeheure Strecken
Landes, welche entweder als bäuerliche Gemeinweiden oder als zum Groß grundbesitz gehörige Wälder, in welchen den Bauern die Weideberechtigung
von der Regierung verliehen worden ist, einer rationellen Kultur unzu gänglich
bleiben
und
sehr dazu beitragen, daß die Eigenthums-
Rechtsverhältnisse sich nicht rascher klären,
hiedurch
die
ganz abgesehen davon,
Beziehungen zwischen Gutsherren und Bauern
fort vergiftet, daß die Wälder von Jahr zu Jahr
und daß
fort und
verwüstet werden.
Die Arbeitslöhne haben sich gegenüber dem steigenden Bodenwerthe nur wenig gehoben.
Der Jahrcsknecht, der sechs Tage wöchentlich mit Aus
nahme der Feiertage arbeitet, und dessen Weib 30 bis 40 Tage unent geltlich arbeiten muß, kostet in Geld, Getreide und anderm Zubehör im
Ganzen etwa 100 bis 125 Rubel jährlich.
Und das trotz der hohen Korn
preise und der Entwerthung deS Papiergeldes, welche seit dem letzten Kriege gegen die Türkei Platz gegriffen haben.
Es ist das, nebenbei gesagt, eine
Erscheinung, welche die volkswirthschaftlichen Doctrinäre sich überlegen sollten, welche behaupten, das Sinken des Geldwerthes habe zur unmittelbaren Folge daS Steigen der Arbeitslöhne.
DaS mag wohl gelten für Länder von hoher
Kultur und starker Industrie, für Gebiete, in welchen die Raschheit deS städtischen Lebens und Verkehrs jeden Wechsel in den allgemeinen wirth-
schaftlichen Grundverhältnissen sofort in allen Gefässen des Volkskörpers
spüren läßt.
Nicht
aber in
Stoffumsatz langsam vollzieht.
einem ackerbauenden Staate,
der seinen
Der Jahresarbeiter hier in Litthauen hat
vor zehn Jahren ziemlich 100 Rubel gekostet, als der Rubel 28 Silber groschen und 29 Werth war, und er kostet heute fast eben so viel, wo der
Rubel 20 Silbergroschen gilt.
Und die Erklärung ist sehr einfach: die
Gegenstände des internationalen Verkehrs, welche von dem Geldkurse be
rührt werden, liegen außerhalb der Verzehrbedürfnisse des Bauern. Der
Reisreindrücke aus Samogitien.
348
Bauer lebt von dem Korn, daS allenfalls etwas im Werthe höher steht,
ferner von den Kartoffeln und sonstigen Gartenfrüchten, die er baut, von
dem Schwein und der Gans, die er aufzieht, von dem Flachs, Hanf und der Wolle, daraus er sich Kleider, Garn, Stricke bereitet.
Diese Dinge
sind ganz dieselben geblieben, ob der Rubel 30 oder 20 oder 10 Groschen werth ist, und somit ist der Bauer damit zufrieden und thut nicht, was die Nationalökonomen von ihm verlangen: er richtet den Preis
Arbeit nicht nach dem Werth des Geldes.
seiner
Denn der Betrag des Geldes,
der durch seine Hände geht, ist sehr gering: der Geldumsatz eines hiesigen
Arbeiters ist jährlich 20 -bis 30 Rubel.
Natürlich rede ich nicht von
demjenigen Bauern, der über dem Arbeiter steht, von dem Wohlhaben
den, dem Grundbesitzer oder Pächter, der den Kaffee theurer bezahlt und den Thee, das Eisen und Leder, der sein Korn zu hohem Preise absetzt
und dann auch bereit ist, für Grund und Boden höheren Preis zu zahlen, ohne zu merken, daß hier das Sinken des Geldwerthes mit im Spiele ist- Eine eigenthümliche Charakterlosigkeit zeichnet dieses Land der natio
nalen Kämpfe und der dunkeln politischen Zukunft aus, auf welchem der
Fluch der Völkermischung ebenso gelastet hat und lastet, als auf all jenen
weiten Gebieten, die heute Rußland vom übrigen Welttheil trennen: Finn land, Ostseeprovinzen, Polen, Südlitthauen, Galizien, Bukowina, Donau
lande.
Nirgend in dieser ganzen Kette hat sich ein Volk zu vollkommener
Leitung emporgeschwungen, hat eine eigenartige Kultur die unbestrittene Herrschaft erobert.
DaS einzige Polen ist volklich und kulturlich wenig
stens einmal einheitlich seinen Weg gegangen, bis auch dort ein Stärkerer in den Weg trat, bis auch dort noch einmal der Streit entflammt ist zwischen dem national und kulturlich geeinten polnischen Volke und dem
russischen Ueberwinder.
Der Kampf, der dort gekämpft wird, kann nicht
mehr herübergreifen nach dem einst verschwisterten Litthauen, eS sei denn,
daß Polen als selbständiger Staat wieder erstehe, wohl aber kann der selbe Kampf einst hier entbrennen, wenn es sich darum handeln sollte,
ob hier daS Litthauerthum zu selbständigem Volksleben erstarken oder von einem andern Volke und seiner Kultur aufgesogen werden soll. ist ein selbständiges Litthauerthum ein Unding.
Gegenwärtig
Aber eS wird doch einige
Zeit nöthig sein, um die Russifizirung durchzuführen.
Die Entnationali-
sirung ist nur möglich durch reiche und sorgfältige Kulturmittel und Kul turarbeit. Die Aufgaben aber, welche in dieser Beziehung dem russischen Reiche obliegen, sind so gewaltige, erstrecken sich auf so weite und ver
schiedene Gebiete, daß man täglich sehen kann, wie wenig die Kräfte auS-
reichen, um sie zu erfüllen.
So wird voraussichtlich der Kampf ein lang-
Reiseeindrltcke au« Samogitien.
dauernder sein.
349
Freilich ein sehr ungleicher Kampf, wo der angegriffene
Theil weder Wall noch Waffe für seine Vertheidigung hat.
Die russische
Regierung hat seit der letzten Revolution von 1863 radikale Maßregeln ergriffen.
Sie hat nicht
blos alles Schulwesen beseitigt zu Gunsten
einiger russischer Volksschulen, sondern auch schlankweg verboten, daß in
litthauischer Sprache im Lande etwas gedruckt oder Schriften in dieser Sprache in's Land eingeführt werden.
Nur auf dem Wege des Schmug
gels ist es seibern den wenigen Litthauern, die noch aus früherer Zeit die Kunst des Lesens sich erhalten haben, möglich, aus preußisch Litthauen
sich einige Beispiele der Buchdruckerkunst zu verschaffen, ein Andachtsbuch
oder Gesangbuch.
Die Regierung
hat die nationale Entwickelung des
Litthauerthums damit nachdrücklich unterbunden.
Da aber das Litthauer-
thum gerade jetzt eben den Ansatz genommen hat zu wirthschaftlichem Vor schreiten, so wird ohne Zweifel sich damit das Streben verbinden nach geistiger Ausbildung, und dieses Streben wird nothgedrungen in die
Bahnen der russischen Sprache und Kultur gleiten.
Schon gegenwärtig
kann man deutlich das rasche Umsichgreifen der russischen Sprache beim
Landvolke wahrnehmen.
Das Russenthum hat in der That hier trotz allem
sich einiges Feld geschaffen und geht nicht ohne Erfolg seinem Ziele ent
gegen, das Polenthum zu beseitigen, das Litthauerthum aufzusaugen und diesem Gebiet das nationale russische Gepräge aufzudrücken, wenigstens,
wie wir schon sahen, auf dem Gebiet der Sprache.
Es wird nicht mehr
gar lange währen, so wird Rußland hier zuerst seine sprachlich-nationale
Eroberung
bis an die Grenze des alten Europa vorgeschoben haben.
Nirgend sonst an der Westgrenze hat es so leichtes Spiel gehabt, als hier und nirgend sonst nutzt es diesen Vortheil so nachdrücklich
aus.
Die
Regierung hat die Gunst dieser Stellung sehr wohl erkannt, als sie in der westlichen Ringmauer, welche höher stehende Kulturen errichteten und
welche trotz der staatlichen Eroberung national-kulturlich Widerstand leistete,
hier den am schwächsten vertheidigten Punkt in's Auge faßte. Die Bresche ist gelegt und das nationale Rußland könnte am ehesten an dem Memel
fluß über die deutsche Grenze schauen.
So berechtigt aber diese Politik
der Staatsregierung im Interesse des national-russischen Reiches ist, so
bleibt es doch immer ein Kampf mit all seinen Uebeln und Lasten.
das Litthauerthum wird nur durch Kampf gewonnen.
Auch
Das ist kein Segen
für das Land, denn der Gang der Kultur wird dadurch verzögert. Es bleibt noch lange ein Land der Squatter und Farmer, der Unter nehmungslust und der Eroberung, der Gegensätze und des eigenmächtigen
Strebens, des Entsagens und des stillen Erwerbens.
So dicht an der
Grenze Deutschlands und so fern allem Geräusch des öffentlichen Lebens, Preußisch« Jahrbücher. Bd.Xl.Vl. Heft 4.
26
Reiseeindrücke aus Samogitien.
350
der Jnteressenkämpfe Europas; so unberührt von allen socialen und poli
tischen und wirthschastlichen Fragen unserer'Zeit;
so ungeängstigt von
allen modernen staatlichen Nörgeleien und Sorgen; aber auch so wenig gehalten und unterstützt von den festen Rippen deS kulturlichen Lebens,
von dem charakterisirenden Geiste eines herrschenden Kulturvolkes.
Mitten
zwischen den drei Nationen der Deutschen, Russen und Polen hat doch
keine
derselben
diesem
einstigen
Herzogthuip
dauerndes Gepräge aufdrücken können.
Samogitien
Farbe
und
Sagte es mir nicht die Erinne
rung an die Geographiestunden der Kindheit und nun, da ich es verlasse,
auch der russische GenSdarm vor der preußischen Grenzstation Nimmer satt, daß ich in Rußland war, so hätte dieses phhsiognowielose Land der
Zukunft eS mir nicht verrathen. — E. von der Brüggen.
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
Daß die öffentliche Fürsorge sich mit ganz besonderem Eifer dem Schutze der Gesundheit der Kinder zu widmen habe, ist eine Erkenntniß,
welche Dank dem stetigen Anwachsen der hygienischen Strömung in immer weitere Kreise dringt und immer mächtiger sich geltend macht.
In der
That bedarf ja der kindliche Organismus, schon weil er viel weniger
widerstandsfähig ist, als der Erwachsene, auch in höherem Maße des Schutzes; daß diesen aber die private Fürsorge allein höchstens einer Minderzahl in ausreichendem Maße gewährt, leuchtet Jedem von selbst ein.
Nur allzu vielen Kindern wird die richtige Pflege nicht zu Theil, weil ihnen die Eltern fehlen, oder weil die Eltern zu dürftig, zu gleichgültig, zu wenig einsichtig sind.
Eine unendlich große Zahl leidet außerdem in
sehr erhöhtem Maße unter jenen schweren hygienischen Uebelständen, welche
die moderne Cultur, zumal das Leben in den Städten, notorisch mit sich
bringt und welche auch die gesammte übrige Bevölkerung gesundheitlich so sehr
beeinträchtigt.
Den gefährdeten Kindern besonderen Schutz an
gedeihen zu lassen, ist aber um so dringender nothwendig, als es feststeht, daß die Aict und Weise, in welcher die Hygiene des Heranwachsenden Ge
schlechtes beachtet wird, auf
die allgemeine Volksgesundheit, auf den
Wohlstand und die Wehrkraft der Nation von maßgebendem Einflüsse ist. Denn die Constitution des Erwachsenen, seine Leistungsfähigkeit, seine Widerstandskraft äußeren Schädlichkeiten gegenüber hängt in erster Linie
davon ab, ob während seiner Kindheit die gesammte körperliche Pflege eine zweckmäßige war, oder nicht.
Fehler der letzteren äußern ihre nach-
thetltgen Wirkungen ja leider so ungemein oft durch die ganze spätere
Lebenszeit hindurch und bestrafen sich nicht selten sogar noch an der Nach kommenschaft.
ES ist also nicht blos die Humanität, sondern in hervor
ragendem Maße die Rücksicht auf die Gesellschaft und den Staat, welche den Schutz der Gesundheit der Kinder fordert.
Wer eine Steigerung des
allgemeinen Wohles, insbesondere der Leistungsfähigkeit des Volkes er-
26*
352
Ueber Maßnahme» und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,
strebt, der darf am allerwenigsten das Gedeihen des Heranwachsenden Ge schlechts außer Augen lassen.
Nun ist es zunächst gewiß, daß die Maßnahmen der nicht privaten
Fürsorge zum Schutze und zur Förderung der Gesundheit der Kinder in Bezug auf die größere Mehrzahl derselben nur indirekte sein können, da
den Eltern im Allgemeinen keine bindenden Vorschriften darüber
zu
machen sind, wie sie die hygienische Pflege der Ihrigen einzurichten haben. Aber trotzdem kann unendlich Viel geschehen.
Es gilt vor Allem durch
öffentliche und private Belehrung über die zweckmäßige Pflege der Kin
der, über ihre Ernährung und Kleidung, über Reinhaltung, Lüftung und Heizung der Wohnräume u. s. w. auf das betheiltgte Publicum, besonders
auf die Mütter einzuwirken.
Die meisten der letzteren und die Kinder
wärterinnen sind noch in so vielen und so verderblichen Vorurtheilen be
fangen, sind mit den allereinfachsten Grundlehren der Gesundheitspflege so wenig bekannt, daß vor Allem nach dieser Richtung hin der Hebel an
gesetzt werden muß, wenn man bessern will.
Zu dem Zwecke sind popu
läre Darstellungen der Hygiene des Kindes möglichst zu verbreiten.
Sehr
empfehlenSwerth dürfte es besonders in städtischen Communen sein, der artige Schriften den Angehörigen bei der Anmeldung von Geburten auf
dem Standesamts
aushändigen und die hauptsächlichsten Capitel in Ka
lendern abdrucken zu lassen.
Ebenso segensreich wird
eine öftere Be
sprechung dieses Theils der Hygiene in den Zeitungen und öffentlicher Vortrag wirken.
Unentbehrlich ist aber auch hier die private Belehrung
neben der öffentlichen.
AuS
diesem Grunde müssen insbesondere
die
Aerzte überall, wo sich nur irgend die Gelegenheit dazu darbietet, über die Grundsätze der Kinderpflege sich aussprechen, das Verkehrte als solches
erläutern,
in seinen Gefahren schildern, das Richtige in verständlicher
Form auseinandersetzen.
Bezüglich deS allerwichtigsten Theils, nämlich
der Pflege der Säuglinge, sollten sie überall von den Hebammen unterstützt
werden.
Vor der Hand fehlt eS diesen aber noch an den nöthigen Kennt
nissen; ja sie sind zum großen Theil diejenigen, auf welche man eine er
hebliche Zahl übler Gewohnheiten der Mütter und des Wartepersonals
zurückführen kann.
Der Einfluß der sage» femmes ist ein sehr bedeu
tender, und diesen Umstand muß man in Bezug auf die rationelle Pflege
der Kinder in den ersten Lebensjahren zu verwerthen bestrebt sein; eine Ansicht, die ja schon früher von anderer Seite vielfach betont worden ist
(Pfeiffer), die aber ihre richtige Würdigung durchaus noch nicht gefunden
hat.
Will man sich einen heilsamen Einfluß der Hebammen auf die Ge
sundheit deS Heranwachsenden Geschlechts sichern, so ist eS unabweiSlich,
sie in den Elementen der Hygiene nicht blos zu unterrichten, sondern auch
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
353
zu prüfen. Diese Forderung der Reform des Hebammenunterrichts müssen
wir sesthalten und immer erneut Vorbringen.
Der vereinten Einwirkung
öffentlicher und privater Belehrung aber wird eS, so hoffen wir, gelingen,
die Kenntniß rationeller Grundsätze bezüglich der Kinderpflege zu verall gemeinern, die zahlreichen Vorurtheile und üblen Gewohnheiten zu besei
tigen und, waS am meisten nöthig, den Müttern die Ueberzeugung bei
zubringen, daß das Selbststillen eine heilige Pflicht ist, der sie sich nur
im Ausnahmesalle entziehen dürfen. Der persönlichen Einwirkung, der mündlichen Aufklärung und practischen Darlegung verdanken auch die Vereine für häusliche Gesundheits
pflege einen sehr großen Theil ihres Erfolges speciell hinsichtlich
der
kleinen Kinder, tote wir dies vorzugsweise in England constatiren können. ES erklärt sich dies sehr leicht aus dem Umstande, daß Frauen die thäti
gen Mitglieder dieser Vereine sind.
Vertraut mit dem, waS sie lehren
wollen, speciell mit den vielen Details der Kinderpflege, nicht blos der Theorie, sondern
auch der Praxis nach, suchen sie Fühlung mit dem
Theile deS Volkes, welcher der hygienischen Aufklärung und Unterweisung
am meisten bedarf, erläutern sie die fundamentalen Sätze der Kinder pflege, vor Allem der Ernährung, und geben sie die praktische Anleitung.
Kein Wunder, wenn sie thatsächlicher Erfolge sich rühmen können. Diese letzteren zu betonen, ist schon deshalb von Werth, weil Manche noch immer die Belehrung der Maffe in Bezug auf Gesundheitspflege
für wenig nutzbringend erachten.
Es ist ja leider nur allzuwahr, daß
gerade diejenigen Classen, bet welchen die hygienischen Uebelstände am
größten sind, einer Belehrung über den Nutzen der Beseitigung derselben am wenigsten sich zugänglich erweisen.
Aber auch in den niedrigsten
Schichten giebt es doch eine ganze Zahl von Individuen, bei denen die
Mahnungen nicht fruchtlos sind, wie dies ja die Erfolge der eben erwähn ten Vereine zeigen.
Und gerade die Belehrung über zweckmäßige Pflege
des Kindes findet selbst da noch vielfach willige Aufnahme, wo sonst schon
vollständige Gleichgültigkeit in hygienischen Dingen herrscht.
Die Liebe
der Mütter zu den Kindern, ihr Wunsch, sie gedeihen zu sehen, ist doch so mächtig, daß sie auch im Elende guten Rathschlägen ihr Ohr nicht ganz verschließen. WaS aber, der Ansicht Vieler entgegen, die Belehrung Bedeutsames
vermag, kann ich an einem schönen Beispiele deutlich zeigen.
Es ist all
bekannt, daß Milch, wenn sie sauer geworden, bei Säuglingen sehr leicht Durchfälle und Brechdurchfälle hervorruft, Krankheiten, welche in jenem
zarten Alter so ungemein gefährlich sind und in der That die Sterblich-
keitöziffer in hohem Maße beeinflussen.
Nicht minder bekannt ist, daß
354
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
Milch, wenn aufgekocht, ungleich weniger rasch sauer wird. Hier in Rostock ist nun das Publicum seit Jahren von den Aerzten und, wie ich hervor
heben will, auch von der Presse auf das Heilsame des Aufkochens der Milch in Bezug auf daS Verhüten von Krankheiten aufmerksam gemacht
worden.
Diese Mahnungen haben erfreulicherweise zur Folge gehabt, daß
die Milch fast in allen Familien, zumal im Sommer und wo eS um
künstlich zu ernährende Kinder sich handelt, alsbald, nachdem sie ins Haus gelangte, aufgekocht wird.
Es giebt nun in Deutschland kaum irgend
eine Stadt von der Einwohnerzahl Rostocks, in der so wenige Fälle jener
mit Recht gefürchteten Kinderkrankheiten auftreten, wie hier.
Selbst an
haltend heiße Sommer bringen uns keine Zunahme, welche mit der an
anderen Orten beobachteten auch nur annähernd im Verhältniß stände. ES ist das eine Thatsache, für welche eine einfachere Erklärung als die
eben gegebene wohl schwerlich erbracht werden kann, welche aber, falls die letztere richtig ist, den großen Erfolg der Belehrung auf'S Glänzendste
illustrirt. Daß die Unterweisung des Publikums sich aber nicht auf die Pflege der Kinder in ihren ersten Lebensjahren beschränken darf, braucht nicht
besonders betont zu werden. So ist es von größter Wichtigkeit, daß die Eltern erfahren, was sie für die Gesundheit ihrer Söhne und Töchter
während der Schulzeit derselben thun können und müssen.
Es sei dies
hier nur angedeutet; ich werde hierauf zurückkommen, wenn ich von dem Schutze der Schulkinder zu sprechen habe.
Aber die Belehrung allein genügt nicht, auch wenn sie noch so ein
gehend geübt wird. Es müssen noch andere Maßnahmen geschehen, wenn die Gesundheit der Kinder ausgiebig geschützt und gefördert werden soll. Da daS Publicum außer Stande ist, sich gegen Verfälschung und
Werthverminderung des HauptnahrungSmtttelS kleiner Kin
der, der Milch, zu sichern und sich eine Gewähr zu verschaffen, daß die zahllosen Surrogate derselben ihrer Qualität nach den Anforderungen ge
nügen, so muß die öffentliche Fürsorge eintreten.
Durch Vornahme häu
figer unvermutheter Untersuchungen, durch Veröffentlichung der Resultate derselben, wie durch rücksichtsloses Vorgehen
gegen jede Contravention
haben die Behörden den Schutz zu erstreben, den wir im Interesse der Gesundheit fordern müssen.
Was auf solchem Wege zu
hat die jüngste Zeit gelehrt.
Aber auch die BeretnSthätigkett kann
erreichen ist,
in bedeutsamer Weise zur Erreichung des nämlichen Zieles Mitwirken,
wie wir dies erfreulicherweise in einer Reihe deutscher Städte zu constatiren vermögen.
Vorwiegend durch die Bemühungen ärztlicher Vereine
und solcher für öffentliche Gesundheitspflege sind seit einigen Jahren in
355
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
stetig zunehmender Zahl Milchwirthschaften etablirt worden, welche, sich unter sachverständige Controle stellend, den Zweck verfolgen, nur absolut
unverfälschte und unverdorbene Milch von gesunden Kühen
zu liefern.
Die Einrichtung derartiger Wirthschaften hat überall, wo sie Statt hatte, einem schwer gefühlten Bedürfnisse, wenigstens theilweise, Abhülfe
ge
schafft und sollte in allen irgendwie bedeutenden Städten, in welchen sich
hinsichtlich
der Lieferung guter Milch Uebelstände
herausstellen,
auf'S
Ernsteste gefördert werden, und dies um so mehr, als notorisch das Vor
handensein einer tadellosen Bezugsquelle schon für sich, durch die ConDer Segen wird, speciell für die
currenz, außerordentlich günstig wirkt. kindliche Bevölkerung, nicht ausbleiben.
Für die Gesundheit der Menschen im Allgemeinen, besonders aber
für diejenige der Kinder
in
ihrem
frühesten Alter ist
Wohnung unabweisliches Bedürfniß.
eine salubre
Allgemeine Schwäche der Con
stitution, Blutarmuth, Scrophulose und Tuberculose sind ja in leider nur allzu zahlreichen Fällen auf den dauernden Aufenthalt in dumpfen, feuch
ten, lichtarmen, schlecht gelüfteten und unrein gehaltenen Räumen während
der Kindheit zurückzuführen.
Nun ist eS zwar richtig, daß gerade hin
sichtlich der Wohnungshygiene die private Fürsorge weit mehr Obliegen heiten hat und weit mehr vermag, als die öffentliche.
Denn daS Rein
halten der Wohnungen, die rasche Beseitigung der fäulnißfähigen häus
lichen Abfälle, die ausgiebige Lüftung, Alles dies kann selbstverständlich nicht anders, als durch das thätige Mitwirken des Einzelnen erreicht wer den.
Und dennoch sind allgemeine Maßnahmen auch auf diesem Gebiete
ebenso unentbehrlich, wie segensreich.
Es würde zu weit führen,
wenn
hier Alles erörtert werden sollte, was die öffentliche Fürsorge hinsichtlich
unserer Wohnungen zu leisten im Stande ist und bereits geleistet hat. Nur Einiges, die Hygiene deS kindlichen Alters betreffende,
möge hier
Erwähnung finden. Die größte Sterblichkeit der Kinder herrscht in den Kellerwohnungen und den Mansarden.
Der Grund dafür liegt zum Theil in dem Um
stande, daß solche Wohnungen nur
von den Bedürftigeren bezogen zu
werden Pflegen, zum größeren Theile liegt er aber zweifellos in der Jnsalubrität der betreffenden Räume.
Die Kellerwohnungen sind ungesund
wegen ihrer permanenten Feuchtigkeit, wegen des nicht hinreichenden Luft wechsels, wegen des Mangels an Licht und deshalb, weil sie am meisten
den Emanationen deS BodenS ausgesetzt sind.
Die Dachstuben sind na
mentlich im Sommer gefährlich, weil alsdann in ihnen eine sehr bedeu
tend gesteigerte Temperatur herrscht, die schon an sich, d. h. durch directe Einwirkung auf den Organismus, dann aber dadurch nachtheilig sich er-
356
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,
weist, daß unter ihrem Einflüsse die Gährung und Zersetzung organischer Substanzen, in speeie auch das Verderben der Milch in ungleich rascherer
Weise vor sich geht. Deshalb sind allgemeine Maßnahmen bezüglich solcher
Wohnungen durchaus nothwendig.
Der Kampf gegen die Kellerwohnungen
begann in England schon vor mehreren Decennien gleich mit den ersten
sanitarischen Reformen der Städte und führte im Jahre 1875 zu dem
Erlasse eines Gesetzes, nach welchem fortan neu angelegte Souterrains
gar nicht mehr, bereits bestehende aber nur dann noch als Wohnungen vermiethet oder an Andere überlassen werden dürfen, wenn bestimmte
wichtige sanitarische Bedingungen erfüllt wurden (§§ 71—75 des engli schen Sanitätscodex: public health act 1876).
In keinem anderen Lande
existirt bislang ein derartiges allgemeines Verbot der Neuanlage von
Kellerwohnungen.
Dagegen wurde in einzelnen Staaten eine Norm er
lassen darüber, wie fortan die Kellerräume zu construiren und zu er halten sind, wenn ihre Vermiethung zum Zwecke des Bewohnens gestattet werden soll. Eine solche Norm giebt der § 11 der vorzüglichen badischen
Verordnung der
vom
27. Juni
öffentlichen Gesundheit
1874 betreffend
die
und Reinlichkeit,
Sicherung
die
königlich
sächsische Baupolizeiordnung für Städte und für Dörfer vom 27. Februar 1869 und die neue baierische Bauordnung vom Jahre 1877. Außerdem beschäftigen sich die OrtSstatute einer Reihe von Städten
unseres Vaterlandes mit demselben Objecte.
Einzelne verbieten, dem
englischen Landessanitätsgesetze entsprechend, jede Neuanlage von Keller-
miethwohnungen, z. B. die Statute von Stuttgart, Düsseldorf, Wiesbaden; andere formuliren nur die Bedingungen, unter welchen die Einrichtung
solcher Wohnungen erlaubt ist, z. B. dasjenige von Kiel, von Dresden. Die größere Mehrzahl unserer Städte verhält sich in dieser wichtigen An
gelegenheit aber noch völlig indifferent. Was die Dachwohnungen betrifft, so haben die eben erwähnte sächsische Baupolizeiordnung von 1869 und außerdem das neue baierische
Baugesetz
von 1877 einige Normen über ihre Construction festgestellt.
Am präcisesten ist aber diese Angelegenheit geregelt worden in dem 1877
neu aufgestellten Ortsbaustatut der Stadt Dresden, das hoffentlich jetzt schon definitiv geworden ist.
Es befaßt sich nicht blos eingehend mit der
Sicherheit der Dachwohnungen, sondern auch mit der Hygiene derselben
und verdient deshalb die besondere Beachtung der Behörden und Aller derer, welche für öffentliche Gesundheitspflege sich interessiren. In allen Städten giebt es Häuser und ganze Complexe derselben,
welche durchaus ungeeignet zum Bewohnen sind, sei eS in Folge von Feuchtigkeit, sei eS in Folge ihrer Lage in engen Gaffen, sei eS in Folge
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
357
des Umstandes, daß sie durch lange Zeiträume hindurch in einem unrein lichen Zustande gehalten wurden.
Solche Wohnungen sind der kindlichen
Bevölkerung am verderblichsten, weil diese weniger widerstandsfähig ist und zumal in dem frühesten Alter mehr innerhalb als außerhalb des
Hauses gehalten wird.
geschafft werden. das Recht,
Gegen die beregten Uebelstände muß nun Hülfe
In England hat die Ortsgesundheitsbehörde schon länger
wie die Pflicht, gegen Wohnungen die „unfit for human
habitation“ sind, einzuschreiten; die beiden Gesetze über die Häuser der
arbeitenden Klasse, (artisans and labourers dwellings acts 1868 und 1875) verpflichten sogar die genannte Behörde in Städten von 10,000 resp. 25,000 und mehr Einwohnern, Häuser und Häusercomplexe, die ihr von Seiten des ärztlichen Sanitätsbeamten als unbewohnbar und als der
permanente Sitz von Jnsalubritätskrankheiten gemeldet werden, zu expropriiren und entweder durch gründliche Restauration oder durch vollständige
Neuanlage zu assaniren.
Diese beiden Gesetze sind von den englischen
Hygienikern, aber auch von den größeren Städten deS Landes mit offener Freude begrüßt worden und sind in der That geeignet, schwer empfundene
Uebelstände aus dem Wege zu räumen.
Sollte nicht auch bei uns ein
gleiches Vorgehen sich empfehlen? WaS thatsächlich durch salubre Wohnungen hinsichtlich der Gesund
heit, speciell der Kinder, gefördert wird, ersehen wir deutlich aus den
Berichten über die Resultate der gemeinnützigen Baugesellschaften, die ja
nicht blos billige und passende, sondern auch vor Allem gesunde Häuser
herzustellen sich zum Principe gemacht haben. So betrug in den 12 Jahren
von 1862 bis 1873 die Sterblichkeit in den Wohnungen der Frankfurter Baugesellschaft nur 14,6 auf 1000 Insassen; noch etwas geringer nämlich 14,0 auf 1000 war sie in den Häusern der
bekannten metropolitan
association for improving the dwellings for the industrial classes
in London, welche Mitte 1874 bereits für 26,000 Arbeiter einschließlich deren Familien Wohnung
beschafft hatte.
Gerade die Berichte dieser
Gesellschaft heben die außerordentlich verringerte Zahl der Erkrankungen und Todesfälle unter den Kindern, speciell den Säuglingen, hervor.
Es
ist dies sehr bemerkenswerth, da die Geburtsziffer in ihren Häusern keine
niedrige (36 auf 1000) genannt werden darf, und da die betreffenden Familien dem Arbeiterstande angehören, der sonst eine höhere Kinder
mortalität aufweist. —
Von großem Belange für die Gesundheit des Heranwachsenden Ge schlechtes, zum Mindesten der Städte, ist das Vorhandensein einer hin
reichenden Zahl freier Plätze, auf denen die größeren Kinder sich umher tummeln, die kleineren umhergefahren oder getragen werden können.
Das
358
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
Innere der Häuser und die engen Straßen geben nicht die gesunde Luft,
deren der Organismus zu seiner normalen Entwickelung bedarf.
Kinder müssen hinaus aus den dumpfigen Quartieren,
Die
so oft und so
lange die Witterung eS nur irgend zuläßt; und darum ist eS Pflicht der
städtischen Verwaltungen, dafür Sorge zu tragen, daß sich im Inneren
der Orte und an den Grenzen derselben geeignete, d. h. trockene, schattige Tummel- und Spielplätze finden.
Ihre Nothwendigkeit leuchtet so sehr
ein, daß man nur darüber erstaunt, wie wenig bislang nach dieser Rich tung hin bet uns geschehen ist.
In England brachte bereits das Gesetz,
towns improvement clauses act 1847, Bestimmungen über öffentliche
Erholungs- und Spielplätze.
Nach den tat Jahre 1858 und 1859 dort
erlassenen public parks acts hat in jedem Orte von mehr als 500 Ein
wohnern die Gemeindebehörde das Recht, durch Ankauf oder im Wege der Expropriation Grundstücke zu erwerben, um Spiel- und Erholungsplätze
mit den nöthigen Einrichtungen herzustellen.
Sind derartige
„public
pleasure oder public recreation grounds“ einmal eingerichtet, so müssen
sie drainirt, rein gehalten und dazu benutzt werden, wozu sie bestimmt sind.
(Der englische Sanitätscodex von 1875 hat das eben erwähnte
Recht auf die städtischen Gesundheitsbehörden übertragen; eine zweifellos
heilsame Amendtrung der früheren Bestimmung.)
In der That mehrt
sich die Anlage solcher Plätze in englischen Städten neuerdings nicht un beträchtlich.
London hat jetzt auf je 1100 Einwohner 1 Acre Park; in
Glasgow, welches 6033 Acres umfaßt, sind deren 280 zu parcs einge
richtet; in Bradford giebt es 5 parcs, deren Herstellung 187,000 Pfd. St. kostete, und ebensovtele parcs besaß 1876 die Stadt Birmingham, wäh rend die Anlage neuer daselbst geplant wurde.
Dies sind die wichtigsten allgemeinen Maßnahmen zum Schutze und zur Förderung der Gesundheit der Kinder.
Es giebt nun aber noch ein
zelne Klassen derselben, welche einer speciellen Fürsorge bedürfen; nämlich die Schulkinder, die in Fabriken resp. Werkstätten beschäftigten, die armen, die verwaisten und die sogenannten Haltekinder.
Die Erkenntniß, daß eine nicht geringe Zahl von Leiden, vornemlich aber Kurzsichtigkeit, Verkrümmung der Wirbelsäule, Blutarmuth, nervöse
Reizbarkeit in zahlreichen Fällen auf die Schule zurückzuführen sind, eine
Erkenntniß, die nachgerade auch in die gebildeten Laienkreise eingedrungen ist, weist mit absoluter Nothwendigkeit darauf hin, daß die gesundheitliche
Beachtung der Schulkinder unabweiSlicheö Bedürfniß ist. Mit Recht fordern die Eltern Schutzmaßregeln, und der Staat, wie die Gemeinde dürfen dieselben nicht verweigern.
Die Kurzsichtigkeit hat in so erstaun
lichem Grade zugenommen, die Verkrümmungen der Wirbelsäule sind bei
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
359
den jungen Mädchen so häufig geworden, die Klagen über das körperliche Herunterkommen der Kinder während der Schulzeit, über ihre Schlaffheit,
Blässe und Nervosität mehren sich in so bedenklicher Weise, daß die öffent
liche Fürsorge alle Veranlassung hat, mit Energie einzuschreiten.
Sie
kann dies aber, weil die hauptsächlichen Ursachen jener Leiden sehr wohl bekannt sind.
In der schlechten Luft überfüllter, mangelhaft ventilirter
Räume kann der Körper seine Frische nicht behalten; er muß anfangen, zu erschlaffen und zu kränkeln.
Allzufrühe und allzustarke Anstrengungen
deS Geistes bedingen nervöse Aufgeregtheit und Schlaflosigkeit, dadurch
aber auch Bleichsucht und allgemeine Schwäche.
Dunkle Schulzimmer,
schlechter Druck der Lehrbücher, unzweckmäßig construirte Subsellien, die
das Vornüberneigen, zumal beim Schreiben, befördern, werden die Veran
lassung zum Entstehen von Kurzsichtigkeit, und auf eben solche Subsellien
führt man auch die Verkrümmungen zurück.
Deshalb verlangt die Hygiene
zum Schutze der Kinder gesund gelegene Schulgebäude mit hellen Zimmern,
Vermeiden jeder Ueberfüllung derselben,
fleißige,
ausgiebige Lüftung,
rationelle Heizung, zweckmäßig hergestellte Schulbänke und Lehrbücher
mit großem, deutlichem Druck.
Sie fordert aber noch viel mehr, nämlich
Nichtzulassung der Kinder zum Schulbesuch vor dem vollendeten sechsten
Jahre, Vermeiden jeder Ueberhastung, jeder Ueberbürdung mit häuslichen Arbeiten, gleichmäßige Vertheilung der letzteren auf die einzelnen Wochen
tage, Beschränkung der Unterrichtsstunden auf eine bestimmte maximale Zahl, vermehrte Berücksichtigung des Anschauungsunterrichts gegenüber
den viel beliebten starken Gedächtnißübungen, Abwechselung von solchen Stunden, in denen mehr das Denken in Anspruch genommen wird, mit
solchen, in denen dies weniger der Fall ist, Pausen von wenigstens zehn
Minuten zwischen allen Stunden und obligatorische Theilnahme aller Schüler und Schülerinnen am Turnunterricht, falls nicht ein ärztliches
Attest dies verbietet.
Nur durch strenge Berücksichtigung dieser fundamen
talen Forderungen, von denen die den Unterricht betreffenden auch ohne
Veränderung und ohne Herabziehen der Ziele desselben durchzusetzen sind,
wird die gesundheitsschädliche Einwirkung der Schule auf ein möglichst geringes Maß eingeschränkt werden können. Daß die Regierungen
die Nothwendigkeit eines
energischen
Ein
schreitens erkannt haben, geht aus dem Erlasse einer Reihe von Gesetzen
und Regulativen über Schulgesundheitspflege hervor.
Unter diesen er
wähne ich die vorzügliche österreichische Verordnung vom 9. Juni 1873, die in ebenso eingehender, wie präciser Weise alle Details der Schul
hygiene bespricht, das gleichfalls musterhafte würtembergische Regulativ
über die Einrichtung der Schulhäuser und die Gesundheitspflege in den
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
360
Schulen vom 28. December 1870, den großherzoglich hessischen Erlaß betreffend da« Volksschulwesen vom 29. Juli 1876 und die königlich sächsische Verordnung betreffend die Anlage und innere Einrichtung der
Schulgebäude in Rücksicht auf
Gesundheitspflege vom 3. April 1873.
Für das Königreich Preußen fehlt es bedauerlicherweise noch an einem
ähnlichen allgemeinen Gesetze. Die praktischen Reformen auf diesem Gebiete sind zum großen Theil
auS der Initiative der Communalbehörden hervorgegangen und finden sich vorwiegend in den größeren Städten, wie bei uns, so auch in Nord amerika und der Schweiz, weniger in England, welches auffallenderweise hin
sichtlich der Schulgesundheitspflege unendlich zurückgeblieben ist.
Die neuen
städtischen Schulen unseres Vaterlandes entsprechen mit wenigen Aus
nahmen weit mehr als die älteren den Anforderungen der Hygiene in
Bezug auf allgemeine Salubrität, auf Helligkeit der Zimmer, auf Venti lation und Heizung, so wie in Bezug auf zweckmäßige Construction der
Subsellien; ja eine nicht geringe Zahl derselben kann geradezu als muster
haft bezeichnet werden.
Auch bei den meisten Schulneubauten auf dem
Lande ist das entschiedene Streben nach Verbesserung schon deutlich zu er
kennen.
Aber wir dürfen uns nicht verhehlen, daß die Zahl der älteren,
nicht nach hygienischen Grundsätzen hergerichteten Schulen, ungemein groß ist, und daß man mit ihrer Affanirung nicht bis auf unbestimmte Zeit
hinaus warten darf.
Jede Generation von Schülern und Schülerinnen,
die in solchen Räumen ihren Unterricht empfängt, muß ihr Opfer an Gesundheit bringen, und das wiegt schwer genug, um die betheiligten
Kreise zu beschleunigtem Handeln aufzufordern. Gute SchulgesundhettSregulative und gute Schullokalitäten sicheren freilich allein noch nicht, was wir erstreben.
ES müssen auch die Lehrer
mit den Principien der Schulgesundheitspflege vertraut sein, weil es haupt sächlich in ihrer Hand liegt, daß die sanitarischen Vorschriften richtig auSgeführt, die vorhandenen Einrichtungen richtig gehandhabt und benutzt
werden.
Auch die besten Subsellien können nicht verhindern, daß der
Schüler eine schlechte Haltung anntmmt; der Lehrer muß mit aller Energie einschreiten und die richtige Haltung erzwingen.
Bet schlechten Subsellien
würde dies Erzwingen unmöglich sein, bei guten ist es möglich, doch eben nur unter Mitwirkung des Lehrers.
Die Herstellung von zweckmäßigen
Ventilationseinrichtungen ist, wie wir gesehen, für alle Schulen noth wendig.
Was nützen sie aber, wenn nicht der Lehrer sie richtig handhabt,
oder nicht ihre richtige Handhabung leitet? Es ist deshalb in vollstem Maße zu beherzigen, was das österreichische SchulgesundhettSregulativ ausspricht,
daß die Lehrer verpflichtet seien, die Grundsätze der Hygiene sich an-
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
Zgl
zueignen und stets sich zu erinnern, daß die Schule nicht bloß die geistigen, sondern auch die leiblichen Kräfte und Fähigkeiten einer harmonischen Ent
wicklung zuzuführen habe. Aber auch die Eltern müssen, so weit in ihren Kräften ist, zu gleichem
Zwecke mitwirken.
Dies ist um so nothwendiger, als es nicht geleugnet
werden kann, daß auch das Haus einen Antheil an dem Entstehen und dem Umsichgreifen einzelner jener Leiden hat, welche man allgemein im Wesentlichen auf die Schule zurückführt.
Wird nicht die Entwickelung der
Kurzsichtigkeit dadurch gefördert, daß die Kinder, wie dies doch so außer
ordentlich häufig und bei Vielen so regelmäßig der Fall ist, ihre häus
lichen Arbeiten im Dämmerlicht anfertigen?
Und muß es nicht der Ent
stehung von Verkrümmungen der Wirbelsäule Vorschub leisten, wenn die Kinder, was doch auch so ungemein häufig zu beobachten ist, zu Hause
in ganz nachlässiger Haltung und an durchaus ungeeigneten Tischen ar beiten?
Die wenigsten Eltern ahnen diese Gefahren; sie wissen nicht,
daß die hier geschilderten üblen Gewohnheiten einen Einfluß auf die Ge-
sundheit haben können.
Darum aber mich es ihnen gesagt und immer
wieder gesagt werden, daß die Maßnahmen der öffentlichen Gesundheitspflege zu Gunsten der Schulkinder niemals
die private Fürsorge und
Ueberwachung der Eltern überflüssig machen. Ich darf dies Capitel nicht schließen, ohne wenigstens kurz darauf aufmerksam zu machen, daß die Schule noch von einer ganz anderen Seite
her das Leben und die Gesundheit der Kinder bedroht. der Hauptheerd,
von
welchem
die
Sie ist nämlich
eigentlichen Kinderkrankheiten,
Masern, Scharlach, Keuchhusten sich verbreiten; und selbst unendlich viele Fälle der bösen Diphtheritis sind auf sie zurückzuführen.
dies ist längst bekannt und nicht blos den Aerzten.
Alles
Um so mehr aber
muß es Wunder nehmen, daß bislang kaum einmal der Versuch gemacht ist, solche Gefahren zu beseitigen.
Leicht wird dies freilich nicht sein,
weil jene Krankheiten nicht immer schon in dem Augenblicke erkannt werden können, wo sie ansteckend sind, und weil sie manchmal so wenig schwer verlaufen, daß sie ganz übersehen werden, obschon sie auch dann ansteckend
sind.
Aber trotzdem kann nach dieser Richtung hin sehr Viel geschehen,
wie dies in jüngster Zeit das Vorgehen der Gesundheitsbehörden in
einigen nordamerikanischen Großstädten gezeigt hat.
Eine nähere Erör
terung der betreffenden Maßnahmen gehört nicht mehr hierher; ich will nur erwähnen, daß jene Behörden auf Grund von Vorschriften betreffend die obligatorische Anzeige übertragbarer Krankheiten einschreiten und mit
der Schulbehörde in Correspondenz sich halten.
Es handelt sich ja um
möglichst frühzeitige Jsolirung der Erkrankten, um Fernhaltung derselben
362
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,
bis zu einem Termine, an welchem eine Ansteckung nicht mehr möglich
ist und um Fernhaltung auch solcher Kinder, welche, obgleich nicht selbst erkrankt, aus einem inficirten Hause möglicherweise eine Krankheit über tragen könnten.
Die darüber in unserem Vaterlande
erlassenen Be
stimmungen sind durchaus unzureichend und werden auch nicht mit Strenge durchgeführt.
Die besten Vorschriften enthält übrigens das holländische
Seuchengesetz vom 4. December 1872.
So viel über den Schutz der Schulkinder; ich gehe nunmehr zu dem jenigen der in Fabriken und Werkstätten beschäftigten Kinder über. Die Bewegung, zu Gunsten dieser letzteren Klasse allgemeine Maßregeln
zu ergreifen, ist von England ausgegangen.
Dort führte der rapide Auf
schwung der Industrie in den ersten Decennien unseres Jahrhunderts zu
einer immer steigenden Ausnutzung der Kinderarbeit.
Aber es dauerte
gar nicht lange, bis man nicht blos eine starke Zunahme der Immoralität, sondern auch der körperlichen Entartung der Fabrikbevölkerung wahrnahm.
Wie war eS auch anders möglich?
Werden Kinder in zartem Alter mit
anhaltender und. schwerer Arbeit beschäftigt, müssen sie stundenlang in
schlecht gelüfteten, engen Räumen, bei ungesundem Gewerbebetriebe ver weilen, so kann eine normale Entwickelung deS Körpers nicht mehr Statt
haben, eS muß eine Depravation desselben eintreten, die sich dann «leistens über die Kindheit hinaus, ja bis anS Lebensende geltend macht.
Ganz
natürlich drängte sich mit der Erkenntniß dieser Thatsache die Nothwendig keit eines Schutzes auf, der im Interesse der Kinder und der Allgemein
heit lag.
ES entstand eine starke Bewegung, um die Beschleunigung von
Schutzmaßregeln zu fördern; das Parlament beschäftigte sich mit der An
gelegenheit,
und so kam es zu der langen Reihe von Fabrik- und
Werkstättegesetzen, die sich im Wesentlichen mit der Arbeit der Kin der, junger Leute und Frauen beschäftigen. Diese Gesetze sind jetzt
codificirt; nach ihnen sollen Kinder erst vom 10. Jahre an, bei bestimmten Gewerbebetrieben vom 8. an, zu industrieller Arbeit verwendet werden;
Kinder, welche dieses minimale Alter überschritten haben und jugendliche Individuen bis zum 18. Jahre dürfen nur eine fixirte Zahl von Stunden täglich arbeiten.
Außerdem ist genau normirt, wie viel Zett ihnen als
Pause zur Erholung resp, zur Mahlzeit zukommen soll.
In bestimmten
Gewerbebetrieben dürfen Kinder gar nicht, in anderen erst mit elf resp,
zwölf Jahren Beschäftigung finden.
Endlich ist für die in Fabriken
arbeitenden Kinder der Schulbesuch (15 Stunden wöchentlich) obligatorisch
gemacht, — eine Vorschrift, welche entschieden auch einen gesundheitlichen
Schutz bezweckt, da die Kinder zum Mindesten während der betreffenden
Zett nicht zu industriellen Zwecken verwendet werden können.
Die Aus-
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
363
führung dieser Bestimmungen ist eine strenge; die Controle liegt den
Fabrikinspectoren ob, welche sie in der That mit großer Gewissenhaftigkeit Zu gleichem Zwecke wirken
üben.
auch die Fabrikärzte mit; denn sie
müssen die in die Fabriken neu etntretenden Kinder untersuchen, müssen notiren, welches Aller sie nach ihrer körperlichen Entwickelung zu haben
scheinen, und den Befund mit jenen Angaben vergleichen, welche dem
Arbeitgeber gemacht und von diesem registrirt wurden. — Man sieht also, daß man in England sich ernsthaft bestrebt, die Schäden zu mindern; aber
Jeder erkennt auch, daß die ergriffenen Maßregeln nur unvollkommenen Schutz gewähren, da man ja noch die Arbeit zehnjähriger Kinder gestattet. Andere Länder sind nachgefolgt, so Frankreich mit dem Gesetze
vom Jahre 1841 und dem dasselbe amendirenden vom Jahr 1875, dessen
gute Bestimmungen freilich durch
ein Ausführungsdecret
zum
großen
Theile annullirt worden sind; ferner Belgien mit dem Rogier'schen Ge setze, Holland mit dem Fabrikgesetze von 1874, Schweden mit dem von
1864.
Sie alle ohne Ausnahme verbieten die Fabrikarbeit von Kindern
unter 12 Jahren.
Die österreichische Gewerbeordnung von 1859
gestattet die Beschäftigung vom 10. Jahre an; dieselbe Norm hat Däne mark.
Was Deutschland betrifft, so gelten hier die Bestimmungen der beziehungsweise des dieselbe amendirenden
Gewerbeordnung von 1869,
Gesetzes vom 17. Juli 1878: Kinder unter 12 Jahren dürfen in Fabriken
gar nicht, Kinder unter 14 Jahren höchstens sechs Stunden täglich, junge Leute von 14 bis 16 Jahren höchstens zehn Stunden täglich beschäftigt werden.
Die Arbeit darf nicht in die Zeit von 81/, Uhr Abends bis
572 Uhr Morgens fallen.
Regelmäßige Pausen, deren Zeit genau fixirt
ist, müssen vom Fabrtkherrn gegeben werden.
Die Aufsicht wird von den
Organen der Polizei und von besonderen durch die Regierungen ernannten
Beamten geübt.
Ein Gesetz über die Verwendung der Kinder in Werk
stätten fehlt. Die einzig richtige Vorschrift aber hat jüngsthin die Schweiz er lassen; denn nach dem neuen vorzüglichen Fabrikgesetze vom 23. März 1877
dürfen dort Kinder unter 14 Jahren in Fabriken gar nicht mehr be
schäftigt werden. Ein
sehr bemerkenSwertheö Gesetz
zum
Schutze
der Kinder
gegen ihre Verwendung in ambulanten Gewerben besitzt Italien
seit dem 18. December 1873.
Die große Ausdehnung, welche dort das
Gewerbe der vagirenden Künstler erlangt hat, und der Umstand, daß von
denselben eine außerordentlich bedeutende Zahl von Kindern, selbst über die Grenzen des Königreichs hinaus, verwendet wird, machte den Erlaß
eines derartigen Gesetzes allerdings nothwendig.
Da dasselbe Bestim-
364
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Geßundheit der Kinder,
mungen enthält, welche auch für andere Länder höchst Veherztgenswerth
erscheinen, so möge hier das Wesentliche deS Inhalts folgen: Kinder und jugendliche Individuen von weniger
als 18 Jahren
dürfen nicht in ambulanten Gewerben, insbesondere nicht von Seiltänzern,
Zauberern, Charlatans, Wahrsagern, Thierbändigern, Musikanten, Straßen sängern und Bettlern verwendet werden.
Falls List oder Gewalt zur
Erlangung solcher Personen gebraucht wurde, erhöht sich die Strafbarkeit, und in solchem Falle erstreckt sich das Gesetz sogar auf Individuen bis zu 21 Jahren.
Eltern und Vormünder, welche die betreffenden Personen hergeben, fallen ebenso in Strafe, wie diejenigen, welche sie verwenden. (Gefängniß
und Geldbuße.)
Erhöhung der Strafe tritt ein, wenn widerrechtlich ver
wendete Individuen
durch schlechte Behandlung Schaden an ihrer Ge
sundheit litten oder heimlich im Stiche gelassen wurden, und wenn die
widerrechtliche Verwendung im Auslande Statt hatte. Bestimmungen zum Schutze der in der Landwirthschaft verwen deten Kinder besitzt England in der Agricultural children act 1873, die es verbietet, Kinder unter acht Jahren mit ländlicher Arbeit zu be schäftigen und die diese für Kinder über acht Jahren nur gestattet, wenn sie nachweisen, daß sie eine bestimmte Zahl von Schulstunden bereits be
sucht haben. ES liegt auf der Hand, daß durch alle solche Vorschriften, voraus
gesetzt, daß sie mit Energie durchgeführt werden, die Gesundheit der be
treffenden Kinder in erheblichem Maße geschützt wird.
Aber nicht minder
nicht hierauf be Bei fiscalischen Werken kann der Staat, bei privaten
einleuchtend ist es, daß die öffentliche Fürsorge sich
schränken darf.
Betrieben der Fabrikherr, im Allgemeinen aber die VereinSthätigkeit noch
unendlich Viel zur Verbesserung der Gesundheit der Arbeiter, speciell der
jugendlichen thun, und zwar besonders durch Hinwirken auf rationelle Ernährung, wie auf salubre Wohnungen.
Der Erfolg wird jeder darauf
gerichteten Bemühung auf dem Fuße folgen.
Denn je gesunder der Ar
beiter, desto leistungsfähiger ist er, und je mehr man In seiner Jugend ihn zu kräftigen sich bestrebte, um so länger wird er seine Frische be wahren, um so seltener durch Krankheit in seiner Leistung beeinträchtigt werden. ES bleibt mir nach Diesem noch übrig,
über die Fürsorge für
arme und in fremde Pflege gegebene Kinder zu sprechen.
Die
armen Kinder zerfallen in diejenigen, welche dürftigen Eltern angehören
und in solche, für welche geradezu die öffentliche Unterstützung in Anspruch genommen wird.
WaS für die Gesundheit der ersteren Classe geschehen
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen znm Schutze der Gesundheit der Kinder.
365
kann, ist im Grunde genommen, zu Anfang dieser Abhandlung ausge
sprochen.
Ein directer Zwang darf auf die Eltern nicht ausgeübt werden;
deshalb muß die indirecte Hülfe eintreten, wie sie oben erörtert ist.
Nur
einzelne besondere Schutzmaßnahmen möchten an dieser Stelle noch her
vorzuheben sein.
Eine einfache Erwägung sagt uns, daß die Gesundheit
zahlreicher Kinder der niederen Klasse deshalb in hervorragendem Maße
weil die Mütter aus Erwerbsrücksichten denselben die
gefährdet wird,
Es ist also ganz natur
nöthige Pflege nicht angcdeihen lassen können.
gemäß, wenn hier die Fürsorge durch Andere einzutreten sich bemüht. Dies ist in der That in fast allen civilisirten Ländern durch Errichtung von Krippen und Kleinkinderbewahranstalten geschehen.
Krippen oder Säuglingsbewahranstalten wurden zuerst (1844) in
Frankreich, und zwar durch Marbeau gegründet.
Sie fanden alsbald
großen Anklang, so daß man sie jetzt dort in den meisten irgend wie be
deutenden Städten antrifft. Zeit 41. auf.
Im Departement der Seine giebt es
Auch unser Vaterland weist ihrer
zur
eine recht erhebliche Zahl
Sie nehmen in der Regel Kinder von einigen Wochen» bis zu zwei
Jahren an; die Statuten der Anstalten differiren aber in diesem Punkte außerordentlich.
Die Verpflegung
der
Kinder
Wärterinnen, doch nur während deö Tages.
erfolgt
durch
geschulte
Früh Morgens hat die
Mutter das Kind zu bringen, am Abend es wieder abzuholen.
In der
Regel wird ihr auch die Verpflichtung auferlegt, des Mittags einen Besuch
zu machen und eventuell das Kind zu stillen.
Wie viel durch solche Ein
richtungen, durch zweckmäßige Ernährung, durch Reinhaltung, durch den
Aufenthalt in gesunderer Luft gewonnen wird, liegt auf der Hand.
In
der That zeigen die Berichte über die Resultate der Krippen, daß dieselben in günstigster Weise auf die Gesundheit der in ihnen verpflegten Kinder
eingewirkt haben.
Gerade in diesem Augenblicke lese ich einen solchen
Bericht über die ganz besonders bemerkenswerten Anstalten dieser Art in Mailand.
Ende 1877 Sterblichkeit,
Hier wurde die erste 1850 gegründet; von da an bis
fanden 8472 Kinder Aufnahme.
Bei diesen betrug
die
obschon sie fast alle im ersten Lebensjahre sich befanden,
nur 17—18 Procent, d. h. fast nur die Hälfte der Sterblichkeit der gleich
alterigen Kinder in der Lombardei,
die ungefähr 33 Procent erreichte.
Ein besonderer Segen der Krippen ist aber auch der, daß durch sie die
Mütter erfahren, wie viel eine einfache, verständige Pflege in Bezug auf das Gesundbleiben und das Gedeihen des Kindes vermag.
Auch die
weniger nachdenkenden und die gleichgültigeren unter ihnen müssen eS wahrnehmen und werden eS in dankbarer Erinnerung behalten, daß ihre Kinder sich während des Aufenthalts in der Krippe wohl befanden, vor Preußische Jahrbücher. Bd.Xl.Vl. Heft i.
27
366
Ueber Maßnahmen nnd Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
Krankheit bewahrt blieben, an Frische und Kraft gewannen, während die dort nicht verpflegten Altersgenoflen vielleicht verkümmerten und dahin
starben!
Aber sie werden zugleich einsehen, daß die Beachtung einfacher
Regeln der Hygiene, der Reinlichkeit, der zweckmäßigen Ernährung dies Resultat zu Wege brachte.
Auch die Kleinkinderbewahranstalten kommen im Wesentlichen
der niederen Classe zu Gute.
Ihre Einrichtung ist bekannt; sie nehmen
Kinder auf, welche mindestens die ersten beiden Lebensjahre überschritten haben, jedoch noch nicht schulpflichtig sind.
Dieselben erhalten für eine
bestimmte Zeit des Tages Obdach, werden beaufsichtigt, angemessen be
schäftigt, zur Reinlichkeit angehalten und, wenigstens in vielen Anstalten, auch beköstigt.
Der Nutzen der letzteren erhellt ohne Weiteres; er ist
ganz analog dem der Krippen, besteht also der Hauptsache nach im Fern halten der antihygienischen Einflüsse, denen die kleinen Kinder in der
elterlichen Wohnung ausgesetzt sind und im Ersatz der mütterlichen Aufsicht.
Nur ist der Nutzen nicht so direct wahrzunehmen, wie derjenige der Krippen, weil bei Kindern der beiden ersten Lebensjahre hygienische und und antihygienische Momente weit rascher und mächtiger ihre Wirkung äußern, als bei etwas älteren.
Im Uebrigen dürfen wir nicht verkennen, daß beide Arten von An stalten noch günstigeren Einfluß auf die Gesundheit der in ihnen gepflegten
Kinder haben würden,
wenn eine regelmäßige sachverständige Aufsicht
Statt hätte, wenn insbesondere die Salubrität der betreffenden Aufent-
haltSräume genügend überwacht würde.
Vorschriften darüber giebt eS
allerdings; aber sie stehen eigentlich nur auf dem Papier, und so kommt
eS, daß gar nicht selten ganz unpassende Lokalitäten, lichtarme, feuchte Zimmer zur Unterbringung der zarten Kleinen verwendet werden.
Sehr bemenkenSwerth ist eS, daß auch einzelne größere Fabriken ihre Krippe und Kleinkinderbewahranstalt eingerichtet haben.
im FamilistSre von Godin Lemaire zu Lille.
So ist eS z. B.
In dieser aus zwei mäch
tigen Gebäuden bestehenden Cit6 ouvriere befindet sich auch ein P ouponnat und ein Bambinat.
In ersterem werden alle Säuglinge,
denen die mütterliche Fürsorge fehlt, von besonders dazu designirten Ar beiterinnen wie in einer Krippe verpflegt; das
Bambinat ist eine Art
Kindergarten, in welchem die etwas größeren Kinder beaufsichtigt, zur Reinlichkeit und Ordnung angehalten werden.
ES sind das Einrichtungen,
welche entschieden Nachahmung verdienen. Wie aber steht eS um den Schutz der thatsächlich armen Kin der, d. h solcher, deren Verpflegung und Erziehung ganz oder theilweise
auS öffentlichen Mitteln bestritten wird?
Hier ist ja ein direktes Ein-
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit^der Kinder.
greifen, ein Vorgehen mit Zwangsmaßregeln möglich.
367
Sehen wir uns
aber nach den factischen Leistungen um, so müssen wir sagen, daß die selben bei Weitem nicht dem entsprechen, was erreicht werden kann und muß. Ein Blick in unsere ländlichen Armenhäuser lehrt uns dies ohne Weiteres; und auch ein großer Theil der städtischen Armen- wie Waisen
häuser bietet Verhältnisse dar, welche vom gesundheitlichen Standpuncte als sehr beklagenswerthe bezeichnet werden müssen. In den Armenhäusern der Dörfer, Flecken und vieler kleineren Städte leben die dort unterge brachten Familien fast ohne die geringste Aufsicht, in insalubren, dumpfen,
lichtarmen Räumen, umgeben von unglaublichem Schmutz, den die Gleich gültigkeit der Insassen sich ansammeln ließ, von Brot, Kartoffeln, schlech tem Kaffee und Branntwein sich nährend.
Die Kinder sind unter solchen
Einflüssen blaß, elend, scrophulöS, rhachitisch; wie könnte es anders sein?
In ihnen ziehen die Communen sich selbst die Armuth, das Elend, das Siechthum groß. Dächten sie mehr an die Zukunft, so würden sie anders handeln. Assanirung der Armenhäuser, permanente Ueberwachung der Insassen, rücksichtsloses Einschreiten gegen der Ordnung und der Reinlichkeit nicht
die, welche die Regeln beachten, das ist das
Mindeste, was gefordert und durchgesetzt werden muß, sowohl um der
Armen, als um der Communen und um des Staates willen.
Noch rich
tiger wäre es, diese kleinen Armenhäuser ganz aufzuheben und an ihrer Stelle Kreis- oder Bezirksarmenanstalten einzurichten. Nur in größeren
Anstalten kann man eine hinreichende hygienische Ueberwachung und, was unbedingt nöthig, eine Jsolirung der Kinder von den Erwachsenen durch führen. Wir sehen dies ja in den Armenhäusern der bedeutenderen Städte, in welchen, obgleich auch sie vielfach der Assanirung bedürfen, die
Insassen doch der Regel nach, unzweifelhaft gesundheitlich besser gestellt sind, als in den kleinen ländlichen Armenhäusern. Eine andere Frage ist aber die, ob die armen Kinder überhaupt in geschlossenen Anstalten
untergebracht werden sollen. Die Erfahrung lehrt nämlich, daß in ihnen die jugendliche Bevölkerung nicht sonderlich gedeiht. Der kindliche Orga
nismus verträgt noch viel weniger als der erwachsene, Mangel an Be wegung im Freien, Mangel an Licht und guter Luft.
Deshalb ist es
wohl erklärlich, weshalb die Klagen über die gesundheitlichen Verhältnisse der Kinder in den Armenanstalten, auch in den speciell für sie bestimmten,
den Waisenhäusern, immer auf's Neue erhoben werden. Höchst trau rig sind insbesondere die Berichte über die englischen Workhouses, in denen ja auch die Kinder, wenn schon von den Erwachsenen isolirt, Scrophulose, RhachitiS, schwere Augenentzündungen
untergebracht werden.
sind dort in ungemein großer Zahl verbreitet.
Allerdings liegt die Ur27*
368
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,
fache zum größten Theil in der Jnsallibrität der Anstalten, die meistens
aus alter Zeit stammen, und
eine Assanirung derselben ist dringendes
Bedürfniß, wie das gleichfalls bei dell meisten unserer Waisenhäuser der Fall ist.
Aber einen Theil der Schuld trägt zweifellos auch das die freie
Bewegung hindernde, abgeschlossene Leben, das der Entwicklung des kind
lichen Organismus entgegen ist.
Diese Erkenntniß und die Erwägung,
daß das Zusammenleben in den Anstalten, der Mangel specieller Obhut
und individueller Berücksichtigung außer den gesundheitlichen auch ander weitige Gefahren mit sich bringt, hat dahin geführt, daß man in neuerer
Zeit die Unterbringung der armen Kinder, zumal der Mädchen, in Fa
milien vorzieht.
Und in der That sprechen die Erfolge dieses Systems, so
weit sie bekannt geworden sind, entschieden für dasselbe vom sanitären, wie vom moralischen Standpuncte. Am besten beweisen dies die Berichteüber die Armenkinderpflege im Großherzogthum Baden.
Dort ist seit einiger Zeit
das ganze Armenwesen reorganisirt und zwar in einer vorzüglichen Weise. UnS interessirt es vornemlich, daß die Kreisverwaltungen sich eingehend
mit der, zunächst die Gemeinden angehenden, Armenpflege, speciell aber mit der Armenkinderpflege befaßt und für eine rationellere Handhabung der letzteren bedeutende Mittel bewilligt haben.
In einer ganzen Reihe
von Kreisen, jedoch nicht in allen, ist nun bezüglich der Kinder das System der Familienpflege angenommen worden.
Mosbach.
Den Anfang machte der Kreis
Er beschloß (1867 und 1868) mit eminenter Stimmenmehr
heit, daß die armen Kinder der Regel nach bei sorgsam ausgewählten
Pflegeeltern und nur dann in Anstalten untergebracht
werden sollten,
wenn Familienpflege sich als unmöglich oder erfolglos herausstellen würde. Ein besonderes Regulativ wurde erlassen hinsichtlich der Auswahl der
Pflegeeltern und hinsichtlich der Pflichten derselben den Kindern gegenüber. Die Ueberwachung wieö man den Kreisabgeordneten, den Pfarrern und dem LandeScommissär zu, die directe Controls der Ausführung des mit
den Pflegepersonen vereinbarten Vertrages aber den Bezirksräthen, welche die Zahlung zu vermitteln und über den Gesundheitszustand, Kleidung,
Kost, Schulbesuch, sittliche Aufführung der Pfleglinge sich zu erkundigen haben.
Schon im Jahre 1868 brachte man von 590 angemeldeten armen
Kindern 392 in Familien unter und war mit dem Resultate sehr zu frieden.
Auch spätere Berichte, speciell des Sonderausschusses von 1877,
sprechen sich ungemein günstig über das System aus.
Bemerkenswerth
ist, daß selbst die unehelichen Kinder den Müttern nicht mehr gelassen
werden, wenn dieselben eine Unterstützung in Anspruch nehmen*). *) Näheres enthält die Zeitschrift für badische Verwaltung. folgende.
Jahrgang 1873 und
369
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
Gleiche Einrichtungen sind dann in anderen Kreisen, so in dem von Villingen, Waldshut, Freiburg und Lörrach getroffen worden und haben sich in allen bewährt.
Eine ganz vorzügliche Art der Armenkinderpflege
mit dem Principe der Jndividualisirung finden wir in Carlsruhe. Auch
hier werden die Waisen nur bei sorgfältig auSgewählten Familien unter gebracht, während man die Halbwaisen Kinder der Mutter beläßt.
Die
Controle wird von den Organen der communalen Armenpflege, die nach
dem Muster der Elberfelder
orgauisirt ist, in Verbindung mit Damen
vom badischen Frauenvcrein, Abtheilung II für Kinderpflege, ausgeübt.
Nach den über diese Controle erlassenen Vorschriften muß jede Aufsichts
dame alle 14 Tage die ihr zugewieseuen Kinder besuchen.
Bei jedem
Besuche hat sie ein Blättchen auszufüllen und zwar mit Notizen über das
thatsächlich Wahrgeuommene.
Die Blättchen werden alle 4—6 Wochen
abgeholt, in dringlichen Fällen jedoch direct an den Geschäftsführer deS
Frauenvereins abgesandt.
Bei constatirter Nachlässigkeit der Pflegeeltern
kann die Communalbehörde beschließen, ihnen daS Kind wieder zu ent
Auch die Halbwaisen werden, so lange die Mutter eine Unter
ziehen.
stützung bezieht, controlirt und zwar ganz in der nämlichen Art, wie die Waisen.
Ist die Mutter nachlässig oder folgt sie nicht den Anordnungen
der Aufsichtsdamen, so kann ihr die Unterstützung entzogen werden.
Resultate dieses Systems sind außerordentlich günstig.
Die
Denn im Jahre
1875 starb von 122 in fremder Pflege befindlichen armen Kindern ein einziges; nur 3 derselben waren mittelmäßig
bis
schlecht, 33 gut bis
mittelmäßig, 86 sehr gut bis gut, 8 sehr gut verpflegt und erzogen.
So
zeigt sich auch hier wieder, ein wie wichtiger Factor in Bezug auf die
Erreichung hygienischer und socialer Ziele die Frauen sind, und wie sehr wir Ursache haben, uns ihre Mitwirkung in höherem Maße zu sichern,
als bislang geschehen ist.
Auch auderswo hat man die Vorzüge der Familienpflege schätzen ge lernt.
Von den im Jahre 1877 von Seiten der Commune Berlin ver
pflegten 3186 armen, resp, von den Eltern verlassenen, Kindern wurden 2823 bei Pflegepersonen, nur 263 in Anstalten untergebracht.
Man zieht
auch dort mit Recht die ländliche Kostpflege vor und wählt die betreffenden
Familien mit Vorliebe in den nahegelegenen Pfarrdörfern aus, so daß oft in einem Orte sich eine ganze Zahl von Pfleglingen findet.
Ueber
diese führt dann ein dort ansässiger, Vertrauenswerther Mann gegen eine geringe Remuneration die Aufsicht. Für Kinder von weniger als 6 Jahren
ist außerdem fortlaufende ärztliche Ueberwachung angeordnet.
In Hamburg werden die Kinder absolut armer Eltern, oder solche, welche im Elternhause körperlich und moralisch verwahrlosen, sowie die
370
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,
unehelichen, für welche der Vater nicht sorgt, in Familienpflege, vorzugs
weise in solche auf dem Lande gegeben.
Hier in Rostock ist diese Art
der Unterbringung armer Kinder gleichfalls Sitte, doch vermißt man eine
regelmäßige und genügende Aufsicht, ohne welche dies System gänzlich zu verwerfen ist.
In Cöln will man jetzt die bislang in Anstalten ver
pflegten Waisenkinder bei geeigneten Pflegeelten unterbringen, in Erfurt
hat man einen gleichen Versuch mit den Kindern gemacht, für welche durch ihr Verbleiben bei den Eltern ein nachtheiliger Einfluß zu befürchten ist,
und die Stadt Leipzig hat vor Kurzem die Bedingungen bekannt ge
macht, unter welchen sie arme Kinder in fremde Pflege geben will. ES sei an dieser Stelle kurz erwähnt, daß neuerdings in Italien und in Oesterreich
auch das Findlingswesen auf Grund der Ein
führung einer ländlichen Einzelpflege verbessert worden ist.
Wie bekannt,
handelt eS sich nicht blos um die eigentlichen Findlinge, sondern auch um
verlastene Kinder, und um solche legitime, die die Eltern verloren haben
Diese Kinder wurden
oder deren Eltern im Gefängniße sich befinden.
früher innerhalb der Anstalten verpflegt und zwar bis zu einem bestimm ten Lebensjahre (in manchen bis zum fünfzehnten).
Die Resultate dieses
Systems waren aber höchst traurige, da die Mehrzahl der im ersten
Lebensjahre recipirten Kinder vor Ablauf desselben verstarb.
Jetzt hat man
in Folge dessen die Außenpflege eingeführt, d. h. man giebt die Säuglinge schon wenige Tage nach ihrer Aufnahme an sorgfältig ausgewählte Am
men vorzugsweise auf dem Lande und läßt die betreffenden Kinder daselbst auch nach ihrer Entwöhnung, so lange die Statuten der Anstalt es be
stimmen, bei Pflegeeltern, deren Eifer man durch häufige Visitationen und durch Prämien anzuspornen sucht.
ES ist dteS eine sehr bedeutsame
Reform, deren Segen schon jetzt klar zu Tage tritt.
Beispielsweise ver
liert die große Mailänder Findelanstalt jetzt nur noch etwa 21 Procent aller Säuglinge bis zum vollendeten ersten Lebensjahre, d. h. nicht viel mehr als wie der allgemeine Durchschnittssatz ist.
Und dabei ist zu be
denken, daß die Kinder, wie ich mich selbst überzeugt habe, ungemein oft
in einem außerordentlich elenden, verwahrlosten Zustande der Anstalt über
geben werden.
Die Erkenntniß, daß die Einzelpflege fremder Kinder ohne fortlaufende Ueberwachung keine erfreulichen Resultate giebt, hat auch zu den Versuchen
einer Reform des sogenannten Zieh- oder HaltekinderwesenS Ver
anlassung gegeben.
Daß dieselbe hochnothwendtg ist, darüber brauche ich
mich nicht deS Näheren auszusprechen.
Die ungemein große Sterblichkeit
der bei den Ziehmüttern untergebrachten Kinder ist auch den Laien längst
bekannt und oft genug hervorgehoben worden.
Sie legt den Behörden
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
371
geradezu die Verpflichtung auf, einzuschreiten und dies um so mehr, als
es nur zu offenkundig ist, daß eö sich in zahlreichen Fällen von Tod und
Siechthum der betreffenden Kinder um strafbare Unterlassungs- und Be gehungssünden handelt. Was ist nun bislang geschehen, um dem Uebel entgegenzutreten? Es sind Gesetze erlassen worden, deren Zweck es ist, eine Controle einzuführen. Ich erwähne zunächst des englischen Gesetzes:
act 1872.
Es bestimmt Folgendes:
Infant life protection
Niemand darf gegen Entgelt mehr
als ein Kind oder als ein Zwillingspaar von weniger als einem Jahr
länger als einen Tag verpflegen, wenn nicht zuvor Pflegeperson und deren Wohnung registrirt wurden.
Diese Registrirung wird von der Localbe
hörde vorgenommen, und zwar unentgeltlich.
Es wird aber das Haus
nicht eher eingetragen, als Lis die Behörde sich von der Salubrität über zeugt hat, und die Pflegeperson nicht eher als solche registrirt, als bis sie
durch Zeugnisse nachgewiesen hat, daß sie einen guten Lebenswandel führe und in der Pflege von Kindern hinreichende Geschicklichkeit besitze.
Die
registrirte Pflegeperson soll in einem ihr zuzustellenden Buche das Datum
der Uebernahme, Namen, Alter, Geschlecht des Kindes, Namen und Adresse dessen, von welchem sie das Kind empfing, Datum der Rücknahme und Namen des Abnehmers notiren.
Jede Registrirung erfolgt nur auf ein
Jahr, kann aber schon früher gelöscht werden, wenn Verschlechterung der Wohnung oder Nachlässigkeit in der Pflege nachgewiesen wurde.
Etwaige
Todesfälle von Pflegekindern müssen binnen 24 Stunden nach dem Tode dem Leichenbeschauer angezeigt werden, wenn nicht das Zeugniß eines
qualificirten Arztes mit Angabe der Todesursache vorliegt.
Jedes Zu
widerhandeln gegen das vorliegende Gesetz wird mit Geld- oder Gefäng nißstrafe geahndet. In Frankreich hatte man schon im Anfang dieses Jahrhunderts
durch Vorschriften über das Ammenwesen der ungemein großen Sterb
lichkeit der in fremde Pflege gegebenen Kinder zu steuern versucht, aber ohne jeglichen Erfolg.
Die Uebelstände traten im
Gegentheil immer
stärker hervor, weil jene Gesetze gar nicht beachtet wurden, die Unsitte
aber, die Kinder bald nach der Geburt aus den Armen der Mutter fort in fremde Pflege zu geben, stetig zunahm.
Wir Deutsche können uns
nur schwer einen Begriff von dem Umfange des Haltekinderwesens in
jenem Lande machen.
Erscheint es uns doch kaum glaublich, daß, alljähr
lich an 20000 Kinder allein aus Paris sortgesandt werden, und doch ver sichert dies Bergcron, ein französischer Arzt.
Hören wir dann aber weiter,
daß von diesen 20000 Kindern an 15000 nicht wieder zurückkehren, weil sie schon im ersten Jahre versterben, so fragen wir staunend, wie dem
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,
372
gegenüber die Eltern an der entsetzlichen Unsitte festhalten können.
Die
Regierung hat ihrerseits den Abgrund erkannt und neuerdings einen ernst haften Versuch gemacht, so weit eS an ihr liegt, dem Uebel entgegenzu
treten.
Sie erließ am 23. December 1874 ein Gesetz über den Schutz
der in fremder Pflege untergebrachten Kinder, das im Wesentlichen Fol
gendes anordnet: „Für alle gegen Entgelt bei Fremden untergebrachten Kinder unter 2 Jahren wird eine Aufsicht angeordnet, welche unter Oberleitung des
Präfecten durch Localcommissionen wahrzunehmen ist.
Diese, aus
dem Maire der betreffenden Gemeinde, einem Geistlichen und zwei Fa milienmüttern bestehend, hat die Aufsicht unter ihre Mitglieder zu ver-
theilen.
Eine weitere Ueberwachung wird durch besonders zu erwählende
JnspectionSärzte auSgeübt.
Diese sollen die Kinder, über welche eine
Aufsicht nach dem Gesetze erforderlich ist, innerhalb der ersten acht Tage nach geschehener Aufnahme, später allmonatlich wenigstens einmal besuchen
und allemal in ein der Amme resp. Pflegerin eingehändigtes Büchelchen den Befund eintragen, so oft sie eS für nöthig erachten, dem Maire und Präfecten Anzeige erstatten, jährlich letzterem einen Generalrapport ein senden, bei Erkrankungen der Pflegekinder dieselben behandeln, bei Todes
fällen auf einem Berichtzettel die Ursache deS Todes vermerken. Ein be sonderes DepartementScomitö soll dem Präfecten berathend zur Seite
stehen.
Wer ein Kind in fremde Pflege geben will, muß dem Maire seines Wohnorts Anzeige machen.
Jede Person, welche ein solches Kind stillen
resp, verpflegen will, muß ein Certificat vorzeigen, welches, vom Maire
ausgestellt, außer über die Personalien, über den Lebenswandel der Be treffenden, über die Salubrität der Wohnung befriedigende Auskunft er
theilt.
Sie muß fernerhin ein ärztliches Zeugniß beibringen, welches be
scheinigt, daß sie zum Stillen tauglich ist, daß sie keine ansteckenden Krank
heiten hat und daß sie geimpft wurde.
Eine Frauensperson darf ohne Erlaubniß des JnspectionsarzteS nicht
mehr als eilt Kind gegen Entgelt stillen und keine darf ohne Genehmi gung der Localcommission oder deS Maire mehr als 2 Kinder zu gleicher Zeit gegen Entgelt zur Verpflegung aufnehmen.
Das Gewerbe der Amuienvermittler ist an eine Concession gebunden,
die nicht ertheilt wird, wenn der Lebenswandel des zu Concessionirenden
zu Bedenken Veranlassung giebt, und die wieder entzogen wird, wenn nicht die Specialvorschriften genau erfüllt werden."
Zu diesem Gesetze ist dann noch am 27. Februar 1877 eine Aus führungsverordnung erschienen.
ES bleibt nun abzuwarten, ob mit Hülfe
lieber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
373
der neuen Bestimmungen der Schutz der Kinder sich wirksamer gestaltet, als bisher.
Gelangt das Gesetz zur thatkräftigen Durchführung, so lassen
sich allerdings manche Gefahren beseitigen, zumal
da die Aussicht auch
durch Familienmütter geübt werden soll. Eine gründliche Besserung wird aber nur dann erzielt, wenn das Volk von seiner tadelnswerthen Unsitte ab läßt, die Kinder außerhalb des elterlichen Hauses verpflegen zu lassen. In Deutschland fehlt ein
allgemeines
Kinderschutz-Gesetz.
Von
den Einzelstaaten hat das Großherzogthum Hessen ein solches er
lassen und zwar mit folgenden Vorschriften: „Wenn ein Kind von weniger als 6 Jahren bei
Lebzeiten
eines
ehelichen Elterntheils oder der unehelichen Mutter außerhalb der elterlichen Wohnung gegen Entgelt in Verpflegung gegeben werden soll, so ist hierzu
die Genehmigung der Ortspolizeibehörde erforderlich.
Bei der Entschei
dung der letzteren ist in Betracht zu ziehen, ob nach allen Umständen, nach der Persönlichkeit und den Verhältnissen des gewählten Pflegers dem
Kinde gebührende Fürsorge zu Theil werde.
Bestätigt sich diese Erwar
tung nicht, so kann die Genehmigung zurückgezogen werden, in welchem
Falle das Kind alsbald aus der Pflege wieder zurückzunehmen ist.
Con-
travention gegen diese Bestimmungen wird mit Geldstrafe von 20—100
Mark geahndet.
Wer ein fremdes Kind unter 6 Jahren gegen Entgelt
in Pflege nimmt, muß dies der Ortspolizeibehörde anzeigen und ihr, so
wie den von dieser beauftragten Personen jederzeit Einblick in die Art der Pflege und den Zustand des betreffenden Kindes gestatten, auch jede
geforderte Auskunft ertheilen.
Im Weigerungsfälle tritt Strafe von 20
bis 150 Mark ein.
Bei Beendigung der Pflege oder zeitweiliger Unterbrechung derselben
muß eine Abmeldung Statt finden unter Angabe des Ortes, wohin das Kind verbracht wurde.
Contravention wird mit 2—30 Mark Strafe ge
ahndet.
Wird ein Kind unter 6 Jahren in eine fremde
Gemeinde behufs
entgeltlicher Pflege weggethan, so haben die Eltern dies der Ortspolizei
behörde binnen 24 Stunden anzuzeigen." Dies Gesetz hat den großen Vortheil vor den bisher mitgetheilten,
daß es auf Kinder der ersten sechs Jahre, nicht blos des ersten und zwei ten, Anwendung findet.
Im Uebrigen steht es dem englischen nach, wel
ches den effectiven Nachweis verlangt, daß die Pflegeperson mit der Wartung von Kindern vertraut, und daß die betr. Wohnung saluber sei,
welches außerdem, was sehr wichtig ist, der Pflegeperson die Verpflichtung auserlegt, bei etwa eintretendem Tode des Kindes dem Leichenschauer un
verzüglich Anzeige zu erstatten, und welches endlich, was nicht minder be-
374
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,
langreich ist, die Verpflegung von Kindern gegen Entgelt von einer vor gängigen Concession abhängig macht. 'Die deutsche Gewerbeordnung vom
Jahre 1869 hat, was sehr zu bedauern ist, das Gewerbe des Aufziehens fremder Kinder gegen Bezahlung noch nicht unter diejenigen Betriebe re-
gistrirt, welche der ConcessionSpflicht unterliegen.
Eben dies ist überhaupt
wohl der Grund, weshalb man in unserem Baterlande ein energisches
Daß aber sehr wohl die Möglichkeit gegeben
Vorgehen bis jetzt vermißt.
ist, auf ortSpolizeilichem Wege ernsthafte Maßnahmen zum Schutze
der Haltekinder zu treffen, zeigt eine am 1. December 1875 in Chemnitz erlassene Verordnung.
Dieselbe statuirt kurzweg die ConcessionSpflicht
für alle Zieheltern, resp, alle Personen, welche gegen Entgelt nicht nahe
verwandte Kinder verpflegen.
Diese Concession wird nur auf Widerruf
und nur gut beleumundeten Personen ertheilt, wenn sie in geordneten
Verhältnissen leben und eine gesunde Wohnung inne haben.
Die Zahl
der von einer Person verpflegten Kinder darf zu gleicher Zeit nicht mehr als drei betragen. — Die Controle üben die Polizei und die Armenbe
hörde, diese durch die Armenpfleger, außerdem die Armenärzte.
Letztere
sollen die betreffenden Eltern, über welche ein Verzeichniß angestellt ist, besuchen und über den Befund der Kinder an die Polizei berichten. Den
Pflegepersonen wird eine Instruction, welche über ihre Pflichten sie auf klärt und eine Belehrung zugestellt, welche über die gesammte Pflege der Kinder in eingehender, aber sehr klarer Form sich ausspricht.
(Den
Wortlaut der Verordnung und der Instruction nebst Belehrung viele in Stolp'S Ortsgesetze Bd. IX.)
In anderen Städten sind polizeiliche Vorschriften über Zugang, Ab gang und Tod der Haltekinder erlassen worden; doch dürfte damit wenig
erreicht werden.
In den bei Weitem meisten Orten ist aber gar Nichts
geschehen, so dringlich sich auch fast überall die Angelegenheit gestaltet.
Um so nothwendiger erscheint eine gesetzliche Regelung, die sehr wohl all gemein für daS ganze Reich unter Abänderung der Gewerbeordnung von
1869 und unter Zugrundelegung der englischen Infant life protection
act 1872 erfolgen kann.
Da es aber vor Allem auf eine streng durch
geführte sachkundige Aufsicht ankommt, so müssen sehr präcise Bestim
mungen hinsichtlich derselben in daS Gesetz ausgenommen werden.
Als
Princip wird aufzustellen sein, daß die Ueberwachung regelmäßig durch die Armenärzte und die Medicinalbeamten geübt werde.
sich
Aber eS dürfte
auch, int Hinblick auf die günstigen Resultate deS Systems der
Armenkinderpflege in Carlsruhe, empfehlen, eS auszusprechen, daß da, wo Kinderschutzveretne oder Frauenvereine bestehen, diese Seitens der
mit der Ausführung des Gesetzes beauftragten Behörde zur Theilnahme
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
an der Ueberwachung aufzufordern seien.
375
Das Nähere der Ausführung
wäre dann durch Localstatut festztlstetten.
In der That kann es nur segensreich sein, wenn die Organe der öffentlichen Sicherheit und Gesundheit sich
mit den Organen der frei
willigen Hülfe zur Erreichung des von beiden erstrebten Zieles verbinden.
Den ersteren ist dann in den mit der Kinderpflege vertrauten Frauen eine ebenso sachverständige, wie aufopferungsfähige und hingebende Mit
wirkung gesichert,
Behörde die
erst durch die Anlehnung an die
den letzteren aber
Möglichkeit gegeben,
kräftig
und
umfassend
aufzutreten.
Darum sollte man sich nicht blos bemühen, eine gesetzliche Regelung des
Ziehkinderwesens durchzusetzen, sondern auch dahin streben, daß Kinder schutz- und Frauenvereine in möglichst großer Zahl erstehen. Ein sehr wesentlicher
Gewinn
würde
es
endlich
sein, wenn die
Communen aus dem Armenfonds eine angemessene Erhöhung des
Pflegegeldes, wo dies nöthig ist, und besonders eine Remuneration für gute Pflege bewilligen wollten.
Zum Schlüsse gestatte ich mir noch einige Worte über die öffentliche
Fürsorge für kranke, resp, kränkliche und schwächliche Kinder. Das erste Desiderat ist natürlich das Vorhandensein von Aerzten,
welche auch die Krankheiten des kindlichen Alters zu behandeln und zu verhüten verstehen.
Daß dies sich nicht, wie Viele und besonders viele
Studirende der Medicin glauben, ohne Weiteres aus einer Kenntniß der Krankheiten des Erwachsenen ergiebt, ist gewiß.
Denn manche Krankheiten
der Kinder kommen nur oder fast nur bei diesen vor, andere treten bei
ihnen mit ganz specifischen Symptomen auf, vor Allem aber muß die
Verhütung
und
Behandlung
Grundsätzen geübt werden.
dieser Krankheiten nach, ganz besonderen
Es ist also nöthig, das betreffende Fach als
selbstständige Disciplin zu lehren und zu lernen.
In Wahrheit ist das
selbe aber bis auf die jüngste Zeit weit weniger beachtet worden, als es
verdient.
ES gab Hochschulen und giebt es noch, auf denen die Hygiene
und Krankheitslehre des kindlichen Alters gar nicht oder nicht regelmäßig
vorgetragen werden, auf denen Einrichtungen zur klinischen Demonstration von Kinderkrankheiten nur als Nothbehelf bestehen.
Daß in dieser Be
ziehung eine Reform erforderlich ist, wird wohl allgemein anerkannt. Die angehenden Aerzte müssen mit einem größeren Schatz von Kenntnissen in
beiden ebengenannten Disciplinen ihre Praxis beginnen, als bisher, wo
sie zum Schaden ihrer Clienten diese Kenntnisse sich erst in der Praxis und durch dieselbe langsam erwerben konnten. Ein zweites Desiderat sind Spitäler für Kinder,
klin. Unterrichts, als
sowohl
des
auch insbesondere der Behandlung selbst wegen.
376
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
In größeren Städten sind sie absolute- Bedürfniß, weil die Kinder der
ärmeren Classen mit Erfolg in den Wohnungen derselben nicht behandelt werden können, sog. Kinderabtheilungen in den Krankenhäusern aber immer nur unvollkommen ihrem Zwecke entsprechen.
Eine Nähere Begründung
dieser Ansicht wird man an dieser Stelle nicht erwarten; ich weise nur
darauf hin,
daß die immer steigende Zahl von Kinderheilanstalten die
Thatsächlichkeit ihre- Werthe-
am besten illustrirt.
unseres Jahrhundert- wurde da-
Um den Beginn
erste selbständige Spital für Kinder
gegründet, e- war die maison de l’Enfant Jösus zu Paris.
Langsam
traten neue hinzu, von denen neben einigen poliklinischen Instituten, das
Nicolaispttal in Petersburg und das St. Annenkinderspital zu Wien die bekanntesten sind.
Dann folgte in Deutschland die Gründung von Kinder
spitälern in Berlin, in Hamburg, Stuttgart, Frankfurt a. M., Mün chen u. s. w.
Jetzt finden wir sic in den meisten bedeutenden Städten
unseres Vaterlandes, zum Theil musterhaft eingerichtet, wie z. B. das neue Kinderkrankenhaus in Dresden an der Chemnitzerstraße.
Von aus
ländischen verdienen eine rühmende Erwähnung dasjenige zu Lissabon,
das zu Manchester, das zu London in Great Ormond Street, das des Prinzen Peter von Oldenburg in Petersburg und das von St. Wladimir in Moskau, welches letztere nahe der Stadt im.Walde gelegen, aus einem
Hauptgebäude, einem kleineren Beobachtungshause, einem Jsolirhause für
Masern, einem für Scharlach, einem für Blattern, einem für Diphtheritis,
einem für Syphilis und aus Evacuirungsbaracken bestehend, alle Ver
besserungen der modernen Spitalhygiene aufweist.
Besonders reich an
Kinderheilanstalten der verschiedensten Art ist Paris; außer dem oben er wähnten noch bestehenden Spitale hat es das Höpital Ste. Eugönie, das
Asyl in der Rue Lacourbe, das Institut der protestantischen Diakonissen
in der Rue Reuilly, das Höpital Rothschild für israelitische Kinder, daS Asyl für unheilbare Mädchen in Neuilly und andere mehr.
Sehr beachtenSwerth sind einzelne Special-Einrichtungen dieser Art. Ich denke dabei zunächst an die Spitäler für Scrophulöse,
von
denen dasjenige zu Turin (di Santa Filomena) durch vortreffliche Ver waltung bekannt ist, dann aber besonders an die sog. Ospizi marini, die Seehospize, welche für eben solche Kranke bestimmt, die glänzend sten Erfolge hinsichtlich der Behandlung derselben erzielt haben.
Dieser
Umstand, der angesichts der traurigen Resultate einer anderweitigen Be handlung von hoher allgemeiner Bedeutung ist, rechtfertigt es wohl, wenn
einige kurze Notizen über sie hinzugefügt werden.
Die älteste derartige
Anstalt ist genau genommen Royal sea-bathing infirmary and Royal hospital for scrofula in Margate.
Als eigentlichen
Schöpfer
aber
377
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.
müssen wir den Italiener Barellai nennen, dem es durch Rede und
Schriften gelang, gegen Ende der fünfziger Jahre das Seehospiz von Viareggio, nordwestlich von Pisa, das erste an der italienischen Küste, zu
eröffnen. Es folgten die zu Voltri, Rimini, Sestri, Porto d'Anzigo, Venedig,
In ihnen finden die armen
Livorno und noch mehr als zehn andere.
Scrophulösen unentgeltliche Aufnahme und
Verpflegung;
sie genießen
6—8 Wochen die heilsame Wirkung der Seeluft, wie der See
durch
bäder und über die Hälfte kehrt geheilt, der Rest wesentlich gebessert Bald nach der Eröffnung der Anstalt zu. Viareggio wurde in
zurück.
Frankreich die erste gleicher Art, nämlich diejenige von Berck sur mer (1861) eingerichtet, welche jetzt für nicht weniger als 600 Kinder Raum
bietet,
und deren Resultate ebenso vorzüglich sind, wie diejenigen der
italienischen Hospize.
Auch Nord-Amerika ist nicht zurückgeblieben.
Durch
Vereinsthätigkeit entstand das Beverly sea-hospital bei Boston, ein anderes
an der Küste von Pennsylvania, ein anderes bei New-Iork, allerdings nicht blos für Scrophulöse.
Auf dem Michigan-See ist ein floating hospital
eingerichtet, und von New- Jork fährt im Sommer auf Veranlassung eines Wohlthätigkeits - Vereins
ein
solches
schwimmendes Spital
mit
schwächlichen Kindern und deren Pflegerinnen jeden Morgen in See, um den Tag über auf derselben zu bleiben.
Holland hat das schöne See
hospiz, die Sophia-Stiftung, zu Scheveningen, Dänemark dasjenige zu Refnaes eingerichtet.
In Deutschland finden wir bis jetzt nur drei bescheidene Anstalten dieser Art, zu Norderney, zu Wyk auf Föhr und zu Gr. Müritz in Meckl., besitzen aber dafür fast 20 Heilstätten für scrophulöse Kinder in den
Soolbädern,
z. B.
in Jagstfeld,
Rothenfelde,
Kreuznach,
Sülze, außerdem noch ländliche Genesungsstätten für schwächliche Kinder
in Godesberg und zu Augustusbad, alle durch milde Beiträge ge
gründet und unterhalten.
Die Resultate, die auch in ihnen erzielt werden,
sind überaus vorzüglich und treiben uns an, mit der Förderung dieses
Liebeswerks, der Neubegründung solcher Einrichtungen zu Gunsten der
scrophulösen und schwächlichen Kinder unbemittelter Eltern weiter vor zugehen.
Die allerneuste Zeit hat endlich noch eine hervorragende Leistung der
freiwilligen Hülfe zu verzeichnen, welche kränklichen, schwächlichen Schul
kindern sich zuwendet, ich meine die sogenannten Feriencolonieen.
Die
erste Anregung zu ihrer Einrichtung durch freiwillige Beiträge gab der
Prediger Bion zu Zürich im Jahre 1876.
In Deutschland hat die Stadt
Frankfurt a. M. und in derselben vor Allem der Geh. Sanitätsrath Dr.
Varrentrapp das Verdienst, das
Beispiel gegeben zu haben.
Während
378
Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,
des Sommers 1878 wurde der erste Versuch mit 97 kränklichen, armen Schulknaben gemacht, die auf'S Land geführt wurden, um hier unter salubreren Verhältnissen sich zu erholen. Im folgenden Sommer hatte man
bereits die.Mittel, um 90 Knaben und 48 Mädchen nahezu vier Wochen auf'S Land zu senden.
Die Berichte über den Erfolg lauten so aus
nehmend günstig, daß eine Nachahmung in anderen Städten dringend zu wünschen ist.
Wien und Stuttgart, Bremen, Dresden und Berlin haben
diesen Schritt bereits gethan, und auch dort ist der Erfolg ein sehr er-
muthigender gewesen. Das sind in kurzen Zügen die wesentlichen Ziele und die hauptsäch
lichsten Leistungen der öffentlichen Fürsorge für die Kinder. Ein Vergleich dessen, waS geschehen ist und dessen, was wir erstreben, lehrt, daß überall erst der Anfang mit ernsten Maßnahmen zum Schutze des Heranwachsen den Geschlechtes gemacht ist, und daß unendlich Viel
werden muß.
noch nachgeholt
Was aber mit Freude erfüllt, ist der unverkennbare Eifer
zahlreicher Kreise,
an einer Besserung der bisherigen Zustände mitzu
arbeiten und dieselben nicht allein von dem Vorgehen der Behörden zu erwarten.
In der That können ja die letzteren, zumal auf diesem Gebiet
nur den gravirendsten Uebelständen abhelfen; eine gründliche Beseitigung
der zahlreichen Uebelstände und ein durchgreifender Schutz ist nur zu er zielen, wenn auch die freiwillige Hülfe in zweckentsprechender Weise orga-
nisirt wird, und wenn außerdem der Einzelne selbst durch Erziehung, durch Belehrung wie durch Beispiel die Erreichung des Zieles nach Kräften zu fördern sich bemüht.
Rostock.
Prof. Dr. Julius Uffelmann.
Heinrich Luden*) „Lust und Liebe sind die Fittige zu großen Thaten."
An dieses
Goethesche Wort möchte ich erinnern in dem Augenblicke, da ich mich vor die Aufgabe gestellt sehe, daS Gedächtniß eines Mannes zu feiern, der
unserem hier versammelten Kreise nahe steht durch werthe, noch heute in
unserer Mitte lebende Glieder seiner Familie, als verdienter und beliebter langjähriger Lehrer unserer Hochschule, als Vertreter seiner Wissenschaft
und als deutscher, nicht ohne Erfolg in die Geschicke seines Vaterlandes
eingreifender Patriot.
Daß jener schöne Goethesche Spruch besonders
geeignet ist, in daS Verständniß des Gefeierten einzuführen, gleichsam daS Geheimniß seiner von so überaus reichem Erfolge gekrönten akademischen
Wirksamkeit zu enthüllen, wird ein Blick auf Leben und Streben deS
Mannes zur Genüge klar legen. Heinrich Luden wurde am 10. April 1780 zu Loxstedt im Herzogthum Bremen als der Sohn eines schlichten LandmannS geboren.
UeberauS
dürftig sind wir unterrichtet über seine Jugendzeit; ein Dunkel liegt über
ihr, das selbst seine nächsten Angehörigen jetzt nicht mehr aufzuhellen ver mögen.
Wenn eS in dem ihm in der Jenaischen Literaturzeitung gewid
meten Nekrologe heißt, er sei anfangs vom Vater zum Kaufmann oder Oekonomen bestimmt gewesen, so paßt das zu der Aeußerung Johannes
von Müllers in dessen 1805 geschriebener Vorrede zu LudenS ErstlingS*) Akademische Festrede, gehalten in der Aula zu Jena am 12. Juni 1880 zur hundert jährigen Gedächtnißfeier LudenS von Profeffor vr. Dietrich Schäfer. — Quellen: LudenS Schriften, wie sie in der Darstellung selbst Erwähnung finden; Luden, Rückblicke in mein Leben; Eichatadii opuscula oratoria; Friedrich von Müller, Erinnerungen auS den Kriegszeiten von 1806—1813; Theodor Müllers Jugend leben von Karl Robert Pabst; Henke, Fries' Leben; Robert und Richard Keil, Geschichte des Jenaischen StudentenlebenS; R. Keil, das Wartburgsest von 1817 und 1867; Leo, aus meiner Jugendzeit; I. C. GenSler, Berurtheilung und Recht fertigung in der von Kotzebueschen Bulletin-Sache; Urtheil der Juristen-Facultät zu Würzburg 1818; Jen. Literat. Ztg. 1804 —1806; Literar. Wochenblatt, her ausgegeben von August von Kotzebue 1818; LektionSkataloge der Universität Jena 1806—1845. — Briefe von Johannes von Müller, Bredenkamp, Heeren, Eichstädt, Johannes Voigt an Luden, sämmtlich im Besitz des Herrn Ober-Appellations Ger. Rath« Profeffor Dr. Hr. Luden in Jena. Letzterem, dem Sohne des Gefeierte», sowie einer Reihe ehemaliger Hörer und Bekannter Heinrich LudenS ist der Berfaffer außerdem für mündliche Mittheilungen zu Dank verpflichtet.
Heinrich Luden.
380
werke, daß der Verfasser „vor kaum neun Jahren noch mit aller Wissen Eben 1796 wurde der
schaft und Gelehrsamkeit unbekannt gewesen fei".
16 jährige dem Bremer Domghmnasium
(Athenäum) anvertraut; drei
Jahre
zu Göttingen, Theologie
später
studiren,
bezog
er
die Universität
eine Aufgabe, die er in vierjährigem
zu
Universitätsaufenthalt
bis zur bestandenen Kandidatenprüfung durchführte.
Wiederholt hat er
die Kanzel bestiegen, mit Beifall gepredigt; eine seiner Predigten ist so gar im Druck erschienen.
Wenn er trotzdem daS ohne Zweifel höchste
Ideal seines Vaters, als Pastor seine Heerde zu weiden, nicht verwirk lichte, so hinderten ihn daran in erster Linie seine anderweitigen wissen schaftlichen Neigungen. Schon daß in Göttingen Planck der Hauptsührer
deS jungen Theologen wurde, läßt auf die historische Richtung in dessen Studien schließen.
Die ausgezeichnete Vertretung, deren sich damals die
Geschichte in Göttingen erfreute, konnte dieser Neigung nur förderlich sein; Schlözer, (Satterer und besonders Heeren wurden gehört, mit Letzterem
eine Verbindung geknüpft, die für'S Leben dauern sollte.
Daneben wid
mete sich der bildungsfähige, lernbegierige junge Mann noch der Philo
sophie und Philologie; der alte Heyne lernte ihn schätzen.
Die erste Ver
bindung, in die Luden mit Jena trat, war eine philologische.
Als im
Jahre 1801 Eichstädts Lucrez erschienen war, sandte der Göttinger Stu
dent dem Herausgeber eine Uebersetzung des ersten BucheS im Versmaß deS Originals; noch nach des jüngeren Kollegen Tode hat der alte Je
nenser Philologe der wohlgelungenen, äußerst sauber geschriebenen, von ihm sorgfältig bewahrten Arbeit mit Anerkennung gedacht.
Nur vermuthen können wir, wohin Luden nach Beendigung seiner Göttinger Studien seine Schritte lenkte.
Ein Jahr lang verschwindet er
unS vollständig au« dem Gesichte; höchst wahrscheinlich verlebte er es größtentheils auf dem Lande im Hannoverschen.
Erst im September 1804
finden wir ihn wieder in Berlin und zwar als Hauslehrer beim Staats
rath Hufeland, eine Stelle, die er bis ins Jahr 1806 inne hatte.
Sie
gab ihm mannichfache Gelegenheit zu weiterer Ausbildung, wissenschaftlich und gesellschaftlich.
Das lebhafte Wohlwollen, das der einflußreiche, edle
und feingebildete Mediciner gar bald für „seinen guten Luden" empfand
und ihm stets bewahrte, beweist deutlich genug, daß der junge Mann auch hier Zeit und Gelegenheit zu nutzen verstand, daß er in der That,
wie Johannes von Müller von ihm rühmt, „durch Rechtschaffenheit und
daS trefflichste Aufstreben sich vielen edlen Menschen lieb zu machen wußte". Eben durch Hufeland ist Luden diesem
größten Historiker seiner Zeit,
vielleicht einem der kenntnißreichsten Männer aller Zeiten, zugeführt wor
den, durch Hufeland wurde Johannes von Müller mit LudenS Wunsch
381
Heinrich Luden.
bekannt, sein Erstlingswerk, eine Biographie des Thomasius, durch eine
Vorrede des berühmten Mannes in die wissenschaftliche Welt eingeführt
zu sehen.
Der Wunsch wurde erfüllt; Johannes von Müller schloß die
Empfehlung mit den Worten: „Der Vorredner müßte den Verfasser schlecht
kennen, wenn er nicht weit vollkommenere Arbeiten als diese erste von ihm erwarten und versprechen zu können glaubte".
Luden war auf die
günstigste nur denkbare Art der gelehrten Welt vorgestellt worden. Inzwischen hatten sich die Beziehungen zu Jena erweitert.
Eichstädt
war 1803 an die Spitze der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung ge
treten; Luden lieferte Recensionen
für das Blatt,
die gefielen.
Sein
„Thomasius" wurde der philosophischen Fakultät zu Jena Anlaß, ihm im Juli 1804 die Doktorwürde zu verleihen.
Der ersten Schrift folgte zu
Anfang 1806 eine zweite, ähnlich, doch umfassender angelegte: die Bio
graphie des Hugo Grotius.
Beide lassen schon deutlich die eigenthüm
lichen Vorzüge der Ludenschen Geschichtschreibung
erkennen:
Klare und
gewandte Darstellung, kunstvolle und übersichtliche Gruppirung des Stoffes, warme Hingabe an den Gegenstand. Sie machten es Eichstädt leicht, für
die Erfüllung des von dem jungen Schriftsteller ausgesprochenen Wunsches,
in Jena Stellung zu finden, zu wirken.
Unterstützt von den warmen
Empfehlungen Johannes von Müllers und wahrscheinlich auch Hufelands
gelang es leicht, Karl August und den Geh. Rath von Voigt, den der zeitigen Leiter der Universitätsangelegenheiten, zu gewinnen.
Goethe er
klärte, daß die Recension von Fichtes „Wesen des Gelehrten", die Luden der Literaturzeitung geliefert hatte, „von einem sehr vorzüglichen und ge
bildeten Geiste zeuge", und nahm, wie Eichstädt schreibt, „den wärmsten Antheil an Ludens Herberufung."
So wurde der 26jährige junge Mann
im Mai 1806 zum Professor extraordinarius an unserer Hochschule er
nannt, die er bis an sein Lebensende zieren sollte. Die Berufung traf Luden in Göttingen.
Dorthin hatte er sich von
Berlin auS begeben, um mit Hülfe der reichen Universitätsbibliothek seine historischen Arbeiten fortzusetzen, vielleicht auch in der Hoffnung, an der Georgia Augusta dauernd Boden zu gewinnen. zunächst ein Ende gemacht.
Diesem Gedanken war nun
Mit Hufeland, der von Pyrmont über Weimar
und Jena nach Berlin zurückkehren wollte, reiste Luden im Juli 1806 nach Thüringen.
Hufeland war es, dem er das Glück verdankte, gleich
am ersten Tage seines jenenser Aufenthaltes in Knebels Hause dem in der
besten Laune
auS Karlsbad
zurückkehrenden Goethe vorgestellt
zu
werden; auch seine Einführung in den Kreis der Professoren, aus dem ja Hufeland selbst erst vor wenigen Jahren geschieden war, wurde ihm
durch diesen
wesentlich erleichtert.
Preußische Jahrbücher. Bd, XLVl. Heft 1.
Vor allen Andern schloß sich Luden
28
Heinrich- Luden.
382
dem edlen alten Griesbach an, dem er sich schon vorher durch Zusendung
seiner Schriften empfohlen hatte, und der ihm bis an sein Lebensende eine durch Rath und That bethätigte warme Neigung bewahrte.
Bis in den
Anfang September dauerte der Aufenthalt: Luden wurde vor dem aka demischen Senate vereidigt, orientirte sich über den Bestand der Universi tätsbibliothek, förderte diese und jene Studie.
er noch eine Wohnung. heiratet;
im Laufe des
Vor der Abreise miethete
Spätestens seit dem Frühling 1804 war er ver Sommers waren die Ausstattungsgegenstände
nach und nach in Jena eingetroffen.
Luden hatte sie in der gemietheten
Wohnung (es war in dem jetzt dem Tischler Dreisprtng gehörigen Hause hinter der Kirche) wohl verwahrt; seine aus Ersparnissen mühsam erwor bene, schon recht ansehnliche Bibliothek (ihren Werth hat Luden selbst später auf mindestens 2000 Thaler angegeben) hatte er dort ebenfalls
aufgestellt.
So glaubte er alles wohl vorbereitet für die Uebersiedelung.
In den ersten Septembertagen wanderte er zu Fuß über den Harz nach Celle, Frau und Kind, ein Töchterchen von l*/2 Jahren, herüberzuholen. Nach einem Besuche in Bremen und
bei den Eltern in Loxstedt
finden wir den jungen Profeffor im Oktober 1806 auf der Fahrt von Celle nach Jena in gemiethetem Fuhrwerk, das neben der Familie den
geringen Rest der Haushaltung herüberführte. Der Krieg zwischen Preußen und Frankreich drohte; aber wer hätte geglaubt, daß er in Thüringen würde auSgefochten werden?
Noch als Luden am 12. Oktober zwischen
Halle und Naumburg durch preußische Versprengte beunruhigende Nach
richten über eine Schlacht bei Saatfeld erhielt, tröstete ihn der Pfarrer
des nächsten Dorfes: Menschen achten?
„Wie können Sie auf das Wort eines verlaufenen
Ja, es kann zum Kriege kommen,
weit, weit von hier.
aber
gewiß nur
Die Preußen und die Sachsen sind auSmarschirt,
daS ist gewiß, aber sie sind längst über Erfurt und Gotha hinaus; sie
müssen bald in Frankfurt sein; und die Franzosen, die noch im südlichen Deutschland sind, werden Eile nöthig haben, wenn sie Paris decken wollen.
Da, am Rhein, jenseit des Rheines, da mag es zum Kriege kommen;
hier nicht.
Ja, die Preußen und die Sachsen!" — Noch am selben Tage
aber mußte Luden umkehren, im Bade Lauchstädt eine Zuflucht suchen. Dort hielt ihn der Donner der Kanonen von Auerstädt am 14. in ängst
licher Aufregung.
Als dann die Schlacht entschieden, die Niederlage der
Preußen offenkundig war, hinderte das Heranziehen der auf Berlin marschtrenden französischen Armee daS Fortkommen.
Nur mit Mühe gelang
eS, Naumburg zu erreichen, nur dem Zufall dankte man dort ein Unter kommen bet freundlichen Leuten und dürftige Verpflegung. Mit Eichstädt,
der als Deputirter der Universität Jena an Napoleon zurückkehrend Raum-
Heinrich Luden.
383
bürg berührte, fuhr dann Luden auf dessen Aufforderung allein mit nach Jena, nach dem ©einigen zu sehen.
Es war Nacht, als man ankam.
Stand der Dinge erkennen zu lassen.
Wenige Minuten genügten, den Der Hauswirth, ein alter Magister
Student, nach der ausgestandenen Noth der letzten Wochen selbst in Klei
dung, Haltung und Geberde kaum wiederzuerkennen, empfing Luden schon an der Treppe mit den Worten: „Herr Professor Luden, Herr Professor Luden, in welches Unglück kommen Sie herein! Von Allem, was Sie in
mein Haus gebracht haben, werden Sie nicht das Geringste wieder finden." Es war so.
Luden selbst schildert uns die Scene:
„Auf dem Vorsaale
lagen Koffer, Kisten, Tonnen, aufgebrochen, zerbrochen und zusammenge
fallen, durcheinander. waren abgesprengt.
Die Thüren der Zimmer standen auf; die Schlösser Die Zimmer selbst waren ganz mit Stroh angefüllt,
das größten Theils aufgelockert dalag, wie wenn es durchwühlt worden wäre.
Es war nicht möglich, mit einem Lichte hinein zu dringen; ich
warf daher nur einen Blick auf meine Repositorien und bemerkte, daß auch meine schönen Bücher sämmtlich dahin waren.
Schweigend wandte
ich mich um und schweigend ging ich die Treppe hinab; erst in der Haus
thür sagte ich gute Nacht und trennte mich auch von Eichstädt.
Ich ging
nach dem Griesbachschen Hause (das nahe gelegene, frühere landwirth-
schaftliche Institut), ohne recht zu wissen warum.
Zuversichtlich suchte ich
keinen tröstenden Zuspruch, wahrscheinlich ein Nachtlager."
Die Lage war schwierig genug.
Luden war ohne Gehalt berufen.
Privatvermögen besaß weder er noch seine Frau.
So galt es das tägliche
Brod in des Wortes eigentlicher Bedeutung zu erwerben.
Luden hat sich
damals zu Arbeiten bequemt, die er unter andern Umständen wohl nicht
in die Hand genommen hätte.
Dahin gehört die Uebersetzung des Ja-
copo Ortis, einer italienischen Nachahmung des Werther, die er auf den Rath Johannes von Müllers nach einem von diesem geliehenen Exem
plare fertigte. — Dazu kam nun die bedrängte Stellung der Universität. Ueberaus schwer lastete der Krieg mit seinen Folgen auf dem weimari-
schen Lande.
Napoleon haßte den Herzog; er konnte demselben die Er
füllung seiner militärischen Pflichten als preußischer General nicht ver
zeihen.
Hätte nicht die Verwandtschaft mit Rußland zu politischer Rück
sichtnahme veranlaßt, Karl August würde eben so wenig im Besitz seines Landes geblieben sein wie der Herzog von Braunschweig.
DaS Miß
trauen und den Widerwillen aber gegen den durchaus selbständigen, kraft
vollen Mann konnte Napoleon um so weniger überwinden, als kein
deutscher Fürst dem fremden Emporkömmling gegenüber sich weniger ver gab als Karl August.
Die Gesinnungen gegen den Herzog fanden ihren 28*
Heinrich Silben.
384
wahren Ausdruck, als der leidenschaftliche Mann einmal gegen einen Wei
marischen Staatsdiener, den Kanzler von Müller, in die Worte ausbrach:
„Ihr Fürst ist der unruhigste in ganz Europa" (votre prince est le plus remuant de toute l’Europe).
Als Staps 1809 in Schönbrunn
die Ermordung des Kaisers geplant hatte, war Napoleons Meinung, daß diese That nur in Weimar oder Berlin angestiftet sein könne.
Und es
war nicht nur persönliche Abneigung und politische Erwägung, die den
Herrscher Europas so reizbar und empfindlich machten gegen den kleinen thüringischen Fürsten.
Mit dem feinen Gefühl, das Napoleon eigen war
für Alles, was ihm gefährlich werden konnte, merkte er sehr bald heraus,
daß in der reinen und klaren Luft des weimarischen Landes, in diesem
Brennpunkte deutschen Lebens, ein Geist geweckt, genährt und gepflegt werde, der, wenn er das ganze deutsche Volk durchdrang, das glänzende Gebäude der Fremdherrschaft unfehlbar in Trümmer stürzen mußte. Und die Universität war in erster Linie Pflanzstätte dieses Geistes.
der, daß Napoleon sie mit blinder Gehässigkeit verfolgte.
Kein Wun
1806 war über
den Umfang der Fleischrequisitionen geklagt und angeführt worden, daß
selbst den Professoren der Unterhalt fehlen werde. wortet:
Napoleon hatte geant
„Aber ich sehe durchaus nicht ein, warum diese Herren Fleisch
essen müssen".
Als am 2. April 1813 einige als Kosaken verkleidete
Studenten vom Hausberg her die in Jena einquartirten Franzosen alar-
mirt und zu schnellem Rückzug veranlaßt hatten*), befahl Napoleon, die
Nur mit Mühe wurde er bewogen, den Befehl
Stadt niederzubrennen.
zurückzunehmen,
bestand zunächst durchaus darauf, daß wenigstens die
Häuser der Professoren verbrannt werden müßten.
Er beschuldigte diese,
freche und revolutionäre Reden zu führen, den revolutionären Samen
überall unter der Jugend auszustreuen, und schloß seine Ergießungen in höchster Erregung mit den Worten:
„Aber daß man diesen Herren von
Jena eine recht scharfe Lektion giebt, damit eS ihnen klar werde, daß ich nur mit den Augen zu winken brauche, um die ganze Universität für
immer zu vernichten.
WaS wollen denn alle diese Ideologen, alle diese
albernen Schwätzer (radoteurs)?
Sie wollen die Revolution in Deutsch
land, sie wollen sich frei machen von all den Banden, durch die sie an
Frankreich gekettet sind". Von diesen Drohungen und Beschuldigungen konnte Luden ein gut
Theil auf sich beziehen, denn er war nicht der letzte gewesen, der in dem
von Napoleon verabscheuten Sinne gewirkt hatte.
Die materielle Noth
deS Anfangs war, wenn auch nicht rasch überwunden, so doch leicht ge*) So Fr. v. Müller: nach einer mündlichen Ueberlieferung soll im Mllhlthale von Studenten auf die abziehenden Franzosen geschossen worden fein.
Heinrich Luden-
tragen worden.
385
Neben Griesbach hatte die Ludensche Familie vor Allem
an dem Landsmann und Kollegen Seidensticker und dessen ebenfalls aus Niedersachsen stammender Frau eine Stütze gefunden.
Mit Darlehen
aller Art hatten sie ausgeholfen; von den Göttinger und besonders den
Bremer Freunden waren Sendungen von Geld und Kleidungsstücken ge
kommen.
Dazu half der Herzog vom zweiten Jahre ab durch ein festes
Gehalt.
Als eine unschätzbare Stütze erwies sich in diesen trüben Tagen
der feste Muth der nie verzagenden jungen Frau, die sich bald durch ihr
gediegenes Wesen in den Kreisen der Kollegen die allgemeinste Achtung und Liebe erwarb und dauernd behauptete. hat
und später
Luden damals
Immer und immer wieder
dankbar anerkannt,
ist
eS
von
sol
chen, die der Familie nahe standen, rühmend hervorgehoben worden, wie wacker die Frau dem Manne zur Seite gestanden mit tröstlichem Zuspruch,
klugem Rath und nimmer ermüdender That. aller Hindernisse
So wurde eS diesem trotz
nicht schwer, seinen Sinn fest
Amtes zu richten.
auf die Pflichten des
Und wie hätte nun er, der Lehrer der Geschichte, zu
einer Zeit, da, um mit seinen eigenen Worten zu reden, „alle Menschen
klüger und besser waren, als sie früher gewesen, als sie sich später ge
zeigt haben, weil es nur ein Gedanke war, der sie ergriffen hatte, daS Vaterland", nicht von diesem Gedanken durchdrungen sein sollen, der nach seiner Ueberzeugung
„alle Ideen
stimmung von Bedeutring sind".
einschließt, die für des Menschen Be
Mochten andere Vertreter der Wissen
schaften an deutschen Hochschulen sich zurückziehcn in ihre Gelehrsamkeit, mochte selbst ein Heeren, Ludens geschätzter Lehrer, erklären:
„Ich habe
mich lange in Alles resignirt, so lange man mich nur in meiner Studir-
stube in Ruhe läßt"; Luden war entschlossen, an seinem Platze zu leben und
zu sterben für die Wiederarrfrichtung des am Boden liegenden Vaterlandes. Bei jener ersten Begegnung mit Goethe im Knebelschen Hause hatte
der Dichterfürst den neuen Professor am nächsten Morgen zu sich kommen heißen, um, wie er sich ausdrückte, „mit dem neuen Freunde doch auch ein ernstes Wort zu sprechen", wozu es in der lustigen Abendgesellschaft
nicht gekommen war.
Nach einer langen Unterhaltung über den Faust,
die uns Luden in den „Rückblicken in mein Leben" ausführlich mittheilt,
hatte Goethe begonnnen, dem historicus etwas auf den Zahn zu fühlen.
„Sie wollen also — Geschichte lehren? wollen ein — Historiker werden?
oder vielmehr sind ein — Historiker", mit diesen skeptischen Worten hatte er das Gespräch auf das eigenste Gebiet des jungen Hochschullehrers hin
übergetragen und im weiteren Verlaufe desselben lebhaftem Mißtrauen Ausdruck gegeben gegen den Werth historischer Wahrheiten, hatte das ganze Resultat historischer Forschung beschränkt auf, um mit seinen Wor-
Heinrich Luden.
386
ten zu reden, „die eine große Wahrheit, die längst entdeckt ist, und deren
Bestätigung man nicht weit zu suchen braucht, die Wahrheit nämlich, daß eS zu allen Zeiten und in allen Ländern miserabel gewesen".
ES waren
Aeußerungen nicht gerade sehr ermuthigend für den angehenden Professor, aber Luden behauptete mit Glück
seinen Standpunkt.
dem
überlegenen Manne gegenüber
Er lehnte es bescheiden ab, schon ein Historiker zu
sein, blieb aber dabei, daß es sein heißester Wunsch sei, diesen hohen Namen zu verdienen.
Er gab zu, daß historische Wahrheiten nur eine
relative Geltung beanspruchen könnten, leugnete aber, daß das ihre Be deutung für die Entwickelung der Menschheit verringere.
Mit Geschick
führte er Lessing für sich ins Treffen, der mit Entschiedenheit das Streben nach Erkennen als das Wesen menschlicher Geistesthätigkeit in Anspruch
nimmt, nicht daS Erkennen selbst. Er anerkannte als richtig die Worte FaustS: Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
DaS ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten stch bespiegeln,
aber er setzte ihnen die Erklärung entgegen: „Wenn uns die Herren aber
Geist geben, und wäre eS auch der eigene, und wenn sie unS in diesem Geiste daS Spiegelbild der Zeiten zeigen, so können wir, denke ich, einiger
maßen zufrieden sein."
Der Skepsis des Dichters begegnete er mit
jener warmen, echt menschlichen Begeisterung für seine Aufgabe, die der Urquell alles menschlichen Schaffens ist, und die ihren Eindruck nie ver
fehlen wird, so lange eS noch unbefangene, vorurtheilSfreie Gemüther giebt. — Auch Goethe konnte sich ihrer Wirkung nicht entziehen.
Der
junge Mann, der „jedes Falles glaubte, daß derjenige, der Tüchtiges in
der Geschichte leiste. Niemandem seine Stelle zu beneiden brauche", gefiel
ihm.
Er entließ ihn mit dem Zeugniß, daß er in seinem wissenschaft
lichen Streben auf gutem, auf dem rechten Wege sei, er gab ihm Rath schläge für die historische Darstellung, er sprach es als seine gewisse Hoff
nung aus, daß LudenS Anstellung in Jena Gutes für die Universität und für ihn selbst zur Folge haben werde. £>te Hoffnung ging reichlich in Erfüllung.
Mit hingebender Treue
widmete sich Luden seiner Aufgabe, erweckte Eifer, weil er selbst von hei ligem Eifer durchglüht war.
Doch konnte er nur allmählich in sein eigent
liches Fahrwasser einlenken.
Die ordentliche Professur der Geschichte war
besetzt von Heinrich; auS Rücksicht auf diesen rieth Eichstädt, von geschicht
lichen Vorlesungen zunächst höchstens nur „allgemeine Welthistorte" anzu
kündigen, sonst andere Sachen, besonders Aesthetik, auch Logik und Meta
physik, und dann
„in der Ankündigung etwas von Schelltngschen und
Fichteschen Ansichten merken zu lassen".
In der That hat Luden wieder-
Heinrich Luden.
387
holt Aesthetik gelesen, 1808 auch „Grundzüge ästhetischer Vorlesungen zum akademischen Gebrauche" erscheinen lassen.
Auch Staatswissenschaft, Na
tur- und Völkerrecht hat er in den Kreis seiner Vorlesungen hineingezogen.
Mehr und mehr aber wandte er sich denn doch bald der Geschichte und der ihr verwandten Politik zu; auch seine literarische Thätigkeit bewegte sich bald ausschließlich in diesen Bahnen.
Getragen aber wurde seine ganze Wirksamkeit von dem einen Ge
danken, der nach seinem Ausdruck „Alle ergriffen hatte", von dem Ge
danken
des Vaterlandes.
Nichts schien ihm
geeigneter, das gesunkene
Nationalgefühl neu zu beleben, als das Studium der vaterländischen Ge schichte.
Hatte er doch schon gegen Goethe die Wahrheit des Satzes ver
fochten, daß die Geschichte eines Volkes sein Leben, nur aus ihr sein
Geist zu erkennen sei.
Im Sommer 1808 las er zum ersten Male Ge
schichte der Deutschen; französische Posten standen an der Thür des Audi toriums, die gefährliche Vorlesung zu überwachen.
er vier Vorträge voraus,
Als Einleitung schickte
die er zwei Jahre später
unter dem
„Einige Worte über das Studium der vaterländischen Geschichte" Manuskript für Zuhörer und Freunde
drucken ließ.
Titel
als
Nur eine weitere
Ausführung des Schillerschen Wortes An'S Vaterland, an's theure, schließ' Dich an, Das halte fest mit Deinem ganzen Herzen; Hier sind die starken Wurzeln Deiner Kraft
sind eigentlich diese Vorträge.
Luden sieht die Wissenschaft in Gefahr,
den Zusammenhang zu verlieren mit dem nationalen Leben; er erklärt
es für ihre dringendste Aufgabe, dem zu begegnen. Theoretisch habe man das Wesen des Staats untersucht und
Grunde gehen lassen.
darüber den
In schalen Kosmopolitismus
eigenen Staat zu
habe
man seinen
Ruhm gesetzt, wahre Bürgerlichkeit als ein Zeichen von Engherzigkeit und
Unkultur betrachtet.
Unsere Geschichte überblickend, zeigt er, wie wir
„aus den ersten der Christenheit die letzten geworden, wie wir angefangen haben, unsere Nachbaren nachzuahmen, uns in französischer Zunge und
Manier geübt, in der schlechtesten aller Sprachen, der fadesten aller Weisen,
uns fast unserer deutschen Abkunft geschämt haben und aufgehört, Deutsche zu sein", wie wir uns selbst zerfleischt haben, Deutsche gegen Deutsche
kämpfend unsere Selbständigkeit verloren haben. mahnt er dann:
In schlichten Worten
„Glaube nicht, Patriotismus dadurch zu beweisen, daß
du dich laut desselben rühmst, beim Mahle, beim Becher, dessen Wirkung morgen vorüber ist; glaube ihn nicht in einzelnen Ausbrüchen gegen Ein-zelne zu zeigen, durch Handlungen oder Worte, zu welchen auch die Roh
heit fähig wäre; auch nicht darin, daß du daS Wort: deutsch beständig
Heinrich Luden.
388
auf der Zunge führst; zeige deinen Patriotismus durch ein frommes Fest halten am Leben der Väter im stillen Gemüthe, durch Pflege und War
tung
alles dessen, was
in
deutschem Sinne erzeugt und geboren ist.
Vergeude nicht deine jugendliche-Kraft leichtsinnig in Spielerei und Thor heit; die Zeit ist ernst und erfordert einen ernsten Sinn; verliere dich
nicht in leere Allgemeinheiten und spitzfindige Grübeleien: auf sehr ein
fachen Grundsätzen ruht die Ehre wie die Freude des Lebens; bewahre
den freien, treuen Sinn; zeige die höchste Strenge in der Wissenschaft
wie im Leben, im Handeln wie im Urtheil,
aber lenke Alles auf das
Eine, was Noth thut, auf Volk und Vaterland.
Das und nur das ist
deine Ehre vor Welt und Nachwelt".
ES war eine für Jena neue Art die Geschichte zu behandeln.
Denn
auch nach Eichstädts Urtheil, der mit LudenS Lehrweise und Auffassung
nicht so ganz übereinstimmte, war Professor Heinrich allerdings ein sehr
gelehrter Mann, der eine unendliche Reihe von Zahlen und Namen in
einem treuen Gedächtniß bewahrte, aber doch ein überaus trockener Er zähler, im Grunde genommen nur ein Uebermtttler von Memorirstoff.
Seine neunbändige deutsche ReichSgeschichte war ein vielgebrauchtes Hand buch, wie denn an zahlreichen Universitäten deutsche Geschichte angekündigt
worden ist „duce Heinrichio“.
Aber sie behandelte die Sache nach der
im 18. Jahrhundert herrschend gewordenen Weise: habita potissimum ratione constitutionis rei publicae, jurum et worum.
Da galt eS
vor allen Dingen das ebenso verwickelte wie unfruchtbare Studium der
Reichsinstitutionen, jener unerschöpflichen Fundgrube der deutschen Histo riker und Staatsrechtslehrer des vorigen Jahrhunderts für die Uebung ihres gelehrten Scharfsinns und die Bethätigung
besserer Zwecke würdigen Fleißes.
ihres unermüdlichen,
ES war, wie Johannes Voigt sagt:
„Das Reich hat bei uns das Vaterland vergessen lassen, und die Geschichte deS Reiches hat die des Vaterlandes lange genug vertrieben."
LudenS
Auftreten hatte um so mehr Erfolg, als gerade in Jena durch Fichtes und Schillers Wirksamkeit Interessen über daS bloße Brodstudium hinaus
rege geworden waren, Interessen, die bei der gerade in diesen Jahren in Jena herrschenden philosophischen Dürre in erster Linie der Beschäftigung
mit der Geschichte zu Gute kommen mußten.
Dazu forderte die Zeit ge
bieterisch, sich nicht von der Gegenwart ab-, sondern ihr zuzuwenden, for
derte das vor Allem von der Geschichte.
Wie horchte man auf, als in
diesen Zetten der Erniedrigung einmal wieder mit Wärme vom deutschen Volke und vom deutschen Vaterlande geredet wurde!
Erstarb doch auch
in diesen Tagen der tapfere deutsche Sinn unter den jenenser Studenten-
nicht, wie das in Duellen fließende Blut französischer Officiere bezeugte.
389
Heinrich Luden.
Hielt es doch Napoleon für angezeigt, 1809 das bei den
thüringischen
Musensöhnen so beliebte Jodeln verbieten zu lassen: in modum Tiroli-
nensium ululare, wie der Prorektor Eichstädt in der betreffenden Ver ordnung es bezeichnete.
Bei solcher Stimmung
Vorlesungen bald eines lebhaften Zuspruchs.
erfreuten sich Südens
Gerade aus dem Beginn
seiner Thätigkeit haben wir ein schönes Zeugniß über seine Wirksamkeit von Johannes Voigt.
Der spätere preußische Historiker schreibt:
„Der
Winter von 1806/7, wo ich das erste Mal Sie hörte, bleibt in meinem
Leben meine wichtigste Periode;
ich gebe mein, obwohl schlecht nachge
schriebenes Heft nicht um Vieles weg", und ein ander Mal: „Sie haben mich einmal vom Versinken ins Gemeine und Alltägliche gerettet".
Daß
Luden den späteren preußischen General, damals Major von Grolmann, der den Krieg von 1806/7 mit Auszeichnung mitgemacht,
1809 unter
österreichischen Fahnen, dann in Spanien gegen Napoleon gefochten hatte,
in französische Gefangenschaft gerathen und aus derselben entflohen unter
falschem Namen nach Jena gekommen war, während eines Aufenthaltes von wenigen Monaten so sehr fesselte, daß der junge Professor der intime Vertraute des drei Jahre älteren Welt- und kriegserfahrenen, in Scharn horsts unmittelbarer Umgebung gebildeten Soldaten wurde, dem dieser
allein sich entdeckte, beweist deutlich genug, wie tief der Eindruck war, den Lehre und Persönlichkeit des Mannes machten. — Und die Anerkennung blieb nicht auf den Kreis der Studirenden beschränkt; auch bei den Kollegen und der Regierung fand Luden die ver
diente Werthschätzung.
1808 wurde er zum ordentlichen Honorarprofessor,
1810 an Heinrichs Stelle zum ordentlichen Professor der Geschichte er nannt, im Mai 1811 in amplissimum philosophorum ordinem ausge nommen; den Hofrathstitel erhielt er von Weimar, Gotha verlieh ihm
den Charakter eines geheimen Hofraths; sein Gehalt wurde 1816 nicht unwesentlich erhöht. — Daß es auch an Gegnern nicht fehlte, soll, ob
gleich selbstverständlich, doch nicht ganz unerwähnt bleiben; der Briefwechsel
mit Heeren läßt erkennen, daß Anfeindungen verschiedener Art Aergerniß bereiteten.
Doch bezogen sich dieselben ganz überwiegend auf literarische
Fragen; und hier können sie nicht Wunder nehmen, da Luden ein Gebiet betreten hatte, auf dem wohl nicht so leicht Jemand seine Stimme erheben
wird ohne Widerspruch zu erregen — nämlich das politische. Was Luden im ersten Jahrzehnt seiner Anstellung in Jena schrift stellerisch geleistet hat, liegt überwiegend aus diesem Gebiete.
Ein Aufsatz
über Venedigs Entstehung, Blüthe und Verfall stammt noch aus der vor-
jenaischen Periode: er ist der zufällig gerettete Rest einer bei jener Plün derung verloren gegangenen, im Manuscript fertigen vollständigen Ge-
390
Heinrich Luden.
schichte des Freistaats; auch eine Biographie Sir William TempleS, ein
Seitenstück zum Thomasius und Hugo GrotiuS, entstand nach Plan und Anlage in jener Zeit.
1814 kam dann die aus Vorlesungen hervorge
gangene „Allgemeine Geschichte der Völker und Staaten des Alterthums" hinzu, ein einbändiges Handbuch.
schreibung dieser Jahre.
Darauf beschränkte sich die Geschicht
Nur zu einem geringen Theile hat daö seinen
Grund in' der schon angedeuteten anfänglichen Richtung der akademischen Thätigkeit LudenS auf die der Geschichte verwandten Disciplinen, weit
mehr in dem lebhaften Interesse deS Mannes an den Fragen der Gegen wart, seiner begeisterten Theilnahme an den Geschicken des Vaterlandes.
Diesen Quellen entflossen seine 1808 erschienenen „Ansichten des Rhein bundes", die schon im nächsten Jahre eine neue Auflage erlebten.
ES
gab der Lobredner genug in Deutschland, welche die neue Rheinbunds herrlichkeit priesen, Deutschland schöner als je emporblühen sahen unter „Napoleon,
aller
großen Fürsten größtem, unter Deutschlands guten,
kenntnißreichen Beherrschern".
Er zeigte, wie
Dem trat Luden entgegen.
der Rheinbund entstanden, daß er für Frankreichs,
nicht Deutschlands
Interesse errichtet, daß er jenem dienen solle und diene nicht diesem, daß in ihm für den Bestand deutscher Art, deutscher Sprache, deutschen Geistes
lebens keinerlei Garantien gegeben seien, daß das alles
nur gedeihen
könne in einem freien Staate, was der Rheinbund nicht sei: der Freiheit eines Volkes hängt seine ganze Kultur ab.
„Denn von
Ich gestehe es,
ich habe wegen der Zukunft mit herzzerschneidendem Schmerze die Un abhängigkeit unseres gemeinschaftlichen Vaterlandes untergehen sehen; der
größte Theil meines Geistes und Herzens liegt begraben unter Deutsch lands Trümmern."
Es waren Gedanken, die in jenen Tagen auszusprechen, man deS
Muthes bedurfte;
Luden besaß ihn gepaart mit kluger Geschicklichkeit.
Die „Ansichten" erschienen anonym als „Briefe zweier Staatsmänner".
Die Anonymität wurde so gut gewahrt, daß selbst Heeren den Autor nicht errieth.
Die Fiktion zweier Korrespondenten ergab die Möglichkeit, den
einen Ansichten vertreten zu lassen, an denen auch die Gegenpartei Wohl gefallen haben konnte.
Die Größe und Güte Napoleons wird von beiden
Seiten rückhaltslos zugestanden; über seine Welt- und völkerbeglückenden
Absichten könne kein Zweifel aufkommen; aber von der einen Seite wird doch Gewicht darauf gelegt, daß auch Napoleon ein Mensch bleibe und
nicht ewig leben könne, daß ihn die Götter einmal unter sich aufnehmen
würden, und daß man es mit den bleibenden Interessen der betreffenden Völker und Staaten, mit ihrer innern Natur zu thun haben werde, die
ihre Leiter auch gegen ihren eigenen Wunsch in bestimmte Bahnen zwingen
Heinrich Luden.
391
werde. — Es ist derselbe Gedanke, der dann den Kernpunkt der nächsten
größer« politischen Schrift Luvens bildet, seines „Handbuchs der Staats weisheit oder der Politik" vom Jahre 1811, der überhaupt die Grundlage
seiner politischen Anschauungen geworden ist.
Er saßt den Staat als
eine im Wesen des Menschen begründete Institution, als eine gar nicht
hinweg zu denkende Form menschlichen Zusammenlebens.
Er sieht in ihm
je nach den natürlichen Verhältnissen und dem Gang der Entwickelung einen eigenthümlichen Geist sich bilden, einen Geist, der in der Geschichte
sich offenbart und den man nur durch das Studium dieser erkennen kann. Ueberhaupt ist sein ganzes Denken über den Staat ein durchaus histori sches, auf historischem Boden erwachsen, aus historischen Gesichtspunkten
urtheilend.
Die daraus, besonders für jene Zeit, resultirenden Mängel
haften auch dem Handbuch an, vor Allem denjenigen Partien, welche die verschiedenen Gebiete inneren staatlichen Lebens behandeln.
Aber die aus
jenen Grundgedanken gezogenen Konsequenzen waren doch fruchtbare Ideen,
durchaus gedacht im Geiste unserer Zeit.
Das dauernde Heil des Staates
ist nach Luden nur zu suchen in den Institutionen, nicht in den Personen.
Diese können auch bei der größten Begabung und dem edelsten Wollen die Völker nur wahrhaft fördern, wenn sie in deren Geiste handeln, Ge
stalt geben den Gedanken, die in den Völkern lebendig geworden sind. Glücklich daher der Staat, dessen Entwickelung gesichert ist durch Insti tutionen, die seinem Geiste entsprechen, die stets ein Ausdruck desselben
bleiben und doch seinen Gang an bestimmte Bahnen fesseln.
Nur in der
Form ständischer Vertretungen ist es heutzutage möglich, solche Institu
tionen zu schaffen.
Ludens Losungswort ist daher das Losungswort des
19. Jahrhunderts: Konstitutionen, verfassungsmäßige Gestaltung des innern
Staatslebens.
An der Schwelle unseres Jahrhunderts tritt er mit Ent
schiedenheit für den Gedanken ein, der dem innern politischen Leben der Staaten unserer Zeit die Signatur geben sollte. —
Es ist ein Gedanke, der den rothen Faden bildet in der bedeutendsten
publicistischen Leistung Ludens, der Herausgabe der von-1814—1818 er
schienenen politischen Zeitschrift „Nemesis". mus der Anlaß.
Auch hier war sein Patriotis
Als die verbündeten Armeen nach Thüringen kamen,
zahlreiche Studenten, zum großen Theil angeregt von seinen Vorlesungen, zu den Fahnen eilten, wollte auch Luden durchaus Soldat werden.
Mit
Mühe redete ihm Major von Grolman den Gedanken aus, rieth, daheim
zu bleiben und „dem Vaterlande mit Wort und Schrift zu dienen, der deutschen Jugend die Grundsätze, die er selbst von ihm gehört habe, so
tief in ihre Herzen einzugraben, daß sie nimmer verlöschen könnten". war die Anregung, die zum Erscheinen der Nemesis führte.
Es
Sie gab da-
392
Heinrich Luden.
durch auch Anlaß zu einer zweiten nähern Berührung mit Goethe.
Der
Herausgeber, Bertuch, wünschte, daß Luden sich deS Einverständnisses der Weimarischen Behörden vergewissere.
von Voigt stimmte freudig
Herr
zu, aber Goethe war nicht ohne Bedenken.
Er sah voraus, daß die Zeit
schrift bald in Opposition zu deutschen Fürsten gerathen werde, sah dem
Weimarischen Lande, der Universität Gefahren erwachsen; er bedauerte, nicht „Ich würde Sie aufgefordert haben, bei
eher gefragt worden zu sein.
Ihren gelehrten geschichtlichen Arbeiten zu bleiben oder vielmehr, da Sie sich schon in politica eingelassen und sogar ein Handbuch der StaatS-
weisheit geschrieben
haben, zu Ihren geschichtlichen Arbeiten zurückzu
kehren, die Welt ihren Gang gehen zu lassen und sich nicht in die Zwiste der Könige zu mischen, in welchen doch niemals auf Ihre und meine
Stimme gehört werden wird."
Luden widersprach; und Goethe ließ sich
auf weitere Auseinandersetzungen und Begründungen ein, die zuletzt so scharf und individuell wurden, daß Luden später für besser gehalten hat, sie der Nachwelt nicht aufzubewahren.
Aber er schied von dem großen
Manne „auf das Innigste überzeugt, daß diejenigen im ärgsten Irrthum
sind, welche Goethe beschuldigen, er habe keine Vaterlandsliebe gehabt,
keine deutsche Gesinnung, keinen Glauben an unser Volk, kein Gefühl für
Deutschlands Ehre oder Schande, Glück oder Unglück.
Sein Schweigen
bei den großen Ereignissen und den wirren Verhandlungen dieser Zeit war lediglich eine schmerzliche Resignation, zu welcher er sich in seiner
Stellung und bei seiner genauen Kenntniß von den Menschen und von
den Dingen wohl entschließen mußte". Die Nemesis erschien.
Sie hat es im Laufe der vier Jahre auf
12 starke Bände gebracht, ein treues Abbild
und Bestrebungen jener bewegten Zeit.
der Hoffnungen,
Wünsche
Sie fand lebhaften Beifall bei
den Gesinnungsgenossen, und durch nicht minder lebhaften Widerspruch
haben die Gegner zu erkennen gegeben, welche Bedeutung sie ihr beilegten. Von den verschiedensten Seiten liefen Beiträge ein, Luden selbst rührte fleißig die Feder,
Anfangs nur gegen Napoleon und die Franzosen ge
richtet mit bem ceterum censeo:
„Trauet ihnen nicht, trauet ihnen nicht,
trauet ihnen nicht", fing die Nemesis bald an, die Ereignisse in ganz
Deutschland, in der Schweiz, in Frankreich und England lobend und tadelnd, mahnend und warnend, fragend und belehrend zu begleiten, Un
recht scharf zu rügen, für gekränktes Recht wacker etnzutreten.
Auch wirth-
schaftliche Fragen der verschiedensten Art zog sie in den Kreis ihrer Be
sprechungen.
Der Schwerpunkt ihres Interesses aber blieb stets bei der
Entwickelung verfassungsmäßigen Lebens, in Deutschland speciell jenes
Artikels 13 der BundeSakte, der nach langen Berathungen endlich die
Heinrich Luden.
vieldeutige Fassung erhalten hatte: landständische Verfassung stattfinden."
393
„In allen Bundesstaaten wird eine Es konnte nicht ausbleiben, daß
die Nemesis, indem sie das Recht des deutschen Volkes auf verfassungs
mäßige Gestaltung seines Staatslebens wenn auch bescheiden
und
mit
Mäßigung, so doch entschieden und ohne Schwanken vertrat, in Konflikt
kommen mußte mit jenen einflußreichen und an den entscheidenden Stellen
immer mehr Boden gewinnenden Kreisen, die unbedingt entschlossen waren,
der Ausführung jenes Artikels der Bundesakte entgegenzuwirken. Sachsen-Weimar war der erste deutsche Staat, der dem Artikel 13
Folge gab; vollständig aus freiem Antriebe, ohne dynastische Nebenzwecke
that sein Fürst Schritte zur Einführung einer Verfassung. 1816 wurde sie publicirt.
Am 5. Mai
Sie brachte dem Lande auch die Preßfreiheit.
Wohl wesentlich mit auf Grund dieser nahm dann die politische Tages schriftstellerei im Großherzogthum einen raschen Aufschwung.
Der Nemesis
folgten 1816 Brans Minerva und Okens Isis; gleichzeitig begann Luden selbst, der von 1815—1816 auch die bei Brockhaus in Leipzig erschei
nenden „Deutschen Blätter" redigirt hatte, das „Allgemeine Staatsver
fassungs-Archiv",
das allerdings schon 1817
wieder
einging;
in
eben
diesem Jahre eröffnete Kühn sein „Oppositionsblatt", Martin brachte den
„Neuen rheinischen Mercur" mit nach Jena herüber; 1818 folgte Wieland,
der Sohn des Dichters, mit dem „Volksfreund", dessen Name aber zu einer Zeit, wo man in Wien auf dem Leopoldstädter Theater die Aufführung eines Stückes verbot, weil in der Ankündigung von „altdeutscher Tracht" die Rede gewesen war,
Anstoß erregte, so daß das Blatt nach wenig
Wochen, da auch der von Wieland vorgeschlagene Titel „Fürstenfreund" nicht genehmigt war, als „Patriot" weiter erscheinen mußte.
Diese lebhafte
publicistische Thätigkeit ließ alle freisinnigen Deutschen hoffend nach den Heimstätten Schillers und Goethes, Herders und Wielands schauen, aber
sie veranlaßte auch jene Männer, die nichts gelernt und nichts vergessen
hatten, die noch
damals das höchste Ziel ihrer Bestrebungen
in
der
Wiederherstellung der durch die französische Revolution und ihre Folgen
vernichteten alten Zustände sahen, ihre Blicke, wie Luden sagt, „angstvoll auf die Höhen des schönen Thüringens zu richten".
Die Denunciationen
begannen, der „SchmalzianismuS", wie Luden es nannte, das „Schmalz-
gesellenthum", wie die Studenten sagten; Herr von Kamptz drang auf „ernsthafte Maßregeln" und „exemplarische Bestrafungen". der Studenten in Jena war diesen Männern ein Greuel.
Das Treiben
Unter Karl
Augusts eigensten Auspicien, darf man wohl sagen, war hier die Burschen
schaft groß geworden, hatte sich zu einer einzigen, alle Studenten um
fassenden Verbindung gestaltet.
Welcher Geist in ihr herrschte, darüber
Heinrich Luden.
394
ist bei allen unbefangenen Zeitgenossen nur eine Stimme.
Wohl nie
wieder hat eS eine Studentenschaft gegeben, in der, als Ganzes betrachtet,
ein so ernster, reiner, frommer, ein wissenschaftlich so strebsamer Sinn geherrscht hat wie in der jenenser Burschenschaft der Jahre 1815—1819.
Geh. Rath von Hendrich, der weimarische Gesandte am Bundestage, stellte ihr dort am 1. April 1819 das schöne Zeugniß aus, „die Studirenden seien in den Jahren 1816 und 1817 leichter zu regieren gewesen als je, eS habe unter ihnen ein wirklich musterhafter Fleiß geherrscht, von
Spaltungen sei gar nicht, von Zweikämpfen nur selten die Rede gewesen;
Wahrheit, Mäßigkeit, Religiösität seien als Tugenden anerkannt worden, auf welche der Studirende unter Studirenden habe stolz sein dürfen." — ES war das lebhaft erwachte Vaterlandsgefühl, aus dem dieser Geist ent
sprungen war.
Daß aber Luden, dem der Gedanke des Vaterlandes ja
alle Ideen einschloß, die für des Menschen Bestimmung von Bedeutung sind, in erster Linie dazu betgetragen hatte, diesen Geist zu wecken, liegt
nicht nur nahe zu vermuthen, sondern wird durch zahlreiche Zeugnisse er wiesen.
„Alle diese Gedanken", sagt der Wartburgsfestredner, der spätere
Pastor Riemann in Meklenburg, noch aus 50jähriger Erinnerung, „haben wir einst mit Begeisterung in LudenS und Fries herrlichen Vorträgen
eingesogen und tief in unserer Brust treu gepflegt und aufgehoben."
Daß
daS deutsche Wesen sich manchmal geltend machte als Deutschthümelei, daß der frisch-frei-froh-fromme Bursch sich hin und wieder arg teutonisch recken
haft geberdete, daran konnte doch nur Anstoß nehmen, wer die Jugend und besonders die akademische nicht verstand oder nicht verstehen wollte,
wer die kaum überwundene Zeit des RenommistenthumS schon vergessm
hatte oder sie geflissentlich ignorirte.
LudenS Meinung war:
„Die Jugend
muß brausen, wie der junge Wein; dann wird sie, wie er, mild und stark
zugleich werden". „Aber", fügt er hinzu, „wer elfer Rheinwein und dreizehner deutsche Jugend gut vertragen soll, der muß selbst nicht kraftlos sein." —
Und deren, die die dreizehner deutsche Jugend nicht vertragen konnten, fanden sich nun doch gar viele in den leitenden Kreisen. burgsfest gab den Anlaß
zum Einschreiten.
DaS Wart
Oesterreich und Preußen
sandten Kommissäre nach Weimar, Rußland und Frankreich mischten sich
ein („vier Großmächte gegen Weimar und die Studenten", sagt GervinuS). Zum 16. December 1817 sollte der österreichische Gesandte in Dresden, Graf Zichh, nach Jena kommen, daS Treiben der Studenten in Augen schein zu nehmen.
ES war gerade Blüchers Geburtstag, den die Bur
schen, deren Losung für äußere und innere deutsche Freiheit „Blücher und Weimar" war, festlich zu begehen pflegten, natürlich auf studentische Weise
d. h. nicht ohne den üblichen Lärm.
DaS hätte auf den Oesterreicher
395
Heinrich Luden.
einen üblen Eindruck machen können.
still.
Luden warnte also, und Alles blieb
Der Graf aber freute sich der Gesellschaft der Professoren auf dem
Schlosse und berichtete an seinen Hof:
und die trefflichen Gesinnungen,
„Die Ordnung, die Disciplin
welche unter den Studenten zu Jena
stattfinden, haben mich überzeugt, daß die Sache nicht so ist, wie man sie
dargestellt hat." — Von Berlin her schrieb Herr von Kamptz in Anlaß der Wartburgsfeier seine „Rechtliche Erörterung über die öffentliche Ver
eiferte gegen
brennung von Druckschriften",
„den Haufen verwilderter
Professoren und verführter Studenten, die durch Feuer und Mistgabeln
Censur geübt hätten".
In der Nemesis diente ihm die scharfe Feder des
geistreichen Friedrich Förster.
Zwei Mal, beginnt dieser, erschien der
Teufel auf der Wartburg, als er den Zauberer KlingSor aus Ungerland
herbeiführte und als er Luther an der Uebersetzung der Bibel hindern wollte; jetzt, zum dritten Mal, ist er post festum gekommen, aber desto
ärger tobt er nun im Land umher und geifert Gift und Galle:
„Darum
nehmt das Tintefaß zur Hand als gute Waffe." — Und zum Schluß gedenkt er der Worte Luthers:
thut dreierlei Noth:
„So euch euer Werk gelingen soll, so
Gebet, Arbeit und Anfechtung!
Wir haben gebetet,
wir haben gearbeitet, nun ist auch die Anfechtung da.
Also ist kein
Zweifel, daß wir eS auch vollenden!" —
Weniger glücklich verlief für die Nemesis ein anderer Streit, in den
sie gleichzeitig verwickelt wurde.
In Weimar lebte seit einigen Jahren
der kaiserlich russische StaatSrath Herr von Kotzebue, der bekannte Lust spieldichter.
ES bedurfte nicht der That Sands, um ihn als den von der
deutschen Jugend bestgehaßten aller ihrer Gegner zu dokumentiren.
Ein
Mann, der sich nicht entblödete, seinen Landsleuten wieder und wieder vorzuhalten, daß „sie doch eigentlich in der Beresina die deutsche Wieder taufe empfangen hätten, die Blüthe ihrer Deutschheit aus russischem Eise
hervorgebrochen sei", der das ganze Verdienst seiner Volksgenossen darin fand, daß sie „nachdem die Russen ihren Kerker geöffnet, muthig herauS-
getreten seien", der nicht müde wurde, zu spotten „über das Turnen auf den Gräbern der Nibelungen", konnte in Jena keine anderen Gefühle
erregen als die des Hasses und der Verachtung.
Luden war,
so lange
er seine Schriften kannte, schlecht auf ihn zu sprechen, wegen seiner in der früheren Zeit unfläthigen, in der späteren süßlich-unmoralischen Art.
Als Kotzebue in Weimar anfing, ein „Literarisches Wochenblatt" herauS-
zugeben, konnten Federkriege zwischen Beiden nicht ausbleiben.
Hielt sich
doch Kotzebue in russischem Auftrage in Deutschland auf, wirkte hier in
russischem Sinn und sandte von Zeit zu Zeit Berichte über deutsche Ver hältnisse an die russische Regierung.
So kam es, daß Luden, als er auf
Heinrich Luden.
396
eine vollständig unverfängliche Weise in den Besitz von Bruchstücken auS einem solchen Berichte kam, in denen er selbst persönlich beleidigt war, die deutschen Universitäten verunglimpft, diese Bruchstücke mit erläuternden
Herr von Kotzebue bekam sofort
Bemerkungen in die Nemesis aufnahm.
Wind von der Sache und veranlaßte die Weimarische Regierung, die be treffenden Bogen der Nemesis zu konfiSciren.
Doch aber waren schon
eine Anzahl Abzüge versandt und in andern Blättern zum Abdruck ge
bracht.
Auf Kotzebues Antrag
Untersuchung gegen Luden ein.
eine
leitete die Weimarische Regierung
Vergebens vindicirte die Universität den
bevorzugten Gerichtsstand des Geladenen; auf allerhöchste Anordnung mußte sich derselbe vor dem Kriminalgericht in Weimar vernehmen lassen. Die Akten wurden dann dem Leipziger Schöppenstuhl eingesandt.
Der
Spruch lautete auf 3 Monate Gefängniß oder 60 Thaler Geldstrafe, weil „Dr. Luden durch die eingeräumte öffentliche Bekanntmachung eines von einem Geschäftsträger eines
auswärtigen Souveräns an seinen hohen
Committenten erstatteten geheimen Rapports nicht nur eine an sich wider
rechtliche Beeinträchtigung fremden Eigenthums, sondern auch und vor
nehmlich eine öffentliche Verletzung der schuldigen Ehrerbietung gegen das Oberhaupt eines fremden Staats sich habe zu Schulden kommen lassen".
Luden erlangte aber bald Genugthuung. einer Injurienklage gegen
Er hatte Kotzebues Klage mit
diesen wegen böswilliger Verleumdung
eben jenem Bericht und im literarischen Wochenblatt beantwortet. Sache ging
in
Diese
an das Spruchkollegium der Würzburger Juristenfakultät.
Das Urtheil lautete, Herr von Kotzebue habe die Erklärung abzugeben, daß er durch seine Aeußerungen im literarischen Wochenblatt den Professor
Luden nicht habe beleidigen wollen, habe die Bemerkungen seines nach Rußland gesandten Berichts über Luden als unrichtig und falsch zurück
zunehmen und die Kosten zu zahlen; das Urtheil sei auf gehörige Art
dem kaiserlich russischen Staatsministerium bekannt zu machen.--------Durch Monate hatten diese Processe sich htngezogen.
Sie hatten
Luden in einen unnatürlichen Gegensatz gebracht zur Regierung, die vor Allem auf Rußland Rücksicht nehmen mußte und nicht, wie Goethe schon
1813 gewarnt hatte,
„über 100000 Bahonette verfügen" konnte.
hatten ihn in seinen Arbeiten nicht wenig gehindert. kurzer Hand, die Nemesis aufzugeben.
führen.
Sie
So entschloß er sich
„Ich habe keine Zeit, Processe zu
Und wie kann ich das mit dem besten Willen vermeiden, wenn
ich der Gesinnung treu bleiben will, welche allein in der Nemesis lebt und leben soll und leben darf." — Das nächste Jahr, mit Recht „das
tolle" genannt, brachte die Karlsbader Beschlüsse, die Maßregelung der
Universitäten und die Demagogenrtecherei.
Doch war eS nicht Furcht
397
Heinrich Luden.
vor dem, was er kommen sah, das Ludens Entschluß beeinflußte. süddeutschen Staaten hatten Verfassungen erhalten.
Die
Luden glaubte zu er
kennen, daß von jetzt an die Entscheidung der politischen Zeitfragen auf dem Gebiet deS parlamentarischen Lebens liegen, daß der TageSschrift-
stellerei nur noch eine sehr untergeordnete Bedeutung zukommen werde. Er hatte keine Neigung, „leeres Stroh zu dreschen". — So wurde er wieder rein akademischer Lehrer.
Schöne Früchte haben dann noch die letzten Jahre seiner Wirksam keit gezeitigt.
Seine „allgemeine Geschichte der Völker und Staaten des
Alterthums" erschien 1819 in zweiter, 1824 in dritter Auflage; eine zwei
bändige „Geschichte der Staaten und Völker deS Mittelalters" 1821 und 1822, in zweiter Auflage 1824.
folgte
1825 begann er dann die
Publikation seiner großen „Geschichte deS deutschen Volkes", die er in 12
starken Bänden bis 1837 herabführte: ein großartig angelegtes Werk, daS
ein dauerndes Denkmal bleibt für den vaterländischen Sinn des Mannes. In allen diesen Arbeiten offenbart er eine hervorragende Gabe der Dar
stellung.
Den im ersten Gespräche von Goethe gegebenen Rath, „eine
bequeme Entwickelung der geschraubten Kürze vorzuziehen", hat er treu
befolgt, vielleicht etwas zu treu mittelst einer allzu behaglichen Breite. Die Kunst der Gruppirung übt er mit großem Geschick.
Alle seine histori
schen Schriften sind durchaus für einen weiten Leserkreis berechnet und geeignet und haben ihn in der That gefunden.
die Forschung.
Ihre schwache Seite ist
Nicht als ob seine Bücher nicht nach den Quellen gear
beitet wären; wenigstens die deutsche Geschichte ist vas fast durchaus;
aber man vermißt das, was man als Kritik der Quellen zu bezeichnen pflegt.
In diesem Mangel liegt auch eine Hauptursache, daß die anfangs
so' freudig begrüßten und so viel gelesenen Bücher verhältntßmäßig rasch veraltet
sind.
Aber wer wollte daraus einen scharfen Tadel herleiten
gegenüber Versuchen, die noch bis heute nicht gemacht worden sind, ohne die größten Bedenken zu erregen.
Mit Recht setzte Luden seiner deutschen
Geschichte das Motto vor: „Wahrlich, im schwierigen Werk Allen zu ge nügen ist schwer". In der That hat er Vielen genügt, wenn auch nicht Allen.
DaS Unmögliche aber, Allen zu genügen, ist ihm nahezu gelungen in
seinen Vorlesungen.
Mehr und mehr hatte er dieselben auf daS rein
historische Gebiet beschränkt.
1816 fügte er ihnen zuerst daS später so
überaus beliebte Kolleg über die neueste Zeit, die französische Revolution
und Napoleons Herrschaft, ein.
Allmählich bildete sich ein gewisser, wenn
auch nicht strengbeobachteter Turnus: im Sommer wurde Mittelalter und neueste Zeit, im Winter Alterthum und neuere Zeit gelesen.
zu Zeit wurde deutsche Geschichte eingeschoben. Preußische Jahrtücher. Bd. XLVI. Heft 4.
Von Zeit
Luden entwickelte einen 29
Heimich Luden.
398
gxoßen Fleiß im Kollegienlesen; die Zahl der wöchentlichen Stunden stieg
in einem Semester bis über 20.
Zuerst 1845, nachdem er gegen Ende
des vorhergehenden Jahres von Krankheit schwer getroffen worden war, beschränkte er sich darauf, ein Kolleg anzukündigen.
Soweit einzelne An
deutungen jetzt noch erkennen lassen, steckte in seinen Vorlesungen nicht weniger wissenschaftliche Arbeit als in seinen Schriften.
er stets bemüht, mit der allgemeinen Bildung
bleiben.
Daneben war
in Zusammenhang zu
Er hielt das für ein unerläßliches Erforderniß eines Universi-
tätslehrers, nach seinem Wahlspruch: Qui non est in omnibus aliquid, in singulis est nihil.
Die Geschichte galt ihm als das oberste univer
sale Bildungsmittel; als solche faßte er sie in seinen Vorlesungen; Kennt niß der vaterländischen Geschichte schien ihm schlechterdings ganz unerläß
lich für jeden Menschen, der auf Bildung Anspruch mache.
Und in der
That hat er eS dahin gebracht, daß, wie einer seiner Hörer eS ausdrückt, „die Geschichte wieder Bildungsmittel für den Durchschnitt der Studiren-
den geworden ist, eS nach und nach zum guten Ton gehört hat, bei ihm
mindestens ein Kolleg zu hören".
Besuchtere Vorlesungen hat eS wohl
nie in Jena gegeben als die seinigen; die Größe des Auditoriums (im jetzigen Helmkeschen Hause in der Leutragasse, daS Luden durch Jahr
zehnte bis zu seinem Tode bewohnte) legt davon Zeugniß ab; eS war häufig, besonders bei der Geschichte der französischen Revolution, bis auf
den letzten Winkel gefüllt; ja vor den offenen Fenstern und in der Thür standen noch Hörer.
In erster Linie verdankte er diesen durchschlagenden
Erfolg seiner glänzenden Rednergabe, seinem in der That ungewöhnlichen
Erzählertalent.
DaS Wort stand ihm in überraschender Weise zu Gebote,
so daß er selbst Prorektoratsreden improvisirt hat. Klarheit der Gedanken,
Wärme der Gesinnung, Treue der Ueberzeugung, Scharfsinn und Gelehr
samkeit kamen hinzu; eine laute und wohlklingende Stimme, Würde und Gemessenheit deS Auftretens, peinliche Sorgfalt in der äußeren Erschei
nung (er hat nie anders als im Frack und weißer Binde das Katheder
betreten, erst in den letzten Jahren hat ihn der Einfluß der Gemahlin die weiße Binde mit einem schwarzen Halstuche vertauschen lassen) vollendeten die Wirkung.
So wird denn unter seinen Hörern auch nur eine Stimme
laut: die der Bewunderung und der Dankbarkeit.
kam, der fühlte Kopf und Herz befriedigt.
Wer aus seinem Kolleg
Erst in seinen letzten Lebens
jahren hat eine mehr und mehr wachsende Neigung zu allerbehaglichster Breite der Erzählung und zu Scherzen, die in engeren Grenzen gehalten
in früherer Zeit als gesunder Humor zur Würze seiner Vorlesungen ge dient hatten, seiner Wirkung einigen Eintrag gethan.
Daß ein solcher Lehrer sich bei der akademischen Jugend nicht nur
Heinrich Luden.
der größten Achtung, sondern auch liegt in der Natur der Sache.
399
einer seltene» Beliebtheit
erfreute,
Den Studenten leicht persönlich zugäng
lich, hat er auf zahlreiche Jünglinge den heilsamsten Einfluß geäußert,
Hunderte, die in seinem Hause verkehrten, geistig und sittlich gefördert. Er verstand es freundlich zu sein,
ohne vertraulich zu werden, in seinen
Freundlichkeiten eine gemessene Haltung zu bewahren, ohne herablassend
zu erscheinen. tur, fühlte
er
Eine in Auftreten und Führung durchaus vornehme Na
sich
abgestoßen von allem Nachlässigen und Niedrigen;
seines Werthes sich bewußt, begegnete er der eitlen Anmaßung mit über legener Ironie. Seinen Berufsgenossen war er ein lieber Kollege.
Die ersten be
drängten Jahre hatten die Familie gezwungen, geselligem Leben zu ent
sagen.
Daraus hatte sich eine Gewöhnung entwickelt, die auch später den
Besuch von Gesellschaften als eine Last erscheinen ließ.
Die hohe Achtung,
die Luden genoß, hat dann dazu geführt, daß er wohl und nicht selten die Kollegen bei sich sah, aber selbst nicht ausging.
Die reichen, stets
präsenten Kenntnisse, die glänzende Unterhaltungs- und ErzählungSgabe, daS feine, treffende Urtheil machten seinen Umgang sehr gesucht.
Eine
tägliche Theestunde war für Familie und Hausfreunde eine reiche Quelle deS Genusses und der Belehrung.
So lebte Luden durch Jahrzehnte ein stilles und doch überaus reiches akademisches Leben.
Nur noch einmal wurde dasselbe unterbrochen von
einer politischen Beschäftigung: von 1823—1832 saß Luden im weimarischen Landtage.
Hier führte ihn seine Vertreterstellung noch einmal zu
Goethe in ein Verhältniß, das den großen Mann in einem interessanten Konflikt mit den Anforderungen modernen Verfassungslebens zeigt.
Der
„Großherzoglichen Jmmediatcommission für Wissenschaft und Kunst", an
deren Spitze Goethe stand, oder die vielmehr von Goethe allein gebildet wurde, hatte der Landtag 11787 Thaler verwilligt, über die er, wie über alle andereren Bewilligungen, Rechenschaft verlangte.
Lange vergebens.
Und als nun endlich die Rechnung kam, bestand sie aus drei Zeilen:
Einnahme: 11787 Thaler; Ausgabe: so und so viel; Kasse: so und so viel (eine Kleinigkeit).
Die Sache verursachte einige Aufregung im Land
tage und am Hofe; LudenS Betheiligung an der Debatte, entschieden ver söhnlich gehalten, aber wahrscheinlich entstellt an Goethe überbracht, hat
eine gewisse Verstimmung des Alten zur Folge gehabt.
Zuletzt hat aber
doch mit ziemlich allgemeiner Zustimmung der Parlamentarismus vor dem Dichterheroen das Feld geräumt. —
Die letzten Lebensjahre wurden Luden durch Krankheit getrübt. Eine
mehr und mehr zunehmende Gehirnerweichung hinderte seine akademische 29*
Heinrich Luden.
400
Thätigkeit, machte ihr seit 1845 ganz ein Ende.
Zwei Jahre später, am
Pfingstsonntage (23 Mai) 1847 erlag er seinem Leiden; genau ein halbes
Jahr später folgte ihm seine treue Lebensgefährtin ins Jenseit.
Die
Kinder bewahrten das Andenken der Verblichenen in liebevoller Treue;
in den weitesten Kreisen konnten sie der wärmsten Theilnahme gewiß sein.
So lebte und starb Heinrich Luden. — Ein Jahrhundert ist ver flossen seit seiner Geburt,
vollen Klang in weiten
aber noch bewahrt sein Name
deutschen Landen.
einen guten,
In den 40 Jahren seiner
Wirksamkeit an dieser Hochschule sind Hunderte und Tausende deutscher Jünglinge und Männer hinweggezogen aus dem schönen Saalthale mit
dem Hellen Wiederklang von LudenS Worten in der Brust.
In der Zeit
schwerster Bedrängniß unseres Vaterlandes hat er muthvoll die Fahne
hochgehalten, um die allein die Hoffenden sich schaaren konnten: den Glauben
an sein Volk.
Er hat sie hochgehalten in der Ueberzeugung, dass er an
seiner Stelle, als Vertreter seiner Wissenschaft, als Inhaber seines Amts, in erster Linie berufen sei, diesen heiligen Glauben zu festigen.
Die
Geschichte schien ihm die vornehmste Lehrerin der Völker, sie, die nach
seiner Meinung „selbst von den Göttern nicht umgeworfen werden kann". „Dafür möchte ich wirken", sagt er, „daß aus ihr ein neuer Quell er gossen würde in das Leben der Menschen, der sie reinigte von den Flecken
deS Zeitalters, sie belebte, ihnen den Sinn erweckte für Vaterland, Gemein wohl, Ehre, Tugend und alles Gute, Schöne und Große".
So faßte er
seine Aufgabe im Dienste des Allgemeinen, wollte pflegen eine allgemeine menschliche Bildung, bauen helfen an einer wirklichen „Universitas lite-
rarum“.
Und wenn er nun
in diesem Streben in edler Einseitigkeit
seiner Wissenschaft eine so überaus hohe Bedeutung beilegte, wer wollte
ihn darum tadeln.
In dieser Auffassung
Wirkens, die Quelle seiner Erfolge.
liegt die Triebfeder seines
Wahrlich, wir können unserer Hoch
schule nichts Schöneres wünschen, als daß zu allen Zeiten alle ihre Lehrer
gleich begeistert von ihrer Wissenschaft, gleich durchdrungen von ihrer Auf gabe sein möchten.
Lust und Liebe waren die Fittige zu seinen Thaten.
— Möchte aber Jemand Anstoß nehmen an der verhältnißmäßig kurzen
Dauer von Ludens literarischen Erfolgen, an dem Mangel einer an ihn
anknüpfenden historischen Schule, vergessend unsere rasch dahin lebende Zeit, vergessend, daß gerade auf dem Gebiete der vaterländischen Geschichte
das jüngst verflossene halbe Jahrhundert beschäftigt gewesen
ist, ganz
neue Grundlagen zu errichten, dem möchten wir entgegenhalten das Wort
des zweiten unserer großen Dichter: Denn wer den Besten seiner Zeit genug gethan,
Der hat gelebt für alle Zeiten.
Landgesetze und Landwirthschaft in England. Bon
Ludwig Freiherrn von Ompteda.
I. Die Veranlassung zur Reformbewegung gegen das geltende
Recht über Grundetgenthum. Im Jahre 1879 machte England*) eine Mißernte, wie sie seit
dem Jahre 1816 nicht erlebt worden war. Der Weizen, die hauptsächliche Brodfrucht, ergab weniger als die
Hälfte einer Mittelernte. Letztere wird angenommen zu 12 Millionen Quarter (1 Quarter — 5,3 ehemalige preußische Scheffel). Zugleich war
diese Frucht von schlechtester Qualität. Gerste, Hafer und Roggen, Heu und Futterstoffe erwiesen sich in gleichem Grade mißrathen. In den letzten 3 bis 4 Jahren (1875—78) hatte der Wetzen ebenfalls nur drei Viertel einer Mittelernte ertragen. — Der jährliche Verbrauch von Wetzen in England (und Irland) be trägt 24 Millionen Quarter. Bei voller Mittelernte bedarf daher das Land immer noch einen Import von 12 Millionen Quarter. Die Weizen ernte von 1879 betrug jedoch, nach Abzug der Einsaat, weniger als 6 Millionen Quarter. Also bedurfte England (und Irland) bis zum Mo nate August 1880 eine Einfuhr von 18 Millionen Quarter Wet zen, die bei jetzigen durchschnittlichen Marktpreisen 45 Millionen Pfd. Sterl. oder 900 Millionen Mark kosten.
*) Unter England wird im nachfolgenden Aufsatze stet- Großbritannien ohne Irland verstanden. Die politisch-agrarischen Zustände Irlands find völlig abweichender Herkunft und Art von denen in England, Schottland und Wales, so daß die irische Bewegung gegen die „Landgesetze" eine gesonderte Darstellung verlangt.
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
402
Die Durchschnittspreise der letzten Jahre waren gewesen für den
Quarter
1877.
1876.
1878.
1880.
1879.
tut Jan.
im Febr.
Weizen .
.
. Mark 44,2
52,3
51,9
39,1
45
43,50
Gerste
.
.
•
35,6
39,9
44,8
37,5
37
36,75
Hafer
.
.
.
25,4
24,10
24,0
20,1
20
21,10
n
Der englische Landwlrth mußte also seine Mißernte von 1879 zu Preisen verkaufen: niedriger als alle diejenigen, welche seit 1876 auf dem heimischen Markte notirt waren. —
Die verderblichen Wirkungen dieser zusammentreffenden Um stände zeigten sich zunächst bei den Pächtern.
Zu älteren Rückständen in
den Pachtgeldern aus den letzten schlechten Jahren kamen neue, größere. Die BetriebSkapitale und Ersparnisse waren aufgezehrt.
Erlasse von 25
bis 50 Prozenten des Pachtgeldes mußten bewilligt werden.
Trotzdem
gaben viele Pächter, um den letzten Rest ihres Vermögens zu retten, die
Pachtungen auf.
Zahlreiche Bankerotte brachen aus und die Pachthöfe,
durch Zwangsverkäufe von Vieh Schiff und Geschirr entwerthet, fielen
den Eigenthümern zur Last.
Wie tief eingreifend und erschütternd diese Bewegung auf die Land wirthschaft, auf daS Grundeigenthum und auf die gesammte nationale Wirthschaft in den weitesten Kreisen wirkte, daS können wir schon ermessen wenn wir erfahren, daß nach zuverlässigen Schätzungen in England (und
Irland) die Zahl der
ländlichen Grundeigenthümer (über 1
Morgen)
beträgt: 100,000 Menschen, „
„
„
Pächter
.
.
.
.•
„
600,000
und daS von Letzteren im Pachtgeschäfte angelegte Kapital etwa 6000 bis 7000 Millionen Mark.
Diese Katastrophe der
landwirthschaftlichen Produzenten
war also sehr danach angethan, Jedermann in demjenigen Grade von
Empfindlichkeit zu berühren, den daS eigene Interesse wachruft.
Besitzer
und Nichtbesitzer, Pächter und Nichtpächter, Handwerker und Krämer, Ar
beiter und Hhpothekengläubtger: zogen.
alle fühlten sich in Mitleidenschaft ge
Alle riefen nach Abhülfe gegen daS nationale Unglück.
Man
fühlte einen der Grundpfeiler der Nation wanken und bald arbeitete das allgemeine Nachdenken in jeder Richtung um die Ursachen der Erkrankung und die geeignetsten Heilmittel zu finden.
So wandte die gesammte öffentliche Meinung der „ Land frage" — Wir würden wohl sagen: der „ländlichen Frage" — ein erhöheteS Jnter-
effe zu.
403
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
Diese Frage ist indessen keineswegs neu.
Sie ist bereits seit Jahr
zehnten vor der öffentlichen Meinung aufgeworfen und verhandelt; sie hat
auch die Gesetzgebung schon vielfach beschäftigt.
Selbst in den jüngstver
gangenen guten Zeiten, in denen die englischen Landwirthe reich wurden, ist die Aenderung der „Landgesetze" stets eine Forderung der Liberalen
gewesen, wenn auch nicht der offiziell sogenannten „liberalen Partei". Indessen waren die Ziele dieser Reformer wesentlich politische und soziale:
insbesondere erstrebten sie die Schwächung des UebergewtchteS der regie renden grundbesitzenden Aristokratie durch Auflockerung und Zerbröckelung
deS befestigten Grundbesitzes. Jetzt aber ist diese politische Frage auch eine Magenfrage ge
worden und die Volkswirthe führen den Mühlen der Politiker eine, bisher
von ihnen vermißte, ganz gewaltige Triebkraft zu. — Um der Nation die beste und sicherste Antwort aus ihre Frage nach
den Ursachen deS landwirthschaftltchen Nothstandes zu geben wurde bereit-
im Sommer
1879 auf Antrag
des Parlamentes eine
Landwirthschaftliche Kommission" eingesetzt.
weit auSgebreiteter Thätigkeit.
„Königliche
Diese ist jetzt in voller,
Sie forscht und fragt nicht allein in der
Hetmath sondern sie sieht und hört auch in den wichtigsten fremden Staaten. Zwei ihrer Mitglieder, hervorragende gebildete praktische Landwirthe, beide Mitglieder des Parlaments, wurden in die Vereinigten Staaten
geschickt.
Denn dort lag — das fühlte man — einer der Schwer
punkte dieser ganzen Untersuchung.
Zwar wirkte der reiche Import an Cerealien von jenseit deS atlanti schen OzeanS für die Bedürfnisse der englischen Konsumenten beruhigend und erfreulich.
Zugleich aber waren die außerordentlich niedrigen
Preise zu denen sich die Erzeugnisse der amerikanischen Landwirthschaft auf die englischen Märkte „legten" für die englischen Produzenten in
hohem Grade drückend und beunruhigend. Nach den Mittheilungen deS offiziellen „Landwtrthschaftlichen BüreauS"
zu Washington waren aus den Bereinigten Staaten ausgeführt an: Cerealien. Weizen
Mais Erbsen Hafer
Gerste Roggen
Quarter....................... .
„ „ „ „ „ ,,
.... .... .... .... .... ....
Im Ganzen Körnerfrüchte
.
.
1879.
1878.
1,192,000
720,000
500,000
710,000
300,000
239,000
77,000
115,000
52,000
26,000
417,000
38,000
2,538,000
1,848,000
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
404 Außerdem
1879. .
Mehl in Fässern
.
1878.
1877.
. 626,600
602,200
—
Käse In Kisten .... 515,360
455,450
399,000
Butter in Fässern.
101,600
87,245
.
. 180,863
Noch bedeutender erscheint, nach den englischen Einfuhrlisten, die Zu nahme deS Importes an lebendem Vieh, aus Canada und den an
grenzenden Theilen der Vereinigten Staaten:
1879.
1878.
’ 1877.
Hornvieh, Stück .
.
.
.
24,800
18,650
6,950
Schafe,
„
.
.
.
.
78,800
41,250
9,500
Schweine,
„
.
.
.
.
4,750
2,080
430
Die beiden englischen Kommissäre, Mr. Read und Mr. Pell trafen bereits im September 1879 in Philadelphia ein und kehrten erst zum
WeihnachtSfeste wieder in die Heimath zurück. Sie hatten inzwischen „das Gras nicht unter ihren Füßen wachsen lassen".
Sie reisten täglich im Durchschnitte 115 englische Meilen (etwa
185 Kilometer) und legten im Ganzen auf dem amerikanischen Kontinente etwa 17,000 englische Meilen (etwa 25,500 Kilometer) zurück.
Sie fanden auf diesen fliegenden Reisezügen, in den Vereinigten Staaten und in Canada (Provinz Manitoba), eine gewissermaßen unend
liche Landfläche die sich ganz vorzüglich zur Erzeugung von Korn und Vieh Die bis jetzt erzielten Mengen dieser Produkte können durch Aus
eignet.
dehnung
der produzirenden Fläche beliebig tn's Ungemessene vermehrt
werden.
Die Erzeugungskosten stehen nicht höher als in England.
Der
Kaufpreis für den Acre (— 1*/, preußische Morgen) guten Weizenbodens: 22 bis 25 Mark,
entspricht etwa dem einjährigen Pachtgelde für die
gleiche Fläche in England.
Die gesammten Erzeugungskosten, stehende
und umlaufende, sind berechnet auf 1 Acre:
in Amerika............................. 37 Mark in England............................. 160 Mark.
Nordamerika ist in den Jahren 1876 bis 1879 mit einer Reihefolge von vier vollen Ernten gesegnet gewesen.
Die mit Weizen bestellte Fläche
hat sich von 1877 bis 1879 um volle 28 Prozent vergrößert.
Sie beträgt
jetzt 32 Mill. Acres, das Zehnfache aller Weizenfelder in England. Im Jahre
1863 ........................... 1877 ........................... 1878 ........................... Durchschnitt dieser 16 Jahre:
waren mit Weizen
bestellt Acres: 13 Millionen 26 „
32 20,5
„
Ertrag in QuarterS: 21,6 Millionen 45.5 52.5 31,2
„ „ „
Durchschnittspreis für den Quarter:
47,60 Mark 36,75 „ 26,39 44,88
„ „
405
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
Nordamerika leidet im Verhältnisse zu seiner Bevölkerung, an einer kolossalen Ueberproduktion.
ES muß daher
ausführen.
Der ent
scheidende Punkt für den Wettbewerb Nordamerikas mit England sind mithin die Transportkosten.
Dieser Frage widmeten also die engli
schen Kommissäre ein eingehendes Studium. Es stellte sich dabei heraus, daß man in Amerika die größten Opfer
bringt um das Korn und Vieh des fernsten Westens exportfähig für den englischen und unseren kontinentalen Markt zu machen.
Die durchgehenden
Differenztalfrachten sind derartig gestellt, daß z. B. alle landwirthschaftlichen Erzeugnisse auf dem Kleinmarkte zu Philadelphia ebenso theuer sind als in London.
Die Etsenbahnfrachten sind indessen immer noch so hoch,
daß daran verdient wird. Die Seefrachten stehen ziemlich niedrig, aber man glaubt nicht daß sie steigen werden, da ein außerordentlich starkes Angebot
an Fahrzeugen vorhanden ist und zwar ein solches, welches Dauer verspricht.
Aus MineapoliS, 1200 englische Meilen westwärts vom atlantischen Ozean, wird ein Barrel Mehl nach Liverpool oder Glasgow geschafft für
7 Mark, von St. LouiS sogar für 5 Mark.
Der Quarter Wetzen wird
1500 englische Meilen auf dem amerikanischen Kontinente und 3000 eng
lische Meilen über den Ozean geschafft für 15 bis 20 Mark. Ein Markt preis von 42 Mark auf dem europäischen Markte giebt genügenden Nutzen für den amerikanischen Landwirth, für die Eisenbahn und den Schiffer.
In diesem Falle erhält der englische Landwirth für seinen im Allge mein schwereren Weizen 44 bis 45 Mark.
Dieser Marktpreis genügt
ihm aber nur in den guten Jahren, in denen er 4 Quarter auf den Acre erntet und auch dann nur neben guten Strohpreisen.
Bon St. Louis und Chicago bis London wird Korn und Vieh nur einmal, bei der Einschiffung, umgeladen, und zwar vermittelst mächtiger
Maschinen direkt vom Waggon ins Schiff. Der Transport von lebendem*) Vieh ist eine Schöpfung der *) Im Februar 1880 löschte der australische Dampfer Strathleven in den East-Jndia Docks vor London 30 Tons australisches Fleisch von 500.Hämmeln und 70 Ochsen. Die Ladung wurde von vielen interesstrten Personen besichtigt, und in verschie denen Zubereitungen versucht. Der Zustand des gekälteten Fleisches Ivar in jeder Hinsicht vorzüglich und stand dem besten englischen Westendbraten völlig gleich. Viele Jahre lang hatte man in Australien Versuche angestellt um die richtige Methode des KonservirenS durch Kälte herauszufinden; ein Mr. Morton in Sydney soll dafür allein 70j000 Psd. Sterl. ausgegeben haben. Die australischen Kolonie» züchten einen Bestand von 61 Millionen Schafen und 61 Millionen Hornvieh. Das beste Fleisch wird dart zu 25 Pfennigen für das Pfund Schlachtgewicht ver kauft, die Transportkosten nach England sind nochmals 25 Pfennige. Man ist jetzt in London am Werke um den Detailverkauf so zu regeln, daß das Fleisch nicht in die Hände der Metzger gelangt sondern direkt an die Kon sumenten verkauft wird. Sobald diese Frage geordnet, wird da« allerbeste Fleisch für 75 Pfennige das Pfund verkäuflich sein.
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
406
vier letzten Jahre.
DaS Geschäft geht vom April bis zu Ende Sep
tembers; im Winter wird geschlachtetes Fleisch in EiS tranSportirt.
Ein
lebender Ochse kann für 160 Mark von den östlichen Abhängen der Felsen
gebirge bis nach Liverpool gebracht werden.
Dieses Geschäft rentkrt sich
bereits, wenn das beste amerikanische Fleisch aus dem englischen Markte
im Großhandel mit 50 Pfennigen für das Pfund bezahlt wird.
Dem
gemäß reduzirt sich der Preis der durschschnittlichen englischen Markt
waare, auf 60 bis 65 Pfennige.
Bis dahin hatte sie meistens den Preis
von 100 Pfennigen. „Unter diesen Umständen", sagt die Times am Schlüsse eines vor
läufigen Berichtes über die Reisen der beiden Herren, dem ich die vor stehenden Mittheilungen entnommen habe — „leuchtet es wohl ein, daß es unseren Kommissären sehr leicht sein wird, eine Fülle interessanten
statistischen Materials beizubringen".
„Aber eben so schwer, wirksame Mittel gegen die uns von
Amerika drohende Gefahr Konkurrenz vorzuschlagen.
einer
anhaltenden
erdrückenden
Im Allgemeinen sind unsere Kommtffäre
überwältigt von Bewunderung über den ThpuS des Unermeßlichen (vastness) der ihnen in dem räumlichen Kolosse der Bereinigten Staaten in jeder
Richtung
entgegentritt; über die ungeheure
wirthschaftlichen,
Großartigkeit der dortigen
namentlich der Handelsbewegung und über die Kraft
und Geschicklichkeit der Amerikaner im internationalen Wettbewerbe." — Noch vor drei bis vier Jahren herrschte unter den landwirthschaft-
lichen Unternehmern, — Käufern und Pächtern — in England der wil deste Wettbewerb in der Nachfrage nach Land.
Die ausschweifendsten Kaufpreise wurden gezahlt, nicht nur von
reichgewordenen Kapitalisten für Landgüter mit schönen Wohnsitzen „Residential estates“, sondern auch von den eigentlichen Gewerbtretbenden.
Die Pächter rechneten auf fernere gute Ernten und auf ein ferneres Steigen der Preise durch das Steigen der heimischen Industrie und Be
völkerung.
Die thätigen und intelligenten unter ihnen waren daher ge
neigt, ihre Betriebsausgaben bis auf das Aeusterste zu vermehren.
Der ländliche Arbeitslohn war in den letzten zwanzig Jahren
gestiegen um 60 Procente. Nun ist auf jedem Landgute — wie überhaupt in jedem menschlichen Verhältnisse
—
stets reiche
Gelegenheit zu Verbesserungen.
Wo der
Eigenthümer hierzu irgendwie geneigt und im Stande war, übernahm
der Pächter gern zu seinem erhöhten Pachtgelde noch 5 Prozent der Aus
gabe für Vergrößerungen der Gebäude, für Maschinen und Dratntrungen.
— Alles prospertrte — anscheinend.
Heute
sind
Tausende
von
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
Pächtern insolvent,
407
Hunderte von Eigenthümern in der be-
driingtesten Lage! Ein englischer großer Gutsbesitzer schreibt mir: „Die Lage der Land
wirthschaft lastet schwer und drückend auf unS Grundeigenthümern. „Meine großen Nachbaren" — es folgt eine Reihe bekannter PeerS — „sind in
der ärgsten Klemme.
Die Hälfte ihrer Güter ist pachtlos."
„Dem Herzoge von N. fielen am Schluffe des vorigen Jahres 7000
Acres auf einmal aus der Pacht zurück.
Ich selbst hatte bereits für zwei
Halbjahre je 10 Prozent an der Pacht erlassen; am letzten Weihnachten
habe ich 20 Prozent erlassen
und für den 1. Juli dieses JahreS eine
fernere Remission von 20 Prozent in Aussicht gestellt." „Ein Gut von 400 Acres hatte ich kürzlich vollständig neu aufgebaut; cs kostete mich 60,000 Mark.
Vor drei Jahren bekam ich 14,000 Mark
Pacht, im letzten 10,000 Mark.
deS Kontraktes.
Jetzt drängt mein Pächter auf Lösung
Um es selbst zu bewirthschaften, würde ich ein Betriebs
kapital von 80,000 Mark bedürfen."
„Ich ziehe eS daher vor, das Gut dem jetzigen Pächter — wenn er nur bleiben will — ohne jedes Pachtgeld für ein ganzes Jahr anzu bieten". —
„Welche Aenderungen", so fragt die Times in einem ihrer so vor züglich geschriebenen Leitartikel, vom Dezember 1879 — „sind seitdem ein
getreten ?" „Das Spiel ist noch ganz dasselbe, nur mit dem einzigen Unter
schiede: damals hatte der Landwirth gute Karten, jetzt hat er schlechte, und die anderen Mitspieler stehen nicht besser: es fehlen heute in unserem Spiele die Trümpfe und Bilder ganz und gar." „Gewonnen haben nur die Attorneh's, die Sachwalter
welche das
gesammte Geld- und Kreditgeschäft der Grundbesitzer und Landwirthe ver
mitteln, und die Auktionatoren." „Diesem Zustande wird auch die „Königliche Kommission" nicht ab
helfen, sie wird das Gesetz von Ebbe und Fluth nicht abschaffen; eS ist die alte Geschichte von den sieben fetten und den sieben mageren Kühen." „UebrigenS hat die große Steigerung der Landpreise ihre Ursache nicht allein in der falschen Spekulation der Landwirthe.
Sie entsprang
auch aus unserer nationalen Manie: Geld zu zwei Prozent in England selbst in Landkäufen anzulegen, während man mit demselben Gelde in jeder englischen Kolonie sicher ein Vermögen machen würde."
„Diese Manie wurzelt in uüserer angeerbten sentimentalen Neigung
für das Land und unserer nationalen Vorliebe für Landschaftsgärtnerei und Jagd."
408
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
„Gebt dem Pächter, der stets über Wildschaden klagt, die Jagd auf das kleine vierfüßige Wild waS wird er thun?
frei (diese Konzession ist vielfach gemacht),
Er wird alle Katzen totschießen um die Kaninchen
zu hegen."
„WaS ist die höchste Sehnsucht unseres ländlichen Arbeiters?"
„Zu
Wilddieben". — „Also kann auch keine Parlamentsakte die starren Grundsätze streng berechnender Nützlichkeit in der
englischen Landwirthschaft
durchsetzen." — Aber diese quietistischen Tröstungen und geistreich zugespitzten Be
trachtungen decken doch nicht den jetzigen Stand der öffentlichen Meinung über die „Landfrage". Sie umgehen vielmehr den Kern dieser Frage, nämlich die Ansicht,
die sich täglich mehr und mehr geltend macht: daß die jetzige gedrückte
Lage der Pächter und Besitzer wesentlich durch das bestehende Rechtssystem über das Grundeigenthum, über dessen Veräuße
rung, Vererbung, Verpfändung und Verpachtung
hervorge
rufen sei. Seit den letzten Dezennien hatte diese Landfrage im Halbschlummer gelegen; schon oft war sie aufgestört worden, namentlich in Irland; sie
gehört bereits als politische Forderung zur „Plattform" der liberalen Re former. Jetzt aber werden die „LandlawS" auch von der volkswirthschaftlichen Seite, als „Brodfrage" geprüft. „Wir müssen", so lauten jetzt die Erwägungen, „wir müssen schon
als politische Großmacht unabhängiger von den auswärtigen Producenten
unserer nothwendigsten Nahrungsmittel werden.
Die Preise können wir,
Amerika gegenüber, nicht willkührlich erhöhen.
Wir müssen daher auf
derselben Fläche mehr produziren.
Dafür aber muß intensiver ge-
wirthschaftet werden, eS muß mehr Kapital auf den Acre Land verwendet
werden.
Wäre unsere Bevölkerung stationär, so
würde
eS allerdings
verkehrt fein wenn wir versuchen wollten durch Dratnirungen und andere
Meliorationen 5 Quarter Weizen auf dem Acre zu Quarter.
ernten statt 2'/,
Aber die Bevölkerung steigt, die Nachfrage steigt, also wird
mit dem Roherträge auch der Reinertrag steigen.
Zu dieser intensive
ren Wirthschaft jedoch bedarf der Pächter einer freieren Stellung,
muß
er
sich in seiner Produktion stets den jeweiligen Verhältnissen deS
Marktes anschmiegen können. Um aber diese stete Bewegung dem Pächter gewähren zu können, muß der Eigenthümer selbst sich freier bewegen; er
muß ungebunden in der Benutzung seines Grundstückes sein. Also muß
der Landbesitzer von den Fesseln der jetzigen
409
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
Landgesetze befreit werden, soweit seine jetzige Gebundenheit seiner Produktionskraft hinderlich ist."
Es liegt wohl nahe, daß dieser Forderung sich vor allem die Pächter anschließen, aber auch eine große Zahl der jetzt bedrängten, namentlich der
bereits mit alten Schulden überbürdeten Grundeigenthümer unterstützt be
reits die Bewegung.
Hierdurch hat sich diese nicht nur ausgebreitet, sondern sie hat sich auch in ihrer Wirksamkeit vertieft; man schreibt jetzt von allen Seiten
den Landgesetzen einen tief und dauernd schädlichen Antheil an der gegen
wärtigen Lage der Landwirtschaft zu. So fehlte denn die Landfrage in keiner der unzähligen Wahlreden
die in den letzten Monaten durch ganz England als Vorbereitung für die,
inzwischen mit so höchst überraschenden Ergebnissen vollzogenen, Neuwahlen zum Parlamente gehalten wurden.
Die Liberalen verwerfen das bestehende System der „Gebundenheit"
des Grundeigenthums und wollen an dessen Stelle eine freiere — immer noch mehr
oder weniger
beschränkte
—
Beweglichkeit
des
„Landes"
setzen.
Die frühere konservative Regierung, im Wesentlichen die Partei
des Grundbesitzes, betrachtete diese Bewegung mit Unbehagen.
Sie sah
in dem jetzigen Rechtszustande eine der wichtigsten lind festesten Grund lagen der englischen Verfassung.
Jedoch hatte sie es gerathen gefunden,
in der Thronrede vom 6. Februar d. I. einige Milderungen der schrei
endsten Uebelstände in Aussicht zu stellen. Wenn nun auch wir Deutschen von dem sozialen und volkswirthschaft-
lichen Schaden der allgemeinen Unfreiheit des Grundeigenthums längst befreit sind und im Ganzen uns einer gesunden Mischung von großen, mittleren
und kleineren — in der überwiegenden Mehrheit ungebundenen — Grund eigenthümern erfreuen, so dürfte eS sich dennoch rechtfertigen, eine Dar
stellung dieser, dem größeren Theile der Leser wohl unbekannten, Ver
hältnisse vorzuführen.
Denn diese Zustände sind
jedenfalls
sehr eigen
thümlich und ihre Umgestaltung wird für das gesammte öffentliche Leben in dem unS benachbarten und stammverwandten England von den ein
greifendsten Folgen begleitet sein. — ES gehört zu diesem Versuche von meiner Seite allerdings ein ge
wisser Unternehmungsgeist, verbunden mit einer nicht unbeträchtlichen Re signation.
Namentlich ist diese letztere bei mir in reichlichem Maße zur
Verwendung gelangt, als ich mich den nothwendigen Vorstudien der ein schlagenden RechtSmaterie, nämlich der „Gesetze über das ländliche Grund eigenthum" unterzog.
410
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
Dieses Kapitel wird selbst in England für so verworren, abstrus
und ungenießbar gehalten, daß Jedermann sich ängstlich davon fern hält wie von der undurchdringlichen Dornhecke um das Zauberschloß.
Allgemein
wird zugegeben, daß fast Niemand in England,
außer
einigen Spezialisten, dieses „Landrecht" gründlich kennt, ferner, daß diese wenigen
Kenner regelmäßig
verschiedener -Ansicht über die
wichtigsten
Grundsätze und ihre Anwendung sind. Uebelwollende behaupten allerdings:
dieser
letztere
Umstand,
die
„glorious uncertainty“, gehöre wesentlich mit zur ganzen Institution —
und nicht am wenigsten zum Gedeihen des sachwalterischen Geschäftes. — Als ich durch einen englischen Freund dessen Attorney bitten ließ, mir für mein Studium ein geeignetes Buch vorzuschlagen, schrieb der
Rechtsgelehrte in großem Erstaunen zurück: . es sei ihm in seiner langjährigen Praxis noch nicht vorgekommen: daß Jemand dieses Rechtsgebiet freiwillig erforschen wolle.
Noch
weniger aber könne er sich vorstellen, daß gar ein Ausländer das selbe zu betreten wünsche.
Und „der großen Seltenheit deS
Falles wegen", bat er mich alsdann um die Erlaubniß „mir das Buch schenken zu dürfen". Das Geschenk traf ein und sein Inhalt möge meine Leser — falls sie jetzt noch den Muth haben, weiter zu lesen — auf den folgenden
Seiten beschäftigen.
II. Der bestehende Rechtszustand. Als Wilhelm der Eroberer sich zum Herrn von England gemacht
hatte erklärte er sich auch zum alleinigen unbeschränkten Eigenthümer des
gesummten Grund und Bodens in seinem neuen Reiche.
Darauf ver-
theilt er ihn unter seine Kampfgenossen, sein Lehnsgefolge.
Die großen angelsächsischen Grundherren die „Earls“ waren verjagt; die kleineren freien bäuerlichen Besitzer blieben zum größten Theile und bildeten das militärische Gefolge der normannischen LordS. „The Crown is the Lord paramount of the soll.“
Dieser ur
alte Fundamentalsatz deS Lehnswesens bildet noch heute — in der Theorie —
die Grundlage des englischen RechtSsystems über daS „Land".
Noch heute sind alle Grundeigenthümer nur „Tenents" (Untereigen
thümer) der Krone.
Alles Eigenthum, am „Lande" ist nur „Tenure",
abgeleiteter Besitz. Für die Krone hat dieses Verhältniß noch heute die praktische Folge
411
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
des Heimfalls; er tritt ein wenn der Besitzer eines Grundstücks ohne Testament und zugleich ohne erbberechtigte Verwandte stirbt. In der ältesten Zeit der Normannen war aller Grtlndbesitz nur auf Lebensdauer verliehen. Naturgemäß bildete sich die Sitte der Wieder verleihung, falls ein Mitglied der Hinterbliebenen Familie brauchbar für
die militärischen Lehndienste war; regelmäßig trat der älteste Sohn ein.
In jener rechtlosen Zeit, wo die persönliche Sicherheit der großen Vasallen häufig darin bestand: „Gewalt durch Gewalt zu begegnen", ordnete sich jede Familie gern einem schützenden Oberhaupte unter.
Aus dieser Sitte
wurde im Laufe der Zeit ein erbliches Recht. Für die Vererbung des Grundeigenthums hat dieser lehnbare Ur sprung zwei durchgreifende praktische Folgen gehabt, die noch heute in lebendiger Geltung sind:
1. die unbedingte Bevorzugung des Mannesstammes vor den
Weibern; 2. die Primogenitur, kraft welcher — wenn kein Testament oder keine bindende Familienstiftung (Settlement) es anders bestimmt — stets
der älteste Sohn den Grundbesitz allein erbt. Die weiblichen Erben stehen immer den männlichen nach. Sobald der Mannstamm erlischt, hört die Primogenitur auf und alle gleichbe rechtigten Erbinnen theilen den Grundbesitz, weil kein dienstfähiger Lehnöträger mehr in der Familie vorhanden ist. alSdann wieder in Kraft. —,
Das alte sächsische Recht tritt
Das Besitzrecht am Grundetgenthum ist ein zweifaches: 1.
„Fee simple“, einfaches Lehn; dieses ist, praktisch genommen:
volles unbeschränktes Eigenthum mit Erbgang auf alle Jntestat-
erben, nach der Ordnung die wir vorhin kennen lernten. 2. „Fee tail“ (taille) beschnittenes Lehn. Hier ist das Eigenthum
in verschiedenster Weise beschränkt: in Beziehung auf Veräußerung, Ver pfändung und Vererbung. Nur die Leibeserben sind Jntestaterben. Ja! nach altem strengen Rechte war sogar jede zeitweilige Verfügung, über den Tod des Besitzers hinaus, also auch jede Verpachtung „beschnitten". — Ursprünglich hatte der nur lebenslängliche Vasall „Tenant for life“
selbstverständlich nicht das Recht: das Lehngut zu veräußern. Im Anfänge des vierzehnten Jahrhunderts wurden die Lehne erb lich. Während einer längeren Uebergangsperiode schwankten dann die Verhältnisse, im Flusse ihrer Gestaltung zu festen staatsrechtlichen Formen, hin und her je nachdem der oberste Lehnsherr oder die großen Vasallen die Macht in Händen hatten.
Zuerst war die neue gesetzliche Erbfolge starr und unbeugsam; das
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
412
„Land" war gebunden „tied up“
und
der Verfügung deS jeweiligen
Vasallen entzogen. Im nächsten Jahrhundert, dem fünfzehnten, während der endlosen
männermordenden französischen Kriege erwarben die Vasallen daS Recht: Grundstücke in Afterlehn gegen Kriegsfolge auszugeben — zu großer
Beeinträchtigung ihrer Erben und des Oberlehnsherrn.
Bei erstarkender Macht der Krone wurde dieses Recht wieder einge schränkt durch eine Akte die, nach ihren Eingangsworten, unter dem Namen „Quia emptores“ sehr bekannt ist.
Es wirst ein charakteristisches Licht
auf die stabile Entwickelung englischer Verhältnisse, daß dieses Gesetz „Quia emptores“
aus dem Jahre 1325 noch heute,
ohne wesentliche
Aenderung, geltendes Recht bildet. Ebensowenig,
wie sein Land veräußern, durfte jetzt der Vasall die
Erbfolge aus der lehnsherrlichen Verleihung nach Belieben ändern.
Dadurch waren die Befugnisse deS Vasallen beschnitten (tailld); sein
Grundeigenthum war ein „Fee tail“, beschnittenes Lehn und der Besitzer war thatsächlich wieder nur ein lebenslänglicher Nutzmeister „Tenant for life“. —
Diese allgemeine und endlose Gebundenheit alles Grund besitzes im ganzen Königreiche äußerte im Laufe der Generationen ver
schiedene eingreifende Wirkungen:
für die Besitzer, für die Familie, für
die Güter selbst.
So fühlten sich die ältesten Söhne in ihrer zukünftigen Stellung
vom guten Willen des Vaters zu unabhängig; sie wurden daher unter Umständen leicht unbotmäßig. —
Andererseits aber verminderte sich für die großen LordS die Gefahr deS RebellirenS, bekanntlich eine in England während mehrerer Jahr
hunderte sehr beliebte und fleißig geübte politische Thätigkeit. höchstens ihren Kopf.
Sie wagten
Freilich verloren sie selbst ihren Besitz und ihre
Verurtheilung wegen Hochverrath und Felonie „Attainder for treason“ traf auch ihre Nachkommen weil auch deren „Blut verderbt" war, „because
they became corrupt in blood“.
Aber nach Jahr und Tag wurden
die Nachfolger des „Tenant for life“ regelmäßig begnadigt und wieder
„ehrlich" gemacht, restored in blood. In dem großen Hause der Howards, dessen Haupt der Herzog von Norfolk ist, begegnen wir dieser FamilienkrisiS mehrere Male. — Nach der Ordnung der Natur starben im Laufe der Zeiten viele
Mannstämme aus.
Die reichen Erbtöchter wurden schon damals mit
Vorliebe von ihren ritterlichen PairS zur Ehe begehrt; so entstand nach
und nach eine Anhäufung deS Landes und der Grundholden in wenigen
Landgesetze und Landwirthschast in England.
413
Händen, und die großen Lords gewannen eine Uebermacht welche den
staatsklugen Grundsätzen Wilhelms des Eroberers bei der ersten Vertheilung deS Landes widerstritt. Die Rosenkriege wurden im wesentlichen von den großen LordS und ihren Vasallen untereinander geführt; die übrige Bevölkerung nahm verhältnißmäßtg geringen Antheil. Der berühmte „Königsmacher" Neville Graf von Warwick zog mit einer eigenen Ge folgschaft von 40,000 Mann in's Feld. Endlich aber entwerthete diese unbedingte Beschneidung jeder Ver
fügung den Grundbesitz selbst, namentlich als im Wechsel der wirthschaftlichen Zustände die moderne Zeitpacht sich einbürgerte. Daher erlaubte Heinrich VIII. (1541) daß der „Tenant for life“ Pachtkontrakte auf ein
undzwanzig Jahre abschließen dürfe, mit bindender Wirksamkeit für seinen Sohn; aber noch nicht für spätere Nachfolger „remainder men“. — Die unbedingte und endlose Unveräußerlichkeit des Grundbe sitzes, ursprünglich den Vasallen als Zwang auferlegt, wurde im Laufe der Jahrhunderte zur Standessitte und zum Gegenstände eifrigster
Familienpolitik.
Da die großen Landeigenthümer zugleich die Gesetzgeber
in beiden Häusern des Parlamentes waren, so thaten sie natürlich ihr bestes um ihren Grundbesitz für immer und ewig ihrem Hause zu erhalten. Hiegegen schritt nun wieder die Krone ein.
Sie verbot die Bindung
des Grundbesitzes für unabsehbare Zeit, also diejenige Form die sich in unseren deutschen Familienfideikommissen ausgebildet hat. Schon früh wurde die Verleihung eines Grundstückes an den Sohn eines noch Ungeborenen untersagt, und endlich ist, zur Tudorzeit, folgende „Regel gegen Perpetuities, Verewigungen" festgestellt: Verfügungen (Settlements) über Grundbesitz, welche das
Recht der Veräußerung und Vererbung für mehrere nachfol gende Besitzer binden oder beschränken (entail) sollen, sind
nur zulässig gegen eine oder mehrere Personen die am Tage der Errichtung dieser Stiftung bereits leben und darüber hinaus noch auf höchstens einundzwanzig Jahre.
Nach Eintritt dieses End-
termineS wird der Besitz ungebundenes Eigenthum. Diese Einengung der Stiftungen auf die schon lebenden Nachkommen und einen noch ungeborenen Sohn des Letzten von ihnen, sagte natürlich wiederum den hochkonservativen und ehrgeizigen Landlords durchaus nicht zu. Denn diese wollten entweder eine neue Familie gründen, oder ihren
alten Namen „bis an's Ende aller Tage" verewigen; namentlich aber wollten sie nicht nur ihren Sohn sondern ihren demnächstigen ältesten Ur« und Ur-Urenkel die Stellung eines Grafschaftsmagnaten unbedingt sichern. Preussische Jahrbücher. Bd. XI.VI. Heft I. 30
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
414
Man suchte und fand daher wieder eine Reihe von neuen Ausflüchten und „Kniffen" um diese Zeitbeschränkung zu umgehen. — Wir stehen hier vor einem der Kardinalpunkte der Frage über das englische „Landrecht" und dessen angestrebte Aenderungen.
Meine Leser müssen sich also schon entschließen, mir über das Stück
juristischer „dürrer Haide" zu folgen welches sich jetzt vor uns ausbreitet. Ich werde versuchen, uns nicht „im Kreis herum" zu führen sondern auf
dem kürzesten Wege grade durch und wieder hinaus. — Es fanden sich zwei Wege, auf denen man dahin gelangen konnte, daS oben mitgetheilte Verbot der Verewigungen zu umgehen.
Zwar sind
sie einander direkt entgegen gesetzt, aber beide führen zum Ziel. Der erste Weg ist: daß der letzte, in der Stiftung des Settlements
bedachte Besitzer, in dessen Hand das Gut frei wird, dieses Ereigniß einfach ignorirt und dadurch die Gebundenheit fortdauern läßt.
Wie aber ist das möglich?
In folgender Weise: sobald der letzte Stiftungserbe Z. einundzwanzig Jahre alt geworden ist, kann er sein Gut verkaufen, es ist fee simple
geworden.
Es bedarf hiefür von Seiten des letzten Erben nur noch eines
sehr einfachen, lediglich formellen Rechtsverfahrens, welches man „Disen-
tailing“ also etwa:
„Losbinden" nennt.
Wenn und solange aber Z. diese Prozedur das „Disentailing“ nicht
vornimmt bleibt die abgelaufene Stiftung, das Settlement, in
Kraft. Stirbt Z. in dieser Lage und hat einen aus der Stiftung berechtigten Erben, den Tz. so tritt dieser ganz an die Stelle des Z. mit demselben Rechte des Losbindens.
Macht Tz. von diesem Rechte ebenfalls keinen Gebrauch und seine
Nachfolger auch nicht, so dauert der gebundene Zustand fort und fort bis alle Tz'S, alle erbberechtigten Nachkommen des Stifters, demnächst einmal
auSgestorben sind. Allerdings kann der erste Stifter diese Verewigung nicht von vorn herein vermittelst der Stiftung erzwingen, er bedarf dazu der passiven
Assistenz jedes einzelnen Nachfolgers. — Das ist geltendes englisches Recht! anscheinend im direktesten Wider sprüche mit dem oben mitgetheilten. „Gesetze gegen Verewigungen".
Die andere Umgehung dieses Gesetzes wird noch häufiger angewandt. Während durch den ersten Umweg die Dauer der Settlements ge
wissermaßen gesetzwidrig verlängert wird, so bestehet die zweite Um gehung in einer verfrüheten Aufhebung des Settlements.
Gewöhnlich ereignet sich dabei Folgendes:
A., der Eigenthümer des
Gutes hat einen Sohn B. Dieser heirathet, bald nachdem er volljährig geworden. Darauf stiftet A. ein Settlement. Er behält sich selbst den lebenslänglichen Nießbrauch vor, giebt seinem Sohne B. ebenfalls nur einen nachfolgenden lebenslänglichen Nießbrauch und bestimmt, daß das beschränkte Eigenthum auf B's zukünftigen Sohn C., seinen deS Stif ters A. Enkel, fallen soll. Dieser Enkel C. erscheint zur herkömmlichen Zeit und wird auch, noch zu Lebzeiten seines Vaters B., einundzwanzig Jahre alt das heißt: groß jährig. Jetzt stirbt der alte Großvater A. und der Enkel C. möchte — nach englischer Sitte — baldigst heirathen. Nun macht der junge C. — mit Einwilligung seines Vaters des Nutznießers B. — von seinem Rechte deö „Losbindens" Gebrauch. Er löst die Stiftung auf und macht eine neue zu Gunsten seines ungeborenen Sohnes D. indem er für seinen Vater B. und für sich selbst nur den lebenslänglichen Nießbrauch vorbehält. — Regelmäßig wird der Sohn C. hiezu vom Vater B. bewogen durch Bewilligung eines sofortigen reichlichen Antheils an des Vaters lebenslänglichem Nießbrauch, einer Rente die ihn schon jetzt unabhängig stellt, auf die er aber sonst vielleicht noch 25 Jahre warten müßte. So bildet das Freiwerden des Landes in der Hand des „Letzten" das wirksamste Mittel um dasselbe stets und immer fester zu binden. Denn bei dieser Gelegenheit, in dem freien Augenblicke, sorgt der Vater B. für Frau und jüngere Kinder. Die vorübergehende Frei heit deö Landes wird also benutzt um dasselbe mit Renten und Hypotheken von neuem zu belasten. Vielleicht hat er auch eine schwebende Schuld, die jetzt konsolidirt wird. Diese „Wiederstiftungen, Resettlements" werden in den alten be sitzenden Familien durchschnittlich alle 30 Jahre wiederholt. Der oben in Aussicht gestellte Sohn D. macht nämlich demnächst dasselbe Manöver des Auflösens und Wiederstiftens und so geht es fort von Generation zu Generation----------- , wohlverstanden jedoch: es muß dabei immer für rechtzeitige und ausreichende Söhne gesorgt werden! — Die klugen Lawyers hatten int vorigen Jahrhundert noch ein drittes Auskunftsmittel erfunden. Es bestand darin: nicht das Grundeigenthum selbst zu binden, wohl aber: für Aufsammlimg und Kapitalisirung der jährlichen Ein nahmen übermäßig weit erstreckte Fristen vorzuschreiben. So hinterließ am Schlüsse des vorigen Jahrhunderts ein Bankier Thelusson ein schon sehr großes Vermögen mit der Bestimmung: daß 30*
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
416
dessen jährliche Auskünfte, während der Lebzeit einer ganzen Reihe von
Personen, namentlich auch der bereits geborenen Urenkel des Erblassers, zum Kapitale geschlagen werden sollten.
Erst die, beim Tode des letzten
dieser Urenkel lebenden, Deszendenten derselben sollten Eigenthum und
freien Genuß bekommen.
Wäre Mr. Thelusson's Wille zur Ausführung gekommen, so würde
sein Nachlaß auf etwa 180 Millionen Pfd. «Stert. (— 3600 Millionen Mark oder beinahe die berühmten 5 Milliarden Francs) angewachsen sein. Hier schritt jedoch die Gesetzgebung ein, da eS „gegen das gemeine Wohl" erachtet wurde, solch ungeheure Summen auf Generationen hinaus
festzulegen'
Durch ein besonderes Gesetz „The Thelusson Act“ wurde
daS Testament aufgehoben und eine solche Ansammlung auf 21 Jahre nach deS Erblassers Tode beschränkt.
So hatte der arme Mr. Thelusson
wenigstens die eine traurige Genugthuung: daß sein Name in nächster Beziehung zu der Vorstellung von unermeßlichen Geldsummen im eng lischen „Statute Book“ verewigt wurde. —
Eine sehr wohlthätige Fürsorge waltet für die verheiratheten Frauen ob, welche Grundeigenthum besitzen.
Will eine so bevorzugte
Dame eine Stiftung machen, durch welche sie ihre eigenen Rechte beschränkt, so muß sie sich zuvor einer strengen Prüfung — gewissermaßen tot Beicht
stühle — vor einem Kommissär des Kanzleigerichtes unterwerfen, um zu verhüten daß sie nicht unter ungebührlicher Beeinflussung handele.
DaS
alte Statut sagt in seiner treffenden konkreten Sprache: „that they are
not kisse d or kicked out of their property“, daß sie nicht aus ihrem
Besitze heraus geküßt oder „geknufft" werde. Wir müssen uns jetzt noch, möglichst kurz, mit den rechtSgeschäft-
lichen Formen bekannt machen, in welchen diese Bindungen deS Grund
eigenthums vollzogen werden. Entweder sind eS
„DeedS" Vertragsurkunden, mittelst derer
das Settlement gestiftet wird.
Diese „Deeds of Settlement“ werden
regelmäßig kurz vor der Hochzeit gemacht.
Der junge Ehemann überweist
sein Gut in den Besitz von Vertrauensmännern „Trustees“, behufs Ver wendung für bestimmte Zwecke.
Diesen Trustees wird nämlich auferlegt,
dem jungen Ehemanne selbst — und vor ihm seinem Vater — den lebenslänglichen Nießbrauch zu gewähren, seiner Frau Nadelgeld, event.
Witthum, seinen voraussichtlichen jüngeren Kindern Abfindungen, endlich
sollen die TrusteeS demnächst dem überlebenden
ältesten männlichen
Erben das beschränkte Eigenthum am Gute, beschwert mit allen jenen
Lasten und Vorbehalten, wieder überantworten. —
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
417
Ein solcher Deed ist, wenn einmal vollzogen, unwiderruflich.
ES
liegt daher in deren Vollziehung sofort bei der Vermählung eine gewisse Gefahr. Mir ist ein Fall bekannt, wo ein junger Ehemann, in etwas ver
frühter Zuversicht, ein
Erben machte.
Settlement zu
Aus dieser Ehe
sieben Töchter — kein Sohn.
männlichen
entsprangen im Laufe der Ereignisse
Der gesetzliche männliche Erbe des armen
töchterreichen voreiligen Mannes ist jetzt
fernter Vetter.
Gunsten seiner
ein höchst uninteressanter ent
Der beklagenswerthe Vater lebt schon seit vielen Jahren,
seinem Besitze entfremdet, im billigen Auslande, einzig damit beschäftigt, seinem Gute möglichst viel Lebenskräfte für seine sieben Töchter zu ent
ziehen. — Diese Selbsttäuschung wird vermieden durch die andere Form des Settlements:
das Testament, da dieses bis zum Tode des Erblassers jederzeit widerruflich ist.
Jedoch
— ich wage eö nicht, meine standhaften Leser mit näherem Eindringen in dieses neue Labyrinth zu plagen! —
Warum aber alle diese verzwickten und
fingirten
Umwege
nöthig
oder zweckmäßig sind, kann ich erst im Verlaufe meiner Darstellung klar machen, — soweit diese Dinge überhaupt klar zu mach en sind. —
Nunmehr hätten wir also die „Dürre Haide" der Deeds und Settle
ments glücklich durchwandert.
Es bleibt mir jetzt noch übrig, einige zer
streute Mittheilungen hinzuzufügen, da deren flüchtige Erzählung zum Ver ständnisse späterer Darlegungen nothwendig ist.
Also jetzt noch wenige Worte
über
das Pfandrecht und Ver
wandtes. 1.
Auch hier tritt uns die verwickelnde und verdunkelnde Fiktion,
der veraltete Ballast unnöthiger Formen in einem Grade entgegen, der bei der sonst so hohen Entwickelung des modernen englischen Geschäfts und Verkehrslebens unter der Herrschaft des großen Grundsatzes: „Time
is money“, für den Fremden — vielfach auch für den Eingeborenen — doppelt überraschend und unverständlich bleibt.
Ein Beispiel dürfte die Grundzüge des Pfandrechtes wohl am ein fachsten klar legen:
A. leiht an B. 1000 Pfd. Sterl. und bestellt dafür eine Hypothek
(mortgage) an seinem Grundbesitze.
In dem Schuld- und Verpfändungs
briefe überträgt nun der Schuldner A. dem Gläubiger B. den
Besitz und Genuß des verpfändeten Gutes (vivum vadium).
sieht also fast dem deutschen Institute der Antichrese gleich.
vollen
Das
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
418
Nun aber bleibt heut zu Tage A. In Wirklichkeit ganz ruhig tat Be
sitze seines verpfändeten Gutes.
B. erlangt diesen Besitz niemals, er
versucht eS auch gar nicht, denn kein Gerichtshof würde feine Klage aus
der Verpfändungsurkunde annehmen.
der Name
Daher
„mortgage-
mortuum vadium“.
Der Pfandgläubiger hat nur Anspruch auf einen „symbolischen" Besitz. ES müssen ihm nämlich sämmtliche Urkunden ausgeliefert werden welche
die Besitztitel deS Schuldners A. an dem Grundstücke enthalten, gewisser maßen als ein Faustpfand.
Hierin besteht des Gläubigers B. formelle
Sicherung dagegen, daß keine andere erste Hypothek hinter seinem Rücken bestellt wird. 2. Nachhypotheken genießen daher verhältnißmäßig geringe Sicher
heit und schwachen Kredit.
Dennoch findet sich häufig zu hohen Zinsen
ein zweiter Pfandgläubiger C. und ein dritter D. Dieser letztere D. hat nun das Recht, wenn er des ersten Gläubigers B. Forderung erwirbt, seine eigene dritte Hypothek mit jener ersten
zu vereinigen;
„to tack them
together“.
Alsdann geht er dem
zweiten Gläubiger C. vor und dieser sinkt rettungslos in die dritte Stelle hinab*).
Dieselbe Ueberraschung steht selbstverständlich auch dem armen Gläu
biger C. bevor, wenn sein Vorgänger B. sich selbst für spätere Vorschüsse eine Nachhhpothek hinter der C'schen bestellen läßt. — 3.
In der Schuldurkunde hat der Gläubiger B. versprochen, daß er,
sobald seine Forderung bezahlt ist, dem Schuldner A. den Besitz des Grundstückes — den er nie erhalten — zurück übertragen will; das
heißt also: er liefert die Besitztitel wieder aus.
Auf diese Weise sind eine
unglaubliche Menge der wichtigsten,
weil allein beweisenden, Besitz
urkunden
Aufbewahrung
regelmäßig
der
dauernden
und Hütung bei
dritten Personen, ohne jede Kontrolle des Eigenthümers, anvertraut. 4.
In England giebt es keine Grundbücher und keine Hypo
thekenregister. 5.
Es giebt dort, schon wegen deS wunderlichen, absolut unsicheren
Pfandrechtes, keine Pfandbriefinstitute und keine Grnndkreditbanken, daher auch keine Möglichkeit für sparsame Leute: alte Schulden dnrch Annuitäten abzutragen. 6.
Auch daS bet uns früher aushelfende, jetzt bereits veraltete, In
stitut der Ediktalladungen und Präklusionen ist dort unbekannt. *) Für den höchst wahrscheinlichen Fall, daß meine verehrten Leser meine Mittheilung über das Rechtsinstitut des „tacking“ absolut unglaublich finden, bin ich bereit, meine Quelle in einem englischen Kompendium vorzulegen.
Landgefetze und Landwirthschaft in England.
7.
419
Der Verkäufer eines Grundstückes muß seine Besitztitel und
seine Befugniß: zu veräußern, sowie die Freiheit des Grundstückes von Hypotheken u. s. w. für die letzten 40 Jahre nachweisen.
Der Käufer hat eine erschreckende und unberechenbare Menge von Zeit, Mühe und Geld aufzuwenden um sich über die Rechtsverhältnisse
deS Kaufobjektes ausreichend aufzuklären und sicher zu stellen. Indessen gelangt er immer nur zu einer induktiven annähernden Ueberzeugung; eine formelle, offizielle, die Vergangenheit ab
schließende Gewißheit ist unmöglich.
Wir stehen jetzt am Ziele unserer Schilderung deS englischen Lehn-, Land- und Pfandrechtes. Der bestehende Rechtszustand zeigt uns eine Mischung aus altsächsi schem Recht, normannischem Lehnrecht und einem korrektortschem Flickwerke von einzelnen Gesetzen, welches die älteren Bestimmungen überall
ein
schränkt, durchlöchert, umgeht und abstumpft, ohne sie irgendwo völlig zu
beseitigen. An der korrektorischen Arbeit hat eS wahrlich nicht gefehlt, sie war und ist noch in stetig gesteigerter Thätigkeit. Das englische Statute Book
enthält über das Landrecht seit der Magna Charta (1215) bis 1837:
43 noch geltende Gesetze.
Vom Regierungsantritte der Königin Victoria
bis zum heutigen Tage sind deren etwa 50 Stück weitere erlassen.
„Aber
daS Ganze ist dennoch die fortgeexbte ewige Krankheit, die von Geschlecht zu Geschlecht schleicht und in der Vernunft — Unsinn, und Wohlthat — Plage geworden ist."
So wenigstens, vielleicht mit etwas anderen Worten,
behaupten die heutigen Reformer. ES liegt auch ein Gutachten darüber vor von einem namhaften Re former aus älterer Zeit.
Dieses lautet:
„The Law of England is a tortuous and ungodly jumhle“ — ein verworrener, gottverlassener Mischmasch.
So kritisirte,
vor mehr als 200 Jahren, Oliver Cromwell der
Lord Protektor, die englischen Landgesetze. (Schluß folgt.)
Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon. AIS wir vor bald einem Jahre zum ersten Male vor den frisch auS-
gepackten, nur erst nothdürftig geordneten Fragmenten der Pergamenischen
Gigantomachie standen, waren wir wohl alle geneigter, einen begeisterten Hymnus anzustimmen als eingehende Untersuchungen und Combinationen
anzustellen.
DaS erschütternde Pathos, das fast aus jeder Bewegung der
erhaltenen Glieder spricht, die bestechende Schönheit der einzelnen Figuren, die Kraft der Composttion, die Sicherheit der Technik übten auf Jeden,
der Augen dafür hatte, eine fast bezaubernde Wirkung.
Unter diesem
Eindruck, als Summe der ersten und nächstliegenden Empfindungen, schrieb
ich im December vorigen Jahres jenen Aufsatz über den Gigantenfries aus Pergamon, der sich zuvörderst nur die Aufgabe stellte, den wesentlichen Inhalt dieses Einen Werkes zu charakterisiren und feine kunstgeschichtliche
Bedeutung festzustellen. Heute nun liegt ein weit reicheres Material vor.
Durch den per
sönlichen Verkehr mit Karl Humann selbst und zahlreiche mündliche Mit
theilungen des wackern Forschers; durch wiederholte Prüfung und Be trachtung der plastischen Werke, die seitdem in noch reichlicherer Anzahl ihren
provisorischen
Aufenthaltsort
schmücken
und Dank der
emsigen
Thätigkeit der damit betrauten Künstler und Gelehrten, schon weit besser
geordnet sind; schließlich durch die eingehenden Mittheilungen der bet den Ausgrabungen thätig gewesenen Techniker und Archäologen*), sind wir
in den Stand gesetzt, uns schon ein bestimmteres Bild von der pergamenischen Akropolis zu entwerfen.
Freilich ist auch jetzt noch jede Schilderung
nur eine vorläufige, aber indem wir die schon fest gesicherten Ergeb*) Jahrbuch der Kgl. Preußischen Kuustsammluugen, Berlin 1880, Weidmannsche Buchhandlung. I. Bd. Heft II—IV. Den größten Theil dieser 3 in einem Bande erschienenen Hefte nehmen die „vorläufigen" Berichte der Herren A. Lonze, C. Humann, R. Bohn, H. Stiller, G. Lölling und O. Raschdorff ein. Diese Folge von Aufsätzen mit den entsprechenden Abbildungen ist auch als Separatausgabe erschienen.
421
Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.
Nisse von den wahrscheinlichen und hypothetischen Thatsachen in unserer Darstellung unterscheiden, wird unsere Arbeit dem Vorwurf der Voreilig keit ebensowenig verfallen, wie jene erste Skizze.
Ist es doch daS Wesen
der Philologie, die untergegangene Cultur der alten Völker mit den jedes
maligen Mitteln der Forschung und Erklärung unserer gegenwärtigen An schauung wieder vorzuführen und anzupassen und sie so gleichsam neu zu
erzeugen.
Versuchen wir eS also nach Maßgabe der vorhandenen Mittel
unS daS Bild der Hochstadt Pergamon zu construiren!
Der KaikoS (jetzt Bakyr Tschai) ist der nördlichste der einigermaßen beachtenSwerthen, westwärts strömenden Flüsse AnatolienS; er mündet bei
nahe in der Breite des südlichsten Punktes der Insel LeSboS in den Golf von Eläa (heute Busen von Tschandarlik).
Etwa fünf Meilen in dem
breiten und fruchtbaren Thale aufwärts lag am Fuße eines fast isolirten Bergkegels die alte Königsstadt der Attaliden, die in dem modernen Namen
Bergama noch den alten Klang gerettet hat.
Wie bei so vielen antiken
Städteanlagen ist der Berg die bewirkende Ursache der Stadt gewesen;
mit geringen Ausnahmen können wir bei jeder antiken Stadtgründung die
bekannten Merkmale entdecken, durch welche die ersten Siedler gerade an jtne Stelle gewiesen wurden: eine schickliche Entfernung vom Meere, die
Nähe eines fruchtbaren Geländes für Acker- und Gartenbau und ein Berg, der die Heiligthümer aufnahm und in KriegSläuften der bedrängten Be völkerung mit ihrer beweglichen Habe eine Zuflucht darbot, wohl auch als
KönigSburg diente.
Fuße
angebaute
Der Kegel aus weichem Gestein, welcher die an seinem mysisch-äolische
Stadt Pergamon
überragte,
hat ca.
1000 Fuß Höhe (Athenische Akropolis ca. 300, Akrokorinth ca. 1500
über dem Niveau der resp. Unterstadt) und hängt nur nach Norden durch einen Sattel mit dem Hauptgebirge zusammen.
Nach Süden zu fällt der
Berg ziemlich sanft ab, hier war an seinem Fuße die Stadt angebaut, sowie auch heute noch die moderne türkische Ortschaft sich dort befindet.
Nach Osten und Westen war der Abfall des Berges steil; es ergab sich
also sehr wohl die Möglichkeit, durch einige befestigende Anlagen den Berg
in eine schützende Burg umzuwandeln.
Dies mag schon früher *) in dem
Maße gelungen sein, daß PhiletäroS diesen Ort für geeignet halten konnte, hier
den
ihm
vom
LysimachoS
übergebenen
ungeheuren
Schatz
von
9000 Talenten niederzulegen, so daß also damals die pergamentsche Akro polis genau ein Drittel der Summe barg, wie jetzt der JuliuSthurm in
*) Positive Beweise dafür, daß der Burgberg von Pergamum um das Jahr 300 schon eine Festung war, vermag ich nicht beiznbringen; aber ich schließe es aus dem Um stand, daß PhiletäroS den Schatz dort deponirte. Vielleicht ergeben die fortgesetzten Grabungen des nächsten Winters ein Resultat auch in dieser Hinsicht.
422
Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.
Spandau, ca. 40 Millionen Mark.
Diese für jene Zeiten ganz enorme
Geldmasse wurde dann zusammen mit den guten bürgerlichen und echt königlichen Eigenschaften des PhiletäroS und seiner Neffen und Nachfolger daS Mittel, durch welches das pergamenische Königreich gegründet ward.
Durch die zweihundertjährige milde Herrschaft dieser Dynastie wird
Pergamon, dessen mysisch-äolische Bevölkerung bis dahin dem reich ent wickelten Leben der Hellenen fern gestanden hatte und dessen frühere Ge schichte bis jetzt lediglich den antiquarischen Botaniker interessiren konnte, auS seinem unhistorischen Dunkel mitten in daS hellste Licht der spät
hellenischen Cultur gezogen, und hält seine Bedeutung als Metropole der Kunst und Literatur für jenen Theil deS MittelmeergebieteS auch nach dem
Tode des dritten AttaloS (133) bis in die Kaiserzeit hinein fest. Der Höhepunkt dieser lokalen hellenistischen Kultur fällt, wie eS scheint,
in die Zeit EumeneS II. (197—159), deS bekannten treuen Freundes der Römer während deren Kriege im Osten.
Unter seiner langen und milden
Regierung sind wohl die meisten der prächtigen Kunstbauten, welche einst die Akropolis schmückten, vor Allem der vielbesprochene Altarbau entstanden. Conze schließt aus dem Umstand, daß die mehrfach gefundenen auf Eu
meneS II. bezüglichen Inschriften die gleiche Beschaffenheit der Buchstaben zeigen, wie die Götter- und Gigantennamen am Altarbau, auf die näm liche Entstehungszeit beider, — eine Annahme, welcher sonstige Gründe
zwingender Art nicht entgegen stehen.
Danach wären frühere Ansichten,
welche den Bau deS Altarwerkes seinem Vorgänger AttaloS I. zuschrieben,
zu berichtigen. — Etwas unterhalb des höchsten PlateauS, an dem westlichen Rande
des Burgbergs, an einer glücklich gewählten, weithin sichtbaren Stelle be fand sich der Altar.
Von unten kommend muß man jetzt erst eine, in
byzantinischer Zeit aufgeführte ca. 3 Meter starke Mauer passiren, deren Werkstücke sowohl, als auch der dazu verwendete Mörtel aus der Zer störung antiker Marmorbauten gewonnen worden waren.
Der größte
Theil deS GtgantenkampfeS ist in Gestalt großer guterhaltener Relieffplatten
aus dieser Mauer ausgebrochen worden; und nachdem die Zugehörigkeit derselben zu dem Altar einmal festgestellt war, hatte Humann sehr recht, den letzteren in nächster Nähe zu suchen; dort haben sich denn auch die
Fundamente gefunden, und allmählich sind so viele einzelne Bauthetle zu Tage gekommen, daß eine Reconstruktton dieses merkwürdigen Baues mit annähernder Sicherheit versucht werden konnte.
Der Platz für den Bau
mußte auf dem abschüssigen Terrain erst in der Weise geschaffen werden,
daß von Norden her eine Terrasse abgetragen, nach Süden zu aufgefüllt und nach Westen eine mit der nördlichen Terrasse rechtwinklig sich treffende
Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.
Futtermauer construirt wurde. dessen
So stellte man einen viereckigen Platz her,
nahezu nach Norden sich
67 Meter ergiebt.
423
erstreckende Axe etwa die
Länge von
In der Mitte desselben stand der Altar, der von der
Fläche des Platzes zunächst durch 3 Stufen von je 23 Zentimeter Höhe
isolirt war; dann folgte der Unterbau, eine Mauermasse von ca. 4 Meter Höhe; unten charakterisirt durch einen Sockel, darüber ein Stück glatte
Mauerfläche, welches durch ein kleineres Gurtgesims seinen Abschluß findet.
Ueber diesem erhebt sich dann, nach unten zu durch einen Ablauf, nach oben durch ein mächtig ausladendes Hauptgesims eingerahmt, das Pracht
stück und Hauptergebniß der ganzen Grabungen, der 2,30 Meter hohe und ca. 135 Meter lange Hochreliefs-Fries, dessen Inhalt wir bereits be sprochen haben.
Ununterbrochen zog er sich auf drei Seiten des Altars
in der Weise hin, daß der am Fuße deö Baues Stehende die untere
Linie des Werkes etwas über seinem Auge hatte.
Auf der vierten Seite,
der südlichen oder östlichen, war die Continuität des Frieses durch die in den Bau eingeschnittene Freitreppe unterbrochen, doch zog sich die Dar stellung um die Ecken herum bis in die Winkel der so gebildeten Treppen
wangen hinein.
Der Zufall, der uns diese beiden Eckstücke erhalten hat,
giebt uns eben dadurch einen ebenso willkommenen wie sicheren Aufschluß über die Beschaffenheit des Baues.
Von diesem Relieff-Fries haben wir
in Gestalt von 98 Platten und ca. 3000 einzelnen Brocken etwa 7a des
Sie liegen wohlgeborgen in den Räumen des
ganzen Werkes erhalten.
alten Museums; an ihrer Reinigung und Zusammensetzung wird rüstig gearbeitet.
Die beiden Hauptgruppen, deren ungewöhnliche Schönheit und
Gewalt ich schon in meinem ersten Aufsatz hervorhob, haben in der Ro tunde des alten Museums eine fast senkrechte, der ursprünglichen nahe
kommende Aufstellung gefunden, und hier springen uns die ganz elemen
tare Kraft der Composition und die staunenswerthe Technik noch mehr in die Augen als früher.
Die Holzschnitte in dem „Jahrbuch der Museen",
welche nach Zeichnungen des bekannten Historienmalers Knille angefertigt
sind, geben nur eine höchst unvollkommene Vorstellung des Originals, welches auch darin das sichere Merkmal einer ganz ächten Kunstleistung
trägt,
daß eS bei jeder neuen Besichtigung wächst und dem Beschauer
immer wieder neue Finessen und Reize offenbart.
Abgesehen von diesen
beiden Gruppen, die zweifellos in dem Tenor der ganzen Composition
eine hervorragende Stellung eingenommen haben, hat sich aus wenigen größeren und vielen kleineren Fragmenten in den letzten Monaten die
größte und interessanteste aller erhaltenen Gruppen zusammengefügt; —
vielleicht überhaupt die reichste und lebendigste Composition der gesammten uns bekannten alten Kunst.
Es ist die Artemis mit den Ihrigen, die hier,
424
Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.
in einem höchst complicirten Kampf mit verschiedenartigen Giganten ver
wickelt, auftritt.
Von der Rechten her energisch ausschreitend, in dem uns
durch die „Diana von Versailles" bekannten leichten Jagdcostüm, mit auf fallend schön
gearbeiteten Jagdstiefeln, begleitet von ihren Hunden trifft
sie auf einen jugendlichen Giganten von ungewöhnlich edler Bildung — feinsinnig erinnert Conze an die Scene auö der Jungfrau zwischen Jo hanna und Montgomery.
Zwischen diesen Beiden ist bereits ein bärtiger
Gigant mit Schlangenbeinen im Todeskampf zusammengesunken und wehrt
nur noch instinktiv mit der Rechten den Hund der göttlichen Jägerin ab,
der ihn ins Genick faßt.
Die Schlangen aber sterben noch nicht gleich
mit ihrem Herrn, die eine von ihnen packt in vergeblicher
Wuth das
Gewand der links davon kämpfenden Hekate und stellt dadurch zugleich die Verbindung mit diesem Theil der Gruppe her.
Diese Göttin, welche die
uns sonst bekannte Kunst der Hellenen nur als ein häßliches Idol zu bilden vermochte, sehen wir hier zum ersten Male in den Bereich der hellenischen
Kunstschönheit gezogen.
Der Künstler bildete eine mächtige Frauengestalt
mit drei Paar Armen, von denen je die Rechte mit Fackel, Lanze und
Schwert kämpft.
Auf dem Rumpfe saßen vermuthlich dem entsprechend
drei Köpfe, deren zwei als Hoch- und Flachreliefs wohl erhalten sind und in ihrem Typus
an die Darstellungen des Helios erinnern; der dritte
Kopf war vermuthlich durch Farbe auf dem Relieffgrund hergestellt.
Der
Gegner der Hekate ist ein bärtiger Gigant, dessen nackter Oberkörper auffallend schön erhalten und von vorzüglichster Bildung ist.
Auf seinen
Schlangenfüßen stürmt er gegen die Göttin los und schickt sich eben an, mit beiden Händen einen mächtigen Steinblock gegen sie zu schleudern, aber der Todesstreich wird ihn früher aus unnahbarer Hand treffen.
In ohn
mächtiger Wuth packt der eine von seinen beiden Schlangenköpfen den un
teren Schildrand der Göttin: „man glaubt das Erz knirschen zu hören", während dieselbe Schlange von einem der großen zottigen Hunde, welche die Artemis begleiten, heftig angegriffen wird. Diese merkwürdige Gruppe, deren Wiederherstellung aus zahllosen
Bruchstücken eine glänzende Leistung des Herrn FrereS, eines italieni
schen, mit der Zusammensetzung des Frieses betrauten Bildhauers
ist,
giebt mehr noch als die andern erhaltenen, schöne Aufschlüsse über die Oekonomie der Composition, die Art der Relieffbehandlung, den Reichthum künstlerischer Ideen und die Flottheit der Technik. nach
dem
Plane des
erfindenden und
Offenbar waren also
leitenden Künstlers die beiden
Schlachtreihen auf einander los gestürmt; dann hatte sich der Kampf in
eine Reihe einzelner Gruppen aufgelöst, die, äußerlich lose mit einander
verbunden, durch die gleiche Behandlung und das nämliche Thema ihre
425
Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.
enge Zusammengehörigkeit bekunden. Relieffs gegebene Raum
Aber der durch die Schranken des
genügte dem Künstler
nicht, er versucht, die
Reliesf-Fläche die nur für Eine Reihe von Wesen Raum zu haben scheint,
zu vertiefen.
Der Relieffhintergrund wird ihm zu einem idealen Raum,
den wir nach unsrer Phantasie ausfüllen können.
Die durch verschieden
artige Behandlung der Relieffhöhe und vermuthlich durch entsprechende farbige Betonung hergestellte Perspektive können wir auf keiner anderen
uns erhaltenen antiken Relieffdarstellung nachweisen; die Scene ist an einigen Stellen drei Glieder tief, es gelingt ihm, an einer anderen Stelle
ein vorwärts sprengendes Viergespann und zwar in vorzüglichster Ausfüh rung von der Seite darzustellen. Hinsichtlich der sonst vorhandenen Möglichkeiten, die einzelnen Platten
in die Gesammterzählung einzureihen, sei auf Conze's lehrreichen und höchst interessanten Aufsatz in dem oben citirten Museumswerk verwiesen.
Derselbe giebt eine genauere, durch kleine Holzschnitt-Skizzen illustrirte Beschreibung der wichtigsten Relieffstücke und betont mit vielem Recht eine
Reihe technischer Eigenthümlichkeiten des Werkes. die ganz bestimmte Darstellung der Stoffe.
Hierzu gehört vor Allem Der
Künstler
zeigt
das
größte Bemühen, die Art der Stoffe und ihre Beschaffenheit genau auS--
zudrücken. Auffallend namentlich sind die sehr bestimmt dargestellten Quer
falten der antiken Gewänder, welche noch kurz zuvor zusammengefaltet in
der Truhe gelegen hatten.
Sie sind zum Theil nach unserm Gefühl schon
etwas zu stark hervorgehoben.
Schwerlich wollte der Künstler damit an
deuten, daß er sich seine Götter in ganz neuen, frisch gewaschenen Ge
wändern dachte; vielmehr lag es überhaupt in dem realistischen Zuge der
Kunst jener Zeit, auf diese Seite der Technik größeres Gewicht zu legen, als eö zum Beispiel zur Zeit deS Phidias geschah.
Dieser Realismus,
wie er sich in der Stoffbehandlung, und in der stärkeren Betonung des
Details überhaupt, kundgiebt, hat, soviel wir bis jetzt sehen können, seine Wurzeln in der
Praxitelischen
welches wir bestimmt
als
Kunstrichtung.
Das
eine Originalarbeit dieses
einzige
Werk,
großen attischen
Meisters bezeichnen dürfen, der Hermes von Olympia, zeigt zum Unter schied von den Originalwerken der vorangehenden Zeit schon sehr bestimmt
diese neue Richtung, welche die Technik der Sculptur einschlägt.
Wir
glauben überhaupt neuerdings deutlicher zu erkennen, wie von jener Zeit ab das Studium der Gewandung eine der eifrigstbetriebenen Aufgaben der attischen Kunstschule und der von dieser beeinflußten Strömungen ge bildet hat.
Von der Niobide-Chiaramonti bis zu der höchst interessanten
Nike von Samothrake (jetzt im Louvre) liegt ein Gang der Entwickelung, der bei dem letztgenannten großartigen Originalwerk bereits die Grenze
Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.
426
des innerhalb der ächten Kunst Erlaubten berührt.
Unter den Perga
menischen Werken finden sich eine ganze Reihe der interessantesten Belege für diese Richtung, welche die griechische Plastik in der Zeit der Diadochen
einschlug. —
Habe ich nun mit den eben gegebenen Andeutungen das früher über die Gigantomachie Gesagte einigermaßen zu ergänzen gesucht, so wird es
jetzt möglich sein, unS im Geiste an den Fuß des großen AltarbauS zu stellen und das ergreifendste aller Schlachtenbilder in der Aufeinander
folge kühn angeordneter, wechselvoller Scenen zu verfolgen, in denen bei aller Wildheit und Furchtbarkeit auch der elegische Ton und der versöh
nende Schlußakkord nicht fehlt.
Das ganze Kunstwerk war durch ein
mächtiges, vielfach gegliedertes Hauptgesims geschützt, da- bei 0,38 Meter Höhe und beinahe 0,80 Meter Ausladung sich deutlich genug nicht nur als Abschluß deS Unterbaus charakterisirt, — denn dazu wären mäßigere
Verhältnisse ausreichend gewesen, — sondern zugleich auch als schützende
Ueberkragung dieses Meisterwerkes.
In einer Hohlkehle dieses Gesimses
waren die Namen der Götter, sowie am Fuße des Frieses die der Gi ganten angebracht.
Ueber diesem Gesims endigte der Unterbau.
Hatte
man denselben auf der vorhin erwähnten Treppe erstiegen, so befand man sich auf der Plattform, in deren Mitte der vermuthlich aus der Asche der verbrannten Opfer bestehende Altar gestanden hat.
Dieser Altar war
von einer nur an der Treppe offenen Wand im Viereck umgeben; nach Außen zu lag vor dieser Wand eine jonische Säulenhalle, die mit dreifach
gegliedertem Architrav und Geison nebst Sima ohne dazwischenliegen den FrieS abschloß.
und
lichster Arbeit
Kleinasiens.
Die Säulen mit 24 Furchen
sind von vorzüg
erinnern in ihrer Form an die jonischen Bauten
Ihre Kapitäle sind nicht von gleicher Form, sondern zeigen
mannigfache Bildungen; — ein Ueberwuchern der künstlerischen Phantasie,
das uns bei der gesammten Baukunst des Mittelalters ganz geläufig ist, für das ich indeffen aus der alten Zeit ein weiteres Beispiel nicht anzu
führen vermag.
Auf der flachen Casettendecke dieser nach außen offenen Säulenhallen, die sich also von Unten als ein zweites Geschoß des Baues darstellten,
müssen Figuren gestanden haben, wie sich aus den erhaltenen Standspuren
einiger Deckplatten ergiebt;
Bohn denkt an
die
erhaltenen Fragmente
unterlebensgroßer Pferde von weniger hervorragender Arbeit, die sich ge funden haben.
Auch von den sonst in der Nähe auSgegrabenen Torsen
könnten einzelne hier gestanden haben.
Die letzteren, erst zum Theil auS-
gepackt und den Augen des größeren Publikums noch nicht zugänglich, bieten ein weit geringeres Jntereffe als der FrieS selbst.
Bei einzelnen
427
Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.
derselben macht die sehr eingehende Technik bisweilen den Eindruck des
Absichtlichen und übermäßig Detaillirten; man mag etwa zur Vergleichung
des in einigen von ihnen sich zeigenden Stils die Musen des Berliner Museums heranziehen, die eine gewisse Popularität genießen, und welche (resp, die diesen späteren Copien zu Grunde liegenden Originale) etwa
aus derselben Zeit stammen mögen. Der Architekt Richard Bohn, welcher den Altarbau ausgenommen hat und die betreffende Beschreibung desselben in der Museums-Zeitschrift giebt, betont ausdrücklich, daß die Flüchtigkeit und Nachlässigkeit in der
Arbeit der oberen Bauglieder neben der großen Feinheit und hohen techni schen Vollendung der Säulen und namentlich der Kapitäle überraschen
Wenn wir annehmen, daß kurz vor Vollendung
muß.
des gewaltigen
Baues das Interesse daran erlahmte und die Mittel knapp wurden,
so
findet diese Vermuthung noch eine andere Stütze.
ES sind nämlich noch beträchtliche Reste eines zweiten Reliefs-Frieses (35 Platten und etwa 100 Fragmente) gefunden worden von 1,58 Meter
Höhe, dessen ursprünglichen Ort wir uns an dem oberen Theile der den Altar umgebenden Wand auf der Innenseite zu denken haben.
Platten sind einige unfertig geblieben.
Von diesen
Da indessen keine Meßpunkte
sichtbar sind, wie sie wohl kein moderner Bildhauer entbehren kann, und wie wir sie auch an mehreren unvollendeten Werken des Alterthums be
merken, so beweist dies wiederum die große Sicherheit der Technik, mit welcher die namenlosen Künstler von Pergamon arbeiteten.
Dieser zweite
Fries, der bis jetzt noch nicht gereinigt und geordnet werden konnte, bietet
der Erklärung größere Schwierigkeiten, als die Gigantenschlacht.
Bis jetzt
steht nur soviel fest, daß hier pergamenische Lokalsagen den Stoff der Darstellung bilden.
Pausanias berichtet im 8. Buche, daß Aleos, der als Nachfolger des
AiphtoS zu Tegea über Arkadien herrschte, drei Söhne und eine Tochter hatte.
Letztere, Auge (die Glänzende), gebar vom Herakles einen Sohn
den Telephos (den weithin Leuchtenden); erzürnt setzt der Vater seine Tochter mit dem Neugeborenen in einen Kasten und überläßt sie dem Meer, das sie zum Teuthras, dem Fürsten der KaikoS-Ebene bringt, der
die Auge heirathet. KaikoS
„Und jetzt noch befindet sich in PergamoS ob des
ein von einer steinernen Futtermaller zusammengehaltener Erd
hügel; auf dem Male aber befindet sich ein nacktes Weib, ein aus Erz
verfertigtes Standbild."
Dieser Form des Heroengrabes begegnen wir
in Kleinasien mehrfach, der Ausdruck „nackte Frau" beweist aber, daß wir
es mit einem Produkt hellenischer Kunst zu thun haben; vermuthlich einem
Werk aus der Attalidenzeit, aus der auch sonst von ehernen Standbildern
428
Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.
berichtet wird.
Der Cultus der Auge und ihres SohneS, als des Ahnen
der altpergamenischen Dynasten scheint also in Pergamon gepflegt worden
zu sein, jedenfalls lassen sich auf letzteren bereits mehrere der Reliefftheile des kleineren Frieses beziehen, während für andere eine bestimmte Erklärung noch nicht gefunden ist und vielleicht bei unserer sonstigen ge
ringen Kenntniß jener lokalen Legenden auch schwer zu finden ist.
Selbst
in dem Gigantenkampf spotten ja einige Figuren bis jetzt noch völlig un serer Fähigkeit, mit dem erworbenen Material an mythologischen Kennt
nissen auszukommen. Ich erwähne aus dem TelephoSfrieS nur folgende zwei Scenen von
größter Deutlichkeit und Schönheit:
Der im Gebirge ausgesetzte Säugling
(eine andere Version der Sage, als die bei Pausanias) liegt am Euter
eines nicht genau definirbaren Thieres (nach der Legende müßte es eine Hinde sein); der suchende Vater ist herangetreten und 'blickt, auf seine
Keule gestützt, in einer an den farnesischen Herakles erinnernden Stellung ruhig und zufrieden auf sein Söhnchen.
Die Behandlung der nackten
Theile des Herakles ist von einer Feinheit, Wärme und trotz der unter
lebensgroßen Darstellung von einer Durchbildung, wie wir sie an wenigen andern antiken Werken nachzuweisen vermögen.
Auf einer andern Platte
sehen wir den erwachsenen TelephoS, der nach Argos gekommen ist um sich durch den im Besitz des Agamemnon befindlichen Speer des Achilleus seine
von dem letzteren geschlagene Wunde heilen zu lassen.
Er hat sich in daS
Haus AgamemnonS geschlichen und mit dem kleinen Orestes auf den Haus
altar geflüchtet. Indem er droht, den Knaben zu tödten, zwingt er den Atreiden
ihm den Rost der Lanze zur Heilung auf die Wunde zu legen.
In dem
Conze'schen Aufsatze ist ein skizzirender Holzschnitt dieses Bildes abgedruckt.
Durch diesen zweiten Fries geht eine, von dem Charakter der Gtgantomachie völlig verschiedene Stimmung; hier herrscht im Gegensatz zu
dem erschütternden tragischen Pathos ein behaglicher ErzählungSton, der wohl auf eine ganz
andere Künstler-Phantasie schließen läßt, jedenfalls
aber Zeugniß ablegt für die Vielseitigkeit, mit der im zweiten Jahrhundert die Skulptur in Pergamon gepflegt ward.
In der Nähe dieses AltarbaueS muß auch der große Tempel der
Athene zu suchen sein, den frühere Forscher vor den Ausgrabungen auf die Höhe der Burg an die Stelle des AugusteumS setzten.
Theile des
Athenetempels, Reste dorischer aus einheimischem Material gefertigter Säu
len haben sich gefunden.
Vielleicht führen uns die Grabungen des näch
sten Winters noch auf genauere Spur; eS wäre interessant,
hier das
erste Beispiel eines dorischen Baues aus historisch nachweisbarer Zeit auf
asiatischem Boden zu besitzen. —
429
Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.
Verfolgen wir nun schließlich von hier aus den östlich des Altar baus auf das höchste Plateau des Burgbergs führenden Weg, so gelangen
wir zu einem großen korinthischen, dem Augustus geweihten Tempel, der früher für das Heiligthum der Burggöttin Athene gehalten wurde.
ES
hat sich bei den Ausgrabungen mit Sicherheit ergeben, daß der Tempel der erhabenen Tochter des Zeus, welcher mit ihrem Vater zusammen der
große Altar gewidmet war, nicht hier, sondern in der Nähe des Altar
zu suchen
baus
ist.
Der Architekt
Hermann Stiller hat den
oberen
Tempel untersucht und die Resultate seiner Forschungen in einem beson
deren Aufsatz mit dankenswerthen Abbildungen in der citirten Schrift des
Museums niedergelegt.
Der Tempel war nach Südwesten frei, nach den
vier andern Seiten zu mit Säulenhallen umgeben und stand auf einem
Peribolus von 68,50 Meter Tiefe und 60 Meter Breite.
Dies Planum
hatte auf dem unebenen Felsboden nur durch mühsame Substruktionen
errichtet werden können, da es hart an die Westseite des Berges stößt, wo derselbe ziemlich steil abfällt.
Die den Tempel umgebenden Portiken
sind ebenfalls von korinthischer Ordnung.
Der peripterale Tempel er
hebt sich auf dem Stereobat von drei Stufen und einem ca. zwei Meter
hohen Unterbau, der mit einem reichverzierten Sockel sich an den Ste reobat anschließt und mit einem haben
einen
schönen Gesims endigt.
durchschnittlichen Durchmesser
Die Säulen
von 1,10 Meter und (incl.
Kapitäl) eine Höhe von fast 10 Meter, also sehr stattliche Dimensionen!
Jede Säule hatte 24 Furchen und zeigt aufmerksame feine Bearbeitung
des
ornamentalen Details.
Der Architrav läßt sich nur vermuthungS-
weise ergänzen, da ein ganzer Architravblock sich nicht hat finden lassen; — auch hier scheint die Arbeit der türkischen Kalkbrenner von verhäng-
nißvollem Erfolg gewesen zu sein.
Sehr merkwürdig und, soviel mir be
kannt, ohne Analogie ist der über dem Architrav sich hinztehende Fries. Derselbe ist durch emporstrebende Consolen, welche mit den balkenförmigen
Consolen des Hauptgesimses in Beziehung stehen in viereckige Felder ge theilt, welche durch Medusenhäupter mit Flügeln und Schlangen auSge-
füllt sind.
Die Consolen scheinen aus einer Art Blattkelch
hervorzu
wachsen, welcher nach beiden Seiten spiralförmige Ranken entsendet, die in der Mitte der Felder sich treffen und mit den Medusenhäuptern ver
einigen.
Wie diese nicht uninteressante ornamentale Idee beim Anschauen
des Originals wirkt, wird man erfahren, wenn die betreffenden Architek turtheile ausgepackt und
aufgestellt sind.
In der Cella hat man die
Trümmer colossaler Statuen des TrajanuS und HadrianuS gefunden, ein
Umstand, der die auch sonst schon gesicherte Ansicht,
daß
Reste des gesuchten AugusteumS vor uns haben, bekräftigt. Preußische Jahrbücher. $t. XLVI. Heft 4.
wir hier die Der Charakter
31
Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.
430
der Bauformen stimmt damit überein; der Bau fällt also in die ersten
Jahre der Alleinherrschaft des Augustus.
Pergamon blieb in den ersten zwei Jahrhunderten ein durch die Gunst der Kaiser bevorzugter Ort; noch zahlreiche andre Bauanlagen ver
danken diesem Umstand ihre Entstehung, die theils, wie z. B. des Gym nasiums am südlichen Fuße des Burgbergs, schon entdeckt sind, theils ihrer spezielleren Untersuchung noch entgegensehen, eine Aufgabe, die sich
die genannten verdienten Männer für den nächsten Winter gestellt haben. Natürlich hat die rege Bauthätigkett der Kaiser vermuthlich auch manches ältere Denkmal zerstören helfen.
ES ist geringe Aussicht, ein dem Altar
bau auch nur annähernd ebenbürtiges Werk aus der Diadochenzett dort
aufzufinden, deren hohe Bedeutung für die Festhaltung resp. Fortentwick lung der hellenischen Kunst und deren Ueberleitung in die Römische, hier
deutlicher hervorgetreten ist, als bisher. Dies ist geschichtlich das wichtigste Resultat der pergamenischen Ent
deckungen, daß sie, in Verbindung mit einigen andern kürzlich gemachten
Entdeckungen (z. B. der samothrakischen Nike und
einiger Bauten in
Olympia) ein helleres Licht auf die bis dahin noch wenig erkannte Zeit der Dtadochen werfen.
Der genaueren Erkenntniß des höchst interessanten
Processes, wie die spezifisch hellenische Cultur zur hellenistischen sich er weitert und verallgemeinert, und wie dann die letztere wieder eine Ehe
mit dem Latinismus eingeht und daraus die hellenistisch-römische Kultur erzeugt wird, dieser Erkenntniß werden wir bald genauer auf der Spur
sein.
Als großes ästhetisches Ergebniß steht aber für alle Zeiten das
gewaltige marmorne Heldengedicht da, welches mehr fein soll, als bloßeS Material für den Alterthumsforscher, nämlich Anregung und Beftuchtung
unserer eigenen künstlerischen Potenz. lose und
übertriebene;
Diese Hoffnung ist keine aussichts
auch Ntccolo Pisano und nach ihm die großen
Quattrocentisten holten sich sehr direkten Rath aus den ihnen gerade nahe
gerückten antiken
Skulpturwerken; öS liegt im Bereich der Möglichkeit,
daß die Verbindung von echtester Poesie und gewaltiger Technik, der wir im Giganten- und TelephoS-FrieS begegnen, auch der Phantasie unserer Künstler in ähnlicher Weise zu Gute kommt. September 1880.
B. Förster.
Ost-westliche Friedensaussichten. (Politische Correspondenz.)
Berlin, 14. October 1880. Zum zweiten Male seit weniger als Jahresfrist hat die Entwickelung
der Dinge in Frankreich die Pessimisten, die gerade auf dem Gebiet der auswärtigen Politik sich einer gewissen Autorität erfreuen, vollständig desavouirt.
Als in den letzten Tagen des JahreS 1879 das Ministerium
Frehcinet die Erbschaft Waddington'S antrat, trösteten fich die Propheten,
welche den Beginn der Aera Gambetta angekündigt hatten, mit den mehr witzigen als wahren Worten: das Ministerium Frehcinet sei das Cabinet
Gambetta ohne Gambetta.
In Wirklichkeit begann in dem Augenblick,
wo der Einfluß Gambetta'S in der einen Hälfte der Vertretung deS Landes, der Deputirtenkammer unbeschränkt geworden zu sein schien, die Reaction
gegen den präsumtiven Dictator.
Vielleicht wird schon eine nahe Zukunft
die Richtigkeit der Auffassung erweisen, daß Gambetta damals, als er mit Rücksicht auf die Zusammensetzung deS Senats, in welchem die gemäßigten
Elemente noch die Oberhand haben, sich weigerte, die Zügel der Re
gierung zu ergreifen, einen schweren politischen Fehler begangen hat.
Wer die Herrschaft, die sich ihm bietet, aus Vorsicht verschmäht, mag
den Klugen klug erscheinen; die Massen verlieren den Glauben an eine Kraft, die sich nicht bethätigt.
Auf alle Fälle ist der Einfluß Gambetta'S
seit dem 29. December v. I. nicht gewachsen.
Der Sturz Freycinet'S,
dessen nächste Ursachen noch in Aller Gedächtniß sind,
war das Werk
Gambetta'S; aber ohne die unbegreifliche Verblendung des Ministerpräsi
denten, der im Widerspruch mit dem officiellen und von der Kammer ge
billigten Programm in der Frage der nicht-autorisirten Genossenschaften mit der Curie zu tranSigiren begann, hätte Gambetta nicht einmal ver
suchen dürfen, einen Minister zu Fall zu bringen, dem er keinen anderen Vorwurf machen konnte,
als den, daß er in Fragen der auswärtigen
Politik die Zustimmung deS Kammerpräsidenten nicht eingeholt habe. 31*
Ost-westliche FriedcnSauöstchten.
432
Daß Frehcinet'S durch collegialische Intriguen erzwungener Rücktritt gerade in dem Augenblick erfolgte, wo die auswärtige Politik Frankreichs sich in einer Krisis befand, läßt errathen, daß für Gambetta die Verhand
lungen des Ministerpräsidenten mit der Curie nur Vorwand waren.
Der
Eifer, den Waddington in der griechischen Frage bewiesen hatte, konnte, solange Lord Beaconsfield die englische, wenig griechenfreundliche Politik
beherrschte, nur als diplomatische Gymnastik gelten. Gladstone aber glaubte in der griechischen Grenzfrage den Haken gefunden zu haben, mittelst
dessen er Frankreich auf den Boden seiner orientalischen Pläne hinüberziehen könne.
Gambetta oder ein Minister des Auswärtigen nach seinem Herzen
würde dieser Versuchung
erlegen
sein.
Der Sturz Frehcinet'S stellte
Gambetta von Neuem vor die Entscheidung.
Im December 1879 hatte
er die Zustimmung des Präsidenten der Republik zu der Umgestaltung deS Cabinets im Sinne der republikanischen Linken mit dem Versprechen er
kauft, Freycinet zu unterstützen jusqu’au bout; und damit recht eigentlich daS Signal zum Abfall der Radicalen gegeben, die er auch durch die ge
setzliche Rehabilitirung der amnestirten Communards nicht wieder versöhnen
konnte.
Die Septemberkrisis endete mit der ersten unverhüllten Nieder
lage Gambetta'S, nicht obgleich, sondern weil er sich durch seine Rede bei
dem Punsch der Handlungsreisenden in Cherbourg (20. August) als Träger der Revanche-Politik proclamirt hatte.
Die Ernennung des Unterrichts
ministers Ferry zum Präsidenten des Conseil und diejenige des greisen
Barthölemy-St.-Hilaire, des CabinetSsecretärS des Herrn Thiers zum
Minister der auswärtigen Angelegenheiten hat den Bruch zwischen Grävy und Gambetta vollendet.
Mit dem geflügelten Worte:
la France est
solle de la paix unterzeichnete Gambetta den vorläufigen Verzicht auf
die leitende Rolle.
Barthelemy-St.-Hilaire, der in seinem ersten Rund
schreiben die Fahne der Thiers'schen Politik wieder aufzog, beeilte sich die
Instructionen, welche Freycinet, in Uebereinstimmung mit dem Fürsten Bismarck und Baron Haymerle, dem französischen Geschwaderchef, Admiral Lafont ertheilt hatte, keinen Antheil an einer Action der internationalen
Flotte zu nehmen, lediglich zu bestätigen. ES ist ein merkwürdiger Zufall, daß derselbe Mann, der im April
dieses Jahres an den Herausgeber der „Deutschen Revue" schrieb:
„Die
englischen Wahlen werden wohl die Verhältnisse im Innern neu gestalten, aber sie werden nichts an der äußern Politik ändern; die Liberalen werden gezwungen sein, der Politik deS Lord Beaconsfield zu folgen, welche die
richtige war" als auswärtiger Minister berufen wurde, die „richtige" Po
litik Herrn Gladstone gegenüber aufrecht zu erhalten.
In seinem ersten
Schreiben vom 11. März, hatte Barthelemy-St.-Hilaire die Annäherung
Ost-westliche Friedensaussichten.
433
Deutschlands an Oesterreich, „dessen Interessen, Rußland gegenüber, die selben sind wie diejenigen Frankreichs und Englands" freudig begrüßt. Die
Verleugnung dieser gemeinsamen Interessen seitens der Gladstone'schen Regierung scheint Herrn BarthLlemy-St.-Hilaire in der Anerkennung der
„großartigen und in ihren Folgen möglicher Weise sehr wohlthätigen"
Versöhnungspolitik des Fürsten Bismarck Frankreich gegenüber nur noch mehr bestärkt zu haben.
Mag immerhin Gambetta seine Freunde damit
beruhigen, das Ministerium Ferry sei nur eine ephemere Combination, die verschwinden werde, wenn der große Tag gekommen sei — die Dienste,
welche die jetzige Regierung Frankreichs der Sache deS europäischen Frie dens leistet, sind so bedeutend und für die wettere Entwickelung der Orient
politik so entscheidend, daß selbst Gambetta schwerlich im Stande sein wird, daS Geschehene ungeschehen zu machen.
Die Weigerung Frankreichs,
Herrn Gladstone zu folgen, wenn er unter dem Borgeben, für die völlige
Durchführung deS Berliner Vertrags — für den die Liberalen sich erst begeistert haben, feit sie zur Herrschaft gelangt sind — die Macht Eng lands etnzusetzen, den durch diesen Vertrag geschaffenen Zustand zu be
seitigen bestrebt ist, wird sich gerade als hinreichend erweisen, England zu isoliren.
Die Türkei — daS ist das Raisonnement der englischen Po
litiker — bedroht den Frieden im Orient oder verhindert wenigstens die
Befestigung desselben, indem sie eine Reihe von Verpflichtungen, welche der Berliner Vertrag ihr auferlegt hat, unausgeführt läßt.
ES ist dem
nach die Pflicht und daS Recht der übrigen an dem Vertrage betheiligten
Mächte, die Erfüllung jener Verabredungen, eventuell durch Anwendung von Gewalt zu erzwingen. Unglücklicher Weise enthält der Berliner Vertrag keinerlei Stipulation
dieser Art.
Im Gegentheil liefern die Protokolle deS CongresseS von
Berlin den unumstößlichen Beweis, daß eS keineswegs die Absicht der auf demselben vertretenen Staaten, am wenigsten Englands war, eine der
artige Pflicht zu übernehmen oder ein solches Recht zu beanspruchen. Die
Frage, ob eine bezügliche Clausel in den Vertrag aufzunehmen sei, ist in den letzten Sitzungen deS CongresseS eingehend diScutirt worden.
In der Sitzung vom 8. Juli 1878 war es Fürst Gortschakoff, der im Interesse eines dauerhaften Friedens und von dem Wunsche beseelt, eine Garantie dafür zu beschaffen, daß Rußland die Opfer, welche es gebracht, nicht vergeblich gebracht und eine Wiederholung der peinlichen Krisis, der
der Congreß ein Ende gemacht, zu verhindern, die Frage an denselben richtete,
welches die Principien und Modalitäten seien, durch welche der Congreß die Ausführung (exäcution) seiner hohen Beschlüsse zu sichern beabsichtige.
Der Vorsitzende, Fürst Bismarck partrte zunächst diesen Hieb durch den
434
Ost-westliche FriedenSauSstchten.
Antrag, die russische Mittheilung auf die Tagesordnung der nächsten
Sitzung zu setzen.
In dieser erfolgte sofort die Erklärung des ersten türki
schen Bevollmächtigten Caratheodorh Pascha, daß eS besonderer Stipu lationen zu dem Zwecke gar nicht bedürfe.
Ein Theil der Abreden müsse
sofort auSgeführt werden; die Ausführung anderer habe der Congreß be
reits durch Einsetzung von Spectalcommissionen geregelt.
„Im übrigen
sichert die Unterzeichnung eines Friedensvertrags den in demselben ent
haltenen Stipulationen die feierlichste und verbindlichste Form".
Weitere
Bestimmungen würden nur Verwickelungen und Schwierigkeiten hervorrufen, im Gegensatz zu den Absichten des russischen Antrags.
Aufgefordert,
seinen Antrag zu formuliren, erklärte Fürst Gortschakoff, er sei bereit zu beantragen, daß die Mächte, welche an dem Congreß thetlnehmen, gemein schaftlich (collectivement) die Durchführung der Beschlüsse desselben ga-
ranttren möchten. Gerade mit Rücksicht auf die gegenwärtige Sachlage sind die nun
folgenden Auslassungen des Fürsten Bismarck, nicht in der Eigenschaft deS Vorsitzenden des CongresseS, sondern als Vertreter Deutschlands, über diesen Antrag von besonderem Interesse.
Fürst Bismarck betrachtet eS als
selbstverständlich, daß die Mächte, wenn sie sich über seit einem Jahr
hundert schwebende Fragen verständigen, das Recht haben, .die Ausfüh
rung der Verabredungen, welche ein Ganzes bilden, zu überwachen und zu controliren;
eS sei aber keineswegs seine Ansicht, daß jeder
Staat für sich verpflichtet sei,
starke Hand zur Ausführung
dieser Arrangements zu leisten und daß eine solidarische und gemeinsame Garantie extstire.
Fürst BiSmarck glaube nicht, daß
eS möglich sei, eine Formel zu finden, welche unter allen Umständen Europa gegen eine Wiederholung der Vorgänge, welche dasselbe aufgeregt
haben, sicher stelle.
Wenn die Mächte sich solidarisch verpflichteten, im
Nothfall Gewalt zu brauchen, so liefen sie Gefahr, bedenkliche Mißhellig keiten unter einander zu provociren.
Fürst BiSmarck ist überzeugt, Fürst
Gortschakoff werde befriedigt sein durch eine dahingehende Bestimmung,
daß die Gesammtheit der Verpflichtungen, welche in dem Vertrage über nommen werden, ein Ganzes bilde, dessen Ausführung die Mächte durch
ihre Botschafter in Constantinopel überwachen lassen mit dem Vorbehalt, Rath zu schaffen, im Falle die Ausführung mangelhaft sei oder verzögert
werde.
Fürst Gortschakoff habe wohl die auf den Schutz der Christen be
züglichen Beschlüffe im Auge; man könne aber nicht von der Voraussetzung
auSgehen, daß diese feierlich durch das vereinigte Europa gefaßten Be
schlüsse nicht auSgeführt werden würden.
Wenn eine Zuwiderhandlung
vorliege, so könnten die Mächte sich verständigen, um an neue diplo-
Ost-westliche Friedensausstchten. matische Zusammenkünfte zu appelliren.
435
In der Voraussetzung, daß
nicht nur den Botschaftern in Constantinopel, sondern den Regierungen selbst das Recht zustehen solle, Zuwiderhandlungen zu signalisiren, erklärt
sich Fürst Gortschakoff mit einer der Erklärung deS Fürsten BtSmarck ent sprechenden Bestimmung einverstanden.
Graf Schuwaloff nimmt seiner
seits Veranlassung, ausdrücklich auf den Pariser Vertrag von 1856 hin zuweisen.
Mehrere Artikel desselben, welche Vortheile für die christliche
Bevölkerung sttpulirten, seien nicht ausgeführt worden und das hätte zu
wiederholten Reibungen und zum Krieg und endlich zum Zusammentritt des CongresseS geführt.
Die Formel deS Fürsten Bismarck entspreche
dem Sinne der russischen Erklärung; eS bleibe nun noch übrig, die Mittel ausfindig zu machen, welche geeignet seien, die Controls auszuüben. Nach diesen Präliminarien bringt dann endlich in der Sitzung vom
10. Juli Fürst Gortschakoff einen formultrten Antrag ein, der also lautete:
„Nachdem Europa den Stipulationen des Vertrags von Berlin die feier lichste und verbindlichste Sanction ertheilt hat, betrachten die hohen con-
trahirenden Theile die Gesammtheit der Artikel der gegenwärtigen Acte als ein Ganzes von Stipulationen, deren Jn-Krast-Setzung sie zu con-
troliren und zu überwachen sich verpflichten, indem sie auf einer vollstän digen, ihren Intentionen entsprechenden Ausführung bestehen. — Sie be
halten sich vor, sich im Nothfalle über die Mittel zu verständigen, welche geeignet sind, ein Ergebniß zu sichern, dessen Gültigkeit in Frage stellen zu lassen weder die allgemeinen Interessen Europa'S noch die Würde der Großmächte ihnen gestatten."
Auf eine Anfrage Lord SaliSbury'S, ob die Ausdrücke deS ersten Satzes die Nothwendigkeit bezeichnen, tat Falle der Nichtausführung des
Vertrages eine fremde Macht (une force 6trang6re) zu Hülfe zu ziehen, constatirt Fürst Bismarck, nach seiner Auffassung könne das nicht der
Fall sein.
Nach der Ansicht deS Präsidenten verpflichten die Mächte sich
lediglich zu einer thätigen Ueberwachung, welcher im Nothfalle eine diplo
matische Action folgen würde.
Der zweite Theil deS Antrages behalte
allerdings den Mächten die Befugniß vor, sich weiterhin über die Mittel
und Wege zu verständigen, pflichtung aufzuerlegen.
aber ohne irgend einer derselben eine Ver Graf Andrassy schließt sich dem Gedanken deS
Fürsten Bismarck an; er erhebt auch keinen Widerspruch gegen den „Sinn" deS ersten Theils des russischen Antrages, wünscht aber eine schonendere Redaction, während Fürst Gortschakoff seine Fassung mit der „Würde
der Stipulationen Europa'S" motivtrt.
Lord Salisbury aber sagt ge
radezu, er würde bedauern, wenn eine Erklärung dieser Art in den Ver
trag ausgenommen würde und verlangt zunächst die Drucklegung deS
Ost-wchliche FriedenSairSstchten.
436 russischen Antrages.
Aber auch in der Sitzung vom 11. Juli, in der
die Schlußberathung stattfindet, erklärt Lord Salisbury,
er kenne keine
„feierlichere" und „verbindlichere" Sanction als die Unterschrift seiner Re
gierung und ziehe es vor, keine Verpflichtung zu übernehmen, von der er
annehme, daß sie nutzlos sei, weil es offenbar ist, daß Großbritannien auf die Ausführung des Vertrages Werth legt,
oder daß sie eine Be
deutung habe, deren Tragweite zu wenig begrenzt fei.
Diese Erklärung
bezieht sich auch auf die von dem Grafen Andrassy vorgeschlagene Faffung deS
ersten Alinea:
contrahirenden Theile betrachten die
„Die hohen
Gesammtheit der Artikel deS gegenwärtigen Vertrages als ein zusammen
hängendes Ganzes von Stipulationen, deren Jn-Kraft-Setzung zu controliren und zu überwachen sie sich verpflichten."
Graf Schuwalow endlich
schlägt eine neue Redaction vor, die sich von der österreichischen nur durch
die Hinzufügung des Vordersatzes:
„Nachdem die hohen vertragenden
Theile den Stipulationen des Berliner Vertrags ihre feierliche und bin dende Verpflichtung ertheilt haben", unterscheidet.
erklärt:
Caratheodory Pascha
„Die Pforte betrachtet jedenfalls die Unterzeichnung (des Ver
trags) als bindend und erkennt sich positiv und endgültig verpflichtet, Zusagen, welche sie in gleicher Eigenschaft wie alle übrigen Mächte ge
macht hat, zur Ausführung zu bringen. Schriftstücks
legt
Aber die Fassung des russischen
allen Vertragsmächten die
gegenseitige Verpflichtung
auf, die Ausführung der Stipulationen des Vertrags zu controliren; die Pforte würde sich also verpflichtet finden, eine Controle bei sich zuzulassen und ihrerseits über andere in gleicher Weise verpflichtete Staaten auS-
zuüben.
S. Excellenz hebt die Schwierigkeiten dieser Aufgabe hervor
und fügt hinzu, daß die Pforte bereit ist, den Vertrag, insoweit er sie betrifft, auszuführen; aber sie lehnt es ab, eine Controle auSzuüben oder
zuzulassen, in Erwägung, daß eine solche Verpflichtung neu und zu drückend ist für eine Regierung, welche weder auf die -Last noch auf das Vorrecht
Anspruch macht."
Nachdem Fürst Bismarck noch constatirt hat, daß er
seinerseits die Befürchtung, als ob der Antrag den Ausdruck deS Miß trauens gegen eine der Vertragsmächte enthalte, nicht theile, und Fürst
Gortschakoff seinen Antrag zu Gunsten desjenigen deS Grafen Schuwaloff zurückgezogen hat, kommt eS zur Abstimmung über den letzteren.
Die
österreichischen Bevollmächtigten haben keinen Einwand zu erheben.
Die
Bevollmächtigten von Frankreich,
sich ihr Votum vor.
abgegebenen
Großbritannien und Italien behalten
Die türkischen Bevollmächtigten haben den vorhin
hinzuzufügen.
Die Bevollmächtigten
Deutschlands nehmen den russischen Antrag an.
Derselbe ist also abge
lehnt.
Erklärungen
Erst bei
nichts
der Beschlußfassung
über den Antrag
des
Grafen
Ost-westliche Friedensaussichten.
437
Andraffy, gegen den auch Fürst Gortschakoff stimmt, motiviren Graf Corti und Herr Waddington ihre Zurückhaltung.
Graf Corti hält die Erklä
rung, welche Caratheodory Pascha abgegeben hat, für genügend.
Herr
Waddington weist insbesondere darauf hin, daß der Congreß, während er von der Türket große Opfer verlangte, die Absicht darauf gerichtet
habe, die Souveränität des Sultans in dem beschränkten, aber compacteri
Gebiet, welches in Zukunft sein Reich bilde, von jedem Eingriff frei zu halten.
Die vorgeschlagene Faffung aber scheine eine Art von dauernder
Vormundschaft über die türkische Regierung zu begründen; die zahlreichen
Artikel des Vertrags würden eine Reihe von Vorwänden für eine be ständige Einmischung in alle Handlungen der türkischen Regierung bieten.
Das Interesse und der offenbare Vortheil der türkischen Regierung sei es, alle Beschlüsse des CongresseS vollständig und ohne Hintergedanken
auszuführen." Das Resultat der Berathung war lediglich die Aufnahme in das
Protokoll des russischen Vorschlages, der Antwort der Pforte und des
Beschlusses des CongresseS,
von den Erklärungen des ersten türkischen
Bevollmächtigten Act zu nehmen. Der Berliner Vertrag
welcher die
enthält demnach keine Bestimmung,
Mächte ein Recht,
auS
geschweige denn eine Pflicht herleiten
könnten, durch eine gemeinsame Action die Türkei zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen zu zwingen.
Ja, selbst die Annahme des russischen An
trages im Sinn der Erklärungen des Fürsten Bismarck würde immer noch jeden Schritt ausgeschlossen haben, der auf Anwendung von Gewalt hinauS-
ginge.
Wenn aber auch diese Lücke durch gemeinschaftliche Beschlüffe ex
post auSgefüllt werden könnte:
eine von einem oder mehreren Staaten
unternommene Exemtion von Vertragsbestimmungen, welche der verpflich
tete Theil bisher aus irgend einem Grunde nicht erfüllt hat, würde voll
ständig auS dem Rahmen des Vertrags herausfallen. Das Eingreifen der Großmächte in der montenegrinischen Angele genheit
ist denn auch keineswegs auf Grund eines von den Congreß-
mächten vertragsmäßig beanspruchten Rechts erfolgt.
Die Pforte hat zu
keiner Zeit den auf dem Berliner Vertrag beruhenden Anspruch Monte negros auf eine Gebietserweiterung in Nordalbanien bestritten.
Sie hat
thatsächlich schon im Jahre 1879 Spuz und Podgorizza an Montenegro übergeben.
Als dann die Uebergabe von Gusinje und Plawa durch die
albanesische Liga verhindert wurde, hat eine unter Zustimmung der Groß mächte am 12. April c. abgeschlossene Convention, die sog. Convention
Corti, Montenegro an Stelle jener Gebiete das Zam-Gebiet, südlich von
Podgorizza, zugesprochen.
Den Albanesen aber gelang eS, auch die AuS-
438 führung
Ost-westliche FriedenSauSstchten. dieser Convention zu verhindern.
Um einem Zusammenstoß
zwischen Montenegrinern und Albanesen zuvorzukommen, ließen die Groß mächte noch einmal ihre Vermittelung eintreten und machten zur Zeit
der Berliner Conferenz über die griechische Frage der Pforte den Vor schlag, den Hafen und die Stadt von Dulcigno an Montenegro abzu
treten.
Als die Beschlüsse der
Conferenz,
welche auch das von den
Albanesen beanspruchte Gebiet von Janina Griechenland zuweisen, die
Aufregung in Albanien steigerte, trug die Pforte Bedenken, mit Gewalt gegen ihre albanesischen Unterthanen, die sich unter einheimischen Häupt
lingen einer gewissen Unabhängigkeit erfreuen, zu Gunsten Montenegro'-
vorzugehen.
Unter diesen Umständen forderten die Mächte in einer An
fang August in Constantinopel übergebenen Collecttvnote die Pforte auf,
binnen drei Wochen entweder die Convention Corti auszuführen oder, falls sie die Abtretung von Dulcigno vorziehe, sich mit den Mächten zur
Durchführung eine- solchen Beschlusses zu vereinigen.
Das ist
die diplomatische Form, in der, der Pforte gegenüber in schonendster Weise, die vielbelächelte „Flottendemonstratton" in Scene gesetzt wurde.
schiffe aller Congreßmächte,
scheinen
an
also auch der Pforte,
Kriegs
sollten durch ihr Er
der albanesischen Küste den Widerstand der albanesischen
Liga gegen die Abtretung Dulcigno'S an Montenegro brechen.
Hätte die
Pforte den Muth oder den guten Willen gehabt, auf diesen Plan rück
haltlos einzugehen, so wäre das Gelingen desselben mindestens wahrschein lich gewesen.
In Constantinopel aber fürchtete man, — und nicht ganz
ohne Grund — daß unter dem treibenden Einfluß Gladstone'S, der be dem
Austritt
ständig
mit
drohte,
auch die Regelung
Englands der
aus
dem
europäischen
Concert
griechischen Grenzfrage nach den Be
schlüssen der Berliner Conferenz und die Durchführung der im Berliner Vertrag
vorgesehenen
Türkei durch
Reformen
in
Flottendemonstrationen
vor Allem, daß Gladstone,
der
asiatischen
erzwungen
und
werden
europäischen
würden,
und
dessen Ziele in der Orientpolitik ja kein
Geheimniß sind (f. die Polit. Correspondenz im September-Heft) die Durchführung aller Bestimmungen des Berliner Vertrags, welche der
Pforte Pflichten auferlegen, nur als Deckmantel für eine Umgestaltung der
staatlichen Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel verfolge, welche den „un aussprechlichen Türken" zu dem Rückzug über den Bosporus zwingen solle.
Daß Gladstone auf den Beistand Rußlands rechnen könnte, unterliegt keinem Zweifel.
Wenn eS der englischen Abenteurerpolitik gelang, Italien,
dessen Stammesgenossen in Triest und Trient angeblich der österreichischen Unterdrückung ausgesetzt sind, in die Action hineinzuziehen, und Frankreich entweder zu thätiger Mitwirkung oder zu einer im Orient neutralen, in
430
Ost-westliche Friedensaussichten.
Europa die Gelegenheit zu einem Revanchekrieg abwartenden Haltung zu
bestimmen, so konnte die Türkei in dem alsdann unvermeidlichen Welt krieg auf die nothgedrungene Bundesgenossenschaft Oesterreichs, dessen
Stellung auf der Balkanhalbinsel in ihren Grundlagen gefährdet wurde, und deS mit diesem verbündeten Deutschland rechnen.
Im Falle des
Sieges der mit dem Halbmond verbündeten Mächte schien auch eine der Türkei günstige Abänderung deS Berliner Vertrags keineswegs ausge
schlossen. Die Politiker oder Intriganten der hohen Pforte hatten nur eins
übersehen,
daß sie nämlich die eingebildeten
Gefahren
zu
wirklichen
machten, die wirklichen vergrößerten, indem sie die sofortige Regelung der
montenegrinischen Frage verweigerten.
DaS Gebiet, welches die Pforte sich
in dem Präliminärvertrag von San Stefano Rußland gegenüber ver pflichtet hatte, an Montenegro abzutreten, war erheblich größer als der ganze montenegrinische Staat.
Was diesem auf dem Berliner Congreß
belassen wurde, hätte die Pforte so schnell als möglich abtreten müffen,
anstatt den kleinen, auf russischen Schutz pochenden Nachbar zwei Jahre lang mit mindestens anfechtbaren Vorwänden hinzuhalten.
Nicht glück
licher war die Tactik der Pforte in der griechischen Frage. Das Minimum
des Gebietes, welches die Pforte durch Artikel 24 des Vertrages von Berlin, beziehungsweise durch das 13. Protokoll des CongresieS „eingeladen"
wird, an Griechenland abzutreten, ist deutlich genug bezeichnet; die Aner
bietungen aber, welche seitens der Pforte in den langwierigen diplomati schen Verhandlungen der griechischen Regierung gemacht wurden, waren so ungenügend, daß die türkischen Vorschläge vielmehr eine Verhöhnung
der Berliner Stipulationen, als eine Ausführung derselben gewesen wären.
Die Türkei darf nicht vergessen, daß für sie die Befestigung deS Berliner
Vertrages geradezu eine Existenzfrage ist; und daß demnach das Wort Waddington'S in der Sitzung des CongresieS vom 11. Juli 1878 „das
Interesse und der offenbare Vortheil der türkischen Regierung ist die voll ständige und rückhaltlose Ausführung aller Beschlüsse deS CongresieS" der Leitstern ihrer Politik sein muß.
Jeder Versuch, aus den Rivalitäten
und Gegensätzen zwischen den einzelnen Mächten, welche mit ihr den Ver trag von Berlin abgeschlossen haben, Nutzen zu ziehen, muß zum Nach
theile der Türkei auSschlagen.
Nicht auS Sympathie mit ihr haben die
Congreßmächte den Vertrag von San Stefano in einer Reihe von Be
stimmungen aufgehoben, so daß die Existenzfähigkett deS türkischen Reiches
gewahrt worden ist.
Der Vertrag von Berlin enthält einen dem jetzigen
Verhältniß der Kräfte entsprechenden Compromiß zwischen den europäischen Großmächten.
Wenn die Pforte sich durch Haß oder Liebe verleiten läßt,
440
Ost-westliche Friedensaussichten.
diesen Compromiß in Frage zu stellen, so muß sie wissen, daß in dem
neu auSbrechenden Kampfe ihr Gebiet und ihre Existenz der Einsatz sind. DaS Interesse der Türkei ist absolut solidarisch mit der Aufrechterhaltung
deS europäischen Friedens.
Daß es gerade die Botschafter Deutschlands
und Frankreichs, der beiden Staaten, auf deren Feindschaft der Plan der
Vernichtung der Türkei begründet werden sollte, gewesen sind, welche den Sultan von der Nothwendigkeit einer raschen Erledigung
zunächst der
montenegrinischen Frage überzeugt haben, möchte man als ein gutes Omen
für die Politik der Zukunft auffassen.
Vielleicht sind die Friedensworte,
welche Fürst Bismarck, als er im September v. I. zum Abschluß des
deutsch-österreichischen Bündnisses in Wien war, bei einem Besuche auf der dortigen französischen Botschaft an Herrn Teisserenc de Bort richtete,
doch nicht so ganz auf steinigten Boden gefallen, als der wenig Monate
später erfolgte Sturz des Ministeriums Waddington glauben machen mußte. „Ich ergreife bereitwillig diese Gelegenheit, sagte der Reichskanzler nach dem
seiner Zeit im „Temps“ veröffentlichten Berichte, um Ew.
Excellenz die förmlichste und bestimmteste Versicherung zu geben, daß die intimen Beziehungen Oesterreichs und Deutschlands Frankreich keineswegs beunruhigen noch seine Empfindlichkeit erregen dürfen.
Sie können die
guten, zwischen Deutschland und Frankreich bestehenden Beziehungen weder
vermindern noch ändern.
Ich glaube im Gegentheil, daß in einer nahen
Zukunft die Innigkeit unserer Beziehungen größer werden wird und daß
wir die besten Freunde von der Welt sein werden."
Aus Siebenbürgen.
Welche Bedeutung gewisse politische Schlagworte durch die Praxis der Re gierung in Ungarn gewinnen, und welches Vertrauen in Folge dieser Aus
legung und Anwendung selbst die wichtigsten Acte der staatlichen Gesetzgebung verdienen, dafür bietet ein schlagendes und nicht bloß für die Bevölkerung Ungarns lehrreiches Beispiel der Begriff der staatlichen „Aufsicht" und
„Oberaufsicht", wie ihn in jüngster Zeit zwei Verfügungen der Staatsregierung zur Geltung gebracht haben.
Der eine dieser beiden Fälle ^ist folgender. Auf Grund eines Gesetzes von 1868 bestehen auch in Ungarn Handels
und Gewerbekammern.
Eine derselben hat ihren Sitz in Kronstadt und umfaßt
beinahe den ganzen Süden und Osten Siebenbürgens. „Beförderung der Handels- und Gewerbeintereffen".
Ihre Bestimmung ist
Ihre Kosten werden durch
Umlagen auf die einzelnen Handelsleute und Gewerbetreibenden deS Kammer bezirkes gedeckt, deren Eiuhebung durch die k. Steuerämter erfolgt.
Die Kam
mern verfassen selbst ihren Jahresvoranschlag, welcher der Bestätigung des Handelsministers bedarf, dem dieselben überhaupt unterstehen, dessen Verord
nungen sie unmittelbar empfangen und vollziehen.
Beschlüsse der Kammer
werden mit Stimmenmehrheit der anwesenden Stimmberechtigten gefaßt.
Diese
Beschlüsse bedürfen einer Genehmigung des Ministers nicht; derselbe kann aber,
wenn die Kammer ihrem Berufe nicht entspricht oder ihren gesetzlichen Wirkungs
kreis überschreitet, dieselbe auflösen.
Die Kammern sind keine Verwaltungsbe
hörden, sondern in allem Wesentlichen nur anregende, begutachtende Hülfsorgane der Regierung einerseits, der Handels- und Gewerbetreibenden andrerseits.
Zu ihrem Berufe gehört unter andrem auch nach dem Wortlaute deS bezüg
lichen Gesetzes „die Fachbildung und überhaupt die Entwickelung des Handels und der Gewerbe unmittelbar zu fördern". Diese Aufgabe hat nun der k. ungarische Handelsminister in folgenden Zu sammenhang mit der Unterordnung der Kammer unter den Minister und der
ihm über dieselbe zustehenden Aufsicht gebracht. Zum Kronstädter Kammerbezirk gehört das nach der Volkszählung von 1870 nur 4364 Seelen zählende magyarische Städtchen Sepst Szent György,
welches jedoch gegenwärtig die Ehre genießt, den Minister-Präsidenten Tisza zum Reichstagsabgeordneten gewählt zu haben, nachdem er in seinem früheren
Aus Siebenbürgen.
442
Wahlorte Debreczin durchgefallen war.
Die Versuchung lag nahe, die Prämie
für dieses Verdienst sich unter Anderm auch dadurch auszahlen zu lasten, daß die Kosten der städtischen Gewerbeschulen auf die Kronstädter Kammerkaffe ge legt würden.
Als die Kammer, welche keine andre Gewerbeschule im ganzen
Kamuierbezirke materiell unterstützt, und am wenigsten jene eines Ortes unter stützen konnte, aus dem zu den jährlichen Kammerbedürfniffen bloß 115 Gulden beigetragen werden, diese Zumuthung ablehnte und auch dem Minister gegen
über, der sie unter Hinweisung auf sein gesetzliches Verfügungsrecht forderte, sich Gegenvorstellungen erlaubte und schließlich sich weigerte, zu der begehrten
Mehrbelastung des ganzen übrigen Bezirkes zu Gunsten eines seiner unproductivsten Glieder mitzuwirken, fand der Minister nicht nur, daß die Kron städter Handels- und Gewerbekammer ihrem Berufe nicht entspreche, und löste
dieselbe auf, sondern — und dazu mindestens gewährte das Gesetz ihm kein Recht — er verfügte auch die Auszahlung der fraglichen Unterstützung aus der Kammerkaffe an die Gewerbeschule von Szent György und dadurch mittelbar
eine ständige Belastung der sämmtlichen zum Kammerbezirke gehörigen Handelund Gewerbetreibenden und
exequirte durch dieses „Aufsichtsverfahren"
die
Drohung, mit welcher der Bürgermeister vou» S. Szent György die betreffende
Unterstützung von der Kammer früher zu erzwingen versucht hatte. Dem Handelsminister zur Seite trat fast gleichzeitig der Unterrichtsminister in einem andern noch merkwürdigeren Falle.
Als 1868 der ungarische Reichs
tag die definitive Vereinigung Siebenbürgens mit Ungarn im Wege der Gesetz gebung ordnete, behielt er Seiner Majestät bezüglich der „sächsischen Nations-
universiät" d. i. der politischen Oberbehörde der sächsischen Kreise, deren gesetzlicher
Wirkungskreis im Uebrigen — die Ausübung der Rechtspflege ausgenommen — ausdrücklich gewährleiste: wurde, das „im Wege des verantwortlichen ungarischen
Ministeriums auszuübende oberste Beaufsichtigungsrecht" vor.
Diese
Universität besaß und besitzt als juristische Person auch ein nicht unbedeutendes gemeinschaftliches Vermögen, dessen Erträgnisse seit 1850 nahezu ausschließlich
zur Unterstützung von Schulen auf dem Sachsenboden (fundus regius, terra Saxonum) verwendet wurden.
Der magyarische Chauvinismus, seit 1868 in
mächtigem Fortschreiten begriffen, empfand die Zusicherungen, welche die Gesetz gebung damals der sächsischen Nationsuniversität gemacht hatte, bald als lästig,
hob 1876 durch ein neues Gesetz die Grundlage dieser politischen Körperschaft, die uralte Kreiseintheilung des fundus regius, auf und beließ die „sächsische
Universität" bloß als „eulturelle Behörde", „betreffs der Verfügung über das Universitätsvermögen" ausdrücklich aussprechend:
„das betreffs des Ver
mögens der sächsischen Universität bestehende Eigenthumsrecht bleibt durch dieses Gesetz unberührt.
Die Fragen, welche über dieses EigenthumSrecht etwa auf
tauchen könnten, werden durch richterliches Urtheil entschieden."
Eine weitere
Bestimmung desselben Gesetzes hält die „freie Verfügung" über die Einkünfte
dieses Vermögens der Universität zu culturellen Zwecken aufrecht.
Die Univer
sität beschließt nach ihrer durch den Minister genehmigten Geschäftsordnung
Aus Siebenbürgen.
443
durch Stimmenmehrheit; ihre Beschlüsse bedürfen der Genehmigung des Mini
sters.
Der Regierung ist im Allgemeinen das „Aufsichtsrecht" gewahrt. An diesem Punkte setzte der k. ungarische Unterrichtsminister in dem nach
stehend gezeichneten Falle ein, dessen Analogie mit jenem der Kronstädter Han
dels- und Gewerbekammer nicht zu verkennen ist; nur daß eS sich hier um weit mehr, um einen widerrechtlichen direeten Eingriff in das Vermögensrecht einer
juristischen Person handelt.
In jedem Jahre liegen der sächsischen Universität bei Gelegenheit ihrer Ge neralversammlung zahlreiche Unterstützungsgesuche von schulerhallenden Körper
schaften auf dem Königsboden zur Verhandlung vor, und sie berücksichtigt die selben nach Maßgabe ihres BermögenSstandes seit der gesetzlichen Gleichstellung
aller Nationalitäten und Religionen (1868) auch thatsächlich „ohne Unterschied
der Religion und Sprache".
1878 hatte sie demgemäß nicht unbedeutende jähr
liche Subventionen bewilligt: für die evangelische Oberrealschule in Hermann
stadt (3000 Gulden), die griechisch orientalische Schule in Mühlbach (1000 Gul den), die griechisch orientalische Schule in Broos (1000 Gulden), die Ackerbau
schule in Kronstadt und jene in Bistritz (je 250 Gulden). Der Generalversammlung vom Jahre 1880 lagen wieder viele ähnliche Unterstützungsgesuche vor.
Sie er
ledigte dieselben ohne Ausnahme dahin, daß, da der Stand deS Universitätsvermögens die Systemistrung neuer, alljährlich wiederkehrender Ausgaben nicht ge statte, dem bez. Gesuche dermalen nicht willfahrt werden könne.
Unter den so beschiedenen und abgewiesenen Gesuchen befand sich auch
eines der römisch katholischen Kirchengemeinde in Kronstadt, welche für das dortige römisch katholische Gymnasium eine jährliche Dotation aus den Mitteln der
sächsischen Universität beanspruchte.
Diese Anstalt gehört zu jenen, welche aus
dem in der Verwaltung deS Unterrichtsministeriums stehenden großen römisch
katholischen Religionsfond erhalten werden und bezüglich ihrer Leitung unmittel
bar dem Unterrichtsministerium unterstehen.
Dieser Umstand hatte den gegen
wärtigen Unterrichtsminister bewogen, daS durch den römisch katholischen Bischof
Siebenbürgens eingebrachte Unterstützungsgesuch dem Vorsitzer der Universität ganz besonders zu empfehlen.
Diese selbst aber fand keinen Anlaß dasselbe an
ders als die übrigen zu bescheiden. Bei allen erfolgte der Beschluß ohne Sonder meinung; bei diesem einzigen fand eS ein walachischer Abgeordneter für nützlich, eine solche einzubringen, um dem Minister die Handhabe zu bieten, seinen Willen
durchzusetzen. Wer mit den thatsächlichen Verhältnissen unbekannt ist, wird eS kaum be greifen, wie ein Abgeordneter romänischer Nationalität und griechisch orientalischer
Religion die außerordentliche Dotation einer Schule so weitgehend, vertteten könne, deren wesentliche Aufgabe vom herrschenden Regierungssystem thatsächlich
als Magyarisirung gefaßt wird.
Aber viele Romänen (Walachen) Siebenbür
gens spielen seit langer Zeit ein doppeltes Spiel: während ein Theil von ihnen dem Zuge des Blutes folgend mit dem benachbarten Rumänien sympathisirt, auf dessen Schulwandkarten Siebenbürgen wohl schon als Theil des souveränen
444
Aus Siebenbürgen.
Fürstentums (? Königthums) erscheint, heftet ein andrer sich an die Sohlen der in Ungarn herrschenden Gewalt, der sie zur Vernichtung des Deutschtums gerne
angenommene und gut belohnte Schergendienste leistet.
Sie treiben dem Jäger
das Wild in den Spieß, und als ein bequemes Mittel für diese Jagd ist die
„Sondermeinung" von der gegenwärtigen Regierung erfunden und den Trei bern in die Hand gegeben.
Die Mehrheit mag beschließen, was sie will; der
Minister bestätigt den in einer „Sondermeinung" enthaltenen Antrag und be
fiehlt dessen Durchführung dem ihm allein thatsächlich verantwortlichen Vorsitzer der Universität.
Auf diesem Wege ist früher bereits die Geschäftsordnung der
Generalversammlung der sächsischen Universität entstanden und für den Vorsitzer
derselben, der nach dem Wortlaute des Gesetzes bloß den Titel eines Grafen
der Sachsen führt, thatsächlich aber Obergespan des Hermanstädter Comitates und demnach Regierungsbeamter ist und als solcher sein Einkommen aus dem Staatsschätze bezieht und selbst der sächsischen Universität gegenüber nicht deren
Protokollssprache (die deutsche) sondern die „Staatssprache" gebraucht, nicht nur eine Dienstwohnung in einem Hause der sächsischen Universität sondern selbst eine Functionszulage von 2000 Gulden jährlich aus der Universitätskasse vom Mi
nister angewiesen worden.
Auf Grund der, wie oben erwähnt worden, von einem einzigen Abgeordneten eingebrachten Sondermeinung hat jetzt der Unterrichtsminister nach dem Wortlaut
der bezüglichen Verordnung vom 23. März 1880 in Betreff der für das römischkatholische Gymnasium in Kronstadt angesuchten Dotation „den von Dr. Pacurariu
in seiner Sondermeinung gestellten Antrag anzunehmen und zu bestätigen be
funden", unter Anerkennung aller in dieser Sondermeinung enthaltenen Motive.
Der Minister hat durch diesen Vorgang zweierlei gethan: er hat sich zum Theilnehmer der in der Sondermeinung enthaltenen unwahrhaftigen Rabulistik gemacht, worauf jetzt nicht weiter einzugehen ist, und er hat einen Eingriff sich erlaubt in das Vermögensrecht der sächsischen Universität, indem er selbst gegen
das Specialgesetz etwas bestätigte, was niemals und von Niemand beschlossen worden, dem nach dem Gesetze das Verfügungsrecht über dieses Eigenthum zu
steht.
Der Minister kann und darf nach diesem Gesetze einem Beschlusse der
Generalversammlung der sächsischen Universität seine Genehmigung versagen und dadurch dessen Ausführung hindern, aber er darf in Betreff des Eigen thumes derselben nicht willkürlich seinen Willen,
hier das gerade Gegentheil
dessen, was die Eigenthümer beschlossen, zur Ausführung
bringen.
Sonst
würde das Gesetz Lüge und das so geschaffene Eigenthum Diebstahl werden.
DaS kann der ungarische Cultusminister nicht gewollt haben und nicht wollen;
aber sein Vorgang steht unter dem verhängnißvollen Irrthum, der das Recht
der Aufsicht, welche das Gesetz begründet, mit dem unbeschränkten Ver fügungsrechte selbst dort zu verwechseln in Gefahr steht, wo die Heiligkeit des
Eigenthums in Frage kommt. Die nächste Generalversammlung der sächsischen Universität darf nach ihrer
Pflicht dem Gesetze und dem gemeinschaftlichen Eigenthume gegenüber nicht
Aus Siebenbürgen.
445
anders, als den Minister auf diese Consequenzen seines Vorganges aufmerksam
machen und um Rücknahme seiner Verfügung ersuchen; und sie muß, wenn
diese Rücknahme nicht erfolgt, den Weg betreten, den ihr dasselbe Gesetz an weist, das richterliche Urtheil gegen diesen Eingriff in's Privatrecht anrufen,
will sie nicht das. ganze Vermögen der sächsischen Universität für alle Folgezeit ministeriellem Belieben preisgeben. Für alle aber, nicht bloß für die hier zunächst Betheiligten, erwächst aus
solchen Erfahrungen die Pflicht, genau zu prüfen, wo wieder einmal staatliches
Aufsichtsrecht in Beziehung auf nichtstaatliche Körperschaften und deren Ver mögen im Wege der Gesetzgebung festgestellt werden soll, damit keine Lücke und
keine Hinterthüre selbst für menschlichen Irrthum offen bleibe. Dieser Fall wird eintreten, wenn demnächst das staatliche Oberaufsichts
recht in Betreff der nichtstaatlichen Gymnasien und
Realschulen nach dem
Wunsche der gegenwärtigen Regierung geregelt werden soll.
Sowohl die zehn
Punkte, welche der Cultusminister im April 1879 den von ihm zu einer En quete eingeladenen geistlichen und weltlichen Vorständen der protestantischen Superintendenzen zur Aeußerung vorlegte und welche von diesen fast einstimmig
abgelehnt wurden, als auch die bald darauf an den Reichstag erfolgte Vorlage
eines Gesetzentwurfes
„über den Gymnasial- und Realschulunterricht", sowie
endlich der diese Vorlage der Regierung vielfach verändernde, in den meisten Punkten verschlechternde Bericht des Unterrichtsausschusses, maSkiren für den,
der sehen will, kaum nothdürftig das letzte Ziel: die ganze und wesentliche Lei
tung des confessionellen UnterrichtswesenS und des Vermögens dieser Schulen in die Hände der Regierung zu nehmen und den Kirchen nur das zweifelhafte Vergnügen zu belassen, die Kosten für diese Staatsschulen über die Staats lasten hinaus von ihren Gliedern einzutreiben.
Das Urtheil, welches unlängst
ein Reichstagsabgeordneter in öffentlicher Wählerversammlung über alle diese
Entwürfe ausgesprochen: „Europäisch in seinen Grundsätzen, astatisch in seinen
Consequenzen,
perfid in seinen letzten Zielen, tragen sie an der Stirne die
Didaktik, im Herzen die Magyarisirung und bedeuten das völlige Brechen mit
zum Theil gar wohl berechtigten und heilsamen Verhältnissen und Einrichtungen Ungarns, den allerradikalsten Doctrinarismus"; erscheint nur dem Fremdling
übertrieben. Wenn sie selbst für den in Ungarn allmächtigen römisch-katholischen Episcopat durch die Aenderungen des Unterrichtsausschusses so unannehmbar wurden,
daß in der letzten Stunde noch das Abgeordnetenhaus ihre Absetzung von der Tagesordnung, auf die sie 24 Stunden früher dnrch Beschluß desselben Hauses
gesetzt worden, annahm; — so sollte das für die Protestanten wahrlich keine
Beruhigung, sondern eine erhöhte Verpflichtung sein, durch die lockenden Aus sichten, welche sich auch hier dem magyarischen Chauvinismus bieten, nicht sich
verblenden zu lassen über die Gefahren, welche durch Centralisirung des Unter richtswesens in einem Staate drohen, dessen Bevölkerung zu % katholisch ist, dessen Episcopat einen fast unbeschränkten Einfluß besitzt, dessen Cultusminister Preußische Jahrbücher. Äd. XLVI. Heft 4.
32
Aus Siebenbürgen.
446
heute zwar ein Mann europäischer Bildung, daneben aber doch Affiliirter des
Franziskanerordens ist und schon morgen ein ganzes Mitglied jenes EpiscopateS
sein kann, der nicht nur im XVII. Jahrhundert seine Pazmany'S hervorge bracht, sondern auch soeben nach nicht widersprochener Angabe eine- Pester Blattes den Beschluß gefaßt hat, im stricte« Gegensatz gegen daS Staatsge
setz bei gemischten Ehen jede active Theilnahme der Pfarrgeistlichkeit zu ver bieten. Rom, so scheint eS, macht jetzt auch hier mobil, und der ungarische Episcopat, den magyarische» Chauvinismus klug benützend, schickt fich an, jene
aggressiven Grundsätze zur Ausführung zu bringen, denen die letzten, leider nur von wenigen gekannten Synodalbeschlüffe von Gran und Kalocsa (1858 und
1863) den unzweideutigsten Ausdruck gaben.
ES wird abzuwarten sei», ob die
Protestanten Ungarns der Verlockung folgen oder, dem Beispiele ihrer Väter
getreu, ihre gesetzlich wohlbegründete Autonomie in diesem Lande und unter
seinen Verhältnissen auch fernerhin als das „noli me tangere“ festhalten wollen. DaS aber werden sie zu bedenken haben, daß wenn sie den AuSweg wählen
wollten, die deutsche evangelische Kirche im Lande und ihre Cultur, eben weil sie deutsch ist und bleiben will, dem geschilderten „Oberaufsichtsrechte" deS Staates auszuliefern und die Gefahren dieser Aufsicht nur von sich allem
abzulenken gedächten, dies weder edel noch klug gehandelt wäre, und jedenfalls
nicht geschehen würde, ohne daß die so Preisgegebenen ihren Nothschrei in alle
Welt hinaus zu erheben sich gezwungen fühlen würden.
Notizen. Die Herder-AuSgabe.
Die von Dr. Bernhard Suphan geleitete kritische Ausgabe der sämmt lichen Werke Herders (im Verlag von Weidmann in Berlin), die von allen Freunden der deutschen Literatur mit Freuden begrüßt wurde, schien eine Zeit
lang zu stocken, hauptsächlich wegen der Ueberbürdung deS Herausgebers mit Amtsgeschäften; da nun darin einige Erleichterung eingetreten ist, schreitet ste rüstig vorwärts, ja mit einer Lebhaftigkeit, ans die man zu Anfang deS Unter
nehmens kaum rechnen durste. Erschienen ist zunächst eine Serie, welche Herders Jugendschrifte» bis in'S
Jahr 1770 umfaßt, Bd. 1—4; eine zweite Bd. 10—12, welche die Briefe über
das Studium der Theologie und den Geist der Ebräifchen Theologie, 1780 bis 1783 enthält.
So eben erscheinen Bd. 19 und 22; vier weitere noch im Lauf
des Jahrs.
Die Kenner sind einstimmig in der Bewunderung dieses Werks gewesen, das bis jetzt, sowohl was die kritische Bearbeitung als die äußere würdige Aus
stattung betrifft, fast einzig in unserer Literatur besteht.
Es ist billig, auch das
Verdienst der Männer hervorzuheben, die dabei mitgewirtt haben. In erster Linie steht natürlich der Herausgeber selbst.
Mit einer uneigen
nützigen aufopfernden Hingebung, zuerst fast ganz ohne Hülfe, hat er daS un
geheure Material — sämmtliche Handschriften sind ihm vom Preußische« CultuSministerium zur Verfügung gestellt — durchgearbeitet, er hat mehrere Jahre seines Lebens darauf verwandt.
Mit großem Scharfsinn auSgestattet, aber
ebenso gewiflenhaft in der Selbstkritik, ist er in diesem bestimmten Feld, daS aber, bei Herders Eigenart, sämmtliche Gebiete des geistigen Lebens gleich nahe berührt, unzweifelhaft der erste Kenner geworden.
Er hat sehr tüchtige Mitarbeiter gefunden, die sich ganz seine Methode angeeignet haben — Director Redlich, Professor Jmelmann, Dr. Naumann u. A.
Er hat in alle» zweifelhaften Fällen unverdrossen die durch ganz Deutschland verstreuten Gelehrten zu Rathe gezogen, und bereitwillig Auskunft erhalten.
DaS größte Verdienst hat darum Prof. Haym, dessen Herder-Biographie, was
man auch etwa gegen die Darstellung einwenden möchte, als Forschung ein Meisterstück ist.
Nicht hoch genug ist dem Herausgeber anzurechnen, daß er Maaß zu halten
weiß; er überschüttet den Leser nicht mit unnöthige» Notizen; was er giebt, ist für daS Verständniß nothwendig.
Und er hat sehr schöne Sachen gefunden.
Notizen.
448
Das Preußische Cultusministerium hat das Unternehmen richtig gewürdigt
und ihm einige Unterstützung geliehen; noch neuerdings hat es den öffentlichen
Lehranstalten die Anschaffung des Werks empfohlen. Aber ebenso großen Dank verdient der Verleger, Herr Reimer (Weid mann), der mit einer seltenen Liberalität und einem ebenso seltnen Blick für das Große und Würdige die äußern Geschäfte geleitet hat.
Es war doch
immer ein großes Wagniß, und ohne seine Bereitwilligkeit wäre vielleicht das Ganze gescheitert.
An dem Publicum ist es nun aber, dafür zu sorgen, daß das Vertrauen
in die Vernunft der Nation nicht getäuscht werde; und an der Presse, das
Publicum wiederholt daran zu erinnern.
Julian Schmidt.
Verantwortlicher Redacteur: H. v. T r e i t s ch k e. Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.
Landgesetze und Landwirthschaft in England. Bon
Ludwig Frecheren von Ompteda.
(Schluß.)
in. Die Wirkungen de- bestehenden Recht-zustandes. Die strenge Gebundenheit des Grundbesitzes in England, wie wir
sie kennen lernten, hat jetzt seit drei Jahrhunderten bestanden.
Wir
forschen nach den Wirkungen dieses Systems auf die heutigen Zustände
und fragen daher:
1.
Wie hat sich die Verthetlung des Landes ausgestaltet?
2.
Welche Wirkungen haben sich für die wtrthschaftliche Lage der
Grundbesitzer und ihrer Familien ergeben? 3.
Wie haben sich die Pachtverhältnisse und die Leistungen der land-
wirthschaftlichen Produktion entwickelt? 4.
Wie ist die Lage der ländlichen Arbeiter?
5.
Welche allgemeinen politischen und sozialen Erscheinungen sind
zu Tage getreten?
6.
Wie verläuft der Verkehr mit Grundstücken unter den jetzigen
Rechtsformen?
1. Die Verthetlung des Landes.
Nachdem Wilhelm der Eroberer sein neues Königreich England unter
sein Gefolge vertheilt hatte, ließ er den gesummten.Grundbesitz in dem berühmten „DomeSday Book" verzeichnen, im Jahre 1086.
Nach diesem großen ReichSgrundbuche deö damaligen England, zu
welchem Wales und die vier nördlichen Grafschaften noch nicht gehörten,
betrug: Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 5.
Lanbgesetze und Landwirthschaft in England.
450
die Zahl der großen und der rittermäßigen Vasallen . „ „ „ zu Kriegsdienst verpflichteten Freisaffen . „ rentpflichtigen Bauern............................. „ unfreien Besitzer......................................... II ff also im Ganzen
.
.
. . .
9,271 13,700 30,831 108,407
.
162,209
Rechnet man hiezu noch ein Fünftel für Wales und die nördlichen vier Grafschaften, so haben wir etwa 200,000 ländliche Grundbesitzer. Seit jener Zeit bis vor etwa fünf Jahren war diese Aufzeichnung niemals wiederholt worden.
Es fehlte demnach jede offizielle und all
gemeine Quelle über die Bewegung des ländlichen Grundbesitzes in den verfloffenen acht Jahrhunderten.
Das sogenannte „Neue DomeSday Book" aus den Jahren 1874—75
gab daher Aufschlüsse über ein Gebiet deS öffentlichen Lebens, das bis dahin, wenn nicht völlig im Dunkel so doch im täuschenden Zwielichte der Vermuthung lag.
ES waren wirkliche Entdeckungen in einem unbekannten
Lande und sie fielen in so hohem Grade unerwartet aus, daß zunächst die volkSwirthschaftliche Literatur, dann das
allgemeine öffentliche Interesse
durch diese Neuigkeiten lebhaft ergriffen und beschäftigt wurden.
Die Be
handlung dieser Enthüllungen ward um so eingehender als man bald er kannte, daß das neue DomeSday Book mangelhaft war, daß es namentlich
in Beziehung auf Genauigkeit und auf Vollständigkeit weit hinter der früheren Ausgabe von 1086 zurückstand.
Nun begaben sich die Statistiker an'S Kombiniren und Gruppiren. —
Die folgenden Mittheilungen sind also nicht direkt auS dem Neuen DomeSday Book geschöpft; jedoch dürfen wir nachstehende Daten als zu verlässig betrachten.
Im Vereinigten Königreiche
giebt
eS Landeigenthümer,
d. h. Eigenthümer von selbständigen Hauptnummern deS Neuen DomeSday Book etwa
davon in England und Wales etwa
„ Schottland etwa.............................................. „ Irland etwa
195,000 166,000
8,000
21,000.
Daö gefammte ländliche Areal umfaßt im Vereinigten Königreiche:
72 Mill. Acres (nicht eingerechnet die Waldungen mit 4 Mill. Acres). Von jenen 195,000 Landeigenthümern Eigenthümer. Acres. durchschnittlich Acres, besitzen. • . . 955 L Klaffe zusammen 29,750,000 — 40°/o; auf ben Kopf 30,000 „ etwa 4,000 II. „ „ 20,000,000= 30% „ „ „ 5,000 „ „ 10,000 III 10,000,000= 15% „ „„ 1,000 (500—2000 Acres) „ „ 50,000 IV 9,000,000= 12,5% (50-500 Acres) „ „ 130,000 V. „ „ 1,750,000= 2,5% ( 1- 50 „) 194,955 70,500,000 = 100%.
451
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
Die „Nobility", der hohe Adel deS Vereinigten Königreiches, der wesentlich mit den Mitgliedern deS Oberhauses zusammenfällt, besteht auS 525 Köpfen.
Ihr Besitz umfaßt 20 Prozent des
gesammten Landes.,
Nachstehende Tabelle giebt die nähere Vertheilung: Klaffe der Peer«.
~ M äa*L
Herzoge. Marquis . Earls . . Discounts. BaronS - .
Zahl der GulScomplexe.
Einschätzung*) zur Einkom mensteuer. auf den Kopf. L 142,571 2,357,655 47,491 1,383,671 19,908 5,007,119 15,324 644,771 14,152 3,135,852
A er e S
im Ganzen
28 33 194 52 218
158 121 634 120 560
3,991,811 1,567,227 5,862,118 796,849 3,085,160
525
1593
15,303,165
Einkommen auf den Kopf. £ 84,202 41,929 25,809 12,399 14,384
12,529,068
Hierin sind die Waldungen, die ungetheilten Gemeinheiten und die großen Bauquartiere in den Städten nicht einbegriffen. Zählt man diese Flächen hinzu, so gelangt man zu dem Ergebnisse:
daß daS Grundeigenthum der Nobility etwa ein Viertel der Fläche und ein Achtel der gesammten Rente im Königreiche auSmacht.
Wirst man den niederen angesessenen Adel, die „Landet» Gentry" mit der Nobility zusammen, so stellt eS sich heraus, daß im Bereinigten Kö
nigreiche sich vorfinden: 7000 Besitzer von etwa 10,900 Landgütern, deren jedes über 1000 Acres enthält, mit einem Gesammtbesitze von 52 Mill.
Acres.
Also 7000 Menschen besitzen etwa vier Fünftel des gesammten
ländlichen GrundetgenthumeS. Mr. Arthur Arnold**), dem ich obige Ziffern
entnehme, bemerkt:
prüfen.
„die Richtigkeit meiner Angaben ist nicht schwer zu
Denn diese Eigenthümer von vier Fünfteln des Königreiches sind
ein so wunderbar winziges Häuflein, daß sie sämmtlich in der „Free Trabe Hall" zu Manchester gleichzeitig Platz finden würden, um dort die
Genauigkeit meiner Zahlen zu erörtern". ES bleiben also, wenn man von der gesammten
Bevölkerung deS Vereinigten Königreichs ....
diese „obersten"............................................................ abzieht, noch 20 Mill. Acres für die übrigen
.
.
31,513,000 Menschen
7,000
„
31,506,000 Menschen
übrig. Dieser Rest jedoch vertheilt sich wiederum auf etwa nur 304,000 Nummern im DomeSday Book, wenn man dabei die kleinsten Flächen unter 1 Acre außer Acht läßt, da diese für die Landwirthschaft nicht mehr
in Frage kommen. *) CS wird allgemein angenommen, daß daS eingeschätzte Steuerkapital 25 bis 30% unter dem wirklichen Einkommen stand. **) Free Land, by Arthur Arnold, 1880.
Landgesetze und Landwirthschaft tu England.
452
Aber auch diese „Dreihundertviertausend" fallen wiederum stark zu sammen, da auf je drei Nummern Grundeigenthum höchstens ein Besitzer zu rechnen ist. So ergiebt sich denn endlich das erstaunliche Resultat: daß die gesammte ländliche Grundfläche des Vereinigten Königreiches sich jetzt im Eigenthume von etwas über
einhunderttausend Menschen befindet, gegen etwa zweihunderttausend im Jahre 1086*). AuS dem „Neuen DomeSday Book" ergeben sich noch folgende be zeichnende Ziffern und Thatsachen:
In Schottland gehören 90 Prozent des Bodens . . . 1700 Menschen ,,
H
ff
35
,,
25
„
53
„
5 Peers. Der Herzog von Devonshire (sein ältester Sohn ist der Marquis of Hartington) besitzt in Derbyshire: 96,300 AcreS; — außerdem große n
ft
ft
Güter in anderen Theilen von England und Irland.
I. *) Frankreich enthielt ländliche Grund fläche im Jahre 1870 ............................... Acres 117,000,000 Ackerland u. Wiesen „ 20,000,000 Wald „ 18,200,000 Unland
50,000 Eigenthümer besaßen je 500,000 „ 5,000,000 „ „ 5,550,000 Fernere 5,000,000 „ „ „ unter
Landwirtschaftliche Betriebe: 154,000 über 100 Acres. 1,256,000 unter 100 „ 1,815,000 „ 7,5 „
3,225,000
750 Acres ----- 37,000,000 75 „ = 37,000,000 7,5 „ ---- 37,000,000 111,000,000. ...
7,5 „
In der Landwirthschaft thätig oder durch dieselbe er nährt, einschließlich der Familien: Eigenthümer............................... 10,500,000 Pächter........................................ 6,000,000 Spezialisten (Weinbauer) u. s. w. 2,500,000 Im Ganzen . . . 19,000,000 Seelen.
II. 1. Preußen (ohne Westphalen und Rheinprovinz). Ländliche Grundfläche . . . 100 Millionen Morgen (1 Morgen — 0,66 Acre) davon sind Ackerland und Wiese 75 „ „ „ „ Forst 25 Eigenthümer 16,000 über 600 Morgen „ 350,000 „ 50 biö 600 Morgen „ 925,000 unter 50 Morgen. Im Pächtergewerbe thätig: 30,000 Menschen (in England und Irland 600,000).
2. Westphalen und Rheinprovinz. Ländliche Grundfläche..................16 Millionen Morgen Eigenthümer................................... 1,157,000; durchschnittlich: 10 Morgen. 3. Daö gesammte Königreich. Morgen...................................... 116 Millionen Eigenthümer 2,448,000.
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
453
Der Herzog von Richmond und Gordon (Mitglied deS jetzt abge tretenen Ministeriums) besitzt 40,Q00 Acres in Sussex und 300,000 Acre-
in Schottland.
Die große Heerstraße durchschneidet den Grundbesitz eines anderen
Herzogs ununterbrochen 23 englische Meilen lang, (etwa 36 Kilometer). Ein Marquis kann auf seinem eigenen Grund und Boden 100 eng lische Meilen grade auSreiten. Halb England gehört
Halb Irland gehört
150 Menschen
....
...
75
„
....
35
„
Halb Schottland gehört
Die todte Hand besitzt in England und Wales: 1,300,000 Acres, davon gehören 500,000 Acres milden Stiftungen.
Die
Universitäten
Oxford
und Cambridge
allein
besitzen
gegen
250,000 Acres. —
Obgleich der Grundbesitz zwischen den Jahren 1086 und 1875 niemals
verzeichnet ist, so sind doch eine Reihe von Nachrichten gesammelt die dar auf Hinweisen: daß seit etwa zwei Jahrhunderten die Zahl der großen Landbesitzer im Wachsen, diejenige der kleinen im Abnehmen ist.
Man schätzt mit Sicherheit daß im Jahre 1650 die Klasse der „Deomen", der bäuerlichen Freisassen, immer noch etwa 160,000 Anwesen zählte. Im Jahr 1640 erschienen 6000 berittene bäuerliche Grundbesitzer,
allein aus der Grafschaft Buckinghamshire, in Westminster um ihre Be schwerden gegen gewisse Willkürmaßregeln König Karls I. dem Parlamente
vorzutragen.
Der bekannte Geschichtschreiber Lord Clarendon datirt von
dieser Massendemonstration den Anfang der Revolution.
Cromwell zog
aus dieser Aeomanry die besten Kräfte für sein Parlamentsheer. Im Jahre 1714 stimmten bei der Parlamentswahl in der Grafschaft
Sussex noch 4000 freie ländliche Grundbesitzer; jetzt werden dort kaum
mehr 400 zu finden sein. Nur im Norden von England, in den Grafschaften Cumberland und Westmoreland existirt heute noch eine nennenswerte Anzahl dieser alten
freien Bauern dänisch-angelsächsischen Ursprungs. barer
Weise
den
Namen
„Statesmen"
Sie führen dort sonder
Staatsmänner;
ursprünglich:
Estatesmen, Grundbesitzer.
2. Die wirthschaftliche Lage des gebundenen Grundbesitzers und
seiner Familie. Etwa drei Viertel alles Grundeigenthumes in England stehen gegen
wärtig in streng gebundenem „Settlement".
Der Besitzer ist nur lebens-
454
Landgesetze mld Landwirthschaft in England.
länglicher Nutznießer ohne jedes BerfügungSrecht über die Substanz.
Er
muß alle Verwendungen auf das Gut,, insbesondere alle Verbesserungen,
auS seinem persönlichen Vermögen bestreiten oder — unterlassen. ES ist einleuchtend daß ein solcher gebundener — man kann wohl
sagen: gefesselter — Grundbesitz nicht die Kraft hat sich selber aufzuhelfen;
er ist gelähmt.
Um die Ausbreitung dieses Uebels zu ermessen dürfen wir nicht etwa an einen Zustand denken, ähnlich der Bertheilung der vereinzelten großen deutschen MajoratSkontplexe zwischen der überwiegenden Menge des mittleren
und kleinen freien Eigenthums.
Derartige große „Herrschaften" haben —
wie überall so auch in England — auS den Ueberschüssen der jährlichen
Einnahmen, bet vernünftiger Eintheilung, stets die erforderlichen Mittel zu regelmäßig fortgeführten Verbesserungen, ohne daß dadurch das Privat
vermögen des Besitzers wesentlich beeinträchtigt wird. Stellen wir unS vielmehr vor, daß drei Viertel unserer sämmtlichen
mittleren, kleineren und kleinsten Güter von 2000 bis 100 Morgen und
darunter, strenges unverrückbares und unbelastbares Fideikommiß wären und wir werden sofort, glaube ich, ein gewisses unheimliches Ge fühl empfinden, nicht unähnlich vielleicht der Wirkung der Zwangsjacke auf einen gesunden Menschen. WaS werden die Folgen dieser gesetzlichen Scheidung des natürlichen
Besitzers von seinem Besitzthum sein?
Der gute Wirth und sorgsame
Vater mehrerer Kinder würde „ungebunden" seine Ersparnisse zwischen Melioriren, nützlichen Abrundungen und Kapitalisiren theilen; für das
„gebundene" Gut aber thut er möglichst gar nichts, denn sein ältester Sohn bekommt ja ohne dies schon zu viel.
Er spart für seine jüngeren
Kinder und seine Wittwe nachdem er — seine eigenen älteren Schulden abgetragen hat. Der schlechte Wirth ist trotz dem Settlement immer noch in der
Lage seinen Grundbesitz, den er nur zu leicht als einen ftemden betrachten wird, irgendwie auszusaugen und herunter kommen zu lassen.
Oder er verkauft sein lebenslängliches Nutzungsrecht; die Käufer, feine Gläubiger, verwalten das Gut, ziehen jeden Tropfen Lebenskraft heraus und führen nichts hinein.
Ihr Geschäft ist ein gewagtes Lotterie
spiel, allerdings mit wucherischen Zinsen, aber die ganze Spekulation steht auf zwei sterblichen Augen; denn der Nachfolger bezahlt sicher keinen Deut.
Und grade dieser letzte Fall soll in England sehr häufig gefunden
werden, vom kleinen Landsquire hinauf bis zum Herzoge. Vielfach kommt auch das gebundene Familiengut in den Besitz des
lebenslänglichen Nutznießers schon beladen mit Witthümern, mit frisch auf-
Landgtjetzk und Landwirthschaft in England.
gelegten Abfindungen jüngerer Geschwister und
455
mit alten ehrwürdigen
Familienhypotheken.
Kürzlich machte ein Peer der sich in dieser nicht beneidenSwerthen Lage befindet, Lord Aylesbury, hierüber in der Times seinem gepreßten
Herzen Luft.
Er ist ein Mann von mittlerem Vermögen im Verhältnisse
zu seinem Range.
Seinen Besitz erbte er mit einer Belastung zum Be
trage von 50 Prozenten der Rente.
Jetzt ist er, wie die meisten engli
schen Grundeigenthümer, gezwungen seinen Pächtern für 1879: 25 Prozent
an ihrer Pacht zu erlassen. einkommen.
DaS kostet ihm also sein halbes Netto
Dagegen sind Staats- und Kirchensteuern unverändert, und
die unausweichlichen Armenlasten höher denn je.
Daneben drücken ihn
die Pflichten seiner politischen und sozialen Stellung, die Repräsentation
die dem Familtenhaupte in seinem ländlichen Kreise obliegt. Also, was bleibt ihm?
Er ist im Grunde ein armer — und ein
völlig hülfloser — Mann. —
Die besten Autoritäten nehmen an daß sämmtliches Grundeigen
thum in England etwa bis zur Hälfte seines Werthes verschuldet ist. — „Die Primogenitur — so
fahren die Reformer fort — „das
ausschließliche Erbrecht des nächsten männlichen Erben am Grundbesitze, wenn kein Testament oder Settlement vorhanden, ist in ihrer Allge meinheit unvernünftig und ungerecht." „Meistens tritt dieser Erbgang bet mittleren und kleinen Besitzungen, ja bei Stadthäusern in Wirksamkeit, wo der Eigenthümer durch Zufall oder aus Nachlässigkeit keine Bestimmungen getroffen hatte.
Alsdann
erhalten Wittwe und jüngere Kinder vom Grundeigenthume nichts." „Wenn nun aber das Gesetz den
fehlenden
letzten Willen eines
Mannes ergänzen will, so soll eS das wenigstens in gerechter und ver
nünftiger Weise thun und nicht eine Absicht unterstellen wie sie bei keinem guten Familienvater, bei keinem Menschen mit gesunden Sinnen ver muthet werden darf." —
Zu welch schreienden Widersinnigkeiten dieses Recht der Primogenitur,
welches ursprünglich nur für die Ritterlehne galt, in seiner Ausdehnung auf
alle Klassen und auf jedes Immobile führt, ergeben folgende zwei Fälle: Ein kleinerer, kinderloser Geschäftsmann — dieser Fall hat seiner Zeit auch im Parlamente großes Aufsehn gemacht — hatte sich^mit einem hübschen Kapitale zurückgezogen, machte sein Testament und setzte darin
seine Frau zur Erbin ihres gemeinsam erworbenen Vermögens ein.
Als
dann beschlossen die Eheleute sich für ihr Erspartes auf^ihre alten^Tage
ein Landgut zu kaufen.
Der Mann erstand ein solches auf einer Ver
steigerung, leistete die bedungene Anzahlung und erhielt den.Zuschlag.
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
456
Darauf starb er plötzlich bevor daS Kaufgeschäft zur völligen Aus
führung gekommen war.
Die Wittwe, seine alleinige Erbin, mußte die
noch rückständige Zahlung für daS Landgut mit ihrem Kapitale leisten.
AlSdann wurde dieser Grundbesitz, der in dem früheren Testamente deS
Mannes selbstverständlich nicht erwähnt war, von seinem Neffen, als PrimogenituS nach dem „Law of England“ beansprucht; die Wittwe
behielt und erhielt gar nichts; sie fiel der Armenpflege der Gemeinde anheim.
Der zweite Fall ist allerneuesten Datums. Vor mehr als 20 Jahren erbte ein Arbeiter in Chelsea 800 Pfd. Stert.
Kurz vor seinem Tode, der wenige Monate darauf eintrat, schenkte er seiner Frau daS Geld um damit die Familie zu erziehen.
Er hinterließ
einen Sohn aus einer früheren Ehe und von dieser zweiten Frau
mehrere Kinder.
Die Wittwe kaufte von den 800 Pfd. Sterl. ein Stückchen
Land und bauete darauf zwei Häuschen. Testament zu machen.
Kürzlich starb sie ohne ein
Es war zweifellos der Wille beider Gatten
gewesen, daß ihre Hinterlassenschaft sämmtlichen Kindern zufallen sollte.
Konnte ihnen wohl mit einem Anscheine von Vernunft, imputirt werden: sie wollte durch Primogenitur eine „Familie gründen“?
„Law
of England“
erbte der
älteste Sohn
Aber nach dem
zweiter Ehe als
PrimogenituS seiner Mutter, die beiden Häuser allein. Sämmt liche übrige Kinder gingen leer aus!! —
„Kleinere ländliche Besitzungen“ — so geben die Reformer zu —
„sollen allerdings nicht zersplittert werden, aber jeder Miterbe muß ein Recht auf eine Abfindung haben.“
„Größere Besitzungen aber sollen in verschiedenen Komplexen unter die Kinder vertheilt werden.
DaS stärkt die Familie und vermehrt die
erhaltende Partei im Staate.“
„Und wie wirkt“, so fragen die Reformer weiter,
„diese testa
mentarische Bindung auf den ältesten Sohn?“ „Der älteste Sohn, oder Enkel, fühlt sich schon im jugendlichsten Alter als sicherer Erbe des gebundenen Besitzes.
Eine solche unanfecht
bare Aussicht lähmt bei allen minder begabten — zu leichten wie zu
schweren — Naturen den Trieb,
die eigenen Fähigkeiten anzustrengen
und zu entwickeln.“
Auch in Deutschland haben wir ja die gleichen Erfahrungen über die Wirkungen ähnlicher Ursachen gemacht; auch bei unS kannten wir früher —
neben sehr vielen respektablen Ausnahmen — den unerfreulichen Typus den man „Majoratsschlingel“ nannte.
Jetzt ist diese taube Blüthe so
ziemlich verschwunden, wesentlich unter der wohlthätigen Erziehung der
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
457
allgemeinen Wehrpflicht, durch die in alle Theile unseres Vaterlandes die Anschauung getragen ist: daß es nicht mehr „anständig" oder gar vornehm
sei, nichts zu lernen und nichts zu leisten. — „Die väterliche erziehende Gewalt ist durch das gebundene Erbrecht
eines ihrer kräftigsten Mittel beraubt.
Denn der junge Mensch weiß ja,
daß sein Vater nur lebenslänglicher Nießbraucher ist.
Der Vater steht
sogar in widernatürlicher Abhängigkeit vom ältesten Sohn: er bedarf dessen
Einwilligung wenn er wieder heirathen will."
(Wegen der Versorgung
Der Sohn wiederum ist seit seinem ersten Auftreten
der zweiten Frau.)
int öffentlichen Leben viel zu kreditfähig für sein eigenes Wohl."
„Er fällt, wie ein jagdbares Wild, allen Schlichen und Verführungen anheim; er stürzt sich in Schulden und schreibt „Post Obits". (Schuld scheine die nach dem Tode — post obitum — des Vorbesitzers fällig sind.)
„Er verpfändet seine Zukunft hoffnungslos, um sich vor seinen Gläubigern zu retten oder verkauft sein Erstgeburtsrecht.
Die Gläubiger versichern
das Leben deS Sohnes nach Verhältniß seiner Altersdifferenz zum Vater
und ziehen alle Prämien vom Darlehn vorab."
„Dieser Handel ist vollständig organisirt und wird auf breiter Grund lage betrieben.
In der Times legen fortwährend Wucherer und „Dar-
lehnS-Gesellschaften"
ihre
Fallen,
um
Anwartschaften
(reversionary
Interests) und lebenslängliche Nutznießungen (life interests) anzukaufen und zu beleihen.
Auf diesem Wege kommt ein großer Theil deS Landes
in die Hände eines bereits überschuldeten Besitzers und seiner Gläubiger." —
Oft macht sogar der gegenwärtige Besitzer daS Geschäft selbst, um Familie und Vermögen gegen den drohenden Ruin durch einen, bereits
genügend als Verschwender bewährten Anerben zu schützen.
In einer mir bekannten Familie mit gebundenem Grundvermögen, wo ein Sohn und daneben Töchter waren, hatte ersterer sich schon früh
zeitig als ein ausgebildeter Lump erwiesen.
Er stellte „Post ObitS" in
Massen auS und verkaufte schließlich seine zukünftige lebenslängliche An wartschaft an Wucherer.
Der Vater kaufte nun alle Schuldscheine auf,
deS Sohnes Verzicht war gültig und die Töchter bekamen das gesammte
Vermögen. Ein in England sehr bekannter Fall dieser Art ist der deS Herzogs
von L., eines der reichsten unter den größten Peers. DeS jetzigen Herzogs Vater machte das Settlement für seine zwei Söhne, die Lords A. und B. und, nach ihnen, für den Sohn seiner
Tochter, Mr. M. jahrter Herr.
Jetzt ist der zweite Sohn B. im Besitze, schon ein be
Der Neffe M. entwickelte sich glänzend als unverbesser
licher Schuldenmacher im großartigsten Maßstabe.
Schließlich cedirte er
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
458
Diesen taufte der
seine demnächstige Anwartschaft an seine Gläubiger.
Oheim B., der jetzige Herzog, ihre Forderungen nebst der Cession wieder
ab — man sagt für eine Million Pfd. Sterl. — und Niemand weiß,
wer der Erbe des jetzt ungebundenen, kolossalen Besitzes der Familie sein wird. Während also im
allgemeinen die väterliche Autorität durch die
Settlements geschwächt wird, giebt es dagegen einen Moment im Leben
des SohneS, wo er seinerseits in zu großer Unfreiheit gegenüber dem Vater handelt.
Dieser Zeitpunkt tritt ein, wenn derjenige Sohn,
in dessen Händen die Gebundenheit erlöschen würde, volljährig wird.
Der um die Erhaltung der „Familie" besorgte Vater drängt alsdann
den Sohn zum „Resettlement" und so werden diesem schon jetzt für seine ganze übrige Lebenszeit wiederum die Flügel beschnitten.
Weshalb
willigt der Sohn ein? 1.
Weil sein Vater, ein noch rüstiger junger Mann unter fünfzig
Jahren, ihm dafür ein sofortiges sicheres Einkommen bewilligt, auf
welches er sonst vielleicht noch fünfundzwanzig Jahre warten müßte. 2.
Weil er dadurch einer ihm anerzogenen Familtentradition ent Noblesse oblige.
spricht.
Solche anerzogenen Motive sind weit stärker,
als die meisten Gesetze.
Dann wird das Gut neu belastet mit Schulden des Vaters und Ab
findungen der Geschwister, und der Sohn erhält demnächst ein wesentlich
beschnittenes Einkommen.
Auf diese Weise werden 50 Millionen Acres immerfort „wiedertzebunden" und man darf wohl von den meisten Gütern über 1000 Acres
annehmen, daß sie stets in dieser strengen Gebundenheit verharren. Aber wie werden denn die jüngeren Brüder versorgt?
Auch das ist jetzt weit schwieriger geworden.
Früher fielen sie in
der Mehrzahl dem öffentlichen Dienste, im Civil und Militär sowie in
der Kirche, Last.
durch das Institut der käuflichen Patronatsrechte zur
Der Regierung erwuchs jedoch aus dem allzustarken Andrange nach
Versorgung eine Menge von Unannehmlichkeit und Verantwortlichkeit.
Um
sich dieser Belästigung zu erwehren, sind jetzt im Staatsdienste überall
Konkurrenz-Prüfungen eingeführt, deren Ergebnisse stets öffentlich bekannt gemacht werden.
Zugleich ist eine Menge von Sinecure-Posten einge
gangen und dadurch die Zahl der zu vertheilenden Versorgungen stark be
schnitten.
Daher wenden
sich in neuerer Zeit Söhne selbst
aus den
„besten Familien" der „Bar“, dem Anwalts- und Richterstande, aber auch dem Handel und der Industrie zu.
manchen jüngeren
Sohn
„mit einem
Man findet deshalb jetzt wohl
Handgriffe an
seinem Namen"
459
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
(Titel)
der
an
Spitze
von
Gründungen,
wo
er
reinlicher
nicht
stände. „Und das alles" sagt Mr. Arnold, „geschieht für den Familiengötzen: „ältester Sohn".
Unsere heutigen englischen Landherren sind nicht mehr
Basallen der Krone, sie sind Vasallen ihrer Enkel."
Kommen nun über diese gespannten Kreditverhältnisse oder richtiger über diese Kreditlosigkeit, die unausweichlichen „mageren Kühe", die keine
fetten zum Verschlingen vorfinden, was dann? Die fröhliche Jagd- und Winterzeit auf den englischen Landsitzen hat
in
diesem
Jahre ein gar trübes Aussehen.
Viele große und
größte
Häuser sind geschlossen, die sonst einen zahlreichen Kreis von Freunden
beherbergten. lassen.
Die Ställe sind leer, alle überflüssigen Dienstboten ent
Und der Hausherr mit seiner Familie sitzt irgendwo in einem
gemietheten Häuschen an der See oder sucht die „wärmeren" Klimate des
billigeren Kontinents auf, wo man sich doch nur selbst zu erhalten hat,
wo man sich einschränken kann, ohne der „Position" zu schaden. Die Regierungen der letzten Jahrzehnte haben allerdings beabsichtigt und versucht, den oben geschilderten Zustand der starren Gebundenheit des
„Landes" durch verschiedene neueste Gesetze zu mildern.
Die bedeutendsten derselben sind:
die Improvement of Land Act, 1864 die Agricultural Holdings Act, 1875 die Settled Estates Act, 1877. Nach diesen Gesetzen (und einem älteren von 1834):
1.
Darf der Besitzer auf 21 Jahre verpachten mit Verbindlichkeit
für jeden Nachfolger.
(Der Sohn war schon — wie wir wissen —
durch ein Gesetz von Heinrich VIII. gebunden.) 2.
Auf seinen Antrag genehmigt der „Court of Chancery“, daß
Grundstücke zum Bebauen auf längere Jahre (bis zu 99) verpachtet
werden, daß Forstgrund gerodet wird, sowie daß alte Gebäude auf Kosten
des Gutes erneuert werden. 3.
Ebenso bewilligen die „Enclosure Commissionen“ (Behörden
für Theilung von Gemeinheiten,
Commons) die Belastung des Gutes
mit den Kosten für Meliorationen: Drainirungen, Wege- und Wasser
bauten und verschiedene andere.
Aber diese Wohlthaten der neuesten Gesetzgebung unterliegen einer Menge von Formalitäten: Genehmigungen, Beaufsichtigungen und Prü fungen durch Behörden; Dinge, die dem Engländer bekanntlich noch weit
unsympathischer sind als uns.
Landgesetze und Landwirthschast in England.
460
Und diese Projekte werden genehmigt, nicht sowohl aus dem Gesichts punkte, das Wohl des Besitzers oder Pächters zu fördern, sondern vor
Allem zum Vortheile des Gutes und deS zukünftigen EigenthümerS.
DaS aufgenommene Geld muß den Gesellschaften, die für diese Zwecke darleihen, mit 71/, Prozent verzinst werden, denn eS soll in 25 Jahren abgetragen sein.
In den meisten Fällen wird daher der anleihende Be
sitzer den größten Theil der Schuld selbst abzahlen.
Somit treibt den „Tenant for Life“ regelmäßig kein hinreichend energisches Interesse, um diese Operation zu beantragen; sie kommt daher
auf den kleineren Gütern sehr selten zur Ausführung.
Die erwähnten „Land-Verbesserungs-Gesellschaften" sind seit etwa 30
DaS gesammte, von ihnen während dieser Zeit
Jahren in Thätigkeit.
auSgeliehene Kapital soll 7 Millionen Pfd. «Stert, nicht übersteigen. Im Jahre 1873 wurde die Frage nach dem Stande der landwirth-
schaftlichen Meliorationen von einem Ausschüsse deS Oberhauses untersucht.
Hier sagte Mr. Caird auS: „daß bis dahin erst ein Fünftel
aller nothwendigen Meliorationen ausgeführt sei, daß erst ein Siebentel aller nöthigen Drainirungen hergestellt fei", daß erst „ein Fünftel der getheilten Gemeinheiten in Kultur genommen sei." Mr. Caird war früher
der landwirthschaftliche Techniker der Times, jetzt ist er einer der „Enclosure Commissioners".
Der Earl of Leicester, ein anerkannter großer Landwirth, behauptete:
„bei rationeller Vervollkommnung der Methode kann die englische Land wirthschaft ihre Produktion verdoppeln; in unserem Gewerbe könnten noch 500 Millionen Pfd. Sterl. mit Vortheil angelegt werden".
Lord Beaumont, ein Peer und selbst Landwirth, wurde als Zeuge
gefragt: „Kennen Sie in Ihrem Theile von Aorkshire gebundene Güter, die mit Vortheil drainirt werden könnten"?
allen meine eigenen".
Antwort: „Sehr viele, vor
Auch der Verkauf gebundener Grund
stücke ist durch die Settled Estates Act gestattet.
Aber der Erlös ist
stets wieder im gebundenen Grundeigenthum zu verwenden.
Außerdem
enthalten allerdings jetzt fast alle neue Stiftungen gewisse Vollmachten
für die TrusteeS: verkaufen".
„mit Einwilligung des jeweiligen Nutznießers zu
Aber diese Vollmachten werden nicht benutzt.
Die „Ver
trauensmänner", die eigentlichen Güterpfleger, scheuen sich vor der Ver
antwortlichkeit.
So groß ist die anerzogene instinktive Meinung: daß das
Land vor allem erhalten werden müsse." So ist es denn allerdings nicht ohne Anschein, wenn diesen neuen
Gesetzen vorgeworfen wird: sie seien mehr ein Zugeständniß und eine Be mäntelung als eine Besserung der Mängel des alten gesetzlichen Zustandes.
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
461
Die vorstehende abfällige Beurtheilung der „Landgesetze" finden wir, mit einigen Variationen, in allen Reden und in der gesammten TageS-
literatur der Liberalen wiederkehrend.
Als bibelfeste Christen haben sie
für ihre KontroverSpredtgten auch einen geeigneten Text gefunden, den man bekanntlich dort mit Vorliebe im alten Testamente sucht. ES heißt nämlich im Propheten JefaiaS 5, 8: „Wehe denen, die ein
HauS an das andere ziehen und einen Acker zum andern bringen, bis daß kein Raum mehr da fei; daß sie allein daö Land besitzen".
Die Weltkinder drücken denselben Gedanken in einem
Bilde etwa so auS:
modernen
Wenn eine Menge aushelfender Projekte (supple-
mentary devices) nöthig sind, um der „Unzettgemäßheit" eines Gesetzes zu begegnen, so beweist dieses, daß eine entgegengesetzte Unterströmung
eines anderen Gesetzes vorhanden ist, welche diese verschiedenen Nothdetche
bald einreißen wird. — Was sagt nun die konservative Partei? ES liegt in ihrer Stellung als Vertheidiger der bestehenden Ver hältnisse, daß sie nicht so rührig auftritt und einen solchen Reichthum
an Argumenten entfaltet wie die Angreifer.
Ihre Aeußerungen in den
öffentlichen Redeturnieren, wie in der Presse sind daher ziemlich spärlich.
Literarische Rechtfertigungen der jetzigen Landgesetze in den Zeitschriften, — welche in England bekanntlich fortlaufende Kommentare der TageS-
fragen von jedem Parteistandpunkte aus bringen, — sind mir nicht be kannt geworden. Allerdings hatten verschiedene Mitglieder deS früheren Ministeriums
sich über das Thema öffentlich vernehmen fassen.
Von hervorragendster
Wichtigkeit waren jedoch die Auseinandersetzungen deS Lord Kanzlers, Earl Cairns, als er zu Anfang der diesjährigen Sitzung die in der Thronrede verheißenen Bills im Oberhause einbrachte.
Wir können diese verschiedenen
Aeußerungen etwa unter folgende Punkte zusammenfassen: 1.
Bindung des Grundbesitzes und Primogenitur gehören zu den
Grundpfeilern der englischen Verfassung und Gesellschaft; sie sind unentbehrlich und wirken wohlthätig.
Schon der Umstand, daß diese Ein
richtungen seit dreihundert Jahren bestehen, beweist: daß sie un
seren Verhältnissen und Bedürfnissen entsprechen!
2.
Die Bindung schützt vor Verschwendung und vor der Belastung
der Güter mit ungemessenen Hypotheken. 3.
Es ist kein Grund vorhanden, das jetzige „Law of settlement“
zu ändern, da es aus dem natürlichen Rechte des GrundeigenthümerS,
aus seiner BerfügungSfreihett, entsprungen ist. 4.
Die kontinentalen Prinzipien betrachten wir in England als jene
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
462
Freiheit beeinträchtigend.
(Diese Polemik bezieht sich wesentlich auf daS
französische Recht und dessen Zwang zur Theilung
des Grundbesitzes
unter die Miterben.) 5.
Um aber unsere englische VerfügungSfreihett aufrecht zu erhalten
und dabei zugleich das öffentliche Interesse zu wahren: zu diesem Zwecke
muß auch dem gebundenen Besitzer so viel Verfügung einge räumt werden, wie ein
freier Eigenthümer als sorgsamer
HauShalter zu gutem Zwecke ausüben würde. 6.
Das heißt: er selbst muß praktisch verwerthbare Befugnisse zur
Veräußerung bekommen, unter Sicherung der Rechte seiner Nachfolger an dem Aequivalente.
7.
Diese Befugniß war in der Theorie stets vorhanden, aber prak
tisch undurchführbar.
Früher war der einzige Weg dahin eine Privat
bill deS Parlamentes. Sterl.
Diese kostete zwischen 300 und 3000 Pfd.
Solcher Privatbills für Verkauf von gebundenem Grundeigenthum
sind daher in der ganzen ersten Hälfte dieses Jahrhunderts nur
700
erwirkt.
8.
Nach der Settled Estates Act. von 1877 trat der Court of
Chancery hier ein, aber auch dann blieb das Verfahren zu schwerfällig
und kostspielig. 9.
Auch können die geschäftlichen Formen im Verkehr mit Grund
eigenthum vereinfacht werden.
10.
ändern. 11.
Settlement, Primogenitur und Pfandrecht wollen
wir nicht
UebrigenS sind die Landgesetze gar nicht die Ursache deS jetzigen
DarniederliegenS der Landwirthschaft.
Wäre dem also, dann müßte ja
daS freie Eigenthum in weniger schlechter Lage sein, was wohl Niemand
behaupten wird. 12.
DaS Verschwinden der kleinen bäuerlichen Güter (peasant
proprietorships) und ihr Aufgehen in die großen Komplexe ist
ein
natürlicher, wtrthschaftltcher Prozeß, den die Gesetzgebung nicht
hindern kann. Die Times begleitete diesen letzten Punkt mit einem ihrer bekannten
glänzenden — oft aber auch stark flimmernden — Leitartikel:
„Wenn
morgen dem kleinen Farmer daS Eigenthum seines PachthofeS geschenkt
würde, so wären in zehn Jahren drei Viertel dieser Güter wieder auf dem Markte und würden von reichen Leuten zu zwei Prozent Zinsen auf
gekauft."
„Landbesitz ist nun einmal in England ein Luxus der zahl
reichen großen Kapitalisten, wie HobbemaS und alte chinesische Vasen."
„Der kleine Landwirth verkauft stets und muß verkaufen sobald ihm ein
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
derartig überhoher Preis geboten wird.
463
So ging auch unsere vielbeklagte
Aeomanry zu Grunde." — „Auf den Gütern deS Herzogs von Suther
land in Sutherlandshtre saßen früher mehr als eintausend kleine bäuer
liche Erbpächter, die nominelle Renten zu entrichten hatten. Fehlernte waren sie der HungerSnoth nahe. und nach ausgekauft.
Bei jeder
Sie wurden (1849) nach
Die zu kleinen Komplexe wurden anders ein
getheilt, bebauet und verbessert.
Jetzt giebt dieser Besitz eine Pachtrente
von 100,000 Pfd. Sterl. im Jahre." „Aber," das erkennt die Times zugleich an, „wenn wir nicht zu
einem
anderen Systeme des
landwirthschaftlichen Betriebes
gelangen, wird die Rente der rein producirenden Betriebe sinken.
Für die Pächter giebt eS dann keine andere Hülfe alS: Auswanderung in unsere Kolonien."
3.
Die Wirkungen der Gebundenheit deS Grundbesitzes auf die Pächter liegen nach dem Vorhergehenden wohl so ziemlich auf der
Hand. Zwar sind bereits seit dem Jahre 1834 unbedingt bindende Pacht kontrakte auf 21 Jahre eingeführt, aber drei Viertel aller Pachtungen
in England und Wales (nicht in Schottland) laufen ohne schriftlichen
Kontrakt auf sechsmonatliche Kündigung.
Und hiervon abgesehen dehnt
sich die Unfreiheit deS Besitzers in der Behandlung deS Landes, die Ver nachlässigung von Bauten, Meliorationen und Kulturen, der Mangel an stehendem Kapitale unausweichlich auf den Bewtrthschafter, die Höhe seines
umlaufenden Kapitals und auf seine Erfolge aus.
Wir hörten, daß die Agricultural Holdings Act von 1875 dem Pächter Ansprüche auf Vergütung für gewisse Meliorationen sowie für
Aber leider ist dieses Gesetz ein sogenanntes
Gail und Gaare giebt.
erlaubendes „permissive“, und das Recht des Pächters ein kontraktlich
verzichtbares.
Noch mehr! in allen einjährigen Pachtkontrakten kann der
Eigenthümer einseitig bestimmen: daß jenes Gesetz für das vorliegende
Pachtverhältniß nicht zur Anwendung kommen solle. AlSdann bleibt der alte Rechtssatz in Kraft: Alles was der Pächter in oder auf den Byden gebracht hat, ist dadurch Eigenthum des Ver pächters geworden; so fehlt dem abziehenden Pächter selbst das Recht
deS Wegräumens. Alle diese Pachtverhältnisse — at will — gehen nicht auf die Wittwe und die Erben über.
Jede Kapitalanlage ist also in solchem Falle für
den Pächter sehr gewagt.
„Daher", sagt Mr. Mecchi, eine der ersten
Landgesetze und Landwirlhschast in England.
464
landwirthschaftlichen Autoritäten, „daher kommt eS, daß durchschnittlich
jeder Pächter in England (nicht in Schottland) nur 6 Pfd. Sterl. Be
triebskapital auf den Acre bringt, während 12 bis 18 Pfd. Sterl. mit Vortheil verwendet werden könnten, und daß in den jetzt vergangenen
guten Jahren die Pächter es vorzogen, ihre Ersparnisse in ftemden StaatS-
papieren anzulegen. Endlich existirt noch ein dem Pächter außerordentlich nachtheiltgeS
altes lehnSherrlicheS Recht des EigenthümerS: der „Distreß."
Kraft dieses
hat der Verpächter ein gesetzliches Pfändungsrecht an allem Vieh, Schiff
und Geschirr, welches der Pächter auf das Gut gebracht hat und selbst an der bereits eingescheuerten Ernte.
Dieses Pfändungsrecht kann jeder
zeit für jede fällige Forderung geltend gemacht werden.
Dasselbe umfaßt
alle, zur Zeit aus den Pachtgrundstücken befindlichen Werthobjekte, sogar
ES liegt auf der Hand, wie durch diese Un
daS fremde Weidevieh.
sicherheit und Durchbrechung des EtgenthumSrechteS der Kredit des Pächters
und selbst seine lausenden Geschäfte mit Dritten, z. B. Vieheigenthümern,
beeinträchtigt werden müssen. „ES ist freilich recht patriarchalisch" bemerkt Mr. Arnold, „daß auf den großen Herrschaften viele Pachtungen thatsächlich erblich sind.
Kein
Kontrakt aber niedrige Rente; und zudem hat der Pächter die Ehre, im rothen Rocke mit hinter den herrschaftlichen Fuchshunden zu reiten."
„Aber damit kann man keine amerikanische Konkurrenz bestehen."
In der bisherigen Diskussion findet sich keine direkte Anerkennung
Seitens der konservativen Partei, daß die gesetzliche Stellung der Pächter einer Besserung bedürfe.
„WaS die Pächter betrifft" heißt es, so können
sie sich jetzt, wo so viele Pachtungen frei sind und wo sich um jeden guten Pächter drei Eigenthümer bewerben, — jetzt können sie sich sehr
wohl selber helfen und ihre Bedingungen stellen."
Wie hierdurch den nicht mehr guten Pächtern (also augenblicklich der Majorität) geholfen werden soll, erfahren wir vor der Hand nicht.
Allerdings waren kürzlich — allein in einem zu Birmingham erscheinen
den Blatte — gleichzeitig 70 von ihren bisherigen Bewtrlhschaftern auf gegebene Pachtungen mit einem Areale von 28,000 Morgen ausgeboten. Zugleich aber wurden Pächter gerichtlich insolvent
im Jahre 1877:
477 Pächter,
„
„
1878:
815
„
„
„
1879: 1430
,
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
465
Ob also durch diese Zustände die „abgewirthschafteten" Pächter ihre
Stellung wesentlich gestärkt finden? — steht dahin. Unzweifelhaft aber ist: daß bei allgemeiner Fortdauer eines solchen Angebotes von Pachtgütern die Pachtrenten sinken werden.
So kann sich
denn auch wohl Niemand, der „Augen hat zu sehen", der Einsicht ver
schließen: daß die englische Landwirthschast bei ihrer bisherigen Produktion
mit den amerikanischen Preisen nicht konkurriren kann, daß sie stärkere Reinerträge erzielen muß; wenn nicht, daß Pächter und Verpächter
sich in einer verlorenen Stellung befinden.
Selbstverständlich fehlt es suchen zur Selbsthülfe.
auch unter den Pächtern nicht an Ver
An den Sitzen des ToryiömuS, in den Graf
schaften Essex, Hampshire und Devonshire hat sich unter der Führung
einiger großer Landwirthe eine Bewegung gebildet und verbreitet, die
„Farmers’ Alliance“.
Diese Verbindung lehnt jeden Parteistandpunkt
ab und strebt nur nach Verbesserung ihrer wirthschaftlichen Stellung.
Sie
droht also indirekt auch der konservativen Partei mit Entziehung der
Stimmen und sie behauptet, ihre Drohung wirksam ausgeführt zu haben,
da durch die neuesten Wahlen bereits 40 Mitglieder der Alliance in'S Unterhaus gebracht seien.
Die Farmer in mehreren westlichen Grafschaften schickten im vergan genen Herbste Delegirte nach Canada, um die dortigen landwirthschaftlichen
Zustände und
die Räthlichkeit einer Uebersiedelung, namentlich in die
westliche Provinz Manitoba, zu prüfen.
Die kanadische Regierung leistete
selbstverständlich diesen EntdeckungSretsenden jeden möglichen Vorschub.
Die erstatteten Berichte lauteten sehr günstig und aufmunternd.
4.
Auch der zunehmende Mangel an ländlichen Arbeitern wird der Gebundenheit des Grundeigenthums zur Last geschrieben.
Dieser Theil der arbeitenden Klasse zählt in England etwa 800,000
Familienhäupter. Haben nun die „beschränkten" Eigenthümer schon meistens kein Kapital für Meliorationen welche 5 Prozent Nutzen versprechen, so werden sie noch
weniger Ausgaben
für unrentable Anlagen leisten, die, wie Arbeiter
wohnungen, höchstens 2 Prozente abwerfen.
Daher waren diese Zustände
so schreiend geworden, daß im Jahre 1869 eine Königliche Kommission
über die Lage der Weiber und Kinder der ländlichen Arbeiter niedergesetzt wurde.
Die Ergebniffe ihrer Untersuchungen waren höchst
erschreckend. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 5.
34
Landgesetze und Laudwirthschaft in England.
466
Ern Mitglied, der jetzige Bischof von Manchester Dr. Fraser, be
sichtigte vier Grafschaften.
In seinem Berichte bezeichnet er die Cottages
der Arbeiter in Nr. 1 als: „elend", *tn Nr. 2t „bejammernswerth", in Nr. 3: „abscheulich", in Nr. 4 als: „eine Schande für eine christliche
Gemeinschaft." Und wo die Einrichtung zureichend, da war die Zahl der Wohnungen zu gering, denn allgemein wirkt das Bestreben, diese Schmutzflecke in der
sauberen englischen Landschaft zu beseitigen.
Bon dreihundert besichtigten
Kirchspielen war die Einrichtung der Cottages nur in zweien vorzüglich und ihre Zahl ausreichend.
Das Gesammtbild ist: feuchte, zerfallende, überfüllte Häuser; in
einem oder zwei Räumen Hausen drei Generationen und ungetrennte Ge schlechter; physische und moralische Infektion in jeder Richtung!
„Die
reichen, namentlich die größten Grundeigenthümer haben neuerdings sehr viel gethan *); aber die verschuldeten — die abwesenden — und gar die
Pfandgläubiger! — wenn die Hütte einfällt, so reißt man sie nur zu gern nieder." Alle Kommissäre waren darüber einig, daß diese düsteren Verhältnisse
im Ganzen den Grundeigenthümern als Klasse nicht zur Last zu legen seien. Die meisten seien nicht im Stande zu helfen, wenige von ihnen überhaupt verantwortlich für die ererbten Zustände.
UebrigenS fei eS
dort, wo das Land von Spekulanten gekauft und bebauet wurde, oft um nichts bester; diese bauten Kartenhäuser und vermietheten sie zu über mäßigen Preisen.
So ergab denn auch im Jahre 1861 die Volkszählung, daß während der letzten zehn Jahre in 821 englischen ländlichen Kirchspielen die Häuser
zahl sich vermindert, die Bevölkerung sich vermehrt hatte.
England ist
das einzige Land in Europa, in dem die städtische Bevölkerung die des flachen Landes überwiegt; in Frankreich steht dieses Verhältniß wie 3:6, in Preußen etwa wie 3:7.
Als eine schwere soziale Krankheitsursache wird es empfunden, daß so unendlich viele Landbewohner nicht einen Morgen Land kaufen können, um eine Cottage darauf zu bauen mit einem Gemüsegarten.
Dadurch
fehlt in der englischen Landgemeinde die wichtige Klaffe der kleinen Grund
besitzer; daS Eigenthum allein aber fesselt- an Ort und Stelle.
Deshalb
schläft auch in England unter dieser Klaffe allgemein der Trieb zum
Sparen.
(In
Schottland steht dieser Punkt
günstiger:)
,/Englische
*) In meiqer Schilderung von „$8o6i;rit Abbey" iw RoveMberhrste 187S ven. „Nord und Süd" habe ich über die großartigen Leistungen der Herzoge von Bedford für ihre Arbeiter einige Mittheilungen gemacht.
Landgesetze und Landwirthschast in Cngkand.
467
Reisende auf dem Kontinente", sagt I. S. Mill, „halten eö für unmög
lich, daß ein kleiner Landbewohner nicht -seine ganze Einnahme ausgiebt; sie betrachten daher die ihnen dort entgegentretenden Zeichen der Spar
samkeit als Zeichen der Armuth." Wo nun aber der Mensch keine Aussicht hat, jemals seine Lage gründlich zu bessern, da nützen auch die Schule und die Erziehung der
Landwirthschaft nicht.
Denn diese Hebel helfen grade den besten Elementen
zum Fortwandern in die Fremde, und — vermöge dieses Prozesses der
natürlichen Zuchtwahl — werden die Zurückbleibenden immer geringer
tat Werche. Einer der größten Grundherr«« Englands, der ganze Dörfer neu
aufbaute, klagt kürzlich in der Times: daß er trotz der starken Lohn steigerung ta den letzten zwanzig Jahren die guten Arbeiter nicht in der
Heimath fesseln könne.
Eisenbahnen, Fabriken und Polizeidienst nehmen
ihm stets die- brauchbarsten fort. Und wie würde sich erst diese Schwierigkeit gestaltm bei unserer drei jährigen Dienstzeit!?
5. Betrachten wir jetzt noch fluchtig
einige besonders hervortretende
politische und soziale Wirkungen der englischen Landgesetze.
„Die bestehenden Verhältnisse und die überwiegende öffentliche Mei
nung beweisen, daß England ein aristrokratisches Bedürfniß nach großen
mächtigen Familien mit großem reichem
befestigtem Grundbesitze Hat.
Denn solche Familien sind einfach eine Voraussetzung unserer Verfassung
und unseres ganzen nationalen Systems." Dieses Axiom der konservativen Partei unterschreiben indessen
auch alle gemäßigten Reformer der Landgesetze.
Demi in England setzt
bekanntlich — bis jetzt noch — jeder ernsthafte Politiker eine Ehre darin
und erkennt es als eine Pflicht seiner eigenen Selbsterhaltung: praktische und realistische, fortbildende — nicht utopische, umstoßende Politik
zu treiben.
„Aber" — so sagen die Reformer — „die Ruffels (Herzog von Bedford), die Cavendish (Herzog von Devonshire — sein ältester Sohn
ist der Marquis of Hartington —), die Stanleys (Lord Derby), die Lewesvn-Gower (Herzog von Sutherland) und die Percys (Herzog von Northmnberland): diese und viele andere bedürfen keine „Versicherung" für den Bestand ihres Grundbesitzes.
Allerdings wirkt auch auf deren
Besitz die Gebundenheit nicht so schädlich, da diese Familien — mit einzelnen bekannten Ausnahmen
—
gut und
vernünftig wirthschaften. 34*
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
468
Diese sehr großen Herrschaftsbesitzer mit 100,000 bis 300,000, ja 600,000 Pfd. Sterl. und darüber, jährlichen Einkommens haben da
neben anderes großes Vermögen, starke Betriebskapitale und können daher auch im Großen melioriren.
Die Herzoge von Bedford verwandelten den Fen Distrikt,
einen
Sumpf von mehr als 400,000 Acres Ausdehnung, in den fruchtbaren Bedford Level*).
Die Herzoge von Sutherland pflanzten in der ihnen
fast ausschließlich gehörigen Grafschaft Sutherlandshire (Schottland) über eine Million Bäume.
Diese Magnaten können sich sogar den Luxus der Landschaftsgärtnerei — der Traum jedes Engländers — im Großen gestalten.
Allerdings
werden dabei auch wohl meilenweite Wildparks angelegt und die kleine bäuerliche Bevölkerung wird in die nächsten geschlossenen Orte gedrängt;
eine Erleichterung zugleich an Armensteuer und an — Wilddieben.
Die diesen großen Herrschaftsbesitzern zunächst stehenden großen Gutsbesitzer mit 10,000 bis 30,000, ja bis 50,000 Pfd. Sterl. Renten sind in der Lage, mit starkem Betriebskapitale ihren Besitz hochrationell, intensiv und modern, selbst oder durch ihre Pächter zu bewirthschaften.
ES ist dies aber doch immer ein spekulativer Luxus, den sich der
kleine Gutsbesitzer und der verschuldete versagen müssen, da sie an ihrer durchschnittlichen JahreSrente keine erheblichen Ausfälle ertragen
können.
Daraus darf man jedoch nicht folgern, daß wir am besten führen, wenn ganz England sich in jene größten Gütermassen zusammenballte.
Denn dann wäre eS ja weiter
nur folgerichtig: allen Grundbesitz in
eine große Masse, das StaatSeigenthum, zu bringen; also Sozialismus — reductio ad absurdum! —
„Aber" — so fahren die Reformer fort — „auch ein Ueberwtegen solcher übergroßer Besitzmassen von mehreren Hunderttausenden jährlichen
Ertrages, eine solche Anhäufung, die wie ein Magnetberg nach und nach die ganze Umgegend an sich reißt, — die sich stets nur vergrößert,
sei eS wegen der Jagd sei eS um lästige Nachbarn zu vertreiben — das
ist ein soziales Uebel.
Es entwickeln sich daraus hypertrophische Lei
den, die ebenso schädlich wirken als die durch Atrophie erzeugten sozialen Schäden."
„Ein solcher übermäßiger Besitz zerfällt meistens in mehrere sehr
große Komplexe in den verschiedensten Gegenden des Königreichs.
Der
überglückliche Eigenthümer kann nicht überall leben, er sieht daher nicht
*) „Woburn Abbey" im Novemberhefte 1879 von „Nord und Süd".
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
469
all daS ©einige, er wird also durchgängig niemals auf seinen entfernten Besitzungen so intensiv wirthschaften können, als der mittelgroße Gutsherr der nur mit einem ausreichenden Komplexe gesegnet ist, denn nur „das
Auge des Herrn macht die Pferde fett." — „ES ist also ein solcher Besitzer vieler Herrschaften, welcher oft die noch vorhandenen kleinen deutschen Souveraine an Territorium wie an
Einkommen weit überragt, fast immer dem Vorwurfe ausgesetzt, den man
„AbsenteeiSm" nennt."
„Ohne Zweifel sind viele der größten LdrdS auch die besten Guts herren, aber die kleineren residiren mehr, sie können nicht Monate lang in London oder Paris leben." „Landbesitz aber bringt die Pflicht der Anwesenheit mit sich.
Die
Landbesitzer sind die Bewahrer (holders) des Landes zum Wohle der ört
lichen Bevölkerung; sie sind „Trustees" deS allgemeinen Nationalvermögens an Grundbesitz."
„Bei den größten Grundherren aber, die also nothwendigerweise auf
der Mehrzahl ihrer Güter abwesend sind, wird der Agent, der Generalbevollmächtigte der wirkliche regierende Herr.
Dieser aber hat
natürliche Neigung und gewissermaßen pflichtmäßigen Trieb, knauserig zu wirthschaften und die Renten mit geschäftsmäßiger Strenge einzutreiben."
„Ferner hindert ein so übermächtig vornehmer Herr die Bildung
kleinerer lokaler, politischer und sozialer Zentren in der Gegend welche er beherrscht.
Die einfachen Gutsbesitzer (Gentry), meistens der alte,
urwüchsige Kern der Landaristokratte, dieses wichtigsten Theils unseres staat
lichen und politischen Systems, diese kommen neben jenem erdrückend großem Landherrn nicht zu ihrer völligen Geltung."
„Zudem" sagt Mr. Shaw Lefevre*), ein sehr entschiedener Liberaler
„bin ich durchaus kein Lobredner der jetzigen Rekrutirung der bekannten „955 größten Landherren" durch „frisches Blut", wie sie in den letzten
dreißig Jahren stattgehabt hat."
„Ungefähr sechSzig „homines novi“ sind in dieser Zeit in die Klasse
der 30,000 Acres eingerückt: einige durch Käufe, einige durch Heirathen. Aber fast kein einziger Name, der sich durch hervorragende öffent
liche Dienstleistungen berühmt gemacht hätte.
Die Zeiten der CecilS,
Walpoles, Howards, Marlboroughs und Wellingtons sind vorüber." Die Liste der „SechSzig" enthält fast ausschließlich: siegreiche Kauf leute, hervorragende Baumwollenspinner und Brauer,
glückliche Besitzer
von Kohlengruben, Eisenhämmern u. s. w.
*) Freedom of Land by G. Shaw Lefevre M. P. London 1880.
Landgesetze und Landwirthschaft in England-
470
Aus diesen Staffen worden jetzt die „Familien gegründet". „ES darf wohl ein Zweifel gestattet fein, ob die englische Gesellschaft ein wirkliches Interesse daran hat, diesen ehrenwerthen und „verdienst
vollen" Personen die Mittel zu gewähren, um ihre Namen» auf bet Grund lage eines großen „befestigten" Grundbesitzes, in unserer Geschichte zu
verewigen." —
6. Wir gelangen jetzt zur letzten Anklage der Reformer gegen den bestehenden RechtSzustand. Dieser Angriff findet wohl die ungetheilteste. und aufrichtigste Zu
stimmung in allen betheiligten Steifen, mit Ausnahme vielleicht der Sach walter (Attorneys).
ES handelt sich nämlich um die „RechtSformen
deS Verkehrs mit Grundstücken, um ihre Uebertragung und
Verpfändung"; die sogenannten „Conveyances“. „Das Grundeigenthumsrecht ist ein Repertorium jeder denkbaren Ab
surdität" ---------so beginnt ein Artikel über dieses Thema in einem ge mäßigt konservativen Wochenblatte, dem Pall Mall Budget. „Wer eS beseitigte" erklärt Mr. Farrer, der ständige erste Sekretär des Handels
amtes in der Fortnightly Review, „und ein einfaches klares System an die Stelle setzte, wie eS in anderen civilisirten Ländern existirt, der würde eine Masse von Gesetzeskunde auf den Sehrichthaufen fegen, die jetzt eine
Qual und Schande für den menschlichen Verstand und eine Quelle von Hindernissen und Verlegenheiten für unser Leben ist." — „Gesetzt" sagt Mr. Arnold, „gesetzt, der alte Napoleon wäre seiner
Zeit von Boulogne auS in England gelandet, er hätte London erobert und wir hätten, statt fünf, zehn Milliarden Francs bezahlen müssen —
aber er hätte bei dieser Gelegenheit die LandlawS beseitigt:
so würde er unser größter volkSwirthschaftlicher Wohlthäter ge worden sein und die Reform wäre zudem noch billig gewesen." Diese Urtheile taffen an Bestimmtheit des Ausdrucks wenig zu wün schen übrig.
Drei Punkte sind eS hauptsächlich, die,--------------Doch „ich bin des trocknen Tons nun satt" und will lieber meinen geduldigen Lesern eine kleine Geschichte erzählen.
Einer meiner englischen Freunde hatte durch zwanzigjährige, erfolg
reiche Arbeit in Australien sich ein ausreichendes Vermögen erworben und
kehrte in die Heimath zurück um dort den Traum seiner Jugend zu ver wirklichen:
„Mitglied der landed gentry" zu werden.
Er kaufte ein schönes Gut in Wiltshire und beabsichtigte, da er das
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
471
Kausgeld in der CoutS' Bank liegen hatte, rasch zu zahlen und in den ge sicherten Besitz feines neuen Heims zu gelangen. Sein Attorney machte hiezu ein bedenkliches Gesicht:
„Aus dem Gute," bemerkte er „steht seit etwa dreißig Jahren eine Hypothek."
„Dann zahlen wir deren Betrag an den Psandgläubiger"
erklärte
mein Freund, rasch entschlossen.
„Wohin denken Sie, lieber Herr", erwiderte der Anwalt „Sie scheinen
in Australien vergessen zu haben, daß hier zu Lande der Pfandgläubiger
fingirter Besitzer ist.
Daraus folgt die singirte Nothwendigkeit diesen
fingirten Besitz, durch ein fiktives Geschäft wieder zurück zu übertragen. Nun kennen wir ja unsere jetzigen Pfandgläubiger gar nicht.
Außerdem
wissen wir gar nicht: ob das Gut nicht von irgend einem Borbesitzer ein mal „gebunden" ist." „Aber" so wagte mein Freund einzuwenden, „der Verkäufer hat uns doch versichert, daß er freier Besitzer sei?"
„Dann glaubt eS der ehrenwerthe Herr ohne Zweifel selbst"
er
widerte der Attorney wohlwollend; „aber wie? wenn er sich nun irrte?
Schon mancher hielt sich lange Jahre für einen freien Eigenthümer und plötzlich fand er in einer alten Truhe ein unbekanntes Dokument auS
dem das Gegentheil hervorging!"
Meines Freundes fröhliches, von HeimathSgefühlen geschwelltes Herz begann etwas ruhiger zu schlagen.
„Also was ist zu thun"? fragte er
geschäftsmäßig. „Zunächst" belehrte ihn sein Rechtsbeistand „muß der Verkäufer die Beweise und Belege liefern über die Geschichte deS Gutes in den letzten
40 Jahren; über Verkäufe, Verpfändungen, Vererbungen und zwar einmal in Beziehung auf ihn selbst und seine Vorfahren als wirkliche Besitzer,
sodann aber auch über die sämmtlichen fingirten Besitzer: die Pfand gläubiger." „Was letztere betrifft" fuhr der erfahrene Mann der Praxis fort,
„so weiß ich: daß die alte Hypothek ursprünglich zu Gunsten von vier
Schwestern eingetragen war.
Von diesen waren zwei verheirathet.
Eine
wurde von ihren Kindern beerbt, die andere war kinderlos und ihr Mann erbte, von ihm später seine Verwandten. Die Dritte machte ein Testament
für Freunde in Amerika.
Die Vierte wurde von anderthalb Dutzend
verschiedenartiger Neffen und Nichten beerbt, von denen Ihnen vermuthlich
einige in Melbourne und Umgegend begegnet sind. — DaS war vor
20 Jahren; was seitdem die Ordnung der Natur mit all diesen Kindern,
Freunden, Neffen und Nichten zu Wege gebracht hat: alles das muß an'S
472
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
Tageslicht!
Denn unser Verkäufer muß nachweisen: daß und an wen
Sie zu zahlen haben mit der sicheren Wirkung, daß das Grundstück völlig frei wird.
So verlangt es die Fürsorge unseres Pfandrechtes."
„Wie lange wird denn das wohl dauern?" fragte mein Freund, schon
wesentlich kühler. „Das weiß ich nicht" erwiderte der Anwalt mit Zuversicht; „hoffentlich nicht über ein Jahr."
„WaS wird denn das alles wohl kosten" fragte darauf mein Freund ziemlich kleinlaut, denn in seinem umnachteten australischen Begriffsver
mögen begann eS nachgrade zu dämmern. „Das weiß ich nicht" wiederholte der Rechtsbeistand mit uner
schütterter Sicherheit, indem er mit ernster Miene, neben seinem Klienten vorbei, aus dem Fenster starrte als ob von dort die Aufklärung herannahe. —
Nach mehreren Monaten der Unruhe, der Unbequemlichkeit und Er wartung rollte endlich des Verkäufers Sachwalter eines schönen Tages
einen Schubkarren voll Dokumente in das diesseitige Hauptquartier.
„Ich muß bekennen" erklärte einige Wochen später meines Freundes Rechtsschutzmann, „die Sache scheint mir durchaus noch nicht klar.
Bitte,
lesen Sie und entscheiden Sie selbst; ich kann die Verantwortlichkeit nicht
übernehmen." „Wie kann ich das Zeug lesen!" erwiderte mein Freund völlig nieder gebrochen, „ich verstehe die Geschäftssprache aus der Zeit Heinrichs VIII.
nicht.
Außerdem sieht jedes Aktenstück aus als ob eS sich vier bis fünf
mal in sich selbst wiederholte!
Nein, das überlasse ich Ihnen!" —
Jetzt begann unser Attorney zu kritisiren und zu forschen.
DaS Jahr
erfüllte sich, endlich war er fertig.
„Ist nun alles sicher?" frug mein Freund hoffnungsvoll. „Ja", erwiederte der Jurist mit Vorsicht, „soweit man überhaupt
in England Eigenthumstitel feststellen kann.
Denn — Sie werden be
greifen — es ist ja logisch völlig unmöglich, zu beweisen: daß irgend etwas weiteres sich mit dem Gute oder einem Theile desselben über
haupt nicht zugetragen habe.
Formelle zweifelsfreie Sicherheit giebt
eS daher nicht."
„DaS begreife ich" gestand mein, jetzt endlich aufgeklärter Freund
zu,
„eS bleibt immer ein mehr oder minder dichter englischer Nebel
zurück." — „Uebrigens" fuhr der RechtSkenner beruhigend fort, „ist Ihre Situation keineswegs schlechter als die von Tausenden anderer Gutsbesitzer
in diesem Lande." — Die Rechnung des gewissenhaften Sachwalters war den Bemühungen
entsprechend — unglaublich —: über vier Prozente der Kaufsumme.
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
473
„Sie kommen mit den Kosten noch gnädig davon" bemerkte der wohl wollende Rechtsbeflissene, als er meines Freundes Check auf CoutS' ent gegennahm und quittirte, — „und zwar deshalb weil das Kaufobjekt ein
so bedeutendes ist." „Haben Sie denn keinen ad valorem Tarif in Ihrem Geschäfte?" erkundigte sich mein erleichterter Freund, — nur um sich zu unterrichten.
„Gewiß" erwiederte der Anwalt mit Würde; die „Juristische Gesell
schaft" hat einen solchen Tarif nach Prozenten ausgearbeitet und er steht
„Aber" setzte der biedere Patriot hinzu
unseren Kunden zur Wahl frei.
„dieser ad valorem Tarif ist so hoch daß man ihn anständiger Weise
nur gegen Ausländer anwenden kann." — Als aber mein Freund endlich seine Dokumente hatte, da begannen
neue Sorgen.
Wie sollte er diese theuern Pfänder für sich und seine
Nachfolger hüten, wo diesen Schatz sicher vor Dieben, Mäusen und Feuer
Beim Attorney niederlegen?
bewahren?
nur ein Mensch! — In der Bank?
Der ist doch schließlich auch
Beides kostet Geld. —
Mein Freund hatte in Australien erlebt wie man dort weite Strecken Landes, nach einer offiziellen Karte nebst Meßregister, bei der Register behörde in zehn Minuten kauft und verkauft.
Er hatte auch auf dem
Kontinente einmal von „Grundbüchern" und „Hypothekenregistern" reden hören.
Ein Hoffnungsstrahl!
Er eilte zu seinem bewährten Attorney.
„Könnte ich meine Titel nicht registriren lassen?" „Registriren?" fragte der Anwalt geringschätzig zurück.
„Haben Sie
Er war Lord Kanzler während Sie
von Lord Westbury'S Act gehört?
drüben farmten, und brachte im Jahre 1862 ein Gesetz durch, nach welchem
jeder Landtitel öffentlich registrirt werden konnte, jedoch nur nach
genauer Prüfung.
Hiezu meldete sich Niemand oder doch so wenige
Grundbesitzer, daß die Durchführung der Registrirung im Königreiche etwa
760 Jahre
gedauert haben würde.
Bei der
allgemeinen
egyptischen
Finsterniß fürchtete jeder einzelne Besitzer — die meisten natürlich ohne
Grund — grade seinen Titel zuerst beleuchten zu lassen."
„Der jetzige Lord Kanzler Earl CairnS wollte die Sache praktischer anfassen.
Durch die „Land Transfer Act“ im Jahre 1875 wurde be
stimmt : daß jeder Uebergang des Eigenthums ohne alle Prü fung registrirt werden sollte.
Er rechnete so: daß auf diesem Wege
alle jene thatsächlichen Aufzeichnungen nach zwanzig Jahren praktisch unanfechtbar sein würden. — DaS war nun doch den jetzigen Eigen thümern wieder zu lange hinaus um dafür ihr Geld auszugeben. Außerdem wurden Hypotheken und andere Lasten nicht eingetragen!"
„Nun rathen
Sie einmal" schloß der Rechtsgelehrte seinen Bericht, „wieviel Titel heute.
Landgesetze und Landwirthschast in England.
474
„Achtundzwanzig".
zuEnpe des Jahres 1877, schon eingetragen sind?
Diese «her sind unlöschbar und werden ewig in Englands RechtSge-
schichte dqstehen, wie ebensoviel Vogelscheuchen!
Wollen Sie Nr. Neun-
undzwanzig sein?"---------
Im Jahre 1878 kaufte mein, immer noch nicht völlig gewitzigter
Freund
zwei Felder zu,, um sich
zu
er bezahlte
arrondiren;
dafür
1200 Pfd. Sterl. Wiederum endlose Titelprüfung.
Seine Kostenrechnung betrug dieses
Mal 130 Pfd. Sterl., also 11 Prozent des Kaufgeldes. „Das ist ja eine Prohibitivsteuer auf den Landhandel" bemerkte er dem getreuen Sachwalter, nachdem er bezahlt hatte.
„Sie sind ungerecht", erwiederte der Mann der historischen Schule.
„Sie sind ja offenbar noch bevorzugt dadurch daß sie beide Felder kauften. Wären dieselben in zwei verschiedene Hände von A. und von B. ge
kommen, dann hätte A'S Attorney geprüft und B'S Attorney hätte ge
wissenhafter Weise gleichfalls selbständig prüfen müssen. — Nun machen
Sie
gefälligst die Rechnung.
mithin
Sie bezahlten 1330 Pfd. Sterl.,
11 Prozent Zuschlag, A. hätte bezahlt: 600 -s-130 --- 730 Pfd. Sterl., l „ O1 „ B. „ „ : 600 + 130 = 730 . ,, „ | al” 21
,
_
Zusammen 1460 Pfd. Sterl.
Sie sehen: unser System ist ein Schutzzoll: für die reichen Leute." —
Im Jahre 1879 verkaufte mein Freund wegen rheumatischer Be schwerden sein Gut in Wiltshire wieder und erwarb ein Eigenthum im
sonnigen Rheingau.
Bor dem Amtsrichter wurde ein Kontrakt gemacht —
verlautbart, eingetragen, umgeschrieben.
Das Ganze dauerte 30 Minuten
und kostete ein Prozent des Kaufgeldes.
Als mein Freund diesen rapiden Verlauf seinem Attorney mittheilte, schüttelte dieser sein erfahrenes Haupt:
„Das wäre schlimm für uns",
sagte er dann bedenklich.
„Das letzte aber" so schloß mein viel geprüfter Freund diese wahre Geschichte, „das letzte was ich je in meinem Leben thun werde, ist: jemals
wieder Grundbesitz in England zu kaufen!
It is an ungodly
jumble indeed! IV. Die Ziele der Reform.
Alle Parteien sind darüber einverstanden, daß die „Landgesetze" sich zu einer Revision eignen.
Ueber die Art und die Ausdehnung der Aen
derungen gehen allerdings die Ansichten der verschiedenen Standpunkte
Landgesetze und Landwirtschaft in England.
weit auseinander.
475
Fragen wir also zunächst nach dem Standpunkte
der bisherigen konservativen Regierung.
Bei der Eröffnung des Parlamentes qm ß. Februar d. I, versprach.'
die Thronrede: „Es werden Ihnen Gesetzentwürfe vorgelegt werden über die Er
weiterung der BerfügungSrechte der Eigenihü-mer gebundenen Grundbesitzes -------- und über die Vereinfachung deb Verfahrens
bei Uebertragung von Grundstücken." Die Times gab zu diesem kurM Texte einen kurzen Kommentar:
„Ein
neues
„Landgesetz"
dürft« das Gewohnheitsrecht
über
die
intestate Vererbung von Grundeigenthum (also die Primogenitur) ändern und auch wohl einige der Hindernisse erleichtern, welche jetzt hie
und da den Verkauf gebundenen Grundeigenthums erschweren.
Aber man
darf nicht erwarten, daß das gesammte Gesetz über Settlement nmgeschmolzen werden wird, umsoweniger als hierüber noch kein einzige- festeProjekt von irgend einem verantwortlichen Politiker formulirt ist.
Wir
haben darüber viel wildes und unstäteS Gerede gehört, bis jetzt aber fehlt
uns noch j«de reifliche und sorgfältige Prüfung dieser Materie." Aber selbst die bescheidenen Erwartungen des großen „PulSfühlerS der öffentlichen Meinung" wurden durch die Vorlagen nicht erfüllt, die
bald darauf der Lord Kanzler im Oberhause einbrachte. Diese enthielten nämlich im wesentlichen nachstehende Aenderungen:
1.
Der „lebenslängliche Nutznießer" soll daS Recht erhalten, Theile
seines Grundbesitzes zu verkaufen.
Das Herrenhaus auf dem Gute nebst
Zubehör, (also daS Gut als Ganzes) darf jedoch nur mit. Einwilligung der „Trustees" verkauft werden.
2.
Der Erlös soll zunächst zur Abzahlung von Hypothekenschulden ver
wandt werden.
Der Ueberschuß ist sicher zu belegen, durch die „TrusteeS"
oder bei Gericht.
3.
Der „Tenant for Life" darf langjährige Pachtkontrqkte selh-
ständig abschließen, jedoch nicht über daS Herrenhaus. 4.
Er darf, unter Kontrolle der „Enclofure. Commissioners", Melio
rationen ausführen und mit deren Kosten daS Gut belasten, so daß ihm eine persönliche Forderung an dasselbe erwächst. 5.
Der Geschäftsverkehr mit Grundstücken wird in folgenden Punkten
vereinfacht: a, es werden kurze Kontraktsformulare in verständlichem Englisch
vorgeschrieben;
b, die Gebühren der Sachwalter werden nach Prozenten des WertheS
geregelt;
476
Landgesetze und Laudwirthschast in England.
c, die Untersuchung der Titel erfolgt durch die Registerbehörden; sede abgeschlossene Entscheidung der letzteren bildet einen neuen unanfecht
baren Titel für die Vergangenheit. —
In dem begleitenden TageSartikel sagt die TimeS: „Diese Neuerungen werden unsere Theoretiker nicht befriedigen denn es wird durchaus keine
umwälzende Maßregel beantragt."
kurz:
Vergegenwärtigen wir uns hier noch
was nicht vorge
schlagen wird. Nicht vorgeschlagen wird: Aenderung in der Dauer der Settlements,
in der Primogenitur, im Pfandrecht; Einführung von Grundbüchern, von
Zwangsverkäufen auf Antrag der Gläubiger, von Pfandbrief- und Kredit instituten, Verbesserung der Stellung der Pächter! — Ein weit reicheres Material an Vorschlägen brachten selbstver
ständlich die Reformer.
Alle gemäßigten Liberalen sind darin einverstanden: daß zwar viel
erlei zu thun sei, daß aber diese Aenderungen nur allmälig, „mit fort
schreitender Reife der öffentlichen Meinung" Sie verlangen im Prinzipe:
ausgeführt werden sollen.
alle künstlichen Fesseln sollen beseitigt
werden, den natürlichen Kräften und Bedürfnissen der Volkswirthschaft soll möglichst freies Spiel gelassen werden.
Ein, fast bis zur Inhaltslosigkeit allgemeiner Satz!
Die hauptsächlichsten Gegenvorschläge der Reformer waren fol gende: 1.
Jeder Grundeigenthümer hat fortan nur die Befugniß,
seinen
Grundbesitz in der Hand seines nächsten lebenden Erben zu binden.
Dagegen sind Verleihungen an eine Reihe von Personen und an einen
Ungeborenen untersagt. 2.
Jeder Grundeigenthümer hat das Recht:
jenigen unter seinen Erben zu bestimmen,
denjenigen oder die
an den oder die sein Grund
besitz fallen soll.
3.
Bei Jntestaterbfolge soll vermuthet werden:
daß der Erblasser
gleiche Vertheilung seines gesammten Nachlasses unter seine Erben ge
wollt habe. 4.
Die Güter einer Erbtochter, welche mehrere Kinder hinterläßt,
sollen niemals auf den Erben der väterlichen Güter übergehen. 5.
Ueberschuldete Güter sollen auf Antrag der Gläubiger unter ge
richtlicher Kontrole verkauft werden. 6.
Alle veralteten Fiktionen und Formalien bei Veräußerung und
Verpfändung von Grundeigenthum sollen beseitigt werden.
Lanbgesetze und Lanbwirthschaft in England.
7.
477
Wenn demnächst auf diesem Wege die „Titel" klar und einfach
geworden sind, sollen Grundbücher und Pfandregister eingeführt werden. 8.
Die Pächter sollen
durch unverzichtbare-
Meliorationen sicher gestellt werden.
Recht wegen ihrer
Da- Pfändung-recht de- Verpächter-,
der „Distreß" soll abgeschafft werden. — Wahrscheinlich wird es meinen Lesern aufgefallen sein, daß unter
allen diesen Vorschlägen niemals ein solcher auftritt, wie er un- nach un
serer Gesetzgebung nahe liegen würde, nämlich: Settlement- und Primo
genitur auf Landgüter zu beschränken, deren Areal und Steuer kapital einen gewissen Minimalsatz übersteigen.
Die Erklärung
hiefür möchte darin zu finden sein: daß alle- wa- den Charakter von
„dass legislation“ hat, d. h. wa- einen gesetzlichen Unterschied von
„reich"
und
„ärmer"
statuirt,
der englischen
theoretischen Anschauung
grundsätzlich widerstrebt, wie sehr auch dieser Unterschied thatsächlich da ganze öffentliche Leben in England beherrscht. Werfen wir jetzt noch einen flüchtigen Blick auf einige Forderungen der Radikalen.
1.
Unter diesen finden wir:
Abschaffung der Gut-Herren, „wie in der Schweiz, Frankreich und
Deutschland", durch Verwandlung der Pächter in Eigenthümer. 2.
Da- englische Gesetz soll überhaupt ein irgend wie beschränkte-
Eigenthum nicht anerkennen. 3.
Da- gesammte Pfandrecht soll abgeschafft werden.
Der geldbedürftige Besitzer soll sein Gut stückweise verkaufen. 4.
Alle wüsten und schlechtbewirthschafteten Grundstücke sollen von
der Regierung ezcpropriirt und an fleißige Arbeiter gegen feste Renten verpachtet werden. Und so geht e- fort, bi- tief in den sozialistischen Unsinn hinab. Der Vorlage der konservativen Regierung ist durch die unerwartete
Auflösung de- Parlamente- und durch die noch unerwarteteren Ergebnisse der Neuwahlen ein jähes Ende bereitet.
Ohne Zweifel wird die Bill in
ihrer jetzigen beschränkten Ausdehnung nicht vor da- neue Unterhaus ge langen.
Welche Ausdehnung ihr da- neue liberale Ministerium jetzt geben
wird, wo die liberale Partei ihrerseits vor die feste Formulirung durch gearbeiteter gesetzgeberischer Vorschläge gestellt ist? — darüber heute Ver muthungen aufzustellen dürfte müßig sein.
Aber — „Leicht bei einander wohnen die Gedanken, „Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen."
Landgesetze und Landwirthschaft in England.
478
Das Maß des „mehr" wird wohl wesentlich davon abhangen, ob im neuen Ministerium -und Im Unterhause der rechte Flügel der „Liberalen", die alten Whigs, oder ihr sinter Flügel, die Modernen, das Uebergewicht
behaupten wird. Vermuthungen von einigem Werthe würden uns die Aeußerungen
-Lord SelborneS bei Berathung der letzten Lord CairnS'schen Bill im
Oberhause gestatten-
Lord Selborne ist einer der hervorragendsten eng
lischen „LawyerS" und der voraussichtliche nächste Lord Kanzler. Leider jedoch -war seine Kritik der Vorlage sehr allgemein gehalten
und
in ein hypothetisches Lob gekleidet:
„Wenn diese Bestimmungen
wirklich den und den Zweck erfüllen würden — dann — u. s. w." Vielleicht sah er seine baldige Berufung zum selbstthätigen Handeln
voraus und wollte sich nicht binden.
Der Professor Blackye in Edinburgh, ein gemäßigter Reformer, schließt
einen Artikel im diesjährigen Januarhefte der Contemporary
Review mit folgenden Betrachtungen über die Schwierigkeiten einer Reform der Landgesetzer
„Ohne Zweifel"'sagt er „wird sich gegen
unsere Vorschläge ein großes Geschrei erheben." „Indessen liegen die Schwierigkeiten der Reform nicht sowohl in der Sache selbst als in dem
allgemeinen
Mangel
an
energischem
guten Willen."
„Unsere Widersacher sind zahlreich. 1.
Es sind
die Landeigenthümer selbst; wenigstens die großen und die
nicht überschuldeten, aus Familieninteresse und Tradition.
Sie glauben —
vermöge einer gewissen gegenseitigen Bewunderung — das Heil Englands
beruhe auf dem Beharren im jetzigen Zustande.
Der einzelne steht dabei
unter der Tyrannei der Sitte und seiner Stanvesgenossen. 2.
Die Sachwalter, da deren gedeihliche Thätigkeit wesentlich vom
Fortbestehen der jetzigen künstlichen Verkehrshindernisse abhangt.
3.
Die große Masse, namentlich in den Städten.
Sie hat
sich gewöhnt, dieser unverständlichen und hoffnungslosen Frage „knurrend"
dm Rücken zu kehren.
Denn die überwiegende Majorität der Nation
kommt mit Landkauf überhaupt nicht in Berührung.
Das ist ein Luxus
handel,, den die reiche Minorität unter sich treibt. Für einen Minister bedarf es daher zur Durchführung dieser Reform
weit mehr politischen Muthes und nachhaltiger Energie als etwa für Er weiterungen des Wahlrechtes, oder um den Sektirern beim Einreißen der
Staatskirche behülflich zu sein. „Man-schilt uns „RadicalS"; aber ist es nicht weit konservativer
479
Landgcsetze und Landwirthschaft in England.
im Interesse der kleinen grundbesitzenden Minorität dem stei genden Klassenhasse vorzubeugen und ihre Partei durch zahlreiche kleine
Grundbesitzer zu verstärken, wie das im Jahre 1808 in Preußen mit so glänzendem Erfolge geschah?
Denn wer Grundbesitzer wurde,
der wird konservativ!"
„Wie können wir auf die Länge
an die Dauer eines Systems
glauben, welches die besten Arbeiter und die brauchbarsten Soldaten zur
Auswanderung drängt?" „Hüten wir uns daß nicht ein zukünftiger Plinius über England den traurigen Ausruf wiederhole:
„Latifundia perdidere Italiam.“ Die englischen Landgesetze, ihre Beziehungen zur englischen Land
wirthschaft und ihre Reform sind für Deutschland nicht nur ein Kapitel
aus der „Länder- und Völkerkunde".
Sie haben ein hervorragendes prakti
sches Interesse. Gelingt es der englischen Landwirthschaft auf die Dauer nicht: der
amerikanischen Konkurrenz zu begegnen, so sinkt der Werth des Grundbe sitzes, dadurch auch die Macht der Besitzer, und eine erschütternde, vielleicht
stürmische Umwälzung der dortigen wirthfchaftlichen politischen und sozialen
Verhältnisse steht in Aussicht.
Nicht in nächster; vielleicht auch nicht inner
halb einer schon jetzt berechenbaren Zeit.
Denn die erhaltenden Kräfte
sind nirgends wirksamer als in England und nirgendwo durchdringt das
aristokratische Gefühl inniger alle Klassen, namentlich die ländlichen.
In
diesem Sinne spricht die Times von der „sentimentalen" Vorliebe für
das „Land" und die „alten" Landherren.
Indessen die neuesten länd
lichen Wahlen haben gezeigt daß dort politische Faktoren erwacht sind, mit denen man früher nicht zu rechnen gehabt hatte. Wir sind so viele Jahre hindurch gewöhnt worden, auf England als
das Land der universellen volkswirthschaftlichen Erbweisheit zu blicken daß die jüngste, in unserem DolkSkörper angeregte Reaktion gegen diesen fremden
Tropfen in unserem Blute, jedweder Unterstützung bedarf.
Hiezu dürfte
wohl auch die Erkenntniß beitragen: daß unsere Zustände in Beziehung auf Land und Landgesetze unendlich vernünftiger und gesunder, fortge
schrittener und dadurch auf die Dauer konservatiber sind als die englischen. Jedenfalls stehen wir ebensoweit über den Engländern in der wirthschaft-
lichen Gesundheit unseres immobilen Güterlebens als sie — immerhin — über uns in der Entwickelrmg ihres mobilen Verkehrs.
Wiesbaden int April 1880.
Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts. Was unserer Natur und unseren Interessen gemäß geschieht, fühlen wir als Wohl, was ihnen widerstreitet, als Wehe.
Je nachdem unsere
Interessen verschieden sind, ist das Gefühl des Wohl oder des Wehe verschieden, welches die jenen entsprechenden
drücke in unS erregen.
oder widerstreitenden Ein
Verschieden ist daS Gefühl sinnlicher Lust von dem
Wohlgefallen ästhetischer Eindrücke, von der Befriedigung des Gewissens,
von der Beseligung religiöser Erhebung; verschieden der sinnliche Schmerz von dem peinigenden Gefühl der Reue, von der Trauer über den Tod geliebter Personen, müths.
von der Verzweiflung
eines in sich zerrissenen Ge
ES giebt qualitative Unterschiede der Arten des Wohl und
Wehe, welche so vielfältig sind,
als die Lebensinteressen, welche unS
erfüllen.
Je mehr
andererseits ein Eindruck
einem
und
demselben Lebens
interesse entspricht oder ihm widerstreitet, um so größer und intensiver ist
dieselbe Art des Wohl oder Wehe, welches er uns verursacht.
Es giebt
mithin auch quantitative Unterschiede derselben Arten des Wohl oder
Wehe, welche so umfassend sind,
als das Maß der Befriedigung oder
Nichtbefriedigung, deren unsere Interessen fähig sind. Aber wir selbst sind veränderlich, unsere Interessen sind wechselnd,
verschieden sind die Naturen aller Menschen unter einander,
und vielfach widerstreitend ihre Interessen.
wechselnd
Wir würden zu keiner Ver
ständigung über bestimmte Arten von Wohl und Wehe kommen können,
wenn jene Verschiedenheiten der Naturen und LebenSinjeressen von Person zu Person ganz maßlos und unberechenbar wären, wenn wir selbst nur
dem Augenblicke lebten und nicht in der Erinnerung die früheren Erleb nisse festzuhalten und mit späteren und gegenwärtigen zu vergleichen ver
möchten, wenn nicht gewisse Jntereflen konstant und geeignet wären, Maß
stäbe der Vergleichung deS erlebten Wohl und Wehe zu liefern.
In der
That ergeben sich nicht nur aus der gleichen körperlichen Organisation
Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.
und der Ähnlichkeit der geistigen Veranlagung
konstante Neigungen und Bedürfnisse, übereinstimmen,
sondern eS
481
aller Menschen
gewisse
in denen alle mehr oder weniger
giebt bekanntlich auch bestimmte Werth -
kategorieen von allgemeiner und nothwendiger Geltung, welche geeignet sind, allgemein-gültige und allgemein-verständliche Maßstäbe der Vergleichung und Schätzung aller Arten des Wohl und Wehe abzugeben.
Allen gemeinsam und für alle von mehr oder weniger zwingender Gel tung ist daS Gewissen, das Gefühl deS Sollens und fein begriffs
mäßiger Ausdruck:
der Gedanke einer Bestimmung.
Für den nor
malen Menschen ist die Erreichung seiner Bestimmung daS höchste LebenSintereffe und das, was diesem am vollkommensten entspricht, qualitativ
und quantitativ daS höchste Gut.
Gut der Maßstab
In letzter Instanz ist dieses höchste
aller anderen Güter, denn jenem
obersten Lebens
interesse sind alle anderen untergeordnet, ihre Befriedigung kann für den
normalen sittlichen Menschen nur insoweit als Wohl oder Wehe ge fühlt werden, als sie jener Bestimmung direkt oder indirekt mehr oder
weniger entspricht.
Diese kurze Erinnerung an einen, jedem unbefangenen Beobachter deS Lebens klar und offen vorliegenden Sachverhalt läßt uns die hohe Bedeutung erkennen, welche neben den Fähigkeiten des Vorstellens und
Wollens dem Vermögen deS Gefühls für die Gestaltung und Entwick lung des menschlichen Lebens innewohnt.
Im Gefühl erleben wir die
specifischen Werthe, welche unsere Vorstellungen
beleben
und unseren
Willen zur Thätigkeit aufregen, im Gefühl offenbart sich daS in
haltliche Moment des Lebens, es ist der Quell des Lichts, der Far ben und Töne, welche unS das Bild der umgebenden Außenwelt zu einer lebendigen Wirklichkeit
gestalten,
aus ihm entspringen die ästhetischen,
sittlichen und religiösen Regungen, welche unserem Dasein erst Farbe,
Werth und Inhalt geben.
Nur eine dem Leben abgewandte Spekulation kann sich über die Bedeutung dieses wichtigsten LebensfactorS täuschen, durch dessen Elimi nation der Weltproceß zu einem nichtigen Schattenspiele herabgewürdtgt wird.
Wir finden den Versuch solcher Elimination am energischsten nnd
konsequentesten von dem modernen Pessimismus durchgeführt.
Eduard von Hartmann, der Urheber
dieser neuen Lehre,
statutrt
als einzige Elemente des Weltprocesses nur den Willen und die Vor
stellung. ihm nicht
DaS Gefühl, daS Organ der Werthschätzung, wird von als ein jenen beiden Elementen
coordinirter und von ihnen
specifisch verschiedener ursprünglicher GeisteSfactor anerkannt.
An seine
Stelle wird ein bloßes Nebenprodukt des Willens, die Lust oder Un» Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1. Heft 5.
35
Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.
482
lüft eingeschoben, welche sich mit der Befriedigung oder Nicht befriedigung deS Willens verbinden soll.
sich leer und ohne jeden Inhalt sein soll,
Da der Wille nun an
da eS specifisch verschiedene
Arten deS Willens, deren Werth nach dem Werthe der gewollten Gefühls inhalte bemessen werden könnte, in dem Hartmann'schen Systeme nicht
giebt, so kann eS hier auch nur verschiedene Grade, nicht qualitativ ver schiedene Arten seiner Befriedigung, mithin nur quantitativ verschiedene Grade, nicht specifisch verschiedene Arten von Lust oder Unlust geben. Diese aus speculativen Erwägungen dem wirklich beobachteten, un mittelbar erlebten Sachverhalte substituirte und ihm total widersprechende
Aufstellung der Philosophie des Unbewußten fordert eine fundamentale Umgestaltung der gesammten Ethik. Beruht die bisherige Ethik auf dem gefühlten Werthe deS durch die sittliche Lebensarbeit zu realisirenden Zieles, so muß dieses Funda
ment in sich zusammenfallen, wenn eS überhaupt keine anderen Werthe, keine anderen Arten von Glückseligkeit mehr geben kann als solche, welche in der Befriedigung eines an sich inhaltlosen, blinden und unersättlichen Willens bestehen.
Eine solche Glückseligkeit würde auf einem Niveau
mit der sinnlichen Lust stehen, das Ziel ihrer Befriedigung wäre nur schnöde Selbstsucht, sie könnte nur zum QuietiSmuS führen, ihre Erlan
gung kann nicht das Ziel der menschlichen Bestimmung sein.
innerhalb
Will man
des Gesichtskreises der Philosophie deS Unbewußten, welche
die Welt der Werthe und deS lebendigen Inhalts
in Trümmer schlägt
und ihr ein aus Wille und Vorstellung zusammenconstruirtes Schatten
bild substituirt, trotzdem nach einem
Stützpunkte der Ethik suchen,
in der Gefühlssphäre
telegenen
so kann nicht der kümmerliche Rest von
Glückseligkeit, der jenem Schattenbilds noch anhaftet, sondern nur allen
falls das Gegentheil derselben, das Leid, einen solchen darbieten. Eduard von Hartmann hat in der That kürzlich in einem Aufsatze
der Zeitschrift „Nord und Süd" (Jahrgang 1880 Heft 1 Seite 23—55)*) über die Bedeutung des Leids den Versuch gemacht, jenen Stützpunkt
zu verwerthen. Es ist meine Absicht, die Kehrseite deS dort vor uns aufgerollten Bildes zu zeigen und die Bedeutung des Wohls und seiner vorzüg
lichsten Arten auf die ethische und tntellectuelle Entwickelung deS Menschen geschlechts in kurzen Umrissen hervorzuheben.
Für das Gemeinsame der
verschiedenen Arten des Wehe hat unsere Sprache den gemeinsamen Aus
druck des Leids geschaffen.
Für das Gemeinsame der verschiedenen Arten
*) Der Aufsatz ist seitdem wieder abgedruckt in dem Buche: Zur Geschichte und Be gründung de« Pessimismus von E. v. Hartmann. Berlin. C. Duncker. 1880.
Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.
des Wohls giebt es keinen gleich
unzweideutigen Ausdruck.
483 Ich habe
daher die wichtigste Art deS Wohls, das höchste Gut, d. h. denjenigen Werth, welchen wir dem Ziele unserer sittlichen Bestimmung beilegen, als
Titel dieser Abhandlung gewählt und durfte daS mit gutem Recht, da,
wie ich schon andeutete und noch näher begründen werde, alle Arten deS Wohls ihr Wesen von jener höchsten gleichsam zu Lehen tragen, jedenfalls aber ihr alle untergeordnet sind.
Nur dadurch kann dem im Gewissen sich offenbarenden Gefühle deS Sollens die verbindliche Kraft erwachsen, daß dasjenige, was durch unser
sittliches Handeln realisirt werden soll, uns als ein unbedingt WerthvolleS sich darstellt.
Werthe existiren nur im Gefühle desjenigen, der
sie erlebt, das Ziel unserer Bestimmung muß deshalb auf ein Gut ge richtet fein, besten Güte wir selbst zu erleben und zu fühlen vermögen, mag es um unserer selbst, oder um anderer, oder um Gottes, oder gar
im Hartmann'schen Sinne um irgendwelcher „objectiver Zwecke" willen als Gut geschätzt werden.
Jedes Ziel eines überlegten Handelns überhaupt
muß, wie es im Uebrigen auch beschaffen sein mag, jedenfalls auf Realisirung irgend eines vorgestellten, im Gefühle erlebbaren Werthes ge richtet sein, sonst verliert eS selbst den Charakter eines Zieles und daS
Handeln den Charakter der Ueberlegung.
Selbst wenn wir blos aus
Etiquette oder eines nichtigen Spieles wegen handeln, so thun wir es doch nur
deshalb,
weil
uns die Befolgung der Etiquettevorschriften
wünschenSwerth oder das Spiel unterhaltend ist.
Die Herstellung eines
ganz indifferenten, rein faktischen Zustandes kann nicht der Zweck eines
überlegten Handelns, sondern nur das Resultat eines mechanischen Ge
schehens sein.
Nicht mit diesem beschäftigt sich die Ethik, sondern mit
dem überlegten verantwortlichen Handeln.
Nur solche Ziele haben da
her ethische Bedeutung, welche einer Werthschätzung unterliegen.
Die
Frage ist nicht, ob ein Werth, sondern welche Werthe geeignet erscheinen, daS Ziel
unserer sittlichen Bestimmung
zu bilden oder zu befördern,
welches Gut als das höchste Gut zu betrachten sei? Nur der verderbliche Hang der menschlichen Speculation, die Vor
stellungen und Begriffe von ihren lebendigen Substraten zu trennen und als Realitäten für sich zu behandeln und der triviale, von dem platten
Rationalismus des vorigen Jahrhunderts sanktionirte Sprachgebrauch, unter Glückseligkeit gemeinhin nur daS sinnliche Wohlbehagen zu ver stehen, konnte überhaupt die Aufwerfung der ersteren Frage veranlassen. Auch Kant wurde namentlich durch den letzteren Umstand veranlaßt, den Gedanken der Bestimmung von seinem eigentlichen Inhalte, dem höchsten
Gute loszutrennen und als formales Gebot für sich an die Spitze der
35*
484
Der Pessimismus und die Bedeutung beS höchsten Guts.
Ethik zu stellen.
Nur die Polemik
gegen das Glückseligkeitsideal deS
Rationalismus drängte ihn dazu, jenem formalen Gebote die „Glück seligkeit" als etwas der echten Sittlichkeit Fremdartiges oder gar Feind
liches entgegenzustellen.
Kant meinte aber keineswegs, was Eduard von
Hartmann ihm Schuld giebt, die Glückseligkeit überhaupt, sondern nur eine bestimmte Art derselben, die gemeine Selbstsucht deS sinnlichen Wohl
behagens.
Er fühlte sehr wohl den Werth
der sittlichen Bestimmung
dieses Gefühl des unendlichen Werths der sittlichen Bestimmung
und
allein bewog ihn zu jener Entgegensetzung, indem dieses Gefühl ihm viel zu erhaben schien, als daß er eS dem Begriffe dessen hätte unterordnen
mögen, was man damals unter Glückseligkeit verstand.
Er brachte sich,
was er tief und sicher fühlte, nur nicht scharf und klar genug zum wissen schaftlichen Bewußtsein,
gefühle
als dem
sonst hätte er ganz unzweifelhaft jenem Werth
lebendigen Inhalte deS Sittengesetzes, in dessen
be
griffsmäßiger Formulirung einen bestimmteren Ausdruck gegeben und eS ausdrücklich als dasjenige Moment hingestellt, welches jenem erst die ver bindliche Kraft verleiht.
Das beweist sein Versuch, den von dem Pflicht
begriffe abgetrennten Gedanken deS höchsten Guts später auf einem Um wege wieder damit zu vereinigen, das beweist vor Allem die begeisternde
Wirkung, welche seine praktische Philosophie auf die Zeitgenossen und die
Nachwelt auSübte. Versuchen wir zu analysiren, was dem Gefühle deS Sollens jenen
Character
der
Allgemeinheit
und
Stimme des Gewissens innewohnt,
Nothwendigkeit
so werden
giebt,
welcher
der
wir drei unabweisliche
Voraussetzungen als in und mit ihm gegeben vorfinden, ohne welche eS
das nicht wäre, was es ist, ohne welche eS nicht das Fundament aller
Ethik sein könnte. 1.
Das Ziel unserer Bestimmung erscheint uns nicht nur im All
gemeinen als werthvoll oder als relativ höchster Werth, sondern als ein
unbedingt werthvolleS. 2.
Unbedingt werthvoll kann unS jenes Ziel nur unter der wetteren
Voraussetzung erscheinen, daß der ganze Weltproceß ein teleologisch bestimmter und 3.
daß die Erreichung unserer individuellen sittlichen Le
bensaufgabe den Weltproceß irgendwie zu fördern geeignet ist. Geböte unS das Gewissen nicht, jenes Ziel als ein unbedingt werth
volleS aufzufaffen, so fehlte ihm jene Würde und Heiligkeit, welche das Wesen des Sittlichen ausmachen, eS gäbe alsdann überhaupt
keine Sittlichkeit, sondern nur Utilitarismus und Eudämonismus. Etwas unbedingt WerthvolleS kann eS aber nur geben, wenn der ganze
485
Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.
Weltproceß ein einheitlicher zweckbestimmter ist, denn wenn eS unberechen bare Momente des Geschehens gäbe, welche den thatsächlichen Lauf der Welt beeinflussen, seine Richtung verändern, seine Ziele zweckwidrig durch
kreuzen könnten, so wären alle Werthe nur von relativer Geltung und
Bedeutung.
Unbedingt werthvoll kann aber auch dann, wenn diese Vor nur dasjenige sein,
aussetzung erfüllt ist,
was den Inhalt des
WeltzweckeS selbst ausmacht oder ihn zu fördern bestimmt ist.
Indem das Gefühl des Sollens unS gebietet, das zu sollen, was
unserer Bestimmung gemäß ist und seine Aussprüche von unS als er haben und heilig erfaßt werden, offenbart unS das Gewissen, daß
eS einen unbedingt werthvollen Weltzweck giebt, welcher das Wesentliche aller Wirklichkeit in sich begreift, Erreichung
unserer
und daß
sittlichen Lebensaufgabe ihn
an
die
ihrem
Theile zu fördern bestimmt ist und eS offenbart uns diese
höchste Wahrheit mit demselben zwingenden Gefühle der All gemeinheit und
Nothwendigkeit
welches
allen
seinen Aus
sprüchen den Charakter der Unfehlbarkeit verleiht. Dieser ursprünglich gegebene Sachverhalt der unmittelbaren LebenS-
wtrklichkeit bildet das Fundament aller Ethik und die theoretische Be
gründung ihres Princips kann nur darin bestehen, die von unS beobachteten Ereignisse des Weltlaufs als Momente der Zweckbewegung des gesammten
WeltprocesseS zu begreifen und auS ihnen den Inhalt des Weltzwecks und
die Art zu deuten, wie die Erreichung unserer individuellen Lebensaufgabe ihn zu fördern geeignet sei. Erwägen wir alle obigen drei Voraussetzungen, welche in dem Ge danken unserer Bestimmung aprioristisch gegeben sind, und suchen ihn mit dem Ganzen der unserer Beobachtung sich darbietenden Weltwirklichkeit in
Einklang zu bringen, so erhält, wie ich schon bei einer früheren Gelegen heit*) dargelegt habe, der Gedanke unserer Bestimmung auf dem Boden
der gegebenen Lebenswirklichkeit nur dann einen verständlichen Abschluß, wenn man sich daS Wesenhafte aller Wirklichkeit
Persönlichkeit Gottes
gegeben
denkt,
in
in
der lebendigen
dessen zweckbestimmtes Leben
der Mensch nicht blos factisch und essentiell, sondern auch gemüthlich
mit seinem ganzen LebenStnteresse in Ehrfurcht und Liebe verbun
den ist.
Nur eine solche Weltauffassung kann begreiflich machen, wie
daS höchste Lebensinteresse, das Leben in seiner Vollendung, daS heißt
die
Erfüllung der Aufgabe,
der Idee des
Lebens
in Wahrheit die
höchste Glückseligkeit, und wie zugleich daS Ziel des WeltprocesseS ein
*) Göttinger gelehrte Anzeigen 1878 Stück 35 S. 1116 sqq.
Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.
486
unbedingt werthvolles sei, dem jene Würde und Heiligkeit innewohnt,
welche dem Streben danach den Charakter der Sittlichkeit verleihen.
Nur
eine solche Weltauffassung kann den Grund der sittlichen Verpflichtung,
ihre verbindliche Kraft, theoretisch erklären, indem sie anschaulich macht, daß dieser Grund nothwendig mit dem höchsten denkbaren Gut zusammen
fällt und daß dieses von unbedingtem Werthe ist.
Aus der Weltansicht der Philosophie des Unbewußten läßt sich der
Grund der sittlichen
Verpflichtung
nicht
erklären.
Zwar
behauptet
Eduard von Hartmann, daß der Weltproceß ein zweckbestimmter und die individuelle Lebensaufgabe ihn zu fördern bestimmt sei, aber die metaphy sischen Voraussetzungen seines Systems Widerstreiten jener Behauptung
und,
was die Hauptsache ist:
Das Ziel des WeltproceffeS stellt sich in
seiner Auffassung nicht als ein unbedingt, sondern höchstens als ein
relativ werthvolles, ja als ein höchst kümmerliches, als das geringste Uebel dar.
Zwecke können nur im bewußten persönlichen Geistesleben existent werden.
Der Begriff deS Zweckes setzt ein Wesen voraus, welches nicht
nur Vorstellungen hat, sondern sich deren auch bewußt ist, welches die Werthe der vorgestellten Objecte und Ziele zu wägen, das heißt mit seinem
eigenen Lebensinteresse in Beziehung zu setzen vermag, sich also nicht nur deS letzteren, sondern auch deS Werthes der vorgestellten Objecte und Ziele
bewußt werden kann, denn die Beziehung, Vergleichung und Ab
schätzung sind lediglich Thaten deS Bewußtseins.
Zwecke kann
daher nur ein solches Wesen haben, welches sich seiner selbst und der
Vorstellungen bewußt ist, die eS hat, welches seine eigenen LebenSmomente mit einander und mit einer vorgestellten Außenwelt in Beziehung zu setzen vermag, welches also nicht blos ein Individuum ist, dem nur die Ein
heit des Wesens zukommt, sondern welches zugleich lebendige Per
sönlichkeit ist,
mente
daS heißt ein Individuum, welches die Mo
seines Lebens
durch
das
beziehende Bewußtsein
zu
einer Einheit von höherer Art zusammenschließt. DaS Unbewußte ist nicht Persönlichkeit und kann daher keine Zwecke haben. Ist der Welt proceß blos eine Phase im Leben deS „Unbewußten", so kann eS keinen
Weltzweck geben und giebt es keinen Weltzweck, so kann eS auch nicht ein
sittliches Lebensziel von unbedingtem Werthe geben. Eben deßhalb, weil Eduard von Hartmann den Begriff des unbe dingten Werthes nicht kennt, weil er überhaupt nur quantitativ unter
schiedene Grade von Lust und Unlust,
nicht aber specifisch verschiedene
Arten derselben gelten läßt, drängt die Consequenz seiner Lehre zu dem
Pessimismus, der den Werth des Lebens überhaupt negirt.
DaS Gefühl
487
Der Pessimismus und die Bedeutung de» höchsten Gut».
deS unbedingten Werthes, welches wir mit dem Gedanken unserer Be stimmung verbinden, ist eben die ewige und unvergängliche Sonne, deren erwärmende Strahlen unser Leben erhellen und ihm allein erst Farbe und Inhalt geben, deren Reflexe selbst die tiefsten Schatten deS Leides ver
scheuchen, wenn wir ihnen nur den Eingang in unser Herz nicht durch Unverstand oder bösen Willen verschließen. Ein beseligender Strahl
dieses Lichtes wird nicht durch ein Leben voll Leides ausgewogen.
Die
Bilanceziehung von Lust und Unlust ist schon dann eine unausführbare Operation, sobald man nur die qualitative Verschiedenheit und Jncommen-
surabilität der zu addirenden und subtrahirenden freudigen oder schmerz
lichen Gefühle mit in Rechnung zieht; die HerauSrechnung einer Unter« bilance ist unmöglich, sobald man den einen Factor deS unbedingten
Werthes unserer Bestimmung mit in Rechnung zieht, vor dessen Majestät der Pessimismus in Trümmer sinkt.
Der Besitz dieses Kleinods erhebt
das Leben jedes wahrhaft sittlichen Menschen zu einem Gut von unendlich hoher Bedeutung, dessen Werth durch keine Schicksals
schläge, durch keine Unsumme noch so bitteren LeideS ausgewogen werden kann.
Auf dem Besitze desselben allein beruht der ganze Adel der mensch
lichen Natur; er allein ist die Quelle aller gesunden Werthschätzung deS
Lebens in allen Branchen und Beziehungen. Streichen wir jenes Gefühl des unbedingten Werthes unserer Be
stimmung, so wird eS Nacht in unserem Innern, alle Momente des
Lebens, deren specifisches Glück nur durch die Rückbeziehung
auf jene
Lichtquelle unseres Daseins Inhalt, Kraft und Bestand erhielten, werden entwerthet, das Leben selbst eine unerträgliche Last.
Dann, aber auch
nur dann, nur nach solcher Verstümmelung der sich energisch darbietenden
Lebenswirklichkeit mag der Pessimismus eine Wahrheit, das Nichtsein dem also entwertheten Sein vorzuziehen sein.
Daß daS Nichtsein besser sei als das Sein, weil die Totalbllance der Lust und Unlust für jedes Leben nothwendig einen Ueberschuß der Unlust ergäbe, daS ist die Lehre deS Pessimismus.
Daß der Zweck des
Weltprocesses auf die Vernichtung alles Bestehenden, auf die Wiederauf hebung der durch den dummen unersättlichen Willen deS „Unbewußten"
entstandenen Welt gerichtet, daß die sittliche Lebensarbeit von Millionen
und aber Millionen ehrlich strebender und ringender Menschen auf die Beseitigung der Folgen eines unvernünftigen Einfalls des Absoluten gerichtet sei, der sich, wenn er endlich wieder gut gemacht, wenn die Welt
wirklich einmal vernichtet sein sollte, jeden Augenblick mit der Wahrschein
lichkeit von '/, wiederholen kann, denn das Unbewußte kann nichts lernen und sich nicht bessern: — DaS ist der Grundgedanke, worauf die Ethik
488
Der Pessimismus und die Bedeutung de« höchsten Guts.
Eduard von Hartmann'S beruht; dies ist das höchste Gut, welches' Eduard von Hartmann uns als Ziel der sittlichen Lebensaufgabe hinzu stellen versucht!
Jedermann sieht ein, daß dieses Ziel nicht nur kein höchstes, sondern
gar kein Gut sei, daß ihm nicht ein Schatten jene- unbedingten
EigenwertheS, jener inneren Würde und Heiligkeit innewohnen könne, welche, wie wir gesehen haben, dem sittlichen Ziele
unserer Bestimmung thatsächlich leihen.
die verbindliche
Kraft ver
Die Weltansicht des Pessimismus entspricht daher nicht jenen
a priori im Gewissen offenbarten Voraussetzungen über Sinn und Ziel deS Weltprocesses.
Sie ist nicht im Stande, die gegebene Thatsache
des Gewissens theoretisch zu rechtfertigen, sondern mit dieser Thatsache völlig unvereinbar.
Will man dieser Thatsache gegenüber die Wahr
heit der Weltansicht des Pessimismus behaupten, so bleibt nichts übrig, als jene entweder ganz wegzuleugnen oder sie so zu mißdeuten, daß der
Widerspruch nicht mehr in die Augen fällt. Hartmann in der That.
Letzteres versucht Eduard von
Er erklärt daS Pflichtgefühl als einen Instinkt,
der aus der Nacht des Unbewußten stamme, den das Unbewußte in unS
gesetzt habe, um unsere sittliche Lebensarbeit zur Realisirung seiner un bewußten Zwecke zu gebrauchen, als eine Triebkraft von blos formalem
Charakter, welche unS über den Inhalt dessen, was wir sollen, nicht
belehre.
Eine nichtige Hypothese über die Entstehung deS.
Pflichtgefühls soll unS über dessen in unmittelbarem Geistesleben offen
barte wahre Natur und dessen sittlichen Charakter hinweg täuschen, indem sie die Frage nach dessen Inhalt und den mit diesem a priori gegebenen
Voraussetzungen über Sinn und Bedeutung deS Weltganzen, durch Ver weisung auf die Nacht deS Unbewußten zu beschwichtigen sucht!
Aber
jener, der verbindlichen Kraft deS Sittengesetzes substituirte Instinkt er
scheint seinem Erfinder selbst nicht stark genug, die viel mächtigere
Triebkraft deS Egoismus zu überwinden und dadurch erst der Ethik Raum zu schaffen.
Es
müssen als unabweisliche Voraussetzungen der Ethik
noch andere Surrogate jener verbindlichen Kraft hhpostasirt werden*).
Vor Allem gehört dazu die Erkenntniß der Werthlosigkeit alles Bestehenden.
So lange das Individuum sich noch in der Illusion bewegt, daß es durch sein Handeln irgend eine Glückseligkeit erlangen könne, so lange wird der
Trieb nach Erreichung dieser Glückseligkeit, die Selbstsucht, alle ethischen
Regungen in ihm ersticken, denn ein höheres Gut, welches von ihm als *) Ich verweise in Betreff derselben auf meinen Aufsatz über „die Ethik de- Pessimis mus" in den Preußischen Jahrbüchern (Bd. XLIIL Heft 4 S. 375 sqq.), wo die selben ausführlicher besprochen sind, als der Zweck dieser Abhandlung es erfordert.
Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.
489
werthvoller wie die Ziele des Egoismus gefühlt werden, welches eben durch das Gefühl seines höheren Werthes die verbindliche Kraft in sich tragen könnte, giebt eS ja in dieser alle Werthe nivellirenden und auf
den Gesichtskreis deS Egoismus reducirenden Philosophie nicht.
Nur erst
dadurch, daß das Individuum durch den Pessimismus zu der Einsicht
„emporgeläutert" wird, daß für es selbst in der Welt gar nichts mehr
zu machen
sei, daß Alles
eitel, und die Totalbilance aller Lust und
Unlust nothwendig einen Ueberschuß der letzteren ergäbe, „Selbstverleugnung" und zur Sittlichkeit getrieben werden.
sicht,
daß die Trauben sauer sind,
machen.
soll eS zur
Nur die Ein
kann den Pessimisten zum Ethiker
Deßhalb soll der Pessimismus die nothwendige Voraussetzung
aller Ethik sein. Weil die eigenen ethischen Principien an sich zu dürftig und an sich nicht stark genug sind, es mit den realen Lebensmächten auf
zunehmen,
deßhalb wird der Pessimismus als ethische Voraussetzung in
Scene gesetzt, um vor Beginn der sittlichen Lebensarbeit jene realen Lebensmächte zu entwerthen und unschädlich zu machen.
Das
„in sich völlig bankerotte" Individuum, das aller Lebenshoffnungen und
aller Versuchungen baar und dadurch „zur Selbstverläugnung emporgeläuterl" ist, wird ja nach jedem Strohhalm greisen, der ihm als sittliches
Ziel vorgehalten wird.
Es geräth in seiner pessimistischen „Selbstver
leugnung" zunächst auf den edeln Einfall, das Wohl anderer zu fördern,
doch wiederholen sich hier dieselben Erwägungen, da eS ja kein Wohl
anderer Einzelindividuen giebt, indem sich auch für diese kein Lust
überschuß herauswirthschaften läßt.
Die Culturentwickelung wird deß
halb als weiteres Ziel der Ethik hingestellt.
gebrauch, welcher gestattet, Staat",
ja
Der verbreitete Sprach
auch „die Familie, die OrtSgemeinde, den
die ganze Menschheit in corpore als Individuum zu be
zeichnen, wird in seiner Bildlichkeit ohne Weiteres für baare Wirklichkeit genommen;
eS werden „Individuen höherer Ordnung" creirt und die
Beförderung ihres Wohls als Ziel deS „evolutionalistischen Moralprincips" hingestellt.
Doch auch dieses weitere Ziel der sittlichen Bestimmung er
klärt noch nicht die verbindliche Kraft des Sittengesetzes.
Um diese zu
begründen, wird auf ein metaphysisches Fundament, die „Wesensidentität" aller Individuen mit einander und mit dem Absoluten zurückgegrtffen. Erst die Einsicht, daß das Individuum mit dem Absoluten wesensidentisch,
dessen Interessen also auch seine eigenen seien, verbunden mit der Ueber
zeugung, daß das Absolute nur zur Ruhe kommen und von seinen „GotteS-
schmerzen, die eS wie ein beständig juckender Ausschlag plagen" durch die „Vernichtung des qualvollen AllseinS" erlöst werden könne, soll die ver
bindliche Kraft unserer sittlichen Bestimmung begründen, welche darauf
Der Pessimismus und die Bedeutung deS höchsten Guts.
490
gerichtet sein soll, „an der Abkürzung dieses Leidens- und Erlösungsweges
mitzuhelfen". Dieses sind in kurzen Umrissen die metaphysischen und ethischen
Grundgedanken, auf welchen die Betrachtungen Eduard von Hartmann's über die Bedeutung deS Leids beruhen.
Aber der geistreiche Mann ver
steht eS, die ungeheuerlichen Verkehrtheiten derselben geschickt zu verhüllen
und seine Ansichten den Lesern
mundgerecht zu machen, indem er an
zweifellose Thatsachen der Erfahrung anknüpft und deren ethische Bedeu tung in seinem Sinne zu verwerthen sucht, obgleich jene ethische Bedeutung
auf Voraussetzungen beruht, die den seinigen schnurstracks zuwiderlaufen.
Niemand wird bestreiten, daß „das Leid dazu anspornt, die Ursachen
zu erkennen, zu beseitigen oder ihrer Wiederkehr vorzubeugen, daß es da durch den Verstand übt, stärkt und zu weiterer Entfaltung führt", daß eS
insbesondere „eine der vorzüglichsten Gelegenheiten zur realen Entfaltung, zur Stärkung, Läuterung und Veredelung der sittlichen Kraft sowie zur Vertiefung deS sittlichen Bewußtseins sei", daß eS den Menschen dazu
antreibt „in die Tiefe deS eigenen Busens zu greifen und in den Idealen seines sittlichen
Bewußtseins
den wahren Maßstab finden
lehre, die
Nichtigkeit deS Nichtigen zu erkennen und zu einer ernsteren Auffassung
und Wahrnehmung der Lebenspflichten" führt.
Gewiß
„giebt es kein
Leid, fei eS groß oder klein, leicht oder schwer, vorübergehend oder dau ernd,
lähmend oder tödtlich,
aus dem nicht eine Quelle des reichsten
Segens abzuleiten ist, wenn die sittliche Gesinnung eS richtig an
sängt." Fragen wir aber nach den Voraussetzungen, welche eine solche segens
reiche Wirkung des Leides bedingen, so stellt sich alsbald heraus, daß
dieselben mit der Ethik deS Pessimismus ganz unvereinbar sind.
Worin
anders besteht denn die segensreiche ethische Wirkung des Leides als darin,
daß dieses
den in Oberflächlichkeit und Sinnlichkeit Befangenen dazu
drängt, bei sich einzukehren und in dem Bewußtsein seiner sittlichen Be
stimmung ein Gut zu entdecken, welches unzerstörbar und un
endlich werthvoller ist als die vergänglichen Güter, woran er bisher sein Herz gehängt hatte, daß eS in edler angelegten Naturen
jenes schon entwickelte Bewußtsein noch vertieft und läutert und sie an treibt, den unbedingten Werth jenes Gutes um so höher zu schätzen? Wenn es nun jenes Gut in der That gar nicht geben soll, wenn
alle Glückseligkeit nur als Befriedigung eines der rohen Naturkraft ver
gleichbaren blinden Willens gedacht werden könnte, wenn wirklich alles eitel und die Vernichtung alles Bestehenden das höchste und letzte Ziel
deS Lebens wäre, so würde doch ganz offenbar das Leid jenes
Der Pessimismus und die Bedeutung de« höchsten Guts.
491
Trostes und jener Weihe entbehren, worin seine sittliche Be deutung liegt und alle Sophismen unseres Philosophen vermöchten kein
äquivalentes Surrogat dafür zu schaffen. DaS Leid, wenn wir darunter ein wirkliches ernsthaftes Leid und nicht blos ein gedachtes Schattenbild
des Leides verstehen wollen, würde dann einfach zur Verzweiflung führen, welche alle Thatkraft und sittliche Energie lähmt, anstatt sie anzuspornen. Was sollen uns alle die schönen Reden von „der Vertiefung deS sittlichen
Bewußtseins" und dessen „Idealen", wenn man doch eingestandener maßen einer Weltansicht huldigt, in welcher eS kein sittliches Bewußtsein und keine Ideale geben kann?! Der noch so freigebige
Gebrauch der leeren Worte kann doch die fehlenden Begriffe nicht ersetzen! Wir wiederholen eS: das pessimistische Ziel der Weltvernichtung entbehrt der inneren Würde und Heiligkeit, welche dem darauf gerichteten Streben den Charakter der Sittlichkeit geben und das Bewußtsein solchen Strebens zu einem sittlichen Bewußtsein machen könnten. Es giebt
in der Weltansicht des Pessimismus kein sittliches Bewußtsein und keine Ideale eines solchen; eS giebt in ihr nichts, was dem Leide sittliche Be deutung verleihen könnte.
Wenn wir deßhalb auch zugeben, daß das
Leid thatsächlich im Allgemeinen die sittliche Kraft stärke und daS sitt liche Bewußtsein vertiefe, so müssen wir doch bestreiten, daß der Hartmann'sche Standpunkt diese Thatsache zu erklären und zu rechtfertigen
vermöge. Die Hervorhebung dieser an sich nicht zu bezweifelnde Thatsache in dem bezeichneten Aufsatze war jedoch nur bestimmt, die weiteren Be hauptungen einzuletten, welche erst die fundamentale Bedeutung deS Leides für den pessimistischen Standpunkt Eduard von Hartmann'S in das rechte Licht setzen sollen. Wie eine zweifellose Folgerung aus jener Thatsache, ohne weiteren Nachweis und ohne weitere Begründung wird nämlich von Herrn von Hartmann als ganz selbstverständlich angenommen, daß nur daS Leid die sittliche Kraft zu erwecken und zu stärken vermöge, und die positive Be
hauptung hinzugefügt, daß daS Gegentheil des Leides, die Glückseligkeit nothwendig zum Quietismus führen und die sittliche Kraft lähmen und beeinträchtigen müsse.
Ersteres ist jedoch eine ungerechtfertigte Uebertreibung und letzteres einfach nicht wahr. Die Glückseligkeit führt nur dann zum Quietismus, wenn wir darunter blos das sinnliche Wohlbehagen verstehen und davon absehen, daß eS höhere Arten der Glückseligkeit giebt, deren Eigenwerth ihre sittliche Bedeutung begründet. Wir haben gesehen, daß daS Wesen der
492
Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Gut».
Sittlichkeit grade darin besteht, daß das Ziel der menschlichen Bestimmung
a priori im Gewissen von uns als unbedingt werthvoll gefühlt wird, indem die Würde und Hoheit dieses unbedingt werthvollen Zieles allein erst dem darauf gerichteten Streben den Charakter der Sittlichkeit verleiht.
Die Erreichung seiner Bestimmung ist das höchste Lebensinteresse des sitt lichen Menschen, und das, was jene Bestimmung am meisten zu fördern
geeignet ist, wird von ihm als höchste Glückseligkeit empfunden. Unsere sittliche Bestimmung wird am meisten gefördert durch den kon
sequent auf das Gute gerichteten Willen, durch die Begeisterung des Ge müths, welches nach dem Höchsten strebt, durch die energische Thatkraft,
welche aus jener Begeisterung
entspringt und
keine Mühe und
keine
Entbehrung scheut, das vorgesteckte Ziel zu erreichen; sie wird mehr oder
weniger gefördert durch Alles, was unser geistiges und körperliches
Leben erfrischt und stärkt und es dadurch fähiger macht, seine Aufgabe zu erfüllen durch rüstige Arbeit, Gesundheit, Familienglück, Ordnung der wirthschaftlichen und politischen Verhältnisse, durch die belebenden Anre gungen der Kunst, durch den Ernst des wissenschaftlichen Strebens, durch die ästhetisch
erquickenden Eindrücke unserer landschaftlichen Umgebung,
durch den Sonnenschein des Tages und die Sternenpracht des nächtlichen Himmels, durch die ganze leuchtende und klingende Welt unserer Sinn
lichkeit, mit einem Wort durch Alles, was dem sittlichen Menschen
Glück und Befriedigung schafft.
Denken wir uns andererseits einen ganz idealen Menschen, welcher keine andere Lebensinteressen hat als solche, welche mit seiner sittlichen
Bestimmung im Einklang stehen, dessen Handeln, Dichten und Trachten
bis in alle Einzelheiten durch das Gefühl der Begeisterung für sein ideale-
Lebensziel bestimmt ist, so wird ein solcher kaum noch der Aufmunte rung des Leides in dem vorerwähnten Sinne bedürfen; manche Arten deS Leides werden
eher hemmend
auf die Entwickelung seiner
Geistes- rind Körperkräfte einwirken und iitsoweit die Erreichung seiner sittlichen Lebensaufgabe beeinträchtigen.
Für den wahrhaft sittlichen Menschen, dessen Verhalten doch die Regel
bilden soll,
verhalten,
dürfte
als Eduard
sich
die
Sache mithin nahezu umgekehrt
von Hartmann uns einreden möchte.
Einen
solchen führen die mannigfachen Arten der Glückseligkeit jeden falls nicht zum Quietismus, sie wirken vielmehr belebend und
fördernd auf die Entfaltung seiner dem höchsten Lebensideale schon geweihten Kräfte, während ihm das Leid vielfach hem mend entgegentritt.
Die Steigerung der sittlichen Cultur wird deß
halb die ethische Beihülfe des Leides im Ganzen entbehrlicher machen.
493
Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.
Je mehr das ganze Lebensinteresse der Menschen auf die Erreichung ihrer sittlichen Lebensaufgabe gerichtet sein wird, um so mehr und ausnahms
loser wird sich die Werthschätzung aller LebenSmomente nach diesem höchsten Gesichtspunkte gliedern, um so mehr werden dann alle anderen LebenS-
interessen jenem
höchsten sich
unterordnen und um so höher geschätzt
werden und um so wichtiger erscheinen, je intensiver und direkter sie jenes
Ziel zu fördern geeignet sind.
Alle Arten deS Wohls in ihren un
absehbar vielfältigen Abstufungen werden, je mehr jener ideale Zustand der Menschheit erreicht wird, mit der Kraft und Frische deS Lebens auch die Erreichung des sittlichen Lebensziels fördern; die Glückseligkeit über
haupt wird sich steigern und daS Leid im Allgemeinen sich verringern,
je mehr daS Bewußtsein deS unbedingten Werthes der sittlichen Bestim mung zum Gemeingute aller Menschen wird und je aufrichtiger daS
Streben danach sie alle erfüllt, je mehr und je deutlicher alle Ereignisse als Momente der Zweckbewegung deS Weltprocesses begriffen werden.
Leider sind wir von diesem
idealen Zustande noch weit entfernt.
DaS Hauptinteresse der meisten Menschen ist leider nicht oder doch nicht vorwiegend auf die Erreichung ihrer wahren Bestimmung gerichtet, sondern
auf sinnliches Wohlbehagen oder andere Arten der Glückseligkeit, welche jener wahren Bestimmung mehr oder weniger fern liegen.
Für solche
ist daS Leid unentbehrlich, indem eS sie dazu antreibt, ihr Lebensinteresse
mehr als zuvor auf die wahren, durch keine Schicksalsschläge zerstörbaren Güter des Lebens zu richten.
Nur solche führt die niedrige und
schlechte Art von Glückseligkeit, welche ihren der wahren Bestimmung abgewandten Interessen gemäß ist, zum QuietiSmuS und zum Beharren
auf der niedrigen Stufe ihrer sittlichen Ausbildung, worin sie sich mo mentan gefallen.
Die letztere Art der Glückseligkeit mag der ethischen Bedeutung er mangeln, daS Leid aber erhält seine ethische Bedeutung erst
durch die Anerkennung eines höchsten Guts von unbedingtem Werth, ohne welche eS kein sittliches Bewußtsein und keine
Ethik giebt.
Hugo Sommer.
Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zoll grenze an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt. Ein juristisches Votum.
I. 1.
Die St. Pauli-Frage.
Die Art. 33 und 34 der Verfassung des deutschen Reichs vom
16. April 1871 sind auS der Verfassung deS Norddeutschen Bundes über
nommen.
In dem von der Preußischen Regierung den Staaten deS Nord deutschen Bundes im Jahre 1866 vorgelegten Verfassungsentwurf lauteten
die bezüglichen Bestimmungen (Art. 31, 32) folgendermaßen: „Der Bund bildet ein Zoll- und Handelsgebiet, umgeben von ge
meinschaftlicher Zollgrenze.
Ausgeschlossen bleiben die wegen ihrer Lage
zur Einschließung in die Zollgrenze nicht geeigneten einzelnen GebietS-
thetle." — „Die Städte Lübeck, Bremen und Hamburg mit einem dem Zwecke
eutsprechenden Bezirke ihres oder des umliegenden Gebiets bleiben als
Freihäfen außerhalb der gemeinschaftlichen Zollgrenze, bis sie ihren Ein schluß beantragen."
Bei den Verhandlungen unter den verbündeten Regierungen wurde das Wort „Städte" durch „Hansestädte" ersetzt.
Im Uebrigen gingen
die Bestimmungen unverändert in den dem Reichstag vorgelegten Entwurf und in die Verfassung für den Norddeutschen Bund über.
AuS welchen Gründen daS Wort „Städte" In „Hansestädte" ver
ändert worden ist, ergeben die gedruckten Aktenstücke nicht.
(Vergl. Ver
handlungen deS constitutrenden Reichstags von 1867, Anl. S. 20.)
Der Vertrag zwischen dem Norddeutschen Bunde und den
Süd
deutschen Staaten vom 8. Juli 1867, die Fortdauer des Zoll- und Handels
vereins betreffend, gestattete in dem Art. 6 Befreiungen einzelner Staats
gebiete und Districte vom Zollverein durch folgende Vorschrift: „Die Bestimmungen in den Art. 3, 4, 5, sowie in den Art. 10—20, 22 finden vorläufig keine Anwendung
495
Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze re.
1. auf die nachfolgend genannten Staaten und Gebietstheile des Norddeutschen Bundes: d) in Preußen auf die Ortschaften rc. (Altona ist darunter nicht
aufgeführt),----------------------------------------------------------------------------------------------
e) auf die Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg mit einem dem
Zwecke entsprechenden Bezirke ihres oder des umliegenden Gebiets.-------Sobald die Gründe aufgehört haben, welche die volle Anwendung
des gegenwärtigen Vertrags auf den einen oder anderen der Nr. 1 ge
nannten Staaten und Gebietstheile zur Zeit ausschließen, wird das Prä sidium
deS Norddeutschen Bundes den Regierungen der übrigen ver
tragenden Theile Nachricht geben.
Der BundeSrath des Zollvereins be
schließt alsdann über den Zeitpunkt, an welchem die Bestimmungen der Art. 3—5 und 10—20 in diesem Staate oder Gebietstheile in Wirksam
keit treten." In dem konstituirenden Reichstage wurden Bedenken gegen den Aus
schluß der Hansestädte von dem Zollverbande laut; die Verhandlungen enthalten aber keine Momente, aus welchen sich für die Auslegung der
erwähnten Bestimmungen etwa« folgern ließe. Die Verfassung vom 16. April 1871 enthält die Vorschriften über
daS Zollgebiet in den Art. 33 und 34 mit folgendem Wortlaut: „Deutschland bildet ein Zoll- und Handelsgebiet umgeben von gemein
schaftlicher Zollgrenze.
Ausgeschlossen bleiben die wegen ihrer Lage zur Ein
schließung in die Zollgrenze nicht geeigneten einzelnen Gebietstheile."--------
„Die Hansestädte Bremen und Hamburg mit einem
dem Zwecke
entsprechenden Bezirk ihres oder des umliegenden Gebiets bleiben als
Freihäfen außerhalb der gemeinschaftlichen Zollgrenze, bis sie ihren Ein schluß in dieselbe beantragen."
Lübeck hatte sich im Jahre 1868 dem Zollverein angeschlossen. 2.
DaS Gebiet der Stadt Hamburg besteht bekanntlich auS mehreren
getrennten Stücken. Hiervon wurde ein Theil im November 1867 zugleich
mit Schleswig-Holstein, ein anderer Theil am 11. Februar 1868 in den Zollverband ausgenommen.
Hiernach blieb, abgesehen von einigen Elb-
inseln und dem Cuxhafener Außendeich, ein zusammenhängender, die Stadt
Hamburg selbst umfassender Bezirk außerhalb der Zollgrenze. kanntmachung des
Eine Be
Bundeskanzlers vom 18. November 1868 führt die
zollfreien Distrikte folgendermaßen auf: ,,d) im Gebiete der freien Stadt Hamburg: die Stadt Hamburg, die Vorstadt St. Pauli, die Voigteien rc."
3.
Im Anschluß an den Hamburger zollfreien Bezirk wurden von
Preußischen Gebietstheilen die Stadt Altona sowie ein Theil des Fleckens WandSbeck und des Dorfs Marienthal außerhalb der Zollgrenze gelassen.
496
Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze
Altona war bereits unter der Dänischen Herrschaft Freihafen ge wesen.
Um die Entwickelung ihres Handels und ihr Gedeihen zu be
fördern, wurden dieser Stadt von der Dänischen Regierung Zollfreiheit und manche andere Begünstigungen gewährt.
Eine Verpflichtung Hamburg
gegenüber, die Stadt Altona nicht in die Zolllinie hineinzuziehen, bestand
in keiner Weise; man wollte vielmehr diese Stadt zu einer Rivalin von Hamburg machen und und sie, soweit möglich, auf Kosten der letzteren heben.
Ebensowenig ist Preußischerseits nach der Annexion eine derartige
Verpflichtung übernommen.
Schon hierdurch wird die Ansicht, daß Hamburg berechtigt sein könnte,
gegen die Aufnahme Altona'S in den Zollverband Widerspruch zu erheben, ausgeschlossen.
Die Verfassung kann nicht beabsichtigt haben, der Stadt
Hamburg ein Recht von
solcher Bedeutung in Bezug
auf Preußische
Gebietstheile zu gewähren, daß das Schicksal einer großen Preußischen Handelsstadt von dem Belieben einer fremden, gewissermaßen rivalisiren-
den Nachbarstadt abhängig wäre.
Soweit die Stadt Hamburg nach dem
Art. 34 der Verfassung einen Anspruch darauf sollte erheben können, daß von dem umliegenden Gebiete gewiffe Distrikte außerhalb der Zolllinie
gelassen werden, können jedenfalls nur Ländereien und Oerter von unter geordneter Bedeutung und nicht die Stadt Altona in Frage kommen. Dieses ist auch von jeher die Ansicht der Preußischen Regierung gewesen.
Bei der Berathung deS Etats von 1868 fand im Reichstage eine Verhandlung über die Aufnahme von Altona in den Zollverein statt.
Der Präsident des Bundeskanzleramts gab dabei folgende Erklärung ab: Die Preußische Regierung habe sich mit der Frage, ob Altona in die
Zolllinie einzuschließen, gründlich und eingehend beschäftigt; sie sei bei der Erörterung dieser Frage durch keine andere Rücksicht geleitet gewesen,
als
durch diejenige, das
wohlverstandene Interesse der Stadt Altona
kennen zu lernen und nach der Erkenntniß dieses wohlverstandenen Inter esses ihren Entschluß zu fassen; die Preußische Regierung würde vor den Schwierigkeiten und vor den Kosten, welche mit der Ziehung einer Zoll linie zwischen Hamburg und Altona verbunden sein würden, nicht zurück
geschreckt sein, wenn sie die Ueberzeugung hätte gewinnen können, daß der Anschluß an den Zollverein im wohlverstandenen Interesse der Stadt Altona liege; sie sei aber zu der Ueberzeugung gelangt, daß es für jetzt wenigstens dem Interesse der Stadt Altona mehr zusage, sie aus der
Zolllinie ausgeschlossen zu lassen; damit sei kein Einverständniß mit der
Ansicht ausgesprochen, wonach Hamburgs und Altonas Schicksal in Be
ziehung auf den Zollverein unzertrennlich sei (vergl. ReichStagsverhaiidlungen S. 208)..
an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.
497
Ob der hier entwickelte Standpunkt der Preußischen Regierung, in
sofern das entscheidende Gewicht auf das „wohlverstandene Interesse" der
Stadt Altona gelegt wird, mit der Verfassung vereinbar ist, erscheint in
hohem Grade zweifelhaft.
Die Ausschließung der Stadt Altona von dem
Zollverbande läßt sich nach der Verfassung nur aus zwei Gründen recht fertigen; entweder nach dem Art. 33, weil die Stadt ihrer Lage nach zur Einschließung in die Zollgrenze nicht geeignet ist, oder nach dem Art. 34, weil für den Zweck, den man mit der Einräumung der Frethafenstellung
an Hamburg erreichen will, eS als erforderlich angesehen werden kann, auch Altona zollfrei zu lassen. — Unzweifelhaft ergiebt eS sich aber auS
jener Erklärung, daß die Preußische Regierung damals der Ansicht ge
wesen ist, daß von einem Widerspruch Hamburgs gegen die Aufnahme Altonas in den Zollverein nicht die Rede fein könne.
Gegen diese An
sicht sind bei den Reichstagsverhandlungen auch von keiner Seite Bedenken erhoben.
4.
Der Art. 34 der Verfassung macht den Einschluß der Hansestadt
Hamburg in die Zollgrenze von einem Anträge derselben abhängig. Der Artikel bestimmt die Grenzen des Gebiets, welches zollfrei verbleiben soll, nicht durch eine genaue geographische Bezeichnung, sondern giebt nur einen
allgemeinen Grundsatz für die Bemessung desselben an. Zunächst
nun klar, daß in dem Artikel eine Zusicherung, daß daS
ganze zur Zett der Emanirung der Verfassung außerhalb der Zollltnte
befindliche Gebiet zollfrei gelassen werden solle, nicht enthalten ist.
ES
heißt: „Die Hansestädte Bremen und Hamburg mit einem dem Zweck
entsprechenden Bezirke ihres oder des umliegenden Gebiets" bleiben
außerhalb der Zollgrenze; nur soweit solches dem Zweck entspricht, soll
also dort ein Distrikt zollfrei gelassen werden; eine etwaige Beschränkung deS der Zeit in den Zollverein nicht aufgenommenen Gebiets ist also
vorbehalten. Bei der weiteren Auslegung erscheint eS zweifelhaft, ob unter dem
Ausdruck „Hansestädte" die Staaten oder die Stadtbezirke zu verstehen
sind.
Nach dem Sprachgebrauch ist die eine wie die andere Annahme in
gleicher Weise gerechtfertigt.
Dafür, daß die Staaten gemeint sind, läßt
sich anführen, daß der Ausdruck, wie oben erwähnt, in dem ersten Ent
wurf „Städte" gelautet hat und bet den Verhandlungen der verbündeten Regierungen in „Hansestädte" umgeändert ist.
Wir können tndeffen auf
diesen Umstand kein Gewicht legen, da der Grund, weshalb man die
Aenderung vorgenommen hat, nicht ersichtlich ist.
Der Ausdruck „Hanse
städte" kann nicht bloß deshalb gewählt sein, um anzudeuten, daß eS sich um die Staaten und nicht um die Städte handele; man kann auch demPreußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 5.
36
Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze
498
selben als Bezeichnung für die Städte deshalb den Vorzug gegeben haben, weit er als im amtlichen Verkehr üblich angesehen ist, und weil
er die besondere Stellung dieser Städte betont. Gehen wir nun davon aus, daß unter der Hansestadt Hamburg die
Stadt als solche zu verstehen ist, so hat der Art. 34 den Sinn, daß die Stadt Hamburg mit einem dem Zweck entsprechenden Bezirk ihres oder
des umliegenden Gebiets außerhalb der Zolllinie bleiben soll, bis ihr Einschluß in dieselbe beantragt wird.
Der Ausdruck „umliegendes Gebiet"
erhält dann eine seinem Wortsinn entsprechende Bedeutung.
Eine Un
genauigkeit in der Fassung ist insofern vorhanden, als es heißt: „bis sie ihren Einschluß beantragen"; da sie grammatisch auf „Hansestädte", also auf die Städte bezogen werden muß, während eS nach der Verfassung des
Deutschen Reichs wohl nicht zweifelhaft sein kann, daß eintretendenfalls der Staat und nicht die Stadt als solche den Antrag auf Einziehung Hamburgs in den Zollverein bei dem Bundesrath zu stellen hat.
Nach dieser Auslegung muß mindestens die Stadt oder Hansestadt
Hamburg außerhalb der Zolllinie gelassen werden; in Betreff des um
liegenden Gebiets entscheiden ZweckmäßigkettSrücksichten, bleibt also ein gewisier Spielraum. ES fragt sich also, was ist unter dem Ausdruck „Stadt" oder „Hanse
stadt" Hamburg im örtlichen Sinn zu verstehen.
Um diese Frage beant
worten zu können, müssen wir einen Blick auf die Eintheilung des
Hamburgischen Staatsgebiets werfen. Dasselbe zerfiel nach einer im Jahre 1830 beschloffenen Eintheilung in folgende Bezirke: die Stadt, die Landherrschaft der Vorstädte Ham burger Berg und St. Georg, die Landherrschaft der Geestlande, die Land
herrschaft der Marschlande, das Amt Ritzebüttel und das mit Lübeck ge meinschaftliche beiderstädtische Amt Bergedorf.
Im Jahre 1833 wurde
der Vorstadt „Hamburger Berg" der Name „Vorstadt St. Pauli" bei
gelegt; auch wurden in diesem Jahre die Patronate der Vorstädte St.
Pauli und St. Georg unter Aufhebung der Landherrschaft der Vorstädte eingeführt.
Die Vorstadt St. Georg wurde im Jahre 1868 mit der
Stadt vereinigt. Als die Retchsverfassung erlassen wurde, bestand mithin
das Hamburger Gebiet aus folgenden Theilen: 1) die Stadt, 2) die Vor stadt St. Pauli, 3) und 4) die Landherrschaften der Geest- und Marsch
lands, 5) das im Jahre 1867 unter die alleinige Herrschaft Hamburgs
übergegangene Amt Bergedorf, 6) das Amt Ritzebüttel. wurde das Patronat von St. Pauli aufgehoben.
Im Jahre 1875
Seit dieser Zett bestehen
in Betreff des GemetndewesenS und der Verwaltung nur Unterschiede von ganz untergeordneter Bedeutung zwischen der Stadt und St. Pauli; eine
an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.
499
förmliche Vereinigung dieser Vorstadt mit der Stadt, wie bei St. Georg, hat nicht stattgefunden.
Für die Auslegung der Reichsverfassung sind die Verhältnisse be
stimmend, welche zur Zeit der Erlassung derselben bestanden haben. Der
Sinn, welcher sich hiernach ergiebt, kann dadurch keine Aenderung erleiden, daß die Stadt Hamburg inzwischen ihre Verwaltung, Gemeinde-, Polizei wesen oder auch ihre DistriktSeintheilung anders organisirt hat, wenn
auch vielleicht die neuen Einrichtungen, falls sie bereits vor Emanirung der Verfassung bestanden hätten, eine andere Auslegung angezeigt haben würden.
Denn durch die Gesetze deS einzelnen Bundesstaats können die
Reichsgesetze nicht abgeändert werden. Wie sich aus dem Obigen ergiebt, ist wenigstens im Jahre 1871 noch in Hamburg zwischen der Stadt und der Vorstadt St. Pauli unter
schieden.
Es läßt sich nicht behaupten, daß damals der Ausdruck „Stadt"
oder „Hansestadt Hamburg" (wenn letzterer im örtlichen Sinn und nicht für den Hamburger Staat gebraucht ist) die Vorstadt St. Pauli mitbe
Wir wollen ein Beispiel anführen.
griffen habe.
Der § 1 des Ham
burger Baupolizei-GesetzeS vom 3. Juli 1865 bestimmt: „den Vorschriften
dieses Gesetzes sind sämmtliche Bauten innerhalb der Stadt nach deren
gesetzlicher Begrenzung unterworfen." hinzugefügt:
Als transitorische Bestimmung ist
„Bis zur erfolgten Beschlußnahme über die Grenzen der
Stadt gegen das Landgebiet wird, wo in dem vorliegenden Gesetz von
der Stadt die Rede ist, darunter der Bezirk der inneren Stadt und der
Vorstädte St. Georg und St. Pauli verstanden."
Es ist also damals
als erforderlich angesehen worden, ausdrücklich zu bestimmen, daß tat Sinn
deS erwähnten Gesetzes der Ausdruck „Stadt" auch die Vorstädte mit umfassen solle.
später statt.
Die Vereinigung St. Georgs mit der Stadt fand erst
Die Unterscheidung zwischen der Stadt und der Vorstadt
St. Pauli ist namentlich auch im Zollwesen beachtet.
Die erwähnte Be
kanntmachung des Bundeskanzlers führt unter den von der Zolllinie aus
geschlossenen Distrikten auf: d) tut Gebiete der freien Stadt Hamburg: die Vorstadt St. Pauli, die Vogteien rc.
Man hat also bet dieser
Bekanntmachung nicht angenommen, daß „die Stadt Hamburg" „die Vor
stadt St. Pauli" mitumfasse. Bei der Auslegung des Art. 34 ist außerdem zu berücksichtigen, daß
derselbe eine von dem allgemeinen Recht abweichende, eine singuläre Be stimmung zu Gunsten der Hansestädte enthält, und daß solche Vorschriften,
wenn deren Sinn zweifelhaft ist, nach bekannten Rechtsregeln einschränkend
zu interpretiren sind.
Sobald Mo Zweifel darüber bestehen bleiben, ob
die Vorstadt St. Pauli unter der „Hansestadt Hamburg" im Sinn deS 36*
Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze
500
Art. 34 mitbegriffen ist, muß diese Frage vom Rechtsstandpunkt aus ver
neint werden. 5. Wir haben bisher die Auslegung deS Art. 34 von dem Gesichts
punkt aus verfolgt, daß der Ausdruck „Hansestädte Bremen und Ham
burg" auf die Stadtbezirke zu beziehen sei.
Diese Auslegung würde ge
wichtige Gründe für sich haben, wenn eS sich nur um Hamburg handelte;
sie kann aber nicht aufrecht erhalten werden, weil der Artikel sich zugleich auf Bremen bezieht, aber in dem Sinn, welchen er hiernach erhalten
würde, auf die Bremischen Verhältnisse nicht paßt.
DaS Bremische
Staatsgebiet besteht aus 3 getrennten Theilen, aus der Stadt Bremen, Vegesack und Bremerhafen.
für Bremen.
Letzterer Ort ist bekanntlich der Hafenplatz
Da die Freihafen-Begünstigung den ausländischen Zwischen
handel der Hansestädte erleichtern soll, so kann eS nicht zweifelhaft sein, daß Bremen hierauf für Bremerhafen einen Anspruch hat.
Wollte man
den Seehafen Bremens von der Zollfreiheit ausschließen, so würde für
Bremen der Zweck deS Gesetzes vereitelt werden.
Diese Folge würde
aber eintreten, wenn man unter „Hansestädte" im Art. 34 die Stadtbe zirke verstehen wollte.
Der Artikel würde dann nur der Stadt Bremen
mit einem umliegenden Bezirk die Freihafen-Stellung gewähren.
Da
gegen würde eS nicht allein zulässig sein, die Stadt Bremerhafen ohne Zustimmung Bremens in die Zolllinie hineinzuziehen, sondern eS würde sogar strenggenommen nach der Verfassung Bremerhafen nicht außerhalb
der Zollgrenze verbleiben dürfen.
Da solches nicht die Meinung sein
kann, so ist man genöthigt, den Ausdruck „Hansestädte Bremen und Ham
burg" in einem andern Sinn, nämlich als Bezeichnung für die Staaten Bremen und Hamburg zu nehmen.
Hiernach besagt der Artikel: Von
dem Bremischen und Hamburgischen Staatsgebiet sollen dem Zweck ent sprechende Bezirke, dem auch Theile des umliegenden Gebiet» angeschlossen werden können, als Freihäfen außerhalb der Zolllinie bleiben. Der Ausdruck „umliegendes Gebiet" ist allerdings bet dieser Aus
legung nicht ganz zutreffend, allein diese Ungenauigkeit ist nur eine un bedeutende und kann erhebliche Bedenken gegen die Auslegung nicht er
regen. Demzufolge kann der Staat Hamburg verlangen, daß von seinem
Gebiet ein solcher Bezirk außerhalb der Zollltnie bleibt, als „dem Zweck"
de» Freihafens „entspricht". der Art. 33
Berücksichtigt man, daß nach dem Geiste
und 34 der Verfassung zollfreie Distrikte innerhalb
der
Grenzen des deutschen Reichs nur in beschränkter Ausdehnung zugelassen werden sollen, und daß eS sich im Art. 34 um eine Ausnahmebestimmung
handelt, welche im Zweifel einschränkend auSzulegen ist, so kann eS nicht
an die Elbe v»m rechtlichen Standpunkt.
501
zweifelhaft sein, daß unter „dem zweckentsprechenden Bezirk" ein solcher verstanden werden muß, wie er für den Zweck des Freihafens, die Be förderung des ausländischen Zwischenhandels, nothwendig, erforder
lich ist. Der Staat Hamburg hat also keinen Anspruch darauf, daß min destens ein gewisses, bestimmtes Gebiet außerhalb der Zolllinie ver
bleibe; es ist nur dasjenige Areal zollfrei zu lassen, dessen er für seinen
ausländischen Zwischenhandel bedarf. Weiter gehen die Rechte Hamburg'S nicht; ja,
strenggenommen darf ihm nach der Verfassung ein größerer
Bezirk für den Freihafen nicht gewährt werden, selbstverständlich abge
sehen davon, daß nach Art. 33 zur Herstellung einer zweckmäßigen Grenze
anstoßende Distrikte von der Zolllinie auszuschließen sind.
ES handelt
sich um ein Gebiet, dessen Grenzen nach den thatsächlichen Verhältnissen
bestimmt werden sollen.
Dasselbe umfaßt
hiernach möglicherweise die
Vorstadt St. Pauli, kann vielleicht noch auf angrenzende Preußische Di strikte ausgedehnt werden müssen; vielleicht ist eS aber auch statthaft, das
selbe sogar auf einen Theil der inneren Stadt zu beschränken. Die Einschließung der Vorstadt St. Pauli in die Zolllinie ist mit
hin ohne Zustimmung Hamburg'S zulässig, wenn eS nicht für den Zweck
des Hamburger Freihafens erforderlich ist, die Vorstadt zollfrei zu lassen; ob letzteres der Fall ist, entscheidet sich nach den thatsächlichen Verhält
nissen.
6. Wem steht die Entscheidung darüber zu, ob die Vereinigung der
Vorstadt St. Pauli mit dem Zollverein zulässig ist?
mit der zusammen:
Diese Frage fällt
Wer hat für die Ausführung deS Art. 34 der Ver
fassung Sorge zu tragen?
In letzterer Form wird sie von dem Art. 7
Nr. 2 der Verfassung folgendermaßen beantwortet: „Der BundeSrath be
schließt: 2) über die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen all
gemeinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen,
Reichsgesetz etwas Anderes bestimmt ist."
sofern nicht durch
Da entgegenstehende reichS-
gesetzliche Bestimmungen nicht vorhanden sind, so hat der BundeSrath die zur Ausführung des Art. 34 erforderlichen Anordnnngen zu treffen. diesem
Behufe hat er den Sinn desselben
Zu
festzustellen, und dement
sprechend unter Berücksichtigung der thatsächlichen Verhältnisse über die
Abgrenzung deS Freihafengebiets nach seinem Ermessen zu befinden.
Un
erheblich ist eS, daß der Sinn deS Artikels zu Zweifeln Anlaß geben und
daß über die Art und Weise, wie derselbe zur Durchführung zu bringen ist, Meinungsverschiedenheit entstehen kann. Die Verfassung hat für der
artige Fälle der Vorschrift deS Art. 7 No. 2 keine Ausnahmen oder Be
schränkungen hinzugefügt.
Ebensowenig ist ein Einverständniß der zu-
502
Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze
nächst betheiltgten Bundesstaaten, namentlich Hamburgs mit den zur Ausführung des Art. 34 von dem Bundeörath gefaßten Beschlüssen er
forderlich. Die Verfassung verlangt weder Einstimmigkeit zu solchen Be schlüssen, noch giebt sie einzelnen Staaten ein Veto.
Kann der Bundeörath die zur Ausführung
deS Art. 34 gefaßten
Beschlüsse wieder abändern? So bedenklich es auch aus politischen Rück sichten sein mag, ohne gewichtige Gründe erhebliche Aenderungen in Be
treff deS einmal festgestellten Freihafengebietes vorzunehmen, ein recht liches Hinderniß steht nicht entgegen. Theoretisch läßt sich das bei Ham burg zollfrei gelassene Gebiet in zwei Theile sondern. ES werden sich darunter Bezirke finden, welche auf Grund deS
Art. 33 nicht in die Zolllinie hineingezogen sind, weil zur Herstellung
zweckmäßigen
einer
Zollgrenze
deren
Ausschließung
geboten
Hierzu kann vielleicht die Stadt Altona zu rechnen sein.
auSschlüsse beruhen nur auf Zweckmäßigkeitsrücksichten.
erschien.
Solche Zoll-
Die maßgebenden
Verhältnisse können sich nun ändern, indem z. B. die Einwohnerzahl sich
in
einem früher wenig bevölkerten Distrikt
bedeutend vermehrt;
der
Bundeörath kann aber auch ohne eine solche Aenderung in den Verhält nissen bei einer wiederholten Prüfung der Frage zu dem Resultat ge
langen, daß man vorher die mit der Einziehung in die Zolllinie ver bundenen Kosten und Schwierigkeiten überschätzt und andererseits die da durch für den betheiligten Distrikt oder für das Allgemeine entstehenden
Vortheile nicht genügend gewürdigt hat, und daß deshalb die erste Ent
scheidung auf irrthümlichen Voraussetzungen beruht.
In beiden Fällen
steht der Wiederaufhebung des früheren Beschlusses und der Berichtigung
der Zolllinie ein Bedenken nicht entgegen.
Niemand ist zu einem Ein
spruch gegen eine solche Maßnahme berechtigt. Von diesen Zollausschlüssen kann man den nach Art. 34 zollfreien
Bezirk, das eigentliche Freihafengebiet unterscheiden. bleibe, kann der Hamburger Staat beanspruchen.
Daß dieses zollfrei Auch in Bezug hier
auf können sich die Verhältnisse durch eine andere Gestaltung des Han
delsverkehrs ändern.
ES wäre z. B.
Handel Bremens sich in
denkbar, daß der
ausländische
der Weise in Bremerhafen concentrirte,
daß
durch eine Ausdehnung des Zollverbands auf die Stadt Bremen selbst eine wesentliche Beeinträchtigung
könnte.
desselben
nicht herbeigeführt
werden
In solchen Fällen ist die Berichtigung der Zolllinie nach den
veränderten Verhältnissen in keiner Weise untersagt.
Ebensowenig ist ein
Grund ersichtlich, aus dem es rechtlich unzulässig erscheinen könnte, ohne daß
eine solche Aenderung im Handelsverkehr
stattgefunden hat, von
Neuem an die Prüfung der Frage hinanzutreten, ob die bereits zur Aus-
503
an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.
führung gebrachte Abgrenzung des Freihafengebiets dem Zwecke und dem
Bedürfnisse wirklich entspricht.
Die Berichtigung früherer Irrthümer ent
hält vom rechtlichen Gesichtspunkt aus eine vervollkommnete Durchführung der Verfassung, kann also mit derselben nicht im Widerspruch, stehen.
Praktisch gestaltet sich die Sache übrigerlS anders.
Die Zollgrenze
bei Hamburg ist so bestimmt, wie man eS der Zett im Allgemeinen als zweckmäßig ansah.
Darüber, ob die einzelnen Theile des zollfrei ge
lassenen Gebiets auf Grund des Art. 33 oder deS Art. 34 von der Zoll
linie ausgeschlossen worden sind, ist eine Entscheidung
nicht getroffen.
Die oben erwähnte Erklärung deS Präsidenten des Bundeskanzleramts läßt eS sogar als möglich erscheinen, daß bei der Festsetzung der Zoll grenze auf Umstände Rücksicht genommen worden ist, denen nach der Ver
fassung eine Bedeutung nicht beigelegt werden darf.
Bisher ist also
eine Entscheidung darüber noch nicht getroffen, welches Gebiet Hamburg für seinen Freihafen beanspruchen kann.
Erst wenn die Einschließung
eines Theils des bet Hamburg zollfrei verbliebenen Territoriums in die Zolllinte angeregt wird und Hamburgischer Seit-
Widerspruch findet,
muß an die Frage hinangetreten werden, ob der betreffende Distrikt zu
dem Gebiete zu rechnen ist, dessen Freilassung Hamburg nach Art. 34 beanspruchen kann, oder ob die seitherige Ausschließung deffelben von
dem Zollverbande auf anderen Gründen beruht.
Findet man, daß letz
teres der Fall ist, so ist die Aufnahme in den Zollverein unabhängig von
einem Anträge oder einer Zustimmung Hamburgs.
II. 1.
Die Verlegung der Zollgrenze nach der Elbmündung.
Die Elbe war früher bis Wittenberge hinauf vom Zollgebiet
ausgeschlossen.
Durch Beschluß des BundeSrathS vom 2. Juni 1869
wurde die Zollgrenze bei Hamburg näher bestimmt dergestalt, daß selbige oberhalb Hamburgs die Norder- und Süder-Elbe überschreitet.
Die Elbe
befindet sich also von der Mündung bis Hamburg außerhalb des Zollge biets.
Wie sich
aus einer Rede des Abgeordneten Dr. Schleiden im
Reichstage ergiebt, (f. Reichstagsverhandlungen für 1867 S. 207), war eS bereits im Jahre 1867 zur Sprache gekommen, ob eS sich nicht empfehle,
die Zolllinte an der Mündung der Elbe durch den Strom zu ziehen, wenn Altona in den Zollverein ausgenommen werde, damit der Verkehr
dieser Stadt mit den Elbufern nicht beeinträchtigt werde.
ES fragt sich:
Ist eine solche Maßregel zulässig? Die Flüffe gehören bis zu ihrer AuSmündung in das Meer zu dem Gebiete des- oder derjenigen Staaten, welche sie durchströmen.
Die Elbe
Die St. Pauli-Frag« und die Verlegung der Zollgrenze
504
bildet mithin von der Mündung bis zur österreichischen Grenze einen
Theil deS deutschen Reichsgebiets.
Unzweifelhaft ist das Reich an sich
berechtigt, die Zollgrenze innerhalb seines Territoriums beliebig zu be stimmen.
Die Befugniß, die Elbe in das Zollgebiet hineinzuziehen, kann
ihm also nur abgesprochen werden, wenn besondere RechtSgründe solches unzulässig erscheinen lassen.
Bedenken könnten nun in dieser Hinsicht er
hoben werden auf Grund der Bestimmungen der Wiener Congreßakte, der ElbschiffahrtSverträge und des Artikels 34 der Verfassung, wodurch Ham burg daS Vorrecht eines Freihafens eingeräumt wird.
2.
Die Wiener Congreßakte enthält in den Artikeln 108—117 Be
stimmungen über die schiffbaren Flüsse, welche die Grenze zwischen ver schiedenen Staaten bilden, oder welche mehrere Staaten nacheinander durch
strömen.
Die Congreßakte behielt es einer Vereinbarung unter den Ufer
staaten vor, die von ihr aufgestellten Grundsätze für die einzelnen Flüsse weiter zu entwickeln und näher zu bestimmen.
Auf diese Anregung wurde
von den Elbuferstaaten im Jahre 1821 die ElbschiffahrtSakte vereinbart,
welche später, namentlich im Jahre 1844, wiederholt Zusätze erhalten hat. Von jeher ist eS zweifelhaft gewesen, ob in der Congreßakte auch den An
gehörigen anderer Staaten, als den der Uferstaaten, Rechte in Betreff der Schiffahrt auf den internationalen Flüssen haben gewährt werden sollen. Wird diese Frage verneint, so hat die Akte in Betreff der Elbe ihre for
mell verbindliche Kraft verloren.
Denn die Beziehungen der Uferstaaten
sind durch die ElbschiffahrtSverträge geregelt; nach diesen bestimmen sich deren Rechte und Verbindlichkeiten gegen einander.
Die frühere Congreß
akte ist ihrer formellen Gültigkeit nach für das gegenseitige Verhältniß
der Uferstaaten durch die späteren Verträge aufgehoben. — Abgesehen
hievon können Zweifel darüber obwalten, ob die Congreßakte sich nicht
bloß auf den durch die Flußschiffahrt vermittelten Transitverkehr hat beziehen soll, und daher gegenwärtig ihre Anwendbarkeit auf die Elbe
verloren hat, weil auf derselben ein solcher Verkehr, der für ein Staats
gebiet nur als durchgehender in Betracht kömmt, nicht mehr stattfindet. Denn nach den Verhältnissen des Fahrwassers ist eine direkte Schiffsver bindung zwischen Oesterreich und der Nordsee nicht möglich, der Elbver-
kehr muß also, so weit er über österreichisches Territorium hinaus geht, auf deutschem Gebiet anfangen oder aufhören; hier muß wenigstens eine
Umladung stattfinden.
Wir lassen diese Zweifel dahin gestellt, da die
Congreßakte Bestimmungen, welche der Htneinziehung der Flüsse in die Zollgebiete der Uferstaaten im Wege stehen könnten, nicht enthält.
Allerdings soll nach dem Artikel 109 die Schiffahrt auf den Flüssen der erwähnten Kategorie von dem Punkte an, wo sie schiffbar werden, bis
505
an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.
zu ihrer Mündung vollständig frei sein und mit Bezug auf den Handel
Niemanden untersagt werden dürfen.
Diese Vorschrift bezieht sich aber,
wie die Schlußworte ergeben, nur auf die Zulassung zur Betreibung der
Flußschiffahrt.
Zwar beabsichtigt die Congreßaste auch, eine Erleichterung
der Flußschiffahrt und eine Befreiung derselben von Lasten und Hemm nissen herbeizuführen; allein hierauf beziehen sich erst die folgenden Artikel. Die Art. 110—112 behandeln insbesondere die SchiffahrtSabgaben; sie
sollen einer Erhöhung
derselben vorbeugen und eine für den Verkehr
möglichst wenig unbequeme Art der Erhebung anbahnen. und Ausfuhrzölle werden indessen hiervon nicht betroffen.
Die EingangSES heißt im
Art. 115: „Les douanes des Stats riverains n’auront rien de commun
avec les droits de navigation.
On empechera par des dispositions
röglementaires, que l’exercice des fonctions des douaniers ne mette pas d’entraves ä la navigation, mais on surveillera par une police
exacte sur la rive, tonte tentative des habitans de faire la contrebande ä l’aide des bateliers.“
In dem Memorandum von Humboldt,
wodurch diese Bestimmung angeregt wurde, war auSgeführt:
es seien
Vorkehrungen nothwendig, um zu verhindern, daß das Recht der Ufer
staaten, Zölle aufzulegen, die Schiffahrt hemmen (entraver) könne.
Hier
nach ist eS nicht die Absicht gewesen, die Flüsse von dem Zollgebiete der
Uferstaaten auszuschließen; der Art. 115 soll nur verhindern, daß die Zoll schutzmaßregeln in einer übermäßigen, der Schiffahrt Fesseln auflegenden Weise ausgedehnt werden.
In diesem Sinne ist die Congreßakte auch in den auf Grund der selben abgeschlossenen Staatsverträgen aufgefaßt. Die WeserschiffahrtS-Akte vom Jahre 1823 läßt jedem Staate das Recht, in Fällen, wo er solches für das Interesse seiner Landzölle nützlich
erachtet, innerhalb seines Gebiets einen Begleiter auf transitirende Schiffe zu setzen. Die RheinschiffahrtS-Akten von 1831 (Art. 39) und 1868 (Art. 9)
setzen fest, daß, wenn ein Schiffer direkt und ohne Veränderung seiner Ladung durch das Gebiet eines UferstaatS oder mehrerer zu einem Zoll system gehörigen Staaten durchfahren will, ihm die Fortsetzung der Reise
ohne spezielle Revision der Ladung unter der Bedingung zu gestatten ist, daß er sich der amtlichen Verschließung der Laderäume oder der amtlichen
Begleitung oder beiden Maßnahmen zugleich zu unterwerfen habe.
Der
Schiffer wird sogar verpflichtet, dem amtlichen Begleiter Beköstigung, so
wie Feuer und Licht zu gewähren. Der 1857 in Betreff der Donau-Schiffahrt unter den Uferstaaten
abgeschlossene Vertrag läßt den einzelnen Staaten unbeschränkt die Be-
506
Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze
fugniß zur Erhebung von Einfuhr- und Ausfuhrzöllen; es ist indessen dar
auf Bedacht genommen, die Zollrevision, wenn möglich, entbehrlich zu
machen oder sie doch möglichst einfach zu gestalten.
Zu diesem Behufe
haben die Staaten sich unter Anderm verpflichtet, Anordnungen zu treffen, wie die Verschließung oder Versiegelung der Laderäume und die Zollamt
liche Begleitung der Schiffe. 3.
Ebenso wenig wie die Congreßakte stehen die Bestimmungen der
ElbschiffahrtSakte von 1821 und deren Zusätze der Hineinztehung des Elb-
stromS in das Zollgebiet entgegen. Der Artikel 1 der ElbschiffahrtSakte lautet im Anschluß an die Con greßakte:
„die Schiffahrt auf dem Elbstrom soll in Bezug auf den Handel
völlig frei sein; jedoch bleibt die Schiffahrt von einem Uferstaate zum
andern (cabotage) auf dem ganzen Strom ausschließend den Unter thanen derselben
Vorbehalten".
. Der Artikel 2 erklärt alle ausschließ
lichen Berechtigungen, Frachtfahrt auf der Elbe zu treiben, für auf gehoben. Ausdrücklich „zu den Art. I und II" der Akte enthält die Additional
akte von 1844 in den §§ 1—4 folgende Zusätze: § 1.
„Die Bestimmun
gen — über die Berechtigungen zur Elbschiffahrt finden auf den Trans
port sowohl von Personen als von Gütern Anwendung.
Dampfschiffe auf
der Elbe sind — gleich andern Fahrzeugen zu behandeln."
§ 2.
„Der
Transport von Personen oder Gütern von der Nordsee nach jedem Elb-
uferplatze und von jedem Elbuferplatze nach der Nordsee steht den Schiffen aller Nationen zu. — Zum Schiffahrtsverkehr zwischen Elbuferplätzen ver
schiedener Staaten sind die Fahrzeuge sämmtlicher Uferstaaten ohne Unter
schied berechtigt."
§ 3.
„Die Binnenschiffahrt auf der Elbe d. h. die
Befugniß zur Beförderung von Personen und Gütern von einem Elb uferplatze seines Gebiets nach einem andern Elbuferplatze desselben Ge biets, kann jeder Staat seinen Unterthanen Vorbehalten."
Der Befugniß
zu einem solchen Vorbehalt ist eine Beschränkung für den Fall hinzuge fügt, daß auf solchen Fahrten das Gebiet eines andern ElbuferstaatS durch
fahren wird. Elbverkehr.
Der § 4 betrifft die Anwendung des Postregals auf den
Nach dem Inhalt des Art. I der ElbschiffahrtSakte, insbe
sondere nach dem Vorbehalt für die sogenannte Cabotage, nach der Stellung
dieses Artikels in der systematischen Anordnung der Akte, so wie nach dem Inhalt der Zusätze zu dem Artikel in der Additionalakte von 1844 kann eS nicht zweifelhaft sein, daß der in dem Artikel aufgestellte Grundsatz
der Freiheit der Elbschiffahrt nur die Zulassung zur Betreibung
des
Schiffergewerbes auf der Elbe betrifft und sich ebenso wenig auf die Zoll verhältnisse, wie auf andere Abgaben und Lasten bezieht.
an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.
507
Bestätigt wird dieses durch die Vergleichung mit andern Flußschiff
fahrtsakten. . Die Weserschiffahrtsakte, die RheinschiffahrtSakte von 1831 und die DonauschiffahrtSakte erklären in gleicher Weise die Flußschiffahrt für völlig frei; die beiden letzteren sogar ohne den Vorbehalt in Betreff der Sabotage,
und wir haben bereits gesehen, daß hierunter die Exemtion vom Zollge biet der Uferstaaten und die Befreiung von Zollkontrollmaßregeln nicht
verstanden worden ist.
Die Rheinschiffahrtsakte von 1868 hat der bezüg
lichen Bestimmung folgende deutlichere Fassung gegeben:
„Die Schiffahrt
auf dem Rheine soll — unter Beachtung der in diesem Vertrage fest
gesetzten Bestimmungen und der zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Sicherheit erforderlichen polizeilichen Vorschriften den Fahrzeugen aller Nationen zum Transport von Waaren und Personen gestattet sein.
Abge
sehen von diesen Vorschriften soll kein Hinderniß, welcher Art es auch sein
mag, der freien Schiffahrt entgegengesetzt werden." Die Bestimmungen, welche eine Erleichterung der Elbschiffahrt von Abgaben und Lasten bezwecken, finden sich in den folgenden Artikeln der
Akte von 1821 und haben in der spätern Vereinbarung eine Erweiterung
erfahren.
Der Artikel 7 der Akte schreibt vor, daß sämmtliche bis dahin
auf der Elbe bestandenen Zollabgaben, so wie jede, unter was für Namen bekannte Erhebung und Auflage, womit die Schiffahrt des Flusses belastet
gewesen, aufhören und in eine allgemeine Schiffahrtsabgabe verwandelt werden soll, die unter dem Namen „Elbzoll" und „RekognitionSgebühr"
von allen Fahrzeugen, Flößen und Ladungen erhoben wird.
Nachdem
die Art. 8—12 nähere Bestimmungen über die Erhebung dieser Abgabe
getroffen haben, fügt der Art. 13 hinzu, daß außer den durch die Uebereinkunfl festgesetzten Gefällen keine andere weiter auf der Elbe erhoben werden dürfen.
Wie sich schon aus dem Wortlaut ergiebt, bezieht sich
dieser Artikel, wie die vorhergehenden, nur auf die SchiffahrtSabgaben
und nicht auf die eigentlichen Zölle.
Der Art. 14 stellt dieses vollends
außer Zweifel, indem derselbe bestimmt:
„Unter den Abgaben, wovon
die Art. 7—13 handeln, sind nicht begriffen: a, die Mauthen (Land- und
Stadtzölle), Eingangs- und Verbrauchssteuern, mit welchen einem jeden
Staat das Recht verbleibt, die in sein eigenes Landesgebiet einzuführenden
Waaren, sobald selbige den Fluß verlassen haben, nach seiner Handels politik zu belegen."
Nur ein Transitzoll wurde ebenso,
wie in den
andern SchiffahrtSakten nicht gestattet. Von den anderen Bestimmungen der ElbschiffahrtSakte könnte etwa
nur der Art. 23 auf die vorliegende Frage bezogen werden.
Hierin ver
zichten Sachsen, Dänemark, Hannover und Mecklenburg, abgesehen von
Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze
508
den Fällen eines dringenden Verdachts, auf das den kontrahirenden
Staaten vorbehaltene Recht der speciellen Revision der Ladungen bei ihren Elbzollämtern, falls eine solche Revision bei den Preußischen Elbzollämtern zu Wittenberge oder Mühlberg stattgefunden hat. ursprünglich
Dieser Verzicht wurde
auf 6 Jahre geleistet, ist aber später verlängert worden.
Er bezieht sich zunächst nur auf die sog. specielle Revision; die davon
ausdrücklich unterschiedene generelle Revision ist also den Staaten gestattet geblieben.
verzichtenden
Außerdem betrifft derselbe „die specielle Re
vision" nur insoweit, als dadurch die Erhebung des Elbzolls gesichert werden soll; wie die Elbzollverträge, abgesehen von dem Transitzoll, die
allgemeinen Zollgesetze unbeschränkt bestehen lassen, so werden die ver zichtenden Staaten auch dadurch nicht behindert, zum Schutze ihrer Ein
gangs- und Ausfuhrzölle geeignete Controllmaßregeln
zu
treffen. —
UebrigenS ist der Verzicht in Folge der Uebereinkunft vom 4. April 1863, wonach nur ein Elbzoll für sämmtliche Uferstaaten vermittelst zweier Zoll
ämter in Wittenberge erhoben werden soll, weggefallen. Die Elbzollverträge enthalten also keine Bestimmung, welche der Ver
legung der Zollgrenze an die Elbmündung durch den Stro'm entgegen stehen könnten.
Wie sie überhaupt auf die allgemeinen Zölle sich nicht
beziehen, so untersagen sie auch den Uferstaaten in keiner Weise, den
Strom, soweit ihnen die Landeshoheit über denselben zusteht, in ihr
Zollgebiet hineinzuziehen.
Man hat denn auch keinen Anstand genommen,
die Zolllinie durch die Oberelbe zu legen, einerseits an der Oesterreichi
schen Grenze, andererseits 1868 oberhalb Hamburgs und bis dahin bei Wittenberge.
Von keiner Seite ist gegen die rechtliche Zulässigkeit dieser
Maßregel ein Bedenken erhoben; es ist sogar in einer Anlage zu der Uebereinkunft vom 4. April 1863 (B. § 3) beiläufig auf Zollcontroll maßregeln Bezug genommen, wovon der auf der Elbe nach Oesterrrich
transitirende Verkehr betroffen wird.
Man kann darin, daß die Vereini
gung der Oberelbe mit dem Zollgebiet unbeanstandet stattgefunden hat,
ein stillschweigendes Anerkenntniß der betheiligten Staaten finden, daß dieses mit den Verträgen nicht in Widerspruch steht.
Selbst wenn also
die Elbschiffsahrtsverträge einem Zweifel in der fraglichen Beziehung
Raum laffen sollten, so würde dieser durch ein solches Anerkenntniß ge hoben sein.
Da eine Unterscheidung zwischen Ober- und Unterelbe in
den Verträgen nicht gemacht wird, so würde die Ansicht, daß eine andere
Beurtheilung der Frage bei der Unterelbe, als bei der Oberelbe eintreten müsse, jeder Unterlage entbehren.
4.
Der Art. 34 der Verfassung bestimmt, daß Hamburg als Frei
hafen außerhalb der gemeinschaftlichen Zollgrenze verbleiben soll.
Eine
509
an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.
Zusicherung, daß der durch Deutsches Gebiet nach und von Hamburg gehende Verkehr durch Zollmaßregeln nicht belästigt werden dürfe, enthält
der Artikel nicht.
Selbstverständlich kann der Landverkehr durch deutsches
Gebiet nicht von der Zollcontrolle befreit bleiben; nun ist aber eine be sondere Bestimmung für den Elbverkehr nicht getroffen; es muß also für beide Arten deS Verkehrs rechtlich dasselbe gelten.
Ja, wir möchten
annehmen, daß Hamburg selbst dann nicht zu einem Widerspruch gegen eine Verlegung der Zollgrenze nach der Elbmündung berechtigt sei, wenn eS in Folge einer solchen Maßnahme genöthigt sein sollte, seinen Anschluß
an den Zollverband zu beantragen, der Zweck deS Art. 34 mithin hier
durch in gewisser Weise vereitelt werden würde.
Der Artikel gewährt
den Hansestädten eine bestimmte Begünstigung im Interesse ihres aus
ländischen Handels, nämlich die, daß eine Zollerhebung von den von ihnen
eingeführten Waaren und folgewetse auch eine Erstattung deS Zolls bei der Wiederausfuhr nicht stattfindet, daß sie dem Zollverband gegenüber als Ausland behandelt werden.
Ein Recht der Hansestädte auf andere
Erleichterungen für ihren Handelsverkehr kann aus dem Artikel ebenso wenig hergeleitet werden, wie er eine Garantie dafür enthält, daß der Handelsverkehr anderen Lasten und Beschwerden,
stehenden, künftig nicht unterworfen werden solle.
als den damals be
Wenn also die Hanse
städte nur in dem Verhältnisse deS Auslands zu dem Zollgebiet gelassen
werden, so ist daS Reich in der Ausübung seiner verfassungsmäßigen Ge setzgebung-- und Verwaltungsbefugnisse durch den Art. 34 nicht weiter
beschränkt; es ist insbesondere auch nicbt rechtlich gehindert, Maßnahmen zu treffen, die für den Verkehr der Hansestädte Belästigungen im Gefolge haben, selbst wenn solche sich grade deshalb für sie besonders fühlbar
machen sollten, weil sie sich außerhalb der Zollgrenze befinden. Wir wieder
holen, daß der Art. 34 eine singuläre Vorschrift enthält, die im Zweifel einschränkend auszulegen ist.
Allerdings würde das Reich nicht berechtigt
fein, grade zu dem Zwecke, um die Hansestädte zum Verzicht auf ihr Frei hafenrecht zu nöthigen, den Handelsverkehr derselben belästigende Anord
nungen zu treffen.
Mit dem von der Verfassung gewährleisteten Rechte
würde jede Maßregel im Widerspruch stehen, welche nichts als wenn auch mittelbaren, Angriff auf dasselbe enthielte.
einen,
Fände die Ver
legung der Zollgrenze nach der Elbmündung nur aus einem solchen Grunde statt, so könnte sie nicht als verfassungsmäßig angesehen werden. Dagegen
enthält sie keine Kränkung der Rechte Hamburgs, wenn sie auS allge meinen Rücksichten oder im Interesse anderer Distrikte und deren Be
wohner erfolgt. Wir wiederholen übrigens, daß die WeserschiffahrtSakte jedem kontra-
510
Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze
hirenden Staate in Fällen, wo er es im Interesse seiner Zölle nützlich fände, gestattete, einen Begleiter innerhalb seines Gebiets auf die tran-
sitirenden Schiffe zu setzen.
Da die Stadt Bremen diesem Vorbehalt zu
gestimmt hat, so kann eine solche Maßregel eine erhebliche Beschwerung
deS Verkehrs kaum enthalten. 5.
Ist der Bundesrath befugt, die Zollgrenze an die Elbmündung
durch den Strom zu legen oder bedarf es hierzu eines Reichsgesetzes? In Uebereinstimmung mit dem Art. 33 der Verfassung bestimmt das
Zollgesetz vom 1. Juli 1869 § 16:
„Die Landesgrenzen gegen das Ver-
etnSauSland bilden die Zollgrenze oder Zollltnie.
Es können indessen ein
zelne Theile eines BereinSstaatS, wo die Berhältniffe es erfordern, von
Abgesehen von den hier zugelassenen
der Zolllinie ausgeschlossen werden."
Ausnahmen und von den Theilen fremder Staaten, welche dem deutschen
Zollverbande angeschlossen sind, soll also die Zollgrenze mit der Grenze
deS Reichsgebiets gegen das Ausland zusammenfallen.
Die Ausführung
dieser Vorschrift liegt nach Art. 7 Nr. 2 der Verfassung dem BundeSrath ob, da reichsgesetzlich nichts Anderes bestimmt ist.
Man könnte vielleicht den Einwand erheben, daß die Entscheidung über die Zollausschlüsse nicht dem BundeSrath habe überlassen, sondern
der Reichsgesetzgebung habe vorbehalten werden sollen, und daß daher der Art. 33 der Verfassung und der § 16 deS Zollgesetzes zn denjenigen gesetzlichen Vorschriften gehörten, welche zu ihrer Ausführung die Er
lassung anderer Gesetze voraussetzten. der Begründung entbehren.
Ein solcher Einwand würde aber
Der § 16 deutet in keiner Weise an, daß
die Zollausschlüsse im Wege der Gesetzgebung festgesetzt werden sollen; er
gestattet dieselben als Ausnahmen,
als eine Art Dispensation von der
allgemeinen Regel, daß die Landesgrenzen die Zollgrenze bilden.
„ES
können indessen einzelne Theile eines Vereinsstaats, wo die Verhältnisse eS erfordern, von der Zollltnie ausgeschlossen bleiben."
Derartige Dispen
sationen erfolgen regelmäßig und am zweckmäßigsten von der Verwaltungs
behörde. — Ferner entspricht der 8 16 seinem Inhalt nach den §§ 22 und 24 des Preußischem Zollgesetzes vom 23. Januar 1838, welches über
haupt die Grundlage deS Vereinszollgesetzes von 1869 gebildet hat.
In
Preußen ist früher im Verwaltungswege über die Gestattung von ZollauSschlüssen entschieden und eS fehlt an einem Grunde anzunehmen, daß
das Zollgesetz von 1869 hierin habe eine Aenderung
wollen.
etntreten lassen
Außerdem spricht gegenwärtig eine mehr als zehnjährige, seither
von keiner Seite, weder von einem Bundesstaate, noch von dem Reichs tage beanstandete Praxis für die Ansicht, daß der BundeSrath über die
ZollauSschlüffe und die Festsetzung der Zolllinie zu beschließen hat.
Der
an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.
511
BundeSrath hat nämlich seither, und zwar in einer Anzahl von Fällen und zu ganz verschiedenen Zeiten, die Vereinigung ausgeschlossener Distrikte
mit dem Zollgebiet angeordnet, dagegen hat niemals im Wege der Reichs gesetzgebung die Aufnahme eines freien Bezirks in den Zollverband statt
gefunden. ES ist anzuerkennen, daß wenigstens im Jahre 1867 nach Emanirung
der Norddeutschen Bundesverfassung eine unbeschränkte, rücksichtslose Durch
führung der Vorschrift, daß der Bund ein Zoll- und Handelsgebiet um
geben von gemeinschaftlicher Zollgrenze bilde, nicht hat stattfinden sollen, daß eS vielmehr die Absicht gewesen ist, bei der Ausdehnung des Zollvereins auf die nicht zu demselben gehörenden GebtetStheile die besonderen Ber-
hältnifie zu berücksichtigen und den Umständen nach eine Frist hierfür zu Hieraus folgt aber nicht, daß ein anderes Gesetz zum Behufe
gewähren.
der Anschließung der freien Bezirke an das Zollgebiet hat erlassen werden
sollen.
Vielmehr ist der Umstand, daß eine reichsgesetzliche Vorschrift nicht
sofort, sondern innerhalb eines
gewissen Zeitraums
zur
Ausführung
kommen soll, mit der Bestimmung der Verfassung, wonach der BundeS
rath für die Vollziehung der RetchSgesetze zu sorgen hat, in keiner Weise unvereinbar.
In einem solchen Falle gehört eS zur Aufgabe des BundeS-
raths, die vorbehaltene Frist näher zu bestimmen.
Wie er dann nach dem
Gesetze eine solche gewähren muß, so dk»rf er andererseits nach Ablauf derselben die Ausführung des Gesetzes nicht weiter verschieben.
Zur Zeit
der Abschlteßung deS Zollvertrags vom 8. Juli 1867 waren z. B. die
beiden Großherzogthümer Mecklenburg durch einen mit Frankreich abge
schlossenen Handelsvertrag behindert, sich dem Zollverbande anzuschließen. Wie der BundeSrath auf dieses Hinderniß Rücksicht nehmen mußte, so
wäre er andererseits nicht berechtigt gewesen, auch dann, nachdem dasselbe gehoben war, noch von der Aufnahme der beiden Mecklenburg in den
Zollverein abzusehen.
Die Nothwendigkeit dieser Maßregel ergab sich auS
der Verfassung, und eS war daher hierfür eine neue gesetzliche Anordnung nicht erforderlich.
Unerheblich ist eS für die Befugniß deS BundeSrathS die Zollgrenze festzusetzen, ob die seitherige Zollgrenze auf einem Landesgesetze be ruht hat. Die Zuständigkeit deS BundeSrathS wird durch die Reichsverfassung
bestimmt.
So weit hiernach seine Befugnisse reichen, kann er für alle
Bundesstaaten Anordnungen mit verbindlicher Kraft erlassen.
Handelt eS
sich um eine Frage, die nach der Verfassung oder der Gesetzgebung deS betheiligten
einzelnen Staats nur im Wege der Gesetzgebung geregelt
werden kann, so ist die bezügliche Vorschrift deS LandeSrechtS durch die
Die St. Pauli-Frage und die Berlegung der Zollgrenze
512
Reichsverfassung, welche die Angelegenheit auf den BundeSrath übertragen hat, aufgehoben.
Die entgegengesetzte Ansicht würde zu dem Resultate
führen, daß die Befugnisse des BundeSrathS den einzelnen Staaten gegen über sich ganz verschieden gestalteten, je nachdem in denselben die Gesetzge
bung eine ausgedehntere und delaillirtere Thätigkeit entfaltet hätte oder der Verwaltung ein größerer Spielraum gelassen wäre.
Soweit es sich um die Festsetzung der Zollgrenze handelt, müssen überdies nach dem Art. 33 der Verfassung und dem § 16 des Zollgesetzes alle landesrechtlichen und landesgesetzlichen Vorschriften als
aufgehoben
angesehen werden. ES wird sich auch mit Grund wohl nicht behaupten lassen, daß die Zollgrenze an der Elbe gegenwärtig
auf einer landeSgesetzltchen Vor
schrift beruhe. Die früheren hannöverschen und schleswig-holsteinischen Gesetze, welche sich auf die damaligen Zollgebiete bezogen, sind durch die Aufnahme SchleSwig-HolsteinS in den Zollverein und die Annexion außer Wirksam
keit gesetzt; und die über die Elbe gehende Zolllinie ist weder in ihrer früheren Lage bei Wittenberge,
noch in ihrer gegenwärtigen Lage bei
Hamburg durch Gesetz bestimmt. Der Bundesrath hat sich auch seither durch entgegenstehende landeS-
gesetzliche Bestimmungen nicht davon abhalten lassen, ausgeschlossene Ge
biete in den Zollverein aufzunehmen. Holsteins,
Mecklenburgs
und
So ist die Aufnahme Schleswig-
Lauenburgs
aussprechendes Reichsgesetz erfolgt; und im
ohne
ein
dieselbe speziell
Jahre 1872 ist noch der
oldenburgische Freihafen Brake zum Theil in die Zollgrenze hineingezogen,
obgleich man die „landesherrliche Verordnung" vom 28. November 1834, wodurch Brake für einen Freihafen erklärt worden ist, als ein Gesetz an sehen muß. AuS dem Vorstehenden ergiebt sich, daß einem Beschlusse des BundeS
rathS, wodurch der Elbstrom bis zu seiner Mündung in das Zollgebiet
hineingezogen wird, rechtliche Bedenken nicht entgegenstehen. 6.
Würde die Frage anders zu beurtheilen sein, wenn die Elb-
schiffahrtSakten eine Bestimmung enthielten, daß über den Elbstrom keine Zolllinie gezogen werden dürfe?
Die durch eine derartige Bestimmung für die deutschen Elbuferstaaten
begründeten Rechte würden durch die Reichsverfassung beseitigt sein; denn hierdurch sind die Zollangelegenheiten in einer für alle Bundesstaaten ver
bindlichen Weise auf das Reich übertragen.
Die in dieser Beziehung
zwischen den Bundesstaaten unter einander bestehenden Rechte und Verbind
lichkeiten sind als hiermit unvereinbar weggefallen,
insofern nicht von
an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.
513
Seiten des Reichs in dieser Hinsicht eine besondere Verpflichtung über
nommen sein sollte.
Dagegen würde man annehmen müssen, daß daS Reich in die durch jene Verträge von den Bundesstaaten Oesterreich gegenüber eingegangenen Verbindlichkeiten eingetreten sei; denn die Verträge mit fremden Staaten können durch die Gründung deS Norddeutschen Bundes und des Deutschen
Reichs nicht außer Kraft gesetzt sein.
Oesterreich würde also berechtigt
sein, auch dem Reiche gegenüber auf der Aufrechterhaltung der Vertrags
bestimmung zu bestehen.
Wie man nun im Allgemeinen annehmen muß,
daß die Reichsgesetze mit Verpflichtungen, welche daS Reich andern Staaten
gegenüber übernommen hat, nicht in Widerspruch treten wollen, so kann auch der Bundesrath im Allgemeinen nicht als berechtigt angesehen wer
den, sich bei der Ausführung der Gesetze hierüber hinwegzusetzen. Hieraus
folgt, daß wenn die vollständige Ausführung eines Reichsgesetzes in einem Vertrage mit einem andern Staat ein Hinderniß findet, der BundeSrath
selbiges zu beseitigen suchen muß.
Gelingt ihm solches, so steht der An
wendung deS Gesetzes nichts entgegen.
Der BundeSrath ist dann nach
Art. 7 Nr. 2 der Verfassung ebenso berechtigt, wie verpflichtet, die erfor
derlichen Anordnungen zu treffen, um daS Gesetz in seinem vollen Um fange zur Ausführung zu bringen.
Würde also Oesterreich in dem hier
unterstellten Falle Einwendungen gegen die Hineinziehung des ElbstromS in daS Zollgebiet nicht erheben, so würde auch dann die Befugniß deS
BundeSrathS zu einer solchen Maßregel einem rechtlichen Bedenken nicht unterliegen. Nur wenn Oesterreich protestirte, wäre eine andere Auf fassung gerechtfertigt, indem man dann einwenden könnte: eS sei bei den erwähnten Gesetzen eine Verletzung der vertragsmäßigen Rechte Oester
reichs nicht beabsichtigt gewesen, der Bundesrath dürfe daher die Gesetze nicht in einer hiermit in Widerspruch stehenden Weise auSlegen und an wenden. Wir verkennen nicht,
daß,
wenn man in den Elbschiffahrtsver-
trägen eine die Zollfreiheit der Elbe gewährleistende Bestimmung finden
zu können glaubt, sich gegen die obigen Ausführungen ein Bedenken von
einem andern Gesichtspunkt aus erheben läßt. wenden:
Man könnte dann ein
Die Bestimmung in den Verträgen, daß der Elbverkehr unbe
lästigt von allen Zollmaßregeln bleiben solle, sei als eine RechtSregel an zusehen, welche nur vermittelst eines Gesetzes aufgehoben werden könne;
bei dem Art. 33 der Verfassung und dem § 16 des Zollgesetzes sei eine Regelung der Verhältnisse der Flußschiffahrt, insbesondere eine Beschrän kung der rechtlich begründeten Freiheit derselben von Beschwerungen nicht
beabsichtigt gewesen; jene RechtSregel sei daher als eine besondere neben Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 5.
37
514
Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze rc.
diesen allgemeinen bestehen geblieben; da selbige auch sonst nicht aufge
hoben sei, so dürfe der BundeSrath eine damit in Widerspruch stehende Maßregel nicht treffen.
Wir würden vielleicht auch einen
solchen Einwand für erheblich
halten, wenn in den ElbschiffahrtSverträgen die Regel ausgesprochen wäre,
daß die Elbe außerhalb der Zollgrenze verbleiben solle.
Wir glauben
aber oben auSgeführt zu haben, daß eine solche Bestimmung darin nicht
gefunden werden kann, und sehen daher von einer näheren Prüfung des Einwands ab.
Goethe's erstes Jahr in Weimar, 1775-1777. Wir verstehn Goethe und seine Bedeutung für die deutsche Literatur
geschichte nur halb, wenn wir ihn lediglich als Schriftsteller betrachten: er hat durch seine Persönlichkeit auf die Besten seiner Zeit in einer Macht gewirkt, wie nie in der Welt ein andrer Dichter.
Von diesem Eindruck
auf alle seine Umgebungen in einer bestimmten Zeit ein Bild zu geben, ist der Zweck der folgenden Zeilen; wie ich hoffe, wird auch das Be
kannte im Zusammenhang ein neues Licht gewinnen. 7. Nov. 1775 kam Goethe in Weimar an:
er auf!"
„wie ein Stern ging
Der 26jährige Jüngling war gewaltig über die ganze deutsche
Jugend durch das, was er geleistet, durch daS was er versprach.
Er
hatte den Faust, den Egmont, den Prometheus im Pult; wären diese Stücke damals erschienen, er wäre der Unwiderstehliche geworden.
Seine äußern Mittel berechtigten ihn, sich seine Lage frei zu wählen. Er hatte den Trieb, sich in der Welt umzusehn und das bürgerliche Leben kannte er,
nun wollte er wie Wilhelm Meister die vornehmen Kreise
kennen lernen. 56 Jahre ist er in Weimar geblieben; die deutsche Literatur hat da durch einen künstlichen Brennpunkt erhalten.
Nun wiederholt sich die Erscheinung von 1517 und 1675: die kleinen
Höfe bemächtigen sich der geistigen Bewegung und geben ihr damit den Charakter.
Mit schmalen Mitteln, aber mit gutem Willen und einem
lebhaften Bildungstrieb, der scheinbar die Kraft ersetzte, gelang es Weimar, fast für ein Menschenalter Residenz der deutschen Literatur zu werden. „Weimar", schreibt ein damaliges Handbuch, „ist ein mittelmäßiger
Ort, dessen Gassen weder an Reinlichkeit noch an Anlage dem heitern
Jena gleichkommen.
Die Häuser sind meist dürftig gebaut, und es hat
alles das armselige Ansehn einer nahrungslosen Landstadt.
Alles lebt
vom Luxus eines eingeschränkten Hofs, dessen geringer Adel arm ist.
DaS
Pflaster ist schlecht, Beleuchtung nicht vorhanden; Zeitungen kommen in
die Bürgerkreise garnicht."
516
Goethe'S erste- Jahr in Weimar, 1775—1777.
Der regierende Herzog Karl August wie seine neuvermählte Gattin Luise zählten erst 18 Jahr.
Er, noch ein wilder unbändiger Knabe, von
den edelsten Anlagen aber an keine äußere oder innere Schranke gewöhnt:
übrigens Goethe leidenschaftlich ergeben; sie, an dem Hof von Karlsruhe an strenge Sitten gewöhnt, durch den Umgang mit Klop stock und La-
Vater religiöser gestimmt, als es damals fürstliche Art war.
Die bis
herige Regentin, Herzogin Mutter Amalie, 32 I., eine braunschweigsche
Princeß, Wieland'S warme Gönnerin, lebenslustig, von lebhaftem Tem perament, nicht abgeneigt, Romane zu verfolgen und zu spielen, vollständig frei von allen höfischen oder bürgerlichen Borurtheilen.
Gelangweilt durch
die adlige Bureaukratie des kleinen Ländchens, suchte sie für ihre Hof
chargen geistvolle und aufgeweckte Köpfe, und sah eS nicht ungern, wenn
sie den Philister hänselten. ES ist nicht bloße Neugier, wenn man sich nach den Umgebungen
unsrer „Classiker" umsieht.
Ihre Leistungen richtig zu würdigen, muß
man wissen, waS sie von ihren Zeitgenossen empfingen, waS sie ihnen gaben und waS sie ihnen waren.
Bei Griechen und Römern, bei Spaniern
und Franzosen, selbst bei Italienern und Britten ist das nicht schwer:
sociale und geistige Aristokratie, Publicum und Nation fiel zusammen, das Culturleben drängte sich in einen mächtigen Mittelpunkt, und die Dichter hatten keine andre Aufgabe, als dem Gemeinsinn den idealen Ausdruck
zu geben: sie sprachen unmittelbar zur Nation;
ihre classische Periode
war entweder Ausfluß des in voller Blüthe stehenden nationalen LebenS, oder die letzte reife Frucht einer im
Absterben
begriffenen Bildung.
Deutschlands classische Periode dagegen geht dem Aufschwung des nationalen
LebenS voraus: sie konnte die Wirklichkeit nicht idealistren, sie mußte der
Wirklichkeit Ideale entgegenbringen.
Die Dichter gaben, was sie in sich
selbst erlebt, in der Fremde geträumt oder den Sagen der Borzeit ent
nommen:
sie brauchten ein gleichgestimmtes Medium, durch welches sie
das Volk verstanden oder dem Volk verständlich wurden.
Die Freunde
sind die kleine Welt, nach der sie Stimmungen und Pxrspectiven abmessen.
Eigentlich gethan ist in den nächsten Jahren wenig; was aber Goethe
innerlich erlebt, fliegt in den Briefen der Zeit wie ein Traum an uns
vorüber.
Aus ihnen erfährt man auch die Gewalt, die seine Persönlichkeit
auSübte.
Am leidenschaftlichsten warf sich ihm sein alter Gegner Wieland
an die Brust. — Man hatte seine Pension erhöht und er hatte sich ent«
schloffen, in Weimar zu bleiben. „O bester Bruder!"
schreibt Wieland drei Tage nach Goethe'S
Ankunft, 10. Nov., an Jacobi, „was soll ich Dir sagen! Mensch beim ersten Anblick nach meinem Herzen war!
Wie ganz der Wie verliebt ich
Goethe'S erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
517
in ihn wurde, da ich am nämlichen Tag an der Seite des herrlichen Jünglings zu Tisch saß! Alles was ich Ihnen nach mehr als einer Krisis,
die in mir diese Tage über vorging, sagen kann, ist dies: seit dem heutigen Morgen ist meine Seele so voll von Goethe, wie ein Thautropfen an der Morgensonne.
Ich bin zu voll, um schreiben zu können.
So un
aussprechlich groß, wichtig und lieb mir Goethe geworden ist, so fühle ich
doch im Innersten, daß auch Fritz, anstatt dabei zu verlieren, mir noch
theurer geworden ist als jemals.
Wenn Sie bei uns wären!
Mir ist, ich liebe Sie nun auch in ihm.
Doch eS ist besser so, ich könnte euch beide
zugleich nicht aushalten; das Feuer von zwei Dämonen, wie ihr würde mich verzehren ...-
Zwischen Goethe und mir ist eS schon so weit ge
kommen, daß Welt, Sünde, Tod und Hölle nichts mehr dagegen auSrichten
können." „Mit Goethe und Ihnen", erwidert Jacobi unerwartet kühl, „ist
eS genau so gegangen, wie ich es vorausgesehn hatte.
ES wird sich von
selbst nach und nach in die Richte senken, und was schadet's, wenn'S dabei auch hie und da ein wenig kracht und schüttert."
„Wieland ist gar lieb", schreibt Goethe
22. Nov.
an Johanna
Fahlmer, „wir stecken immer zusammen. — Wie eine Schlittenfahrt geht mein Leben, rasch weg und klingelnd.
Die Schule giebt meinem Leben
neuen Schwung, eS wird alles gut werden.
Wirthschaft sagen, sie ist zu verwickelt.
Ich kann nichts von Meiner
Wunderlich Aufsehn machts na
türlich." 26. Nov. kamen die beiden Stolberg in Weimar an.
„Goethe habe
ich noch viel lieber gekriegt", berichtet der ältere Bruder an seine Schwester. — „Luise noch eben der Engel!
Der Herzog ein herrlicher Junge. —
Mit Wieland ging's uns schnackisch: wir waren zuerst gespannt, daS dauerte aber nur einen Augenblick: wir sanden, daß wir unS über so viele Dinge ganz verstanden, daß uns bald wohl zusammen ward; wir haben uns viel gesehn und schieden als Freunde. — Mit der herzoglichen Familie geht man um, als wären'S Menschen unsers Gleichen.
Einen
Abend logirten wir beim Prinzen: mit eins ging die Thür auf, und stehe, die Herzogin Amalie kam herein, mit der Oberstallmeisterin, der guten
und schönen Frau v. Stein; beide trugen zwei alte Schwerter aus dem Zeughaus, eine Elle höher als ich, und schlugen uns zu Rittern.
Nach
Tisch ward Blindekuh gespielt, da küßten wir die Oberstallmeisterin, die
neben der Herzogin stand.
Wo läßt sich das sonst bei Hofe thun?" —
Einige Tage dauerte die tolle Studentenwirthschaft;
Fritz Stollberg
nahm eine Kammerherrnstelle in Weimar an. Dann ein Ausflug nach Waldeck, „im Nebelgeriesel, im tiefen Schnee,
518
Goethe'« erstes Jahr in Weimar, 1775 — 1777.
im wilden Wald, in der Winternacht...
Ich vermisse Sie wahrlich schon"
schreibt Goethe dem Herzog 23. Dec. „ob wir gleich nicht zwölf Stunden
..
auseinander sind
Wind und Wetter hat uns hergetrieben ...
Es kam
ein Regen aus Italien, wie uns ein Alter versicherte, der mit dem Schub karren an uns vorbeifuhr. Wind her. . .
In Italien sei es warm, da komme der warme
Hier liegen wir recht in den Fichten drin bei natürlich
guten Menschen. . .
Wie ich so in der Nacht gegen das Fichtelgebirge
ritt, kam das Gefühl der Vergangenheit über mich. so lang all meine Lust und
all mein Sang.
Holde Lili! warst
Bist ach nun all mein
Schmerz! und doch all mein Sang bist du noch. — Gehab dich wohl bei
den hundert Lichtern, die dich umglänzen, und all den- Gesichtern, die dich Findst doch nur wahre Freud und Ruh bei Seelen grad
umschwänzen.
und treu wie du." 24. Dec. (Sonntag).
Fatales Thauwetter! . .
Die Kirche geht an,
in die wir nicht gehn werden; aber-den Pfarrer laß ich fragen, ob er die
Odyssee nicht hat; und hat er sie nicht, so schicke ich nach Jena; denn un
möglich ist die zu entbehren in dieser homerisch
einfachen Welt. . .
Hab' indessen in der Bibel gelesen..." — „Sorglos über die Fläche weg, wo vom kühnsten Wager die Bahn
dir nicht vorgegraben du siehst, mache dir selber Bahn! — Stille, Liebchen, mein Herz!
Kracht's gleich, bricht's doch nicht!
Bricht'S gleich, bricht'S
nicht mit dir!"
31. Dec. an Lavater: „Ich lerne täglich mehr steuern auf dem Wege der Menschheit.
Bin tief in See."
„Haben Sie ein ander Beispiel", schreibt Wieland an Merck, „daß jemals ein Dichter den andern so enthusiastisch geliebt hat? ..
Für mich
ist kein Leben mehr ohne diesen wunderbaren Knaben, den ich als meinen
eingeborenen Sohn liebe, und, wie einem echten Vater zukommt, meine innige Freude
daran
habe,
daß
er
mir
so
schön
den Kopf
über
wächst!" Einer vornehmen Dame schildert er den Traum der Neujahrsnacht.
„Auf einmal stand in unsren Mitten ein Zauberer . . .
Ein schöner
Hexenmeister eS war, mit einem schwarzen Augenpaar, zaubernden Augen voll Götterblicken, gleich mächtig zu tödten und zu beglücken.
So trat
er unter uns, herrlich und hehr, ein echter Geisterkönig, daher; und Nie
mand fragte: wer ist denn der? wir fühlten beim ersten Blick, 'S war Er! Wir fühlten'S mit allen unsern Sinnen, durch alle unsre Adern rinnen.
So hat sich nie in Gotteöwelt ein Menschensohn uns dargestellt, der alle Güte und Gewalt der Menschheit so in sich vereinigt!
So feines Gold,
ganz innrer Gehalt, von fremden Schlacken so ganz gereinigt! Der, un-
Goethe's erstes Jahr in Weimar, 1775t-1777.
519
zerdrückt von ihrer Last, so mächtig alle Natur umfaßt, so tief in jedeWesen sich gräbt und doch so innig im Ganzen lebt!" „Was macht er nicht aus unsern Seelen!
Lust in Schmerz?
Wer schmelzt wie er, die
wer kann so lieblich ängsten und quälen, in süßen
Thränen zerschmelzen das Herz? wer aus der Seelen innersten Tiefen
mit solch entzückendem Ungestüm Gefühle erwecken, die ohne ihn uns selbst
verborgen im Dunkeln schliefen?" „O welche Gefühle, welche Scenen hieß er vor unsern Augen entstehn!
Wir wähnten nicht zu hören, zu sehn: wir sahn!
Wer malt wie er? so
schön, und immer ohne zu verschönern! so wunderbarlich wahr! so neu, und dennoch Zug um Zug so treu! — Doch wie, was sag' ich malen?
Er schafft, mit wahrer mächtiger Schöpferkraft erschafft er Menschen; sie
athmen, sie streben! in ihren innersten Fasern ist Leben! . .
Ist immer
ein echter Mensch der Natur, nie Hirngespinnst, nie Caricatur, nie kahleGerippe von Schulmoral, nie überspanntes Ideal!" „Wie flogen die Stunden durch meine- Zaubrer- Kunst
vorbei!
und wenn wir dachten, wir hätten'- gefunden, und wa- e- sei, nun ganz
empfunden, wie würd' er so schnell unS wieder neu! entschlüpfte plötzlich
dem satten Blick und kam in andrer Gestalt zurück; ließ neue Reize sich uns entfalten, und jede der tausendfachen Gestalten so ungezwungen, so völlig sein, man mußte sie für die wahre halten!
Nahm unsre Herzen in
jeder ein, schien immer nicht- davon zu sehn, und, wenn er immer glän zend und groß ring- umher Wärme und Licht ergoß, sich nur um seine
Axe zu drehn." — „Goethe", schreibt eine Dame, auf deren Gut die Gesellschaft ein kehrte, „ist ein herrlich Geschöpf, groß, sonderbar und ich glaube gut.
Der
junge Herzog kann nicht ohne ihn leben, und Goethe liebt den Herzog aufrichtig um seiner selbst willen, denn er liebt seine Freiheit über alle-.
Doch heißt eS, man werde ihn sahen und halten." „Ich lebe nun", schreibt Wieland 9. Jan. 1776 an Zimmermann,
„neun Wochen mit Goethe, und lebe, seit unsre Seelenvereinigung so un bemerkt und ohne allen Effect nach und nach zu Stande gekommen, ganz in ihm.
E- ist in allen Betrachtungen da- größte, beste, herrlichste
menschliche Wesen, da- Gott geschaffen hat.
Möcht' ich'- der ganzen Welt
sagen dürfen! Heute war eine Stunde, wo ich ihn erst in seiner ganzen
Herrlichkeit sah.
Außer mir kniet' ich neben ihn, drückte meine Seele an
seine Brust und betete Gott an."
An Gleim:
„Ich kenne nicht- Beffere-, Edleres, Herzlichere- und
Größere- in der Menschheit als ihn, so wild und siebenseltsam der holde
Unhold auch zuweilen ist oder scheint."
Goethe'S erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
520 Auch
in
Wieland'S
damaligen
Dichtungen:
„ Wintermährchen",
„Gandalin" u. s. w. merkt man eine Art Wiedergeburt: „Der Alte wird
wieder jung!" sagte Heinse nicht mit Unrecht. Einerder jungen Hofleute, mit denen Goethe am liebsten verkehrte,
Kammerherr v. Einsiedel persifflirt 9. Jan. unter der MaSke des Me phistopheles die ganze Gesellschaft.
„Man denk' sich einen Fürstensohn,
der so vergißt Geburt und Thron und lebt mit solchen lockern Gesellen,
die dem lieben Gott die Zeit abprellen; die thun als wären sie seines Gleichen!. .. Dem Ausbund aller, dort von Weiten möcht' ich ein Süpplein
zubereiten,
fürcht' nur sein ungeschliffnes Reiten; denn sein verfluchter
Galgenwitz, fährt auS ihm wie Geschoß und Blitz.
'S ist ein Genie, ein
Geist und Kraft, wie eb'n unser Herrgott Kurzweil schafft; meint, er kann uns alle übersehn, thäten für ihn rum auf Vieren gehn.
Wenn der Fratz
so mit einem spricht, schaut er einem stier ins Angesicht, glaubt, er könnS fein riechen an, was wäre hinter Jedermann.
sinnsvoll macht er die halbe Welt jetzt toll . . .
Mit seinen Schriften un
Paradirt sich drauf als
Dr. Faust, daß 'm Teufel selber vor ihm graust.."
Acht Jahre später gingen Goethe in Ilmenau, in einem dichterischen Traum, diese Scenen von Neuem auf.
„Wer kennt sich selbst? wer weiß,
was er vermag? hat nie der Muthige Verwegnes unternommen?
Und
was du thust, sagt erst der andre Tag, sei es zum Schaden oder Frommen.. Ich brachte reines Feuer vom Altar, was ich entzündet, war nicht reine
Flamme.
Der Sturm vermehrt die Glut und die Gefahr; ich schwanke
nicht, indem ich mich verdamme!"
Seine Gesellen: „unbändig schwelgt ein
Geist in ihrer Mitten, und durch die Roheit fühl' ich edle Sitten." der fürstliche Freund: „all mein Wohl und all mein Ungemach!
Endlich
Ein edles
Herz, vom Wege der Natur durch enges Schicksal abgeleitet, das ahnungs
voll, nun auf der rechten Spur, bald mit sich selbst und bald mit Zauber schatten streitet, und was ihm das Geschick durch die Geburt geschenkt, mit
Müh und Schweiß erst zu erringen denkt... Gewiß, ihm geben auch die Jahre die rechte Richtung seiner Kraft.
Noch ist bei tiefer Neigung für
daS Wahre ihm Irrthum eine Leidenschaft.
Der Vorwitz lockt ihn in die
Weite .. Dann treibt die schmerzlich überspannte Regung gewaltsam ihn bald da bald dort hinaus. ..
Düster wild an heitern Tagen, unbändig
ohne froh zu sein..." „Ich treib'S hier freilich toll genug!" schreibt Goethe 5. Jan. 1776 an Merck.
„Ist mir auch sauwohl. Dich in dem Freiweg-Humor zu sehn..
Wirst hoffentlich bald vernehmen, daß ich auf dem Theatro Mundi was zu tragiren weiß, und mich in allen tragikomischen Farcen leidlich be trage."
Goethe'- erstes Jahr in Weimar, 1776 — 1777.
22. Jan.
521
„Ich bin nun In alle Hof- und politische Händel verwickelt
und werde fast nicht wieder weg können.
Meine Lage ist Vortheilhaft genug,
und die Herzogthümer Weimar und Eisenach immer ein Schauplatz, um
zu versuchen, wie einem die Weltrolle zu Gesicht stände.
Ich übereile
mich darum nicht, und Freiheit und Genüge werden die Hauptconditionen der neuen Einrichtung sein." Im Grund war eö die Fortsetzung deS alten Treibens; auch das
Liebhabertheater in Weimar schloß sich den dramatischen Improvisationen in
Frankfurt an.
ES war Goethe gewiß recht gesund, sich einmal tüchtig
auStoben zu können; in Frankfurt hatte sich Sturm und Drang eigentlich
nur litterarisch geltend gemacht; hier, wo Hof und Adel mit dem genialen
Jüngling wetteiferten, ging eS mehr in's Große. Die alten Freunde vergaß er darüber nicht.
Lavater schickte ihm
seine „Physiognomik", die durch Goethe herausgegeben und (Mai 1776)
der Herzogin Luise gewidmet wurde.
Am eifrigsten sorgte Goethe für
Herder; gleich nach seiner Ankunft betrieb er das Geschäft, ihn zum General-Superintendenten von Weimar zu machen.
ihn darin treulichst.
ES waren
Wieland unterstützte
viel Schwierigkeiten zu überwinden;
1. Febr. war die Sache so weit, daß Goethe dem Freunde die vorläufige Anfrage zuschicken konnte.
Schon war Herder zu dem sauren Gang
nach Göttingen, um dort ein Tentamen zu bestehn, bereit gewesen, nun
brach er sofort die Unterhandlungen mit Hannover ab. 2. Febr. 1776 erhielt Goethe einen Brief von Bürger.
„Ich bin
todt, mein lieber Junge, in kalten Wasserfluthen ersoffen, und versaufe
täglich immer mehr und sterbe täglich mehr. getrocknet oder erstarrt bis auf die Galle...
Meine Lebenssäfte sind auS-
Ich habe ein gutes Weib
und ein schönes Kind, aber was helfen die einem Herzen, in welchem Basilisken brüten!... Schreib mir doch einmal, ob du dich kennst? und
wie du's anfängst, dich kennen zu lernen? Denn ich lern' eS nimmermehr,
und kenne keinen weniger als mich selbst."
„Dein Brief", antwortet Goethe augenblicklich, „that mir weh. — Da ich jetzt in einer Lage bin, da ich mich von Tag zu Tage aufzubieten
habe, tausend Großen und Kleinen, Liebe und Haß, Hundsfötterei und Kraft, meinen Kopf und Brust entgegensetzen muß, so ist mir'S wohl.
O du lieber Einsamer! — Hätt ich ein Weib und Kind, für was alles
dünkt' ich mir zu sein! — So sind wir und so müssen wir sein. — Hier
was, süßer Junge! das soll dir Liebes- und Lebenswärme in den Schnee bringen." ES war die Stella. — Goethe hatte keine Ahnung, wie die Para
doxien dieses Stücks auf Bürger wirken mußten: das Schauspiel für
522
Goethe'- erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
Liebende spielte in deS Dichter- HauS; er war in einer heftigen Leiden schaft zu seiner jungen Schwägerin Molly entbrannt. Sitte im Göttinger Landkreis
für derartige Versuche
Freilich war die minder
günstig
al- Weimar.
UebrigenS war Bürger im freudigsten Schaffen.
Das Januarheft
des „Deutschen Museum-" brachte den Anfang seiner jambischen Ueber» setzung der Ilias; es war ein förmlicher Wettkampf mit Stolberg, der es in Hexametern versuchte.
Goethe
benutzte die Gelegenheit, um
unter
seinen Freunden eine Sammlung für Bürger zu veranstalten, die sehr
ansehnlich
ausfiel.
„Deine Worte", schreibt ihm Bürger 9. März,
„haben mich wieder elastisch gemacht, den todten stechenden Sumpf um gerührt und die frischen Quellen wieder aufgeräumt..
der Muth gesunder Jugend . ..
Mich durchströmt
Aber ich muß mich mit allerlei juristischer
Faustarbeit placken, um Weib und Kind und mich zu ernähren."
Wa- die „Stella" auf Bürger für einen Eindruck machte, ist uns nicht überliefert. — „Ich", schreibt Nicolai an Merck, „hätte mir einen
ganz andern AuSgang vorgestellt, nämlich daß die beiden Weiber den Schurken, der sie ohne Ursache verlassen hat und gewiß nächstens wieder
verlassen wird, beide würden verlassen haben.
Aber — ich bin wohl kein
Liebender!" — Solche prosaische Erwägungen fordert das Stück mit
seiner plastischen Ausarbeitung kleinbürgerlicher Figuren und Sitten selbst heraus.
Herder ließ sich dadurch nicht irren.
„Goethe", schreibt er März
1776 an Zimmermann, „schwimmt auf den goldenen Wellen des Jahr hundert- zur Ewigkeit.
Beste, was er schrieb!
Welch ein paradiesisch Stück seine Stella!
DaS
Der Knote ist nicht auszuhalten, und wie gänzlich
endet er alles, daß sich die Engel Gottes freuen.
Nun hinten möcht' ich
Fernando fein, Cäcilie an einem, Stella am andern Arm, jene auSgeltttene Mutter und Freundin,
diese Paradiesesblume,
bei der ich nicht
immer sein darf, und auch zur Cäcilie und Lucie kann. — ES ist unaus sprechlich umfassend, tief und herrlich." —
„Ich richte mich hier in- Leben", schreibt Goethe 14.Febr. an Johanna Fahlmer, „und das Leben in mich.
Ich wollt' ich könnt' Ihnen so vom
Innersten schreiben, das geht aber nicht, eS laufen soviel Fäden durch einander ...
Ich werde wohl dableiben und meine Rolle spielen so gut
ich kann, und so lang' eS mir und dem Schicksal beliebt.
Wär'S auch
nur auf ein Paar Jahre, ist doch immer besser als das unthätige Leben
zu Hause, wo ich mit der größten Lust nichts thun kann.
Hier hab' ich
doch ein Paar Herzogthümer vor mir."
„Eine herrliche Seele ist die Frau v. Stein, an die ich so waS
Goethe'» erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
man sagen möchte geheftet und genistelt bin.
523
Luise und ich leben nur
in Blicken und Sylben zusammen, sie ist und bleibt ein Engel." Charlotte v. Stein (33 I.), die Gattin deS Oberstallmeisters, der
ihr eine angesehene Stellung in der Gesellschaft verschaffte und sie im Uebrigen frei gewähren ließ, Mutter von zehn Kindern war unzweifelhaft die geistvollste Frau in Weimar.
Noch 12 I. später schreibt Knebel von
ihr: „Sie ist unter allen diejenige, von der ich am meisten Nahrung für
mein Leben ziehe. ReineS, richtiges Gefühl bei natürlicher leidenschaftloser
Disposition haben sie durch den Umgang mit vorzüglichen Menschen, der ihrer äußerst feinen Wißbegier zu statten kam, zu einem Wesen gebildet, dessen Art in Deutschland schwerlich oft zu- Stande kommen dürfte.
Sie
ist ohne alle Prätension, natürlich, frei, nicht zu schwer und nicht zu leicht,
ohne Enthusiasmus und doch mit geistiger Wärme, ist wohlunterrichtet
und hat feinen Tact. Warm genug, das Schöne in allen Formen zu begreifen und sich an zueignen, besaß sie doch soviel Kälte des Herzens, sich dem Gefühl nicht unbedingt hinzugeben, und eine so freie Herrschaft ber Form, daß sie ohne
Furcht vor Anstoß wagen konnte, was keine Andre.
Daß mit Goethe
sogleich ein innige- Verhältniß entstand, war natürlich, sie waren auf einander angewiesen; daß dies Verhältniß 14 Jahre dauerte, spricht für
die unerschöpfliche Fülle ihrer Natur nicht minder als für ihre LebenS-
klugheit.
Bisher waren es junge Mädchen gewesen, die den Dichter durch ihre Anmuth fesselten; jetzt trat er einer Frau gegenüber, die ihm an Alter,
Erfahrung, Weltklugheit und gesellschaftlicher Bildung bei weitem über legen war.
Jede Liebhaberei deS Freundes fand bet ihr eine verwandte
Neigung, Landschaftsmalerei, Werther, Faust und SathroS.
Sie verstand
tolerant zu sein, und den dünnen Seidenfaden, an dem er hing, doch nicht aus den Händen zu lassen; die Ausbrüche seiner Leidenschaft wußte
sie in Schranken zu halten und seine Rückkehr zu erleichtern.
Das Glück
seiner Zukunft fühlte er in ihr, ihr legte er seine Erinnerungen zu Füßen.
Freilich geschah das nicht sofort.
Noch im Februar schickte er die
„Stella" an Lilli, mit der Zuschrift: „Im holden Thal, auf schneebedeckten
Höhen war stets dein Bild mir nah. wehen, im Herzen war mir's da.
Ich sah'S um mich in lichten Wolken
Empfinde hier, wie mit allmächtgem
Triebe ein Herz das andre zieht, und daß vergebens Liebe vor Liebe
flieht." „Es ist eine sehr angenehme Empfindung, wenn sich nun eine Leiden
schaft in unS zu regen anfängt, ehe die alte noch ganz verklungen ist.
So sieht man bet untergehender Sonne gern auf der entgegengesetzten
524
Goethe'» erste» Jahr in Weimar, 1775 — 17.77.
Seite den Mond aufgehn und erfreut sich an dem Doppelglanz der beiden HtmmelSlichter."
So viele Jahre später in „Wahrheit und Dichtung".
Lilli und Cornelte waren wohl der Hauptgegenstand ihrer ersten Ge
spräche; sie hörte seine Klagen, sie wurde seine Vertraute: eine gefährliche Beziehung. — Auch seine Vertraute über die Lage der jungen Herzogin
Luise, die nach Knebels Ausdruck wie ein verdunkelter Stern am Himmel
strahlte. „Luise", schreibt Goethe 27. Jan. an Frau v. Stein, „war ein Engel! ich hätte mich ihr etliche Male zu Füßen werfen müssen! aber ich
blieb in Fassung und kramte läppisches Zeug aus.
Sie widersprach über
eine Kleinigkeit dem Herzog heftig, doch machte ich sie nachher lachen. —
Sie haben eben beide immer Unrecht."
Tags darauf: „Luise war gestern
Großer Gott, ich begreife nur nicht, was ihr Herz so zusammenzieht!
lieb.
Ich sah ihr in die Seele, und doch, wenn ich nicht so warm für sie wäre, sie hätte mich erkältet."
„Heut Nacht brannte es mir unter die Sohlen zu Ihnen zu laufen. Endlich fing ich an zu miseln" (die Cour zu schneiden), „und da ging«
besser.
Die Liebelei ist doch das probateste Palliativ in solchen Umständen.
Ich log und trog mich bei allen hübschen Gesichtern herum, und hatte den Vortheil, immer im Augenblick zu glauben, was ich sagte..
Liebe
Frau, Du begreifst nicht, wie ich Dich lieb habe!"
29. Jan.
„ES geht mir verflucht durch Kopf und Herz, ob ich bleibe
oder gehe." 23. Tebr. — „Wie glücklich ich aufgestanden bin und die schöne Sonne
gegrüßt habe, und wie voll Danks gegen Dich, Engel des Himmels! dem
ich das schuldig bin .. . Nein, will brav sein!
Wenn ich meinem Herzen gefolgt hätte---------
Ich liege zu Deinen Füßen und küsse deine Hände!"
24. Febr. — „Du Einzige, die ich so lieben kann, ohne daß mich'S plagt. — Und doch leb' ich immer halb in Furcht. — Nun so mag's." An Lavater, 6. März. — „Ich bin nun ganz etngeschifft auf dem
Wege der Welt — voll entschlossen, zu entdecken,
gewinnen, streiten,
scheitern, oder auch mit aller Ladung in die Luft zu sprengen.." An Merck, 8. März., — Wir machen deS Teufels Zeug ..
ES geht
mit uns allen gut, denn was schlimm ist, laß' ich mich nicht anfechten. Den Hof hab' ich probtrt, nun will ich auch das Regiment Probiren, und so immer fort.
Ich streiche waS ehrlichs in Thüringen herum, und kenne
schon ein brav Fleck davon."
Er war beständig unterwegs.
„In Goethe bin ich verliebt!" schreibt Sprickmann aus Münster, einer von der Klopstock'schen Schule, an Boie.
seligkeiten meines Lebens, daß ich ihn sah!
„Eine der größten Glück
Sehn Sie, ich liebe, wie ich
Goethe'« erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
525
gewiß weiß, daß wenige lieben, und so ganz ohne Hoffnung, daß mir wohl nie ein Augenblick wahren innigen FrohseinS in der Welt mehr
werden kann; aber wenn ich zu wählen hätte, geliebt zp werden oder Goethe'S Busenfreund zu sein — ich möchte das von keinem Sterblichen in
der ganzen Welt sagen: — ich würde mich nicht gleich zu entschließen wissen!" Bisher war die Hingebung der dichterischen Jugend und ihre Ver
ehrung vor Goethe eine freie gewesen, sie huldigte ihm, weil er sie be
glückte.
Nun kamen Nebengedanken: man hielt seine Stellung in Weimar
für glänzend und hoffte durch ihn gefördert zu werden.
Der Reihe nach
fanden sich die alten Gesellen ein, theils persönlich theils in Briefen;
Goethe mußte erst gelinde, dann schroff zurückweisen. 16. März erhielt Goethe einen Zettel: „Der lahme Kranich ist an
gekommen; er sucht, wo er seinen Fuß hinsetze."
es in Straßburg nicht länger aushielt.
Er war von Lenz, der
„Mir fehlt zum Dichten", schrieb
er an Merck, „Muße und warme Lust und Glückseligkeit des Herzens, das bei mir tief auf den kalten Nesseln meines Schicksals halb im Schlamm versunken liegt, und sich nur mit Verzweiflung emporarbeiten kann."
Unterwegs war er Goethe auf Schritt und Tritt nachgegangen; er hatte CornelienS und Schlossers Gunst erworben, er hatte Lavater und
Merck aufgesucht.
In Frankfurt hatten ihn Klinger und Wagner in
der Werther-Montur feierlich eingeholt.
Mit Herder stand er in lebhaftem
Briefwechsel, er wußte nun auch Wieland zu gewinnen, den er früher so „Ein herrlicher Junge!" schreibt Wieland 13. Mai
gehässig angegriffen. an Merck.
„Freilich ist kaum ein Tag vergangen,
wo er nicht einen
dummen Streich ausgeführt, der jeden andern in die Luft gesprengt hätte!" Auch von Goethes Beziehungen zu Frau von Stein sollte er berührt werden. Diese schwankten noch immer zwischen Hoffen und Zagen.
17. März. — „Geduld, liebe Frau! ach und ein bischen Wärme! Es verschlägt Sie ja nichts — doch ich habe mich nicht zu beklagen.
Sie
sind so lieb als Sie sein dürfen."
20. März. — „Nun denn, was Sie thun, ist mir recht, denn mir ist's genug, daß ich Sie so lieb haben kann, und das Uebrige mag seinen Weg gehn...
Lassen Sie'S gut sein; weil ich doch nun einmal die
Schwachheit für die Weiber haben muß, will ich sie lieber für Sie haben als für eine andere."
Ein neuer Magnet zog ihn an, als er auf einer Fahrt nach Leipzig
29. März
bis 9. April die bildschöne
(25 I.) wiedersah.
Sängerin Corona Schröter
Die alten Neigungen — Friderike Oeser, Annette,
die sich längst verheirathet — waren verblaßt, auf Lili hatte er endgültig
Verzicht geleistet.
526
Goethe « erstes Jahr in Weimar, 1775—1777. Gleich nach seiner Rückkehr, 9. April, meldet Goethe Lenz bei Frau
v. Stxin an.
„Sie werden das kleine wunderliche Ding sehn und ihm
gut werden." 10. April, an Gustchen Stolberg.
„Ach Engel! es ist Lästerung,
wenn ich mit Dir rede! ich will lieber garnicht beten, als mit fremden
Gedanken vermischt.
Mein Herz, mein Kopf — ich weiß nicht wo ich
anfangen soll, so tausendfach sind meine Verhältnisse, und neu, und wechselnd, aber gut." 14. April gab er seiner Stimmung zu Frau von Stein einen hoch poetischen Ausdruck.
„Warum gabst du uns die tiefen Blicke, unsre Zukunft ahnungsvoll
zu schaun, unsrer Liebe, unserm Erdenglücke, wähnend selig nimmer hinzutraun? Warum gabst uns, Schicksal, die Gefühle, uns einander in das Herz zu sehn, um durch all die seltenen Gewühle unser wahr Verhältniß
auSzuspähn?" „Ach wie viele tausend Menschen kennen dumpf sich treibend kaum ihr eigen Herz, schweben zwecklos hin und her, und rennen hoffnungslos
in unversehnen Schmerz, jauchzen wieder, wenn der schnellen Freuden unerwarte Morgenröthe tagt! Nur uns Armen liebevollen beiden ist das wechselseit'ge Glück versagt, uns zu lieben, ohn' uns zu verstehen, in dem
Andern sehn, was er nie war, immer frisch auf Traumglück auszugehen und zu schwanken auch in Traumgefahr."
„Glücklich, den ein leerer Traum beschäftigt, glücklich, dem die Ahnung eitel wär'! Jede Gegenwart und jeder Blick bekräftigt Traum und Ahnung leider unS noch mehr.
Sag', was will das Schicksal uns bereiten? sag'
wie band es uns so rein genau?
Ach du warst in abgelebten Zeiten
meine Schwester oder meine Frau. Kanntest jeden Zug in meinem Wesen...
tröpftest Mäßigung dem heißen Blute, richtetest den wilden irren Lauf, und in deinen Engelsarmen ruhte die zerstörte Brust sich wieder auf . ..
Welche Seligkeit in jenen Wonnestunden, da er dankbar dir zu Füßen lag, fühlt sein Herz an deinem Herzen schwellen, fühlte sich in deinem Auge gut, alle seine Sinne sich erhellen und beruhigen sein brausend Blut!" „Und von allem dem schwebt ein Erinnern nur noch um das umgewisse
Herz, fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern, und der neue Zu
stand wird ihm Schmerz.
Und wir scheinen uns nur halb beseelet, däm
mernd ist um unS der hellste Tag.
Glücklich, daß das Schicksal, das uns
quälet, uns doch nicht verändern mag."
Unmittelbar darauf quälte sie ihn mit einem Mtßverständniß. — „Adieu liebe Schwester!" schreibt er ihr 16. April, „weil'S denn so sein soll."--------- „Warum mich betrügen und dich plagen? Wir können ein-
Goethe'- erstes Jahr in Weimar, 1775—1777. ander nichts sein und sind einander zu viel.
527
Ich sehe dich künftig wie
man Sterne sieht." 1. Mai.
„Du hast Recht, mich zum Heiligen zu machen, das heißt
Dich, so heilig Du bist, kann ich nicht
von Deinem Herzen zu entfernen.
zur Heiligen machen, und hab' nichts als mich immer zu quälen, daß ich mich nicht quälen will." — 2. Mai.--------- „Mir hielt's schwer, gestern
mein Gelübde zu halten, und so wird mir'S auch heute mit Ihrem Ver
langen gehn.
Doch da meine Liebe eine dauernde Resignation ist, so
mag'S denn so hingehn." —
„Goethe cause ici un grand bouleversement; s’il sait y remettre ordre, taut mieux pour son g6nie. II est sur qu'il y va de bonne Intention; cependant trop de jeunesse et peu d’expörience ... Tont notre bonheur a disparu ici, notre cour n’est plus ce qu’elle ötait. Un seigneur, mScontent de soi et de tout le monde, hasardant tous les jours sa vie avec peu de santö pour la soutenir, une mere chagrine, une epouse mecontente, tous ensemble de bonnes gens, et rien qui s’accorde dans cette malheureuse famille.“ So schreibt Frau v. Stein an Zimmermann. — „Mais attendons la fin.“ Was bezweckte sie mit diesem Schreiben? — Zimmermann war der erste gewesen, der noch vor ihrer Bekanntschaft mit Goethe sie vor ihm gewarnt
hatte: vielleicht wollte sie ihn nun auf eine falsche Fährte leiten.
Zimmermann theilte das Billet nach verschiedenen Seiten mit, an Herder (10. Mai); wahrscheinlich auch an Klo pflock. Dieser betrachtete, was in Weimar geschah,
merksamkeit.
mit gespannter Auf
In der Gruppirung der deutschen Literatur war ein ent
schiedener Frontwechsel etngetreten.
Goethe, dem er eine anständige aber
untergeordnete Stelle im Bunde zugedacht, hatte sich mit seinem Freunde Wieland verbündet; nun sollten auch seine treuen Stolbergs hineingezogen
werden, im Bund drohte allgemeiner Abfall.
„Die Grafen", schreibt Voß
verdrießlich, „haben ihre wärmsten Freunde außer dem Bunde; o Freund schaft!"
ES wurde einsamer um ihn; für Claudiu- hatte Herder bei
Moser eine Stelle in Darmstadt ausgewirkt; worin sie bestand, konnte
man nicht eigentlich sagen; eS handelte sich um die Hebung des Landvolks;
Voß bewarb sich um eine ähnliche Stelle bei dem Landgrafen von Baden.
ES galt-einen Versuch, das Heft wieder in die Hand zu nehmen. Klo pflock betrachtete die Stolberg noch als seine Mündel, für deren
Moralität er verantwortlich sei.
Die Herzogin Luise hatte er in Karls
ruhe als halbes Kind gekannt; nun kamen ihm fortwährend neue Klagen
zu Ohren, über die lärmende Geselligkeit am Hof, über die wiederholten Verletzungen der Sitte.
Klop stock glaubte etwas wagen zu dürfen.
Goethe'S erstes Jahr in Weimar, 1775 — 1777.
528 9. Mai.
„Hier einen Beweis von Freundschaft, liebster Goethe! Er
wird zwar ein wenig schwer, aber er muß gegeben werden.
Denken Sie
nicht, daß ich Ihnen, wenn eS auf Ihr Thun und Lassen ankommt, einreden würde; auch nicht, daß ich Sie, weil Sie vielleicht in diesem oder jenem andre Grundsätze haben als ich, strenge beurtheile.
Aber Grundsätze bei
Seite, was wird der Erfolg sein? Der Herzog wird, wenn er sich ferner bis zum krank werden betrinkt, nicht lange leben ... Die Deutschen haben
sich bisher mit Recht über ihre Fürsten beschwert, daß djese mit ihren
Gelehrten nichts zu schaffen haben wollen. von Weimar mit Vergnügen aus.
Sie nehmen jetzo den Herzog
Aber was werden andre Fürsten,
wenn Sie in dem alten Ton fortfahren, nicht zu ihrer Rechtfertigung an
zuführen haben? wenn eS nun wird geschehn, waS ich fühle, daß geschehn wird! Die Herzogin wird vielleicht ihren Schmerz jetzo noch niederhalten können, denn sie denkt sehr männlich.
Aber dieser Schmerz wird Gram
werden, und läßt sich der auch niederhalten? — Luisens Gram, Goethe!
— Nein, rühmen Sie sich nur nicht, daß Sie lieben wie ich!"
Von der Antwort soll der Rath abhängen, den er Stolberg ertheilen will, nach Weimar zu gehn oder nicht.
Der Versuch war heikel, aber wenn er gelang, so hatte Klopstock
wieder sein Ansehn bekräftigt.
Und unmöglich war eS nicht.
Regte sich
doch in Weimar selbst gegen den neuen Günstling eine nicht unwichtige Opposition. Eifersucht des Adels gegen den Bürgerlichen, der älteren Beamten
gegen die jungen Hofleute, die mit ihren excentrischen Gebühren die ganze
Residenz aus den Fugen zu treiben drohten.
Der Minister v. Fritsch
(44 I.), ein tüchtiger Beamter, hatte gleich nach Goethe'S Ankunft seine
Entlassung angeboten.
„Ich finde immer mehr Eigenschaften
in mir,
welche mich zu diesem Platz untüchtig machen.
Der erste Minister sollte
viel um Ihre Person, viel an Ihrem Hof sein.
Wie könnte aber ich, der
ich zu viel Rauhes in meinen Sitten, zu viel Unbiegsamkeit und zu wenig
Nachsicht gegen das, was herrschender Geschmack ist, an mir habe, ,om Hof eine günstige Ausnahme mir versprechen?" —Nun aber sollte Goethe
wirklich inS Conseil eingeführt werden.
Seit ihm der Herzog 21. April
ein Gartenhäuschen geschenkt, hatte er sich entschlossen zu bleiben.
Fritsch,
der in ihm nur den Poeten sah, an den sich allerlei wunderliches Volk
hing, erklärte 24. April, er wolle nicht mit, Goethe zusammen dienen; alle treuen Beamten würden die Stellung
des neuen Günstlings als
Zurücksetzung empfinden.
„Ein Mann wie Goethe", antwortet der Herzog 11. Mai, „würde die
langweilige und mechanische Arbeit, in einem LandeScollegio von Unten auf zu dienen, nicht aushalten.
Einen Mann von Genie nicht an dem
Goethe'S erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
529
Ort gebrauchen, wo er seine außerordentlichen Talente gebrauchen kann, heißt dieselben mißbrauchen.
WaS das Urtheil der Welt betrifft, das
ändert garnichtS; die Welt urtheilt nach Vorurtheilen."
Fritsch in der Erwiderung gesteht „seine Schwäche": „ich habe eS
noch nicht dahin gebracht, mich über die gegründeten Urtheile der Welt Er beschwört den Herzog, „von den Arbeiten so viel
hinwegzusetzen."
wackerer Männer, die in den Collegien sitzen, sich eine günstigere Vor
stellung zu machen, und sich davon, daß Sie solche für mechanisch und
langweilig halten, nicht- merken zu lassen, sonst würden diese erst von nun an ihren Dienst handwerksmäßig und mit Unzufriedenheit verrichten." ES ist auf beiden Seiten Wahrheit.
Außer Goethe sollte noch ein
andrer Günstling de- Hofs, Goethe- Freund v. Kalb, in'S Conseil ein
geführt werden.
Fritsch opponirte, weil er an seiner Gewissenhaftigkeit
zweifelte; der AuSgang gab ihm nur zu sehr recht. 13. Mai legte sich die Herzogin Amalia inS Mittel; sie beschwor
ihren alten treuen Diener, seinen Vorsatz aufzugeben, und Fritsch fügte
sich endlich, da auch sein College Geh.-R. Schmidt (Klopstock'S Vetter, Fannh'S Bruder) dazu rieth. trat in'S Conseil.
v. Kalb wurde Kammerpräsident, Goethe
„Alles was wider uns war, ist vernichtet!" schreibt
Kalb an Goethe'S Eltern. „Du nimmst", schreibt Goethe 18. Mai an Gustchen Stolberg, „an
dem unsteten Menschen noch theil, der seit er Dir nichts von sich schrieb, seltsame Schicksale gehabt hat.
Ich fühle, daß ich Dir nicht alle- sagen
kann, darum mag ich Nichts sagen . ..
War bei Frau v. Stein, einem
Engel von einem Weibe, der ich so oft die Beruhigung meines Herzens und manche der reinsten Glückseligkeiten zu verdanken habe, der ich noch
nichts von Dir erzählt, heute will ich's aber thun." „Nachts in meinem Garten.
Da laß ich mir von den Vögeln was
Vorsingen, und zeichne Rasenbänke, die ich will anlegen lassen, damit Ruhe über meine Seele komme, und ich wieder von vorn möge anfangen zu
tragen und zu leiden.
Gustchen, könnt ich Dir von meiner Lage sagen.
Die erwünschteste für mich, die glücklichste — und dann wieder —
Ich
sagte immer in meiner Jugend zu mir, da soviel tausend Empfindungen
da- schwankende Ding bestürmten: was das Schicksal mit mir will, daß e- mich durch all die Schulen gehn läßt! es hat gewiß vor (mich dahin
zu stellen, wo mich die gewöhnlichen Qualen der Menschen garnicht mehr anfechten müssen.
Und jetzt noch, ich sah alles als Vorbereitung.)
Ich
hab das auSgestrichen, weil- dunkel und unbestimmt gesagt war."
20. Mai.
„Der Herzog ist ein trefflicher Junge, und wird, will'-
Gott, auch auSgähren.
Fritz wird gute Tage mit uns haben ..
Preußische Jahrtücher. Bd. XLVI. Heft 5.
38
Schreib'
Goethe'S erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
530
doch meiner Schwester!
Ihre Briefe zerreißen mir das Herz.
O daß ihr
verbunden wäret! daß in ihrer Einsamkeit ein Lichtstrahl von Dir auf sie htnleuchtete!..
Seid einander, was ich euch nicht sein kann! Was rechte
Weiber sind, sollten keine Männer lieben, wir sind'S nicht werth."
In dieser Stimmung empfing er KlopstockS Brief, der ihn wie mit einem kalten Sturzbad überschüttete. — Der Ton seiner Antwort, 21. Mai, spricht vom Groll des übermüthigen Jünglings, der an Widerspruch nicht
gewöhnt war. — „Verschonen Sie und künftig mit solchen Briefen, lieber Klopstock!
Sie helfen uns nichts und machen uns nur ein Paar böse
Stunden.
Sie fühlen selbst, daß ich darauf nichts zu antworten habe.
Entweder ich müßt' als Schulknabe ein Pater peccavi anstimmen, oder
sophistisch entschuldigen, oder als ein ehrlicher Kerl vertheidigen, und käme vielleicht in Wahrheit ein Gemisch von allen dreien heraus, — und wo
zu? — Also kein Wort mehr zwischen uns über die Sache.
Glauben
Sie mir, daß mir kein Augenblick meiner Existenz über bliebe, wenn ich auf alle solche Anmahnungen antworten sollte. Augenblick weh, daß es ein Klopstock wäre.
mir wissen und fühlen Sie eben das.
immer kommen.
Dem Herzog that'- einen
Er liebt und ehrt Sie; von
Leben Sie wohl.
Stolberg soll
Wir sind nicht schlimmer, und, will's Gott, besser, als
er uns gesehn hat."
„Was wird's werden?" schreibt er 24. Mai an Gustchen.
„Ich hab'
eben noch viel auSzustehn, das ist's, waS ich in allen Drangsalen meiner
Jugend fühlte; aber gestählt bin ich auch, und will auSstehn bis ans Ende. — Nun hörst Du wieder eine Weile nichts von mir.
Fritz soll
kommen, wenn er gern mag; der Herzog hat ihn lieb, wünscht ihn je eher je lieber, will ihn aber nicht engen."
Denselben Tag an Frau v. Stein: „Also auch daS Verhältniß, das reinste, wahrste, schönste, daS ich außer meiner Schwester je zu einem
Weibe gehabt, auch daS gestört! — Und das alles um der Welt willen!
Die Welt, die mir nichts sein kann, will auch nicht, daß Du mir was sein sollst." — TagS darauf:
„Sie sind sich immer gleich, immer die
innerliche Lieb' und Güte! Verzethn Sie, daß ich Sie leiden mache! Ich
will's aber künftig suchen allein tragen zu lernen." In Klopstock'S Kreis erregte Goethe'S schroffe Abweisung einen un
gemeinen Aufruhr.
„ES thut mir in der Seele weh für Goethe!" schreibt
ihm Fritz Stolberg 8. Juni, „er verdtent'S Ihre Freundschaft zu ver lieren, und doch weiß ich, wie er von Herzen Sie ehrt und liebt. sage ich nicht, ihn zu entschuldigen.
Das
Starrkopf ist er im allerhöchsten Grad,
und seine Unbeugsamkeit, welche er, wenn es möglich wäre, gern gegen
Gott behauptete, machte mich schon oft für ihn zittern.
Gott welch ein
Goethe'- erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
531
Gemisch! ein Titanenkopf gegen seinen Gott, und nun schwindelnd von der Gunst eines Herzogs!
Sagen Sie mein Liebster! denn Sie erkannten
früh seinen eisernen Nacken: dachten Sie nicht an ihn, wie Sie die War nung machten"
„Und doch
[Sine Warnung vor den Gotteslästerern!]
kann er so weich sein, so liebend,
läßt sich in guten Stunden leiten
am seidnen Faden . . . Gott erbarm sich über ihn und mach ihn gut!
Aber wenn Gott nicht Wunder an ihm thut, so wird er der Unseligsten einer.
Wie oft sah ich ihn schmelzend und wüthend in einer Viertel
stunde . . .
Der junge Herzog hat viel Anlage zum Guten und Bösen.
Er hat natürliche Wildheit und Härte . . .
Die anderen Geschichten,
welche mir Gustchen (!) erzählt hat, sind lächerlich und schlecht . . . Und doch .. werde ich hin müssen, das hab ich versprochen."
Sein Bruder Christian, 16. Juni: „Ich wünschte so sehr, daß mein Bruder sich auf gute Weise von seiner Verbindung losmachen könnte . . .
Wie hat sich Goethe mit dem Herzog, dem wilden rohen Jungen, so
verbinden Maitresse!
können!
. . .
Der
Herzog
und
DaS habe ich Mühe zu glauben.
er
eine
gemeinschaftliche
Aber beide sind unbändig,
und beiden ist der Umgang mit einander höchst gefährlich . . .
Zustand rührt mich unbeschreiblich.
Luisens
Sie sind freilich gar nicht für ein
ander gemacht und haben sich nie geliebt — doch wann lieben sich Fürsten!" 11. Juni erhielt Goethe seine förmliche Anstellung als Geh. LegationS-
rath, mit 1200 Thlrn. und Sitz und Stimme im Conseil. ihm volle Freiheit zu gehn, sobald er wollte. Kalb:
Dabei blieb
An seine Eltern schrieb
„Nie würde der Herzog darauf verfallen sein, Goethe einen an
dern Charakter als den seines Freundes anzutragen: er weiß zu gut, daß
alle andern unter seinem Werth sind; wenn nicht die hergebrachten Formen solches nöthig machten.
„Ich hab' so vielerlei", schreibt Goethe an Kestner und Lotte, „daS
mich herumwirft; ehemals waren's meine eignen Gefühle, jetzt sind neben denen noch die Verworrenheiten andrer Menschen, die ich trage und zu rechtlegen muß.
Soviel nur: ich bleibe hier, und kann da, wo ich und
wie ich bin, meines Lebens genießen, und einem der edelsten Fürsten und
Menschen in mancherlei Zuständen förderlich und dienstlich fein.
Der
Herzog, mit dem ich nun schon an die neun Monate in der wahrsten
und innigsten Seelenverbindung stehe, hat mich endlich auch an seine Ge schäfte gebunden; aus unsrer Liebschaft ist eine Ehe entstanden, die Gott
segne." 13. Juni erhält Herder die Vocation nach Weimar.
Goethe hatte
schwer gegen das Borurtheil aller landeseingesessenen Geistlichen an-
38*
Goethe'- erste- Jahr in Weimar, 1775—1777.
532
kämpfen müssen, die Herder für einen Freigeist hielten; aber er hatte sein Stück durchgesetzt.
Goethe, Wieland und Herder verbündet und an einem Ort!
Die
ganze Constellation der deutschen Literatur hatte sich umgewendet. — Nun schien noch die ganze Frankfurter Sturm- und Drang-Gesellschaft sich ein
zufinden. 24. Juni kam Klinger in Weimar an.
„Ich lag an Goethe'S Hals,
und er umfaßte mich mit inniger Liebe: närrischer Junge! und kriegte
Küfie von ihm: toller Junge! und immer mehr Liebe.
Wort von meinem Kommen.
Er wußte kein
O was ist von Goethe zu sagen! ich wollte
eher Sonne und Meer verschlingen! — Wieland ist der größte Mensch,
den ich nach Goethe gesehn. — Hier sind die Götter! hier ist der Sitz des Großen!
Glaub von allem nichts, was über das Leben hier geredet
wird, es ist kein wahres Wort daran.
Es geht alles den großen, simpeln
Gang, und Goethe ist so groß in seinem politischen Leben, daß wir's nicht
begreifen." Er wohnte mit Lenz in einem Hause.
Eben hatte er eine ganze
Reihe seiner wilden Krafttragödten veröffentlicht: „Die neue Arria", „Si
mone Grimaldi", „Sturm und Drang". „Ich laß' all das werden vom blinden Ungefähr, und baue an mir
fort und dreist hinauf die Sonne an, Sturz oder Gipfel!" Fast alle Tage und Nächte war er mit Lenz, Goethe, Wieland und Kalb zusammen.
„Die Kerls in Weimar", schreibt der alte Freund Kayser in Frank
furt, „treiben sich gut! mich freut ihr Leben, denn ich habe erstaunenden Glauben daran." Auch er hatte Lust, sich an diesem Leben zu betheiligen,
er konnte einen Librettodichter für seine Operetten brauchen; aber Goethe schrieb ab, der Freunde wurden ihm zu viel.
So also sehn die Genies
aus! sagten die alten Geheimräthe. „Die Gegenwart", schreibt Goethe an Frau v. Stein, die nach Pyr mont gereist war, „ist's allein, die wirkt, tröstet und erbaut!
Wenn sie
auch wohl manchmal plagt — das Plagen ist der Sonnenregen der Liebe.
Ich hab Sie viel lieber seit neulich, viel theurer und viel werther ist mir
Deine Gutheit zu mir.
Aber freilich auch klarer und tiefer ein Verhält
niß, über daS man sich so gern verblendet."
2. Juli.
„Hier bildend nach der reinen stillen Natur, ist ach mein
Herz der alten Schmerzen voll.
Leb' ich doch stets um derentwillen, um
derentwillen ich nicht leben soll." — „Mit Wieland hab ich göttlich reine
Stunden, das tröstet mich viel." 5. Juli, Wieland an Merk.
„Wegen Goethe bitte ich Sie ruhig
zu sein. DaS Schicksal hat ihn in Affection genommen; er ist Cäsar und
Goethe'« erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
533
sein Glück, und ihr werdet sehn, daß er sogar in diesen Hefen der Zeit große Dinge thun wird."
9. Juli, Goethe an Frau v. Stein.
„Gestern Nachts lieg' ich im
Bett, schlafe schon halb, Philipp bringt mir einen Brief, dumpfsinnig les'
ich — daß Lilli eine Braut ist!! kehre mich um und schlafe fort.--------Wie ich das Schicksal verehre, daß es.so mit mir verfährt!
So alle-
zur rechten Zeit! — — Lieber Engel, gute Nacht!" — Jetzt ging diese Verlobung noch auseinander; der Bräutigam starb bald darauf. Die tollsten Gerüchte wurden überall herumgetragen.
„Hab mich
immer lieb!" schreibt Goethe 24. Juli aus Ilmenau an Merk, „glaub,
daß ich mir immer gleich bin.
Freilich hab' ich auözustehn gehabt, da
durch bin ich nun ganz in mich gekehrt. denn die Welt keine Freude erlebt.
Der Herzog ist ebenso, daran
Wir halten zusammen und gehn un
sern eignen Weg, stoßen so freilich allen Schlimmen, Mittelmäßigen und Guten sür'n Kopf, werden aber doch hindringen, denn die Götter sind sichtbar mit uns.
— Lenz wird endlich gär lieb und gut in unserm
Wesen, sitzt jetzt in Wäldern und Bergen allein, so glücklich als er sein kann.
Klinger kann nicht mit mir wandeln, er drückt mich.
Ich hab's
ihm gesagt, darüber er außer sich war und'S nicht verstand und ich'S nicht
erklären konnte noch mochte." 3. August, im Thüringer Wald, da ihm das Schicksal einen ganz
reinen Moment bereitete, dichtete er ein Lied:
„mein Karl und ich ver
gessen hier, wie seltsam uns ein tiefes Schicksal leitet!"
Er redet das
Schicksal an: „du hast uns lieb, du gabst uns das Gefühl, daß ohne dich
wir nur vergebens sinnen, durch Ungeduld und glaubenleer Gewühl vor
eilig dir niemals was abgewinnen.
Du hast für uns das rechte Maaß
getroffen, in reine Dumpfheit uns gehüllt, daß wir, von Lebenskraft er füllt, in holder Gegenwart der liebern Zukunft hoffen!"
Hier, 5. August, in einer Höhle Zusammenkunft mit Frau v. Stein: „Deine Gegenwart hat auf mein Herz eine wunderbare Wirkung gehabt; mir ist wohl und doch so träumig. — Ach wenn Du da bist, fühl' ich,
ich soll dich nicht lieben! ach wenn du fern bist, fühl' ich, ich lieb' dich so sehr! — Dein Verhältniß zu dir ist so heilig, daß ich recht fühle, eS
kann mit Worten nicht ausgedrückt werden, Menschen können's nicht sehn." Frau von Stein war keine Friderike, kein Grethchen und kein Clärchen; die Stimmung des Veilchens, durch den Fuß des Geliebten mit Freuden
zu sterben, war nicht die ihrige.
Sie fühlte sich ganz voll, als Person
gegen Person, und sie hatte den weiblichen Jnstinct, daß auch die Liebe ein Duell ist. gehn.
Sie konnte sehr zurückhalten; sie konnte darin sehr weit
Sie war weltklug, und die Art, wie sie Goethe zuerst behandelte.
534
Goethe'- erste- Jahr in Weimar, 1775 — 1777.
hätte als die weltklügste erscheinen können: nur durch ihre scharfe Ver
theidigung konnte Goethe'- Feuer in dem Grad angefacht werden.
Aber
sie handelte nicht blos au- Weltklugheit; der Kampf spielte auch in ihrem
Innern.
Sie hätte gern ein Freundschaft-verhältniß gewollt, sie kämpfte
gegen ihre eigne Leidenschaft, und daher mit doppelter Anstrengung gegen
die seine.
Freilich diente da- nur dazu, beide- stärker anzufachen.
Sie
hatte eine starke Sehnsucht nach Idealen, die aber gedämpft war durch die Gewohnheit höfischer Sitte.
Sie wollte den unbändigen übermüthigen
Knaben erziehn, der zuweilen da- Joch abzuschütteln strebte, unmuthig wie der Bär in Lili'S Park, dann aber den Nacken wieder beugte.
Wenn sie
ihn zuweilen streng an die gesellschaftlichen Schranken erinnerte, wurde sie doch unruhig, wenn seine Leidenschaft sich gar zu bescheiden fügte; sie
wußte da- Band zu lockern, ließ sich auch wohl von seinen anderweitigen Liebschaften berichten, aber mit der stillen Absicht, ihn dafür zu strafen.
Goethe wurde durch sie in einem andern Sinn erzogen al- sie meinte: der größte Dichter der Liebe lernte durch sie die geheimsten Schlupfwinkel
der Liebe kennen und darstellen; darum ist der Briefwechsel auch für seine poetische Entwickelung so wichtig.
1. Sept. — „Wenn das so fortgeht, beste Frau! werden wir noch zu lebendigen Schatten.
Soviel Liebe, soviel treffliche Menschen, und so
viel Herzen-druck!"
8. Sept. — „Ich war gestern sehr traurig und wußte nicht warum
... Ich bin dem Schicksal zu viel schuldig, al- daß ich klagen sollte, und doch für meine Gefühle kann ich nicht-.
Ich werde nicht nach Kochberg
kommen, denn ich verstand Wort und Blick."
10. Sept. — „Ich schicke Ihnen Lenz; endlich hab' ich'- über mich gewonnen.
O Sie haben eine Art zu peinigen wie da- Schicksal; man
kann sich nicht darüber beklagen, so weh e- thut.
Er soll Sie sehn, und
die zerstörte Seele soll in Ihrer Gegenwart die Balsamtropfen einschlürfen,
um die ich alle- beneide. — Er war ganz betroffen, ganz im Traum, da
ich ihm sein Glück ankündigte, in Kochberg mit Ihnen sein, mit Ihnen gehn, Sie lehren, für Sie zeichnen. — Und ich — zwar von mir ist die
Rede nicht — und warum sollte von mir die Rede sein? . . Von mir hören Sie nun nicht- weiter, ich verbitte mir auch alle Nachricht von Ihnen oder Lenz."
Im Tagebuch 10. Sept.: „reine Trauer de- Leben-". 9. Sept, schreibt Wieland über Lenz: „man kann den Jungen nicht
lieb genug haben.
So eine seltsame Composition von Genie und Kind
heit! so ein zarte- Maulwurfsgefühl und so ein nebliger Blick! und der
ganze Mensch so befangen, so liebevoll!
Wir lieben ihn alle wie unser
535
Goethes erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
eigen Kind, und so lange er selbst gern bleibt, soll ihn nichts von uns scheiden."
Lenz dichtete damals fast nur kleine Schnitzel, die wegen einzelner
genialen Einfälle überschätzt wurden; eS gingen ihm fortwährend große Ent
würfe im Kopf herum, aber nichts wurde ausgetragen.
Alle Bilder er
schienen ihm durch das Medium seiner kranken Einbildungskraft, manche dramatische Phantasie sieht auS, wie im delirium tremens geschrieben. Alle seine Gedichte auS jener Zeit athmen die Leidenschaft zu einer
vornehmen Dame. Sie strahlt in Lichterglanz und Juwelen: „und denkest
nicht, daß hier in Nacht ein auSgeweinteS Auge wacht, das überall, wohin
eS flieht, kein Mittel, sich zu retten, sieht.. Fern und verachtet und mißkannt, wo Niemand weiß, wer mich verbannt — ach wie so glücklich ist der Mann, der Dir zu Füßen sterben kann!" — Allenfalls zerstampft wie Petrarca unter den Rädern ihres Wagens!
„Verzeih den Kranz, den eines Wilden Hand um dein geheiligt
Bildniß wand!
Hier, wo er unbekannt der Welt, in dunkeln Wäldern,
die ihn schützen, im Tempel der Natur es heimlich aufgestellt, und wenn
er davor niedersällt, die Götter selbst auf ihren Flammensitzen für eifer süchtig hält!"
„Der verlorne Augenblick, die verlorne Seligkeit!" — „Bon nun an die Sonne in Trauer, von nun an finster der Tag, des Himmels
Thore verschlossen!
Wer ist, der wieder eröffnen, mir wieder erschließen
sie mag? Hier auSgesperret, verloren, sitzt der Verworfne und weint, und kennt in Himmel und Erden gehässiger nichts als sich selber, und ist in Himmel und Erden sein unversöhnlichster Feind!"
„Ach er ist hin der Augenblick, und der Tod mein einzigstes Glück." „Daß er käme!
Mit bebender Seele wollt' ich ihn fassen! wollte mit
Angst ihn und mit Entzücken halten ihn, halten und ihn nicht kaffen! Und drohte die Erde nur unter mir zu brechen, und drohte der Himmel
mir die Kühnheit zu rächen: ich hielte Dich, fasse Dich, Heilige! Einzige! mit all Deiner Wonne, mit all Deinem Schmerz! preßt' an den Busen
Dich, sättigte, einmal mich, wähnte, Du wärst für mich! und in dem Wonnerausch, in den Entzückungen bräche mein Herz." — „Zwar wär' es Sünd' auf Leben lang, doch machte mir die Hölle nicht bang!" — „Armida! Armida! — Behaltet euren Himmel für euch!!" —
— „Ha unter allen Foltern des Lebens, auf die der Scharfsinn des
Menschen gesonnen haben kann, kenne ich keine größere, als zu lieben und ausgelacht zu werden!
Und die Marmorherzen machen ihrem Gewtffen
diese Peinigung so leicht, weil eS ihnen so wenig Mühe kostet, weil sie
ihrem Stolz und ihrer eingebildeten Weisheit so schmeichelt, weil sie die
Goethe- erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
536
schlechtesten Erdensöhne mit so
geringen Kosten
über
den niedrigsten
Gottessohn hinauSsetzt!" „Ein echter Liebhaber muß eigentlich nichts thun, als den Göttern
zur Farce zu dienen!"
Die Götter spotten nur des armen Tantalus, der
im Glauben, die Königin der Götter zu lieben, nur eine Wolke anbetet l — In einem „Dramölet auf dem Olymp", daö Goethe 14. Sept, las,
hat Lenz das schauerliche Bild auSgemalt. „Lenz", schreibt Goethe 16. Sept, an Lavater, „ist unter uns wie
ein krankes Kind; wir wiegen und tänzeln ihn, und geben ihm von Spiel zeug, was er will." In einem seiner Stücke, „die Freunde machen den Philosophen", das
in der ersten Hälfte deS JahrS gedruckt wurde, und Schröder sehr wohl
gefiel, führt Strephon oder Lenz oder Tantalus wie der spätere Roquairol
ein Stück im Stück auf, in welchem er seine eigne Herzensgeschichte er zählt.
Donna Serafina, seine hohe Geliebte, ist bereit, einem armen
Marquis
ihre Hand zu geben, „um so ihrer Liebe einen Beschützer zu
erkaufen!"
Da aber Strephon dagegen ist, heirathet sie Don Prado, einen
vornehmen Mann, der sie wirklich liebt; in der Hochzeitsnacht erklärt sie
ihm, sie liebe einen andern, und er erwidert: „Die Flamme, die für dich in diesem Herzen brennt, ist viel zu rein, als daß ihr ältere Verbindungen,
die du getroffen hast, nicht heilig sein sollten!-------- Ich will den Namen
eurer Heirath tragen!"--------- Worauf die Liebenden sich anbetend vor ihm niederwerfen. — „Die Freunde machen den Philosophen!"
Lenz meint, die Freunde
hätttn ihn so mißbraucht und so schlecht behandelt, daß er endlich wohl Ge duld lernen müssen.
Mit größerem Recht konnte daS Goethe von sich sagen.
Er konnte eine gewisse Verwandtschaft seiner Jugendversuche mit denen
seiner Freunde nicht ablengnen, aber e« war eine Verwandtschaft, vor der ihm graute.
Er war im Begriff, seine alte Schale abzuwerfen, und jene
wollten ihn noch in der alten Gestalt sehn, in der alten Gestalt zeigen, die unter ihren Händen ein Zerrbild wurde.
Er duldete sie lange und
litt viel Schaden an ihnen; zuletzt freilich riß ihm die Geduld und er machte unter ihre Existenz einen dicken Strich.
Am ausführlichsten schildert Lenz seine phantastischen HerzenSerlebnisse in einem Roman in Briefen,
WertherS Leiden".
„der Waldbruder, ein Pendant zu
Herz, deS Dichters Ebenbild, wird durch Fräulein
Schatouilleufe in feiner Leidenschaft geäfft und unglücklich gemacht.
Ihm
steht ein gewiffer Rothe gegenüber: „Ich lebe glücklich wie ein Poet, daS
will bei mir mehr sagen als glücklich wie ein König...
Ich bin überall
willkommen, weil ich mich überall hinzupassen weiß...
Selbst die hef-
537
Goethe'S erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
ttgste Leidenschaft muß der Selbstliebe untergeordnet sein, oder sie ver fällt in'S Abgeschmackte...
Mein EpicuretSmuS führt doch weiter, als
dein tolles Streben nach Luft- und Htrngespinnsten...
Nichts lieblicher
als die Eheknoten, die für mich geschlungen werden und an denen ich
mit solcher Artigkeit unterweg zu schleichen weiß.
Denk waS für
ein
Aufwand von Reizungen bet all den Geschichten um euch her ist, welch eine Menge Charaktere sich mir entwickeln, tote künstliche Rollen um mich angelegt und wie meisterhaft sie gespielt werden.
DaS ergötzt meinen
innern Sinn unendlich, besonders weil ich zum Voraus weiß, daß fich
die Leute alle an mir betrügen und mir hernäch doch nicht einmal ein böses Wort geben dürfen. — Kann man zweifeln, wem das gilt?
Schlimmer noch wurde Goethe durch einen andern Freund mitge
spielt, durch Jacobi.
„Allwill's Papiere"
erschienen stückweise im
Mercur, von den meisten wurden sie Goethe zugeschrieben, der augen
scheinlich darin protraittrt war.
Wieland war sehr warm dafür, nur
einmal, Juli 1776, wurde er wild, als Allwill einen gar zu verwegenen
Kraftbrief schrieb: er bemerkte nicht, daß Jacobi nicht mehr sein Ideal
darstellen, sondern vor einem verwegenen Menschen warnen wollte, der
zuletzt bei aller Genialität sich als Bild der vollendeten Ruchlosigkeit erwies! Nun male man sich Goethe'S Empfindungen aus, wenn er diese und
ähnliche Expectorattonen las, aus denen ihm wie aus einem Zerrspiegel
sein eigener Charakter entgegentrat! Nicht als sei eS Jacobi'S Absicht ge wesen, in diesem ruchlosen Menschen Goethe zu schildern: er glaubte frei
zu schaffen, da aber seine Phantasie nicht productiv war, entstand ein verzerrtes aber sehr kenntliches Portrait.
In der That muß man, um sich ein Bild von dem damaligen Goethe zu machen, die Farben von Werther und Allwtll gewiffermaßen
in einander scheinen lasten. Allwill hat sehr viel von Goethe, er hat sogar vielleicht den Grund
zug seines Wesens.
Aber eS fehlt ihm die Pietät und das Gewissen.
Von der Tiefe deS Gemüths bei Goethe hatte Jacobi keine Ahnung. Goethe war im Kern seines Wesens ebenso wenig Allwill als er Werther
Er hat in seiner Liebe schnell gewechselt und ist demnach vielen
war.
untreu geworden, aber in höherem Sinn war er auch wieder treu: die Bilder seiner Geliebten waren ihm heilig. Goethe hatte sich selber oft genug carikirt, aber von einem Freund
in diesem Licht gesehen zu werden, war doch
etwas andres.
nicht in seiner Art, sich über so etwas üuSzusprechen;
blieb und
errieth.
Es
lag
aber der Groll
brach in einem Augenblick aus, wo Niemand
den Grund
Goethe'S erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
538
Ueber all diesen Anfechtungen verlor Goethe niemals das Selbst
vertrauen.
„Meine Lage", schreibt er 16. September an die alte Karschin,
„ist die glücklichste, die eine menschliche Einbildungskraft sich kaum zu wünschen wagt;
dafür hab' ich nun freilich auch alle Zulagen zu ge
nießen, die das Schicksal an jene Gaben anzuhäkeln pflegt". selben Tag schickt er an Lavater ein Gedicht:
An dem
er hat sich eingeschifft auf
den Wellen, unter den Segenswünschen der Freunde.
„Aber gottgesandte
Wechselwtnde treiben seitwärts ihn der vorgesteckten Fahrt ab, und er scheint sich ihnen hinzugeben, strebet leise sie zu überlisten,
treu dem
Zweck auch auf dem schiefen Wege. — Aber aus der dumpfen grauen Ferne kündet leise wandelnd sich der Sturm an, drückt die Vögel nieder
aufs Gewässer, drückt der Menschen schwellend Herze nieder. — Und er
kommt. Vor seinem starren Wüthen streicht der Schiffer weis' die Segel nieder.
Mit dem angsterfüllten Balle spielen Wind und Wellen.
—
Und an jenem Ufer drüben stehen Freund' und Lieben, beben auf dem
Festen...
Doch er stehet männlich an dem Steuer.
Mit dem Schiffe
spielen Wind und Wellen, Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen. Herrschend blickt er in die grimme Tiefe und vertrauet, landend oder schei
ternd, seinen Göttern." „Ueber Carl und Luise sei ruhig! Wo die Götter nicht ihr Possen
spiel mit den Menschen treiben, sollen sie noch eins der glücklichsten Paare werden, wie sie eins der besten sind; nichts Menschliches steht da zwischen, nur des unbegreiflichen Schicksals verehrliche Gerichte.
Wenn
ich Dir erscheinen und erzählen könnte, was unbeschreibbar ist, Du würdest auf Dein Angesicht fallen und anbeten den der da ist, der war und sein
wird! Aber glaub' an mich, der ich an den Ewigen glaube!" Nun trat ein neuer Titane in seinen Kreis, der wunderlichste, der ihm bisher begegnet war, Chr. Kaufmann (23. I.), ein Landsmann
und
Apostel
LavaterS;
in
seinem
„Faust"
meldete
ihn
der
Maler
Müller an. „Bor einigen Tagen erhielt ich ein Schreiben, das mir die Ankunft eines wahren Wundermenschen hierher berichtet, eines Menschen, der bei unverdorbener LeibeS- und Seelenkraft, bet der reinen Simplicität des
Patriarchen, beim vollen Gefühl der Natur, bei der Eigenheit und Gradheit seines Sinns, kurz bet allem, was herrlich und groß ist, doch zu
gleich Herablassung genug besitzt,
alle Mischungen der Charaktere und
Temperamente, vom stärksten bis zum schwachen herab, wirkend zu um fassen; Weltkenntniß genug, alle Modificationen verstimmter und herab gewürdigter Menschheit zu behandeln; der auf alle Stände ohne Unter
schied wirkt; dem der Zerbrecher an der Stirn, der Brechbare auf der
Goethe - erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
539
Zunge sitzt; kurz dessen kleinstes Haar schon bedeutungsvoll ist; der die Menschen mit seinen tief eindrtngenden Blicken würde zittern machen,
weil alle vor seiner Sonne nackend ständen, wenn nicht Sanftmuth und Wohlwollen, wie ein leise gefalteter Flor, sich dretfach umher wölkten,
den zu mächtigen Glanz zu mildern..."
— „Wie? dies Monstrum wird hier zu sehen sein? — Wie heißt
er doch?" — „Gottesspürhund!" Kaufmann wurde so genannt, weil er auf der Gottes Spur zu sein behauptete; er machte seine apostolische Rundreise.
In Kreuznach
hatte er des Maler Müller sechzehnjährige Schwester Friederike be
zaubert; in Darmstadt alle Welt.
„Ein Märtyrer für die Wahrheit und
daS Beste der Menschheit!" schreibt Caroline Herder.
„Ach man ent
weiht sein ganzes Wesen, wenn man nur von ihm schwätzt und ihm nicht
nachfolgt!" In Weimar (22. September bis 9. Octöber) schloß sich Goethe aufs
Innigste ihm an, wiederholt wird im Tagebuch eine herrliche Nacht an
gemerkt:
Goethe hatte keine Ahnung, daß eine seiner eigenen Figuren,
der SatyroS, ihm lebendig entgegentrat.
Bald nach seiner Ankunft ging
Klinger, der „Löwenblutsäufer", fort, ursprünglich mit der Absicht, als
Artillerist in Amerika für die Freiheit zu fechten; aber er ließ sich be
stimmen, vorerst als Theaterdichter in Gotha zu bleiben. 2. Oktober kam endlich Herder in Weimar an; 16. Juni war seine
Freundin, die Gräfin Marie, gestorben.
„Gott weiß", hatte er in seiner
Abschiedspredigt 7. September gesagt, „wie eS mich von Anfang meines
Amts geschmerzt hat, daß ich hier so ganz unnütz zu sein schien, wo kaum daS Echo meiner Stimme zu mir drang, und ich auf einem Instrument
zu spielen schien, dem nichts als die Saiten fehlten ...
Da erweckte
Gott das Herz unser theuern verblichenen Landesmutter, die recht als ein
Engel zu mir trat und mir den Muth gab, den ich in mir vergeblich suchte. . .
Drei Tage vor ihrem Ende bekam ich meinen Ruf, und
jetzt, wenige Tage nach ihrer Beerdigung, halte ich hier die Leichenrede auf mein Amt ...
Ich war voraus durch Glück und Jugend verwöhnt:
wo ich hinkam, ging Achtung vor mir und Liebe folgte mir nach; ich war
hieran gewöhnt, und Gott mußte mich an einen Ort führen, wo er mir dieses versagte, wo es wüst um mich wurde, wo ich gezwungen ward an
ders zu sein und zu denken." Goethe hatte aufS freundschaftlichste für ihn gesorgt, und ließ sich darin nicht stören, als Herder gleich zu Anfang ihm das Leben sauer
machte: die Umkehr ihrer Stellungen wurde ihm doch lästig, der frühere
540
Goethe's erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.
Auch Wieland empfing ihn mit Begeiste
Schüler nun sein Gönner.
rung: „Mein Herz flog ihm beim ersten Anblick mächtig entgegen.
So
oft ich ihn ansehe, möcht' ich ihn zum Statthalter Christi machen können. Aber wenn Goethe's Idee stattfindet, so
Weimar ist seiner nicht werth.
wird doch Weimar noch der Berg Ararat, wo die guten Menschen Fuß
fassen können,
während allgemeine Sündfluth die übrige Welt bedeckt.
Goethe ist immer wirksam, uns alle glücklich zu machen; ein
herrlicher, verkannter Mensch:
großer,
so wenige sind fähig, sich von ihm einen
Begriff zu machen."
In seiner Liebe schwankte Goethe noch immer zwischen Hangen und Langen. — „Sie gehn!" schreibt er 7. Oktober an Frau v. Stein, „und weiß Gott,
was werden wird!
Ich hätte dem Schicksal dankbar sein
sollen, das mich in den ersten Augenblicken, rein fühlen ließ, wie lieb ich Sie habe.
da ich Sie wiedersah, so
Ich hätte mich damit begnügen
Verzeihen Sie!
und Sie nicht weiter sehn sollen.
ich seh' nun, wie
meine Gegenwart Sie plagt; wie lieb ist mir'S daß Sie gehn! In Einer
Stadt hielt' ich's so nicht aus . . .
Sie kommen mir eine Zeit her wie
eine Madonna vor, die gen Himmel fährt; vergebens, daß ein Rückbleiben
der feine Arme nach ihr ausstreckt, vergebens, daß fein scheidender thränenvoller Blick den ihrigen noch einmal wiederwünscht, sie ist nur in den
Glanz versunken, der sie umgiebt, nur voll Sehnsucht nach der Krone, die ihr überm Haupt schwebt". Sie schrieb auf die Rückseite deS BuchS: „Ob's unrecht ist, was ich empfinde, und ob ich büßen muß die mir so liebe Sünde, will mein Ge
wissen mir nicht sagen — Vernicht' eS Himmel da, wenn mtch'S je könnt' anklagen!"
„Die Welt wird mir wieder lieb, ich hatte mich so los von ihr ge
macht, wieder lieb durch Sie. — Mein Herz macht mir Vorwürfe: ich fühle, daß ich mir und Ihnen Qualen bereite.
Vor einem halben Jahr
war ich so bereit zu sterben, und ich btn'S nicht mehr." —
Dieser Brief steht in dem Lustspiel „die Geschwister" welches Goethe 26. bis 31. Oktober ausarbeitete:
in die Textur deS Stücks gehört er
garnicht; wie überhaupt Wilhelm-Fernando'S Vorgeschichte in die Atmo sphäre desselben nicht recht zu passen scheint. „Du liegst schwer über mir und bist gerecht, vergeltendes Schicksal! — Warum stehst Du da? zeiht mir!
Und Du?
Just in dem Augenblick! — Ver
Hab' ich nicht gelitten darum? — Verzeiht!
es ist lange!
Ich habe unendlich gelitten. — Ich schien euch zu lieben; ich glaubte euch zu lieben; mit leichtsinnigen Gefälligkeiten schloß ich euer Herz auf und machte euch elend! — Verzeiht und laßt mich!"
541
Goethe'« erstes Jahr in Weimar, 1775 — 1777.
So konnte etwa Allwill sprechen, der Held des Lustspiels kaum.
ES
sind Selbstgeständnisse,' auch die Combination der Namen Wilhelm und
Marianne, die nämliche wie im „Meister", ist bezeichnend.
„Die Geschwister", das einzige Stück, das Goethe in dieser Zeit machte, schließt sich in seinem Ton an Clavigo, Stella, Claudine, Erwin an; es imttirt durchaus die Sprache des schlicht bürgerlichen Lebens, im starken Gegensatz zu Egmont und zu Faust.
Ein liebliches Genrebild,
von der Sehnsucht nach ehelichem Glück durchhaucht, die Goethe so voll empfinden konnte.
Die theatralische Arbeit ist musterhaft: es hat im
folgenden Jahrzehnt eine zahlreiche Nachkommenschaft gehabt, die bürger
liche Natürlichkeit ist freilich allmälig in die Ziererei der Kammerzofen auSgeartet, Marianne ist bis zur Gurli herunter gekommen. 21. November wurden die
„Geschwister"
in Weimar
aufgeführt:
Goethe spielte den Wilhelm, Mademoiselle Kotzebue, für die er eine
Art Neigung hatte, die Marianne; ihr jüngerer Bruder hat an dem Stück
wohl seine ersten Studien gemacht.
In denselben Tagen gab man die
„Mitschuldigen": in dieser Gestalt zeigte sich nun der Dichter des „Faust" deutschen Publikum,
dem
das
nicht wußte,
was
eS daraus machen
sollte. Im Stillen hielt -man ihn trotzdem noch für eine dämonische Natur.
„Goethe's Liebkosungen", schreibt Zimmermann 20. Novbr. an Lavater,
„scheinen mir die Liebkosungen eines Tigers.
Man faßt unter seinen
Umarmungen immer nach dem Dolch in der Tasche". — Etwas klingt an diese Stimmung wohl auch ein Brief der Herzogin Luise an Lavater, 14. Novbr.
„Nur zu lange hab' ich gegen Sie geschwiegen, ohne Sie
jemals zu vergessen. trauen.
Mein Schweigen kam nicht aus Mangel an Zu
Könnte ich alles mit Ihnen theilen, alle Ahnungen, alle glück
lichen und leidenden Stunden!
Aber unmöglich war's mir zu schreiben,
ich war fast zur Kleinmüthigkeit gesunken, alles düster und dumpf um mich her, alle Hoffnung erloschen!
Aber stark hinauf bin ich wieder ge
stiegen; mein Gott giebt mir Muth, alles zu ertragen.
Helfen Sie mir
meinen Geist aufrecht erhalten!"
23. November trat Corona Schröter, als Kammersängerin der Herzogin Amalie engagirt, zum ersten Mal auf.
In Goethe's Tage
büchern finden sich wiederholt entzückte Ausrufe über ihre Schönheit; die
HerzenSconfltcte verwickelten sich.
Ein Eclat machte auch die Draußen
stehenden aufmerksam.
26. November beging Lenz eine „Eselei", in Folge deren ihm der Rath ertheilt wurde, sich zu entfernen, mit Reisegeld; das letztere schlug er aus, und schickte durch Herder, der sich seiner angenommen,
„ein
542
Goethe s erste- Jahr in Weimar, 1775 — 1777.
Pasquill" an Goethe.
Darauf, 30. November, durch den Kammerherrn
v. Einsiedel die strenge Anweisung, sofort abzureisen. „Lenz wird reisen", schreibt Goethe an den Letztem.
„Ich habe mich
gewöhnt, bei meinen Handlungen meinem Herzen zu folgen, und weder
an Mißbilligungen noch an Folgen zu denken.
Meine Existenz ist mir
so lieb wie jedem andern, ich werde aber just am wenigsten in Rücksicht
auf sie etwas in meinem Betragen ändern."
Lenz an Herder:
„Traurig genug!
Kaum gesehen und gesprochen,
auSgestoßen aus dem Himmel als ein Landläufer, Rebell, Pasquillant..
Ich dachte nicht, daß eS so plötzlich auS fein sollte."
Wieland an Merck:
„Lenz ist ein heterokliteS Geschöpf; gut und
fromm wie ein Kind, aber zugleich voller Affenstreiche, daher er oft ein schlimmerer Kerl scheint als er ist und zu sein Vermögen hat.
Er hat
viel Imagination und keinen Verstand, viel pruritum und wenig wahre Zeugungskraft; möchte immer waS beginnen und wirken, und weiß nicht was, und richtet, wie die Kinder, manchmal Unheil an, ohne Bosheit,
blos weil er nichts Andres zu thun weiß". — WaS hatte er verbrochen? — Ohne Zweifel hatte er in seiner ge wöhnlichen Art sich über die Beziehungen der Frau von Stein zu Goethe
näher zu unterrichten gesucht, und was er da erfuhr oder zu erfahren
glaubte, indiScret behandelt.
Goethe hat ihm nie vergeben.
„Die ganze Sache", schreibt Goethe an Frau v. Stein, „reißt so an
meinem Innersten, daß ich erst daran spüre, daß es tüchtig ist und waS
uns halten kann"; und 1. December: „Ich sollte garnicht schreiben, ich weiß nicht, wie mir ist; die Reise muß wohl gut sein, da sie mich auS
der tiefsten Verwirrung meiner selbst herausreißt". Er begleitete 2. Decbr. mit Kaufmann den Herzog nach Wörlitz bei Deffau; auch dort wußte
Kaufmann, der in seinem Apostelgeschäft nach dem Norden ging, alles zu
bezaubern.
Lenz ging zu Goethe's Schwester, seiner alten Gönnerin, nach Emmen
dingen.
„Wir sind hier allein", schreibt Cornelie 10. December an
Gustchen Stolberg, „auf dreißig Meilen ist kein Mensch zu finden, meines
Mannes Geschäfte erlauben ihm nur sehr wenige Zeit bei mir zuzubringen, und da schleiche ich denn ziemlich langsam durch die Welt, mit einem Kör
per, der nirgends hin als in'S Grab taugt.
Hier macht die Natur meine
einzige Freude auS, und wenn die schläft, schläft alles." — Das Bild dieses ersten JahrS in Weimar möge hier mit einigen Fragmenten des
Tagebuchs seinen Abschluß finden.
21. Dec. 1776.
„Von Leipzig bis Weimar mit dem Herzog in acht
Stunden Courier geritten." — 24. Dec.
„Mit Kaufmann über Herder.
Goethe'« erstes Jahr in Weimar, 1775 — 1777.
Hohe Nacht, Druck, Wehmuth und Glauben." — 25. Dec.
543
„Zu Frau
von Stein. — Biel gelitten . . Tiefes, tiefes Leiden . .
Bei Herder vergnügter Abend durch Kaufmann'- navov^ysia.“ — 26. Dec. „Nachts Kaufmann." — 27. Dec. „Redoute. Corona sehr schön." — 29. Dec. „Getanzt bis Mitternacht und sehr vergnügt." — 31. Dec. „Fieberhafte Wehmuth." 5. Jan. 1777, an Merck. „Ich lebe immer in der tollen Welt, und bin sehr in mich zurückgezogen. ES ist ein wunderbar Ding um'S Re giment dieser Welt, so einen politisch-moralischen Grindkopf nur Halbwege
zu säubern und in Ordnung zu halten." 8. Jan., an Lavater. „ES mag so lang währen als eS will, so hab' ich doch ein Musterstückchen deS bunten Treibens der Welt recht herz
lich mitgenossen — Verdruß, Hoffnung, Liebe, Arbeit, Noth, Abenteuer, Langeweile, Haß, Albernheiten, Thorheit, Freude, Erwartetes und Untier« seheneS, Flaches und Tiefes, wie die Würfel fallen, mit Festen, Tänzen, Schellen, Seide und Flitter auSstaffirt — es ist eine treffliche Wirthschaft! — Und bei alledem, lieber Bruder! in mir und in meinen wahren End
zwecken ganz glücklich. Ich habe keine Wünsche, als die ich wirklich in schönem Wanderschritt mir entgegenkommen sehe." Julian Schmidt.
Politische Correspondenz. Der Landtag und der Steuererlaß.
Berlin, 8. November 1880.
In der Thronrede bei Eröffnung des Landtages hat ohne Zweifel die Ankündigung eines SteuerlaffeS von 14 Millionen am meisten Ueber« rafchung hervorgerufen.
Diese Stimmung ist auch nach den Erläuterun
gen nicht gewichen, welche der Ftnanzminister in seiner Etatsrede über die
Bedeutung der vorgeschlagenen Maßnahme an sich und ihren Zusammen hang mit dem Abschluß der Steuerreform im Reich und in Preußen ge
geben hat. Um für die Beurtheilung der Frage,
welche den politisch bedeut
samsten Theil der Aufgaben der laufenden Landtagssession zu bilden be
stimmt sein dürfte, den richtigen Standpunkt zu gewinnen, erscheint eö räthlich, den historischen Verlauf sich zu vergegenwärtigen, welchen die
Steuerreform bisher genommen hat.
Dem Milliardensegen folgte alsbald ein schwerer Rückschlag in den
Finanzen des Reichs sowohl als der Etnzelstaaten.
Zunächst trat der
Rückgang im Reich hervor; die dauernden Einnahmen blieben weit hinter
den gesteigerten Ausgaben zurück; nach dem Versiegen der Quelle außer ordentlicher Zubußen aus der Kriegskontribution wurden zunächst die Re
servefonds zur Deckung der laufenden Bedürfniffe
verbraucht, sodann
mußte zu einer von Jahr zu Jahr zunehmenden Steigerung der Matri-
kularumlagen geschritten werden.
Inzwischen war auch in den meisten
Bundesstaaten das Gleichgewicht zwischen den Einnahmen und Ausgaben
in bedenklicher Weise verloren gegangen.
Was insbesondere Preußen an
langt, so hatte man unter dem Eindruck der alle Erwartungen überstei
genden Erträge, welche die Betriebsverwaltungen und unter ihnen vor allem die Berg- und Hüttenverwaltung geliefert hatten, die Ausgaben
für die Verwaltungs-Zwecke des Staats um 82 Millionen, wovon etwa 30 Millionen für Kultus und Unterricht, der Rest zumeist zur Verbesserung der
Gehälter der Beamten verwandt wurde,
vermehrt und
daneben
Politische Corresponbenz. 33 Millionen an Steuern erlassen.
545
Kein Wunder, daß nach dem Rück
gang der Erträge jener Einnahmezweige daS Gleichgewicht im Staats haushalt zunächst nur unter Zuhülfenahme außerordentlicher Hülfsmittel,
insbesondere durch Einstellung von Antheilen aus der französischen KriegSkontribution, erhalten wurde und nach Erschöpfung der letzteren mit dem
Jahr 1878/79 ein beträchtliches Defizit eintrat.
Unter diesen Umständen
ward die stetig wachsende Höhe der Matrtkularumlagen zu einer nationalen Kalamität.
Die Abgabe an daS Reich erschien als eine um so drücken
dere Last, als die Fortentrichtung derselben ohne Erhöhung der Steuern
nicht ferner möglich war.
Die in diesem Umstand liegende Gefahr für
die Durchdringung des Volkes mit der Reichsidee wär nicht zu unter
schätzen, weil inzwischen die natürliche Reaction gegen die Hochfluth na
tionaler Regungen, welche die Wiederherstellung deS Reichs begleitet hatte, eingetreten und der dem deutschen Volk von
alterSher eigenthümliche,
freilich nicht zu seinen berechtigten Eigenthümlichkeiten zählende Partiku-
lariSmuS allwärtS wiedererwacht war.
Der Plan der ReichSregterung,
durch Steigerung der eigenen Einnahmen deS Reichs das letztere von den Zuschüssen der Einzelstaaten unabhängig, eS in seinen Finanzen selbst
ständig zu machen,
konnte daher vom nationalen Standpunkt aus nur
gebilligt werden.
Zur Erreichung dieses Zieles erwies sich als der natürlichste Weg derjenige der Ausbildung der Steuerarten, welche der Gesetzgebung des Reiches ohnehin unterstellt waren, der Zölle und Verbrauchssteuern.
Die
direkten Steuern waren für Staats- und namentlich für Gemetndezwecke bereits so angespannt, daß eine weitere Steigerung sich nicht empfahl;
das Beispiel Englands, Frankreichs und Amerikas bewies dagegen, daß die Einnahmen aus den indirekten Abgaben recht wohl einer Erhöhung
fähig waren.
War so der Uebergang zu einem System wesentlich in
direkter Besteuerung angezeigt, so konnte auch die direkte Steuer nicht un
berührt bleiben.
Bisher hatten beide Arten der Abgaben ziemlich plan
los und ohne systematischen Zusammenhang neben einander bestanden; jetzt wies die Erwägung, daß die Verbrauchsabgaben, um rentabel zu
sein, die breiteren Schichten der Bevölkerung treffen müssen und demzu folge eine Ergänzung in dem Sinne einer angemessenen Heranziehung
der wohlhabenden Minorität bedingen, mit Nothwendigkeit darauf hin,
den direkten Steuern in dem gesammten Abgabensystem die Stelle eines derartigen Regulators planmäßig zuzuweisen.
Kommunalsteuernoth hinzu.
Für Preußen
kam die
Die starke Heranziehung des Grundbesitzes
zu den Staatssteuern hatte mehr und mehr dazu geführt, die Deckung für die gesteigerten Communalbedürfniffe durch Zuschläge zu den PersonalPreußische Jahrbücher. Bd.
XLVI. Heft 5.
39
Politische Korrespondenz.
646 abgaben zu suchen.
200, 300 % Zuschläge zur Staatseinkommen- und
Klassensteuer kamen häufig, am Niederrhein und in Westphalen selbst
solche bis 600 % vor.
Der Verzicht des Staates auf einen Theil der
Realabgaben zu Gunsten der Gemeinden erschien sonach als die unerläß
liche Voraussetzung für die Herstellung gesunder Kommunalsteuerverhält nisse.
Durch die Ermäßigung solcher Abgaben, deren Erhebungsart sie für
den Armen.besonders drückend erscheinen läßt, wird zugleich ein Aequivalent für die durch die Finanzlage erforderte stärkere Anspannung der Steuerkraft geboten. Sollte die Steuerreform im Reich daher ihren Zweck vollständig
erfüllen, so mußte sie die Mittel bieten, neben der Beseitigung der Ma-
trikularumlagen die Neugestaltung der directen Steuern in diesem Sinne, für Preußen also die Erniedrigung der Klassensteuer und die theilweise
Ueberweisung der Grund- und Gebäudesteuer an die Kommunen zu er
möglichen. Die Durchführung des GesammtplanS bot die eigenthümliche Schwie rigkeit, daß die in Aussicht genommene Steigerung der eignen Einnahmen
des Reichs weniger im Haushalt des letzteren,
als in demjenigen der
Einzelstaaten durch Ermäßigung der Matrikularumlagen und Ueberweisung
von Ueberschüsien sich fühlbar macht; die beiden Seiten der Reform, Be schaffung der erforderlichen Mittel, und Umwandlung der directen Steuern
im Sinne einer Ergänzungsabgabe, also in verschiedenen gesetzgeberischen Körperschaften zu verhandeln waren.
Für Preußen speziell gesellte sich noch
das staatsrechtliche Bedenken hinzu, daß die Forterhebung der bestehenden
Steuern der Einwirkung der Landesvertretung durch die Verfassung ent zogen ist, eine entscheidende Mitwirkung derselben bezüglich des Erlasses
von Abgaben mithin nicht gesichert war.
Minister Hobrecht erwarb sich
das Verdienst, diesen Stein des Anstoßes durch Erwirkung eines König lichen Versprechens zu beseitigen, inhaltS dessen die Krone sich verpflichtete,
der Verwendung der jeweiligen Ueberschüsse aus den Reichssteuern, soweit darüber mit Zustimmung des Landtages nicht anderweit disponirt wird,
zur Ermäßigung der Klassen- und Einkommensteuer zuzustimmen.
Dem
nächst erfolgte der erste große Schritt zur Stärkung der eignen Einnahmen
des Reichs durch die Aenderung des Zoll-Tarifs und die Erhöhung der Tabakssteuer; er vollzog sich in untrennbarer Verbindung mit der durch
die Erklärung der 204 angebahnten veränderten Wirthschaftspolitik, konnte
jedoch nur durch die materiell bedeutungslose, immerhin aber sehr uner freuliche Konzession der Klausel Frankenstein an die föderalistischen Ten
denzen des Centrums durchgesetzt werden. Die späteren Anläufe zum Ab
schluß der geplanten Maßregeln mißlangen nicht zum mindesten deshalb,
Politische Torrespondenz.
547
weil ein fester, Ziele und Mittel zahlenmäßig klarlegender Plan fehlte.
Mitgewirkt hat ohne Zweifel die Verstimmung auf nationalliberaler Seite über den AuSgang der ReichStagSsesston von 1879 und die nach der Land
tagssession
1879/80 kaum
verständliche Schönthuerei der konservativen
Fraktion deS Reichstages mit
dem Centrum.
In Preußen hatte in
zwischen die Königliche Zusage zur Vereinbarung deS Verwendungsgesetzes geführt, inhaltS dessen die verfügbaren Mittel auS den Reichssteuern zu
der durch den Etat zu bewirkenden gleichmäßigen Herabsetzung der Steuer von dem Einkommen unter 6000 Mark verwendet werden sollen.
Daß
dieses Gesetz in naher Zeit praktisch werden würde, erwartete bei Bera thung desselben Niemand; bot doch der Staatshaushalt für 1880/81 selbst
bei Einstellung der Mehrerträge aus den Reichssteuern knapp die Mittel, die laufenden Ausgaben zu decken, für die einmaligen und außerordent
lichen Ausgaben mußte dagegen wiederum durch Anleihen Deckung ge sucht werden.
Unter solchen Umständen wirkte die Ankündigung eines Steuererlasses von 14 Millionen Mark, oder einer Vierteljahrsrate der Klaffensteuer und
der fünf untersten Stufen der Einkommensteuer in der Thronrede besonders überraschend.
Nachdem inzwischen aber verlautet war, daß auch diesmal
ein großer Theil der einmaligen Ausgaben durch Inanspruchnahme deS Staatskredits bestritten werden solle, wurde der Begründung deS Steuer
erlasses durch den Finanzminister mit lebhafter Spannung entgegengesehen. Die Ausführungen desselben in der EtatSrede vom 2. d. M. bestätigten jene Nachrichten.
Bon den etwa 39 Millionen, welche an einmaligen
Ausgaben in dem Etat figuriren, sollen über 30 Millionen durch Anleihen und nur der Rest auS den laufenden Einnahmen Deckung finden. Soweit sich
aus den Aeußerungen in Abgeordnetenkreisen und in der Presse schließen läßt, hat die Thatsache, daß der Etat ein Defizit in solcher Höhe aufweist,
zunächst alle andern Erwägungen in den Hintergrund gedrängt und den Eindruck der wetteren Ausführungen deS Finanzministers wesentlich beein
trächtigt.
Erwägt man, daß nach der preußischen VerwaltungSpraxtS in
das Extraordinarium auch solche Ausgaben eingestellt werden, welche wenn
auch nicht wiederkehrend, so doch zur Fortführung der laufenden Verwaltung erforderlich sind, mithin bet solider Finanzgebahrung auS den laufenden
Einnahmen bestritten werden sollten, so hat allerdings der Gedanke eines Steuererlasses
bei
einem Defizit von solcher Höhe,
die an strenge Finanzgrundsätze befremdendes.
Hätte • man
es
gewöhnten Preußen,
insbesondere für etwas durchaus
in Wirklichkeit mit einem Defizit von
30 Millionen zu thun und folgte das Ergebniß des Etats auS ständigen
Faktoren, so würde man allerdings den vorgeschlagenen Steuererlaß als
Politische Torrespondenz.
548
einen äußerst bedenklichen Einbruch in die altpreußische Finanzpraxis be
zeichnen müssen.
Allein bei näherer-Betrachtung stellt sich die Sachlage
doch anders.
Wenn in dem Extraordinarium zahlreiche Posten stehen, welche Aus gaben der laufenden Verwaltung darstellen, so trifft dies, wie in dem
Generalbericht der Budgetkommission von 1879 und in den Verhandlungen deS Landtages wiederholt anerkannt ist, für das ganze Extraordinarium doch keineswegs zu.
Insbesondere herrscht darüber kein Zweifel, daß die
Durchführung der planmäßigen Regulirung der Wasserstraßen, der Ausbau
des Kanalnetzes und der Seehäfen nicht aus laufenden Mitteln zu be streiten fei.
Dasselbe gilt von den Bauten, welche zur Durchführung der
Justizreorganisation erforderlich sind.
Durchsicht
deS
Etats
noch
Ohne Zweifel werden bei genauer
wettere Posten
ähnlicher Art
sich
finden.
Aber auch abgesehen davon belaufen sich jene Positionen auf mehr als 14 7a Millionen Mark.
Wendet man diejenigen Grundsätze,
welche bei Genehmigung der
vorjährigen Vorlagen wegen Verstaatlichung der großen Privatbahnen zwischen den Faktoren der Gesetzgebung bezüglich der finanziellen Dispo
sitionen über die Erträge der Eisenbahnverwaltung vereinbart sind und
welche demnächst gesetzlich fixirt werden sollen, auf den vorliegenden Etat an, so scheidet ferner das gesammte Extraordinarium der Eisenbahnver
waltung auS dem durch laufende Einnahmen zu deckenden Betrage aus, denn nach jener Vereinbarung enthält das Extraordinarium der Eisenbahnen
nur solche Ausgaben, durch welche der Capitalwerth des Bahnbesitzes ver mehrt wird, deren Betrag demzufolge der auS dem Ertrage desselben zu verzinsenden Eisenbahnschuld
zuwächst.
Bringt
man diese Posten von
14 7g und 97, Millionen von dem Gesammtbetrage des ExtraordinariumS in Abzug, so verbleibt als aus der laufenden Einnahme zu deckender Rest die , Summe von 157, Millionen Mark oder etwa soviel, als vor der
Milliardenzeit, von welcher ab erst die rite auS außerordentlichen Mitteln zu bestreitenden Ausgaben in den Etat eingestellt sind, daS Extraordinarium
im Ganzen zu betragen pflegte. Diesem Soll steht an Deckungsmitteln aus den laufenden Einnahmen
zunächst der Ueberfchuß im Ordinarium zur Verfügung.
Derselbe beläuft
sich nach Abzug von 14 Millionen Mark Steuererlaß auf 8 7, Millionen, von denen bei Anwendung der Grundsätze der „finanziellen Garantien"
der Eisenbahnverwaltung etwa 2 Millionen behufs Rücklegung in den Reservefonds abgehen würden, so daß hier in Rechnung zu stellen sind
67, Millionen. Unter den Ausgaben,
welche im Ordinarium eingestellt sind, be-
Politische Torrespondenz.
549
findet sich ferner der Betrag von 12 Millionen Mark zur Tilgung von
solchen Anlehen, bezüglich deren die Consolidation nicht durchgeführt ist. Dieser
Posten kann
nach dem
erwähnten Generalbericht der Budget-
Commission und den Darlegungen namhafter Finanzpolitiker in den Bud
getdebatten, — gemäß dem Geiste des Consolidationsgesetzes, welches da von ausgeht, daß die Schuldentilgung zu unterbleiben hat, solange auf
der andern Seite der Staatskredit in Anspruch genommen werden müsse, — nur
die
als
durchlaufender Posten
Einstellung
der
gleichen
insofern
aus
Summe
in Betracht kommen, als erfolgen
Anleihen
ohne daß das Gleichgewicht des Haushalts gestört wird.
kann,
Von diesem,
früher auch auf liberaler Seite mit Nachdruck vertretenem Standpunkt aus besteht mithin scbst unter Voraussetzung des Steuererlasses ein Defizit in Wirklichkeit nicht, vielmehr übersteigen die laufenden Einnahmen die
aus
ihnen
bei
richtiger
Finanzpolitik
zu
bestreitenden
Ausgaben um
3 Millionen Mark. Inzwischen unterliegt diese Auffassung erheblichen Bedenken. 12 Millionen zur Schuldentilgung sind zur Erfüllung
Jene
einer rechtlichen
Verpflichtung des preußischen Staats bestimmt; auch werden in die laufen den Einnahmen nicht unerhebliche Summen eingestellt, welche wie der Er lös aus veräußerten Domänen und andern Staatsgrundstücken, die Natur
außerordentlicher Beihülfen haben.
Aber auch für diejenigen, welche jener
laxeren Auffassung sich nicht anschließen, bestehen gute Gründe, das nach ihrer Auffassung vorhandene Deficit von 9 Millionen mit einem Steuer erlaß vereinbar zu erachten.
In dieser Beziehung kommt in erster Linie
in Betracht, daß die 1879 bewilligten Zölle noch lange nicht die normalen Erträge abwerfen. Mark eingestellt.
In den Etat für 1881/82 sind etwa 34 Millionen Dieser Betrag entspricht für Deutschland einem Auf
kommen von 55 Millionen, sodaß nach Zurechnung derjenigen 25 Millionen, welche von den Erträgen der neuen fließen, der Gesammtbetrag
wird.
Steuern vorweg zur Reichskasse
der letztem auf 80 Millionen veranschlagt
Ueber den normalen Belauf desselben gehen die Schätzungen aller
dings auseinander.
Die Subkommission des Budgetausschusses des Reichs
tages unter Delbrücks Vorsitz hat denselben auf etwa 110 Millionen Mark
ausgerechnet.
Sie ist dabei von dem Bestreben geleitet gewesen, daS
jedenfalls zu gewärtigende Mindesteinkommen anzugeben.
Andre Sach
verständige erachten deshalb deren Ergebnisse für zu niedrig; sie schätzen
den Normalertrag
der 1879 bewilligten
Abgaben
auf
Mark und die öffentliche Meinung giebt ihnen Recht. auch sein möge, jedenfalls hat Preußen
130 Millionen
Wie dem aber
in der allernächsten Zeit eine
Steigerung seines Antheils an dem Ertrage der Reichssteuern mit Sicher-
Politische Torrespondenz.
550
Helt zu erwarten, welche mit 18 bezw. 31 Millionen Mark das actuelle Defizit von 9 Millionen soweit übersteigt, daß a conto desselben ohne Gefährdung der Sicherheit der Finanzen ein Steuererlaß eintreten kann. Dazu kommt die, wenn auch langsame, so doch stetige Besserung, welche die
preußischen Staatseinnahmen auch abgesehen von den Erträgen der Reichs
steuern aufweisen.
Das Jahr 1879/80 ergab im Ordinarium ein anschlag
mäßiges Defizit von 9 Millionen, welches nach dem Ergebniß der Rech
nung auf 14 Millionen steigt; 1880/81 reichen die ordentlichen Einnahmen grade zur Deckung der laufenden Ausgaben, die rechnungsmäßigen Ergebniffe des ersten Halbjahres bleiben hinter dem Anschläge nicht zurück;
1881/82 weist einen Ueberschuß von 22'/ Millionen
im Ordinarium
auf, an welchem die Mehrerträge der Reichssteuern nur mit nicht voll
10 Millionen betheiligt sind.
Bei dem Ueberrest entfällt der Hauptan
theil auf diejenigen Betriebsverwaltungen, bei denen die Schwankungen
im Wirthschaftsleben der Nation am frühesten sich geltend machen.
Die
Eisenbahnen und namentlich die Bergwerke und Hütten zeigen eine an
sehnliche Besserung der Erträge.
Man darf hier die Voraussetzung des
Finanzministers, daß es auch abgesehen von den Erträgen der Reichs
steuern in naher Zeit gelingen werde, den den Bedürfnissen der laufen den Verwaltung dienenden Theil des ExtraordinäriumS auS den ordent
lichen Einnahmen zu decken, schwerlich als zu kühn ansehen.
Jedenfalls
beruht sonach der für 1881/82 zunächst formell vorübergehend, aber mit
der Absicht dauernder Bewilligung in Aussicht genommene Steuererlaß auf nicht unsoliderer Grundlage, als die Steuerermäßigungen der Jahre 1873/74, welche lediglich auf Grund außerordentlicher, die Gewähr der Dauer in keiner Weise in sich tragender Erträge der Betriebsverwaltungen
bewilligt wurden.
Stehen so dem von der Regierung vorgeschlagenen Steuererlasse aus Rücksichten einer gesicherten Finanzgebahrung entscheidende Bedenken nicht
entgegen, so sprechen andererseits die gewichtigsten Gründe für die Ge nehmigung deS Vorschlages.
Die Zölle äußern, wenn ihre Erträge auch
noch nicht die volle Höhe erreicht haben, ihre Wirkung auf die Preise der besteuerten Verbrauchsartikel
in vollem Maße; es erscheint mithin
gradezu als eine Pflicht deS Staats, mit der Ermäßigung der directen
Abgaben der minder wohlhabenden Klassen so rasch und so weit vorzu gehen, als dieses die Finanzlage irgend gestattet, und den thatsächlichen Anfang mit den in Aussicht gestellten Erleichterungen sobald als möglich
zu machen.
Nach den Erklärungen deS Finanzministers kann kein Zweifel
darüber obwalten, daß der Erlaß der Vierteljahrsrate der Klassensteuer dauernd und als integrirender Theil der Steuerreform gedacht ist.
Die
Politische Correspondevz.
551
Grundzüge der letzteren gehen bei einiger Unklarheit im Einzelnen nach
den Ausführungen des Finanzministers im Großen und Ganzen dahin, daß die Erträge der von dem Reichstage noch zu bewilligenden Steuern
unverkürzt zu ’/3 zur Ueberweifung von Realsteuern, bis zur Hälfte der Grund- und Gebäudesteuer, zu '/, zur weiteren Ermäßigung der Klassen
steuer für die ein Einkommen bis 1200 M. umfassenden 4 unteren Steuer klassen bis zu ihrer gänzlichen Freilassung verwendet werden sollen.
neben soll die Ermäßigung
Da
auf Grund des Verwendungsgesetzes fort
laufen und so ohne Anwendung des störenden Wortes „Quotisirung" in
Wirklichkeit ein beweglicher Factor in das System der direkten Besteuerung
eingeführt werden.
Bestätigt eS sich, daß nach dem zuerst in diesen
Blättern gemachten Vorschläge zugleich die Mittel zur Befreiung deS
kleinen Gewerbebetriebes von der Gewerbesteuer durch Reform derselben nach dem in Baden und Württemberg geltenden Systeme gewonnen wer
den sollen, so wird man diese Tendenzen billigen können.
Nicht minder
erscheint eS richtig, daß der Versuch unternommen wird, auS dem eingangs
gedachten circulus vitiosus durch Feststellung der Zwecke, welchen die im Reiche zu bewilligenden Mittel dienen sollen, herauSzukommen. Der Vor
gang auS dem Jahre 1879, dessen Früchte das Verwendungsgesetz und
der jetzt vorgeschlagene Steuererlaß sind, spricht entschieden für diese Art
deS Verfahrens.
—z.
Verantwortlicher Redacteur:
H. v. Treitschke.
Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.
Altösterreichische Culturbilder. I.
AuS dem Zeitalter der Reformation.
Zu denjenigen Partieen unserer deutschen Geschichte, welche bisher eine
mehr oder weniger stiefmütterliche Behandlung erfahren haben, gehört in erster Linie die dem Ausbruch deS dreißigjährigen Krieges vorausgehende Periode. Krieg
Während das Zeitalter der Reformation einerseits, der große
andererseits alsbald
nach dem Wiederaufleben der historischen
Wissenschaft die Aufmerksamkeit und den Forschungseifer der Gelehrten
auf sich gezogen hatten, blieb die zwischen dem Augsburger Religions
frieden vom Jahr 1555 und dem Beginn des dreißigjährigen Krieges inneliegende Periode als unbebautes Feld liegen.
Die dieser Erscheinung
zu Grunde liegenden Ursachen lassen sich, wie mir scheint, auf zwei Punkte
zurückführen.
Einmal konnte eS für den Forscher wenig verlockende-
haben, sich durch daS Labyrinth der Parteikämpfe und der fast durchaus resultatlos verlaufenden Verhandlungen jener Jahre hindurch zu arbeiten; sodann lag auch bis in die neueste Zeit daS Quellenmaterial zur Geschichte
jener Bewegungen in den verschiedensten Archiven zerstreut und versteckt. Das Verdienst, dasselbe an daS Licht gezogen zu haben, gebührt der
Münchener historischen Commission.
Ich rechne hierher namentlich die
von Moriz Ritter ausgegangenen Publikationen, die Briefe und Akten
zur Geschichte der deutschen Union und die Geschichte der deutschen Union. In einem größeren Abschnitt deS letztgenannten Werkes verbreitet sich der
Verfasser über die Gegenreformation in Oesterreich.
In neuester Zeit
hat dieser Gegenstand einen den österreichischen Gelehrtenkreisen ange hörigen Bearbeiter gefunden, der, was seinem Buche*) etwa an streng
wisienschaftlichem Charakter abgeht, vollauf durch die frische, lebendige An
schaulichkeit der Darstellung, den liebevollen Fleiß, mit dem er bisher un bekannten oder doch wenig benützten gleichzeitigen Aufzeichnungen nachgeht, *) Adam Wolf: Geschichtliche Bilder aus Oesterreich. Reformation (1526—1648). Wien, Braumüller.
Preußische Jahrbücher. iBb. XLVI. Heft 6.
Bd. I. Aus dem Zeitalter der
40
554
Altösterreichische Tulturbilder.
den warmen, überzeugenden Ton der Erzählung ersetzt.
Ein so mann
haftes Bekennen und Betonen des deutschen Grundcharakters der öster reichischen Monarchie und ihrer Geschichte, eine so vorurtheilSfreie An
schauung über den Protestantismus und seine Aufgabe und Verbreitung in den österreichischen Landen bei einem katholischen österreichischen Ge
schichtsforscher verdient gerade in unseren Tagen unsere volle Anerkennung.
Wir glauben, dieselbe dem trefflichen Manne nicht besser ausdrücken zu können, als indem wir die Resultate seiner neuesten Untersuchungen in diesen Blättern dem größeren deutschen Publikum mitzutheilen versuchen.
Daß dieselben ein hohes Interesse für sich in Anspruch nehmen dürfen, brauche ich wohl kaum noch näher darzulegen. Wir setzen hier die Grundlagen, auf welchen sich die österreichische Geschichte des ausgehenden sechzehnten und deS beginnenden siebzehnten
Jahrhunderts aufbaut, als bekannt voraus.
Auch das verbittertste und
engherzigste Gemüth wird sich heutzutage kaum mehr der Wahrheit der
Thatsache verschließen können, daß die gesammte Cultur Oesterreichs — und zwar nicht bloß der Erblande, sondern auch Böhmen- und Ungarns — deutschen Wurzeln entsprossen ist, von Deutschland her immer wieder neue
Anregung und Nahrung empfangen hat.
DaS Bild, daS uns die öffent
lichen Zustände der österreichischen Monarchie um die Wende deS sech zehnten und siebzehnten Jahrhunderts darbieten, weicht daher auch in den
Hauptpunkten nur wenig von denjenigen der übrigen deutschen Territorien ab.
Aeußerlich freilich hatte sich Oesterreich schon seit Jahrhunderten von
dem deutschen Staatskörper losgetrennt, wenn auch diese Trennung mehr eine sactische als rechtliche war.
DaS deutsche Staatswesen mit seinen
Gerichten und Gesetzen, mit seiner ReichSpolttik und seinen Reichskriegen
übte auf die Selbständigkeit der Lande Rudolfs II. einen so geringen Einfluß, daß eS nicht ihm zuzuschreiben war, daß sich dieselben nicht mit
Ungarn zu einem beinahe souveränen Staate zusammenschlossen. Hinderniß kam vielmehr von den Ländern selbst.
DaS
Wie diese nämlich von
dem österreichischen Hause zu verschiedenen Zeiten erworben waren, so be wahrten sie auch eifersüchtig ihre eigene Berfassung und ihre eigene Re
gierung.
Nur der Krieg und die Vertretung der Lande gegenüber aus
wärtigen Mächten war eine gemeinsame Angelegenheit:
im übrigen war
die Verwaltung der einzelnen Lande eine getrennte und zwar so, daß bei
derselben der Landesherr und die vier Stände der Prälaten, Herren, Ritter und Städte concurrirten.
Wie diese auf ihren Besitzungen walteten,
unter hörigen Bauern, mit eigener Verwaltung und eigenem Gericht, so erschien der Landesherr mit seinen Kammergütern fast nur als ein be sonders reicher Stand neben den anderen.
Wohl erhob sich dann über
Altösterreichische Tulturbilder.
555
diesen zahlreichen Dynasten und Republiken eine höhere Regierung, aber nicht so daß sie einfach vom Landesherrn mit seinen Behörden gebildet
wordm wäre, sondern getheilt zwischen dem Fürsten und den Ständen.
Bei einer solchen Verfassung waren geordnete Zustände im österreichischen
Staate nur denkbar, wenn Fürst und Landstände in einem Geiste zu sammenwirkten.
So schwer nun aber eine solche Harmonie war, so na
türlich war es andererseits, wenn die neben einander gestellten Gewalten
unter sich selber in Streit geriethen, indem jede auf Kosten der anderen sich zu verstärken suchte.
Ein Anlaß zu solchen Streitigkeiten, wie er kaum
wirksamer gedacht werden kann, war aber geboten durch die Reformation.
Denn sie stellte bei dem wahrhaft stürmischen Lauf ihrer Erfolge in allen Landen dem katholischen Fürstenhaus eine protestantische Mehrheit der
Stände gegenüber.
Die Bedingungen für die Verbreitung des Pro
testantismus in Oesterreich waren dieselben wie in Deutschland.
Wie
überall erschien die Kirche verweltlicht, die Priesterschaft als ein abge
schlossener Stand, die Religion als eine äußerliche Pflichtübung.
Den
Ständen von Nieder- und Oberösterreich war das Abendmahl in beiderlei
Gestalt bereits 1555, jenen von Jnnerösterreich 1556 zugestanden.
„Die
Adeligen sind abgefallen, das gemeine Volk weiß nicht mehr, was es glauben soll, die Katholiken schreien:
Gott errette uns, wir gehen zu
Grunde", schreibt ein Anhänger der allen Kirche im Jahre 1567.
In
Steiermark waren nur mehr fünf, in Kärnten vier, in Kratn drei Land herrn katholisch, die zehn Städte und acht Märkte waren durchaus pro
testantisch.
Zehn Jahre später befand sich in Oberösterreich unter dem
eingesessenen Adel nur noch ein einziger Katholik; ebenso bekannten sich die sieben landtagsfähigen Städte zur neuen Lehre.
Die größere Zahl
der Klöster hatte gar keine Prälaten, die noch vorhandenen Aebte sowie fast sämmtliche Pfarrer waren wenigstens so weit von der alten Kirche
abgewichen, als sie durchgängig mit Weibern versehen waren.
Auch das
Trienter Concil konnte diesem Verfall des Katholizismus nicht Vorbeugen.
Aehnliche Zustände fanden sich in Ungarn, Böhmen und Mähren vor.
Diese Länder waren zum weitaus größten Theil der Reformation betgetretm; in den beiden letzteren hatte diese eine mächtige Stütze in dem
Fortdauern der hussitischen Bewegung gefunden.
Es war nur die recht
liche Bekräftigung eines unabhängig von der kaiserlichen Gewalt heran gebildeten faktischen Zustandes, als Maximilian II. im Jahre 1571 den
protestantischen Herren und Rittern von Ober- und Unterösterreich die Befugniß einräumte, „in allen ihren Schlössern, Häusern und Gütern für
sich selbst, ihr Gesinde und ihre Zugehörigen, auf dem Land aber und
bei ihren zugehörigen Kirchen zugleich
auch für ihre Unterthanen die
40*
Altösterreichische Tulturbilder.
556
Zu ähnlichen Concessionen kam eS vier
protestantische Religion zu üben". Jahre später in Böhmen.
DteS war der Stand der Dinge, als im Jahre 1576 Rudolf II. seinem Vater in der Regierung nachfolgte. Vorgängern durchaus unähnlich.
Rudolf war seinen beiden
Seine Jugend fiel in die Jahre, da die
katholische Kirche ihre Lehren klar gefaßt hatte und nunmehr auf keinen
Ausgleich, sondern allein auf Unterwerfung ihrer Widersacher auSging.
Wie daher Maximilian im Geiste deS Zweifels aufgewachsen war, so wurde sein Sohn im Dienste der neuen und bestimmten Richtung erzogen, und zwar zunächst von einer eifrig katholischen Muller, später am Hofe
Als er nun nach Deutschland zurück
König PhilipPS II. von Spanien.
kehrte und einige Jahre später als 24 jähriger Mann seinem Vater in der Regierung nachfolgte, erschien er als ernst und wohlwollend, aber auch scheu und leicht verwirrt, im Denken langsam und im Entschließen zau Er mied den lebendigen persönlichen Verkehr, sowohl in der Ge
dernd.
sellschaft als in den Geschäften.
seiner künstlerischen
Was ihn ergötzte war die Betrachtung
und wissenschaftlichen Sammlungen, was ihn am
meisten beschäftigte war die Erkenntniß der Natur und ihrer Gesetze. Ein Sinn für das Geheimnißvolle führte ihn zu alchymistischen und astrologi
schen Forschungen, in welchen er nach den dunkeln Gründen suchte, aus
denen alle Gestalten und Geschicke des Natur- und Menschenlebens sich gemeinschaftlich emporringen sollten.
Bei all seinem Wohlwollen gehörte
er doch zu den reizbaren und unnachgiebigen Naturen, die nur dann mit der Welt in Frieden zu leben bereit sind, wenn sie den Wegen folgt, die
sie in ihrem engen Geist ihr nun einmal vorgezeichnet haben.
Da war
eS nun sein doppeltes Unglück, daß er als Fürst geboren war und daß er ein Reich überkam, besten Völker seiner Sinnesart aufs tiefste wider strebten.
Denn was verlangte die Lehre, die er in Spanien
nommen hatte?
ausge
Geduldigen Gehorsam der Völker unter der Führung
einer kirchlichen und einer weltlichen Obrigkeit, starre Herrschaft der her gebrachten Grundsätze auf dem Gebiete der Religion und Politik.
aber bewegte die Lande, die er zu beherrschen kam?
WaS
Der Streit des
katholischen und protestantischen Bekenntnisses um die alleinige Geltung,
das Ringen der Landstände und deS Landesherrn um die höchste Ge
walt.
Die Unterthanen waren erfüllt vom Haß gegen einander, vom
trotzigen Selbstgefühl gegenüber dem Herrscher.
War eS da ein Wunder,
wenn der zugleich despotische und ängstliche Fürst in diesem anarchischen Treiben irre wurde?
Schon die ersten Verhandlungen, die er mit den ungarischen und deü deutschen Reichsständen über die Gewährung
einer Türkenhilfe führte,
557
Altösterreichische Lulturbilder.
scheiterte an dem energischen Widerspruch der Stände, die vor allem ihre vorgebrachten
erledigt wissen wollten.
Klagen
Der Kaiser drohe
in
Melancholie zu verfallen — erklärten seine Räthe — wenn die Parteien sich nicht verglichen.
Er zog sich jetzt nach Prag zurück und entsagte nun
mehr allen öffentlichen Regierungshandlungen.
Aber auch in seine Re
sidenz verfolgte ihn die Furcht vor Menschen und Geschäften.
Nicht fähig,
sich zur Vermählung zu entschließen, lebhafter Geselligkeit und unruhiger
Umgebung
abhold, zu scheu vor Menschen und Geschäften,
um den
Sitzungen seiner Räthe beizuwohnen, brachte er ein Leben ohne Wechsel
und Freude hin, wagte sich nicht hinaus äuS seinen Gärten und Ge
mächern und ließ nur wenige Gelehrte und begünstigte Räthe zu ge
messenem Verkehre zu.
Die liebste Beschäftigung seiner Einsamkeit waren
nicht die Sorgen der Regierung, sondern Studien und Grübeleien, Be
trachtung von Gemälden und Alterthümern, endlich eine abstumpfende Sinnlichkeit.
Allein wenn eS die Sehnsucht nach Ruhe war, die ihn auS
dem öffentlichen Leben in diese Verlassenheit geführt hatte, so bewahrte er doch wieder eine Leidenschaft, die ihm seinen Herzenswunsch überall
vereiteln mußte: das war die Sucht zu herrschen ohne den Drang zur That, der allein zur Herrschaft führen kann.
Diese- ohnmächtige Be
gehren hatte ihm die Opposition der protestantischen Stände unerträglich gemacht, eS bereitete ihm nunmehr Feindschaft mit seinen Räthen und den
Fürsten seines Hauses und trug ihm endlich den Zwiespalt in die eigene
Brust. An die Eigenart dieses Fürsten knüpften nun diejenigen Elemente an,
denen eS um die Vertilgung des Protestantismus und zugleich der ständi schen Freiheiten zu thun war.
ES waren dies zum größten Theil in der
Schule des Jesuitismus erzogene Geistliche, aber auch Weltliche, welche
auf der einen Seite von Rom, auf der andern vom spanischen Hofe, der
zudem für seine Politik in zahlreich in Oesterreich eingewanderten spani schen Adelsgeschlechtern eine bedeutende Stütze gewonnen hatte, ihre Di-
rectiven erhielten.
Zwei salzburger Erzbischöfe sind eS namentlich, die sich in der Ge
genreformation der österreichischen Lande einen Namen gemacht haben. Der eine, Wolf Dietrich von Reitenau, begann das Werk an der Stadt Salzburg, indem er den Bürgern anheimgab, sich entweder zu bekehren
oder auszuwandern.
Die meisten von ihnen wählten das letztere; die sich
unterwarfen, mußten in der Pfarrkirche mit brennenden Kerzen in der Hand Buße thun.
Gleichen Schritt mit dieser gewaltsamen Zurückführung
zum alten Glauben hielt die von dem Erzbischof geübte Vernichtung der alten städtebürgerlichen Freiheit seiner Residenzstadt.
Insbesondere war
558
Mösterreichische Culturbilder.
eS die Gerichtsherrlichkeit derselben — bekanntlich der Ausgangs-
und
Mittelpunkt unseres mittelalterlichen Städtewesens —, welche den Neid des ehrgeizigen, nach unumschränkter Gewalt strebenden Fürsten erweckte. Der Stadthauptmann, früher oberster Richter, behielt nur die Polizei, der Stadtrichter wurde von jetzt ab vom Erzbischof eingesetzt, der große Rath hörte ganz auf, der kleine Rath stellte künftig die Gemeinde vor.
Aber
auch in anderen Beziehungen vertauschte jetzt Salzburg seinen alten ge
schichtlichen Charakter einer deutschen Stadt mit dem einer Hauptstätte romanischer Cultur.
Wie die Reformation eine That des germanischen
Bürgerthums gewesen ist, das durch jene nur seine letzte vollkommenste
Ausbildung erhalten hat, so ist die kirchliche Restauration von den beiden
Hauptstützen der neueren romanischen Weltanschauung,
von Rom und
Spanien, ausgegangen, um ihren Einfluß nicht blos auf das kirchliche Gebiet zu beschränken, sondern so ziemlich alle Seiten menschlicher Cultur in ihre Kreise zu ziehen, sie mit ihrem Leben zu erfüllen.
Bis zum Ende
des sechzehnten Jahrhunderts war Salzburg eine bürgerliche Stadt voll
regen gewerblichen Lebens gewesen: jetzt begann eS mehr und mehr diesen entwicklungsfähigen Charakter
gesunden,
bischöfliche Hofstadt umzuwandeln.
abzustreifen und
sich
in
eine
Die hochgiebligen Häuser, die abge
grenzten Höfe, die Kirchen und öffentlichen Gebäude altdeutscher Bauart machten neurömischen Bauten und Anlagen Platz. Trotz einem Napoleon III.
und seinem Adlatus HauSmann ließ Erzbischof Wolf Dietrich ganze Straßen und Quartiere der Stadt niederreißen, damit an ihrer Stelle breitester Spielraum für die Entfaltung romanischer Kunstweise gewonnen wurde.
Das heutige Salzburg, das den Beschauer so fremdartig berührt und ihn mitten hinein nach Italien versetzt, ist zum größten Theil das Werk jenes
bauliebenden Kirchenfürsten.
Auch sonst gemahnte sein Wandel mehr an
den eines italienischen Principe als an den eines Nachfolgers des heiligen Rupert.
Schon als Domherr hatte er intime Beziehungen zu der schönen
BürgerStochter Salome Alt unterhalten: jetzt stattete er sie prächtig aus, gab
ihr und ihrer Mutter den Namen von Altenau und baute ihnen
jenseits der Salzach das Schloß gleichen Namens (jetzt Mirabella genannt).
Zwei Söhne und drei Töchter entsprossen der Verbindung. Minder glücklich war er mit seinen Restaurationsbestrebungen bei dem Landvolke des Erzstifts.
„Befindet sich", berichtet der von ihm hin
ausgesandte Commissär, „das Landvolk
der Orten so trutzig und zum
Aufruhr so geneigt, daß sie sammt und sonders erklärten, eher das Leben als ihre vereinte Religion zu lassen; unter vierhundert sein nit dreißig
katholisch." abstehen.
Der Erzbischof mußte für jetzt von jedem weiteren Versuche
559
Altösterreichische Culturbilder.
Erst seinem Nachfolger, Marx Sittich von HohenembS, gelang das
Werk der Gegenreformation vollständig.
ES hat sich über diese der äußerst
merkwürdige, nmfassende Bericht eines Zeitgenossen, des erzbischöflichen
Sekretärs Johann Stainhauser, — also gewiß Zeugen — erhalten.
eines bestunterrichteten
Seine Schilderungen der dabei durch die erzbischöf
lichen Glaubensmissionen geübten Praxis wird sicherlich auch dem eifrigsten Katholiken keinen Verdacht, als seien die Farben zu stark aufgetragen, erregen.
DaS Hauptcontingent der zur Zurückführung
der verirrten
Schafe in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche entsandten Armada bildeten die Kapuziner;
wo ihren frommen,
eindringlichen Reden das
ketzerische Ohr sich hartnäckig verschloß, da halfen die bischöflichen MuSquetiere etwas weniger sanft nach, indem sie, dem Bauer und Arbeiter ins Quartier gelegt, denselben nach allen Regeln eines wohlausgedachten
Systems so lange marterten, bis er, physisch und moralisch gebrochen,
überhaupt keiner Zumuthung mehr einen Widerstand entgegenzusetzen ver
mochte.
Daß trotzdem eine nicht geringe Zahl standhaft an der Lehre der
Väter festhielt, das ist unseres Erachtens einer der schönsten Triumphe,
den die Geschichte der evangelischen Kirche aufzuweisen hat, wie es an
dererseits dem Menschenfreund, der über daö bloße materielle zeitbegrenzte Dasein hinausgehende Lebensgüter und Aufgaben anerkennt, eine seltene Genugthuung gewähren muß, daß jene geistig einfachsten Menschen ihrem
Gewissen mehr Gehör schenkten als ihren Trieben.
Das erste, was die
Kapuziner bei ihren Bekehrungswerken thaten, war die Zusammenberufung
ganzer protestantischer Gemeinden, um ihnen den Befehl des Landesfürsten
zu verkündigen, entweder katholisch zu werden oder auSzuwandern.
Bedenk
zeit wurde nicht gewährt, nur daß sich die Missionare den Schwankenden zur Information, d. h. zum Unterricht im katholischen Glauben erboten.
Wer sich fügte, löste einen Freizettel, wer sich nicht fügte, mußte sein Gut
verkaufen und in einer bestimmten Frist daS Land verlassen.
Wurden
die Versammlungen — wie dies zumeist geschah — nicht oder nur schwach
besucht oder hatte die Ansprache der Kapuziner nur geringen Erfolg ge habt, dann begaben sie sich in die einzelnen evangelischen Haushaltungen.
Die geistliche und weltliche Obrigkeit des betreffenden Bezirks war ihnen dabei zu jeder geforderten Unterstützung verpflichtet.
Alle nur denkbaren
Mittel der Ueberredung, der List, der Gewalt und des frommen Betrugs
kamen namentlich im Innern der einzelnen Familien zur Anwendung.
Neubekehrte hatten den Himmel offen gesehen und die Jungfrau Maria
segnend
ihre Hände
gegen die Reuigen
auSstreckend
erblickt.
Hals
starrige erzählten später, nachdem sie endlich ihr Widerstreben aufgegeben,
wie Satan sie immer wieder durch fürchterliche Drohungen von der Be-
Altösterreichische Tulturbilder.
560 kehrung abgehalten habe.
die Eltern aufgereizt.
Kinder wurden bei Seite genommen und gegen
Den bäuerlichen Dienstboten, die mit am zähesten
an ihrem angeerbten Glauben festhielten, wurde vorgehalten, daß in keinem andern Lande, wohin sie flüchtig ihren Fuß setzen würden, die Schmalz
nudeln in so vorzüglicher Güte gebacken würden, wie gerade im Erzstift Salzburg.
Kurz, was nur irgendwie Aussicht auf Erfolg versprach, wurde
zu Hilfe genommen.
Die Ausdauer und Unverdrossenheit, welche die Be
kehrer dabei an den Tag legten, ist wahrhaft bewundernSwerth. die entlegensten Alpenhütten stiegen sie den
Bis in
protestantischen Bergleuten
nach und legten sich, wenn ihnen nicht geöffnet wurde, oft Tage lang auf
die Lauer, damit ihnen die verirrte Seele nicht entwische.
Wo sich eine
größere Zahl zur Rückkehr hatte bewegen lassen, wurden pomphafte Pro-
cessionen und Betfahrten in Scene gesetzt, neue Kirchen und Kapellen ge baut und aufs reichste auSgestattet.
Blieben aber alle Bemühungen er
folglos, dann wurde gegen die Störrischen mit grausamer Härte vorge
gangen.
„Ist also" — so schließt der denkwürdige Bericht— „durch die
gnädigste Hilf und den Beistand Gottes das ganze Gebirg von der Ketzerei
gereinigt und das Erzstift, so viel mir bewußt, ganz und gar (außer den
reisenden Handwcrksburschen) in dem 1616. Jahr zu dem katholischen, allein selig machenden Glauben gebracht worden.
Dem allerhöchsten Gott
sei Dank, Lob, Ehr und Preis gesprochen von nun an bis in alle Ewig keit."
Nur im Verborgenen lebte da und dort das evangelische Bekenntniß
fort.
Unter dem Erzbischof Max Gandolf (1668—1687) entdeckte man
eine große evangelische Gemeinde im Tefereggcr Thal, und abermals be gann die gewaltsame Verfolgung und Vertreibung der Protestanten. Unter den Auswanderern befand sich damals auch der bekannte Joseph Schaitberger, ein Bergmann vom Dürrenberg bei Hallein, der in Nürnberg eine Zuflucht fand.
Von ihm ist das „Trostlied eines Exulanten":
„Ein
Pilgrim bin ich auch nunmehr, muß reisen fremde Straßen; drum bitt
ich dich, mein Gott und Herr, du wollst mich nit verlassen". Die folgenden Erzbischöfe ließen die Protestanten öffentlich in Ruhe, aber sie blieben bürgerlich rechtlos, wurden zu keinem Handwerk und zu
keinem Grundbesitz zugelassen.
Nur insgeheim pflegten sie ihren Glau
ben, hielten in Wäldern und Höhlen ihren Gottesdienst.
In denselben
Orten, wo die Capuziner 1613—1615 aufgeräumt hatten, in Radstadt,
Bischofshofen, S. Johann, S. Veit, Wagrain, Taxenbach, Saalfelden, in der Gastein und RauriS, im Prinz- und Pongau wurden 1731 mehr
als 20000 Protestanten gezählt.
Als der Erzbischof Leopold Anton von
Firmian und sein harter Kanzler Christian von Röll die Gegenreformation
aufnahmen, schlossen die Bauernführer zu gegenseitiger Treue den „Salz-
561
Altösterreichische Culturbilder.
bund".
Wieder erschien der Befehl zur Auswanderung, 6000 Mann
Von vierzehn zu vierzehn Tagen
kaiserlicher Truppen rückten ins Land.
bewegten sich Züge von Bauern, Bürgern, Knechten, Bergleuten nach Salzburg und von hier in die Fremde: in die deutschen Städte, nach
In den Jahren 1731 und 1732
Preußen, Holland und Nordamerika.
sind aus dem Erzstift 30000 ehrbare, fleißige Menschen ausgewandert. Der Erzbischof Firmian hatte erklärt,
„er wolle keine Ketzer mehr im
Lande haben, lind wenil Dornen und Disteln auf den Aeckern wachsen
sollten".
In der That wuchsen auf manchem Acker Dornen und Disteln,
der Bergbau und das Handwerk kamen in Verfall, das Volk nahm ab ail Zahl und Wohlstand. vom Ende des
„Die Hofkammer" — berichtet ein Salzburger
achtzehnten Jahrhunderts — „empfindet noch heute die
Folgen dieser starken Aderlässe, worauf nothwendiger Weise Wasser in die
Adern des Staates treten mußte". Gleichwie im Salzburgischen hatte auch in Tirol der Protestantismus
früh Eingang
und Verbreitung
gefunden.
Hier wie dort waren na
mentlich die Bergleute die Träger des neuen Bekenntnisses, ohne eS jedoch, wie in anderen österreichischen Landen, zu organisirten Gemeinden zu
bringen.
Die Rolle des Restaurators fiel hier dem zweiten Sohn Kaiser
Ferdinailds I., Erzherzog Ferdinand, dem Gemahl der Philippine Welfer, zu.
Auch hier griff man zur Ausrottung der Ketzerlehre zu denselben
Mitteln wie im Erzstift Salzburg: hier wie dort bedeutet die katholische
Restauration das Zurückweichen des Deutschthums vor dem mächtig an dringenden Romanismus.
Bis dahin hatte deutsche Sprache und deutsche
Sitte bis tief hinab zu den südlichen Abhängen der Alpen geherrscht: jetzt
ergoß sich
ein ganzes Heer von Jefiiiten,
Kapuzinern,
Mönchen und
Nonnen aller Art über das Land, um mit der evangelischen Lehre zugleich
die deutsche Cultur zu verdrängen.
Seit dem fünfzehnten Jahrhundert
war Tirol ein Land des reichsten Bergsegens gewesen.
Ein Reihe Augs
burger und Tiroler Geschlechter hatte sich an den Gewerken und Schmelz hütten betheiligt.
Mehr als 30000 Bergknappen, meist Deutsche, arbei
teten im Lande; nachdem die Gegenreformation die meisten aus dem Lande getrieben hatte, verödeten die Bergwerke.
dem Schmied,
Die alten Sagen vom Wieland
von Dietrich von Bern, der an der Etsch den Riesen
Wietich erschlagen, vom König Laurin und seinem Rosengarten verschollen,
die Minnelieder geriethen in Vergessenheit und der Meistergesang wurde verboten;
an ihre Stelle trat eine Fülle von Legenden,
Teufelssagen.
Wunder- und
Mehr und mehr wurde von jetzt ab das Land von italieni
schen Einwanderern überfluthet, das deutsche Element romanisirt.
heutzutage ist dieser Prozeß nicht zum Stillstand gekommen.
Noch
Tirol gilt
Altösterreichische Culturbilder.
562
als eine der festesten Säulen der katholischen Glaubenseinheit, und erst
in unseren Tagen ist eS möglich geworden, dort eine einzige protestantische Kirche zu errichten.
Kein deutsches Land ist so tief von Protestantenhaß
erfüllt, keines — das darf füglich unbeschadet der warmen Anerkennung, die man dem allzeit opfermuthtgen Patriotismus seiner Bewohner gerne
gewährt, ausgesprochen werden — hat aber auch einen gleich hohen Grad von Verdummung, mangelhafter Schulbildung, Roheit und Absperrung gegen alle auswärtige Cultureinflüsse aufzuweisen.
Die reiche Kunstblüthe,
die hier, wie in Salzburg, eine Zeit lang eine luxuriöse, verschwenderische
Hofhaltung im Gefolge gehabt hat, ist wie dort ohne allen Einfluß auf
das Volksleben geblieben:
eine fremdartige unverstandene Schmarotzer
pflanze, die in sich selbst erstickt ist. Hatte im Erzstift Salzburg und in Tirol der Protestantismus zu meist lediglich bei den untern Volksschichten Eingang gefunden, so war er dagegen in Jnnerösterreich Gemeingut sämmtlicher Ständeklassen gewor
den ; ja hier war gerade der Adel der vornehmste Träger der neuen Lehre.
Eine Kirchenordnung und eine feste äußere Organisation sicherte ihren Bestand.
Durch windische und kroatische Druckwerke wurde auf die Süd
slaven eingewirkt, in Graz gründeten die protestantischen Stände adelige
Schulen und Convicte und beriefen dazu die Lehrer meist aus Deutschland. Kepler wirkte hier in den Jahren 1594—1600.
Beim Grazer Pro
testantentag von 1663 waren 237 protestantische Herren und Ritter gegen wärtig; in mehr als zweihundert Kirchen wurde protestantischer Gottes dienst gefeiert.
Der Landesherr, Erzherzog Karl, zeigte dem gegenüber
Erst seitdem die Jesuiten in Graz waren und
eine schwankende Haltung.
nach dem Tode Maximilians II. am Kaiserhofe wieder eine schärfere Luft
wehte, begann auch in Jnnerösterreich die Landesregierung strenger gegen die Protestanten aufzutreten.
Zuerst wurden die evangelischen Geistlichen
und Lehrer entfernt, dann schritt man zur Errichtung einer katholischen Universität in Graz. wurde die Abschaffung
In den landesfürstlichen Städten und Märkten,
des protestantischen Gottesdienstes anbefohlen.
Nachdem so ein Bürger- und Bauernstand des Ketzerthums gründlich auSgerottet war, gieng der Sohn und Nachfolger Karls, Erzherzog Ferdinand
(der spätere Kaiser Ferdinand II.), an die weit schwierigere Aufgabe, auch den durch starke ständische Freiheiten geschützten Adel zur alten Kirche zu rückzubringen.
An dem kleinen Grazer Hof spielte sich schon damals das
Doppelspiel des Kampfes einerseits gegen das mittelalterliche Stände
wesen, andererseits gegen den damit eng verknüpften Protestantismus ab: auf der einen Seite ein nach absoluter Herrschaft strebender Fürst, um geben und geleitet von Jesuiten und wälschen Diplomaten, auf der an-
563
Altösterreichische Culturbilder.
der« die in Stände getheilten, mit Sonderrechten begabten Unterthanen,
ohne daß damals Jemand ahnte, daß wenige Jahrzehnte später ganz der gleiche Streit durch die nämlichen Parteien auf einer weit größeren Schau bühne entbrennen und der Ausgangspunkt nicht nur für den universellsten und verheerendsten Krieg, den die neuere Geschichte aufweist, sondern auch
für unsere gesammte moderne Staatsentwicklung werden sollte.
Zahlreiche
Commissionen zogen im Namen des jungen Landesfürsten von Stadt zu
Stadt, von Dorf zu Dorf und verkündeten den Einwohnern das furcht bare Entweder, Oder: entweder zu schwören, daß sie katholisch würden,
oder auSzuwandern.
Hie und da fand ein Widerstand statt, aber im
Ganzen fügte sich das Bürgerthum und die Bauernschaft, und zuletzt auch Graz, „welches daS größte und ärgste Prädicantennest gewesen".
Ohne
Schonung, nach einer kurzen Predigt und Unterweisung mußten die Bürger
katholisch werden, der protestantische
Stadtrath wurde verdrängt, die
Bürgermeister abgesetzt, die protestantischen Kirchen, Friedhöfe und Schul
häuser zerstört, die evangelischen Bücher und Schriften verbrannt. weniger als 210 Städte,
formirt worden.
Nicht
Märkte und Dörfer sind in dieser Weise re-
Nur der Adel blieb fest.
Da alle Geistlichen vertrieben
waren, versahen die Hauslehrer und Beamten die Stelle der Prediger.
In den benachbarten evangelischen Gemeinden Ungarns und Oberöster reichs ließen sich die adeligen Herren trauen, ihre Kinder taufen, sich auch
manchmal dort begraben.
Bald wurden auch die Beamten und Diener
des Adels gezwungen katholisch zu werden, ein weiterer Befehl verbot die auswärtigen Trauungen und Taufen und den Besuch deutscher protestanti scher Universitäten.
1628 wurde dann auch durch kaiserliches General
mandat dem Adel aufgegeben, • entweder sich zu bekehren oder auSzuwandern.
Der größte Theil desselben entschloß sich zu letzterem.
Ein Emigranten-
verzeichniß von 1629 nennt 754 adelige Personen, welche wegen der Re
ligion das Land verlassen hatten.
Die meisten wanderten in' die ober
deutschen protestantischen Städte: Regensburg, Ulm, Nürnberg und sind dort in den Wirren des dreißigjährigen Krieges meist spurlos verschollen. Wer jedoch — bemerkt Wolf treffend — den Spuren dieser Auswanderer
in der Heimath und Fremde nachgeht, kann sich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß damit für Deutschösterreich eine Summe von geistigen und
materiellen Kräften verloren gegangen ist. um politische Dinge nie bekümmert.
Biele von ihnen hatten sich
Wie der steirische Herr HanS Adam
Praunfalk konnten sich auch andere rühmen:
„sich gegen Se. Majestät
weder in Gedanken noch Worten, viel weniger in Werken vergangen zu
haben".
Die Männer dieser Familien ragten durch Geist, Gemüth und
Sitte hervor, die Frauen waren durchaus ehrbar, keusch und fromm.
Ihr
Altösterreichische Culturbilder.
564
Besitz war großartig, der Werth der Güter gierig in die Millionen.
Was
haben diese Exulanten an beweglichem Vermögen, an Kunst- und Schmuck sachen mitgenommen!
Einzelne Inventare sind aufbewahrt und enthalten
einen Reichthum an'Baargeld, Silber und Goldgeschmeide und so viele
andere Gegenstände, denen noch heute Stil und Ueberlieferung einen be
sonderen Reiz verleihen.
Die angeborne unverwüstliche Kraft hat dem
deutschen Volke von Jnnerösterreich über diese Zeit des Leidens hinaus
geholfen und ihm neue Lebensbahnen eröffnet, aber der Adel hat sich nie
Nur wenige blieben auf dem ererbten Eigenthum seßhaft,
wieder erholt.
die Auswanderer hatten ihre Güter verkauft, aber die Nachfolger ver
mochten den Besitz nicht zu behaupten.
Die Burgen und Schlösser sind
Ruinen, der Grund und Boden wieder Bauerngut geworden, und noch
heute ist in keinem anderen Lande der Grundbesitz einem so raschen Wechsel unterworfen als in Jnnerösterreich. Aehnlich wie in Jnnerösterreich waren die Verhältnisse in den öster
reichischen Stammlanden
an der Donau gelagert.
Adel der vornehmste Träger der Reformation.
Auch hier war der
In Oberöstcrreich besaß
der protestantische Adel 217 Schlösser und Edelsitze, 5 unterthänige Städte und 81 Märkte.
In Niederösterreich wurden im Jahre 1580 156 pro
testantische Edelleute und 321 protestantische Ortschaften gezählt.
Katholisch
waren in Oberösterreich nur die Familien Meggau, Sprinzenstein, Sala-
burg und später die Khevenhüller, in Niederösterreich dagegen 30 Familien
vom Herren- und 32 vom Ritterstand.
Da der Adel das gewichtigste
Glied der Standschaft war und dieser in der Landesverwaltung und Ge
setzgebung eine bedeutsame Mitwirkung, ja vielfach die ausschließliche Herr schaft eingeräumt war, so begreift es sich, daß unter so wenig energischen
Naturen, wie Ferdinand I. und Maximilian II. waren, Seitens der Re gierung so gut wie nichts gegen das Vordringen des Protestantismus ge
schah.
Erst
unter Rudolf II. begann sich
die katholische Restauration
fühlbar zu machen, ohne daß jedoch bei den häufigen inneren Unruhen,
namentlich den Bauernaufständen in Ober- und Niederösterreich
(1595
und 1597), und den tiefgehenden Zwistigkeiten im Schooße der kaiserlichen Familie, an ein kräftigeres Vorgehen hätte gedacht werden können.
Noch
schwächer und nachgiebiger erwies sich Mathias, dem die protestantischen
Stände die berühmte Resolution von 1609 abzwangen, welche die pro testantische Kirche nahezu zur Landeskirche zu machen drohte.
Es ist ein
charakteristisches Kennzeichen schwacher Herrscher, daß sie von ihnen feige zugestandene weitgehende Concessionen hinterher wieder dadurch als nicht
gegeben betrachten,
daß
sie gegen ihre Jnkrafttretung
die
kleinlichsten
Chikanen ins Feld führen; zum Vorwurfe haltloser Schwäche fügen sie
Altösterreichische Culturbilber.
dadurch noch den des Treubruchs hinzu.
565
Trotzdem würden die Stände,
denen neben ihrem guten Recht die sittliche Kraft der Ueberzeugung und die reichsten materiellen Hilfsquellen zur Seite standen, den Winkelzügen
ihres kaiserlichen Gegners nachhaltigst begegnet sein, wäre nicht zum Glück
für den schwer bedrohten Katholizismus eben jetzt nach dem frühzeitigen
Tode Mathias' aus Jnnerösterreich der Retter gekommen, welcher bereits in seinen Stammlanden den Protestantismus
siegreich
bekämpft hatte.
Der neue Herrscher verlangte vor Allem die Huldigung der Stände.
Die
Protestanten widerstrebten, indem sie vorher die Erledigung ihrer Be schwerden und die Aufrechthaltung ihrer religiösen und ständischen Rechte
gesichert wissen wollte; namentlich verlangten sie, in Gemäßheit der Re solution von 1609, die Gleichstellung in den Aemtern und Gerichten, die
Union mit Böhmen und den Frieden mit diesem Lande, denn der böhmische Krieg sei ohne ihre Einwilligung begonnen
drängten zu einer Entscheidung.
worden.
Die Verhältnisse
Mit Mühe und Noth hatte die Regie
rung eine kleine Armee zusammengebracht, nach einigen Erfolgen
war
jedoch dieselbe in den Südwesten von Böhmen gedrängt und die böhmische
Armee in Oesterreich eingerückt. Thurn zog bei Schwechat über die Donau und erschien am 5. Juni 1619 vor Wien, um die Oesterreicher zu einem
Anschluß zu drängen.
Der protestantische Theil der Stände war zu einem
solchen entschlossen, wenn nicht der neue Landesherr ihrem Begehren nach
Am genannten Tage fand jene berühmte Audienz bei Ferdinand II.
kam.
statt, die freilich späterhin vielfach ausgeschmückt dargestellt worden ist.
Es ist nicht richtig, daß Andreas Thonradl den König bei einem Rock
knopfe gefaßt und ihn mit rohen Worten zu einer Unterschrift genöthigt Die Reiter, welche gegen 11 Uhr Vormittags im Burghofe auf
habe.
ritten, waren keineswegs vom Könige befohlen, um die Gemüther der
Protestanten in Schrecken und Verwirrung zu setzen.
Die Protestanten
sind nicht aus der Hofburg entflohen, sondern ruhig von der Audienz ge schieden; mit Vorwissen des Königs giengen sie zu Thurn ins böhmische Lager.
Fünf Tage später erfolgte dann die Einigung der Stände mit
Böhmen, gegen Ende des Monats wurde die Versammlung derselben nach Horn verlegt.
Auch in Oberösterreich hatten die Stände alsbald nach dem Tode des Kaisers Mathias die gesammte Landesverwaltung übernommen und weigerten Ferdinand die Huldigung.
Am 19. August traten sie dem
Bündniß bei, das die Niederösterreicher drei Tage vorher zu Prag mit den Böhmen abgeschlossen hatten.
König Ferdinand war nach Frankfurt
zur Kaiserwahl gereist und halte die einstweilige Regierung seiner Lande
seinem Bruder Leopold übertragen.
Derselbe
befahl den Wienern so-
Altösterreichische Culturbilder.
566
gleich — waS Ferdinand noch nicht gewagt hatte — die Ablieferung der Waffen, erhob von den Kaufleuten ein Zwangsanlehen und verbot den
Die Einzelheiten des Kampfes, der sich jetzt
protestantischen Gottesdienst.
zwischen dem katholischen Herrscherhause und den protestantischen Ständen
abspielte, können hier nicht berührt werden: desselben hängen aufs
engste mit dem
Entwicklung und Ausgaitg
böhmischen
Kriege
zusammen.
Während die Niederösterreicher sich schließlich doch zur Huldigung herbei
ließen,
verweigerten
die
Oberösterreicher
dieselbe
entschiedenste.
aufS
Ferdinand rief seinen bairischen Vetter und Sinnesnossen zu Hilfe, nach kurzer Gegenwehr sah sich das Land zu den Füßen desselben, mußte dem böhmischen Bündniß entsagen und die Huldigung leisten.
Religions- und
Landesfreiheit waren fortan in den beiden Landen historische Namen, mit der ständischen Entwicklung, wie in England oder den Niederlanden, war
eS in Oesterreich für immer vorbei.
Die Regierung betrat den Beden
der Alleinherrschaft in Staat und Kirche.
Kein Protestant erhielt mehr
ein öffentliches Amt, kein evangelischer Edelmann einen Hofbienst. Religionsfreiheit des Adels blieb vorerst noch unangetastet,
aber
Die im
Bürgerthum wurde mit dem Protestantismus aufgeräumt, namentlich in den landesfürstlichen Städten und Märkten.
In Wien wurde seit 1623
kein Protestant mehr in den Rath oder in ein Gemeindeamt ausgenommen,
der Besuch des protestantischen Gottesdienstes in Hernals und Enzersdorf verboten.
1624 und 1627 wurden die protestantischen Prediger, die Lehrer
und Bediensteten des Adels ausgewiesen.
DaS Klagelied, welches die
auS Hernals scheidenden Protestanten gesungen haben, ist gedruckt: „behüt
dich Gott in Frieden" — heißt es in der letzten Strophe — „du liebes Oesterreich, es muß doch sein geschieden in Sorg und Trauer reich; laßt uns das Elend bannen mit Christo hier eine Zeit, so werden wir ihn
schauen doch in der ewgen Freud". Wir kennen die Namen von 115 protestantischen Predigern, welche
im October 1624 aus Oberösterreich vertrieben wurden.
Sie wanderten
nach Deutschland, demüthig baten sie den Pfalzgrafen von Sulzbach, sich
im Markte Vohenstrauß eine Weile aufhalten zu dürfen.
Die Reforma-
tionScommission visitirte die Häuser, confiscirte die Bücher.
Zu Anfang
blieb der Adel noch verschont: erst 1627 wurde den protestantischen Edel
leuten aufgetragen, sich binnen drei Monaten zu entscheiden, ob sie ka tholisch werden oder auswandern wollten; ihre Güter sollten in Jahres
frist verkauft werden.
Viele griffen zum Wanderstabe, Andere nahmen
nothgedrungen die katholische Religion an.
richtet 1630:
Der Venetianer Denier be
„die Leute werden mit Soldaten in die Kirche zur Messe,
zur Communion getrieben".
In Niederösterreich wurde den Edelleuten
567
Altösterreichische Cultnrbilder.
weder der öffentliche Gottesdienst noch die HauSandacht gestattet.
Ferdinand III. setzte die katholische Restauration ihre Wege fort.
Unter
Die
Protestanten bemühten sich noch auf dem westfälischen Friedenscongreß um die freie Religionsübung und die Rückstellung der eingezogenen Güter,
aber die kaiserlichen Gesandten erklärten 1646, daß der Kaiser niemals
in seinen Landen die Autonomie der Protestanten und ihren Gottesdienst zugestehen werde.
Eine letzte Verfügung von 1647 bestimmte, daß die
Protestanten noch bis 1655 im Lande geduldet werden und dann auS-
wandern müßten.
Der Artikel V. des Osnabrücker Friedens kam ihnen
wenigstens insofern zu gute, daß die Emigranten, wenn sie sich dem Ge
setze fügen wollten, zurückkehren und ihre seit 1630 eingezogenen Güter ansprechen durften.
Den Protestanten wurde da« freie AbzugSrecht ge
stattet und sie konnten ihre Güter verkaufen oder verwalten lassen.
Die größte Machtentfaltung hatte der Protestantismus in Böhmen gefunden, und hier hat auch die kirchliche Restauration am kräftigsten ein
gesetzt, weil sie instinctartig fühlte, daß mit dem Fall dieser Position der Untergang deS Protestantismus in allen übrigen österreichischen Ländern
von selbst gegeben sei.
Die hieher gehörigen Vorgänge in Böhmen sind
daher für die Geschichte der katholischen Restauration in Oesterreich von
der größten Wichtigkeit und verdienen deshalb eine nähere Betrachtung. Ueberblicken wir vorerst die äußere Machtstellung des Protestantismus in Böhmen und seinen Nebenländern um die Wende des 16. und 17. Jahr
hunderts !
In Böhmen war damals die Zahl der protestantischen hohen
Adeligen gegen die der katholischen bedeutend
in der Mehrzahl.
Die
einzigen Städte, welche entschieden zur katholischen Religion hielten, waren
Pilsen und BudweiS. ein Katholik.
Im mährischen Herrenstande fand sich nur noch
Unter den schlesischen Ständen waren der Fürstbischof von
Breslau und der Kaiser selber als Inhaber der Fürstenthümer dauer,
Schweidnitz, Glogau, Oppeln und Ratibor die einzigen Stützen des Ka tholizismus; aber sie hatten es nicht hindern können, daß unter ihrer unmittelbaren Hoheit die meisten Grundherren und Städte dennoch reformirt hatten.
Noch unter Rudolf II. begannen auch hier die Wirkungen des kirch lichen Rcstaurationsgeists sich fühlbar zu machen.
In Böhmen war eS
namentlich der Kanzler Adalbert Popel von Lobkowitz, welcher mit Ent
schiedenheit gegen die alten Privilegien deS Landes vorgieng.
Da der
Adel noch zu mächtig war, so begnügte man sich vorerst gegen die böhmi schen Brüder und die Städte Front zu machen.
Gegen die ersteren wurde
ein alteS Gesetz deS Königs WladiSlauS hervorgesucht, welches dieselben mit dem Tode bedrohte.
Gegen die Städte ergieng der Befehl,
daß
Altösterreichische Culturbilder.
568
fortan nur Katholiken und Altutraquisten in die Stadträthe aufzunehmen In Mähren stand an der Spitze der gegen den Protestantismus
seien.
und die ständischen Freiheiten gerichteten Bewegung der Cardinalbischof
von Olmütz, Franz von Dietrichstein, einer jener eifernden Kirchenfürsten, wie sie aus der neugestalteten katholischen Kirche Hervorgiengen.
Er war
in Madrid, wo sein Vater sich als kaiserlicher Gesandter aufhielt, ge
boren,
zu Rom in dem Collegium Germanicum der Jesuiten erzogen
und mit 29 Jahren bereits zur Würde eines Cardinals erhöht.
Obgleich
in der doppelten Gunst des Kaisers und des Papstes stehend, verdankte
er seine glänzende Beförderung wohl vor allem den Hoffnungen, welche seine geistigen Gaben für die katholische Sache erweckten.
Denn was den
Vorkämpfer des katholischen Glaubens damals groß machte, die volle Ein
genommenheit des Geistes von der Lehre der Kirche und die unbedingte Abschließung desselben gegen die fremden Propheten, die Strenge, welche
alles Thun nach und für diesen Glauben regelt, und die Härte, welche
dem Andersgläubigen Unterwerfung oder Verdammung bietet — dies Alles hatte der jugendliche Priester in der Schule der Jesuiten in sich ausge nommen.
Sein Gemüth war feurig, sein Verstand eindringend; mit ge
nügenden Kenntnissen und kräftiger Beredtsamkeit ausgerüstet trachtete er die Geister seinem Werthe zu unterwerfen.
Als er daher die geistliche
Regierung von Mähren übernahm, war es die Absicht, die katholische Re
ligion in diesem Lande wiederherzustellen, die ihn und wahrscheinlich auch
seine Gönner beseelte.
Auch hier, wie in Böhmen, gieng man zunächst
gegen die meist protestantischen Städte vor.
1661 ergieng an sie ein
kaiserlicher Befehl, dahin lautend, daß fortan nur Katholiken zu Bürgern ausgenommen werden sollten.
Erlaß
Im folgenden Jahre verbot ein weiterer
den protestantischen Predigern den Aufenthalt in den Städten.
Sodann wurde das adliche „Landrecht", die höchste gerichtliche und ver
waltende Behörde in Mähren, den Protestanten verschlossen. kämpfer
der
Landesfreiheiten
und
der
evangelischen
Der Vor
Religion,
Karl
von Zierotin, ein der Brüderunität angehöriger Edelmann, mußte seinem
verwandten Gegner
weichen.
Die
geschlossene
Macht der
katholischen
Partei, der Hader unter den Protestanten, die zwiespältigen Interessen der Stände ermöglichten diese Gewaltacte.
Noch einmal gelang es den böhmischen Protestanten, unter kluger Benutzung des zwischen dem Kaiser und seinem Bruder Mathias ausge
brochenen Haders, in dem Majestätsbrief von 1609 das Uebergewicht zu erlangen.
Aber das Zugeständniß war ein widerwillig im Zwang der
augenblicklichen Nothlage ertheiltes: sobald daher die drohendste Gefahr beseitigt war, trachtete auch Rudolf schon wieder, daö lästige Joch abzu-
569
Altösterreichische Culturbilder.
schütteln.
Doch begnügte man sich vorerst noch mit verdeckten Angriffen
gegen den rechtlichen Bestand der protestantischen Kirche; vorsichtig wich
der allmächtige Minister des Kaisers Mathias, der Cardinal Melchior Klesl, jedem heftigeren Zusammenstoß mit den böhmischen Protestanten
aus.
Hatte er früher im Erzherzogthum Oesterreich sich um die Ver-
drängtlng der neuen Lehre die größten Verdienste erworben, indem er per sönlich von Stadt zu Stadt gezogen war und
überall durch mächtig
wirkende Predigten das Bolk zu sich herübergezogen hatte, so glaubte er jetzt die Protestanten überall schonender behandeln zu müssen, es wenig
stens zu keinem offenen Bruch mit ihnen kommen lassen zu dürfen, damit dieselben nicht seinen heftigsten Gegnern, den Erzherzogen von der steiri schen Linie, in die Arme getrieben würden.
Erst der Sturz dieses ein
flußreichen Mannes und das Emporkommen der genannten Linie in der Person deö Erzherzogs Ferdinand hat dann auch in Böhmen, wie in den
österreichischen Stammlanden an der Donau, deu religiösen Bürgerkrieg und die Vernichtung des Protestantismus hervorgerufen.
Nicht nur für die Entwicklung des böhmischen Aufstandes, sondern auch für die ganze Geschichte des dreißigjährigen Krieges ist der bekannte
Sturz der kaiserlichen Statthalter aus den Fenstern des Praßer Schlosses
von der verhängnißvollsten Bedeutung geworden.
Der eine der beiden
Herausgcstürzten, Graf Wilhelm Slavata, hat uns eine eingehende Auf zeichnung über die Einzelheiten des böhmischen Aufstandes, namentlich des
Fenstersturzes und seiner unmittelbaren Folgen hinterlassen, die Wolf mit-
theilt rind die auch wir ihrem hauptsächlichsten Inhalt nach wiederzugeben versuchen wollen.
Die dem weltberühmt gewordenen Ereigniß vorausgehenden Umstände
sind bekannt.
Der Hauptanstifter des wohl vorbedachten Gewaltacts war
Graf Thurn, der langjährige Vorkämpfer der protestantischen Opposition
im Lande, dessen entschiedenes Auftreten besonders dem Kaiser Rudolf den Majestätsbrief abgerungen hatte.
Er wußte die übrigen Häupter der
Opposition, Colonna von Fels, Wenzel von Rupga, Albrecht Smirickh, Wenzel Budowec, Gras Schlick, Wilhelm von Lobkowitz u. a., von dem
Schuldantheil der verhaßten Statthalter an dem letzten kaiserlichen Be scheide, durch den den Protestanten in schroffster Form die Abhaltung einer Tagfahrt unter Androhung gerichtlicher Inhaftnahme der Anführer ver
boten worden war, zu überzeugen und für seinen wilden Plan zu ge
winnen.
Am frühen Morgen des 23. Mai zogen die versammelten Stände
in das Prager Schloß, um die Antwort auf die kaiserliche Forderung der Auflösung der Versammlung zu überbringen.
Sie trafen nur vier der
Statthalter an: Sternberg, Lobkowitz, unsern Gewährsmann Slavata und Preußische Zahrducher. Bd. XLV1. Heft 0.
41
Altösterreichische Culturbilder.
570 Martinitz.
Die beiden ersten galten für gemäßigte
und wohlwollende
Männer, dagegen richtete sich alsbald nach den ersten Zwischenreden gegen die letztgenannten der ganze Sturm der Entrüstung.
Zuerst — so erzählt
nun Slavata selbst — wurde Martinitz von vier Herren und einem Ritter gewaltsam angepackt, bei den Händen stark gehalten und zu dem schon
offenen Fenster geführt, unter dem wilden Ruf der Versammlung: „nun
wollen wir unö wider unsere Religionsfeinde rechtschaffen verhalten". „Die beiden Grafen meinten, man werde sie aus der Kanzlei in einen Arrest führen; als jedoch Martinitz die Weise seines bevorstehenden Todes
erkannte, rief er mit lauter Stimme: weil ich nun für Gott, seinen heiligen katholischen Glauben und I. K. Majestät sterben muß, so will ich alles
gerne dulden, nur vergönnt mir bald meinen Beichtvater, damit ich ihm meine Sünden beichten kann.
Allein die anwesenden Herren gaben ihm
zum Bescheid: jetzt werden wir dir noch einen schelmischen Jesuiten ZU? führen.
Indem sich Graf Martinitz darüber höchst betrübet und seine
Sünden herzlich bereuend zu beten anfing: Jesu, Du Sohn deö lebendigen
Gottes, erbarme Dich meiner, Mutter GotteS gedenke mein, hoben ihn
die genannten Personen von der Erde und stürzten ihn sammt Rapier und
Dolch, doch ohne Hut, welchen ihm einer auS der Hand gerissen, mit dem Kopf voraus aus dem Fenster in die Tiefe deS Schloßgrabens.
Aber er
ist, nachdem er im Herabfliegen unaufhörlich den Namen JesuS, Maria gerufen, so leise auf die Erde gesunken, als wenn er sich setzen thäte, so
daß ihm durch die Fürbitt der Jungfrau Maria und den Schutz GotteS der schreckliche Fall an seiner Gesundheit trotz seines schweren Leibes nichts
geschadet hat.
Etliche fromme, glaubwürdige Leute haben auch ausgesagt,
daß sie damals, während sie über die große Brücke mit der Prozession
auf die Kleinseiten giengen, die allerseligste Jungfrau Maria gesehen, wie sie den Herrn mit ihrem Mantel in den Lüften erhalten und auf die Erde getragen hat.
Graf Martinitz hat dies nicht selbst gesehen, aber eS
kam ihm während des Falles vor die Augen, als wenn sich der Himmel
öffnete und ihn Gott zu ewigen Freuden aufnehmen wollte.
Ein Ritter,
nämlich Ulrich Kinsky, hatte ihm beim Htnauswerfen die Spottworte ge
sagt:
„Wir wollen sehen, ob ihm seine Maria helfen wird"; und dann
wie er auS dem Fenster den Grafen Martinitz frisch und gesund auf der Erde sitzen sah, auSgerufen:
„Ich schwöre zu Gott, daß ihm seine Maria
geholfen hat." Als nun der Graf Slavata gesehen, wie man mit dem Grafen
Marttnitz, seinem getreuen Freund und lieben Gespann, verfahren ist, hat er leicht schließen können, daß ihm das Gleiche begegnen wird.
Mit zum
Himmel erhobenen Händen, um Gott und seiner Barmherzigkeit willen
571
Altösterreichische Culturbilder.
hat er gebeten, ihn vorher seine Sünden beichten zu lassen; hernach mögen
sie ihm einen Tod anthun, welchen sie wollen; aber viele schrieen:
„Wir
wollen jetzt nicht den Schelm Jesuiter herführen, hast ihnen schon genug gebeichtet."
gesagt:
Und als ihnen Graf Thurn die Worte in deutscher Sprache
„Edle Herren, da habt ihr den andern", haben sie den Grafen
Slavata ergriffen, von der Erde emporgehoben und ihn sammt Mantel und Rapier den Kopf zuvor aus demselben Fenster herabgestürzt.
Noch
in dem Fenster hat er das Zeichen des heiligen Kreuzes auf die Brust
geschlagen und mit zerknirschtem Herzen gesagt:
„Deus propitius esto
mihi peccatori, Herr sei mir Sünder gnädig!"
Als er mit der rechten
Hand das Fenster ergriffen und sich ein wenig angehalten, hat ihm noch einer mit dem Knopf des Dolches auf die Finger geschlagen, so daß er
Sein Hut, an welchem eine schöne mit
dennoch hinabgestürzt worden.
goldenen Rosen und Diamanten besetzte Schnur war, blieb in der Kanzlei.
Die goldene Kette mit dem Kreuz und schwarzem Schmelz haben sie ihm bei dem AuSwerfen zerrissen und so in ihren Händen
behalten.
Graf
Slavata hat sich an dem steinernen GesimmS des untersten Fensters an
gestoßen und ist auf der Erde mit dem Kopf noch auf einen Stein ge
fallen, aber er hat sich dennoch bis in die Tiefe des Grabens herunter gekaulet; und weil ihm das Blut in den Mund geronnen, hat er wie ein
Erstickender zu rasseln
angefangen und
ist halb
todt
gelegen.
Graf
Martinitz hat sich entschlossen, ihm auf alle mögliche Weise zu Hilfe zu kommen, und weil er fürchten mußte, daß die Leute vom Fenster auf ihn schießen möchten, hat er sich schwächer gestellt als er gewesen und sich zu Graf Slavata herunter gewälzt.
Obwohl er sich dabei mit Rapier und
Dolch auf der linken Seite verletzt, hat er seinem alten Herrn Oheim
und Schwager das Haupt aus dem Mantel gewickelt und ihm mit seinem Tüchel das Blut, das aus den Wunden in den Mund geflossen, fleißig abgewischt.
AuS einem kleinen silbernen Büchsel, das an das Tüchel ge
bunden war, hat er stracks den Schlagbalsam herausgenommen, dem in Ohnmacht liegenden Herrn unter der Nasen und auf den Schläfen ein
geschmiert und ihn also mit Gottes Hilf wieder zurecht gebracht." Slavata erzählt nun weiter, daß auf Befehl der im Saale Zurück
gebliebenen Jäger und Haiducken des Grafen Thurn auf den großen Wall hinabliefen und auf die beiden wie leblos Daliegenden mehrere Schüffe abgaben.
Einer der Schüsse gieng dem Grafen Martinitz durch den HalS-
kragen, ein zweiter durch den Mantel und Rock, ohne jedoch den Träger
im geringsten zu verletzen.
Inzwischen waren etliche Diener der Miß
handelten durch daS untere, unter dem Oberstburggrasamt gelegene Schloß
thor ihren Herren zu Hilfe geeilt, wurden aber durch Schüsse wieder
41*
572
Altösterreichische Culturbilder.
Jeden Augenblick
zurückgetrieben.
tödtlichen Schuß.
erwarteten die
beiden
Grafen
den
Auch die Aufzeichnung Slavata's klärt die höchst auf
fallende Thatsache nicht auf, wie es möglich war, daß Beide bei dem fortwährenden Schießen von den Fenstern des Schlosses herab unversehrt
Slavata erzählt, daß ihnen, nachdem die erste Kunde
entkommen konnten.
von der wilden Gewaltthat sich in der Burg und den nächstanliegenden Stadttheilen verbreitet habe,
viele Freunde und Bürger zu Hilfe ge
kommen seien, auf welche aber gleichfalls ein heftiges Feuer von oben
herab eröffnet worden sei.
Jedenfalls muß dieses Schießen bald nachge
lassen haben, da sonst schwerlich Jemand aus den engen Gräben heil da
vongekommen wäre.
Wahrscheinlich wird bei den Attentätern, nachdem
die erste Leidenschaft abgekühlt war, eine ruhigere Erwägung Platz ge
griffen haben, die sie veranlaßte,
von weiterer Verfolgung abzustehen.
Es würde sich dann am ungezwungensten der Umstand erklären, daß die
beiden Statthalter noch längere Zeit unbehelligt in Prag bleiben und dann ohne größere Fährlichkeiten von da entschlüpfen konnten.
Graf Marttnitz
vermochte nach einiger Zett sich selbst zu erheben und, nur auf einen Diener gestützt, wegzugehen.
Die erste Zuflucht fand er in dem nahe
liegenden Hause der Fürstin Polyxene Lobkowitz; eine große Leiter war auf Anordnung derselben vom Fenster auf die Straße herabgelassen; auf ihr rettete sich Martinitz in das Haus, auf das während dessen von den
Wällen her starkes Feuer gegeben wurde.
Auf einem Gesindebett htnge-
streckt gab er sich den Anschein eines Schwerverwundeten, seinem Ende Ent
gegensetzenden, traf aber daneben insgeheim alle Vorkehrungen zu baldigster Flucht aus Prag.
Er ließ sich den Bart kurz abscheeren und das Gesicht
mit feuchtem Schießpulver schwärzen und legte alte abgeschabte Diener Noch am Abende desselben Tages schlich er sich in dieser Ver
kleider an.
mummung aus dem Haus und kam unbehelligt durch alle Schloßthore bis an sein Haus, wo er noch einmal seine Frau sehen und ihr lebewohl
sagen wollte.
Man denke sich das Entzücken derselben, als sie den Ge
mahl frisch und gesund vor sich sah. oculos zu demonstriren,
Kapriolen".
Bei dem
„sprang
Um ihr seine Unversehrtheit ad
er vor ihr auf und machte einige
Kapuziner-Kloster
vorbei
eilte
er
durch
daS
Strahöver Thor nach dem weißen Berg und stieg dort in eine alte, mit zwei Pferden bespannte Kalesche.
Anfänglich hatte er die Absicht gehabt, direct
nach Wien zu reisen: aber die Erwägung, daß seine Feinde ihn gerade
auf dieser Route zunächst aufsuchen könnten, ließ ihn seinen Reiseplan ändern und seinen Fluchtweg westlich nach
Bayern über Regensburg
nehmen.
Am kurfürstlichen Hofe zu München fand er freundliche Auf
nahme.
Vom Kaiser zum Gesandten am bayerischen Kreistag ernannt,
Mtösterreichische Culturbilder.
573
blieb er hier ein volles Jahr und übersiedelte erst im Herbste 1619 nach Passau, wo ihm auf den Wunsch Ferdinands II. der Erzherzog Leopold ein Asyl angeboten hatte.
Jedenfalls war es Martinitz bei und nach dem Fenstersturze besser ergangen als Slavata, der noch lange in Prag krank lag, dann nach
Sachsen und Franken flüchtete, bis er 1619 ebenfalls nach Passau kam. Der Prager Fenstersturz ist für das schöne und blühende Böhmer land der Ausgangspunkt unsäglichen Elends geworden.
Nach der Schlacht
am weißen Berge zerriß Ferdinand eigenhändig den Majestätsbrief von 1609. Die religiöse und ständische Freiheit des Landes war für alle Zeiten verloren.
Die Köpfe von
siebenundzwanzig
vornehmen protestantischen
Edelleuten und Bürgern fielen unter dem Beile des Henkers; 480 Edel
leute büßten ihre Schuld mit dem Verluste ihres Vermögens; sechzehn Städte verloren ihren Grundbesitz an Höfen und Dörfern; im Ganzen wurden in Böhmen 500, in Mähren 146 Güter confiscirt, verkauft und verschenkt.
Der Werth der in Beschlag genommenen Güter, Capitalien
und fahrenden Habe belief sich in Böhmen auf 30 Millionen, in Mähren auf nahezu 5 Millionen Gulden.
Einquartierungen und Contributionen
lasteten schwer auf dem Lande; abgedankte Soldatenhaufen durchzogen daS Reich und raubten, was die obrigkeitliche Erpressung übrig ließ.
Mit
den Gütern der Hingerichteten oder sonst Verurtheilten bereicherte sich die Kasse des Kaisers und seiner Anhänger; alles evangelische Vermögen war
verwirkt; es begann ein schandloser Handel mit „Rebellengütern", der in wenigen Monaten den ganzen Besitzstand in Böhmen veränderte, unter
Formen, die ein Hohn auf jeden gerichtlichen Prozeß waren.
Und als
die Rache an Leben und Habe der Besiegten gestillt war, begann daS
Werk der gewaltsamsten Unterdrückung des Protestantismus.
Mit den
kaiserlichen Soldaten waren auch die Jesuiten wieder eingezogen und be trieben die katholische Restauration mit allen Mitteln der Verführung, der List und Gewalt.
Die Kirchen der Protestanten wurden geschlossen oder
den Katholiken eingeräumt, ihre Geistlichen und Lehrer vertrieben, ge peinigt, ermordet, ihre Bücher und heiligen Gegenstände verbrannt und
zerstört; Commissarien der Regierung durchzogen mit Soldaten das Land und wütheten gegen die Bekenner des Evangeliums;
die altberühmte
Prager Universität ward den Jesuiten ausgeliefert. Wenn das protestantische
Volk den Verführungskünsten katholischer Priester widerstand, so begannen
die Liechtensteiner Dragoner ihr Bekehrungswerk; Tausende trieben diese
gespornten „Seligmacher" Messe und Beichte.
mußte auswandern.
unter den entsetzlichsten Mißhandlungen zur
Viele beugten sich dem Zwange; wer sich nicht beugte,
Bis 1623 hatten 12000 Personen das Land ver-
Altösterreichische Lulturbilder.
574
lassen, bis 1630 mehr als 30000 Familien, unter ihnen 185 adelige Ge
schlechter.
Der ganze Organismus des Volkes, sein Besitz, sein Vermögen
waren verändert.
Die einst so blühenden deutschen Städte verloren ihre
betriebsame Bevölkerung.
Nach Verlauf eines Jahrzehnts war das König
reich in ein durchweg katholisches Land umgewandelt; in größter Heim lichkeit nur rettete sich ein Ueberrest des böhmischen Protestantismus in
bessere Zeiten hinüber. Und ebenso verfuhr man in Mähren und Schlesien; in allen Theilen der österreichischen Monarchie riß der kirchliche Absolutis mus die letzten Schutzwehren der Duldung nieder.
Hand in Hand mit
der Vernichtung der religiösen und ständischen Freiheit gieng daS Zurück
drängen deS DeutschthumS.
Wie in den übrigen Kronländern erkannten
auch in Böhmen die Jesuiten daffelbe als ihren gefährlichsten und zähesten Gegner: das Vordringen der katholischen Restauration bedeutet auch hier
daS Zurückwetchen der deutschen Colonisation.
Noch heute krankt daS von
der Natur verschwenderisch beschenkte Land an den Nachwehen jener ge
waltsamen, von oben her ausgegangenen Revolution.
Während dasselbe
bis zum Beginn des dreißigjährigen Krieges vielleicht daS blühendste unter
allen deutschen Gebieten war, ist eS seitdem, je weiter die Jesuiten und die mit ihnen eng verbündeten Czechen vordrangen, mehr und mehr von
seiner alten Culturhöhe herabgekommen, und nur einem kräftigen Wieder eintreten des deutschen Elements in die historische Rolle einer culturver-
breitenden Macht wird eS gelingen, ein zweites Blüthealter hervorzurufen. Posen.
Christian Meyer.
Aus Türkisch-Asien.
Kurz bevor im Westen der Islam, das Maurische Fürstenthum von
Granada, aufhörte die Europäische Karte zu zieren, waren im Osten an
dere Moslernen eingedrungen und hatten sich auf den Trümmern des Ost römischen Reiches wohnlich eingerichtet, ein Geschlecht auS härterem Stoff, vom Schicksal bestimmt den Donauvölkern, Ostösterreich und. Südrußland
über Islam und Türkenthum eindringliche Lektionen zu ertheilen.
Wo
damals die Mauren Spanien'- waren, sind jetzt die Türken angelangt:
am letzten Abschnitt ihrer Europäischen Laufbahn.
Wenn erst die durch
ihr bevorstehendes Ende hervorgerufenen Erbstreitigkeiten beigelegt und
geordnet sind, was allerdings noch manches Jahr in Anspruch nehmen
kann, werden sie über den HelleSpont und Bosporus wieder abziehen und
die Segnungen ihrer früheren christlichen Unterthanen werden sie schwerlich
begleiten. Zwei Uebel sind eS, denen das Türkenthum erliegt: absolute, in
kurable Talentlosigkeit der Nation, und das Unvermögen des Moslemi schen Staates, innerhalb seines Rahmens andersgläubigen Unterthanen eine menschenwürdige Existenz zu gewähren, am besten illustrirt durch die Thatsache, daß noch in diesem Augenblick an allen Muhamedanischen Ge
richtshöfen der Türkei die Zeugenaussage eines Christen gegenüber einem
Moslem nicht gültig ist, nicht angenommen wird.
Der Christ ist eben
für den Moslem — sit venia verbo! — Kelb, ein Hund.
Wenn ein
Moslem einen Christen prügelt, so wird er von jedem Türkischen Tribunal sreigesprochen; wenn aber der Christ den Moslem wieder schlägt, so wird er ebenso sicher verurtheilt, auch von denjenigen verurtheilt, die eS sich sonst zur Ehre anrechnen, an seiner Tafel zu speisen.
Die Person deS
Moslem ist sacrosanct, aber die Europäer sind Barbaren und Christenthum ist gut genug, eS mit Füßen zu treten.
das
Jeder Europäer, der
lange oder längere Zeit im Türkischen Reich, besonders in den Provinzen
zu leben genöthigt ist, erlebt zahlreiche Scenen, welche diese meine harten
Worte in ihrem ganzen Umfange bestätigen.
Hochmuth ist eine hervor-
Aus Türkisch-Asi-n.
576
ragende Eigenschaft aller Türken, ein für das gebildete Europa schwer zu beschreibender Hochmuth, wie er nur auf dem Boden crassester Unwissen heit wachsen kann.
Mit demselben Hochmuth wie früher foppen die Stambuler Paschas,
auf die Uneinigkeit der Mächte bauend, das ganze Europa in ihren Noten voll unrealisirbarer Versprechungen.
Im Uebrigen aber haben die harten
Schicksalsschläge der letzten Jahre mancherlei in der Wirthschaft der Türken
geändert.
Im Jahre 1873, als ich zum ersten Mal den Bosporus kennen
lernte, wunderte sich zwar der Großherr bereits, daß so viele Millionen Sklaven nicht im Stande seien, einen einzigen Herrn zu ernähren, aber man hatte noch Millionen für Prachtbauten und Panzerschiffe, und in den
Kreisen der Ulemas in Stambul, mit denen ich täglich zu verkehren hatte, herrschte noch der Geist Muhamedanischcr Unfehlbarkeit.
Anders fand ich die Verhältnisse am Bosporus im vorigen Herbst. Man glaubte von den Konaks ablesen zu können, daß ganze Provinzen ver
loren gegangen waren, mit ihnen die Quellen des Reichthums der Paschas und Steuerpächter, und man erhielt einen Vorgeschmack von der allge
meinen Verarmung, welche weiter ostwärts im Innern des Reiches überall grell zu Tage tritt. worden,
Auch die Ulemas in Stambul waren andere ge
wenn auch kaum gebessert.
Verloren das Vertrauen auf die
Armee, auf die Hülfsmittel des Landes, und der Fremdenhaß durch das
Auf der elenden Holzbrücke,
nationale Unglück in's unendliche gesteigert.
welche Stambul mit Galata verbindet, hatte man täglich Scenen aus der
Rückwanderung des Türkischen Volkes nach Asien vor Augen.
die
MuhLdjirln,
Männer,
Weiber und
Kinder,
in
großen
Da lagen Haufen,
Muhammedanische Flüchtlinge aus den abgetretenen Provinzen, welche
auf ein Dampfschiff warteten, das sie nach Kleinasien hinüberbringen sollte. Kleinasien ist das Vaterland der Türken.
Ans Kleinasien sind sie
gekommen, und nach Kleinasien werden sie zurückkehren.
Aber was dann?
Seit dem Frieden von S. Stephane hatte die Türkei, und speciell bte- Asiatische Türkei mächtige Freunde in dem Torh-Cabinet, in Beacons field, Salisbury und Lahard, und als ich den letzteren vor einem Jahr
in Therapia besuchte, war sein ganzes Sinnen und Trachten auf Klein asien und Syrien gerichtet.
Er hatte grade eine Anzahl von Officieren
als Consuln in jene Länder (nach Dijürbekr, Siwas, Erzerum, Van und
anderen Orten) geschickt und war vollkommen berechtigt sich von dieser Maßregel heilsame Wirkungen zu versprechen.
Die Englische Regierung
verfolgte den richtigen Plan, nachdem an dem Osmanenreich in Europa
nichts mehr zu retten, nur wenig noch zu verlieren ist,
in Asien die
Türkische Herrschaft zu befestigen und zu reorganisiren, sie zu einem wider-
577
Aus Türkisch-Asien.
standsfähigen Bollwerk gegen das Vordringen der Russen von Armenien her umzugestalten.
Das Alpenland Armenien's sollte Russischen Expan
sionsgelüsten eine Schranke setzen und zugleich die Englische Mittelmeer
linie decken.
Cypern war zum Observatorium bestimmt, und eS hatte
den Anschein, als würde England sein in dem Separat-Vertrage mit dem
Sultan gegebenes Versprechen, die Asiatische Türkei gegen die Russen vertheidigen zu wollen, erforderlichen Falls zur That werden lassen. Es hat seitdem den Englischen Wählern gefallen, jene Regierung zu
stürzen.
Für das Verständniß der parlamentarischen Vorgänge in Eng
land ist ganz wesentlich der Umstand, daß seine Politiker seit einem De-
cennium nicht mehr im Stande gewesen sind, eine legislative Frage von tief eingreifender Wichtigkeit dem Volke zur DiScussion vorzulegen.
letzte große Parteiruf war die Irish church question.
Der
Seitdem fehlt es
an einem packenden party-cry und dasjenige, was auf dem Gebiet der
inneren Gesetzgebung geleistet ist (ich erinnere z. B. an die langen Ver handlungen über die Beschränkung der Stunden, in denen Spirituosen verkauft werden dürfen) ist von geringer Bedeutung.
An der Armuth
an legislatorischen Ideen war das vorige Cabinet Gladstone hingesiecht, aber auch sein Nachfolger Beaconsfield war in diesem Punkt nicht besser
situirt.
Auch er wußte kein großes legislatorisches Werk seiner Nation
vorzulegen.
An eine radicale Lösung der nächsten brennenden Frage der
inneren Politik England's, an die Irländische Grund- und Bodenfrage,
eine Frage, die wir in den meisten Provinzen des Deutschen Reiches im Zusammenhang mit der Befreiung der Leibeigenen durchgekämpft haben,
wird sich vorläufig weder Whig noch Tory wagen; sie schneidet zu tief in die materiellen Interessen der gesetzgebenden Gesellschaftsklassen ein, und
nach dem Irischen Farmer kommt der Englische. daher Beaconsfield die Gelegenheit,
Mit Begier ergriff
die Aufmerksamkeit seiner Lands
leute an die Beschäftigung mit äußerer Politik,
deren sie seit langer
Zeit vollkommen entwöhnt waren, zu fesseln; die Umstände secundirten
gut und sicherten ihm ein längeres Verbleiben im Amt.
Seine Orient
politik nahm die eben angedeutete Richtung; ihre Spitze zeigte gegen Rußland. In der letzten Wahl-Campagne überschwemmte nun Gladstone, da
mals vom Punch a colossus of words genannt, das Englische Volk mit einer Sündfluth von Redensarten, für welche HorazenS sesquipedalia verba eine schamhafte Litotes sind, und durch eine auch für die meisten Engländer unerwartete Anlehnung an die äußerste Linke gelang eS ihm, das Zünglein in der Wage der Abstimmung zu seinen Gunsten zu senken.
In Folge dessen hat sich England'- äußere Politik wieder einmal über
578
Aus Türkisch-Asien.
Nacht von Schwarz zu Weiß verkehrt, und gegenwärtig liegen Englische Feuerschlünde friedlich neben Russischen.
Daß auf diese Action bald eine Reaction folgen wird, daß die Eng lischen Wähler bald zu der Einsicht gelangen werden, die Englische Streit macht könne unmöglich auf dem richtigen Wege sein, wenn sie auf demselben Wege ist wie die Russische, sehen wir für zweifellos an und hoffen für
diesen Fall, daß das Tory-Cabinet zu seiner früheren Orientpolitik zurück Ihr Wesen besteht darin, daß sie der Asiatischen Türket eine
kehren wird.
zeitgemäße, den richtig verstandenen Interessen des Hauses Osman för
derliche Aufmerksamkeit widmet, und ihr Verdienst ist es, daß sie, indem
sie an Stelle des unhaltbaren Türkenreiches in Europa in der Asiatischen Türkei einen widerstandskräftigen Gegner Rußlands zu schaffen bestrebt ist, dadurch den Interessen des übrigen Europa'- auf halbem Wege ent
gegenkommt. Jedoch kehren wir in den Orient zurück.
Am 12. September 1879 fuhr ich auf einem Llohdschiff an der Küste der TroaS vorbei gegen Süden, zwischen TenedoS und Mttylene.
In
einiger Entfernung sahen wir ein Englisches, einen mehr westlichen CurS
steuerndes Kanonenboot, das Sir Henry La Yard am Bord hatte und nach Syrien tragen sollte.
Er wollte das von Midhat Pascha, einem Prologs
der Englischen Regierung, gleichsam als Versuchsstation verwaltete Syrien in Augenschein nehmen.
Midhat sollte mit den Reformen auf Asiatischem
Boden vorangehen, von Layard in Constantinopel mit seinem ganzen Ein
fluß unterstützt. Anfang October wurde ich von Midhat in seinem Konak in DamaScuS empfangen und fand ihn höchst erfreut über eine neue — GenSdarmerie-
Uniform.
Die Uniform war passabel.
Mehr kann ich nicht sagen.
Der Wandel in der Englischen Politik hat auch ihn hinweggefegt
und bedeutsame Spuren in der Verwaltung der Provinz hat er nicht
hinterlassen.
Der beste Provinzial-Gouverneur der Türket ist machtlos,
weil die wichtigsten Verwaltungszweige nicht von ihm abhängen, sondern
direkt unter die betreffenden Ministerien in Stambul ressortiren.
Am 8. October verließ ich DamaScuS, begleitet von einigen GenSdarmen in der neuen Uniform, und was ich seitdem an politischen Ver-
hältniffen in Stadt, Dorf und Wüste gesehen, ist an und für sich höchst
merkwürdig, würde aber natürlich ein erhöhtes Interesse gewinnen von dem Augenblick an, wo die Türkenmacht ihre Fußung in Europa verliert und
der Europa-müde Sultan sein Lager in Bruffa oder Aleppo oder Dijärbekr aufschlägt.
Die Ländermasse seines Astatischen Reiches ist von einer
gewaltigen Ausdehnung, groß genug, um die Steuern und die Mann-
579
Aus Türkisch-Afien.
schäft für eine achtunggebietende Macht aufzubringen.
Aber man laste
Viele Länder, welche dort inner
sich durch die Landkarte nicht täuschen.
halb der Reichsgrenze verzeichnet sind, haben nie einen Türken gesehen, sind nie von Türken erobert worden, und in denjenigen Gebieten, welche
wirklich der Türkischen Regierung unterstehen, sind bereit- wieder ähnliche Elemente vorhanden und in voller Thätigkeit wie diejenigen, welche in
Europa die Zersetzung deS OSmanenreichS bewirkt habm.
Die Bevölke
rung-verhältnisse in Kleinasien, mir nur zum kleinsten Theil au- eigener Anschauung bekannt, sind nach den vorhandenen Reiseberichten noch nicht
genau zu übersehen.
ES scheint, daß zwischen Brussa und Mälatia,
Sinope und Adana die Türken eine große Majorität bilden; sie sind aber
überall mit Griechen, Armeniern, Kurden, Turkmanischen Nomaden und
anderen Völkern vermischt, und über da- Mischung-verhältniß ist einst weilen ein Urtheil noch nicht möglich.
Klarer liegen die Verhältnisse in
Syrien, in den Euphrat- und TigriS-Ländern und in Kurdistan.
Dort
sind es drei Völker, mit denen da- Haus OSman'S zu rechnen haben
wird; von der Politik, welche seine Staatsmänner ihnen gegenüber be
folgen werden, wird eS abhängen, ob sie nicht etwa dieselbe Rolle über nehmen werden, welche für daS Europäische Reich die Griechen, Serben, Rumänen und Bulgaren gespielt haben.
Ich meine die Arabischen Be
duinen, die Kurden und die Armenier.
Meine
erste Bekanntschaft
mit der ungewaschenen
Majestät des
BeduinenthumS machte ich auf der Rückkehr von Palmyra in Chawarin, einem von Muhammedanern bewohnten Dorf mit der imposanten Ruine einer auS mächtigen Quadern erbauten, altchristlichen Basilica.
Zurück
kehrend von einer Expedition nach einer Dampfquelle in der Wüste sand
ich mitten im Dorf in der Nähe meine- Zelte- eine fremde Gestalt vor. Er saß mit untergeschlagenen Beinen auf der Erde, machte ein finstere-
Gesicht und sah weder recht- noch link-; neben ihm stak seine lange Lanze
im Boden und, angebunden daran, sein magere-, au- wenig mehr als Haut und Knochen bestehende- Roß.
Er trug die Tracht der Beduinen-:
ein bi- auf die Füße hinab reichende-, bauschige-, schmutzig weiße- Ober hemd, da- vorne die wie eine Ziegenhaut behaarte Brust sehen ließ; ein schwarze- Tuch, um den Kopf geschlungen und befestigt mit einem vier
Finger dicken, au- Ziegenhaaren geflochtenen, zweimal umgewundenen Strick.
und
Mehrere Bauern standen in einiger Entfernung um ihn herum,
meine eigenen Leute schienen seine Nähe geflissentlich zu meiden.
Auf meine Frage, wer der Mann sei und was er wolle, erhielt ich die Antwort, er sei gekommen die Chllwe zu holen.
580
Aus Türkisch-Asien.
Im Beduinenreich gibt es keine Grundsteuer, Kopfsteuer, Miethsteuer, keinen Zehnten oder dergleichen mehr;
Vorzug großer Einfachheit.
seine Steuerverfassung hat den
Es kennt nur eine Steuer, die Chüwe d. h.
wörtlich übersetzt: Brüderschaft.
Also sagen wir:
Brüderschafts
Steuer.
Ganz so harmlos wie der Name ist nun die Sache keineswegs. allen,
den Ueberfällen der Beduinen
ausgesetzten Ortschaften
In
erscheint
plötzlich eines Tags ein solches Individuum; er kommt aus dem Nichts
d. h. aus der Wüste, ohne irgendwelches Zeichen einer Auctorität.
Vor
der größten Hütte läßt er sich nieder und erklärt den Dorfbewohnern: „Ich brauche für meinen Schaich so und so viele Ghüzis d. h. Medjldijje
oder Fünf-Francs-Stücke, Kleider, Stiefel, Kaffe, Zucker, Weizen, Reis,
Durra" und mehr dergleichen, was zu den Bedürfnissen des Lebens in der Wüste gehört.
Nun beginnt ein im fürchterlichsten Schreien geführtes
Markten und Handeln; die Bauern versichern, daß sie nichts von alledem besitzen, sie bieten ein Drittel, die Hälfte.
Alles vergebens.
Der Steuer
einnehmer der Wüste hört stumm ihrem Reden zu; er bekommt schließlich
alles, was er verlangt, und verschwindet sofort wieder in das Nichts, auS
dem er gekommen. Wenn nun die Bauern sich weigerten die Chüwe zu zahlen, was dann? — Dann würden sie eines Tages finden, daß ihr Vieh von der
Weide verschwunden ist d. h. geraubt von den Beduinen; oder haben sie gar die Beduinen-Majestät schwer beleidigt, so finden sie bald einen der
ihrigen auf ihrer Feldmark liegen — mit abgeschnittener Kehle, oder eS erscheinen die Söhne der Wüste in großer Zahl und stecken das Dorf in Brand.
Also der Bauer zahlt; er muß zahlen, denn wer sollte ihn schützen?
— Der Nutzen, den ihm das Einhalten dieser Verpflichtung gewährt, be steht darin, daß er in Ruhe seine Aecker bestellen und sein Vieh weiden lassen kann.
Dabei ist es immerhin noch möglich, daß die Beduinen,
wenn die Weide in der Wüste abgeweidet ist, gelegentlich ihre Kameele
auf seine Feldmark treiben.
Zu solchem Spiel muß er gute Miene
machen.
In dieser Weise äußert sich die Macht deS Reiches der Wüste und zwar mit einer — ich möchte fast sagen: an Organisation streifenden —
Regelmäßigkeit trotz aller Spaltungen in der Wüste selbst.
Es würde
hier zu weit in geographisches Detail führen, wollte ich die Grenzen ihrer Machtsphäre bezeichnen; dieselbe reicht überall bis in die Nähe der großen Städte, Damascus, Aleppo, Ursa, Mardin und Mosul.
In der Gegend,
wo ich zuerst mit jenem Steuerbeamten der Wüste Bekanntschaft machte,
581
Aus Türkisch-Asien.
erstreckt sie sich bis an den Antilibanon.
An manchen Stellen existirt
sogar das politische Curiosum, daß eine Ortschaft zwei Potentaten Steuern zahlt, sowohl Sr. Majestät dem Sultan wie Sr. Majestät dem Beduinen.
Man denke sich vergleichsweise einen Ort, der zugleich dem Kaiser von Deutschland und dem Kaiser von Rußland steuerpflichtig wäre.
In diese
Categorie fallen, um nur einige zu nennen, die meisten Dörfer zwischen
Palmyra und dem Antilibanon, und neben vielen anderen Orten auch Nisibis und Harran. Wer sind nun die Fürsten der Wüste, denen diese Steuern zuge
tragen werden?
Die Beduinen sind, wie etwa die Deutschen zu Tacitus' Zeit, in zahlreiche Stämme, die sich durch kleine Nüancen im Dialect unterscheiden,
gespalten.
Indeß die Hegemonie über
alle wird mit fester Hand von
zwei Stämmen, den größten und reichsten von allen, geführt:
von den
Annese in der Syrisch-Arabischen, von den Schemmar in der Mesopotami
schen Wüste.
Sie weiden im Sommer in den nördlichsten Theilen ihres
Gebietes, im Winter in den südlichsten.
Ihr Besitz sind Kameele und
Pferde, ihre Waffen die Lanze und das Schwert.
im Gebrauch.
Schußwaffen sind nicht
Die Lanze ist sehr lang, um die Hälfte länger als die
unserer Uhlanen; der Schaft ist ein sehr starkes und leichtes Rohr, das
in der Nähe von Basra wächst.
Wenn der Beduine unterwegs ist, trägt
er die Lanze über der rechten Schulter und reitet sein Pferd ohne Zaum,
Sattel und Steigbügel, mit einem Halfter, mehr aber noch mit der Lanze
eS dirigircnd.
Das Arabische Pferd, selbst wenn von edelster Race durch
gehends von einer nach unseren Begriffen häßlichen Magerkeit, gleicht in
allem seinem Herrn;
Gliedmaaßen und
es ist von mittlerer Größe,
hat feine, zierliche
eine staunenSwerthe Widerstandskraft gegen Hunger
und Durst und Anstrengungen aller Art.
Zärtliche Liebe und intimes
Einvernehmen besteht zwischen Roß und Reiter.
Das Pferd weidet in
der Entfernung einer halben Stunde vom Zelt, da ertönt ein Ruf. Pferd richtet den Kopf in die Höhe.
Ein zweiter Ruf.
DaS
Es fetzt sich in
Bewegung, geht gemessenen Schrittes grade auf das Zelt zu, stellt sich
zu seinem Herrn, reibt sich an ihm und sieht ihn an, als fragte eS:
„Was gibt's?" — Der Beduine schlägt gelegentlich seine Frau, aber sein Pferd schlägt er nie.
Ein Pferd
edler Abstammung und ohne Fehler
wird nie verkauft. Viele Dinge, ohne die man sich in Europa kaum ein Leben denken kann, gibt es in der Wüste nicht, z. B. Religion gibt eS nicht. Beduinen sind ein Volk ohne Religion.
Die
Aber eine Regierung, wenn sie
auch an äußeren Zeichen wenig zu erkennen ist, gibt eS allerdings.
In
582
Aus Türkisch-Asien.
der Regel hat derjenige den größten Einfluß im Stamm, der den größten Besitz hat, aber maaßgebend ist der Besitz allein keineswegs.
Die Be
duinen sind sehr feudal gesinnt und halten beim Menschen wie beim Pferde viel auf Blut, auf Abstammung.
Die SchaichS gehören alle Fa
milien an, deren Stammbaum wohl, wenn es eine geschriebene Tradition
gäbe, viele Generationen zurückgeführt werden könnte, und selbst ohne eine solche besteht eine sehr genaue Werthschätzung von dem geringeren Alter der einzelnen Familien.
größeren oder
Die SchaichS der Schemmar
sind gradezu eine erbliche Dynastie. Der Schaich führt den Vorsitz im Rath und ist in der Regel der Anführer bei Krieg- und Raub-Zügen, aber nicht immer; oft wird, wenn
der Schaich sich dazu nicht eignet, ein Anführer frei gewählt. wird wenig regiert.
Im Uebrigen
Ministerien, Gerichtshöfe, Polizei und Kerker gibt
Blut wird mit Blut gerochen, und über Streitigkeiten sucht
eS nicht.
man sich vor dem Schaich und den angesehensten Stammesmitgliedern zu
vergleichen.
Jeder Mann ist freier Herr über sein Zelt, seine Familie
und seinen Besitz.
Der Schaich darf nicht einmal einen Beduinen schlagen;
er hat überhaupt weniger Rechte als Pflichten, vor allen Dingen die Pflicht jeden Abend in seinem Zelt ein Feuer zu unterhalten, über dem ein großer Kaffetopf brodelt, und fleißig unter den Stammesgenossen, welche zahl
reich um das Feuer kauern und die Ereignisse deS Tags besprechen, die Kaffetasse umherkreisen zu lassen, denn daS Zelt des SchaichS ist da»
Forum dieser Römer, ihr täglicher Versammlungsort.
Außerdem hat er
die Pflicht Gäste zu empfangen.
Die bedeutendsten Ereignisse im Leben der Wüste sind die unaufhör lichen Krieg- und Raub-Züge, die Ghäzu.
Auf einem solchen zu fallen
ist der schönste Tod, und für ein Mädchen, daS auf Ehre hält, kann der jenige, der sie heimführen will, den Kaufpreis nur in solchen Kameelen
bezahlen, welche auf einem Kriegszuge erbeutet sind. Dank der Politik der Türkischen Paschas sind die Annese in zwei Heerlager gespalten, ein westliches und ein östliches, die seit einer Reihe
von Jahren mit einander Krieg führen und sich gegenseitig schwächen, so viel eS bei der Beduinen-Art der Kriegführung möglich ist.
lassung
dazu war ein Streit um
gewisse Weideländereien
Die Veran östlich von
HLmL; die Türkische Regierung mischte sich ein, so brutal wie nur mög
lich; eS floß Beduinenblut und damit war der Krieg gegeben.
Seitdem
sind sie bemüht sich gegenseitig ihre Heerden zu rauben und alljährlich liefern sie sich eine Reihe von Kämpfen, in denen wohl keine Tausende,
oft nicht einmal Hunderte fallen und verwundet werden, die aber doch
allemal ein für jene Verhältnisse bedeutendes Opfer an Menschenleben
Aus Wrkisch-Asien.
583
Die Ruwala oder westlichen Sinnese werden vom Pascha von
erfordern.
Damascus aufgehetzt, und sie sind einfältig genug, ohne einen nennenswerthen Vortheil von der Freundschaft der Türken zu haben, ihnen zu
Liebe die fruchtlosen Kämpfe mit ihren Brüdern, den Sbaa, fortzusetzen.
Der Krieg wird von beiden Seiten ohne besondere Auszeichnung ge Der bekannteste Mann der Syrisch-Arabischen Wüste ist Djed-an,
führt.
der Anführer, nicht der Schaich der Sbaa.
Er ist ein berühmter Reiter
und ein erfahrener, verschlagener und unerschrockener KriegSmann, aber
er ist ein Parvenu; ihm fehlt daS Prestige der Abstammung nicht allein, sondern
auch daS Benehmen eines gentleman der Wüste, und was
schlimmer ist als alles: seit einiger Zeit scheint ihm daS Kriegsglück bei seinen Expeditionen untreu geworden zu sein.
Aber auch die Rüwala
sind nicht viel besser daran; da ihr Schaich zum Anführer untauglich ist, kämpfen sie unter einem gewählten Anführer, ebenfalls ohne besonderes Glück.
Aehnlich sind die Verhältnisse unter den Schemmar in Mesopotamien.
Auch sie sind durch Türkische Intrigue in zwei feindliche Lager getrennt,
während sie bis etwa vor 20 Jahren friedlich und einig unter der Füh rung der Familie Djerba lebten.
Das Oberhaupt derselben,
Schaich
Sfük wurde in der Nähe von Bagdad hinterlistig von den Türken er
mordet, sein Sohn und Nachfolger Abdulkerim ihnen verrathen und auSgeliefert, und auf der Brücke von Mosul gehängt.
Jetzt liegt die Füh
rung des Stammes in den Händen von zwei Brüdern des Abdulkerim: Ferhan und Faris. Der erstere, der beschuldigt wird, an dem schmachvollen Untergang seines Bruders nicht unbetheiltgt gewesen zu sein, trägt den Pascha-Titel
und bezieht als JudaS-Lohn monatlich 240 Türkische Pfund
von der
Türkischen Regierung.
Zu ihm halten die östlichen Schemmar-Stämme
zwischen
Mosul.
Bagdad und
Er selbst ist wenig
geachtet, ist ein
Kedisch d. h. wie ein Pferd gemeiner Abstammung, denn seine Mutter war nicht von Familie; er gilt für einen entarteten Sohn der Wüste,
aber seine Söhne (besonders Schech Ast) sind kühne Reiter und tadellose Wüstensöhne, stets raub- und rauf-lustig, die mit ihrem Onkel Faris um die Hegemonie in der Wüste kämpfen.
FLriS, ein jüngerer Bruder des Ferhan, von edelster Abstammung, ist daS beliebte Oberhaupt aller Schemmar zwischen Ana und Ursa.
Er
ist vielleicht 37 Jahre alt, von mittlerer, schlanker Statur, hager wie alle Beduinen,
mit feinen, wohl proportionirten Gliedmaaßen und schönen,
distinguirten GestchtSzügen; Bartwuchs spärlich, die Nase sanft gebogen
und die Augen sehr groß und hell leuchtend.
Im Allgemeinen halte ich
584
Aus Tilrkisch-Aflen-
ihn für mehr gutmüthig als intelligent, jedenfalls nicht für klug und listig genug, um schadlos mit Türkischen Paschas verkehren zu können.
Er ist
ein vorzüglicher Reiter und unerschrockener Kriegsmann, überhaupt der edelste Typus von einem Wüstensohn.
ihm unbekannt
Oekonomie und Sparsamkeit sind
Wenn die Brüderschafts-Steuer ihm abgeliefert
d. h. vor ihm auf der Erde niedergelegt wird, ordnet er das Geld mit seinem MihdjLn d. h. einem Stock mit krumm gebogenem Handgriff, in
kleine Häuflein und vertheilt eö, je nachdem er angemessen findet, unter die Stammesgenossen.
Für sich
selbst behält er nichts; hat er doch
Kameele und Pferde in Menge, und wenn er sonst etwas braucht, so gibt
ihm jeder Schemmar alles, was er hat.
Dieser Mann, in Tracht und Lebensweise von allen anderen Wüsten
söhnen nicht zu unterscheiden, ist der König des größten Theils von ganz Mesopotamien. Der Krieg mit seinen Neffen wird mit geringerer Er bitterung geführt als derjenige in Syrien, und ich vermuthe, daß die
Schemmar früher zu einem gütlichen Einvernehmen kommen werden als
die Rüwala und Sbäa.
Wie die Verhältnisse gegenwärtig liegen, ist das ganze Gebiet zwischen dem Syrischen Wüstenlande, der Linie DamaScus, Höms, Hamü, Aleppo
einerseits und dem Tigris und Babylonien andrerseits in den Händen
der Beduinen.
Nach dem Recht der Wüste ist jedes fremde Gut vogel
frei, wenn es nicht als unter dem besonderen Schutz irgendeines Beduinen
stehend nachgewiesen werden kann.
Die Karavanen können nicht auf dem
directen Wege von Bagdad nach Syrien ziehen, sondern schleichen auf
enormen Umwegen am Fuß der Gebirge, welche die Mesopotamische Steppe
im Norden einsäumen, einher und bemühen sich von den Kurden des GebirgS und den Beduinen der Wüste gleich weit entfernt zu bleiben. Aller
dings ziehen gelegentlich Karavanen durch die Wüste, dann aber müssen sie schwereren Durchgangszoll entrichten.
Auch der größte Theil vom
Lauf des Euphrat und Tigris ist in der Gewalt der Beduinen; um auf
den KellekS (Flößen, die von aufgeblasenen Ziegenbälgen getragen wer
den) vom Ufer auS nicht angeschossen zu werden, zahlt man bei KalatShirgLt den Beduinen einen Passage-Zoll.
Abgesehen davon, daß die Beduinen die nächsten und natürlichsten Handelswege verstopfen, sind sie die Ursache beständiger Unsicherheit des
Besitzes in den der Wüste angrenzenden Landschaften mit bebautem Boden. Wie kann der Bauer existiren, wenn er zugleich vom Türkischen und vom Beduinischen Steuereinnehmer auSgeplündert wird? wo bleibt der Lohn seiner Arbeit, wenn er zusehen muß, wie die Beduinen ihr Vieh auf
seinen in schönster Blüthe stehenden Aeckern weiden lassen, oder wenn sie
585
Aus Türkisch-Asien.
zur Erntezeit dasjenige, was er gemäht hat, fortschleppen ohne ihn eine-
Wortes zu würdigen?
Die Folge ist natürlich, daß ein Dorf nach dem
anderen verlassen wird und verödet.
An der unglaublichen Verödung von
Syrien und Mesopotamien tragen neben der Türkischen Verwaltung die
Beduinen die größere Hälfte der Schuld. Dies ist das Ergebniß der Türkischen Herrschaft über die Euphratund Tigris-Länder, das Resultat der Politik Türkischer Paschas mit den
Fürsten der Wüste.
Wenn die Beduinen einig und ökonomisch wären,
was sie beides nicht sind, wenn sie einen Führer mit organisatorischem
Talent, der die politische Zeitlage und die Ohnmacht des Sultan's über schaute, hätten, den sie nicht haben, so könnten sie leicht das klägliche Maaß Osmanischer Herrschaft, was in jenen Ländern noch übrig ist, vom
Erdboden wegfegen urib eine neue Dynastie in DamaScus, Bagdad und
Urfa etabliren. Eine bessere Regierung der Zukunft wird zunächst
die primärsten
Pflichten einer jeden Regierung, denen die gegenwärtige nicht gewachsen ist, zu erfüllen haben d. h. ihre Unterthanen beschützen und die Verkehrs wege sichern. Und diese Aufgabe würde einer Europäischen Regierung nicht schwer fallen. Eine Eroberung der Wüste ist kaum möglich, auch
nicht erforderlich, aber durch Errichtung kleiner Forts am Euphrat und Tigris, durch eine Transvcrsal-Linie von Forts zwischen DamaScuS, Dör und Moful, und andrerseits durch ein contractmäßiges Uebereinkommen
mit den Schaichs der Wüste würde jedes nur wünschenSwerthe Resultat
zu erreichen fein.
Im Gegensatz zu der bisherigen Praxis müßte strenges
Worthalten und strenge Ahndung jedes Wortbruchs die unerbittliche Grund
regel für den Verkehr mit den Beduinen sein. Eine andere Frage ist es, ob und wie weit es noch einmal gelingen wird, solche Landschaften, welche fruchtbaren Boden und genügende Wasser menge haben, die auch schon im Alterthum angebaut gewesen sind, wieder
unter die Cultur einer seßhaften Bevölkerung zu bringen; ich rechne hier
her die Stromgebiete des Euphrat und Tigris, des Chaboras und Bellch. Diese Territorien müßten den Beduinen abgenommen werden und die
erste Sorge für ihren Anbau müßte der Anlage von großen Waldungen
gewidmet sein.
Generation auf Generation hat Bäume gefällt, aber nie
mand hat Bäume gepflanzt, sodaß gegenwärtig im ganzen Euphrat-Thal kaum ein einziger Baum zu finden ist.
Nichts ist übrig geblieben, als
elendes Tamarisken-Gestrüpp, in dem Wildschweine und Wölfe Hausen.
Viel zahlreicher als die Beduinen sind die Kurden, von ihnen in
Gefichtsbildniig, Kleidung, Bewaffnung, Wohn- und Lebensweise durchaus Preußisch- 3-chrbucher. Bd. XLV1. Heft 6.
42
586
Aus Türkisch-Asien.
verschieden.
Als ich im Januar dieses Jahres, auS wer schneebedeckten
Wüste fliehend, am Westende deS im Centrum Mesopotamien'S gelegenen SindjLr-GebirgeS, zum ersten Mal auf Kurdischem Gebiet anlangte, war
ich frappirt von dem grellen Unterschied, und im Gegensatz zu den un heimlichen Teufelsanbetern
(denn das sind
kamen mir meine Beduinen wie traute,
die Kurden von SindjLr) liebe Menschen
vor.
Die
Gesichter, Verbrecherphysiognomien der schlimmsten Art, berührten mich
höchst unangenehm — ich
möchte sagen — durch ihren Europäischen
Schnitt; die Kurden sind bekanntlich Jndogermanen.
Während die Be
duinen einen nur dünnen, spärlichen Bartwuchs haben, tragen die Kurden kräftige, schwarze Schnurrbärte und Vollbärte.
Ihre Kleidung besteht auS
einem Hemd, einer Hose wie der unsrigen, aber bauschiger und über den
Knöcheln zusammengebunden; ferner tragen sie Bundschuhe und über dem
Hemd eine kurze, bis zur Hüfte reichende Jacke mit Aermeln, meist aus Ziegenfell gemacht, vorne offen und daselbst mit grünem Stoff und Gold
litzen geschmückt.
Die Kopfbedeckung ist eine runde Filzkappe, die in eine
hohe Spitze ausläuft; in der Regel wird um den unteren Theil derselben ein Tuch gewunden.
Während der Beduine außerhalb seines Zeltes stets
mit der Lanze erscheint, trägt der Kurde seine lange Luntenflinte auf
der Schulter,
außerdem ein krumm gebogenes Messer und eine lange
Pistole im Gürtel.
Sie wohnen im SindjLr-Gebirge in Steinhütten,
dagegen die Kurdischen Nomaden wohnen in Zelten, beren Construction
von derjenigen der Beduinen-Zelte verschieden ist.
Sie bauen im läng
lichen Viereck eine Mauer aus Feldsteinen bis zur Höhe von 3—4 Fuß, und über dieser Mauer schlagen sie das schwarze, auS Ziegenhaaren ge flochtene Zelt auf, während das Beduinenzelt direct über der Erde auf
geschlagen wird.
Die Kurden sind theils Nomaden theils ansäßige Ackerbauer;
sie
wohnen zum weitaus größten Theil in Gebirgen, gedeihen aber auch in
der Ebene.
Ihre geographische Verbreitung ist eine außerordentlich große;
sie wohnen in Syrien und Kleinasien, in Armenien und Mesopotamien,
in den westlichen Gebirgsländern Persien's bis weit gegen Süden hinab.
Ihre ungezählte Zahl mag sich auf mehrere Millionen belaufen. Der Religionen gibt es unter den Kurden so viele, daß man eine
bunte Musterkarte davon zusammenstellen könnte.
Ein großer Theil der
selben gehört innerhalb des Rahmens des Islam, denn viele Stämme sind Muslims vom Sunnitischen Ritus wie die Türken, mehr aber noch ge hören höchst wunderlichen, wenig bekannten, absichtlich geheim gehaltenen
Religionssystemen an, welche alle dem gemeinsamen Boden der Schia
entsprossen zu sein scheinen.
Hunderttausende von Kurden gehören aber
Au« Türkisch-Asien.
587
weder zum Islam noch zu einer sonst bekannten Religionsform, sondern
sind Teufelsanbeter, Ieziden genannt, Leute, die allen Ernstes den Teufel anbeten, damit er ihnen nichts böses anthue, und die ihn verehren unter
dem Shmbol eines Vogels aus Messing, Melik TLüS genannt.
Die
anderen Confessionen wissen wenig mehr von den Ieziden, als daß sie
sehr unangenehm werden, wenn man in ihrer Gegenwort daS Wort Satan
oder andere Wörter, die mit Recht oder Unrecht auf den Satan bezogen werden können, ausspricht; sie selbst wagen es nicht, ihren Gott und
Herrn bei Namen zu nennen.
Andersgläubigen gegenüber halten sie ihre
Lehre geheim, und man versicherte mich allgemein, daß ich möglicher Weise,
wenn ich sie um Mittheilungen über ihren Glauben und ihre Geschichte ersuchte, ein Bünde! von Lügen, aber sicher keine wahrheitsgemäßen Aus
sagen bekommen würde (— natürlich nur für schweres Geld). Eine Religion des Friedens kann diejenige der Ieziden nicht sein,
denn ärgere Raufbolde und Banditen sind taiitn zu denken.
Während
der Beduine nur im äußersten Nothfall Menschenblut vergießt, steht bei
den Ieziden Menschenleben sehr niedrig im Eurs, und fast möchte man glauben, daß ihre Religion den Mord eines Nicht-Ieziden als etwas ver
dienstliches preist.
Aber auch in ihren Beziehungen unter einander ist
Friede wohl nur ein AusnahmSfall.
Sämmtliche Dörfer des Sindjar-
Gebirges sind mit einander verfeindet; in Folge dessen kann kein Bauer sich über die Feldmark seines Dorfes hinauswagen und auch innerhalb derselben darf er sich nur mit Vorsicht bewegen, denn vielleicht liegt ein
Landsmann vom nächsten Dorf mit seiner langen Flinte hinter einem Stein und schießt ihn an.
Es war ein recht unheimliches Reisen unter
diesen wilden Gesellen, umsomehr als sie am Hunger litten und bereits auf
ihr
letztes Surrogat für Brod, auf die Eicheln ihrer Eichbäume
(Quercus vallonea) angewiesen waren.
Jeziden-Gegenden sind weithin
kenntlich durch kleine, weiß angestrichene, konische, etwa 6—8 Fuß hohe
und 3—4 Fuß starke Thürmchen auf niedrigem Sockel.
Dies sind die
Gräber ihrer als heilig verehrten Schaichs. Die Kurden sind noch niemals vollständig unterworfen worden. Ihre Botmäßigkeit gegen die Türkei und Persien ist eitel Schein; nicht allein
in ihren schwer zugänglichen Gebirgen, sondern sogar in den Ebenen
haben sie zum größten Theil ihre Unabhängigkeit sich zu erhalten gewußt. Ein wenig zahlreicher Stamm, die Hamdan- Kurden, hatten ihre Be theiligung an dem letzten Türkisch-Russischen Kriege dazu benutzt, auf den
Schlachtfeldern gute Gewehre und Munition zu sammeln, auch sonst als die Raben der Schlachtfelder zu rauben, was eö zu rauben gab, unvertheidigte Dörfer zu überfallen und dann siegreich heimzukehren in ihre 42*
588
Ans Türkisch-Asien.
Wohnsitze in der Gegend von Kerkük (zwischen Mosul und Bagdad).
Sie
rebellirten im Herbst 1879 gegen die Türkische Regierung und jagten
ihre Steuereinnehmer und Gensdarmen davon.
gierung Infanterie und Artillerie.
Darauf schickte die Re
Es kam zu einem regelmäßigen Ge
fecht, die HamdLn schlugen die Truppen in die Flucht und eroberten die
Kanonen.
Da nun aber dies Gesindel die Straße zwischen Mosul und
Bagdad beherrscht und, falls diese Straße versperrt würde, in Europa
ein unangenehmer Lärm geschlagen werden könnte, so hat der Sultan die Hamdün-Kurden, welche ganze 800 Mann in das Feld stellen sollen, auf andere Weise bezwungen: er gibt ihren Anführern bedeutende Geldsummen,
damit sie sich ruhig Verhalten.
Die politischen Zustände unter den Kurden erinnern sehr an das in der neueren Geschichte der Türkei bekannte Treiben der Derebegs in Klein
asien, dem von Sultan Mahmud, dem Großvater des jetzt regierenden,
ein gewaltsames Ende bereitet wurde.
ES gibt in Kurdischen Ländern
Tausende von kleinen Feudalherren, die über größere und kleinere Land striche, oft nur über ein Dorf gebieten, und alle insgesammt, groß und klein, leben unter demselben Recht: dem Recht des Stärkeren.
Mitten in einem großen Dorf erhebt sich ein stattliches, burgartigeS Gebäude aus mehreren Abtheilungen bestehend, mit kleinen Löchern in den Mauern,
die eventuell als Schießscharten dienen.
Das Parterre
ist der Raum für die Thiere und Dienerschaft, eine Treppe hoch ein
großer Empfangssaal für Versammlungen und Gäste, außerdem die Räum
lichkeiten für die Familie.
Hier wohnt der Agha mit seinen Frauen,
seinen Kindern und Kindeskindern, mit ihren Familien und ihrem Troß. Seine Macht und sein einziger Rechtstitel für dieselbe besteht darin, daß
er über eine große Anzahl von schlagkräftigen Armen gebietet.
Der Agha
regiert das Dorf, vielleicht auch noch einige Dörfer der Umgegend
zur Machtsphäre des nächsten Aghas.
bis
Er und seine Söhne reißen alles
an sich, dessen sie habhaft werden können; während sie gegen die eigenen
Stammesgenossen immerhin gewisse Rücksichten zu beobachten haben, fällt dies weg gegenüber den Christen, die das Unglück haben unter ihnen zu
wohnen.
Dies sind Syrer in zwei Abtheilungen: Jacobiten und Nesto
rianer, und Armenier.
Den Christen gegenüber haben die Kurden den
Vortheil, das Soldaten- und Räuber-Handwerk besser zu verstehen,
im
Allgemeinen reicher zu sein und die Osmanischen Staatsbehörden, wo es solche gibt, iit jedem Fall auf ihrer Seite zu haben.
Die Beamten stehen
natürlich in jeder Streitsache von Moslems gegen Christen auf Seite der
ersteren, und werden dafür von den Kurden mit einem Antheil an der
Beute bedacht.
In manchen Gegenden können sie sich nur dadurch aufj
Aus Tiirkisch-Lsien.
589
ihren Posten erhalten, daß sie sich gänzlich den Kurden in die Arme werfen,
denn wenn sie etwas gegen dieselben unternehmen wollten, würden sie fortgejagt.
Schließlich kommt auch noch der Fall vor, daß die Regierung
Kurdische Aghas selbst 511 ihren Beamten ernennt.
Unter diesen Um
ständen sind die Christen einer brutalen Majorität von Kurden aussichts
los überantwortet, und sie wären vermuthlich schon längst von der Karte verschwunden, wenn nicht glücklicher Weise die Kurden unter sich selbst bis
zu dem Grade uneinig wären, daß in der Regel der eine Agha der Feind des anderen ist. Die Kurden haben Christenblut in solchen Strömen vergossen,
daß man Mühlen damit treiben könnte, und nicht zum letzten Mal! — Es gibt nur eine Agha-Familie, deren Name unter allen Kurden
stämmen einen so mächtigen Klang hat, daß es einem unternehmenden Mitgliede derselben leicht gelingen könnte, eine bedeutende Rolle zu spielen:
die Familie des Bedr Khan, der in den dreißiger und vierziger Jahren unseres Jahrhunderts als Fürst von BuhtLn in Djezire am Tigris sein
Unwesen trieb.
Er war neben einem Kurden ein fanatischer Muselmann,
und hatte es auf die Bekehrung, oder Vernichttmg der Christen jener
Gegenden abgesehen.
Der jämmerliche Zustand, in dem sie jetzt leben,
ist größtenthcilö sein Werk.
'Nach endloseit Christenschlächtereien ließ die
Türkei in Folge Europäischer Pression gegen ihn marschiren; er gerieth
in die Hände der Türken und wurde nach Kreta exilirt, wo
Wissens gestorben ist.
er meines
Es existirt aber eine zahlreiche Nachkommenschaft
von ihm; einen seiner Neffen lernte ich
als Oberst
eines Türkischen
Infanterie-Regiments in Urfa kennen, und wenn irgendeine Familie im
Orient der Familie Osman's gefährliche Concurrenz machen könnte, so
ist es die Familie Bedr-Khrin's. ein blinder,
Thaten.
Ein alter Waffenbruder von
vielleicht neunzigjähriger Greis
ihm,
erzählte mir von seinen
Es wäre wohl unvorsichtig gewesen, im Hause dieses Mannes
abzusteigen, wenn nicht kurz vorher die Türkische Regierung neun Mit
glieder seiner Familie gepackt und in dem weit entfernten Aleppo hinter
Schloß und Riegel gesetzt hätte.
Ich erfreute mich der gastlichsten Auf
nahme, weil man mich für einen Commissär der Türkischen Regierung hielt. Bon der Betheiligung der Kurdenstämme an dem letzten TürkischRussischen Kriege ist bereits oben die Rede gewesen.
Dieser Umstand
liefert die Erklärung dafür, daß man in dm letzten Jahren die Kurden vielfach im Besitz von ausgezeichneten Gewehren neuester Construction
(z. B. von Henrh-Martini Gewehren) gefunden hat — zum Schrecken der Umwohnenden und der Türkischen Regierung.
Auch in den Berichten
über den neuesten Aufstand der Kurden gegen die Persische Regierung wird diese Thatsache erwähnt.
590
Aus Türkisch-Asien.
Für Europäische Leser ist noch auf eine andre Rolle hinzuweisen,
welche den Kurden je nach den Wandlungen der Politik Europa'S zufällt.
Wenn die Mächte der Pforte eine Niederlage bereiten, wenn die Staats männer der Türkei durch die Regierungen Europa'S besonders contre-
carrirt oder verletzt worden sind,
dann lassen sie die Kurden auf die
Christen loS, und die Christen im Orient kühlen das Bad für die christ lichen Mächte Europa'S.
Die Beamten
der Türkei sind größtentheils
fanatische Moslems, um so mehr je mehr sie von der Uebermacht Europa'S ein Verständniß haben und in ohnmächtigem Grimme zusehen müssen, daß die Dinge der großen Politik den Verlauf nehmen, den Europa bestimmt.
Die Türkischen Beamten in Kurdischen Ländern
haben in der Regel
wenig Macht, aber dadurch sind sie bedeutsam, daß sie die Kurden auf
hetzen und ihnen für jedes Unrecht von vornherein Ungestraftheit sichern. Was die Wirthschaft Kurdischer AghaS für Blüthen zu treiben vermag, ist neuer
dings wieder durch die officiellen Berichte des Englischen ConsulatS in Di-
jarbekr bekannt geworden.
Musterberichte der Art finden sich im Englischen
Blaubuch, Türkei Nr. 10, 1879, S. 110.115. Ich selbst war nicht weit ent
fernt, als die Kurden ein christliches Dorf- niederbrannten.
Sie über
fallen ein Dorf, rauben eö complet aus und stecken es in Brand; die
männliche Bevölkerung wird niedergemacht, die Weiber und Kinder wer
den mitgenommen.
Die Sache kommt zur Kenntniß des nächsten, viele
Meilen weit entfernten Englischen Consuls. stantinopel.
Er telegraphirt nach Kon
Der Gesandte schickt seinen Dragoman in das Ministerium
und läßt Beschwerde führen.
Der Minister ist entrüstet wie der Drago
man, er verspricht Berge: strenge Untersuchung und Ahndung.
Dann
Fortsetzung hinter den Coulissen: Ist der Dragoman fort, so zündet sich
der Minister eine neue Cigarrette an und freut sich, daß wenigstens die
Giaurs in Asien die Behandlung erfahren, die ihnen von Rechts- und von Gottes Wegen gebührt, eine ausgleichende Gerechtigkeit des Schicksals dafür, daß es den GiaurS in Europa so schmählich gut geht.
Mittler
weile ist an Ort und Stelle das Geschäft erledigt: die Kurden haben die
Aecker in Besitz genommen, die Weiber unter ihre Harems vertheilt
und die Kinder zu Moslems gemacht.
Vielleicht schreibt der KLimmakum
des DistrictS noch einen schön stilisirten Bericht an den Provincial-Gouverneur über bedauerliche Raufereien unter den Bauern jener Gegend, jedoch die Christen hätten angefangen, hätten einen Moslem geschlagen!! Nun, wenn die Christen die sacrosancte Person eines Moslem geschlagen
haben, so waren natürlich die Kurden im Recht sie zu bestrafen u. s. w. Die Sache ist längst abgethan, eö wächst schon Kurdischer Weizen auf christ
lichen Aeckern, aber die Schreiberei dauert vielleicht noch eine Zeit lang fort.
591
Au« Türkisch-Asien.
Trübe ist daS Bild, das diese Zeilen zu
trüber ist noch die Wirklichkeit.
entwerfen suchen, aber
Die Kurden sind herrenlos, gehorchen
nur der brutalen Gewalt und würden auch einer stärkeren Regierung als der Türkischen große Schwierigkeiten machen.
Vor allen Dingen müßte
schlagfertiges Militär in Erzerum, Wan, DijLrbekr, Bidlis, Mardin, Djezire und Amedia stationirt, und unter dem Befehl eines Europäischen
OfficierS ein drakonisches Regiment eingeführt werden: Dinge, zu denen die jetzige Regierung einerseits nicht den Willen, andrerseits nicht die
Mittel hat.
Mit den Armeniern
gelangen wir auf bekannteres
Gebiet;
der
Berliner Congreß hat sich mit ihnen beschäftigt, unsere Zeitungen sprechen
von einer Armenischen Frage und auch in den diplomatischen Noten der
Türkei wird sie erwähnt d. h. als bestehend anerkannt.
Die Armenier
sind daS neueste Schmerzenskind der Türkei. Während die Beduinen und Kurden, rohe Hirten und Bauern, keiner
lei geschriebene Literatur besitzen, haben die Armenier eine umfangreiche
Literatur, deren Anfänge bis in das vierte christliche Jahrhundert zurück reichen.
Sie zählen außerdem zu den ältesten Völkern der Christenheit,
denn ihre Bekehrung durch Gregorius Illuminator fand schon zu Anfang desselben Jahrhunderts Statt.
Ihre Kirche, die sich selbstständig d. h. un
abhängig von Konstantinopel und von Rom entwickelt hat, war zu allen
Zeiten das Banner, um das die ganze Nation sich schaarte; die Kirche hat die Armenische Nationalität vor dem Untergang bewahrt und aufrecht
erhalten in all der Trübsal und Knechtung, aus der die Armenische Ge schichte seit dem Aufhören des nationalen Königthums im Jahr 428 in
der Hauptsache besteht.
Die geographische Lage ihres Vaterlandes brachte
es mit sich, daß sie meistens zwischen zwei streitenden, größeren Mächten in der Mitte standen, zuerst zwischen Römern und Parthern, dann zwischen Römern und Persern, Griechen und Arabern, Türken und Persern, und
neuerdings zwischen Russen und Türken.
Die Armenische Kirche hat sich vor den Spaltungen bewahrt, welche
das Syrische Volk in zwei einander vollkommen entfremdete Nationen ge trennt hat; sie ist bis auf den heutigen Tag ungetheilt, autokephal, und hat
ihr höchstes Oberhaupt in dem Patriarchen von Etschmiadzin, einer kleinen
Ortschaft in Russisch-Armenien.
Bedeutsamer als der Patriarch, dem auf
Russischem Gebiet vielfach die Hände gebunden sind, ist sein Vertreter,
der Erzbischof in Constantinopel,
in Wirklichkeit das
ganzen Armenischen Nation in der Türkei.
Oberhaupt der
Einige Armenier haben sich
der Römisch-katholischen Kirche, andere dem Protestantismus angeschlossen,
592
Aus Türkisch-Asien.
aber ihre Zahlen sind gering im Verhältniß zu denen der nationalen
Kirche. Die Armenier haben vor den Jacobiten und Nestorianern den Vor
theil voraus, daß sie im eigentlichen Armenien und in Cilicien in com
Außerhalb dieser beiden Länder sind
pacten Massen zusammen wohnen.
sie weit zerstreut, ja man kann sagen, daß sie nächst den Juden die zer streuteste und verbreitetste aller Nationen des Orients sind.
Sie wohnen
in Rußland, Kleinasien, Constantinopel, Polen, Galizien, Ungarn (die für
die letztgenannten drei Länder erforderliche Geistlichkeit
wird in einem
Kloster in Wien ausgebildet), in Syrien, Mesopotamien, Persien und
Indien; vereinzelte Colonien finden sich
Venedig, London und anderswo.
auch in Alexandrien,
Triest,
Die Armenische Frage bezieht sich nicht
auf die Armenier der Diaspora; diese scheinen überall in den besten Ver
hältnissen zu leben. Verkehr weltbekannt.
Ist doch das Talent der Armenier für Handel und Die meisten Colonien sind wohlhabend und durch
ihre Mittel in den Stand gesetzt, ihren Landsleuten im eigentlichen Ar
menien zu helfen.
Dorthin führt uns die Armenische Frage,
an den
Ararat, nach Erzerüm, an den Wan-See. Zwei Dinge sind das Unglück Armeniens, zunächst die Kurden, die
fast überall neben und unter den Armeniern wohnen und sich von Jahr zu Jahr weiter ausbreiten.
Das
oben geschilderte Treiben Kurdischer
AghaS steht dort in vollster Blüthe und ist neuerdings besonders durch die Berichte Englischer Consuln bekannt geworden.
Alle Lasten, welche eine
Ortschaft zu tragen hat, z. B. an Steuern und Kriegsleistungen, werden
den Armeniern aufgezwungen.
Besonders
arg
ist die Wirthschaft der
AghaS in solchen Gegenden, wo die Türkei sie quasi als Districtsbeamte
z. B. für die Erhebung der Steuern behandelt, was ihnen eine Handhabe gibt, das Doppelte und Dreifache oft unter unglaublichen Mißhandlungen
den Armenischen Bauern zu entreißen.
Es ist eine constatirte Thatsache,
daß sie an vielen Orten die Armenier zu Frohndiensten auf ihren Feldern
und zu ihren Bauten zwingen.
Vor den Kurden ist weder Kirche noch
Haus sicher, weder Leben noch Besitz, weder Weib noch Kind.
Zu dem
nächsten KLimmakam zu gehen und Beschwerde zu führen ist für den Ar menischen Bauer in einer entlegenen Gebirgsgegend gänzlich ausgeschlossen;
er würde nicht hingelangen, sondern auf dem Wege ausgeraubt, ver wundet, vielleicht erschlagen, und wenn er wirklich hingelangte, würde ihm
seine Beschwerde im besten Fall nichts nützen. Ob und wo in dem eigentlichen Armenien Tscherkessen-Colonien an
gesiedelt sind, ist mir nicht bekannt; eS muß aber wohl der Fall sein,
denn in dem Artikel 61 der Berliner Congreß-Acte ist auch von der
593
AuS Türkisch-Asien.
Sicherung der Armenier gegen die Tschcrkessen die Rede.
Ueber Tscher-
kessen-Colonien könnte ich aus eigener Erfahrung wunderliche Dinge be
richten; ich will hier nur bemerken, daß sie ebenso gemeinschädlich sind Ihr Treiben hat aber nicht den feudalen Anstrich des
wie die Kurden.
jenigen der Kurdischen AghaS, sondern sie sind zum größten Theil gemeine Wegelagerer und Banditen.
Die zweite Ursache des Elends im eigentlichen Armenien, das selbst
verständlich durch den letzten Krieg gewaltig gelitten hat, ist dieselbe wie
überall im Türkischen Reich:
die Türkischen Behörden.
In jenen Ge
genden, wo ihre Macht nur scheinbar ist, dagegen alle wirkliche Macht in den Händen der Kurden liegt, dienen sie nur dazu, die Gewaltacte der Kurden zu legalisiren, während sie in jenen Districten, die als thatsächlich
dem Sultan Unterthan angesehen werden können, das Volk auf
eigene
Türkische Beamte sind in der Regel nicht im Stande
Rechnung plündern.
auch nur das mindeste von demjenigen zu leisten, was in Europa als die Pflicht eines Beamten gilt, da der Türkische Staat eine bestimmte, aka demische oder technische Vorbildung für den Civildienst ebenso wenig kennt
wie
Staats-Examina.
jobbery oder Kauf,
Jede Anstellung
im
Staatsdienst beruht
auf
und daß aus einem Pfeifen-Anzünder ein Pascha
werden konnte, ist noch gar nicht lange her.
Es liegt sehr nahe, daß die Armenier diesseits und
jenseits der
Russischen Grenze ihre beiderseitigen Zustände vergleichen: auf Russischem Gebiet Sicherheit des Lebens und Besitzes, eine geordnete Administration, Sicherheit der Wege, des Handels und Verkehrs u. s. w., lauter Dinge,
die der Türkische Armenier schmerzlich vermißt.
Trotzdem — und dies
ist eine Thatsache, welche die Türkischen Staatsmänner wohl beherzigen sollten — gibt es keinen Armenier, welcher die Annexion an Rußland dem Verbleiben bei der Türkei vorzieht.
Die Armenier wünschen die
Unterthanen des Sultans zu bleiben und perhorresciren die Idee, unter das Scepter des Czaren zu gerathen.
sicht in den Kreisen der übrigen Europa.
Dies ist auch die herrschende An
gebildeten Armenier
am Bosporus
und im
Der Grund hiervon ist die Befürchtung, daß
die
Russische Regierung, wie sie in Polen die Römisch-Katholische Kirche ver folgt und langsam vernichtet, so auch die nationale Kirche der Armenier
durch die Russische Staatskirche verdrängen werde.
Die Religion ist so
sehr das höchste Palladium der Armenier, daß sie Angesichts dieser Ge
fahr alle materiellen Vortheile der Zugehörigkeit zu Rußland aus den Augen setzen.
Der Russische Staat will nur eine Religion innerhalb
seiner Grenzen, wenigstens nur eine christliche.
Die Armenische Kirche ist
während anderthalb Jahrtausend und mehr in der Unterdrückung durch
594
Aus Türkisch-Afien.
barbarische Völker nicht zu Grunde gegangen; noch ruft trotz Türken und Kurden in allen Thälern des Armenischen AlpenlandeS daS Glöcklein be
scheidener Kapellen zu dem Gottesdienst herbei, den der große Gregor eingesetzt, zu den Gebeten und Gesängen, welche die Heiligen ihres Volkes gedichtet haben.
Wird aber dies uralte Christenthum den systematischen
Verfolgungen einer Europäischen Großmacht widerstehen? — Daß abge
sehen von diesem religiösen Interesse wenigstens bei den leitenden Kreisen
in Constantinopel noch ein anderes, ein ganz weltliches im Spiel ist, darf nicht verschwiegen werden.
Die dortigen Armenier sind Bankiers, die
zwischen den drei Geldkursen der Türkei vermitteln, auch Geld borgen zu beliebig hohen Zinsen.
Es ist
einleuchtend, daß das Geschäft dieser
Menschen, die am Bosporus vor Mißhandlungen und Bedrückungen voll kommen gesichert sind, in einer bankerotten StaatSwirthschaft wie der
Türkischen mehr florirt, als es in irgend einem anderen Europäischen
Reiche, selbst in Rußland, möglich wäre.
Die Türkische Regierung hilft
sich durch Borgen aus einer Geldverlegenheit in die andere; sie borgt be
ständig, und zwar bei den Armenischen Bankiers am Bosporus.
Die Armenier sind ein hochbegabtes Volk; sie sind tüchtige Land leute, — von allen Dörfern, die ich kennen gelernt, waren die von Ar
menischen Bauern bewohnten die blühendsten —, sie sind ausgezeichnete
Geschäftsleute und würden sich, ich zweifle nicht, an jedem Zweige des
öffentlichen Lebens in Europa mit Auszeichnung betheiligen können.
Sich
ihrer Bestrebungen zur Gewinnung eines menschenwürdigen Daseins speciell
im eigentlichen Armenien anzunehmen ist eine Pflicht der Humanität, und waS sie begehren, ist durchaus loyal und berechtigt.
Sie wollen als die
Unterthanen seiner Majestät des Sultans alle Lasten des Staates willig
tragen, sie wollen treu zu ihm halten, ohne nach der Russischen Grenze hinüber zu schielen, aber sie verlangen dafür als Gegengabe ungestörte Ausübung ihrer christlichen Religion, Sicherheit der Ehre ihres Hauses, ihres Lebens und Besitzes.
Es liegt auf der Hand für jeden, dem es
nicht gleichgültig erscheint, daß die Russen in wenigen Decennien die
ganzen Südufer des Schwarzen Meeres occupiren, ein wie bedeutsamer Factor in der nächsten Geschichte des OSmanenreichs die Armenische Frage
ist.
Bleiben die Zustände in Armenien, wie sie sind, so fällt eS heute
oder morgen Rußland anheim.
Gelingt es aber den Türkischen Staats
männern, die Frage befriedigend zu lösen, so werden sie dadurch für die
Sicherung ihrer Grenzen, der Grenzen des Kernlandes ihres Reiches:
Kleinasien's, außerordentlich viel gewinnen.
Das in dem Artikel 61 der
Berliner Congreßacte von der Pforte gegebene Versprechen, für Armenien
sorgen zu wollen,
hat bisher nur die eine Folge gehabt,
daß Baker
Aus Türkisch-Asien.
595
Pascha zu Ende des vorigen und zu Anfang dieses JahreS eine Reise durch Armenien und KLrdistan gemacht hat,
eine jener vielen, durch
Europäischen Druck veranlaßten, gänzlich fruchtlosen CommissionS-Reisen, an denen die neueste Geschichte der Türkei reich ist.
Von den Beziehungen deS Hauses Osman's zu diesen drei Völkern, den Beduinen, Kurden und Armeniern, wird das Schicksal seines Asiati schen Reiches in Zukunft abhängen.
Wenn der Sultan überredet werden
könnte, nicht mehr die Europäischen Provinzen als den Kerntheil seines
Reiches anzusehen, in Europa mit den Mächten und Nationen, z. B. auch mit den freundlosen Griechen, ein ehrliches, befriedigendes Abkommen zu treffen, statt dessen seine ganze Aufmerksamkeit Asien zuzuwenden und dort
die Verhältnisse zu organisiren, so würden neue Zeiten der Blüthe, des
Wohlstandes und
der Macht für sein Haus möglich werden.
Sein
Asiatisches Reich ist, ich wiederhole es, unendlich groß und reich an Re-
sourcen, und um Stambul braucht er nicht besorgt zu sein; der Wider
streit der Mächte wird es ihm ohne sein Zuthun erhalten.
Dazu ist aber
eine vollkommene Umkehr in der Verwaltung erforderlich.
Ohne
eine
solche geht der Stern Osman's sicher und unaufhaltsam dem Untergang
entgegen, und es ist mit Bestimmtheit vorauszusagen, daß Kleinasien und Shrien- Mesopotamien unter irgend eine Form
eines Protectoratö be
ziehungsweise von Rußland und England gerathen werden.
In dem Pariser Frieden, im Berliner Congreß und noch in unseren Tagen in allen Noten, welche die augenblickliche Verlegenheit der Pforte
erpreßt, hat sie Himmel und Erde an Reformen versprochen.
Sie hat
auch seit 1856 einiges geändert, aber gebessert nichts, nichts was ihr nicht
durch die Europäischen Cabinette abgezwungen wäre.
Ihre Versprechen
leiden an dem Capitalgebrechen: sie sind unausführbar, und nur dazu be stimmt,
der öffentlichen Meinung in Europa Sand in die Augen zu
streuen.
Wenn die Europäischen Regierungen, die durch die Berichte ihrer
Consuln und Consular-Agenten vollkommen unterrichtet sind, auf solche
Spiegelfechtereien eingehen, so geschieht es, weil ihnen schließlich jeder Modus recht ist, um die dornenreiche Orientfrage wenigstens für eine Zeit
lang wieder bei Seite zu schieben, und weil sie sich nicht verpflichtet
fühlen, die Interessen der Christen im Türkischen Reich zu wahren und ihretwegen sich Unannehmlichkeiten auszusetzen.
ES ist nicht meine Absicht, auf die Gebrechen der Türkischen Ver waltung näher einzugehen; nur zwei Punkte möchte ich berühren, die auch
schon vielfach in der Europäischen Presse behandelt worden sind.
Zunächst
596
Aus Türkisch-Asien.
das, was man tm Orient das Essen der Beamten nennt, sagen wir:
ihre Bestechlichkeit. Das Orientalische Staatsrccht hat nie verlangt, daß der Beamte vom Staat besoldet werde, sondern die Kosten der Beamten waren von den Untergebenen zu bestreiten.
Dies war der officiell anerkannte Zustand
bis zum Jahre 1838, wo Sultan Mahmud den Europäischen Grundsatz
„Der Beamte sei von der Regierung zu unterhalten,
aufstellte:
nicht
von seinen Untergebenen", und mit der Durchführung dieses Grundsatzes
sofort einen Anfang machte.
Was also jetzt als Verbrechen gilt, war vor
50 Jahren noch ein allgemein anerkannter Satz des öffentlichen Rechts.
Es wird Niemand Wunder nehmen, daß der Uebergang von der ein
heimischen, altorientalischen Praxis zu der fremden, Europäischen inner halb eines halben Jahrhunderts nicht vollständig
durchgeführt
konnte, und so liegt in dieser Genesis eine Art Entschuldigung.
werden Auch
dürfen wir Europäer uns nicht zu sehr überheben und nicht vergessen,
daß wir die Blüthe des Sportelwesens noch gar nicht so weit hinter uns haben. Eine andere Entschuldigung ist die,
Staat seine Beamten nicht bezahlt.
daß thätsächlich der Türkische
Ich war eines Tages
bei
einem
Pascha in einer Gouvernements-Stadt, als daö Geld zur Besoldung deS Militärs und der Beamten eben angekommen war.
Der Secretär trat
ein und meldete, es sei nur die Hälfte der erwarteten Summe einge
troffen, und bat um Verhaltungsmaaßregeln.
Da befahl der Pascha:
„Das Geld, was da ist, bekommen die Soldaten; die anderen können
Der Pascha hatte Recht, aber auch die Beamten hatten Recht,
gehen."
wenn sie nun die Existenz-Mittel, die ihnen der Staat versagte, aus den Unterthanen erpreßten.
Es war eben das Ende deS Staates, der Anfang
des Räuberhandwerks. Derselbe Pascha sagte mir:
„Wenn ich z. B. einen notorischen Ver
brecher zur Rechenschaft ziehen will, so schicke ich einen GenSdarmen in
sein Haus, ihn holen zu lassen. Meldung:
Der GenSdarm kommt zurück mit der
„Herr, der N. N. ist nicht da".
Der betreffende hat dem
GenSdarm einige Piaster gegeben und sitzt ganz vergnügt in seinem Hause.
WaS soll ich machen? ich kann doch nicht selbst gehen und jeden
Lumpen beim Kragen nehmen."
Dies führt mich auf den zweiten Gegen
stand, auf die vollständige Vernachlässigung der Gensdarmerie (Zaptijje genannt)
von
Seiten
der
Regierung.
Ihre
Besoldung
bestand
im
Februar 1879 nach dem Buchstaben der Verordnung in 70 Piaster KAme
(— 3 Englischen Schilling) und einer Brodration: auch nicht annähernd ausreichend für die Bedürfnisse des Mannes.
Aber selbst dies wenige
Au« Türkisch-Asien.
wurde ihnen nicht bezahlt.
597
Im Frühling dieses Jahres hatten die GenS-
darmen in Kurdistan seit l'/2 Jahren keinen Sold mehr bekommen. fand sie in Dörfern an der Landstraße
kleinen Trupps
Ich
in gewissen Entfernungen
in
wo sie die Obliegenheit
von 4—6 Mann stationirt,
hatten, das Postfelleisen bis zur nächsten Station weiter zu befördern. Da die Regierung ihnen nichts gab,
so mußte das Dorf, in dem sie
lagen, sie ernähren; durch Diebstahl oder Prügel verschafften sie sich daS nöthige von den Bauern, und da zu jener Zeit die Bauern selbst hun gerten, so hungerten die Gensdarmen mit ihnen.
Der größte Theil ihrer
Pferde war verendet, so daß sie das Postfelleisen auf ihren Schultern be fördern mußten.
Flehend baten sie mich dem nächsten Pascha oder Küim-
makum ihre Lage vorzustellen, was ich auch zuweilen gethan habe, aber
was half es?
Pascha und K-rimmakrim hatten selbst nichts.
Die Ver
armung war so groß, daß man z. B. in der Provinzialhauptstadt DijLr-
bekr nicht im Stande gewesen wäre, auch nur einige hundert Soldaten
marschiren zu lassen, und daß die Infanteristen in Djezire mich nicht be gleiten konnten, weil sie kein Fußzeug hatten.
In Djezire verfügte der KüimmakLm über 6 Gensdarmen.
Zwei
saßen im Kerker, und vier erschienen in der Frühe mich zu begleiten und
gegen die Jezidischen Banditen zu beschützen. Wegsstunden stürzten die Pferde von
Stelle — am Hungertod;
nehmen und zurückwandern.
Innerhalb der ersten zwei
zweien und verendeten auf der
die Reiter mußten ihnen das Sattelzeug ab Die beiden anderen brachten es fertig, bis
Mittag sich mühsam hinter meiner kleinen Karavane herznschleppen. Man kann sich vorstellen, wie wirksam diese beiden verhungerien Reiter auf
ihren verhungerten Gäulen mich vertheidigt haben würden, wenn es den Jeziden beliebt hätte, mich anzugreifen.
In Dijurbekr bestand eine Diebsbande aus christlichen Strolchen und Moslemischen Gensdarmen; die ersteren drangen in die Häuser ein und
räumten aus, während die letzteren vor der Thür Wache hielten.
Das
Geschäft war gut organisirt, denn auch die Richter der nächsten Gerichts
höfe waren Theilhaber an demselben (Englisches Blaubuch). Die Beschreibung, welche diese Zeilen von dem Zustande der Polizei
geben, paßt in gleicher Weise auf alle Instanzen der Justiz und Verwal tung, seien es einzelne Personen oder Collegien (Medjlis).
Daß seit 1856
an vielen Orten den städtischen Collegien christliche Mitglieder einverleibt
sind, hat an den bestehenden Zuständen nichts geändert; die Christlichen Mitglieder dürfen nichts wagen und wagen nichts als dasjenige zu be stätigen, was die Muhammedanische Majorität beschließt.
Für eine Reform deS Türkischen Staates in Asien, für seine Er-
598
Aus Türkisch-Asien.
Haltung und Regeneration sind — abgesehen vom guten Willen — zwei Dinge erforderlich: Geld und Beamte, und beides hat der Sultan nicht. Soll etwas geschehen, um die Gegenwart zu heben und die Zukunft zu
sichern, so muß man sich zu folgenden Dingen entschließen:
1.
Zu bedingungslosem Staatsbankrott.
Das Odium dieser
Maaßregel würde dadurch gemildert, daß die Gläubiger der Türkei ihre Darlehen meistens unter so Vortheilhaften Bedingungen gemacht haben,
daß sie durch die bisherigen Zinszahlungen ihre Capitalien zum Theil schon zurückerhalten haben.
2.
Zur Anstellung von Europäern für alle wichtigsten Stellen
des Civil- und Militär-Dienstes d. h. solcher Europäer, welche einen guten Namen für Rechtlichkeit, Kenntnisse und Talente zu verlieren haben. 3.
Zur Heranbildung von Beamten aus den einheimischen
Bevölkerungen unter Leitung dieser Europäer.
In den Medresen von
Stambul kann sich ein junger Türke wohl zum Fanatiker, aber sicher nicht
zum brauchbaren Beamten ausbilden. Es wäre Phantasterei zu glauben,
männer sich freiwillig zur Ausführung
daß jemals Türkische Staats dieser drakonischen Mittel ent
schließen werden, aber vielleicht wird die Pflicht der Selbsterhaltung sie
eines Tags nöthigen, sich mehr oder weniger nach der Richtung hin zu bemühen, welche diese Sätze angeben.
Daß freilich die Anstellung von
Europäern in Türkischen Diensten ganz besondere Schwierigkeiten bietet,
hat sich wiederholt gezeigt.
Es wurde im vorigen Jahr, ich meine, von
der Englischen Regierung, der Plan angeregt, Europäische Inspektoren an zustellen und zur Ueberwachung der Verwaltung
schicken.
in die Provinzen zu
Die Pforte erklärte sich bereit, aber sie stellte das Verlangen,
daß man ihr solche Europäer zu Inspektoren gebe, welche der Türkischen Sprache mächtig sind. Dies Verlangen war berechtigt, aber dadurch wurde die Sache unmöglich, denn solche Europäer, die sich zu Inspektoren eignen
und zugleich die nöthigen Kenntnisse in Orientalischen Sprachen haben, gibt eS nicht.
Ueber das Capitel der Türkischen Sprache ließe sich außer
ordentlich viel sagen, im Besonderen ließe sich ohne Schwierigkeit nach
weisen, daß eS grade die Sprache ist, welche dem Fortschritt des Volkes
große Schwierigkeiten in den Weg legt. Zum Schluß noch ein Wort über die Christen des Orients im All
gemeinen. Statistische Angaben über orientalische Dinge sind bekanntlich mit
großer Vorsicht aufzunehmen.
Selbst mit Hülfe der Türkischen Steuer
listen ist eS nicht möglich, auch nur annähernd richtige Bevölkerungszahlen zu finden, da in diesen nur die erwachsenen Individuen männlichen Ge-
599
AuS Türkisch-Asien.
schlechts angeführt
werden.
Fragt man in einer orientalischen Stadt
nach der Einwohner-Zahl, so meint der eine 20,000, der andere 70,000
u. s. w. ad libitum.
Unter den jetzigen Verhältnissen ist eS das richtigste,
sich nach der leichter zu controlirenden Häuserzahl zu erkundigen; man
rechnet im Orient selbst fünf Seelen als die Durchschnittszahl der Be
wohner eines Hauses. Es ist demnach unmöglich, über das Mischungsverhältniß von Christen
und Moslemen ein Urtheil abzugeben.
Beide wohnen neben und unter
einander von Scutari bis an die Persische Grenze.
Für das Land ist es
eine Ausnahme, wenn beide Konfessionen in demselben Dorf vereinigt
Das
sind; in der Regel wohnen sie getrennt in besonderen Ortschaften. eine Dorf ist christlich, das andere muhammedanisch.
Dagegen in den
Städten wohnen sie neben einander, zum Theil in gesonderten Quartieren wie in Aleppo und Mosul, zum Theil ohne jede räumliche Scheidung wie
in Mardin.
Jedenfalls ist das Christenthum so zahlreich vertreten, daß
mir nicht eine einzige Stadt im vorderen Orient bekannt ist,
in der
nicht neben den Moslems auch Christen wohnen.
Der weitaus größte Theil des Großhandels, z. B. der Export von Galläpfeln, Rohseide, Baumwolle, Wolle und Getreide, ist in den Händen
der Christen, dagegen im Kleinhandel in den Bazars sind auch
die
Muhammedaner in bedeutenden Zahlen vertreten.
Die Gewerbe sind Schmiede,
fast
überall christlich.
Maurer, Zimmerleute,
Weber, Färber, Schneider, Schuster u. s. w. sind Christen.
Auch der Frachtentransport durch Maulthiere ist größtentheils in
den
Händen von Christen, der sogenannten Mukßrijje, Mucker, Französisch moucres.
Die agrarischen Besitzverhältnisse sind so complicirt, daß eine Be
sprechung
derselben mich nöthigen würde,
Orientalischen Rechtes einzugehen.
auf gewisse Materien des
Der größte Theil des Grundbesitzes
dürfte den Moslemen gehören, aber es gibt auch Landschaften, in denen
der christliche Grundbesitz, allerdings unter eigenthümlichen Rechtstiteln,
vorwiegt. Wenn man diese Thatsachen erwägt und dazu bedenkt, daß die Christen im Allgemeinen ökonomischer und vorsichtiger sind als die Moslems, daß sie
die Haushaltstugend des Flickens und Reparirens
üben, die den
Türken bekanntlich vollkommen fehlt, so wird man es erklärlich finden,
daß sie durchgehends viel wohlhabender sind Bei den
WuthauSbrüchen des
als die Muhammedaner.
Muhammedanischen Pöbels
gegen die
Christen hat der Neid auf den christlichen Nachbar und die Hoffnung,
ihn berauben zn können, stets eine große Rolle gespielt.
Aus Türkisch-Asien.
600
AuS dieser Ungleichheit erklären sich viele der merkwürdigsten Er
scheinungen.
Man pflegt z. B. in Europa sich zu wundern, warum die
Pforte den Wegebau in ihrem Reiche so gänzlich vernachlässigt, und mit
Recht.
Aleppo, eine der größten Emporien des Orients, ist mit seinem
Hafenort Alexandrette durch eine unwegsame Straße verbunden, die jeder Beschreibung spottet, noch dazu in einer Gegend, wo das vorzüglichste
Material für den Wegebau überall zur Hand liegt.
Es hat damit fol
gende Bewandtniß: die Orientalen, besonders die Moslems reisen wenig
und sehen eine Reise stets als ein Unglück an, in das man sich mit
Resignation fügen muß.
Während also das große Publicum sich gegen
den Wegebau sehr indifferent verhält, sind die Türkischen Beamten von oben bis unten dagegen eingenommen — aus dem richtigen Grunde,
daß eine Förderung des Verkehrs nur noch ein schnelleres Wachsen deS Reichthum'S ihrer christlichen Unterthanen zur Folge haben würde.
Es
gibt wohl einige Paschas, die von dieser Regel eine Ausnahme gemacht
haben, aber gewiß nicht mehr als einen unter hundert. Reichthum ist das höchste Streben des orientalischen Christen.
Reich
thum ersetzt ihm alles, was den Moslems Amt und Würden, von denen der Christ in der Regel ausgeschlossen ist, bringen.
Ist er reich, sehr
reich, so ist er Herr der Situation und kann sich Kadi und Pascha kaufen.
Durch die Europäer, welche alljährlich Konstantinopel, allenfalls auch die Küsten von Kleinasien und Syrien zu ihrem Vergnügen bereisen, ist
in weiten Kreisen die Redensart, um nicht zu sagen: die Ansicht ver
breitet worden, in jenen Ländern seien die Türken das anständige, solide Element, die Christen dagegen moralisch versunken, nichtsnutzig, mit einem
Wort: Gesindel, und dieser Unsinn wird in Zeitungen und Büchern weiter colportirt. ES fällt mir nicht ein zu behaupten, daß die Christen des Orients
in sittlicher Beziehung eine sehr hohe Stellung einnehmen, dagegen be haupte ich: eS wäre unbegreiflich, wenn dies der Fall wäre, und stände
in einem unlösbaren Widerspruch zu einer 1300 Jahre langen Geschichte unbeschreiblicher Mißhandlung und Knechtung.
Dem reichen Mann, der
priveligirten, regierenden Kaste kommen Tugenden aller Art billig zu stehen, aber in dem rechtlosen Paria, dessen Besitz, Leben und Ehre von
den Launen einer rohen Erobererkaste abhing, der noch jetzt nicht gegen den gemeinsten Türken seine Hand zur Abwehr erheben darf, konnte sich kaum etwas von den Eigenschaften entwickeln, die wir als die moralischen
Zierden eines Mannes Preisen.
Noch vor 30 Jahren war eS in Aleppo
möglich, daß ein Christ, wenn er einflußreichen Muhammedanern mißliebig war, auf der Straße oder in seinem Hause gepackt und ohne Verhör, ja
601
Aus Türkisch-Asien.
ohne Anzeige an irgendeine Behörde,
an den nächsten Baum geknüpft
wurde. Trotzdem ist eS ebenso grundlos wie ungerecht zu behaupten, daß die
Christen in moralischer Beziehung unter den Türken ständen.
Ich möchte
in diesen Dingen zwischen beiden Confessionen nicht viel Unterschied machen. Männer, welche den Orient aus eigener Erfahrung kennen, dürften mit mir
übereinstimmen, wenn ich die Ansicht ausspreche, daß im Einhalten ge schäftlicher Verpflichtungen, z. B. Zahlung von Rechnungen, die Türken (so
werden in Syrien von den Christen alle Muhammedaner genannt) meistens zuverlässiger sind, daß aber die unnennbaren sexuellen Vergehen, welche unter den Muhammedanern an der Tagesordnung sind, unter den Christen
sich kaum nachweisen lassen.
Ich bin in Zeiten der Noth und Gefahr
von Leuten beider Confessionen begleitet gewesen, aber ich würde mich in kritischen Momenten keinen Augenblick besonnen haben, meine letzte Hoff nung auf die Christen zu setzen, und nicht auf die Muhammedaner. Im
Allgemeinen liegen die Verhältnisse so, daß in sittlicher Beziehung der christliche Durchschnitts-Bauer und Bürger im Orient nicht viel höher, aber auch nicht viel niedriger steht als derjenige — sagen wir — in
Italien oder Spanien. Talente aller Art, Fleiß und Sparsamkeit haben die Christen vor
den Türken voraus.
Der Türkische BolkSstamm hat die Zeit und die
günstigste Gelegenheit gehabt, Talente zu zeigen, wenn ihm solche inne wohnten, aber ihre geistige Impotenz ist auf allen Gebieten so grell wie nur möglich zu Tage getreten.
Ihre Architectur ist Griechischen Ur
sprungs, ihre umfangreiche Literatur besteht auS geistlosen Copien Arabi
scher und Persischer Originale, und die juridischen und administrativen Grundlagen ihres Staates rühren nicht von ihnen her, sondern von den
Stiftern des Islam, also von Arabern. Weltgeschichte
Sie betraten die Bühne der
als zusammenhangslose Horden raubgieriger Condottieri,
und sie haben ihre Bestimmung verfehlt, seitdem sie aufgehört haben, Condottieri im Dienste fremder Fürsten zu sein.
Der Mangel an Talenten
jeder Art befähigt sie wohl zu einer brauchbaren, dienenden Race; wenn sie 'aber
als Herrscher auftreten, setzen sie solche Farcen in die Welt,
deren gleichen ein jedes Türkische Regierungsbureau,
groß oder klein,
z. B. das Archiv einev Provincial-Regierung, darstellt. Der Gegensatz zwischen Christen und Muslims ist ein Hauptfactor für die künftige Geschichte des Orients.
Diejenige Europäische Regierung,
die einmal berufen sein wird, die Geschicke jener Länder zu lenken oder bestimmend auf dieselben einzuwirken, wird sich zunächst auf die Christen stützen müssen.
Die Christen im Orient denken
Preußische Jahrbücher. Bb. XLVI. Heft 6.
und leben wie wir 43
602
Aus Türkisch-Asien.
Europäer, während von der Denk- und LebenS-Weise der Muslims eine ganze Welt uns trennt. Die Christen können und wollen arbeiten, während
der Türke im besten Fall ein mäßiger Ackerbauer und ein guter Soldat ist.
Wenn aber die Christen wirklich so verworfen wären, wie sie ver
schrieen sind, und wie sie nicht sind, nun, so bemerke ich: gegen Ver worfenheit gibt eS Gesetze, aber eS gibt kein Gesetz und keine Staatskunst,
welche der Talentlosigkeit aufzuhelfen im Stande wäre. Bevor ich diese Zeilen, in denen so manches harte Wort gesprochen
ist, schließe, will ich noch hinzufügen, daß im Orient wie im Occident die Sonne aufgeht über Gerechte und Ungerechte, und daß meine Kritik
nicht den Personen, sondern den Sachen gilt.
* **
Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der
Trunksucht.
In neuerer Zeit wird auch in Deutschland die Nothwendigkeit an erkannt der
Trunksucht
durch
gesetzliche Maßnahmen
entgegenzutreten.
Der Verzehr der alkoholischen Getränke hat in bedenklicher Weise zuge
nommen und wenn in den bessergestellten Gesellschaftskreisen der Genuß von Bier und Wein den des Branntweins verdrängt hat, so wirkt der
Consum dieses Getränks um
völkerungsklassen.
so verderblicher in den arbeitenden Be
Eine erhebliche Zahl der Insassen unserer Kranken-
und Irrenhäuser, der Gefangen- und Strafanstalten, der Armen- und
Arbeitshäuser hat ihr elendes Dasein dem übermäßigen Genuß von Brannt wein zuzuschreiben. Mehr als jedes andere Laster ist die Trunksucht geeignet, das körper liche und geistige Wohl deS Einzelnen wie der Gesammtheit zu schädigen, daS sittliche Leben und die gedeihliche Entwickelung in der Familie, in der
Gemeinde und im Staate zu verderben.
Die Trunksucht wirkt zerstörend
auf die Gesundheit und die Lebensdauer des Menschengeschlechts, und ver schlechtert in gleich schädlicher Weise die Organisation der Nachkommen schaft.
Hat der Staat nicht schon aus dem Grunde der Selbsterhaltung die Pflicht, dieses Laster in seiner Entstehung und Verbreitung durch die ihm zu Gebote stehenden Mittel zu bekämpfen?
So zahlreich die Uebel und
die Schäden sind, welche die Unmäßigkeit dem körperlichen, geistigen und
sittlichen Leben des Volkes zufügen, so zahlreich sind nun allerdings auch die Maßnahmen, welche Verwaltung und Gesetz in fast allen Staaten
und Ländern gegen dieses Laster in Anwendung gebracht haben.
Als eine
der wirksamsten prophylaktischen Maßregeln gegen die Verbreitung der
Trunksucht gilt mit vollem Recht die Verminderung der Zahl der Schank stellen.
Man hört zwar behaupten, die Verminderung nütze nichts, weil
der wirkliche Trinker auch die wenigen Branntweinverkaufsstellen zu finden
wissen, oder weil das Schließen der öffentlichen Verkaufsstellen nur die
43*
604
Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht.
heimliche und häusliche Trunksucht Hervorrufen werde.
Indessen wird
dabei übersehen, daß die Maßnahme nicht darauf abzielt, den bereits
perfekten Trinker vom unmäßigen Genuß abzuhalten, sondern vielmehr
darauf, den einzelnen Personen aus den verschiedensten Volksklassen nicht überall die
Gelegenheit
Genusse berauschender Getränke
zum
zu ge
währen, und so die Zahl der Gelegenheitstrinker, aus denen sich die Ge Jede Verkaufsstelle ist eine
wohnheitstrinker herausbilden, zu vermindern.
Versuchung, eine Einladung zum Genusse, je häufiger die Schankstellen sich in jeder Straße der Bevölkerung darbieten, desto zahlreicher wird die Menge der gelegentlichen und später auch der gewohnheitsmäßigen Trinker.
WaS bei der Verminderung der Zahl der Verkaufsstellen, also der Schank-
wirthe noch besonders in Betracht kommt, ist der Umstand, daß diese auS einem natürlichen Interesse den Alkoholconsum begünstigen, und vielfach
in böswilligem Eigennutz der Unmäßigkeit Vorschub leisten.
Und so wird
denn überall, wo die staatliche Fürsorge rege ist, vornehmlich der Klein
handel mit spirituösen Getränken überwacht und ein besonderes Augen merk auf die Zahl der Verkaufsstellen gerichtet.
Zur Verminderung der Zahl dieser Stellen hat man verschiedene Systeme in Anwendung gebracht.
Man hat den Handel mit berauschenden
Getränken theils nur gegen eine besondere Concession, Licenz, unter be
stimmten Voraussetzungen und Garantien hauptsächlich sittlicher Art er laubt, theils einen erheblichen Steuersatz auf den Handel gelegt, theils
auch ihn ganz zu unterdrücken gesucht.
Es ist bekannt, mit welchem er
staunlichen Aufwand von geistigen und materiellen Mitteln die großen
Temperen;-Gesellschaften in den Vereinigten Staaten von Nordamerika und noch mehr in dem Vereinigten Königreich von Großbritannien seit Jahrzehnten bestrebt sind, Prohibitivmaßnahmen in Anwendung zu brin
gen.
In radikalster Weise ging die Gesetzgebung im Staate Maine
vor, wo schon im Jahre 1851 der Verkauf
von spirituösen Getränken
unter schweren Strafen gänzlich verboten und nur in eigens bezeichneten Agenturen der Verkauf von Spiritus zu medicinellen und industriellen
Zwecken zugelassen wurde.
Dieser Maßnahme (Liquor Maine Law)
folgten in den nächsten Jahren andere Staaten, aber ihre Unausführbar keit ward bald mehr und mehr erkannt und so wurde das radikale Prohibitivgesetz meist wieder aufgegeben. noch heute eine Scheinexistenz.
Nur in wenigen Staaten führt es
Mit je mehr Strenge die Partei der Ent
haltsamkeitsfreunde das Gesetz durchzuführen suchte, mit desto stärkerer Opposition ward eö von den anderen Parteien bekämpft und desto er
findungsreicher war man in den Mitteln eS zu umgehen.
Unter der
Herrschaft des Gesetzes soll, abgesehen von einzelnen ländlichen Districten,
Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpsung der Trunksucht.
605
in welchen ein unverkennbarer Erfolg sich constatiren ließ, die Trunksucht
in den Städten, in den Mittelpunkten des Handels und der Industrie
mehr zu- als abgenommen haben.
In den meisten Staaten Nordamerika'-
wird neben anderen Maßnahmen das Princip der Concessionirung der Schankstellen in verschiedenen Modificationen angewandt und zwar in der
eigenthümlichen Form, daß die Ertheilung der Schanklicenz
als eine
lediglich municipale Frage angesehen wird, die Steuerzahler einer Ge
meinde also allein darüber zu entscheiden haben, ob sie den Ausschank von
spirituösen Getränken überhaupt gestatten wollen oder nicht.
Motivirt
wird dieses Verfahren dadurch, daß die Gemeinden oder die Steuerzahler
es sind, die die Lasten zu tragen haben, welche durch die Verarmung der Trinker und deren Familien, durch die Nothwendigkeit sie in KrankenJrren- und Strafanstalten unterzubringen verursacht werden.
Eine von
der Gemeinde gewählte Commission (Licensing Board) oder die Mehr heit der steuerzahlenden Einwohner selbst entscheidet über die Gewährung
oder die Verwerfung der Schankerlaubniß.
Dieses Lokal-Option-Princtp,
so berechtigt es an sich zu sein scheint,
hat wenig gute Früchte ge
tragen, und zwar meist auS dem Grunde, weil in dem beständigen Kampf
der MäßigkeitS- oder Enthaltsamkeitsfreunde mit der sogenannten Rum
partei der Sieg der einen oder der andern Partei bei den politischen und municipalen Wahlen auch über die Anwendung des Princips entscheidet.
Da, wo die Rumpartei obsiegt, wird die Schankconcession verschwenderisch
ertheilt und auf unberechenbare Zeit verdorben, waS die Prohibisten gut
zu machen suchten.
Das Princip der Lokal-Option wird auch von den
mächtigen und großen Enthaltsamkeitsgesellschaften in England und unter diesen von der bedeutendsten und einflußreichsten, der „Ünited-Kingdom-
Alliance“, mit bewundernSwerther Beharrlichkeit erstrebt. Die Forderung,
daß die Majorität oder 7, der Steuerzahler einer Gemeinde darüber be
schließen solle, ob sie den Kleinhandel mit berauschenden Getränken inner
halb ihrer territorialen Ausdehnung zulassen will, ist die Grundlage jener Bill (Permissive prohibitiory Liquor Bill), welche die nicht geringe An zahl der Temperenzanhänger im Parlament unter der Führerschaft deS
bekannten Liberalen Sir Wilfrid Lawson unverdrossen bereits seit 1864
inS Unterhaus einbringt und welche erst jetzt nach der Niederlage des Ministeriums Beaconsfield und seiner treuen Anhängerschaft, der Vier
und Schankwirthe,
Aussicht auf einigen Erfolg hat.
DaS Princip ist
jedoch nur der erste Schritt, den diese Partei der Nephalisten, wie sie sich
auch nennen, durchsetzen will; das eigentliche Ziel liegt für sie in der
vollen Prohibition deS Getränkehandels, ganz so wie eS im Staate Maine versucht worden ist.
„Weil der Handel mit berauschenden Getränken den
Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht.
606
Interessen des Individuums, dem Wohlergehen und der Sittlichkeit der
Gesellschaft verderblich ist, muß er gesetzlich verboten und gänzlich unter drückt werden."
Dies ist der Grundsatz der Partei der Abstainer. Indeß
die von dem Hause der LordS 1876 niedergesetzte Commission, die eine
ausgedehnte Enquete über die Wirksamkeit der Gesetzgebung in Bezug auf die Trunksucht vornahm, und in einem, nach allen Richtungen aus
gezeichneten Berichte (1878) die gemachten Ermittelungen niederlegte, ver mochte dieses Prohibitiv-Princip aus gewichtigen Gründen nicht zu billigen.
Sie erklärte es für unrecht und unbillig, der Majorität einer Gemeinde die Macht' einzuräumen, die Neigungen und Sitten, der Mitbürger zu
controliren und vielen von diesen den mäßigen Genuß von berauschenden Getränken zu verbieten, weil andere Mitbürger diese in unmäßiger Weise
Ein solches Verbot sei am allerwenigsten mit Erfolg in solchen
genießen.
Bezirken durchzuführen, wo Gemeinden mit verschiedenen gesetzgeberischen
Principien sich nachbarlich bei einander befänden, weil dort sofort der ge
heime Handel mit den verbotenen Getränken entstehen würde und durch kein Mittel unterdrückt werden könnte.
Auch würden in ein und derselben
Gemeinde die Majoritäten wechseln und so mit dem Wechsel der Prin cipien die materiellen und moralischen Interessen der Gemeindemitglieder in ein wenig förderliches Schwanken gerathen.
Zudem werde sich
der
Grundsatz praktisch in den großen Städten niemals durchführen lassen, höchstens nur in mehr ländlichen Distrikten, wo eö wieder nicht in dem
Grade nöthig
sein möchte.
Endlich sei
eS gefährlich,
eine Art von
Plebiscit einer unverantwortlichen Majorität der Steuerzahler in das constitutionelle Leben einzuführen.
Der Gegensatz zu dieser radikalen Prohibition ist der völlige Frei
handel mit Getränken.
Die Anhänger dieses Systems meinen, daß der
Handel mit berauschenden Getränken, wie der mit jeder andern Waare,
sich lediglich nach dem Gesetz der Nachfrage und des Angebotes regeln müsse.
Wenigstens dürfe keinem Bürger, gegen dessen Moralität sich
nichts
einwenden lasse, die Concession versagt werden, höchstens dürfe
der Preis der Licenz erhöht und der Handel selbst strengeren Polizei-Auf-
sichtSmaßnahmen unterworfen werden, ohne daß auf die Anzahl der Ver Dieses Princip ist
kaufsstellen durch daS Gesetz sonst eingewirkt werde. aber selbst
in Ländern mit liberalster politischer und kommunaler Ver
waltung theils nicht zur Ausführung gekommen, theils hat eS, wo eS auS-
geführt wurde, die verderblichsten Wirkungen geübt.
ES ist keineswegs
so gekommen wie Biele meinten, daß die freie Concurrenz nur so viele
Schankstellen schaffen werde, als wirklich nothwendig seien, und daß die überflüssigen Verkaufsstellen eingehen würden, vielmehr hat die Freiheit
Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht.
607
nur dazu geführt, die Zahl der Schankstellen progressiv zu vermehren,
und den Consum der berauschenden Getränke, die Trunksucht und ihre üblen Folgen immer mehr zu steigern.
In England war durch ein Ge
setz von 1830 unter Wilhelm IV. der Kleinhandel mit Bier und Eider ganz freigegeben worden, so daß zur Anlegung eines derartigen Ausschanks
nur ein Steuergewerbeschein (Excise Licence) nothwendig war, zum
Detailverkauf von
wozu
anderen Spirituosen noch ein Polizeigewerbe
schein (Magistrate Licence) kam.
Diese Bierhäuser, denen gegenüber
der Friedensrichter gar keine Gewalt hatte, wenn nicht Spirituosen in ihnen verkauft wurden oder Unordnungen nachzuweisen waren, haben sich
in enormer Zahl vermehrt.
Ihre Anzahl ist in fünf Jahren nach Ein
führung dieses Gesetzes von 49975 auf 88276 gestiegen und in ihnen
war, da bei dem Betriebe dieser Schankwirthschaft kein Nachweis über die Sittlichkeit des Schankwirthes zu erbringen war, von den Wirthen jede Art von Unsittlichkeit und Verführung in Scene gesetzt worden.
Die
neuere Schankgesetzgebung (Wine and beerbouse Acts) von 1869 und 1870, die dem definitiven Schankgesetz (Licensing Act) von 1872 und
1876 voraufgingen, haben diesem Unfug ein Ende gemacht, so daß auch
der Bier- wie der Branntweinausschank der Polizeicontrole und einer
sehr strengen
Ueberwachung
unterworfen ist.
Seit 1869
haben
die
Friedensrichter die Zahl dieser Bierhäuser und selbstverständlich nur die
der schlechtesten Art um 6000 vermindert,
wiewohl die
Unterdrückung
der Schankstellen wegen der ihnen zustehenden Civilansprüche nur schwer
zu ermöglichen war.
Während der Zeit von 1869 bis 1878 sind von
dxn Friedensrichtern nur 900 Schankwirthschaften neu licenzirt worden bei einer Zunahme der Bevölkerung von 1,500,000 Seelen. — Unter den
kontinentalen Staaten Europas haben neben den Ländern im Süden wie Spanien, Griechenland und auch Rumänien nur noch Holland und Belgien
den Handel mit alkoholischen Getränken freigegeben.
In den beiden letztern
Staaten sind die Folgen des Alkoholismus im hohen Grade evident, so
daß man in Holland in neuester Zeit damit umgeht, die Trunkenheit an sich als Gegenstand der. Strafwürdigkeit in das neue Strafgesetz aufzu
nehmen — und in Belgien hat das Freihandelsshstem eS dahin gebracht,
daß man auf 12 Personen über 21 Jahre, in den Jndustriecentren so gar auf 6 oder 7 Individuen eine Schaukstelle zählt, und daß der Alkoholconsum in Belgien seit 1840 von 18 Millionen auf 43 Millionen LitreS gestiegen ist.
„Wenn man daran denkt, heißt eS in unserer Quelle, daß wenigstens
73 dieser Menge von Arbeitern consumirt wird, die auf diese Weise jähr lich 50 — 60 Mill. FrcS. von ihrem Lohnerwerb verausgaben, so wird
608
Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht.
man alles Leiden und alles Elend, die mehr oder weniger directen Folgen
dieser Excesse, ermessen."
In Deutschland haben sich Erscheinungen derselben Art in neuerer Zeit gezeigt.
In der freien Reichsstadt Bremen war 1863 das Schank
gewerbe freigegeben und die Zahl der vorhandenen Verkaufsstellen stieg trotz der höher fixirten Getränkesteuer sofort von 512 auf 728, und war
1867 bis auf 829 gewachsen, so daß der Senat wieder die Einführung
der ConcessionSpflicht beantragte.
Als die neue Gewerbeordnung für das
Deutsche Reich von 1869 den Nachweis des Bedürfnisses für die Anlage
einer neuen Schankwirthschaft aufhob, vermehrte sich die Zahl der Brannt
weinverkaufsstellen vom 1. October 1869 bis zum 1. Januar 1872 also innerhalb 2'/4 Jahren in Preußen allein von 116,811 auf 129,072 d. h. um 12,261.
Vom 1. October 1869 bis 1. Januar 1877 stiegen die Gast
wirthschaften von 42,612 auf 69,305 (— 44 Prozent) und die Schankwirthschaften von 62,612 auf 69,305 (— 11 Prozent).
Im Jahre 1869 kamen
in Preußen 45,75 Gast- und Schankwirthschaften. auf 100000 Einwohner,
1877 dagegen 55,88.
Dieselbe abnorme Steigerung fand auch im übrigen
Deutschland statt, so daß der Reichstag in seiner letzten Sitzung (1879 am 23. Juli) in Ortschaften von weniger als 15000 Einwohner die Er
laubniß zum Betriebe der Gastwirthschaft und zum Ausschank von Wein,
Bier oder anderen spirituösen Getränken wieder vom Nachweise deS Be dürfnisses abhängig machte.
Vor der Ertheilung einer derartigen Er
laubniß wird nunmehr in Preußen nach einem neuern Erlaß des Mini sters des Innern die Ortspolizei und die Gemeindebehörde gutachtlich be
fragt, nicht nur
in
Fällen, wo die Bedürfnißfrage zu Erörterungen
Veranlassung giebt, sondern auch da, wo eS sich um Bedenken gegen die
Person des die Concession Nachsuchenden oder über die Angemessenheit deS Lokals handelt.
Ein weiteres Mittel, die Zahl der Schankstellen zu vermindern, ist die hohe Besteuerung der Schankconcessionen.
Diese kann vorzugsweise
in der Absicht unternommen werden, um die Unmäßigkeit im Volke zu be
kämpfen.
Denn, so meint man, eine hohe Schanksteuer wird eine gewisse
Anzahl kleiner Verkaufsstellen unterdrücken, weil solche Wirthschaften die
hohe Steuer nicht abwerfen, sie wird indirect das Getränk selbst vertheuern und seine Konsumtion vermindern. Die hohe ConcessionSsteuer kann aber auch
als eine finanzielle Maßnahme eingeführt werden, um dem Staats- oder dem
Gemeindesäckel Einnahmen zu verschaffen. Im letztem Falle ist der Ertrag der Steuer die Hauptsache und die Verminderung der Schankstellen vielleicht
eine unerwünschte Nebenwirkung.
Ist die Steuer nicht hoch, so wird weder
das fiskalische, noch das sittliche Interesse gefördert, — und ist sie sehr hoch,
Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht.
609
so wird der sittliche Zweck dadurch in Frage gestellt, daß sich alsdann eine
um so größere Defraude, eine um so größere Anzahl unerlaubter, heim licher Verkaufsstellen etablirt.
In beiden Fällen wird der concessionirte
Schankwirth suchen das Getränk selbst so wenig als möglich zu vertheuern, um die Kundschaft nicht zu verlieren, und er wird sich selbst schadlos
halten, indem er zu Verfälschungen des Getränkes greift, weniger gerei nigten und rectificirten Spiritus zu seinen Branntweinen oder andere be
täubende und berauschende Substanzen
als Surrogat benutzt, die den
Consum von Spiritus vielleicht wirklich vermindern, aber nicht die Trunk sucht, und noch weniger die üblen Folgen derselben.
Die hohe Besteuerung der Schankwirthschaften kann also nur in Ge meinschaft mit noch andern Maßnahmen, sich als ein wirksames Mittel
erweisen.
Für sich allein ist sie unwirksam, deshalb hat man in denjenigen
Einzelstaaten der Nordamerikanischen-Union, in welcher der Getränke-Klein-
handel nicht radikal verboten wurde, neben der hohen Besteuerung der
Schanklicenz noch eine Reihe strenger Bestimmungen, besonders gegen den Schankwirth vorgesehen.
Im Staate Massachusetts ist nach dem Gesetz
von 1875 der Gemeindeverwaltung Vorbehalten die Schanklicenzen zu be willigen.
Diese zerfallen in 5 Kategorien, je nachdem alle Arten von
Getränken oder nur Bier, Eider und leichte Weine zum Verzehr an Ort und Stelle oder außerhalb der Schankstelle feilgeboten werden.
Die
Kosten dieser Licenzen sind in Abstufungen, die der Gemeindebehörde zu bestimmen überlassen sind, verschieden normirt, von 100 bis 1000 Dollars für die erste, von 50 bis 500 für die anderen Kategorien.
Daneben sind
beträchtliche Strafen von 50 bis 500 Dollars oder von 1 bis 6 Monate
Gefängniß festgesetzt bei Uebertretungen gegen die gesetzlich festgestellte Verkaufszeit, bei Verfälschungen der Getränke, beim Verkauf von Ge tränken an minorenne oder an betrunkene Personen oder an
bekannte
Trunkenbolde, beim Gestatten von Spiel, von Prostitution, von Unord nung rc.
Das Gesetz bestimmt auch, daß wenn eine Person im betrun
kenen Zustande ein Verbrechen gegen das Eigenthum
oder gegen die
Person begangen, der Schankwirth, der die Getränke geliefert, wie der
Verbrecher selbst verfolgt und bestraft werden kann.
Auch können die
Eltern, die Ehegatten, die Kinder oder der Vormund jeden Schankwirth schriftlich auffordern, einem Individuum, das dem Trünke ergeben ist,
keine Getränke zu verkaufen oder zu schenken, und wenn jener innerhalb 12 Monate überführt wird dieser Aufforderung zuwider gehandelt zu
haben, so kann der Betreffende den Schankwirth zur Zahlung
Schadenersatzes in der Höhe von 100 bis 500 Dollars belangen.
eines In
anderen Staaten muß der Schankwirth auch den Trinker selbst und desien
Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht.
610
Familie erhalten, sowie jener im trunkenen Zustande verunglückt oder ar
beitsunfähig wird.
Was dieses Gesetz leisten wird, ist noch abzuwarten.
So viel steht jedoch schon jetzt fest, daß die bedeutenden Kosten für die Schanklicenz den Gemeinden, in deren Kassen diese Summen fließen, eine
sehr beträchtliche Einnahme gewähren und daß bereits die Besorgniß aus
gesprochen wird, daß manche Gemeinden mi6 diesem Grunde zu freigiebig
mit den Concessionen sein würden. In einer anderen Weise ist man in Schweden vorgegangen.
In
diesem nordischen Lande wird seit Jahrzehnten von Seiten der Verwaltung und Gesetzgebung, sowie von dem einsichtigsten Theile des Volkes ein
ernster Kampf gegen das von Alters her verbreitete Laster der Trunksucht geführt. Durch hohe Besteuerung des producirten und importirten Spiritus, sowie der Concession für den Branntwein-Kleinhandel will das Gesetz dieses Getränk möglichst vertheuern und außerdem die Zahl der Schankstellen ein
schränken. Die Zahl der Kleinhandlungen mit Branntwein, von */2 Kanne ab wärts, wird hier alljährlich von der Gemeinde festgesetzt und von der Statt
halterei bestätigt.
geben wird,
Die Schankgerechtigkeit, welche nur auf ein Jahr ver
wird öffentlich versteigert und dem Meistbietenden, wenn
seine persönliche Moralität und die Beschaffenheit des Lokals genügende
Gewähr bietet, zugeschlagen.
Diese Maßregel, die Zahl der Schankstellen
von der Gemeinde- und der Landesbehörde gemeinschaftlich festzustellen, hatte in den ländlichen Bezirken einen so großen Erfolg, daß in Schweden für eine ländliche Bevölkerung von 3‘/2 Millionen Menschen nur die geringe Zahl von 324 Schankwirthschaften und
mit Branntwein übrig blieb.
136 Kleinhandlungen
Um so mehr concentrirte sich der Brannt
weinkleinhandel in den Städten, theils in heimlich betriebenen, und noch
mehr in den auf legale Weise concessionirten Schankstellen. diesem Uebelstallde zu begegnen,
Um auch
bildete sich in neuester Zeit in fast
allen Städten Schwedens und Norwegens ein System aus, das, weil es zuerst in Stadt Gothenburg eingeführt ward, das Gothenburg'sche ge
nannt wird.
In dieser Stadt war im Jahre 1865 eine Commission niedergesetzt worden, welche die Ursachen des dort in erschreckender Weise zunehmenden
Pauperismus vorzugsweise in dem Alkoholgenuß fand.
Die Commission
war der Ansicht, daß so lange der Schankwirth das Interesse habe, so viel
Branntwein als möglich zu verkaufen, alle Bestrebungen gegen die Aus
breitung der Trunksucht ohnmächtig bleiben würden.
Sie rieth daher,
den Kleinhandel mit Spirituosen nach folgenden Grundsätzen einzurichten:
1) der Verkäufer darf an der Menge des verkauften Branntweins keinen Nutzen haben; 2) Spirituosa dürfen nicht auf Borg oder Pfand verabreicht
611
Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht. '
werden; 3) die Schanklokale müssen reinliche und gesunde Räume sein und
4) in ihnen gleichzeitig Speisen, Eßwaaren feilgeboten werden.
Um diese
Grundsätze durchzuführen, bildete sich in Gothenburg eine Aktiengesellschaft (Bolag) aus den angesehensten Mitgliedern der Stadt mit dem Haupt
zweck die einzelnen Schankstellen nach und nach zu erwerben, den Brannt
weinhandel auf eigene Kosten zu betreiben und zwar so, daß jeder erzielte Gewinn der Stadtkasse zufließen, und der entstehende Verlust von jedem GesellschaftSmitgliede aus eigener Tasche gedeckt werden solle.
Bon den
61 Schankstellen, die bei 60,000 Einwohnern 1865 in Gothenburg licen-
cirt waren, hat diese Gesellschaft bei der nächsten Jahresversteigerung 40 und 1868 die Gesammtzahl an sich gebracht; von diesen hat sie sofort 21
gänzlich eingehen, die andern in dem angeführten Sinne bewirthschaften lassen. — Ueber den Nutzen dieses Gothenburg'schen Systems sind die
Meinungen verschieden.
So viel steht jedoch fest, daß dasselbe nach und
nach in fast allen Städten Schwedens und Norwegens eingeführt ist, und daß
diese AuSschank-Actiengesellschaften mit den angedeuteten Grundsätzen von der Regierung sanctionirt und gern gesehen werden.
Thatsache ist ferner,
daß Mr. Chamberlain, das bekannte Parlamentsmitglied in London, der die Handhabung der Wirkung dieses Systems selbst beobachtet hat, schon seit Jahren die Nachahmung desselben im Unterhause eindringlich empfiehlt. — Daß in Schweden in den letzten Jahren der Alkoholconsum trotz dieser
und anderer präventiver und repressiver Maßregeln dennoch wieder zuge
nommen hat, zeigt, mit welchen fast unüberwindlichen Schwierigkeiten der
Kampf gegen ein in den Lebensgewohnheiten des Volkes eingewurzeltes Laster verbunden ist.
Jeder noch so geringe Erfolg in der Verminderung
des Uebels ist daher als eine Errungenschaft anzusehen — und jedenfalls ist eS den unausgesetzten Anstrengungen der Gesetzgebung im Verein mit
den bewunderungSwerthen Bemühungen jener privater Gesellschaften in
jenem Lande gelungen, die unbändige Trunksucht früherer Zeit zu mäßigen und im Ganzen eine erhebliche Abnahme dieses Lasters herbeizuführen. —
Die Schlüsse aus den obigen Darlegungen ergeben sich von selbst.
Sie gehen jedenfalls dahin, daß der Kleinhandel mit Spiritussen nicht
hohe Schanksteuer
schrankenlos freigegeben werden darf, und daß eine
allein nicht wirksam ist, sondern gleichzeitig bei der Concession die Be dürfnißfrage berücksichtigt werden, und der Schankwirth für alle Aus
schreitungen streng verantwortlich gemacht werden muß. Dr. A. Baer.
Julius Wolff. Ueber die beiden ersten Dichtungen Wolffs, „Eulenspiegel" und der
„Rattenfänger von Hameln" habe ich mich schon in den „Portraits aus dem neunzehnten Jahrhundert" (Berlin, W. Herz) ausgesprochen; waS
seitdem von ihm erschienen ist, „der wilde Jäger" und „Tannhäuser" (Berlin, Grotesche Verlagshandlung) bestätigt aufS Erfreulichste meine
gute Meinung; der Dichter ist im Vorschreiten.
Man hört wiederholt die Klage, unsere Litteratur sei im Zurückgehn.
Wer in der unbequemen Lage ist, vierzig Jahre und länger zurück denken zu können, wird dem nicht beipflichten:
schrieben als damals.
eS wird im Ganzen besser ge
Freilich treten auch mehr häßliche und widerwärtige
Erscheinungen hervor, aber das ist bei der Massenproduction, die man
heut einmal verlangt, nicht zu vermeiden, und die ausgezeichnetern Schrift
steller werden davon nicht berührt.
umfassendere Bildung,
Unsere Prosa verräth mehr Studium,
sorgfältigere Sichtung dessen was
sich
schickt,
Streben nach eigenem unabhängigen Denken; und unsere Dichter sind,
wenigstens in der Kunstübung oder wenn man will im Handwerk, weiter
gekommen.
Ich möchte z. B. wissen, wer auch in den begünstigtsten Zeiten
unserer Litteratur bessere Verse gemacht hätte als Paul Heyse!
Platen ist
ja gar nicht mit ihm zu vergleichen. Das ist nicht Alles, aber es ist doch viel! Das Virtuosenthum wirkt
mitunter schädlich, aber ohne daß Virtuosen auftreten, giebt es auch keine
echte Kunstübung.
Der wahre Dichter muß mehr können als er wirklich
giebt, dann muß er zu wählen verstehn, zwischen dem was sich für die Oeffentlichkeit eignet und dem was er als bloße Vorübung zur Seite zu
legen hat.
Julius Wolff ist ein Virtuos, aber er kann nicht blos viel, son dern er hat auch einen gebildeten Geschmack, und ist ein echter Dichter. Er kann jedes Instrument spielen, aber er hat mit richtigem Tact das
jenige gewählt, das in unserm Gemüth immer die meist sympathischen Seiten findet: er spielt die echt deutsche Weise, dieselbe Weise, die wir
Julius Wolff.
613
bei unsern Volksliedern finden, zu der unsere Lyriker immer wieder greifen wenn sie daS Herz mächtiger erregen wollten. Diese Weise hat nur ein Bedenken: sie verfällt ihrer einfachen be
stimmten Form wegen leicht in Monotonie.
Vor dieser Monotonie ist
Wolff bewahrt durch den ungemein reichen Sprachschatz, über den er ver
Auch in der geläufigsten Form weiß er neu zu sein; jedes seiner
fügt.
Gedichte hebt sich eigenartig vor den andern ab. schon früher gesagt.
Ich wiederhole, was ich
Seine Lyrik zeichnet sich durch eine reiche und ge
schmackvolle Modulation aus; eS klingt alles wie Gesang, ohne daß erst
der Componist in Arbeit gesetzt würde.
Ein glückliches Ohr für den
Tonfall, ein großer Schatz von bezeichnenden Worten, deren jedes einzelne
in der Melodie die paffende Stelle findet, ein volles gesättigtes Natur gefühl und eine höchst ansprechende jugendliche Frische.
Gleichwohl hat Wolff eingesehn, daß bei einem lebhaft sprudelnden Schöpferdrang die Form der Lyrik nicht ausschließlich cultivirt werden
darf: daß Rückert das nicht einsah, hat trotz seiner ungemeinen dichteri schen Kraft ihn nicht so populair gemacht als er zu werden verdiente.
Mit glücklichem Griff hat Wolff die Gattung gefunden, die sich für sein Talent eignet: die Form des romantischen Epos, wie es zuerst von
W. Scott in CourS gesetzt wurde.
Das „Lied vom letzten Minstrel"
und das „Fräulein am See" sind noch immer Muster in ihrer Art, und viele namhafte Dichter, selbst Lord Byron, sind dadurch angeregt worden. In der letzten Zeit ist diese Form mehr in den Hintergrund getreten. Der
Roman, der sociale wie der historische, hat das Publikum ganz in An
spruch genommen und eS läßt sich auch nichts dagegen einwenden, da er
sich am bequemsten eignet, verwickelte ethische Probleme mit einiger Voll
ständigkeit zu behandeln.
Aber die Poesie soll doch nicht blos ethische
Probleme ergründen, sie soll auch ein heiteres anmuthigeS Spiel sein,
und darin bietet das romantische Epos eine willkommene Ergänzung
zum Roman. Namentlich wenn der Dichter den Ton so glücklich trifft wie Julius Wolff. Auch die epischen Theile seiner Gedichte, die sich in seiner früheren freilich dem Umfang und dem Accent nach zu den lyrischen etwa so ver halten wie in der Oper die Recitative zu den Arien, sind ungewöhnlich ge
lungen.
Man vergleiche z. B. seinen „Rattenfänger" mit dem „Trompeter
von Säckingen": das Maaß in beiden ist verwandt,
aber in der poeti
schen Ausführung, ich meine namentlich im sinnlichen Theil, ist der „Ratten
fänger" so überlegen, daß man sie kaum neben einander nennen kann. Auch darin hat Wolff einen glücklichen Griff gethan, daß er zu seinem Gegenstand die deutsche Sagenwelt nimmt, wie sie sich mit der
Julius Wolff.
614 Geschichte berührt.
Er hat das nicht leichtfertig gethan, er hat ernstliche
Studien gemacht; und bet seinem lebhaften Gefühl für die Eigenthüm lichkeit der Landschaft und der Natur überhaupt,
bei seinem virtuosen
Können, was das Auge wahrgenommen, dem Ohr mitzutheilen, gelingt es ihm, Bilder und Stimmungen zu schaffen, die den Leser im schönsten
Seine Dichtungen sind echt deut
Sinn des Worts heimathlich berühren. scher Art.
Nun freilich liegt in der Verquickung der Sage mit der Geschichte
ein großes Bedenken. saische Welt.
Jene führt in eine poetische, diese in eine pro
Den einheitlichen Leitton zu finden, gelingt dem Jnstinct
nicht immer, der Verstand hat ein Wort mitzusprechen.
Insofern kann
die Kritik wohl versucht sein, sich mit dem Dichter auöeinanderzusetzen, der
bis jetzt auch in dem letzten Versuch den rechten Weg noch nicht gefun
den hat. Ueber den „Rattenfänger" habe ich mich bereits ausgesprochen
„wilden Jäger" Schönheit.
Im
ist der poetische Theil von einer großen, seltenen
Zu Anfang die Schilderung des Frühlingssturms, der die
ganze Natur in eine wilde Bewegung setzt, und ihr gerade dadurch erst
Dem entsprechend zum Schluß
das rechte sympathische Leben verleiht.
der wilde phantastische Geisterritt in den Höhen des Waldes; und als verbindendes Glied
die rasende Leidenschaft der Parforcejagd und ihre
Begegnung mit dem seltsamen Zuge des Götterfürsten Wuotan.
DaS
-Alles ist schön gedacht, schön empfunden, und mit vollendeter Kunst aus geführt.
Dazu kommt noch das tiefe Gefühl für die Stille des Waldes,
das durch das ganze Gedicht weht, für die Pflanzen, Thiere, für jene eigene Art Menschen, die noch unter dem Bann des Waldes stehn.
Dieser hochpoetischen Sagenwelt hat nun der Dichter eine historische prosaische Basis gegeben.
Er hat dieselbe nicht willkürlich erfunden: wie
ich glaube in Westphalen, besteht
eine Sage von einem Forstmeister
Hackelberend aus den Zeiten der Reformation, der wegen seiner grau
samen Jagdlust nach seinem Tode in daS wilde Heer gerissen wurde. I. Grimm schließt auS dem Namen,
daß möglicher Weise hinter dem
Forstmeister deS 16. Jahrhunderts der Wie dem
alte Heidengott Wuotan steckt.
auch sei, eine poetische Verschmelzung des Mythischen und
Historischen ließ sich in diesem Fall denken, wenn äuch immer die Gefahr nahe lag,
mit Bürger aufs moralische d. h. prosaische Gebiet zu ge
rathen, und daS wilde Heer nach Grundsätzen der Abschreckungstheorie zu
beschreiben.
ES war von Wolff richtig gedacht, daß er auS dem Refor
mationszeitalter dasjenige Moment auswählte, welches dem Thema am verwandtesten ist, den Bauernkrieg: er macht aus dem Forstmeister einen
615
Julius Wolff. '
Junker, einen hochmüthigen grausamen Verächter des Volks, und stellt ihm in dem Führer der Bauern einen Köhler und Wilddieb, einen ent
schlossenen und unbarmherzigen Widersacher entgegen. Aber hier bleibt die Ausführung weit hinter der Intention zurück.
Der Dichter sucht psychologisch dies und jenes Auffallende zu erklären, es
will ihm nicht gelingen; ja es gelingt ihm nicht einmal, in dem Leser
.Interesse für dies Psychologische zu erregen: seine Menschen sehn gegen seine Geister sehr fadenscheinig aus.
Manches ist noch dazu ganz episodisch
behandelt, wie z. B. die Schmauserei der Vasallen, die an sich vortrefflich erzählt, an jedem andern Platz Beifall finden würde, hier aber den Zu
sammenhang stört; auch die Liebenden gewinnen durch das, was sie thun, keine rechte Theilnahme, so trefflich sie als Genrebilder herauskommen. — Der „Tannhäuser" ist das beste, was Wolff bis jetzt geschrieben
und dies Lob soll durch die folgenden Einwendungen nicht im mindesten verkümmert werden.
DaS ganze Gedicht liest sich vortrefflich; man muß
eS sich vorlesen, um den vollen, schönen Wohlklang in sich aufzunehmen.
Auch daS Einzelne verdient meist Lob, ganz leer ist keine Episode.
DaS
Fest der Spielleute im Walde ist meisterhaft dargestellt, die Schilderung
Wie weise von dem
deS BenuSberges von hoher Poesie eingegeben.
Dichter, daß er den Bericht trennt, daß er unS zunächst nur in den schauerlichen Vorhof führt, und die eigentliche Begegnung mit Frau Venus Tannhäuser erst in seinem Berichte dem Papst erzählen läßt!
Wenn
Wolff nichts weiter geschrieben hätte als diese beiven Fragmente, so würde
man ihn schon als echten Dichter begrüßen müssen.
Nun aber die Composition, der innere ethische Zusammenhang. Die beiden Sagen, Tannhäuser im Venusberg und Ofterdingen im
Sängerkrieg auf der Wartburg, hat Richard Wagner zuerst combinirt, und wenigstens in der Anlage glücklich genug.
Diese Combination hat
Wolff übernommen und noch ein drittes Moment hinzugefügt, den Ein
fall Schlegels, das Nibelungenlied könne etwa von Heinrich von Ofter dingen sein, weil das Kind doch einen Vater haben müsse.
Der Einfall
kam in einer Zeit, wo Ofterdingen als Ideal dichterischer Anlage und Ausbildung durch Novalis eine populaire Figur geworden war.
Sehn
wir nun, wie der Dichter diese verschiedenen Momente der Sage und Geschichte in einander verwebt. Der Grundgedanke ist klar und einheitlich.
In einer Zeit, wo alle
Welt von nichts weiter zu singen und zu sagen weiß, als von Minne,
setzt sich der Tannhäuser, ein vollkräftiger Jüngling, das Ideal, diesen Begriff zu ergründen.
Sein Trieb nach dieser Richtung wird noch ver.
schärft durch den vorübergehenden Aufenthalt in einem Kloster, durch die
616
Juliu» Wolff.
glücklicherweise bald aufgegebene Absicht, zur Buße einer nicht gerade er
heblichen Schuld Mönch zu werden.
Er macht nun Erfahrungen nach
allen Seiten, schließt eine Reihe der anmuthigsten und edelsten Frauen
in die Arme, wird aber von keiner recht befriedigt, weil sie ihm Alle ein
Geheimniß verbergen, hinter das er gerade am liebsten kommen möchte: das Geheimniß der Scham deS Weibes auch in der Liebe.
Endlich glaubt
er, die rechte gefunden zu haben, aber diese versagt sich ihm, weil sie aus
seiner wilden Leidenschaft etwas Unreines anweht.
Im wilden Groll,
halb wahnsinnig, sucht er Frau VenuS auf, entsagt, um sie zu besitzen,
Golt und der heiligen Jungfrau, und genießt die höchste Lust.
Als er
aber den Bund dauernd machen will, lacht die Teufelinne ihn aus, er klärt, so einen Sterblichen könne sie nur zum Nachtisch verspeisen! und
wirft ihn auf die Oberwelt zurück.
Hier nun, von aller Welt mit Entsetzen angesehn, pilgert er nach Rom, um seine Seele zu retten, und beichtet dem Papst. Dieser setzt ihm vollkommen richtig
auseinander,. worin die
ganze Verkehrtheit seines
donjuanistischen Strebens liegt, und erklärt ihn der Hölle verfallen.
Der
Papst wird, wie schon in der Sage, später durch das bekannte Grünen eines Stabes beschämt.
Soweit die Tannhäuser-Sage.
Die Sage von Ofterdingen ist sinn
voll hinein gewebt, obgleich die Stelle, die R. Wagner dem Sängerkrieg giebt, mir besser gewählt scheint als bei Wolff.
Der Sängerkrieg mußte
auf den Venusberg folgen; Ofterdingen mußte die rein sinnliche Liebe aus Erfahrung beschreiben, und gerade das ausgesprochene Wort mußte ihm zu Gemüth führen, in welchen Abgrund er sich verirrt hat.
Gerade der
voraufgegangene Aufenthalt im Venusberg konnte ihm jenen tollen Ueber-
muth einflössen, im Sängerstreit, wie Novalis sich ausdrückt „in bacchischer Begeisterung um den Tod zu wetten".
Indeß Wolff hatte einen andern Plan.
Er wollte den Sängerkrieg
aus dem Gebiet der Sage in das Gebiet der Geschichte, bestimmter gesagt in die Literaturgeschichte überspielen.
In den ritterlichen Geschichten der
Hohenstaufenzeit werden die beiden entgegengesetzten Auffassungen in der
Liebe mit gleicher Kraft vertreten, die irdische im Tristan, die himmlische
im Parcival.
Nach der Absicht des Dichters sollte Ofterdingen, zuerst der
leidenschaftlichste Vertreter der irdischen Liebe, nicht gerade bekehrt aber
erzogen werden; der Gegensatz sollte nicht bleiben, sondern eine höhere Versöhnung finden.
Wolff hat die große Kühnheit, die Lieder, mit denen
um den Preis gerungen wird, dem Publikum wirklich vorzulegen, und eS
ist bewundernswerth, wie weit es ihm gelungen ist, wenigstens eine Art
Steigerung hervorzubringen.
Julius Wolff.
617
Nicht aber ist eS ihm gelungen, die Uebertragung aus dem Sagen
haften in'S Geschichtliche dem Leser glaublich zu machen.
Der Wettkampf
der Sänger um den Tod ist ein sagenhafter Zug; sobald man ihn im
Licht der Geschichte betrachtet — und dazu verführt Wolf den Leser durch weitläufige, moralische Betrachtung des Falls — hört aller Sinn und aller
Glaube auf.
Zu dem hat, historisch betrachtet, der AuSgang des Kampfs
in dem Gedicht gar keine Folge. Noch bedenklicher aber stellt sich die Einmischung der Geschichte bei
der Bußfahrt heraus.
Als Tannhäuser nach Rom kommt, geht er erst
spazieren und besieht sich
die Alterthümer; diese werden sehr geistvoll,
sehr anschaulich beschrieben, aber wer, um der ewigen Verdammniß zu ent
gehen, nach Rom pilgert, hat Eile; er hat keine Zeit, die Alterthümer sich anzusehen.
Als nun der Papst sein Urtheil spricht, wird Tannhäuser
zwar sehr verstimmt; eS ist ihm unangenehm, der Hölle zu verfallen, aber weder sein Verhältniß zu andern guten Menschen noch seine dichterische
Thätigkeit wird dadurch wesentlich beeinflußt; im Gegentheil arbeitet er
jetzt erst recht eifrig an dem Lied der Nibelungen, zu dem er seit lange Material gesammelt; und als nun der Papst, durch ein Wunder überführt,
ihn frei spricht unter der Bedingung, daß er seinen Namen nicht mehr
nenne, fügt er sich diesem Urtheil, vollendet aber sein Werk gerade wie er'S angefangen hatte. Vielleicht hätte die Stimmung des Ganzen gewonnen,
wenn der
Dichter die Sache umgekehrt hätte: das poetische Schaffen mußte Sühne
für die maßlose wilde Leidenschaft sein, erst nachdem die Nibelungen
fertig, mußte der Himmel mit einem Wunder sich einmischen, und er
klären, der Dichter habe durch sein edles Kunstwerk die unreinen Mächte seiner Natur bezwungen.
Wie eS jetzt steht, sieht man zwischen dem
absoluten Cult der Minne, der doch in Tannhäusers Leben der Grundton ist, und den Figuren des grimmen Hagen und der unerbittlichen Kriem-
hilde keinen Zusammenhang: eS sieht wie eine Reminiscenz aus Scheffels
„Ekkehard" aus.
Freilich würde meine Version nur unser modernes Gefühl befriedigen, nicht das des Mittelalters.
Und in dieses versetzt uns doch der Dichter
in seinem historischen Theil, er nöthigt unS, eine Sage historisch zu be
trachten,
wie wir mit unserer Bildung historische Dinge zu betrachten
gewöhnt sind.
Und da müssen wir fragen: was ist eigentlich der Venusberg?
haust wirklich darin die Hölle? ist eS ein verdammungswürdiges Verbrechen,
in den thüringischen Hörselberg herabzusteigen? — Oder hat sich Ofter
dingen die ganze Sache blos eingebildet? sie blos geträumt? wie selbst der Papst einmal vermuthet.
Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 6.
44
Julius Wolff.
618
Auch diese Ungewißheit kann poetisch verarbeitet werden. Tieck hat eS in seinem „Tannhäuser" meisterhaft gethan.
Ich kenne keine Dichtung,
die in der Seele ein solches Frösteln, ein so tiefes Grauen erregte.
DaS
wollte aber Wolf nicht, und so macht diese Unsicherheit, in der er unS
läßt, lediglich den Eindruck, als ob er selbst in seinen Absichten unsicher
gewesen sei. Alle diese Einwendungen sind wie ich vorauSschickte, Einwendungen des Verstandes; sie heben den poetischen Werth deS Tannhäusers nicht
auf.
Aber wenn der Dichter, wozu er die Anlage und wohl auch den
Willen hat, ein völlig befriedigendes Kunstwerk schaffen will, so müssen sie gehört werden, und ich kann dem Dichter nur den Rath geben, bei seinem nächsten Versuch die Sage zur Herrin zu erheben, und die Geschichte in
eine dienende Stellung herab zu drücken.
Julian Schmidt.
Zur Fortsetzung von Gneisenau's Biographie. DaSLeben des Feldmars challS Grafen Reit Hardt v. Gneisenau.
IV. Band.
1814 und 1815.
Von Hans Delbrück.
deS gleichnamigen Werkes von G. H. Pertz. Verlag von G. Reimer.
Berlin.
Fortsetzung
Druck lind
1880.
Die drei ersten Bände des Lebens Gneisenau's erschienen in den Jahren 1864—1869; sie führen bis zu den letzten Tagen des December
1813,
rüstete.
als die Blüchersche Armee sich zum Uebergang über den Rhein Bis zum Erscheinen des jetzt vorliegenden vierten Bandes sind
dann leider mehr als 10 Jahre verflossen.
Hohes Alter und zunehmende
Kränklichkeit hinderte den Dr. Pertz seine Arbeit abzuschließen, und doch mochte er ihre Vollendung nicht aufgeben.
Nach seinem Tode hat Dr. H.
Delbrück auf den Wunsch der Gneisenauschen Familie und des Verlegers die Fortsetzung übernommen.
Der zu Anfang d. I. erschienene vierte Band
umfaßt die Jahre 1814 und 1815.
Ihm wird noch ein fünfter zugleich
letzter Band folgen, der für die nächsten Wochen angekündigt ist. Dr. Delbrück hat die überaus reichen Briefschätze, die auch dieser
Band wie die früheren darbietet, nicht wie Pertz dies mit einem guten
Theil zu thun pflegte, in die Erzählung eingeflochten, sondern sie geson dert folgen lassen, wodurch sowohl die überhaupt sehr klare und präcise Darstellung an Einheit gewinnt, als auch der Genuß der Briefe erhöht
wird.
Sehr dankenswerth sind die dem Text eingefügten einfachen Karten
zeichnungen, durch welche die Bewegungen und Stellungen der kämpfenden
Heere an entscheidenden Tagen veranschaulicht werden.
Für die Dar
stellung des Winterfeldzugs von 1814 und seiner für die schlesische Armee
so herben Wechselfälle bezieht sich Delbrück insbesondere aus eine neue, nach den Acten des Kriegsarchivs erfolgte, nicht publicirte Bearbeitung
deö Feldzugs von Major Bote, die ihn in wichtigen Punkten zu einer,
von dem Hergebrachten abweichenden Auffassung geführt hat.
Gneisenau's Plan, den Krieg unbekümmert um
die französischen
Festungen durch den raschen Vormarsch auf Paris zu beendigen, stieß be-
44*
620
Zur Fortsetzung von Gneisenau'S Biographie.
kanlltlich längere Zeit auf allgemeinen Widerspruch.
Sein beständiger Hin
weis darauf, daß Paris in weit höherem Maße das bestimmende Centrum Frankreichs fei, als die Hauptstadt irgend eines andern Landes, wurde nicht verstanden.
Da in den Kriegen, welche Preußen, Oesterreich, Ruß
land geführt hatten, die Besitznahme Berlins, Wiens, MoSkau'S keine
Entscheidung gebracht hatte, sollte auch die Besitznahme von Paris nicht entscheiden.
Die Erinnerung an die unglückliche Wendung deS Einmar
sches von 1792, eine vage Scheu vor der allgemeinen Erhebung, deren
daS französische Volk zur Vertheidigung seiner Hauptstadt fähig sein werde, und die Furcht vor dem
militärischen Genie Napoleons
kamen hinzu.
Bei den Oesterreichern wirkte militärische Unfähigkeit und politische Berech nung in dem Widerstand gegen die Idee der Führer der schlesischen Armee zusammen.
Jedoch auch König Friedrich Wilhelm scheute sich anfangs, daS
nach schweren Geschicken endlich Wiedererrungene durch gewagte Unter
nehmungen auf das Spiel zu setzen, und wurde durch einzelne Personen seiner militärischen Umgebung, die in dem Rufe tiefsinniger Strategen
standen, in seiner Besorgniß bestärkt.
Erst allmählich gelang es, den
Kaiser Alexander, welchem Stein die Briefe Gneisenau'S vorlegte, für den Vormarsch zu gewinnen.
Aber da die Führung der großen Armee unter
Schwarzenberg durch politische Nebenabsichten bestimmt und militärisch um
ein halbes Jahrhundert anttquirt war, so blieb auch jetzt die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß die überlegenen Heeresmassen der Verbündeten
zurückweichen würden, und ein schimpflicher Ausgleich so vielen Anstrengungen
folgte.
Waren doch die Unfälle Blüchers an der Marne wesentlich die
Schuld der großen Armee, die ohne alle Noth sich zurückziehend die Lücke geöffnet hatte, in welche Napoleon eindringen konnte, um die CorpS der
schlesischen Armee auf ihrem Marsche vereinzelt zu schlagen.
Der zuver
lässigste Helfer deS Gneisenauschen, auf den Sturz Napoleons gerichteten KriegSplaneS war Napoleon selbst.
Er konnte, als die Verbündeten Ende
1813 in Frankfurt tagten, noch die Rheingrenze und
als sie wenige
Märsche vor Paris standen, noch die Grenzen der alten bourbonischen Mon archie erlangen.
Aber die Erfolge, welche sein Genie noch einmal errang,
wurden, indem sie ihn in der Unbeugsamkeit bestärkten, sein Verderben.
AIS er die schlesische Armee vernichtet glaubte, hatte sie sich mit unver
gleichlicher moralischer Kraft nördlich der Marne wieder gesammelt, und stand nach Bereinigung mit den zwei, von der Maas herangerückten Corps
von Bülow und Winzingerode schlachtgerüstet da.
Freilich gab auch sie daS
kühne Wagen auf, das bisher den Charakter ihrer Kriegsführung bestimmt
hatte.
Auf Grund deS Gneisenau-Bohenschen Briefwechsels sucht Delbrück
nachzuweisen, daß die mehr defensive Haltung, welche die Armee mit der
Zur Fortsetzung von Gneisenau'« Biographie.
621
Schlacht bei Laon beobachtete und wobei allerdings die Gelegenheit, den
in seinen Kräften weit überschätzten Feind durch einen Hauptschlag zu
vernichten, versäumt wurde, nicht in äußern Umständen, z. B. der Krank
heit Blüchers, sondern in der bewußten Aenderung des Kriegssystems seinen Grund gehabt habe. Bemerkenswerth sind
allerdings die
in dieser Beziehung
Briefe
Boyen's vom 3. und 6. März nebst beigefügtem Memoire, worin ausge führt wird, daß wenn die große Armee ihren Rückzug fortsetze, man eine
Schlacht vorläufig vermeiden müsse.
schlesische Armee ge
„Wird die
schlagen und zersprengt, heißt es darin, was möglich wäre, so ist der
Rhein verloren und ein schimpflicher Frieden gewiß.
Bei der schlesischen
Armee sind alle preußischen Truppen und wir müssen diese dem Vater lande erhalten."
Die trostlosen Zustände der Truppenverpflegung, welche
die Kräfte der Soldaten erschöpft und die Bande der Disciplin bedenk lich gelöst hatten, werden außerdem für ein Einhalten in der Offensive
„Selbst die lockendsten Aussichten auf einzelne GefechtS-
geltend gemacht.
vortheile, meint Doyen, müssen uns nicht hinreißen, vorzugehen, ehe wir unS die Verpflegung etwas gesichert haben, wenn wir dem Urtheil der
unpartheiischen Nachwelt
hinzu:
„Alles
gesagte
ruhig sind
entgegensehen
wollen."
auch meine Ansichten. . .
Bülow
fügt
Die preußische
Armee muß nicht vernichtet werden, wenn Preußen eine Rolle unter ver bündeten Mächten spielen soll".
Und Gneisenau antwortet Doyen von
Laon auS am 15. März: „Laon halten, daselbst eine Defensivschlacht an nehmen, sonst weiter jetzt für'S Erste nichts wagen, das ist die Substanz Ihrer Rathschläge.
Ich bin hierin vollkommen mit Ihnen einverstanden."
Wir heben noch einige besonders interessante Stellen aus dem Brief
wechsel dieser Periode heraus.
Ueber die Niederlage an der Marne
schreibt Gneisenau am 10. März an Hardenberg:
„Sie meinten,
liebe
Excellenz, daß ich nach der Schlacht von Brienne unstreitig den Feind zu gering geschätzt habe.
DaS habe ich nicht gethan, aber wohl will ich mich
zu der Schuld bekennen, die damaligen Unfälle der schlesischen Armee durch meine Nachgiebigkeit gegen eine fremde Meinung herbei
geführt zu haben.
Sobald ich den Feind in der Nähe unserer Kantoni-
rungen bemerkte, wollte ich die schlesische Armee auf dem rechten Ufer der
Marne vereinigt wissen.
Man stellte mir die Dispositionen
aus dem
großen Hauptquartier und dann das Aufgeben unserer KommunicationS-
linie entgegen.
Ich war schwach und gab nach.
So wurden wir en
detail geschlagen, woran die Uneinigkeit der Generale und Nichtbefolgung
der Dispositionen ebenfalls ihren Antheil hatte.
Die Art, womit mich
der König in Trohes empfing, hat mir wehe gethan, da ich mir des
Zur Fortsetzung von Gneisenau'S Biographie.
622
Vesten Willens, ihm treu, redlich und mit Anstrengung zu dienen bewußt bin.
Die etngetretmen Unfälle sollten einem General nicht so streng an
gerechnet werden.
Meine damalige Schwäche habe ich durch Festhalten
hei meiner Meinung seitdem wieder gut gemacht, da ich auf dem Uebergang über die Aube und Marne bestand, eine Operation, die seitdem so
gute Resultate gegeben hat"...
„Es ist mir außer allem Zweifel, daß
wir Napoleon vom Thron stürzen können, wenn wir wollen.
Unsere
Armee ist mit den detachirten Corps über 130,000 Mann stark.
allein könnten dem Krieg ein Ende machen." des
Wir
Und als endlich das Ziel
militärischen Strebens erreicht, Paris genommen ist, schreibt er
20. April an Eichhorn:
„Wir waren eben im Begriff den Montmartre
zu stürmen, als die Nachricht officiell uns zukam, eS sei Waffenstillstand. Ich wollte den Sturm verhindern, allein die Truppen waren schon im
Gefecht und nicht mehr zu halten. So wurde also mit Sturm genommen, was wir auf unblutigem Wege hätten erhalten können.
Franzose und Russe fand dabei sein Grab.
Noch so mancher
Des anderen Tages zogen
wir in Paris ein. Ich kehrte mich nicht an diplomatische Rücksichten und rief dem Volke stets zu: L bas le Tyran!
Regsam, wie es ist, hallte
eS bald ebenso wieder. — Ich bin bis zur Eroberung von Paris der Ge genstand der Lästerungen und Verwünschungen gewesen.
Man gab mir
die Verlängerung des Kriegs und den Entwurf des für unsinnig ge haltenen Marsches auf Paris und zwar nicht mit Unrecht Schuld.
Russen
und viele Preußen sahen mich für einen politischen Mordbrenner an.
Unbefangene nur beurtheilten die Dinge richtig. Der Congreß in Chatiüon küßte Caulaincourt die Hände, um Frieden zu erhalten.
Ich hatte zwei
Mächtige Verbündete, den Kaiser Alexander und Napoleon.
Jener gab
endlich der Meinung der Friedliebenden gezwungen nach; dieser verwei
gerte hartnäckig jede Ausgleichung, obgleich man sich zu den schimpflichsten
Bedingungen verstand.
Ihm haben wir unsere Erfolge zu verdanken.
Wenn solche eingetreten sind, will Jeder dazu mitgewirkt haben."
Und
endlich in einem Brief an Clausewitz vom 28. April saßt Gneisenau in ehrlichster Selbstkritik die Geschichte des ganzen Feldzugs zusammen und schließt dann mit der Demuth und dem Stolz des Mannes, der sich
nach so großen Dingen als Werkzeug in der Hand einer höheren Macht
fühlt: „Sie sehen hier, mein Freund, die Hand eines allgewaltigen Schick
sals,
das unsere Fehler dem Tyrannen zum Verderben gereichen ließ.
Man bat, man bettelte endlich um den Frieden; vergeblich.
ihm Belgien lassen und das linke Rheinufer.
Man wollte
Nur Mainz erbat man sich
mit einem Radius; vergeblich. Comment! Ferais-je la paixavec mes
prisonniers? sagte er.
Er meinte, er sei nun näher an München, als
Zur Fortsetzung von Gneisenau'- Biographie.
623
wir an Paris. — Knesebeck und Schöler bewiesen sehr pedantisch, man müsse eine verständigere Art Krieg zu führen anfangen; man sollte an
den Rhein zurückgehen, um dort die Festungen zu belagern und uns eine Basis zu erobern.
Die russischen Generale wollten heim.
gaben diesen Meinungen größeres Gewicht.
gespottet.
und
Von der Promenade
hinter meinem Rücken, versteht sich.
weissagt.
Und
Die Unfälle
Ueber mich ward geflucht
nach Paris redete Jork höhnisch,
Das schrecklichste Unglück ward ge-
wirklich, hätte nicht das allgemeine Schicksal meine Be
hauptungen gerechtfertigt, indem eS unsere Fehler dem Feinde zum Ver derben gereichen ließ und die Menschen wider ihren Willen zu den ent
scheidenden Schritten fortriß, ich weiß nicht, wie es mir ergangen sein
würde.
Ich waffnete mich mit Trotz gegen das Urtheil der Menschen
und ging mit Zuversicht — denn ich war nie kleinmüthig — den Er
eignissen entgegen.
DaS Einzige, was ich fürchtete, war, daß man zur
Unzeit Frieden machen möchte.
Ich schrieb dem Staatskanzler nach unsern
Unfällen, daß ich nicht einen Augenblick zweifele, daß man Napoleon jetzt vom Throne stürzen könne, wenn man wolle.
Wenn aber der Klein-
muth, die Unentschlossenheit und die Zwietracht im großen Hauptquartier
noch so herrsche, wie in den letzten vier Wochen, so solle man Frieden meinethalben machen, aber nur unter der Bedingung, daß Belgien, das
linke Rheinufer nebst Lothringen und Elsaß uns überlassen werde. Dann
allein könne man hoffen, daß Napoleon seiner Nation verächtlich werde und er späterhin vom Throne gestürzt werden könne.
Aber wie wett waren diese
meine Entwürfe von dem, waS unsere Diplomaten bereits bewilligt hatten!" Als der erste Pariser Friede abgeschlossen war, hatte Gneisenau die Absicht, sich vom politischen Leben zurückzuziehen, die Uebernahme deS
Kriegsministeriums, daS der König ihm anbot, lehnte er ab.
Allein die
gefährliche Wendung, welche die Verhandlungen des Wiener CongreffeS
in der sächsischen und polnischen Frage nahmen, ließ ihn nicht lange an seinem häuslichen Heerd in Schlesien.
Delbrück bemerkt, wie er aus der
Ferne über die Ursachen deS drohenden Conflicts und die Stellung der
Personen richtiger urtheilte, als Hardenberg am Ort der Verhandlung selbst.
Hardenberg ließ sich bis zuletzt' durch daS Doppelspiel Metternichs
täuschen, Gneisenau durchschaute von vornherein dessen Arglist und Feind seligkeit.
„Ich habe mich, schreibt er 26. November 1814 an Bohm,
überzeugt, daß seine Absicht ist, Preußen nicht mehr zur Höhe seines vorigen Einflusses und verhältnißmäßiger Macht gelangen zu lassen und daß er für diesen Zweck ebenso eifrig arbeitet, als für die Vergrößerung
Oesterreichs.
Er thut hierin als österreichischer Minister im Allgemeinen
nicht so sehr Unrecht, aber eS kommt darauf an, diese seine Absicht klar
Zur Fortsetzung von Gneisenau'S Biographie.
624
zu erkennen und folglich seine Schritte hiernach zu beurtheilen."
Der
Mann deS entschlossen auf das Ziel gerichteten Handelns hatte schon in Paris daran gedacht, der diplomatischen Action Preußens durch eine rnilu tärische Action Respect zu verschaffen.
„Als ich in Paris Metternichs
Ränke entdeckte (An Clausewitz 30. December 1814), rieth ich, sogleich
150,000 Mann am Mittelrhein zu sammeln und hierdurch allen Wider
sprechern Achtung zu gebieten.
Die Bourbons kannten damals ihren
Haushalt noch nicht und hätten sich um unS nicht bekümmert.
Metter
nich wollte Truppen nach Italien und Galizien senden und hätte sich nicht gern in dieser Maßregel stören lassen.
Baiern wäre geschreckt worden;
die übrigen deutschen Fürsten hätten einen Widerspruch nicht gewagt; die
Intrigue konnte sich nicht entwickeln. gewaltsam.
Mein Rath erschien damals
Man wollte ihn nicht befolgen.
als
Jetzt wird man, fürchte ich,
etwas bei weitem Gefährlicheres thun müssen, nämlich die wahre Existenz deS Staats auf das Spiel setzen und um die Früchte unserer Siege noch mal streiten.
In Hinsicht auf Oesterreich erscheint der Kampf mir nicht
als gefährlich, aber wohl der mit Frankreich.
Auf England dürfen wir
bevor uns daö Messer an der Kehle sitzt nicht rechnen, auf den Fürsten der Niederlande noch weniger.
Wir sind also auf der westlichen Grenze
unseren eigenen Kräften, unserer Entschlossenheit überlassen, wie sehr letz
tere uns oft erschwert wird, wissen Sie." Rücksichtslos und kühn sind die Pläne des wagenden Helden in dieser
kritischen Zeit.
Wenn Oesterreich das System des preußisch-österreichischen
ZusammenhaltenS verwarf, so war er bereit, den Kampf mit ihm aufzu nehmen und für Preußen allein die Hegemonie in Deutschland zu erobern;
zu diesem Zweck scheute er sich nicht, den Krieg mit Oesterreich und Frank reich zugleich zu führen.
Er warf sogar den verwegenen Gedanken hin,
Napoleon zur Rückkehr von Elba selbst zu verhelfen und durch ihn Frank reich, wie er meinte, in einen langwierigen Bürgerkrieg zu verwickeln.
Oesterreich sollte durch Aufstände in Italien und Ungarn gelähmt werden. Als die Nachricht kam, daß Napoleon von Elba aus den französischen
Boden betreten habe, hoffte er, daß nun der innere Krieg in Frankreich
beginnen werde, und der Augenblick schien ihm gekommen, Oesterreich aus Deutschland zu entfernen. „Wird man Verstand und Entschlossenheit haben,
schreibt
er an
Bohen, ,die neue Begebenheit, wenn sie noch Folgen haben sollte, zu
unserem Vortheil zu benutzen? neue Unternehmung,
Italien entzündet ...
Glückt Napoleon nur einigermaßen seine
so ist der bürgerliche Krieg in Frankreich und Ich meine, daß wir nun, wenn Alexander ein
willigt, in Deutschland die Herren sind." —
Zur Fortsetzung von Gneisenau'S Biographie.
625
Allein es kam in Frankreich zu keinem Bürgerkrieg, vielmehr zeigte
der sofortige Zusammenbruch des bourbonischen Regiments die Haltlosig keit der Grundlage, auf welcher jene Combinationen beruhten.
Jetzt gab
eS nur noch das eine Ziel, den gefährlichsten Feind so schnell als mög
lich nieder zu werfen; zu verhüten, daß er die Kräfte zu neuen Heeres
zügen nach Deutschland sammelte.
Gneisenau'S Vorschläge waren auf
eine Action gerichtet, die dem Gegner nicht drei Monat Zeit zur HeereS-
rüstung und der Ergreifung der Offensive gelassen haben würde.
dessen als Napoleon die belgische Grenze erreichte,
In
erwartete ihn eine
preußische Armee von 120,000 Mann, welche Fühlung hatte mit dem
englisch-batavischen Heere unter Wellington in der Stärke von 96,000 Mann.
DaS Schicksal deS Feldzuges hing davon ab, ob eS Napoleon
gelingen würde, beide Armeen vereinzelt mit Uebermacht anzugreifen und
so zu schlagen. ES gelang ihm bei Lignh durch die Schuld Wellington'S.
Blücher
würde die Schlacht nicht angenommen haben, wenn ihm nicht Wellington persönlich und unmittelbar vor dem Beginn deS Gefechts die Versicherung
ertheilt hatte, daß er 60,000 Mann zu seiner Unterstützung bei Quatrebras bereit halte.
Statt dessen hatte er dort thatsächlich nur 7000 M.,
die sammt den allmählich nachrückenden Verstärkungen von dem Ney'schen
CorpS ins Gefecht verwickelt und festgehalten wurden. Delbrück stellt unge schminkt die Unwahrhaftigkeit des englischen Feldherrn und die Motive dar, die ihn in dieses wenig würdige Verhalten dem vertrauenden Bundesgenossen
gegenüber wahrscheinlich gebracht hatten.
Trotz dieser schweren Erfahrung
ertheilte Gneisenau am Abend der unglücklichen Schlacht den Befehl, die
Rückzugslinie nicht nach Osten zur Sicherung der natürlichen Verbindungs linien, sondern nach Norden (Wavre) zur Erhaltung des Zusammenhangs mit der englisch-batavischen Armee zu nehmen. Dieser großartige Entschluß
rettete
Wellington von dem Untergang und
Napoleons.
entschied die Vernichtung
Denn nun konnte Blücher dem Brittischen Feldherrn ver
sprechen, daß er am 18. Juni mit seiner ganzen Armee ihm zu Hülfe eilen werde.
Und er hielt, zuverlässiger als jener, sein Wort; die moralische
Kraft der Führer und der Truppen reichte hin, um anderthalb Tage nach
der erlittenen Niederlage unter Ueberwindung der unsäglichsten Schwierig
keiten in eine zweite Schlacht zu ziehen und sie zu entscheiden.
Mit Recht,
wie uns scheint, hebt Delbrück hervor, daß die Einwirkung der Preußen
auf den Gang der Schlacht nicht erst mit ihrem activen Eingreifen in der Flanke und dem Rücken des Feindes um 5 Uhr Nachmittags, sondern
schon mit ihrem Erscheinen im Gesichtskreis Napoleons um 1 Uhr Mittags
begann.
Denn von diesem Augenblick an mußte Napoleon seine Reserve
626
Zur Fortsetzung von Gneisenau'S Biographie.
schonen, einen Theil der Garden zurückhalten, die bedrohte Flanke decken
— er mußte seinen Sturmkolonnen die Kräfte entziehen, die zur Durch brechung der englischen Linien nöthig gewesen wären.
Wenn diese Linien,
als die Preußen ihnen Kampf und Verfolgung abnahmen, noch wider
standsfähig waren, so beweist dies nichts gegen die kaum bestreitbare Annahme,
daß sie ohne Blüchers Erscheinen zermalmt worden wären.
Daß Napoleon's Regiment nach der Rückkehr von Elba nur 100 Tage dauerte, hatte Europa der Energie zu verdanken, die im preußischen Heerlager waltete. Schlacht
ES
ist bekannt,
persönlich die Verfolgung
wie Gneisenau am Abend
des fliehenden Feindes
bis
der
zum
letzten Hauch von Mann und Roß leitete, fast feine ganze Artillerie
nahm und die noch festen Formationen zur Auflösung brachte.
Vier
Tage später war Napoleon genöthigt die Krone niederzulegen, und am
7. Juli zog Blücher, dem Wellington langsamer und widerwillig folgte,
in Paris ein. Der Gegensatz zwischen dem brittischen Feldherrn, der den Bourbon wieder einsetzen und Frankreich behandeln wollte als ob eS an dem Krieg
nicht mitbetheiligt fei, und zwischen den preußischen, die endlich nach so namenlosen Opfern an Gut und Blut an der gewaltthätigen Nation Ge
rechtigkeit üben und durch Verminderung ihres Ländergebiets dem Vater
land dauernden Frieden sichern wollten, mußte alsbald heraustreten.
Im
Einzelnen mochte der Ingrimm über die ungeheure Mißhandlung, die Krone und Volk durch Bonaparte erlitten, sie vielleicht zu weit führen;
es ist am Ende doch besser, daß Napoleon nicht, wie Blücher und Gnei senau wollten, auf dem Platze erschossen ward wo der Herzog von Enghien fiel, und daß die Sprengung der Brücke von Jena zuletzt verhindert
wurde.
In der Hauptsache aber, daß Frankreich die finanziellen Auf
wendungen deS Kriegs voll bezahlen solle und daß die Sicherung vor ihm
nur in einer realen Verminderung seines Territoriums liege, hatten sie
Recht.
Auf seinem Zuge nach Paris schreibt Gneisenau 22. Juni an
Hardenberg: „Es erregt in der Armee die höchste Indignation zu erfahren, daß die verbündeten Mächte mit den BourbonS einen Traktat geschlossen
haben, worin ihnen sogleich die Verwaltung der eroberten Länder über
geben wird.
Man sagt sogar, es sei ihnen die Integrität Frankreichs
garantirt! Sie, mein verehrter Fürst, stehen in der Meinung der Welt
hoch; was ich also zu sagen im Begriff bin, kann ich mir erlauben, da
eS keinen Schatten auf Sie wirft.
Aber die übrige diplomatische Sipp
schaft ist durch ihre Mißgriffe und Schlechtigkeiten so sehr in der Meinung
der Welt gesunken und so sehr mit Verachtung belastet, daß ich meinen Sohn enterben würde, wenn er in diese Laufbahn eintreten wollte.
Es
Zur Fortsetzung von Gneisenau'S Biographie.
627
ist Zeit, daß Sie, edler Fürst, dieses Geschmeiß abstreifen und in ihrem Glanze allein dastehn."
„Die Welt fordert, daß sie in Sicherheit gesetzt werde gegen den unruhigen Geist eines schlechten, aber fähigen und tapfern Volks, und for
dert dies mit Recht.
Wehe denen und Schande ihnen, wenn diese einzige
Gelegenheit nicht ergriffen wird, um Belgien, Preußen, Deutschland zu sichern auf ewige Zeiten."
„Die französischen Festungslinien gegen Belgien müßten diesem gegeben werden, dagegen muß Luxemburg nebst dem deutschen Gebiet dieses Na
mens uns verbleiben nebst Mainz.
Das französische Luxemburg kann dem
Hause Nassau gegeben werden und uns dagegen die Länder dieses Hauses
Anspach und Baireuth muß uns erworben werden
am rechten Rheinufer.
und wir dagegen BaiernS Entschädigung im Elsaß erobern. Die Festungen
der Mosel und des Rheins müssen von Frankreich abgerissen werden nebst Lothringen und alles Land, dessen Flüsse sich in die Maaß ergießen."
„Geringeres als dieses darf nicht geschehen oder die Verachtung der Pölker gegen ihre Regierungen wird gesteigert." In der That waren diesmal die militärischen und politischen Autori täten Preußens in ihren Forderungen einig.
Um Oesterreich zu gewinnen
und den Widerstand Rußlands und Englands zu beseitigen, verzichtete
Preußen ausdrücklich darauf, aus den abzutrennenden Ländern sich selbst zu verstärken; sie sollten den Staaten zweiten Ranges zu Theil werden.
Memoire,
in welchem
Das
Gneifenau die schalen Gründe des Minister-
Castlereagh gegen eine Landabtretung Frankreichs abwies, könnte sammt
der Note des Engländer- auch im Jahre 1870 geschrieben sein. Allein wer hatte an dieser Zurückführung Frankreichs auf weniger
bedrohliche Grenzen
ein wirkliches Lebensinteresse außer Deutschland?
Und wer fühlte sich damals deutsch und vertrat Deutschland außer Preußen? Preußen aber war damals zwar mit kriegerischem Ruhm bedeckt, allein ein
erschöpftes, armes Land von kaum 10 Millionen Seelen.
In der Politik
aber entscheiden die Kräfte, und wenn eine hohe militärische und politische Energie auch ein Mindermaß materieller Kraft ergänzen kann, so vermag sie doch nicht Mißverhältnisse auszugleichen, wie sie damals vorhanden
waren.
So schrieb denn Gneisenau am 17. August 1815 an Arndt:
„Wir sind in Gefahr einen neuen Utrechter Frieden zu schließen und die hauptsächlichste Gefahr kommt abermals aus denselben Gegenden wie
damals.
England ist in unbegreiflich schlechten Gesinnungen und mit
seinem Willen soll Frankreich kein Leid geschehen.
Nicht Land, höchstens
etwas Contribution soll man von ihm nehmen.
Wenn Rußland eine
solche Sprache führt, so begreift sich das aus seiner selbstsüchtigen Politik,
628
Zur Fortsetzung von Gneisenau'» Biographie.
die nicht will, daß Preußen und Oesterreich gefahrlos in ihren westlichen
Grenzen dastehen, und an Frankreich einen immer bereiten Bundesgenossen sich zu erhalten gedenkt; wenn aber England auf der Integrität deS fran zösischen Gebietes besteht, so kann man in einer solchen Verkehrtheit nicht-
als das Bestreben erblicken, den Krieg auf dem Kontinent zu nähren und
Deutschland von sich abhängig zu machen." Reimer:
Und am 18. September an
„Was Frankreich wird abgenommen und wozu es wird ver
pflichtet werden, ist mehr als genug, um es zu erbittern und zu reizen, aber Nichts ist geschehen, um uns andere zu schützen.
Hierin der Keim
zu neuen Kriegen, waS England und Rußland wollen und das furchtsame
Oesterreich mit seinem doppelsinnigen Metternich gestattet." Voller Entrüstung hatte Gneisenau zwei Tage früher an Bohen „Gestern habe ich erfahren,
geschrieben:
an mehrere seiner Generale gesagt hat:
möglich,
daß
wir
dereinst
dem
daß
der Kaiser Alexander
Meine Herren,
König von
Preußen
eS ist sehr gegen
seine
Armee zu Hülfe kommen müssen. — Welche schändliche Verläumdung!" ES war freilich eine schändliche Verläumdung eines so treuen, so der
Dynastie ergebenen, so unbedingt gehorchenden Heeres.
Und doch ist es
verständlich, daß der Herrscher des slavischen Ostreichs von Abneigung und Furcht ergriffen wurde vor den nationalen Ideen, die jetzt in den
besten Köpfen der preußischen Armee erwacht waren. Vater deS Feldmarschall v. Steinmetz,
Gneisenau:
Damals schrieb der
deS Siegers von Nachod,
an
„ES ist keine Rettung für Deutschland und für Preußen
selbst, als dadurch, daß diesem Hause die Oberherrschaft übertragen wird,
und dazu sollte ich doch meinen, daß alle oder doch die Mehrheit der deutschen Stimmen zu gewinnen sein mögen.
Wirklich ist eS jetzt Pflicht,
daß Preußen sich darum bemühe, obwohl die alte Meinung seiner Herrsch
sucht dadurch aufs neue geweckt wird.
Oesterreich ist kein deutsches Hau
mehr, Italiener, Ungarn, Polen, Böhmen und die Slavonier sind */»
gegen die Deutschen diese- Staats; wie wollen ihre Fürsten und Herren gleiche Meinung, gleiches Interesse mit uns haben können...
Ernstlich
möchte ich jetzt einen Bund entstehen sehen, der der preußisch-deutsche hieße, denn ohnedem war alles Streben und Treiben nicht deS Mühens
werth, wie sollen wir zur Ruhe kommen und Freiheit behalten, zu denken und zu thun, wenn in Deutschland nicht Einheit und eine kräftige Ein
heit durch Preußen ist." DaS alles klingt wie ein Programm zu den Kämpfen, die wir nach
vielen Fehlern und Irrungen, 1866 und 1870 endlich glorreich durchge führt haben.
Gneisenau insbesondere ist eine Heldengestalt, die ganz htn-
einragt in unsere neue Zeit; die Beweglichkeit und Fruchtbarkeit' seiner
Zur Fortsetzung von Gneisenau'S Biographie.
629
Phantasie, der Realismus, mit dem er für den nationalen. Zweck die Mittel sucht, wo er sie finden kann, die gradeauS auf das Ziel gerichtete Thatkraft erinnern uns oft an die großen Züge der Politik, der eS ge lang, die Auseinandersetzung mit Oesterreich
zu vollziehen und unsere
Grenzen nach Metz und den Vogesen vorzurücken.
Wie eine Weissagung
auf die Zukunft lauten seine Briefe. Und wenn seine Ideen und Forde
rungen der realen Macht Preußens voraus eilten, so gehörte er doch zu
den schöpferischen Geistern, die jene Macht so Herstellen, geistig beleben
und stärken halfen, daß sie in natürlicher Entwickelung groß genug ward, um endlich auch die höchsten, von ihm erstrebten und vorauSgeschauten
Ziele zu erreichen.
Parlamentarisches und konstitutionelles System. (Zu Dr. Jollh's Schrift: Berlin 1880.
Der Reichstag und die Parteien. —
Druck und Verlag von G. Reimer.)
Unter den Männern, welche sich um unser Vaterland in der großen
Zeit seiner nationalen Neugestaltung dauernde Verdienste erworben, nimmt Dr. Jolly eine der hervorragendsten Stellen ein.
Unvergessen wird die
Energie des Charakters bleiben, mit welcher er in der Krisis von 1866 bei dem Ausbruch des böhmischen Kriegs feststand, als Regierung und Volk in Baden von der antipreußischen Strömung fortgerissen wurden; unver
gessen auch die Kraft und Besonnenheit, womit er dann die Verwaltung
des Großherzogthums im treuen nationalen Sinn leitete und die Ver schmelzung des Einzelstaats mit dem Reich in den wichtigsten, besonders
den militärischen Beziehungen durchführte.
Die Urtheile eines solchen
Mannes haben, auch wo sie sich in das unscheinbare Gewand eines ob
jectiven Rückblicks auf die Thätigkeit deS Reichstags und der Parteien
kleiden, allen Anspruch auf unsere Beachtung. Im Grunde hat aber die umfangreiche Schrift Jollh's keinen historisch
theoretischen, sondern einen praktisch-politischen Zweck; sie will den Leser
zu der Einsicht führen, daß das Unbehagen, welches in Deutschland trotz der großartigen Entwicklung unseres nationalen Staatswesens verbreitet sei, vorzugsweise darin liege, daß man unsere politischen Zustände nach dem Maßstabe deS parlamentarischen RegierungSsystemS messe und dann
allerdings sich unbefriedigt fühlen müsse.
Es mag sein, daß der Ver
fasser dieses Element der Unzufriedenheit etwas zu hoch veranschlagt.
Einen größeren Antheil an den Verstimmungen tragen doch wohl die
wirthschaftlichen Krisen, die maßlose Erweiterung der industriellen Pro duction nach dem französischen Krieg, das Gründungsunwesen, die Rück schläge und Verluste die dann folgten, die socialistische Agitation unter
der arbeitenden und die ultramontane unter der katholischen Bevölkerung, dazu eine Reihe mittelmäßiger und schlechter Ernten bei steigender Concurrenz fremder getreideproducirender Länder und Welttheile. Denken wir
Parlamentarisches und konstitutionelles System.
631
UNS diese Elemente hinweg, so würde auch von dem Mißbehagen in weiten
Kreisen der größere Theil geschwunden sein.
Aber richtig ist wohl, daß
die düsterste Ansicht über den Gang unserer öffentlichen Angelegenheiten heute weniger im Volk als bei den, an der Politik activ betheiligten Par
teien und besonders bei den Parlamentariern der liberalen Parteien sich findet, und hier mag das aus unsere thatsächlichen Verhältnisse nicht an
wendbare
Ideal,
daS ihnen vorschwebt,
nicht
ohne Einfluß
auf die
hypochondrische Auffassung der Dinge sein. Unsere Schrift schafft sich den Boden für ihre späteren Schlüsse durch
eine Schilderung der Leistungen des Reichstags und eine Charakteristik des Wesens der Parteien.
Die Klage ist ja weit verbreitet, daß der
Reichstag gegenüber der alles überragenden Macht des Kanzlers bedeu
tungslos sei, und doch läßt sich nachweisen, daß der erstere neben dem letzteren, dessen eigene Intentionen fördernd, hemmend oder umgestaltend, eine reiche Wirksamkeit entfaltet hat.
Er hat nicht blos auf allen Gebieten
der Gesetzgebung theils eine einflußreiche Mitwirkung geübt, theils den Impuls und die Richtung gegeben, — die Verfassung selbst, die dem Reich
gegeben wurde, ward durch den constituirenden Reichstag fundamental um
gestaltet und erhielt im Vergleich zu dem ursprünglichen Entwurf anderes Gepräge.
ein
Erst durch die Compromisse, welche mit dem Reichstag
in den Bestimmungen über das Militärwesen, das Budget und die Ver antwortlichkeit des Bundeskanzlers geschlossen werden mußten, trat an die
Stelle eines an Preußen angelehnten Bundes das Reich als eine wirkliche Staatseinheit.
Diese zum
Theil selbsterworbenen verfassungsmäßigen
Rechte hat der Reichstag mit Erfolg gehandhabt und weitergebildet.
Es
gilt das insbesondere auch von seinem Recht in Finanzfragen, wo seine
entscheidende Stimme von der Reichsregierung stets vorbehaltlos anerkannt wurde.
Auch in dem bekannten Frankensteinschen Antrag, wonach
die
Einkünfte der Zölle und Steuern über den Betrag von 130 Millionen hinaus den Einzelstaaten znfallen sollen, sieht mit Recht unsere Schrift
keine nachtheilige Veränderung der Lage.
Denn nunmehr würden die
Matricularbeiträge bleiben und der Genehmigung des Reichstags unter
liegen, es gäbe aber keine solidere weil williger getragene Abhängigkeit
der Einzelstaaten vom Reich, als wenn sie aus den Kassen deS letzteren im wachsenden Maße Zuschüsse erhielten. — Dagegen ist es dem Reichstag allerdings nicht gelungen, auf den Gang der Regierung — abgesehen von
Gesetzgebung und Budget — Einfluß auszuüben. Die obersten Reichsämter sind ohne ihn besetzt, wie die preußischen Ministerien ohne den Landtag besetzt werden.
Auf die Leitung der auswärtigen Politik hat er keine Einwirkung
gehabt, und wo er, wie bei der Frage der Aufnahme Badens in den
Parlamentarisches und konstitutionelles System.
632
Bund eine solche ohne Verständigung mit dem Kanzler versuchte, ist er scharf abgewiesen.
Rothbücher oder Blaubücher sind bei uns bekanntlich
nicht eingeführt, und vorläufig wenigstens wird man im deutschen Volke
auch kaum ein Bedürfniß nach solcher Controle unserer von Meisterhand
geleiteten auswärtigen Angelegenheiten fühlen.
Abgesehen von Gesetzge
bung und Budget steht die Regierung dem Parlament frei und unab
hängig gegenüber.
Wir sind also von dem parlamentarischen Regierungs
system sehr wett entfernt geblieben und mußten eS bleiben, weil die that
sächlichen Vorbedingungen für dasselbe bei uns fehlen.
Wo dieselben
vorhanden sind, wird das System sich ohne eine geschriebene Verfassung
einbürgern, wo sie fehlen, wird das Streben danach nur dazu führen, daß wir Verkehrtes fordern und die Ursachen der eintretenden Mißerfolge an
falscher Stelle suchen. Zunächst ist also zu fragen, ob das Wesen unserer Parteien, aus
denen das Parlament hervorgeht, mit jenem RegierungSsystem verträglich ist.
Bon diesem Gesichtspunkt aus versucht unsere Schrift die Parteien nach
ihrer historischen Entwicklung und ihrer Stellung den staatlichen Aufgaben
gegenüber zu schildern.
Die Schilderung ist so ruhig und objectiv ge
halten, wie der Einzelne, der selbst eine feste politische Anschauung hat, dies zu leisten vermag.
Das Resultat ist, daß diejenige Form des Con-
stitutionalismuS, nach welcher die Regierung, wenn nicht formell so doch
thatsächlich mehr oder weniger der geschäftsleitende Ausschuß der parlamen tarischen Mehrheit ist, nach der Beschaffenheit unserer Parteien eine Un
möglichkeit sei.
Zunächst kommt schon der äußerliche Umstand in Betracht,
daß wir viel zu viel Parteien haben und daß keine einzige die Aussicht
hat, in absehbarer Zeit zu einer Majorität zu gelangen.
Das größte
Hinderniß wirft hier das Centrum in den Weg; auf einer außerstaat
lichen Basis beruhend, wird es stets feinem Hauptzweck, der Begründung der absoluten Souveränität der Kirche, die staatlichen Zwecke unterordnen
und daher jeder anderen Partei, welcher diese Zwecke am Herzen liegen, eine Coalition unmöglich machen.
Die Liberalen oder die Conservativen
müßten also, dem vom Centrum beherrschten Drittheil der Stimmen gegen über, fast den ganzen Rest der Wahlsitze für sich allein gewinnen, um eine
sichere Majorität herzustellen. Dies ist schwer zu erreichen, und wenn eS gelänge, würde einer solchen Mehrheit die Stabilität fehlen um eine Regierung zu stützen. Jolly scheut
sich nicht vor dem offenen Ausspruch, daß wir überhaupt keine Partei haben, welche nach ihrer innern Natur den Aufgaben genügen könne, die
das parlamentarische System an sie stelle.
Auch die nationalliberale
Partei, obwohl sie neben ihren theoretischen Ueberzeugungen und Idealen
633
Parlamentarisches und canstitntionelleS System.
grundsätzlich auf die gegebenen Thatsachen Rücksicht nehme, werde, weil sie wesentlich durch theoretische Meinungen zusammengehalten werde, nicht
stark genug sein, die schwere und kostbare Last der Regierung zu tragen. „Man denke sich ein nationalliberales Parteimintsterium; dasselbe würde bestrebt sein, nach den Grundsätzen des Liberalismus die Regierung zu
führen, es würde aber begreiflicher Weife der harten Wirklichkeit mehr und größere Concessionen machen müssen, als das Parteiprogramm mit
sich bringt; umgekehrt würde der Parteianhang in jedem Schritt, durch welchen irgend ein Theil deS Programms verwirklicht wird, eine Be
stätigung seiner Richtigkeit und Ausführbarkeit und darin die Aufforderung
finden, auf dem betretenen Wege weiter voranzuschreiten.
Die Partei
vertritt Ideale, wenn sie dieselben auch mit Rücksicht auf daS praktisch
Erreichbare zu mäßigen weiß und sie nicht abstract, sondern unter Beachtung der gegebenen Verhältnisse entwirft und auszuführen sucht.
DaS Ideal
kann aber nie vollständig verwirklicht werden, eS verliert bei der Ueber-
führung in die Realität unvermeidlich vieles von der Vollkommenheit, mit welcher es in der Gedankenwelt prangte.
Die Mitglieder der Partei
können als Einzelne diesen Tribut an die menschliche Schwäche, welche
daS aus ihrer Mitte hervorgegangene Ministerium abzutragen hat, dem
selben zugut halten; die Partei als solche muß auf dem Standpunkt be harren, daß, nachdem man mit einem ersten Schritt dem Ideal bis zu
einem gewissen Punkte nahe gekommen, in rastloser Arbeit nach voll
ständigerer Verwirklichung desselben gestrebt werden müsse.
So unmöglich
die absolute Erreichung des Zieles ist, so unabweisbar ist für denjenigen,
der überhaupt einen idealen Standpunkt einnimmt, die Forderung, we nigstens nach immer weiterer Annäherung an dasselbe zu ringen.
So
führt der allgemeine Standpunkt der nationalliberalen Partei mit einer gewissen Nothwendigkeit dahin, daß
sie auch einem aus ihrer eigenen
Mitte hervorgegangenen Ministerium, selbst soweit dasselbe streng die Parteigrundsätze zu befolgen bestrebt ist, nicht unbedingt sich unterordnet,
sondern ihm kritisch und treibend gegenüber tritt. Selbst der Retz, die herrschende Partei zu sein, würde sie kaum davon abhalten. Die Herr schaft einer Partei, welche durch gemeinsame Interessen, durch ständische
oder andere persönliche Beziehungen zusammengehalten wird, ist für alle Parteigenossen, auch für die an der Herrschaft direct nicht betheiligten,
von erheblichem Werth, indem sie daS allen gemeinsame Interesse schützt, und alle werden deshalb tot Zweifel geneigt sein, zur Erhaltung dieser Herrschaft um ihrer selbst willen beizutragen.
Die Regierung einer Partei,
welche wesentlich nur in der Gemeinsamkeit ihrer theoretischen Ueber
zeugungen ihren Zusammenhalt findet, bringt den Anhängern derselben Preußische Jahrtücher. Bd. XLVI. Heft 6.
45
634
Parlamentarisches und constitutionelleS System.
keinen andern Gewinn, als daß nach den für richtig gehaltenen Grund
sätzen regiert wird; der Bersuch, der Herrschaft einer solchen Partei da durch einen reelleren Rückhalt zu verschaffen, daß ihr die Vergebung von Aemtern und Würden, von einflußreichen und einträglichen Stellen lediglich nach Parteirücksichten gestattet würde, ist unter unsern Verhältnissen, zum
Glück für uns, unmöglich.
Die Folge ist, daß die Partei sich viel weniger
darum bemüht, die Regierung in der Hand einzelner ihrer Mitglieder zu erhalten, als darum, daß ihre Grundsätze möglichst rein
durchgeführt
werden, und sie ist deshalb wenig geneigt, diesen etwas zu vergeben, um
den Ihrigen die Behauptung der Herrschaft zu erleichtern.
grundsätze,
Die Partei
welche höher stehen als die Partei und sie beherrschen, be
wahren unter allen Umständen ihre Anziehungskraft auf die Parteigenossen und werden gerade die entschiedensten Anhänger und Vertreter der Partei
lehren immer wieder um sich sammeln und leicht in eine Art Oppositions
stellung selbst gegen ein ganz aufrichtiges Parteiministerium drängen, welches durch die Verhältnisse sich genöthigt sieht oder glaubt, die Schärfe
der Principien etwas ermäßigen zu müssen.
Man schenkt dem Führer,
welcher die ihm mit seinen Anhängern gemeinsamen Interessen vertheidigt, sehr leicht das Vertrauen, er werde von denselben nicht mehr aufgeben, als nothwendig und rathsam ist; dagegen verfällt der Vorkämpfer einer
Meinung, wenn er bei seinem praktischen Handeln auf die Umstände Rücksicht nehmen muß, sehr leicht dem Mißtrauen, er habe sei es aus
Ungeschick sei es aus Schwäche zu große Concessionen gemacht, und läuft
Gefahr, daß seine Anhänger um des Princips willen ihn verlassen.
In
einer Partei, welche wesentlich durch die Gemeinsamkeit ihrer theoretischen
Ueberzeugungen, das freieste und flüssigste, was es gibt, zusammengehalten
wird, ist die strenge Parteidisciplin ziemlich undenkbar, ohne welche das parlamentarische Regierungssystem nicht
bestehen kann.
Für dasselbe
taugen nur solche Parteien, welche gewohnt sind, den erkorenen Führern, so lange ihre Führerschaft anerkannt ist, sich unterzuordnen, statt in jedem
einzelnen Fall sich die Prüfung und Entscheidung vorzubehalten, ob die Führer den richtigen Weg verfolgen.
Eine derartige Disciplin liegt den
Nationalliberalen ferner, als allen andern Parteien; es ist bekannt, eine wie weit gehende Toleranz sie unter einander üben müssen, wie die Fälle
gar nicht selten sind, in welchen die Partei bei der Abstimmung, mitunter in fast gleiche Hälften, , sich spaltet oder in welchen einzelne Führer von
dem Gros der Partei sich trennen, ohne darum die Führerschaft zu ver lieren oder aufzugeben, und doch war all diese Toleranz nicht im Stande, die Partei vor der Secession einer Anzahl ihrer hervorragendsten Mit
glieder zu bewahren.
Ist es schon jetzt unmöglich, innerhalb der national-
Parlamentarisches und konstitutionelles System.
635
liberalen Partei eine festgeschlossene Einheit und strenge Unterordnung
unter den oder die erkorenen Führer aufrecht zu erhalten, so würde es unter den Versuchungen des parlamentarischen Systems noch weniger ge
lingen.
Indem dasselbe auf die Erlangung der Mehrheit im Parlament
die Prämie setzt, die Regierung bilden zu dürfen, fordert es neben allen guten auch alle schlimmen Kräfte zum äußersten Wagen heraus.
Wir
würden, wenn wir mit unsern lose verbundenen Parteien auf das System
unö einlassen wollten, die gleiche Erfahrung wie andere Völker vor uns zu machen haben, daß,
je größere Bedeutung der Majorität beigelegt
wird, mit um so geringerem Bedenken Leidenschaft, Ehrgeiz, Eifersucht auf die Erlangung
einer Majorität um jeden Preis hinarbeiten würden.
Hüten wir uns in die Rolle des Pharisäers zu verfallen, wenn wir bei
verschiedenen romanischen Völkern das parlamentarische Negierungssystem
unter der Last persönlicher Intriguen zu einem allerdings sehr unerquick lichen Zerrbild entartet sehen.
Der Grund liegt schwerlich in der Unzu
länglichkeit der Personen, sondern in der Unbrauchbarkeit jenes Systems
ohne eine entsprechende Parteibildung, namentlich ohne eine ganz rigorose Parteidisciplin, welche durch die Volkssitte geheiligt den ausschweifenden
Gelüsten der Einzelnen einen wirksamen Zügel anzulegen im Stande ist. Selbst die parlamentarische Geschichte Englands ist trotz der strammsten
Partcidisciplin, welche eher ein der Abhängigkeit unserer Beamten als
der losen Verbindung unserer Parteien vergleichbares Verhältniß hervor ruft, nicht arm an Ränken und Intriguen aller Art, unter welchen mehr als einmal das Interesse nicht weniger des Staates wie der Partei hinter
die Befriedigung persönlicher Leidenschaft zurücktreten mußte.
nicht schlechter, aber auch nicht besser als andere Nationen.
Wir sind Setzen wir,
ohne vorher für schützende Dämme gesorgt zu haben, auf die reine Aeußerlichkeit, in einer sogenannten Hauptfrage eine Majorität für oder gegen
zusammenzubringen, den höchsten im politischen Leben überhaupt möglichen Preis, die Erlangung der Herrschaft, so wird um denselben bei uns ganz
mit derselben Rücksichtslosigkeit und in schlimmen Fällen mit derselben Gewissenlosigkeit wie bei andern Völkern gekämpft werden. die Regierung
Das Wagniß,
der jeweiligen parlamentarischen Majorität zu überant
worten, kann nur gelingen, wenn die Bildung dieser Majorität nicht dem blinden Zufall, der schrankenlosen individuellen Willkür und Laune der
Einzelnen überlassen wird, sondern nach heilig gehaltenen, politisch-morali schen Gesetzen sich vollzieht.
Soll der Gang der Regierung von der par
lamentarischen Mehrheit abhängig gemacht werden, so müssen die parla mentarischen Parteien unter
einer nur in der Volkssitte zu findenden
zwingenden Gewalt stehen, welche den Eigenwillen der Einzelnen bändigt
45*
636
Parlamentarisches und constitutionelleS System.
und sie der planmäßigen Leitung des einmal erkorenen Führers für die
Dauer seiner Führerschaft unterordnet.
Unsere deutschen Verhältnisse
bieten daS gerade entgegengesetzte Bild dar; innerhalb der Parteien und zu allermeist der liberalen besteht nach der Natur und der Geschichte der
selben die denkbar freieste Bewegung und die loseste Disciplin, und ein
Parteizwang, wie das parlamentarische RegierungSshstem ihn vorauSsetzt, würde, weit entfernt in den volkSthümlichen Anschauungen die ihm noth wendige Stütze zu finden, im Gegentheil den politisch-moralischen Begriffen unseres Volkes geradezu widerstreben."
Bei den Deutschconservativen ist der Zusammenhalt durch altüber lieferte persönliche und Standesbeziehungen erleichtert, aber auch diese
Partei zerfällt bei principiellen Fragen in eine gemäßigte Mitte und einen äußersten rechten Flügel, der zumal in kirchlichen und Unterrichtssachen
sich nicht leicht fügt.
Die Partei ist an sich Gegnerin des parlamentari
schen Systems und zieht eine selbständige und stetige Regierungsgewalt, auf welche sie Einfluß hat, dem Wechsel zwischen der eigenen und der
gegnerischen Partei vor. Und würde ein solcher Wechsel denn möglich und
für den Staat zu ertragen sein?
In England ist es eine und dieselbe
Aristokratie, welche unter der Firma der Tortes und der Whigs regiert;
beide Parteien sind nicht principiell von einander verschieden, wenn in den Wahlkämpfen die Differenzen groß erscheinen, so mindern sie sich sofort,
sobald die oppositionelle Partei an daS Ruder kommt.
Bei unS sind die
Gegensätze von Liberal und Conservativ zwar nicht mehr so schroff, als
bei Einführung der preußischen Verfassungsurkunde, wo kaum ein persön licher Verkehr zwischen den Vertretern der beiden Richtungen bestand, aber doch noch groß genug, daß der Wechsel zwischen der rein konservativen
und der rein liberalen Parteiregierung gradezu die Continuität des Staats
wesens bedrohen würde.
Was die eine Regierung während einiger Jahre
geschaffen, würde die andere in den nächst folgenden Jahren wieder auf
zuheben suchen.
In der theoretischen Schärfe und Zuspitzung dieser Ge
gensätze liegt auch die Unmöglichkeit einer Combination von Conservativ und Liberal, sobald die Parteien als solche mit ihren Führern dieselbe
Herstellen sollen, während die Krone aus ihrer freien Wahl gemäßigt kon
servative und gemäßigt liberale Personen in ihren Rath mit der Hoff
nung berufen kann, daß ein solches, gegen keine Partei engagirtes Mini sterium die Unterstützung bei der parlamentarischen Mehrheit finden wird. DaS parlamentarische RegierungSshstem hat seine Heimath und seine glänzendsten Erfolge in England, und eS ist begreiflich, daß daS Vorbild
Englands unsere Ideen zu einer Zeit bestimmte, wo wir selbst auf dem
Felde der Politik praktisch noch nicht gearbeitet hatten, folglich uns auch
Parlamentarisches und konstitutionelles System.
637
des Unterschieds unserer thatsächlichen Verhältnisse von denen des englischen Volks noch nicht bewußt waren.
Inzwischen haben wir erlebt, daß die
englische Schablone, wenn sie auf Serbien, Rumänien und Griechenland nicht blos, sondern auch wenn sie auf Frankreich, Italien u. s. w. an
gewandt wird, ihre segensvolle Wirkung verliert und Zersetzung und Auf
lösung zur Folge hat.
Daö Bild des heutigen Europa, und wir dürfen
auch die neue Welt hinzu rechnen, ist nicht darnach angethan, um uns
die unabhängige Stellung und Macht unsrer preußischen und deutschen
Krone und die Festigkeit der Stützen, die in einem,
der Politik fern
stehenden Heere und einem integren Beamtenthum liegen, bedauern zu lassen.
Die Grundbedingung des englischen Systems ist das Vorhanden
sein einer mächtigen Aristokratie, in welcher seit Jahrhunderten mehr als in der Krone der Schwerpunkt des staatlichen Wesens lag, welche Herrin
des größten Theils des Grund und Bodens ist, die aufsteigenden Kräfte aus dem Volk mit sich zu verschmelzen weiß, und in der Theilnahme an den öffentlichen Geschäften traditionell ihren Lebensberuf sieht.
Wo diese
Grundbedingung fehlt, hat das System bisher nur zu Verzerrungen ge führt. und
Aber es ist auch keineswegs die einzige Form politischer Freiheit constitutionellen Lebens.
Auch
wo die Stellung
der Krone dem
Parlament gegenüber eine unabhängige und selbständige ist, und die von
ihr sreigewählten Räthe Diener der Krone sind, sind doch die Garantien einer Regierung nach Gesetz und Recht und einer dem dauernden Willen
und den dauernden Bedürfnissen der Nation Rechnung tragenden Regierung zu gewinnen.
Das konstitutionelle System, wie es bei uns allein durch
führbar und in den letzten Jahrzehnten thatsächlich mehr und mehr ent
wickelt ist, beruht auf dem sachlichen Ausgleich zwischen Regierung und Volksvertretung.
Diesem Ausgleich können starke Reibungen vorausgehen,
und der Sieg kann der einen und der anderen Seite zu Theil werden,
je nachdem die eine oder die andere Seite die Idee und den historischen
Beruf des Staats mit klarerer Erkenntniß vertritt.
Hätten wir in den
Jahren 1860 bis 1866 die parlamentarische Regierung gehabt, so würde die Armeereform nicht durchgesetzt und der Krieg
geführt worden sein.
mit Oesterreich nicht
Wir hätten heute kein Reich, und kein vergrößertes
Preußen als das feste Rückgrat des Reichsorganismus.
Das Bewußtsein
von der Aufgabe des Staats oder wenigstens von den für Lösung dieser Aufgabe nothwendigen Mitteln und Wegen, war lebendiger bei der Krone und ihren,
sogar im Gegensatz zu den parlamentarischen Parteien ge
wählten Rathgebern, als bei den Parteien selbst.
Wohl aber waren die
selben Rathgeber unmittelbar nach den größten äußeren Erfolgen genöthigt, nun die Verständigung mit der Volksvertretung zu suchen, wenn sie ihr
638 Werk
Parlamentarisches und constitutionelleS System.
abschließen und dauernd sichern wollten.
Noch weniger werden
spätere Regierungen, denen nicht der Glanz gleich hoher Erfolge zur Seite steht,
die Gegnerschaft der parlamentarischen Mehrheit dauernd ertragen
können.
Sie werden auch bei sonst legalem Verhalten zurücktreten müssen,
wenn sie die parlamentarische Unterstützung nicht finden, aber die Zu
sammensetzung jedes neuen Ministeriums wird für absehbare Zeit nur
aus dem Willen der Krone und nicht aus den Berathungen der Partei führer hervorgehen können.
Es ist kein geringes Verdienst unserer Schrift,
diese Gedanken einmal schlicht und klar und ohne Rücksicht auf die Un
popularität derselben in manchen liberalen Kreisen dargelegt zu haben. „Dieses (constitutionelle) System, so schließt Dr. Jolly seine Betrachtungen,
ist freilich noch weit entfernt von der Vollendung seines inneren Ausbaus,
welche erst aus der Arbeit und den Ueberlieferungen vieler Generationen Hervorgeyen wird.
Wir sind aber doch seit der Gründung des Reichs ent
schieden und mit Erfolg in seinen Bahnen gewandelt, und wenn mau nach seinem Maaßstab und ohne beirrende Seitenblicke auf das parlamentarische
Regierungssystem mißt, wird ein großer Theil des, wie sich nicht läugnen läßt, jetzt vorhandenen Misbehagens und der Klagen, für die Zukunft sei
nichts vorbereitet, als unbegründet erscheinen.
Eine Vorbereitung des
parlamentarischen Regierungssystems ist unmöglich, und es ist unter allen Umständen unvermeidlich, daß wir eine ungeheure Lücke empfinden werden,
wenn wir einmal die Kraft des Reichskanzlers entbehren müssen.
Er hat
uns aber doch auf den richtigen Weg gewiesen, und er hat, indem er den Reichstag zum Pfleger und Vertreter des nationalen Gedankens machte,
demselben ein politisches Machtmittel ersten Ranges in die Hand gegeben, das für unsre Zeit von weit größerer und jedenfalls für unser Volk glück licherer Wirksamkeit ist als die heute nicht mehr anwendbare mittelalterliche Subsidienbewilligung."
Zur inneren Lage am Jahresschlüsse. Wenn dereinst ein Historiker mit wissenschaftlicher Ruhe auf das erste Jahrzehnt unserer neuen Reichsgeschichte zurückschaut, so wird er ver
muthlich nicht ohne Verwunderung bemerken, wie schnell diese Zeit den Lärm und die Entrüstung ihrer innerer Kämpfe immer wieder vergessen
und überwunden hat.
Schon heute bedürfen wir einiger Anstrengung um
uns in die fieberische Erregung zurückzuversetzen, welche einst das Pausch quantum, das militärische Septennat und die Annahme der Justizgesetze
in der liberalen Welt hervorriefen.
Ueber jenen unheimlichen Franken-
steinschen Antrag, der im Sommer des vorigen Jahres mit einem Auf
schrei patriotischen Zornes empfangen ward, urtheilen gegenwärtig alle Besonnenen, daß er zwar unser Reichsrechnungswesen unnöthigerweise er schwert, aber ernste politische Nachtheile nicht hcrbeigeführt hat.
minder
leidenschaftlich
begrüßte
kirchenpolitische Vorlage
des
Die nicht
jüngsten
Sommers hat im Abgeordnetenhaus eine nach allen Seiten hin unbe
denkliche Umgestaltung erhalten. Noch schneller sogar ist der Lärm verstummt, den vor einigen Monaten
die Secession mehrerer namhafter Mitglieder der nationalliberalen Partei erregte.
Die Theilnahme deö Volks an diesen häuslichen Händeln der
parlamentarischen Fractionen hat ohnehin niemals einen mäßigen Wärme grad überschritten; sie schien nur eine Zeit lang stärker als sie war, weil
die Secessionisten in den Kreisen der Presse einen unverhältnißmäßig zahl
reichen Anhang besitzen.
Inzwischen hat sich die Aufregung längst gelegt.
Jedermann fühlt, daß die Secession zu spät erfolgt ist und darum politisch ebenso unfruchtbar bleiben wird wie alle die anderen rettenden Thaten des neuen Oberbürgermeisters von Berlin, wie die Erhebung des deut schen Bürgerthums im Zoologischen Garten, die Notabeln-Erklärung zu
Gunsten der Juden u. s. w.
Wären die der Fortschrittspartei verwandten
Elemente der nationalliberalen Partei schon vor zwei Jahren aus der
Fraction ausgeschieden, so
hätte ihr Austritt sehr segensreiche Folgen
haben können; er konnte damals vielleicht bewirken, daß der neue Zoll tarif unter Mitwirkung der Nationalliberalen, also ohne allzu starke Zu-
Zur inneren Lage am Jahresschlüsse.
640
geständnisse an die strengen Schutzzöllner, zu Stande kam und der Bruch
zwischen dem Reichskanzler und den gemäßigten Liberalen ganz vermieden wurde.
Heute hat uns die Secession nur mit einer neuen kleinen Fraktion,
die nicht leben und nicht sterben kann, beschenkt.
Diese neue Gruppe mag
vielleicht mit Hilfe der Fortschrittspartei in den Seestädten und überall
dort wo augenblicklich eine unbestimmte Verdrießlichkeit vorherrscht einige
Wahlsitze gewinnen, aber einen Umschwung des Parteilebens kann sie nicht
herbeiführen.
Schon darum nicht, weil unterdessen ein neues Geschlecht
herangewachsen ist, dessen politische Gesinnung einem großen Theile un
serer Berufspolitiker ganz unbekannt geblieben scheint. Unsere jungen Männer denken zum Theil radikaler, zum anderen
Theile konservativer als der Durchschnitt der Vierzig- und Fünfzigjährigen.
Sie kennen kaum noch jenen verstimmten Doktrinarismus, der uns Aelteren einst daS Dasein verdüsterte.
In die entscheidenden Jahre ihres Lebens
fiel der Anbruch der deutschen Einheit.
An dieser mächtigen Erfahrung
messen sie, bewußt oder unbewußt, alle Erscheinungen der Gegenwart.
Wer unter ihnen daS neue deutsche Reich als ein Gebilde der rohen Ge
walt betrachtet, verfällt unvermeidlich einem handfesten Radikalismus und verachtet die „elende Mäßigung" der Secefsionisten wie der FortfchrittSmänner.
Wer aber hoffnungsvoll auf dem Boden der neuen Ordnung
steht — und diese Gesinnung ist Gott sei Dank unter unserer Jugend
weit verbreiteter als der radikale Pessimismus — der wird auch die Noth wendigkeit einer starken Reichsgewalt lebhaft empfinden; er wird, gleich-
giltig gegen den Streit der alten Fraktionen, vor Allem an die neuen Aufgaben denken, welche der Ausbau unserer unfertigen Einheit an die deutsche Staatskunst stellt.
Unter diesen Aufgaben ist augenblicklich keine so dringend wie die Vollendung der Reform des Reichsfinanzwesens.
Wer sich diesem Werke
versagt handelt als ein Reaktionär, mag er sich immerhin mit liberalen Schlagworten brüsten.
Ueberall, an den Höfen wie im Volke, erhebt der
PartikulariSmuS wieder sein Haupt.
Die Aussicht auf Erleichterung der
direkten Steuern, wie erfreulich sie auch den Wählern scheinen mag, be
deutet wenig neben der politischen Nothwendigkeit den Einzelstaaten eine wohlthätige, willig ertragene Abhängigkeit aufzuerlegen, sie mit ihrem
ganzen Haushalt unzertrennlich an den Bestand des Reichs anzuschließen. Der nächste Reichstag kann sich der Bewilligung neuer indirekter Steuern nicht entziehen, wenn der BundeSrath nur mit einiger Klugheit das un berechenbare Durcheinander des heutigen FractionStreibenS berücksichtigt und nicht durch das Einbringen unannehmbarer Vorschläge die Stimmung
des Hauses von vornherein verdirbt.
Zur inneren Lage am Jahresschlüsse.
641
Da die Ausgaben des Reichs, der Einzelstaaten und der Gemeinden beständig und unaufhaltsam wachsen, so muß sich jeder ehrliche Patriot
selbst sagen, daß die Steuerreform nicht eine Ermäßigung der Abgaben, sondern nur eine gerechtere Vertheilung der Steuerlasten, und dadurch
mittelbar eine Erleichterung für die Pflichtigen herbeiführen kann.
Weder
die Börsensteuer noch die Bier- und Branntweinsteuer wird bei der be sonnenen Mehrheit des Reichstags einem grundsätzlichen Widerspruche be
gegnen, falls die Entwürfe der Regierung technisch brauchbar sind.
Dagegen erscheint der Plan einer Wehrsteuer, der in halbamtlichen
Blättern vielfach besprochen worden ist, als gänzlich unannehmbar.
Daß
ähnliche Einrichtungen in anderen Staaten bestehen, beweist für uns gar
nichts.
Der Gedanke der Wehrsteuer ist durch und durch unpreußisch, er
widerspricht dem Charakter unseres Staates, der niemals, so lange er be
steht, eine Abkaufung der allgemeinen Bürgerpflichten geduldet hat.
Unser
Wehrgesetz geht von dem Grundsätze aus, daß der Dienst im Heere ebenso
sehr eine Ehre als eine Pflicht ist.
Mag dieser idealistische Grundsatz
auch von Tausenden der Pflichtigen nicht anerkannt werden, der Staat
kann und darf ihn nicht aufgeben.
Erklärt die Staatsgewalt erst: „wer
nicht dient, der zahlt", so zieht das Volk über lang oder kurz den Schluß:
„wer zahlt, der dient nicht".
Der Staat selber fordert dann alle Leicht
sinnigen und Gewissenlosen zur Umgehung des Gesetzes heraus, da Jeder sich beruhigen kann bet dem bequemen Troste: ich zahle ja meine Wehr
steuer.
Diese Gefahr liegt sehr nahe, namentlich in den kleinen deutschen
Staaten, wo das alte System der Stellvertretung noch nicht vergessen ist.
Die heutige Ordnung beruht ferner auf der Ansicht, daß der völlig ge sunde Mann im Durchschnitt glücklicher ist und sich leichter durch das
Leben schlägt als der gebrechliche und schwache.
Diese Ansicht trifft, wie
Jedermann weiß, in unzähligen einzelnen Fällen nicht zu, aber als allge meine Regel ist sie unbestreitbar richtig.
Die entgegengesetzte Meinung,
die einen Unterschied des LebenSglückS zwischen Gesunden und Gebrech
lichen nicht anerkennen will, gehört einfach in die verkehrte Welt. Hunderte junger Männer würden mit Freuden ihrer Dienstpflicht genügen , wenn sie sich nur des unschätzbaren Glückes vollkommener Gesundheit erfreuten.
Darf der Staat diese Jünglinge nebst ihren Eltern mit einer Geldstrafe belegen, weil sie beim besten Willen ihre Bürgerpflicht nicht zu erfüllen vermögen?
Und wo ist die Grenze zwischen den Körpergebrechen, welche
den bürgerlichen Erwerb erschweren, und jenen, die nur als kleine Be
lästigungen empfunden werden?
Wenn der Staat heute nicht im Stande
ist alle Wehrfähigen unter die Fahne zu rufen, so weicht er nur vor einer
physischen Unmöglichkeit zurück und verzichtet nicht auf die Hoffnung, den
642
Zur inneren Lage am Jahresschluffe.
Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht im Laufe der Jahre vollständiger
als bisher zu verwirklichen.
Besteuert er aber Alle die nicht dienen, so
durchlöchert er selber die Grundlagen unseres Heerwesens.
Die Wehr
steuer ist nichts anders als eine unbillig hohe und musterhaft ungerecht vertheilte Einkommensteuer.
Sie würde grade unter den besten Deutschen,
die eS ernst nehmen mit der Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten, einen tiefen, wohlberechtigten Unmuth Hervorrufen, der schwerer in's Ge wicht fiele als die Vermehrung der Einnahmen des Reichs.
Reichsregierung diesen
Wenn die
durchaus ungesunden Gedanken fallen
darf sie mit einiger Sicherheit
auf
die
läßt, so
stetige Weiterentwicklung des
Steuerreformwerks rechnen.
Auch der Plan des Reichskanzlers, die Socialdemokratie durch die Befriedigung der gerechten Wünsche des Arbeiterstandes zu entwaffnen, darf auf die Zustimmung aller Unbefangenen zählen.
Wir besitzen ein
Beamtenthum, das an Ehrlichkeit und Sachkenntniß keinem auf der Welt
nachsteht.
Darum scheint selbst die gleichmäßige Regelung des Arbeiter-
Versicherungswesens, die in den meisten anderen Ländern als eine Utopie
belächelt wird, in Deutschland nicht unausführbar. Je länger wir uns des Segens der nationalen Einheit erfreuen, um so schmerzlicher wird empfunden, wie weit unser sociales Leben hinter der politischen Machtstellung des neuen Reichs zurückgeblieben ist.
Sogar die
vielgerühmte Blüthe des deutschen Handels erscheint in anderem Lichte,
sobald wir wahrnehmen, daß
nur etwa ein Drittel
(39 Procent des
Werthes) der außereuropäischen Produkte, welche Deutschland verzehrt, uns in direktem Verkehre zugeführt wird.
Fast zwei Drittel vom Werthe dieser
Waaren empfangen wir durch die Vermitelung des Auslands, namentlich
Hollands und Belgiens.
Jahraus jahrein senden wir nach den belgischen
und holländischen Plätzen eine Schaar unserer tüchtigsten Kaufleute, die dann in der zweiten Generation allesammt zu Ausländern werden. solcher Zustand ist schimpflich für ein großes Volk.
Ein
Er wird, unter den
heutigen Verkehrsverhältnissen, lediglich noch durch die Macht einer alten schlechten Gewohnheit aufrecht erhalten. Er kann, da der Mehrzahl unserer
Kaufleute ein starker Nationalstolz gänzlich fehlt, schlechterdings nur be seitigt werden durch den Zwang des Staates.
Wir brauchen, nach dem
Vorbilde vieler anderer Staaten, einen Unterscheidungszoll auf die indi rekte Einfuhr außereuropäischer Waaren, damit unsere großen binnenlän
dischen Handelsplätze gezwungen werden, mit der transatlantischen Welt in unmittelbaren Verkehr zu treten und auf die Vermittlung des Aus
lands, die den Handel nur unnöthig vertheuert,
endlich zu verzichten.
Eine nationale Handelspolitik großen Stiles ist aber unmöglich, so lange
Zur inneren Lage am Jahresschluffe.
das Reich über seine beiden größten Häfen noch nicht gebietet.
643 Möge sich
die Bürgerschaft von Bremen und Hamburg endlich ihrer Pflichten gegen das Reich und — der alten Fabel von den sibyllinischen Büchern erinnern.
Noch ist es Zeit, durch freien Entschluß eine unnatürliche Ausnahme
stellung aufzuheben,
die von der ungeheuren Mehrheit der Nation mit
täglich wachsendem Unwillen betrachtet wird.
Will man durchaus den
Buchstaben der Reichsverfassung gegen ihren Geist in's Feld führen, so wird zwar daS Reich keine widerrechtliche Gewaltthat versuchen, aber die
steigende wirthschaftliche Bedrängniß wird in einigen Jahren erzwingen,
was heute unter günstigeren Bedingungen zu erlangen ist. Eine lehrreiche Schrift von Hübbe-Schleiden*) hat soeben den be
schämenden Nachweis geführt, daß wir Deutschen zwar die besten Kauf leute der Welt in alle Häfen des Erdballs auSschicken, aber als Nation
an der großen gemeinsamen Aufgabe der modernen Culturvölker, an der
Arbeit der expansiven Civilisation noch gar keinen Antheil genommen haben und darum Gefahr laufen bei der Theilung der Erde gänzlich leer aus
zugehen.
Deutschland wird immer wesentlich eine europäische Macht und
eine Landmacht bleiben.
Darum scheint eS doch keineswegs nothwendig,
daß unsere unaufhaltsame massenhafte Auswanderung auch in Zukunft, wie
bisher, dem Vaterlande schlechthin verloren gehe.
Es muß möglich sein,
die beklagenswerthen Versäumnisse dreier Jahrhunderte theilweis wieder
einzubringen und den überschüssigen Kräften unseres Volkes eine Stätte anzuweisen, wo sie der deutschen Sprache und Sitte und vielleicht auch
dem deutschen Staate erhalten bleiben.
Daran schließt sich die andere
Aufgabe, der deutschen Flagge ein reiches Pflanzungsland in den Tropen zu gewinnen und es durch unser Capital für den Weltverkehr nutzbar zu
machen.
Ganz ohne überseeischen Besitz wird Deutschland seiner Armuth
nie entwachsen. Neben solchen großen Problemen deutscher Zukunftspolitik erscheint der neu auflodemde Judenstreit nur als daS traurige Vermächtniß einer
langen Epoche erschlafften Nationalstolzes und unsicherer religiöser Em pfindung.
ES ist unsere Schuld, daß daS Judenthum in Deutschland sein
Stammesbewußtsein so herausfordernd zur Schau trägt wie in keinem an
deren großen Staate.
Was wir über den leidigen Streit zu sagen wußten
ist in diesen Blättern schon vor einem Jahre ausgesprochen worden. Heute genügt es die Thatsache zu constatiren, daß die „Judenfrage" in der That
vorhanden ist.
Eine so leidenschaftliche Aufregung, wie sie in den jüngsten
Wochen die deutsche Hauptstadt durchzitterte, kann kein Agitator künstlich *) Dr. Hübbe-Schleiden, Hamburg 1881.
Ueberseeische Politik,
eine
cultnrwissenschaftliche Studie.
644
Zur inneren Lage am Jahresschluffe.
Hervorrufen.
Die zweitägige Debatte des Abgeordnetenhauses, welche der
blinde philosemitische Eifer der Fortschrittspartei veranlaßte, hat die gegen
seitige Erbitterung nur gesteigert; die beiden gemäßigten Mittelparteien
bewahrten dabei ein beredtes Stillschweigen, weil sie kein Oel in'S Feuer gießen wollten und doch fühlten, daß viele der Anklagen gegen die an
maßende Haltung des deutschen JudenthumS wohlbegründet sind.
Die
Regierung hat sich bisher weder mittelbar noch unmittelbar über diese Bewegung ausgesprochen; an den Irrfahrten jenes Kometen, der in den
Grenzboten zuweilen von der geraden Straße des einfachen Menschenver standes abzuschweifen liebt, ist der Reichskanzler gänzlich unschuldig, wie jeder
Halbwegs Kundige weiß.
Der Minister deS Innern begnügte sich mit der
selbstverständlichen Versicherung, daß die Regierung nicht beabsichtige die bestehenden staatsbürgerlichen Rechte aufzuheben; und er that recht daran, denn die Staatsgewalt soll nur reden wenn die Zeit des Handelns gekommen
ist, und noch ist nicht abzusehen, wie der Staat irgend etwas zur Aus
gleichung der unverkennbar vorhandenen Mißstände thun soll.
An die Zu
rücknahme der Emancipation denkt, wie die Landtagsverhandlung gezeigt hat, kein irgend einflußreicher Politiker.
Die Beschränkung der jüdischen
Einwanderung wäre nur ein wenig wirksames Palliativ.
Noch unglück
licher erscheint der Vorschlag, den Gerichten, wie den OffizterScorps, daS Recht der Cooptation zu verleihen, damit die Ueberzahl der jüdischen Re ferendare vermindert werde.
Unseren Gerichten fehlt die strenge militärische
MannSzucht und Verschwiegenheit; auch ist daS CooptationSrecht für Be hörden, welche eine obrigkeitliche Gewalt ausüben, aus naheliegenden poli
tischen Gründen hochbedenklich. ES liegt allein in den Händen der bürgerlichen Gesellschaft, und na mentlich der Juden selbst, die vorhandene, nicht mehr abzuleugnende Ver
stimmung allmählich zu beseitigen.
Die Erlebnisse der jüngsten Monate
berechtigen aber leider keineswegs zu der Vermuthung, daß die deutschen Juden bereit seien sich mit ihren christlichen Mitbürgern ehrlich zu ver
söhnen.
Viele von ihnen haben jedes noch so maßvolle mahnende Wort,
daS ihnen zugerufen ward, mit wüthenden Schmähreden beantwortet; sie
haben daS Judenlhum der ausländischen Presse gegen ihre deutschen Lands leute in'S Feld gerufen; sie haben offenbaren Terrorismus geübt — denn wie anders sollen wir es nennen, wenn man versuchte, einen ehrenwerthen
Breslauer Gymnasiallehrer seines Amte- zu entsetzen, lediglich weil er eine
den Juden unbequeme, aber durchaus gesetzliche Petition unterschrieben hatte?
Sie haben sogar in mehreren
Städten,
in Breslau, Halle,
Eisenach sich gradezu verschworen zur Schädigung christlicher Mitbürger, die ihnen mißliebig waren.
Und eben jetzt veröffentlicht ein deutscher Jude,
645
Zur inneren Lage am Jahresschluffe.
der offenbar
zu den sogenannten Gebildeten gehört, die nichtswürdige
Schrift Ben Sirah Militans, ein Machwerk, das von gemeinen Lästerungen gegen die „drei Götter" de» Christenthums trieft!
Ordnung,
wenn das Vaterland Luthers und
Journalisten als wird?!
Oder ist es in der
Goethes von jüdischen
„die Heimath RodenbergS und Auerbachs" angeredet
Sieht man denn nicht, daß man auf diesem abschüssigen Wege
endlich dahin gelangen muß, die längst vollzogene Emancipation wieder in Frage zu stellen?
DaS stärkste Argument der Gegner der Emanci
pation war doch immer dieses: „die Juden sind und bleiben eine Nation
für sich; gewähren wir ihnen alle staatsbürgerlichen Rechte, so werden sie einen Staat im Staate bilden".
Schreitet das Judenthum weiter auf
der neuerdings betretenen Bahn, dann werden wir diesen jüdischen Staat
im Staate noch erleben, und dann müßte sich unter den Christen unfehlbar der Ruf erheben: hinweg mit der Emancipation! Wer unter unseren jüdi schen Mitbürgern sich schlechtweg als ein guter Deutscher fühlt, sollte heute
allen seinen Einfluß aufbieten um seine Glaubensgenossen vor einer ge fährlichen Ueberhebung und Absonderung zu warnen.
Sonst kann unser
Boden vielleicht noch rohe Ausbrüche unheimlichen Hasses sehen, die den
Deutschen, den Christen wie den Juden, nicht zur Ehre gereichen würden. —
10. December.
Heinrich von Treitschke.
Von Dulcigno nach Athen. (Politische Correspondenz.)
Berlin, 4. December 1880. Nachdem in der Nacht vom 25. auf den
Dulcigno ist übergeben.
26. November zwischen dem türkischen und montenegrinischen Bevollmächtigten die auf die militärischen Maßnahmen bezügliche Convention unterzeichnet worden, haben die
montenegrinischen Truppen Stadt und Gebiet von
Dulcigno in Besitz genommen.
Der Sultan hat somit das am 10. Oc
tober den Großmächten gegebene feierliche Bersprechen, Dulcigno bedin
gungslos zu übergeben, in loyaler Weise erfüllt.
Die Probe, auf welche
seit jenem Tage die Geduld der europäischen Diplomatie gestellt worden
ist, mag als eine nicht ganz unverdiente Buße für die zweckwidrigen Dro hungen betrachtet werden, mit denen die Mächte seit der Berliner Conferenz
die Türkei gedrängt haben.
Nachdem der Sultan sein Wort eingelöst hat,
kann Niemand daran zweifeln, daß die Mächte der in der Note vom 10. October ausgedrücktcn Hoffnung des Sultans entsprechen und von
weiteren Flottendemonstrationen Abstand nehmen.
In der That,
das
internationale Geschwader ist im Begriff, seine von Tag zu Tag uner träglicher werdende Observationsstellung in der Bucht von Cattaro auf zugeben.
Die äußerliche Entwickelung der Dulcigno-Angelegenheit in den letzten Monaten war wesentlich bestimmt durch die Haltung der drei zunächst betheiligten Faktoren, Montenegro's, der Türkei und der Albanesen.
Von
dem Augenblick an, wo die Türkei sich verpflichtete, Stadt und Gebiet nicht zu räumen, sondern an Montenegro auszuliefern, bedurfte es einer
directen Verständigung der beiderseitigen Behörden über die Modalitäten der Uebergabe und der Uebernahme; die Regelung dieser an sich so ein fachen Verhältnisse complicirte sich in Folge der räthselhaften Haltung der
muhamedanischen Albanesen, die seit zwei Jahren bald in offener, bald in
geheimer Uebereinstimmung mit der Pforte die Erledigung der montene grinischen Greuzfrage verhindert haben.
Werden die Albanesen, fragte
647
Bon Dulcigno nach Athen.
man in Cettinje, gutwillig und endgültig auf das von ihnen mit Recht
oder mit Unrecht beanspruchte Gebiet Verzicht leisten oder nur mit dem Vorbehalt, nach dem Abzug der türkischen Truppen den verhaßten Montene
grinern den neuen Besitz streitig zu machen? Wird die Pforte oder, wenn
diese sich weigert, werden die Großmächte eine Garantie dafür übernehmen,
daß die neue Grenze von den Albanesen respectirt wird? Begreiflicher
Weise hatte Montenegro wenig Neigung, mit Dulcigno die Last der
unversöhnlichen Feindschaft der an Tapferkeit oder wenigstens Raublust hinter den Söhnen der schwarzen Berge mindestens nicht zurückstehenden
Albanesen zu übernehmen. Diese
in der Sache selbst liegenden Schwierigkeiten lassen eS be
greiflich erscheinen, wenn die Großmächte angesichts der bestimmten Zusage
der Pforte temporisirten.
Die Passivität der Mächte beruhte aber nicht
ausschließlich auf Erwägungen der Opportunität; sie war die natürliche Folge des Widerstreites zwischen den Interessen der Großmächte selbst. Nicht
die Erklärung des Sultans, daß er gewillt sei, Dulcigno nebst Gebiet
bedingungslos an Montenegro zu übergeben, hat das viclgerühmte „euro päische Concert" gesprengt, sondern die Weigerung Frankreichs, über die
Demonstrationspolitik hinauszugehen und die Gladstone'schen Phantasien von der Blockirung Smhrna'S sich anzueignen.
Da aber war eS das
eigenste Interesse der Pforte, durch schleuniges Entgegenkommen in der
Dulcigno-Angelegenheit die Höfe von Berlin und Wien in dem Wider stände gegen die englischen Zumuthungen zu bestärken.
Mit der Ueber-
gabe Dulcigno's wird die Flottendemonstration gegenstandslos.
Für die
jenigen Mächte also, welche die Flottendemonstration anläßlich der Mon tenegrinischen. Grenzfrage nicht als Selbstzweck,
sondern als Einleitung
zu einer Action in großem Styl in Scene gesetzt hatten, bestand ein sehr klares Interesse, der Pforte die Erfüllung ihrer Zusage zu erschweren und, wenn thunlich, unmöglich zu machen.
Selbstverständlich mußte sich die
jenige Macht, deren Einfluß auf den Gang der Dinge der unmittelbarste war, aus taktischen Rücksichten die größte Reserve auferlegen.
Aber alle
äußerliche Zurückhaltung kann die Thatsache nicht vergessen lassen, daß
der Fürst von Montenegro trotz der ihm von Europa im Berliner Ver trag garantirten Selbstständigkeit und Unabhängigkeit nichts anderes ist,
als ein Vasall Rußlands und daß die russischen Rathschläge in Cettinje
die Wirkung von Befehlen haben.
In der That gefiel sich Montenegro
bei den Verhandlungen mit der Pforte über die Uebergabe - Convention
in der seltsamen Rolle eines Staates, der sich mit allen erlaubten und, wenn es nicht anders geht, auch mit unerlaubten Mitteln gegen eine ihm
aufgedrungene lästige Gebietserweiterung
zu schützen sucht.
Seit zwei
Bon Dulcigno nach Athen.
648
Jahren droht Montenegro den Mächten,
nicht der Pforte,
mit einem
Kriege gegen die Türkei; in dem Augenblick aber, wo eS Halbwegs Aus
sicht hatte, Dulcigno auf friedlichem Wege zu erlangen, verlangt es eine
Garantie der Congreßmächte für den ruhigen Besitz des neuen Gebietes. Und während Montenegro kein Mittel scheute, die Verhandlungen mit
dem türkischen Oberbefehlshaber in die Länge zu ziehen, war es die ita lienische Diplomatie, die in Constantinopel einen neuen Versuch machte,
die Action der Großmächte wieder in Gang zu bringen, indem sie der Botschafter-Conferenz vorschlug, der Pforte einen letzten Termin für die
Uebergabe Dulcigno's zu stellen.
Begreiflicher Weise weigerten sich Deutsch
land, Oesterreich und Frankreich, in diese Falle zu
gehen und so
be
gnügten sich die Mächte mit einer Ermahnung an die Pforte, endlich ihre
Zusage zu erfüllen.
Montenegro
indessen setzte seine Verschleppungs
politik, zu der ihm bald die Haltung der Türkei, bald diejenige der Alba
nesen die Vorwände lieferten, unbeirrt fort, selbst dann noch, als Mr. Gladstone, die Frucht dieses Mangels an Loyalität fürchtend, zur An
nahme der Vorschläge der Pforte rieth.
Rußland wollte aber die Hoff
nung noch nicht aufgeben, wenn nicht die Großmächte, so doch wenigstens England auf den Pfaden der Jnterventionspolitik festzuhalten.
Mit einer
etwas drastischen Wendung könnte man sagen: nicht „Europa" wartete auf
die Erfüllung der Versprechungen der Pforte, sondern die Pforte wartete,
daß Montenegro und die Mächte ihr die Uebergabe Dulcigno's möglich machten.
DaS ist ja eben das Charakteristische des ganzen Zwischenfalls, daß die Pforte erst in dem Augenblicke sich ihrer moralischen Verantwortlich
keit für die Erledigung der Dulcignofrage bewußt wurde, in dem das
auf eine gemeinsame Action berechnete
Brüche ging.
„europäische Concert"
in
die
Den identischen Noten der Großmächte und der Flotten
demonstration hat die Pforte Monate lang bald in milderer, bald in schrofferer Form ihr non possumus entgegengesetzt, bis sie endlich in
dem Rundschreiben vom 4. October die kategorische Erklärung abgab, sie würde Dulcigno nur unter der Bedingung ausliefern, daß die Groß mächte ausdrücklich und für alle Zukunft auf die Androhung von Gewalt maßregeln Verzicht leisteten. Der englische Staatssekretär deS Auswärtigen,
Lord Granville, hat vor einigen Tagen in einer liberalen Versammlung
in Hanley eine Rede zur Vertheidigung der Gladstone'schen Politik der
letzten sechs Monate gehalten, die, wenn man sich nicht mit dem Nach sagen von Schlagworten begnügt, trotz aller Entstellungen der Thatsachen,
die entschiedenste Verurtheilung jener Politik enthält.
Das türkische Rund
schreiben vom 4. October nennt Lord Granville eine Herausforderung,
Bon Dulcigno nach Athen-
649
eine Beleidigung Europa'S und fährt dann fort: „Jetzt erging an uns die
Aufforderung (von wem?), die Initiative zu ergreifen, und so schlugen
wir vor, eine materielle Garantie zu nehmen (d. h. die Zolleinnahmen
von Smyrna mit Beschlag zu belegen), welche durch maritime Operationen zu erlangen war, einen großen Druck auf die Türkei auSüben mußte und nicht im Geringsten mit türkischem oder europäischem Handel collidirt haben würde.
Rußland, Frankreich und Oesterreich billigten den Plan; letzteres
schlug sogar die zu ergreifenden Mittel vor und bot seine Consularunter-
stützung an, weigerte sich aber an der Flottendemonstration Theil zu nehmen.
Als dies bekannt wurde, erklärte Frankreich, daß das Fern
bleiben Oesterreichs die Umstände gänzlich verändere und eS deshalb zurücktrete. Deutschland that das Gleiche.
Noch standen uns andere Aus
wege offen, als der Sultan plötzlich das kategorische Versprechen ertheilte, daß die Dulcignofrage unverzüglich gelöst werden solle."
Wie diese plötz
liche Sinnesänderung des Sultans zu erklären ist, verschweigt Lord Gran ville, aber jeder Zeitungsleser weiß, daß sie das Resultat einer Audienz
war, welche der Sultan den Botschaftern Deutschlands und Frankreichs ertheilt hatte.
Nicht den Drohungen
des unter der Aegide Englands
wirkenden „europäischen Concerts", sondern den Zureden der entschiedenen Widersacher der Gladstone'schen Einmischungspolitik gelang es, den Sultan
zur Nachgiebigkeit zu bestimmen.
Die gerühmte Flottendemonstration,
durch welche Europa der Türkei seine Solidarität beweisen sollte, war
eben von vornherein nichts als eine offenbare Lüge.
Deutschland und
Oesterreich haben sich, wie Freiherr von Haymerle in der letzten Session
der Delegationen eingestand, an dieser Spiegelfechterei nur betheiligt, um
in ihrem Sinne das „europäische Concert" aufrecht zu erhalten, d. h. um die Schritte Gladstone'S zu controliren.
Und darüber war man in Con-
stantinopel natürlich nicht schlechter unterrichtet als anderswo.
Ueber die eigentlichen Beweggründe, welche die liberale Regierung gedrängt haben, auf dem Gebiete der Orientpolitik mit Lord Beaconsfield
zu wetteifern, hat Lord Granville in der oben erwähnten Rede eine An deutung gegeben, die wenigstens den Vortheil der Verständlichkeit hat.
„Bei unserem Amtsantritt", sagte Lord Granville, „absorbirte die orienta
lische Frage alle übrigen Fragen.
Man sagte uns, daß Rußland durch
seine große Armee (!) den Weg nach Constanttnopel zu einem kurzen machen könne, daß Oesterreich, mit fester Sprache und gestützt auf seine ungeheure Militärstärke, für diejenigen Theile des Berliner Vertrages ein
trete, welche sein besonderes Interesse besonders berührten, daß die mon
tenegrinische, griechische und armenische Reformfrage seit zwei Jahren nicht wieder berührt worden seien.
Man versicherte uns, daß die alte türkische
Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 6.
46
650
Sen Dulcigno nach Athen.
Beamtenwirthschaft fortdauere, in einigen Theilen der Türkei Christ und Muselmann im Zustande der Anarchie lebten,
die ottomanische Macht
nicht zu erhalten sei und eS sich einfach um Ruin oder Reform handle. Man sagte uns ferner, daß Englands Einfluß gänzlich erschöpft
sei und unsere energischsten Vorstellungen bei der Pforte gar nichts
Dieses
gefruchtet hätten.
war die officielle Information, welche man
uns bot." ES ist nicht ohne Interesse festzustellen, daß diese „officielle Infor
mation" in einer seiner Zeit dem Parlament vorgelegten Depesche des englischen Botschafters in Constantinopel, Mr. Layard niedergelegt war,
der unter dem 27. April ausführlich über die Beziehungen Englands zur
Pforte und über die zeitweilige Lage der Türkei berichtete.
Mr. Layard,
der sich nebenbei rühmte, dem Sultan gegenüber eine Sprache geführt zu
haben, welche selten, wenn überhaupt jemals „an einen Souverain" ge richtet worden sei, kommt in seinem Bericht zu dem Schluß:
„Wenn wir
wirklich den Wunsch haben, dieses Land zu retten, aber gleichzeitig seine Verwaltung zu reformiren, so daß die Bevölkerung desselben gerecht und un
parteiisch regiert wird, so müssen wir vorbereitet sein, über Drohungen
hinauszugehen."
Eine schärfere Kritik der Politik, welche Lord Beacons
field in seinem Größenwahn der Türkei gegenüber befolgt hatte, ist aller dings nicht denkbar und man muß sagen, dieser große Staatsmann ist sehr zur rechten Zeit, für seinen Ruf nämlich, gestürzt worden.
Er war
in der glücklichen Lage, der liberalen Regierung das Geständniß zu über lassen, daß die pomphaft
verkündete Weltherrschaft Englands — die
Imperial ascendancy Englands — nichts sei als eine lächerliche und obendrein gefährliche Fiction.
Für diejenige Macht, welche nach der Ver
sicherung der Beaconsfield, Salisbury rc. als Sieger den europäischen Congreß verlassen hatte,
war das Geständniß Layards, daß Englands
Einfluß in Constantinopel gleich Null sei und daß nichts mehr übrig bleibe,
als die Anwendung von
Gewalt, das denkbar beschämendste.
Mr. Layard freilich erklärte die Abwendung des Sultans von England in seiner Weise.
Die alttürkische Partei habe nach dem Kriege die Ober
hand gewonnen und wolle nun die Türkei in ihrer Weise reformiren
Ob, da England einflußlos, eine andere Macht in Constantinopel ein flußreich sei, verschwieg Layard.
Der Hinweis Granville's auf Rußland
und Oesterreich ist nicht überzeugend, da diese beiden Mächte Rivalen sind.
helfen.
Der Gedächtnißschwäche Lord Granville's können wir leicht nach Der Staatssekretair des Auswärtigen hat seiner Zeit — es war
am 20. Juli d. I. — im Oberhause auf die Anfrage, ob die Gerüchte von
der Berufung deutscher Beamten und Offiziere nach Constantinopel be-
Bon Dulcigno nach Athen.
„das Gesuch um Ueberlassung deut
gründet seien, die Antwort ertheilt:
scher Finanzbeamten scheine vom
651
Sultan vor etwa 5 Monaten (also
schon im Februar) an die deutsche Regierung gerichtet worden zu sein.
Gleichzeitig sei auch ein Gesuch wegen Ueberlassung deutscher Offiziere an die deutsche Regierung ergangen.
Dem Gesuch sei willfahrt worden,
weil es schon seit langer Zeit (!) Gebrauch der deutschen Regierung fei, Offiziere nach Constantinopel zu senden, indem der dortige Dienst als
eine gute Uebung für dieselben angesehen werde(!?). Welche Bewandtniß es mit diesen Gesuchen hatte, kann heute für Nie mand mehr zweifelhaft sein.
Während Lord Beaconsfield mit steigender
Heftigkeit die türkische Regierung bedrängte, während Mr. Lahard sich er
dreistete, gegen den Sultan eine nach seinem eigenen Geständniß unerhörte Sprache zu führen,
hatte die Türkei wieder einmal,
wie so oft schon
seit 1870, ihre Blicke auf Deutschland, die jüngste aber nicht die kleinste
Militairmacht Europa's gerichtet und war dieses Mal nicht zurückgewiesen
worden.
Mit dem Sommer des Jahres 1879 waren die Rücksichten auf
Rußland weggefallen, welche den Fürsten Bismarck gehindert hatten, selbst ständig in die türkischen Dinge einzugreifen; der Abschluß deS deutsch österreichischen Bündnisses hatte die deutsche Politik auf der Balkanhalb
insel direkt engagirt. Mit dem
Abschluß des deutsch-österreichischen Bündnisses ist die
Orientpolitik des deutschen Reichskanzlers in eine neue Phase getreten.
Die Voraussetzungen, von denen dieselbe bis zum Ausbruch des russisch türkischen Krieges geleitet wurde, hat Fürst Bismarck selbst seiner Zeit im Reichstage bezeichnet,
als er Rußland warnte,
das Dreikaiserbündniß
durch die Zumuthung an Deutschland zu sprengen, seine Freundschaft für
den russischen Nachbar durch die Hintansetzung des österreichischen Nach bars zu bethätigen. Im Grunde lag freilich schon in dieser Fragestellung
der Ausdruck deS Zweifels, ob eS möglich sein werde, die Prätentionen Rußlands mit den Interessen des österreichischen Kaiserstaates in Einklang zu setzen;
zugleich aber ein deutlicher Hinweis auf den Weg, den der
deutsche Reichskanzler gegebenen Falls zu gehen entschlossen war.
Im
Frühjahr 1878 betrachteten die russischen Politiker eS als selbstverständlich;,
daß
die deutsche Diplomatie vorbehaltlos für das Werk des General
Jgnatieff, den Präliminarvertrag von San Stefano eintrete; im Sommer
1879 bemächtigten sich der St. Petersburger Kreise eine fast zu Kriegs
drohungen treibende Entrüstung, weil Deutschland sich weigerte, Oester reich in der Ausführung der auf Grund des Art. 25 des Berliner Ver
trags geschlossenen Convention bezüglich der Occupation von Novtbazar zu hindern.
Wenn Fürst Bismarck der ersten Zumuthung den intorna-
46*
Don Dnlcigno nach Athen.
652
tionalen Charakter der russisch-türkischen Abreden, welche zahlreiche ein
seitige Abänderungen der Bestimmungen des Pariser Vertrages enthielten,
gegenübersetzen konnte, so stand der zweiten Zumuthung die ausdrückliche Stipulation des unter dem Vorsitz des deutschen Reichskanzlers auf dem Berliner Congreß vereinbarten Vertrages entgegen, zu dessen Unterzeichnern nicht nur Oesterreich und die Türkei, sondern auch Rußland selbst gehört.
Die Schranke, welche der Berliner Vertrag der deutschen Politik Rußland gegenüber zieht, muß aber auch der Türkei gegenüber inne gehalten werden,
und diese Erkenntniß ist allem Anschein nach in Constantinopel erst allmählig und nach manchen bitteren Erfahrungen zum Durchbruch gelangt.
Allerdings war die Politik, für welche daS Ministerium Gladstone in erster Linie die Verantwortlichkeit trägt, keineswegs dazu angethan, diese
Erkenntniß zu beschleunigen.
Unter Berufung auf das Interesse Europa'S wandte sich Lord Gran
ville in dem Rundschreiben vom 4. Mai an die Cabinette von Paris, Berlin, St. Petersburg, Wien lind Rom mit dem Vorschläge zu gemein samen Bemühungen behufs Ausführung einiger Bestimmungen des Ber liner Vertrags und bezeichnete als die zunächst in Betracht kommenden die griechische Grenzfrage, zu deren Erledigung bereits sein Vorgänger,
Lord Salisbury mit Zustimmung der übrigen Regierungen die Einsetzung einer internationalen Commission in Vorschlag gebracht hatte, welche an Ort
und Stelle die im Art. 24 des Berliner Vertrags in Aussicht genommene Grenzlinie festsetzen sollte, ferner mit Rücksicht auf den von Tag zu Tag zu
befürchtenden Zusammenstoß zwischen den Albanesen und Montenegrinern die montenegrinische Grenzfrage und endlich die armenische Reformfrage, unter
Berufung auf den Art. 61 des Berliner Vertrages, der die Pforte verpflichtete, die Reform der Verwaltung in den von den Armeniern bewohnten Pro
vinzen sofort in die Hand zu nehmen, die Armenier gegen die Angriffe der Cirkassier und Kurden sicher zu stellen und der der Pforte die Pflicht aufer legte, von Zeit zu Zeit den Mächten Kenntniß von den zu diesem Zweck
ergriffenen Maßregeln zu geben.
fortige Erledigung
durch
Die Auswahl dieser Punkte, deren so
eine gemeinschaftliche Pression der Vertrags
mächte erzwungen werden sollte, war insofern sehr glücklich, als in den
beiden ersteren die Mächte sich schon bisher durch gemeinsame Schritte gebunden hatten und in der armenischen Frage die Mißachtung der ver tragsmäßigen Verpflichtungen seitens der Pforte eine geradezu eklatante
war.
Die Mächte waren also, so geringes Vertrauen sie in die Auf
richtigkeit der englischen Diplomaten haben mochten, in die moralische Un
möglichkeit versetzt, die Einladung Granville'S abzulehnen.
Nachträglich
hat ja auch der österreichische Minister deS Auswärtigen, Freiherr von
Von Dulcigno nach Athen.
653
Hahmerle vor den Delegationen das offene Gestiindniß abgelegt, Oester reich-Ungarn habe den englischen Vorschlag angenommen, weil keine Macht außer Acht lassen durfte, daß ihre Weigerung die Zustimmung der anderen
Mächte nicht verhindert haben würde.
Deutschland und Oesterreich-Ungarn
wählten das kleinere Uebel, indem sie sich der Action Gladstone's anschlossen mit dem stillschweigenden Vorbehalt, der englischen Diplomatie in den Arm zu fallen, wenn sie Miene machen sollte, nach dem Rathe Layard's „über bloße Drohungen hinauSzugehen". Gerade die Entwicklung der montenegrischen Grenzfrage hat bewiesen,
welche Bewandtniß eS mit
der plötzlichen Begeisterung Englands und
Rußlands für die sofortige und vollständige Ausführung der Stipulationen des Berliner CongreffeS hatte. Was die zärtliche Sorge Rußlands für
das Wohl der christlichen oder vielmehr der slavischen Völkerschaften der Balkan-Halbinsel bedeutet, haben wir erst neuerdings aus der Klage der
russischen Denkschrift über den letzten Krieg erfahren, „daß die Mächte im Jahre 1878 Rußland, die siegreiche Macht, welche allein einen Krieg christ licher Humanität mit allen Lasten und einer beispiellosen Selbstverleug nung unternommen hatte, nöthigten, als Angeklagter vor dem in Berlin
versammelten Congreß des europ äischen Uebelwollens zu erscheinen
und sein Werk der Aufopferung — den Vertrag von San Stefano — zerstücken und entstellen zu sehen." Damals hielten in der That die Groß mächte, England voran, eine Consolidirung der Verhältnisse auf der
Balkan-Halbinsel nur unter der Bedingung für möglich, daß der Einfluß
Rußlands auf die autonomen Balkanstaaten möglichst beschränkt oder wo
das nicht möglich, unter europäische Controle gestellt werde. Anderer seits sollte durch die Stärkung des Königreichs Griechenland ein Gegen gewicht gegen das Slaventhum geschaffen und eine Art Interessengemein schaft zwischen Griechenland und der Türkei angebahnt werden. Wenn Rußland sich trotzdem bereit finden ließ, auf der Berliner Conferenz für die Kräftigung Griechenlands einzutreten und durch einen Schiedsspruch
des europäischen Areopags die Grenzlinie festzustellen, deren Annahme der Türkei und Griechenland empfohlen werden sollte, so war das zu nächst eine Gegenleistung für die guten Dienste, welche England dem russischen Schützling in Cettinje und in der armenischen Reformfrage zu
leisten versprochen hatte. Eine weitere Erwägung war selbstverständlich die, daß die Türkei durch die Abtretung der fruchtbaren Gebiete von
Janina und Larissa eine erhebliche Schwächung erfahren werde. Aber diese Rücksicht reicht allein nicht aus, um die überraschende Thatsache zu erklären, daß der russische Bevollmächtigte auf der Berliner Conferenz
dem Protokoll des CongreffeS vom 13. Juli 1878, demzufolge die neue
654
Bon Dolcigno nach Athen.
Grenzlinie dem Thal des KalamaS und des Salamyryas folgen sollte, eine für Griechenland günstigere Auslegung zu geben beantragte.
Nach
diesem Vorschläge sollte im Nordwesten nicht der Flußweg des KalamaS bis zu der Quelle desselben die Grenze bilden, sondern die nördliche Wasserscheide d. h. eine Linie vom Cap Stylo bis zu den Quellen des
KalamaS.
Daß dieser Vorschlag über den Beschluß des Congresses von
Berlin hinauSgehe, konnte auch der russische Bevollmächtigte nicht in Ab
rede stellen; aber nach der Ansicht der russischen Regierung sollte gerade ein Beschluß der Conferenz in diesem Sinne klar stellen, daß die Ent scheidungen deS Berliner CongresseS Europa nicht im Wege stehen dürften,
wenn eS sich darum handele, den Aspirationen der Bevölkerungen Rech
Mit andern Worten: Rußland ging darauf aus, ein
nung zu tragen.
PräcedenS zu schaffen, auf welches es sich berufen könnte, um im geeig
neten Momente Ostrumelien und Macedonien für den großbulgarischen Nach der Ablehnung seines Vorschlages tröstete
Staat zu reclamiren.
sich Rußland mit der Zuversicht, daß, wenn nicht schon die montenegrinische
Grenzfrage die Aera der Complicationen auf der Balkan-Halbinsel wieder eröffnen sollte, die Action der Großmächte in der griechischen Frage das
erwünschte Resultat um so sicherer herbeiführen werde.
Die Dulcigno-Angelegenheit verlief durchaus günstig im Sinne der englischen und russischen Politik bis zu dem Augenblick, in dem die Türkei mit seltener Entschlossenheit die Mächte vor die Entscheidung stellte, ob
sie von Worten zu Handlungen überzugehen gewillt seien. wußte,
Die Türkei
daß das europäische Concert an diesem Punkte in die Brüche
gehen werde.
Wer will eS ihr verdenken, daß sie immer lavirend es
vermied ihr Schiffletn der vollen Strömung der feindlichen Politik auS-
zusetzen; daß sie selbst in ganz nebensächlichen Punkten erst in dem letzten
gefährlich scheinenden Moment nachgab; immer aber besorgt, den Schein der Loyalität zu wahren und selbst den Gegner, der das Spiel durch-,
schaute, in die Unmöglichkeit zu versetzen, den Beweis dafür zu führen,
daß die Erfüllung der gemachten Zusagen nicht durch unüberwindliche Hindernisse
vereitelt,
zögert wurde.
sondern durch
Endlich,
Mangel
an gutem Willen
ver
der drohenden Flottendemonstration gegenüber,
zog die Pforte sich hinter die widerspenstigen Albanesen zurück, die ent
schlossen schienen, den Untergang dem schmachvollen Verzicht auf das seit Jahrhunderten ihrem Stamm gehörige Gebiet vorzuziehen.
So lange
Europa drohte, betheuerte die Pforte, daß sie doch unmöglich ihren Truppen
zumuthen könne,
zu Gunsten der ketzerischen Montenegriner Glaubens
genossen Gewalt anzuthun.
Das war natürlich das beste Mittel, den
Uebermuth der Albanesen zu steigern, die gleichzeitig mit ihrer Unabhän-
655
Bon Dulcigno nach Athen.
gtgkeit
von der Pforte und
prahlten.
ihrer Ergebenheit dem Sultan gegenüber
Erst als die Jnterventtonöpolitik im Schlepptau Gladstone's in
Paris den letzten Halt verloren hatte, als die französische Regierung sich
nur mit Mühe dem Verlangen der öffentlichen Meinung, daS französische Geschwader aus dem adriatischen Meere zurückzurufen, Widerstand leisten konnte, erst da warf der Sultan die MaSke ab, und erklärte, er werde
Dulcigno überhaupt nicht übergeben, solange die Großmächte ihm jedes Entgegenkommen durch ihre Drohungen moralisch
unmöglich
machten.
Unter anderen Umständen wäre diese Provokation Europas ein Act des
Wahnsinns gewesen; von dem Augenblick an, wo Frankreich an der Seite Deutschlands und Oesterreich-Ungarns Stellung nahm, war sie das Signal
zu einer, vollständigen Niederlage der Gladstone'schen Orientpolitik.
Von
dem Augenblick ab, wo die Cabinette von Paris, Berlin und Wien die Vorschläge Englands zu einer feindlichen Blokade von Smyrna ablehnten, trat in der Haltung der Pforte ein totaler Umschwung ein.
Das euro
päische Concert war gesprengt, und die Pforte konnte mit Sicherheit darauf
rechnen, daß die Uebergabe von Dulcigno, wenn sie freiwillig erfolgte, der Abschluß und nicht
der erste Act der
JnterventionSpolitik sein werde.
Nun war die Aufgabe, die Albanesen, deren Selbstgefühl und Widerstands
kraft man bis dahin künstlich gestärkt hatte, wieder zu gehorsamen Unter
thanen der Pforte zu machen, nicht von heute
auf morgen zu lösen.
Riza Pascha begann zunächst mit Zureden und Drohen und wo auch das nichts nutzte, mußte der plötzliche, angeblich durch Gift herbeigeführte Tod von vier der unbändigsten Albanesenchefs der Autorität des Sultans zu Hülfe kommen.
Endlich wurde Riza Pascha durch einen weniger compro-
mittirten General, Derwisch Pascha, ersetzt, der den Auftrag, sich Dulcigno'S
eventuell mit Gewalt zu bemächtigen, in wenigen Wochen ausführte. Und dieselben Notabeln von Dulcigno, welche wenige Monate vorher
geschworen hatten, sich eher unter den Trümmern der Stadt begraben zu lassen, als die Herrschaft Montenegro's anzuerkennen, beeilten sich den an
der Spitze der Truppen einziehenden montenegrinischen Obercommandanten Bozo Petrovics durch eine Deputation zu begrüßen.
Das war am 27. No
vember und heute, acht Tage später verkündet der Telegraph die Auflösung
des europäischen Geschwaders und die Heimkehr der Schiffe, die der Heimath die Rettung des europäischen Friedens und die klägliche Niederlage
einer friedenstörerischen Diplomatie verkünden.
„Die Flottendemonstration,
sagte Lord Granville in seiner Rede in Hanley mit sicherlich nicht beab sichtigter Ironie, hat einige gute Früchte getragen; sie hat unsere Marine-
officiere mit ihren europäischen Waffenbrüdern bekannt gemacht und den Beweis geliefert, daß eine starke Marine bei politischen Bewegungen großen
Bon Dulcigno nach Athen.
656 Einfluß sichert;
auch hat sie in 3 oder 4 Monaten einen Zweck erreicht,
der in zwei Jahren nicht erreicht worden war." sich und seine Zuhörer mit der Versicherung: besteht noch heute."
Der Unterschied ist nur, daß im Juni Gladstone in
diesem Concert den Ton angab, während
secundiren.
Lord Granville tröstet
„Das europäische Concert er heute verurtheilt ist zu
Gladstone hat nichts erreicht als die Befestigung des Ber
liner Vertrags, den er zu erschüttern auSzog und die völlige Vernichtung
des englischen Einflusses in der Türkei. Leider trifft der Schlag, der die stolzen Hoffnungen deS englischen Premiers zu nichte machte, neben den Schuldigen auch einen Unschuldigen.
Der Berliner Congreß hatte sich der Erörterung der
griechischen
Frage, d. h. der Ansprüche Griechenlands auf das vorwiegend von griechi schen Nationalen bewohnte Gebiet von EpiruS und Thessalien nicht ent
ziehen können.
Während deS russisch-türkischen Krieges, als die Theilung
der Türkei in Frage zu stehen schien, wollten natürlich auch die Griechen nicht zurückbleiben, die sich als die prädestinirten Nachfolger der Türken in
Constantinopel betrachten.
Es kam sogar dahin, daß eines TageS griechische
Truppen trotz aller Abmahnungen Englands die türkische Grenze überschritten
unter dem Vorwande, daß das Räuberunwesen in den Grenzgebieten die Sicherheit deS Staates bedrohe. England sowohl wie Rußland, das eine im
Interesse der Türkei, daS andere aus Abneigung gegen den griechischen Con
currenten, erzwangen die Zurückziehung der Truppen und vertrösteten die Griechen auf die Zukunft.
ES wird sich schwer feststellen lassen, ob Lord
Beaconsfield oder Waddington
in Athen bindende Versprechungen im
Sinne einer Erweiterung der Grenzen Griechenlands gemacht haben oder
nicht; auf alle Fälle waren die Mächte, als der Berliner Congreß zu sammentrat, moralisch gezwungen, die Gesandten des Königreichs
Sachwalter der griechischen Ansprüche zu hören. hellenenthumS
ist
längst
verflogen; aber
als
Der Rausch deS Phil-
einer nüchternen Erwägung
gegenüber hält auch der Ausspruch der „Times" „die Griechen verdienten nichts Besseres als an die Raen ihrer Schiffe aufgeknüpft zu werden" nicht Stand.
Wer gerecht sein will, darf die heutigen Griechen nicht mit
den Bewohnern des alten Griechenlands in Parallele stellen, sondern mit den Völkerschaften der Balkan-Halbinsel und vor diesen haben sie vor
Allem die Kraft der Assimilirung fremder Elemente voraus und gerade
daS fällt am schwersten in'S Gewicht, wenn es sich darum handelt, ein Bollwerk gegen daS Slaventhum zu schaffen. Beschränkung deS griechischen Staats
auf
Ob eS wahr ist, daß die seine jetzigen
Grenzen den
Herzog Leopold von Sachsen-Coburg-Gotha, den nachmaligen König der
Belgier, im Jahre 1829 zu dem Entschlüsse bestimmte, die griechische
Bon Dukigrw nach Athen.
657
Krone abzulehnen, tote auf dem Berliner Congreß behauptet wurde, mag dahin gestellt bleiben.
Immerhin ist eS
eine unbestreitbare Thatsache,
daß in Griechenland selbst die Misöre der heutigen Zustände der Enge
deS Staatsgebietes zur Last gelegt wird, dessen außerordentlich reiche Küstenentwickelung deS Hinterhaltes deS für die Entwickelung von In
dustrie und Landwirthschaft erforderlichen Binnenlandes entbehrt. Niemand wird in Abrede stellen, daß die wirlhschaftliche Entwickelung der Nation
außerordentlich erschwert ist durch eine streng constitutionelle Verfassung, welche der Rivalität politisch ungeschulter Parteien freien Spielraum ge
währt, der Initiative eines energischen Regenten aber unübersteigliche
Schranken entgegenstellt.
Unglücklicher Weise hat Griechenland an den
europäischen Höfen wohl Könige, aber keine der großen
wachsene Herrscher gefunden.
Aufgabe ge
König Georg, dem guter Wille nicht ab
zusprechen ist, fand sich sehr bald vor der Alternative, eine Aenderung
der verfassungsmäßigen Zustände herbeizuführen, oder sich in die Rolle eines rein konstitutionellen Königs zu resigniren und, wie Fama sagt, sich mit der Lektüre Paul de Coq'scher Romane zu begnügen.
Immerhin aber
bleibt die Möglichkeit, daß eine Arrondirung des Staatsgebiets, welche der Nation frische Kräfte zuführt, auch der Ausgangspunkt für eine Um gestaltung der innerstaatlichen Verhältnisse wird.
Das vorausgesetzt frei
lich, würde das zweite Argument, welches die Fürsprecher Griechenlands auf dem Congreß zur Geltung brachten, daß nämlich die Vergrößerung
Griechenlands das Land zur Ruhe bringen und ein freundschaftliches Ver
hältniß zur Pforte anbahnen werde, sich als durchaus unzutreffend be währen.
Auch die neue Grenze, welche der Congreß Griechenland in
Aussicht stellte, würde bei Weitem nicht das ganze Gebiet einschließen, auf welches die Griechen vom ethnographischen Standpunkt aus Anspruch erheben können, geschweige denn das Gebiet, auf welches sie als Nach
kommen der alten Griechen Anspruch zu erheben sich als berechtigt er achten.
Hat doch Griechenland nach der berüchtigten „ethnokratischen"
Karte der Balkanhalbinsel, welche dem Congreß vorgelegt wurde, unter der erschlichenen Autorität unseres berühmten Landsmanns, Heinrich Kiepert,
Anspruch auf daS gefammte Gebiet südlich des Balkans! Solchen Phan tasien, die der griechischen Jugend auf den Schulbänken als Resultat wissen
schaftlicher Forschungen vorgetragen werden — ganz nach dem System der Italia irredenta — ist mit Gründen natürlich nicht beizukommen.
Auf
der andern Seite aber kann der krankhafte Expansionstrieb, wenn nicht er stickt, so doch abgeschwächt werden dadurch, daß demselben innerhalb der
Grenzen der Berechtigung und Möglichkeit Befriedigung gewährt wird. Auf Grund dieser Erwägungen hatte der Berliner Congreß zunächst
Von Dulcigno nach Athen.
658
in das Protokoll der 13. Sitzung auf Antrag Frankreichs und Italiens den Beschluß ausgenommen: der Congreß ladet die Pforte ein, sich mit Griechenland über eine Grenzberichtigung in Thessalien und Epirus zu verständigen und er ist der Ansicht,
daß diese Berichtigung dem Thale
des SalamyriaS (der alte PenäuS) auf der Seite des ägeischen und dem jenigen des KalamaS auf der Seite des jonischen Meeres folgen könnte. Der Congreß hat das Vertrauen, daß es den interessirten Theilen ge
lingen wird, sich zu einigen.
Um indessen den Erfolg der Verhandlungen
zu erleichtern, sind die Mächte bereit ihre direkte Vermittelung den bei den Theilen anzubieten.
Erst bei der definitiven Redaction des Vertrages
wurde dieses zweite Alinea als Art. 24 in den Text des Vertrags und zwar in folgender Fassung
ausgenommen:
Falls die hohe Pforte und
Griechenland nicht zu einer Verständigung über die im 13. Protokolle deS
CongresseS von Berlin bezeichnete Grenzberichtigung gelangen sollten, be halten sich Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien,
Italien und Rußland vor, ihre Vermittelung den beiden betheiligten
Theilen anzubieten, um die Verhandlungen zu erleichtern." Nach jahrelangen vergeblichen Verhandlungen trat am 16. Juni d. I. die Berliner Conferenz zusammen, um nach dem Vorschläge Englands
„mit Stimmenmehrheit und unter Mitwirkung technischer Officiere die Grenzlinie festzustellen,
welche
anzunehmen passend
erscheint."
Diese
Grenzlinie aber sollte, wie der Vorsitzende, Fürst Hohenlohe in der letzten Sitzung der Conferenz ausdrücklich constatirte, nur die Basis der Ver
mittelung bilden, welche die Mächte auf Grund deS Art. 24 des Berliner
Vertrags nunmehr zwischen der Türkei und Griechenland anzubahnen ent schlossen war.
Fürst Hohenlohe wies allerdings darauf hin, daß „diese
feierliche Kundgebung deS Willens Europa'S auf die Dauer einem ernst
lichen Widerstand nicht begegnen könne"; die auf der Conferenz verein
barte identische Note an die beiden Mächte beschränkt sich aber darauf, die Türkei und Griechenland „einzuladen", die von der Conferenz fest gesetzte Grenzlinie als den Beschlüssen be8. Berliner CongresseS ent
sprechend anzunehmen.
Griechenland nahm natürlich die Einladung an;
die Türkei verweigerte mit größter Entschiedenheit die Abtretung Janina's,
mit Rücksicht auf die Albanesen, die doch eine ebenso interessante Völkerschaft seien, wie so manche andere, und diejenige Larissa's mit Rücksicht auf die mohammedanische Bevölkerung.
Leider trat in der Presse wenigstens —
ob auch in den diplomatischen Verhandlungen, muß dahin gestellt bleiben — der Charakter dieser Action als ein vermittelnder in den Hintergrund.
Selbst die preußische „Provinzial-Correspondenz" ließ sich in der Nummer
vom 30. Juni also Vernehmen:
„die Conferenz war nur berufen, eine
659
Bon Dulcigno nach Athen.
moralische Einwirkung auf die beiden beteiligten Staaten zu üben, deren Interessen in der vorliegenden Frage auszugleichen sind.
Es ist aber
wohl nicht zu erwarten, daß einer dieser beiden Staaten die Bedeutung des Beschlusses eines so gewichtigen Schiedsgerichts, wie es die Ber einigung der europäischen Großmächte darstellt, verkennen wird." —
Unter diesen Umständen und angesichts der Versprechungen, welche Frankreich oder wenigstens Gambetta und die englischen Minister dem
Könige Georg bei seiner Rundreise durch Europa gemacht haben, konnte eS nicht überraschen, daß Griechenland die Grenzfrage als durch den Schieds
spruch Europa'S gelöst
betrachtete und
seine freilich wenig
gefährliche
Armee mobilisirte, um trotz deS Widerspruchs der Pforte das neue Ge biet in Besitz zu nehmen.
Der damalige französische Minister deS Aus
wärtigen, Herr von Frehcinet hat ja kürzlich öffentlich erklärt, die famose
Flottendemonstration sei bestimmt gewesen, nicht nur bei der Lösung der montenegrinischen Frage,
sondern auch
bei
derjenigen der
griechischen
mitzuwirken.
Frankreich
Grenzfrage und der armenischen Reformfrage
hatte die Absendung des Generals Thomassin mit 60 Officieren nach
Athen behufs Reorganisation der griechischen Armee in Aussicht gestellt. Die Mächte, welche anfangs der Mobilisiruug der Armee widersprochen hatten, zogen nach und nach ihren Widerspruch zurück.
Aber wie bald sollte der Jubel der Griechen über die Großmuth Europa'S tiefer Enttäuschung Platz machen.
Klang es doch in nichtgriechi
schen Ohren wie Hohn, als König Georg, wie zu neuem Leben erwacht, am 20. October die Kammer mit einer Thronrede eröffnete, in der eS
hieß:
„Mit der Mittheilung, daß meine Beziehungen zu den auswärtigen
Mächten freundschaftlicher Natur sind, verbinde ich ebenso den Ausdruck deS Dankes den Staaten gegenüber, welche ich auf meiner Reise besuchte,
und deren schiedsrichterlicher Ausspruch dem Lande eine neue
Grenze erwirkte, durch die das Königreich besser arrondirt und unsere nationale Machtstellung auf die sich für die Unabhängigkeit Griechenlands
opfernden (!) Stammesgenossen der hellenischen Völkerfamilie ausgedehnt ward. Die Staaten, welche als Schiedsrichter ihren Spruch gefällt, wirken auch für dessen Durchführung.
Da die letztere gesichert erscheint, so sind
wir alle vor eine Action gestellt, deren Entwickelung und Regelung Ge genstand Ihrer Berathungen sein wird."
Seitdem bemühen sich die Diplomaten, die die Vertrauensseligkeit
der Griechen in der schnödesten Weise mißbraucht haben, vergeblich, in Athen Mäßigung und Frieden zu predigen.
Vor dem Tribunal der öffent
lichen Meinung aber, und nicht am wenigsten in der deutschen Presse, wird dasselbe Volk, über dessen Mangel an Muth man im Juli spöttelte, weil
Bon Dulcigno nach Athen.
660
es an die Hülfe der Großmächte appellirte, mit Hohn überhäuft, wo es sich, obgleich von den Großmächten verlassen, in kriegerischer Begeisterung
anschickt, allein und selbst für seine Ansprüche daS Schwert zu ziehen. Der König Georg aber steht vor der Alternative, einen vielleicht aussichts
losen Krieg gegen die Türkei zu wagen oder den Ausbruch einer Revo
lution zu provociren, die seinen Thron bedroht.
Die Abwendung Frank
reichs von der Gladstone'schen Actionspolitik, welche den Frieden im Orient — und im Occident sicherte, hat Griechenland vor die Existenzfrage gestellt. Wir aber halten eS weder für wohlanständig, noch für politisch, daß Griechenland als das Opfer der Sünden Gladstone'S und des Leichtsinns
Gambetta'S, der in Griechenland das wollte, seinem Schicksal überlassen wird.
„Schleswig" Frankreichs
suchen
Nicht für wohlanständig, weil
alle Mächte dazu beigetragen haben, Griechenland über das Maß des Bei
standes, den es von Europa zu erwarten hatte, zu täuschen: nicht für poli tisch, weil die Stärkung, riicht die Schwächung Griechenlands im Interesse
der Mächte liegt, welche das Slaventhum in Schranken halten wollen; vor allem aber deshalb nicht, weil im äustersten Falle, wenn die griechische Armee, wie zweifellos, der türkischen unterliegt, England und Rußland
— die Königin von Griechenland ist bekanntlich die Tochter des Groß fürsten Constantin — gezwungen sein werden, die Retterrolle zu über nehmen und so die Sympathien der Griechen wieder zu gewinnen.
Deutschland, Oesterreich und Frankreich können das Verdienst in An spruch nehmen, die Dulcigno-Frage gelöst zu haben, als England vor der kategorischen Weigerung der Pforte zurückwich.
Ob sie bei den Vasallen
Rußlands auf Dank rechnen können, wird die Zukunft lehren.
Sie haben
eS jetzt in ihrer Hand, auch in Athen als Retter, nicht als Rächer auf
zutreten und indem
sie
ihren Einfluß in
ständigen Zuspruch geltend
Constantinopel
durch
ver
machen, das bildungsfähigste und politisch
vorgeschrittenste Volk der Balkanhalbinsel an ihre Politik, nicht der Er haltung deS auf die Dauer doch unerträglichen Status quo, sondern der
Entwickelung der lebensfähigen Organisationen zu knüpfen.
Die Türkei
muß wissen, daß sie in den „conservativen" Mächten Beschützer gegen die
abenteuerlichen Pläne Gladstone'S und die panslavistische Begehrlichkeit Ruß lands auf die Dauer nur dann findet, wenn sie sich vollends ganz, ohne
Rückhalt auf den Boden des Berliner Vertrags stellt.
ES ist oft und
mit Recht gesagt worden, der Orient ist die Wand, an der die Schatten
bilder der europäischen Machtverhältnisse zur Erscheinung kommen.
Lassen
wir nicht zu, daß das nutzlos vergossene Blut der Griechen einen dunkeln
Schatten auf den Ehrenschild der deutschen Nation wirft. —
ir.
Erwiderung an Herrn Th. Mommsen.
In dem Augenblicke da dies Heft bereits geschlossen ist, erhalle ich die
Schrift von Th. Mommsen „Auch ein Wort über unser Judenthum".
Es gereicht mir zur Freude, daß ein Mann wie Mommsen sich nicht dabei beruhigt hat, eine „Erklärung" zu unterzeichnen, deren hohle Schlagwörter an
die schlimmsten Tage des Jahres 1848 erinnerten, sondern nunmehr endlich seine Ansicht mit Gründen vertheidigt.
Ich erkenne auch dankbar an, daß er heute
nicht mehr, wie in jener „Erklärung", alle Schuld allein auf Seiten der Christen sucht, sondern auch für die Fehler der Juden einige Worte wohlberechtigten
Tadels findet.
Gleichwohl bleibt eine starke Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und mir bestehen.
Ich fasse sie kurz in folgenden fünf Punkten zusammen.
Mommsen glaubt, das Judenthum bilde in Deutschland „ein Element der Decomposition der deutschen Stämme" und sei darum in der deutschen Haupt stadt so mächtig geworden.
Ich bin der entgegengesetzten Ansicht.
Blätter wie
der Börsencourier, die Frankfurter Zeitung u. s. w. befördern durchaus nicht
die Versöhnung zwischen den Sachsen, den Schwaben, den Franken, sondern lediglich ein heimathloses Weltbürgerthum; sie thuen was in ihren Kräften steht um unserem Volke den nationalen Stolz, die Freude am Vaterlande zu zer
stören.
Diese Elemente des Judenthums sind allem deutschen Wesen feindlich.
Mommsen geht mit einigen gleichgiltigen Worten über den religiösen Ge gensatz hinweg.
Ich stehe anders als er zu dem positiven Christenthum.
Ich
glaube, daß unser tief religiöses Volk durch die reifende Cultur zu einem reineren und kräftigeren kirchlichen Leben zurückgeführt werden wird, und kann daher die
Schmähungen der jüdischen Presse gegen das Christenthum nicht mit Still schweigen übergehen, sondern ich betrachte sie als Angriffe auf die Grundlagen unserer Gesittung, als Störungen des Landfriedens.
Mommsen tadelt den unedlen Kampf der Mehrheit gegen die schwache
Minderheit.
Ich meine, daß dieser Tadel einer Begriffsverwirrung entspringt.
Die schwache Minderheit beherrscht mittelbar oder unmittelbar weitaus die meisten Organe der öffentlichen Meinung.
Wer heute in der Preffe die Ueberhebung
des Judenthums bekämpft, der mißbraucht nicht die Macht des Stärkeren, sondern er steht Einer gegen Hundert.
Ich habe anerkannt, daß viele unserer jüdischen Mitbürger langst zu guten
662
Erwiderung an Herrn Th. Mommsen.
Deutschen geworden sind, und nur bedauert, daß andere sich unserem nationalen
Leben grundsätzlich fern halten.
Mommsen erwidert mir:
„die Juden sind
Deutsche so gut wie er und ich"; nachher führt er jedoch sehr nachdrücklich aus,
daß ein Theil dieser „Deutschen" sich in einem national-jüdischen Sonderleben wohl gefalle.
Er sagt also mit anderen Worten genau dasselbe wie ich.
Ich
glaube aber, meine Ausdrucksweise war die correctere.
Mommsen findet endlich mein Auftreten in der Judenfrage inopportun;
und hierin liegt, wie mir scheint, der Kern seiner Ausführungen.
Ich frage
dawider: ist es patriotischer, einen vorhandenen, von aller Welt empfundenen socialen Uebelstand in der Stille fortwuchern zu lassen, oder ihn nach der Weise
freier Völker offen zur Sprache zu bringen?
gehalten.
Ich habe das Letztere für richtiger
Meine ausgesprochene Absicht war, die gut deutschgesinnten Juden
daran zu erinnern, daß die Haltung eines Theiles ihrer Glaubensgenossen den
Anforderungen nicht entspricht, welche jede große Nation an ihre Bürger stellen muß. — Dieser sachlichen Erörterung muß ich, ungern genug, zwei persönliche Be
merkungen folgen lassen.
Herr Mommsen wirft mir vor, daß ich meine Behauptungen über die
jüdische Einwanderung nicht zurückgenommen habe.
Ich erwidere einfach, daß
ich das von ihm empfohlene Neumann'sche Buch nicht kenne.
Da er die Schrift
empfiehlt, so werde ich sie lesen; und sollte ich ihre Beweisführung stichhaltig finden, so werden diese Jahrbücher nicht anstehen, eine Behauptung, die mit dem
Kerne der Streitfrage wenig zu thun hat, zu berichtigen.
Herr Mommsen fordert ferner meine Erklärung über einen Satz eines ver
traulichen akademischen Circularschreibens, der möglicherweise so gedeutet werden kann, als ob ich der moralische Urheber der Antisemiten-Petiton der Leipziger Studenten wäre.
heimniß.
Der Sachverhalt ist für meine Collegen durchaus kein Ge
Hätte Herr Mommsen mich selbst oder unseren Rector oder viele
andere Collegen einer vertraulichen Frage gewürdigt, so würde er wissen, daß
ich die von ihm gewünschte Erklärung schon längst gehörigen Orts abgegeben habe; er würde ferner wissen, daß der mit meinem Namen getriebene Mißbrauch schon längst zurückgenommen worden ist.
Da er jedoch eine öffentliche Anfrage
für collegialisch hält, so stehe hier meine Antwort. Elf Monate lang hatte ich mit Studenten niemals über die Judenfrage
gesprochen; ich wußte auch gar nicht, daß sich die akademische Jugend mit der Angelegenheit beschäftigte.
Da empfing ich am 22. October von einem mir
bisher unbekannten Leipziger Studenten, der sich damals hier aufhielt, einen
Brief des Inhalts: er und seine Freunde beabsichtigten sich der Försterschen Petition anzuschließen; sie bäten mich um Rath.
Als der Briefsteller bald nach
her persönlich bei mir erschien, sagte ich ihm etwa Folgendes:
1) ich sei, wie er aus meinen Jahrbücher-Artikeln wissen müsse, mit der Petition nicht einverstanden und hätte daher trotz wiederholter Aufforderung mich
geweigert, dieselbe zu unterzeichen;
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Erwiderung an Herrn Th. Mommsen.
2) ich sei akademischer Lehrer und könne daher an keiner Kundgebung der
Studirenden mich irgendwie betheiligen; 3) wenn er und seine Freunde ihre Sympathie für die Petition äußern
wollten, so könnte ich ihm selbstverständlich nicht abrathen, da ich kein Recht hätte Anderen meine Gesinnung aufzuerlegen; doch hielte ich mich verpflichtet
ihn auf zwei Bedenken aufmerksam zu machen.
Ein Versuch der Studenten,
auf die Beschlüsse der gesetzgebenden Gewalt einzuwirken, sei m. E. ganz un
gehörig; sie
müßten also
ihrer Kundgebung
mindestens
eine
andere ange-
meffenere Form geben; sie müßten ferner darauf hallen, daß der akademische Friede ungestört bliebe.
Nach dieser Unterredung hörte ich wochenlang nichts mehr von der Sache,
bis ich plötzlich zu meinem äußersten Erstaunen, in Folge einer Zeitungsnotiz jenen Satz des Leipziger Studenten-Circulars kennen lernte.
Ich schrieb sogleich
an jenen Studenten, erinnerte ihn an den wirklichen Inhalt unseres Gesprächs
und verlangte, daß jene Stelle sofort gestrichen würde.
Er antwortete mir sehr
reumüthig, bat mich um Verzeihung, betheuerte, er habe sich während der Unter redung in großer Aufregung befunden und mich daher gänzlich mißverstanden;
er versprach sodann jene Stelle sogleich streichen zu lasten, was in der That ge schehen ist.
Nachher habe ich einem Mitgliede unseres Academischen Senats den Her gang brieflich dargestellt, mit der Bitte um weitere Mittheilung an den Rector
und die Senatoren. erklärte:
Das Ende war, daß der Herr Rector mir unaufgefordert
er sei jetzt vollkommen zufriedengestellt und die ganze Angelegenheit
abgethan.
Zu einer öffentlichen Berichtigung konnte ich mich nicht entschließen.
Alle
meine Freunde stimmten mit mir darin überein, daß es mir nicht gezieme, auf Zeitungsredereien dieses Schlages zu antworten.
Wenn aber der kleine Klatsch
unter der glänzenden Flagge Theodor Mommsens dahinsegelt, dann freilich muß ich reden.
Heinrich von Treitschke.
Verantwortlicher Redacteur:
H. v. Treitschke.
Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.