Preußische Jahrbücher: Band 46 [Reprint 2020 ed.] 9783112345306, 9783112345290


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Preußische Jahrbücher: Band 46 [Reprint 2020 ed.]
 9783112345306, 9783112345290

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Preußische Jahrbücher. Herausgegeben

von

Heinrich von Treitschke.

Sechsundvierzigster Band.

Berlin, 1880. Druck und Verlag von G. Reimer.

Inhalt. Erstes Heft. Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

(C. Grünhagen.) Seite

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die StaatSverwaltumg. (A. Pernice.)

Ueber die Grenzen des historischen Wissens.

1



24

(W. Vischer.)).................................. —

56

Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briese des Jaco-po OrtiS".

(II.)

(Dr. F. Zschech.).....................................................................................................

-

70

AuS Ungarn......................................................................................................................



88

Politische Lorrespondeuz.

(Nach der Entscheidung.)

.

. ....................................... —

Notizen....................................................................................................

92



106



109



126

Zweites Heft. (Bernhard FArsteir.)...................

Der deutsche Prosastil in unsern Tagen. Ueber

die

Stellung

der

Mathematik

Kunst

zur

unib

Kunstwissenschaft.

(Professor Dr. Guido Hauck.)............................................. Zur Geschichte deS deutschen Adels.

(Christian Meyer.)

AuS der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

.................................. —

146

(Julian Schmndt.).........................—

174

.



213

....



225

(Emil Feuerlein.)......................................................... —

253

Die Chamäleonönatur deö UltramontaniSmuS.

Politische Lorrespondenz. .

Drittes Heft. Zur Geschichte des deutschen Adels.

Zur Würdigung Lavater'S. Colberg und Gneisenau.

(Schluß.)

(Christian Meyer.)

(Karl Koberstein.).......................

Reiseeindrücke aus Samogitien.



275

(E. von der Brüggen.))....................................... —

298

Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Wümdniß.

(Politische

Correspondenz.)...........................................................................................................—

318

Notizen......................................................................................................................................—

329

Viertes Heft. Reiseeindrücke aus Samogitien. Ueber

(Schluß.)

Maßnahmen und Einrichtungen

(E. von der Wrüggen.) ....

zum

Schutze



333

der Gesundheit' der

(Prof. Dr. Julius Uffelmann.)........................................................



351

Heinrich Luden.........................................................................................'............................ —

379

Kinder.

IV

Inhalt.

Landgesetze und Landwirthschast in England.

(Ludwig Freiherr von Ompteda.) Seite 401

Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen

Ost-westliche FriedenSausstchten.

zuPergamon.



(B. Förster.)

(PolitischeCorrespondeuz.).................................. —

AuS Siebenbürgen......................................................................................................— Notizen.

420

431 441

(Julian Schmidt.).........................................................................................— 447

Fünftes Heft. Landgesetze und Landwirthschast in England.

(Schluß.)

(Ludwig Freiherr

von Ompteda.)......................................................................................................— Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.

(Hugo Sommer.)

449



480

rechtlichen Standpunkt.............................................................................................—

494

Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze an die Elbe vom Goethe's erstes Jahr in Weimar, 1775—1777. Politische Correspondeuz.

(Julian Schmidt.)

...

(—z.)....................................................



515



544



553

Sechstes Heft. Altösterreichische Culturbilder.

(Christian Meyer.) .

Aus Türkisch-Asien............................................................................................. Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht.

Julius Wolff.

(Dr. A. Baer.) .

.



575



603



612

Zur Fortsetzung von Gneisenau's Biographie............................................................ —

619

Parlamentarisches und constitutionelleö System..........................................................—

630

Zur inneren Lage am Jahreöschluffe.

639

(Julian Schmidt.)....................................................

Bon Dulcigno nach Athen.

(Heinrich von Treitschke.)....................... —

(Politische Correspondeuz.)........................................ —

Erwiderung an Herrn Th. Mommsen.

(Heinrich von Treiffchke.)

....



646 661

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien. Von

C. Grünhagen. Es war am Tage nach der Huldigungsfeierlichkeit in

Breslau

(7. November 1741), daß der König vor einer Versammlung der Ange­

sehensten des Landes, geistlichen und weltlichen Standes in mündlichem Vortrage ein Programm seiner Regierung

entwickelte.

An die Spitze

stellte er eine Aeußerung über die religiösen Angelegenheiten: cö sei seine ernstlichste Meinung daß die verschiedenen Religionsverwandten sich unter

einander wohl verstehen, nicht hassen, noch weniger verfolgen sollten, er

sei durchaus ein Liebhaber der Toleranz und werde streng darauf halten, daß bei der Justiz bloß auf die Gerechtigkeit der Sache, ohne einen Unter­ schied der Religion gesehen werde, mithin nicht etwa ein Katholischer des­

halb sein Recht verlieren, noch ein Evangelischer ex hoc respectu das ©einige gewinnen.

Er werde zwei Justizkollegien zu Breslau und Glogau

errichten und gedenke diese mit Ausnahme je eines Mitgliedes ausschließlich

mit Schlesiern zu besetzen, „da diese von den Statuten ihrer Provinzen am

Besten Wissenschaft haben müßten", anders im Finanzwesen, wo er vor­ läufig keine Schlesier anstellen könne, bis solche durch Dienste in den all­

brandenburgischen Landen sich mit den dasigen Einrichtungen bekannt ge­ macht haben würden.

Die Steuerverfassung sollte auf Grund einer binnen

Jahr und Tag herzustellenden Klassifikation aller Jntraden so geregelt werden, daß Jeder genau wisse,

wie viel er an öffentlichen Lasten ein

Mal wie das andere zu tragen habe, so daß dann alle extraordinären

Lasten selbst in Kriegszeiten aufhören sollten.

Die Land-Accise würde er

ganz abschaffen und nur eine Art von Nahrungssteuer einführen.

Zu

Werbungen sollten in jedem Fürstenthum nur bestimmte Regimenter befugt sein, womit dann die gewaltsamen Werbungen aufhören sollten, denen er auch sonst ernstlich steuern werde. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 1.

1

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

2

Er spreche sich über diese Dinge schon setzt aus, damit man ihm zu

den neuen wichtigen Einrichtungen die nöthige Zeit lasse und überzeugt sei, daß Alle- auf den wahren Nutzen von Schlesien abziele, die Wirkung

werde sich künftig zeigen, wenn gleich der Anfang hin und wieder schwer falle*). Man konnte nicht offener nicht männlicher sprechen, und ohne Zeit­

verlust ward das Programm ausgeführt.

Schon Anfang 1742 traten die beiden Justizkollegien oder wie sie

damals hießen OberamtSregierntlgen zu Breslau und Glogau in Thätig­ keit, zu welchen dann t. I. 1744 ein drittes zu Oppeln getreten ist unter

dem Vorsitze des Reichsgrafen von Henckel-DonnerSmark**), welches aber 1756 nach Brieg verlegt wurde.

Alle die alten Gerichte als Zauden-,

Mann-, Ritter-, Zwölferrecht rc. wurden aufgehoben, doch ließ man den

Landständen und Magistraten, welche bisher Jurisdiktion gehabt, dieselbe in erster Instanz unter der Aufsicht der neuen Kollegien, an welche na­

türlich'

auch

eine Appellation

sreistand und

unter

der

Verpflichtung

bei peinlichen Strafen die landesherrliche Konfirmation einzuholen.

Zum

Oberpräsidenten der Breslauer Oberamtsregierung ward bestellt der erst kürzlich bei Gelegenheit der Huldigung znm Fürsten von Carolath er­

hobene ReichSgraf von Schönaich mit dem Range eines Staatsministers,

ihm folgte als Präsident der Geheimerath von Beneckendorf, dann 7 Räthe die Freiherren von Arnold, Kittlitz und Matuschka und die Herren von

Füldener, Langenau, Friedeberg und Seidlitz-Gohlau, in Glogau führte das Oberpräsidium Gras Karl Albrecht von Reder Freiherr zu Krappitz Herr zu Berg Ritter deS Schwarzen Adlerordens, Staatsminister, weiter

fungirten als zweiter Präsident der Geheimerath Böhmer und als Räthe die Herren von Wostrowsky, Rothenberg, Graf Falkenhain, von Wiese,

von Mauschwitz, von Pannewitz und von Ehrenstein.

Mit der Ober-

amtSregierung verbunden waren auch die beiden Oberconsistorien, unter

gleichem Präsidium und so, daß die Mitglieder jener in diesen Sitz und Stimme hatten.

Kollegien auch

Außerdem gehörten zu dem Bres­

lauer Oberkonsistorium noch der Breslauer Oberbürgermeister oder, wie

er damals hieß, Stadtdirektor Geheimerath von Blochmann, der Prälat des

MathiaSstifteS Daniel Joseph von Schlecht, ferner der erste evangelische Geistliche BreSlauS Inspektor Burg und die Räthe von Lüttichau und Langner, welche letzteren Beiden auch wiederum bei dem Oberamte Sitz

und Stimme hatten.

Bei dem Glogauer Oberkonsistorium fungirten ab­

gesehen von den Mitgliedern der OberamtSregieruttg neben 2 weltlichen *) Landesdiarium bei Stenzel St. rer. Siles. V. 184. **) Edikte vom 15. Januar 1742 und 29. Februar 1744.

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

3

Räthen von Arnold und Derschau noch 2 geistliche, der Prälat des dortigen

KollegiatstifteS Freiherr von Langen und Münchhofen und der Oberprediger Läbin*).

ES blieb

daneben auch noch daS bischöfliche Amt resp. daS

bischöfliche Konsistorium bestehen, denen ihre Competenz in causis vere ecclesiasticis mit Ausschluß aller causae civiles sowie in den causis

matrimonialibus wofern beide Theile der katholischen Rxligion zugethan wären, gewahrt blieb.

Doch war von dem bischöflichen Konsistorium eine

Appellation an das Ober-Tribunal in Berlin zulässig, welches nach denen principiis catholicae yeligionis die Sachen zu decidiren haben würde.

Dispense wegen Heirathen in verbotenen Graden mußten die Katholiken bei der Oberamtsregierung nachsuchen.

Bei dem Oberamte waren dann noch recipirt 8 Landes- und 24 Ober­

amtsadvokaten, zu denen dann traten ein advocatus pauperum, ein advocatus militum und ein advocatus ad pias causas. PodewilS hatte bei dem Könige eS lebhaft befürwortet, daß der Fürst

Carolath und der Graf Reder, die doch hauptsächlich ihrer Abkunft ihre

hohen Stellungen zu danken hätten, erst noch einen Vorbereitungskursus in Berlin durchmachten um wenigstens

ein

gewisses Maß

juristischer

Kenntnisse zu erlangen**), doch weiß ich nicht, ob dem Folge gegeben worden ist.

Gewiß ist, daß Beide bei der feierlichen Eröffnung der beiden

Breslauer Kollegien (O. A. Regierung und Oberkonsistorium) zugegen waren, welche am 1. Februar 1742 im Oberamtshause zu BreSlau statt­

fand.

Die Feierlichkeit wurde durch eine Rede des dazu kommittirten ge­

heimen Staatsministers Freiherrn von Coccejt eröffnet, welche davon aus­ gehend, daß „bei allen vernünftigen Völkern Gerechtigkeit und Religion nicht ohne Ursache, vor die beiden Grundsäulen einer wohleingerichteten

Republik gehalten werden", nun eS als die Pflicht der neueingerichteten Kollegien erklärte diese beiden Grundsäulen den Intentionen deS Königs

entsprechend zu stützen und aufrecht zu halten.

ES erfolgte dann die Ver­

eidigung der Mitglieder und eine Dankrede deS zweiten Präsidenten von

Beneckendorf schloß die Feier***), die sich dann wenige Tage später in Glogau noch einmal wiederholt.

Die eigentlichen Regierungsgeschäfte vornehmlich die Steuer- und Domänenverwaltung fielen den beiden Kriegs- und Domänenkammern in

Breslau und Glogau zu, welche schon mit Ende November 1741 ins Leben

*) Diese Personalnotizen beruhen auf dem Etat von 1743 (gef. Nachr. III. 404 ff.), welcher gegen den Etat bei der Eröffnung (ebendas. II. 494) einige Veränderungen nachweist. *•) Schreiben vom 11. Oktober 1741 Brest. St.-A.

***) Beide Reden sind abgedruckt in den ges. Nachr. II. 549 und 666.

Die Einrichtung bet preußischen Herrschaft in Schlesien.

4

getreten waren*).

Dieselben übernahmen

eigentlich

die Erbschaft deS

FeldkriegSkommissariatS, welches gleich nach dem Einrücken der Preußen in BreSlau eingerichtet worden war, und es wurden auch die beiden Geheimeräthe, welche dieses geleitet, Münchow und Reinhard zu Präsidenten

der neuen Kollegien ernannt, doch da die neue Provinz überhaupt nicht

dem Generaldirektorium, oder wie wir jetzt sagen würden, dem Ministerium unterstellt werden sollte, war eS ganz in der Ordnung, daß schon unter

dem 2. April 1742 ein eigner Minister für Schlesien ernannt wurde in

der Person deS bisherigen Kammerpräsidenten M.ünchow, eines SohneS jenes Küstriner Präsidenten, dem der König in trauriger Zeit viel zu

danken gehabt hatte. Derselbe hat dann sein wichtiges Amt bis an seinen

1753 erfolgten Tod bekleidet.

In Folge

dieser administrativen Selb­

ständigkeit wurden denn auch die in der Provinz einkommenden Steuern

unmittelbar zur Deckung deS in Schlesien stattfindenden Militäraufwandes verwendet, nicht ohne eine Beihilfe aus dem Ertrage der schlesischen Domänen**). Als untere Verwaltungsbehörden hatten bisher für jedes Fürstenthum

einige Landesälteste fungirt.

Diese wurden schon Ende 1741 abgeschafft

und statt deren auf Grund der bereits in österreichischer Zeit vorhandenen

KreiSeintheilung für jeden dieser Kreise ein Landrath, in Summa 35 er­ nannt, zu denen dann später noch 16 für die oberschlesischen Kreise hin­

zukamen***).

Sie wurden aus dem grundbesitzenden Adel genommen, und

es muß als ein bedeutsames Zeichen des Kredits, den die neue Regierung genoß, angesehen werden, daß obwohl die ersten 35 ja lange vor erfolgtem

Friedensschlüsse ernannt wurden, dennoch nur einer das ihm angetragene Amt ausschlug, wie wenig auch das Gehalt, 300 Thaler locken konnte.

Die schwierigste Aufgabe blieb natürlich die Regulirung der Steuer­

verhältnisse.

Sie ward auf Grund sorgfältigster Erwägungen an welchen

der König selbst lebhaften Antheil nahm, noch vor dem Friedensschlüsse

also nur für Niederschlesien in der Weise gelöst, daß zunächst die Frage, ob

das,

was sich

als Durchschnittssumme der bisherigen Leistungen

Schlesiens herausstellte, auch für die Zukunft genügen könne, von Friedrich nach genauer Prüfung mit ja beantwortet wurde; eS waren dies in run­ den Summen etwa 1,880,000 Thaler.

Nachdem man hiervon die Do­

mänenerträge in der Höhe von etwa 400,000 abgezogen erhielt man den

Rest von nicht ganz 1*/, Million Thaler als die Summe, um deren zweckmäßigste Aufbringung es sich handelte. ' Die Steuer war zwar den *) Patent vom 25. November 1741. **) Riedel preußischer Staatshaushalt. S. 115. ***) Die Namen in Kornö Edikten-Sammlung. II. 179.

Die Einrichtung der Preußischen Herrschaft in Schlesien.

5

Erträgen der österreichischen Zeit entnommen aber doch thatsächlich höher,

weil man damals unter allerhand Formen durch Gegenrechnungen ver­ schiedener Art rc. die Beträge zu mindern vermocht hatte, während nun

das Ganze wirklich eingetrieben werden sollte. Entsprechend der schon seit des Großen Kurfürsten Zeit in der Mark

eingeführten Einrichtung wurde die Accise auf die Städte beschränkt.

Nach

Abztig von deren Antheile (etwa einem Viertheile des Ganzen) und unter Veranschlagung dessen, waS dann etwa noch sonstige Gefälle z. B. die ländliche Gewerbesteuer ergeben konnten, wurde die Hauptmasse der auf­

zubringenden Steuern vom platten Lande einer Grundsteuer überlassen, deren Normirung nun eine neue Katastrirung des gesummten Grund und

Bodens voraussetzte.

Doch war man in der günstigen Lage hierbei die

umfassenden und gründlichen Vorarbeiten benützen zu können, welche noch

in österreichischer Zeit für den gleichen Zweck gemacht worden waren, und

deren Tabellen in vierfacher Abstufung den Ertrag des Bodens wie den der sonstigen landwirthschaftlichcn Nutzungen verzeichneten. Von Münchow aufs Eifrigste gefördert ward daS Riesenwerk,

über

welchem seit zwei Decennien gearbeitet worden war, nun zu Ende geführt.

Nachdem man schon im Februar 1742 mit je einem niederschlesischen und

je einem mittelschlesischen Kreise (Schwiebus und Oels) den Anfang ge­ macht, ward man im Mai 1743 mit Niederschlesien außer Glatz fertig,

im Oktober desselben JahreS auch mit Oberschlesien, und Anfang No­

vember trat auch die Grafschaft Glatz dazu*). Sehr ernstliche Erwägungen hat dann die Frage hervorgerufen, in welchem Maße die einzelnen Stände sich an den öffentlichen Lasten be­

theiligen, welche Prozentsätze sie von ihren ermittelten JahreSerträgen an

den Staat abzugeben hätten.

Wie sehr hätte es dem Sinne des Königs

entsprochen, in diesem Falle wo er einen Staatshaushalt gleichsam aus

freier Hand einrichten zu können glaubte, nun gewisse allgemeine humane Prinzipien zur Geltung zu bringen, den bäuerlichen Grundbesitz möglichst

zu entlasten, ihn mit dem adligen auf gleiche Stufe zu stellen, so daß nur zwischen weltlichem und geistlichem Grundbesitz unterschieden würde, wo

dann der Letztere wegen seiner sonstigen Unproduktivität mit 65 Prozent herangezogen werden sollte, jener dagegen nur mit 28'/, Prozent.

Doch die realen Verhältnisse, wie sie nun einmal geworden,

ließen

sich nicht ignoriren und setzten den abstrakten Prinzipien wirksamen Wider­ stand entgegen.

Wohl mochte der König die Ritterschaften der nieder­

schlesischen Fürstenthümer, welche gleich den Vasallen anderer alt branden*) Ranke 12 Bücher preußischer Geschichte II. 554 ff. hat hier sehr eingehende Notizen aus den Akten des Berliner Archivs.

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

6

burgischer Provinzen von den eigentlichen Steuern befreit zu sein verlangten, abschläglich bescheiden und den Traditionen des Feudalstaates den Haupt-

Grundsatz des modernen Staates entgegenstellen, daß sowie alle Ange­

hörigen des Staates von demselben gleichen Schutz genössen sie auch alle ohne Unterschied ihn durch ihre Beisteuer schützen und erhalten müßten, wie ja auch er der König seine Domänen von der allgemeinen Besteuerung nicht ausnehme, aber schwer wogen doch die Vorstellungen seiner Räthe,

daß die schlesischen Bauern bet einem Satze von 28'/, Prozent nur halb soviel zahlen würden als die in Pommern oder in der Mark, und daß

bei dem eventuell für allen weltlichen Grundbesitz in Aussicht genommenen

Satze von 35 Prozent der schlesische Adel ungleich höher geschätzt erscheinen

würde als der der alten Provinzen. Auf das Eifrigste reklamirte natürlich der Klerus- und wenn er gleich mit der auf die uralten Exemtionsprivilegien gestützten Forderung voll­

ständiger Steuerfreiheit schon deshalb nicht durchdringen konnte, weil man ihm nachzuweisen vermochte, wie sehr er auch unter der alten Regierung in Anspruch genommen worden war, so wehrte er sich doch erfolgreich

gegen den hohen ihm zugedachten Prozentsatz.

Der Fürstbischof machte

geltend, daß er von den 60,000 Thalern, welche er auS Preußen beziehe,

sein Konsistorium,

zahlreiche Beamten zu unterhalten habe; daß

die

Oekonomieverwaltung allein an 44,000 Thaler koste*), und von den geist­ lichen Gütern konnte man im Allgemeinen sagen, daß dieselben Gründe, welche vom nationalökonomischen Standpunkte allen Besitz der todten Hand wenig günstig erscheinen ließen,

doch auch auf der andern Seite dem

Stellerdruck auf dieselbe Schranken setzen mußten.

Solcher Besitz brachte

eben nicht das, was er in andrer Verwaltung hätte bringen können und hätte in der That jenen Satz von 65 Prozent schwerlich aufbringen können. Endlich wurde folgende Norm gefunden: übrigens durchschnittlich sollten steuern:

sehr

von jedem Hundert der

niedrig veranschlagten Ertragssummen**)

die königlichen Domänen, die fürstlichen und adligen

Güter, die Pfarr- lind Schullehreräcker 28'/, Prozent, der Fürstbischof 33*/,, der bäuerliche Grundbesitz 34, die Güter der geistlichen Ritterorden 40, die StiftSgüter 50 Prozent.

Thatsächlich hat eS sich so gestaltet, daß von

dem durch Steuern aufzubringenden Quantum die Städte durch ihre Accise 7, aufbrachten, die adligen und geistlichen Güter V5 und ebensoviel der

Bauernstand.

*) Ranke a. a. O. 559. **) Ein recht schlagendes Beispiel dafür führt Klöber Schlesien vor und nach 1740, II. 211 an; der schlesische Scheffel Weitzen war mit 24Sgr. angesetzt während er selten unter 2 Thaler herunterging.

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

Wenn der König hierbei die nach unsern Anschauungen

7 über die

immer fortschreitende Entwerthung des Geldes auffallende Versicherung gab, die Gesammtsumme der geforderten Steuer nie erhöhen zu w.ollen, so mußte dies die Grundbesitzer zur Melioration ihrer Besitzungen an­

locken, eine solche erhöhte den Ertrag, nicht aber zugleich die Steuer, ver­ minderte daher thatsächlich den geforderten Prozentsatz.

Friedrich bewundernswürdig Wort gehalten.

UebrigenS

hat

Der Etat von Schlesien auf

etwa 3,265,000 Thaler festgesetzt, ist in den nächsten 30 Jahren durch alle

die Kriegszeiten hindurch nur um etwa 300,000 Thaler gestiegen.

Was

die Erhebung der Steuern anbetrifft, so waren Erlasse oder Verminde­ rungen derselben für den Fall von Kalamitäten, wie sie den Landmann zuweilen betreffen, ausdrücklich vorgesehen und sind häufig genug vorge­

kommen.

Sonst aber wurden die Steuern mit einer Strenge eingetrieben

von der die österreichische Zeit keine Ahnung gehabt hatte. Der bei Weitem größte Theil dieser Einnahmen, drei Viertel der­ selben ward auf das stehende Heer verwendet, dessen Bestand Friedrich sogleich um 18,000 Mann vermehrte.

Zu deren Aufbringung und Kom-

plettirung diente die sogenannte Cantonverfassung, welche den einzelnen Regimentern (die Garde und die Husaren ausgenommen) bestimmte Kreise

zuwies, aus welchen die erforderlichen Mannschaften genommen wurden auf einem Wege, bei welchem die Werbung der zwangsweisen Aushebung

zu Hilfe kam.

Denn prinzipiell war allerdings eine allgemeine Dienst­

pflicht im preußischen Staate eingeführt, doch zahlreiche Beschränkungen

ließen dieselbe thatsächlich nur bei jüngeren Bauersöhnen und der Jugend der unteren besitzlosen Volksklassen zur Anwendung kommen.

Die Stadt

Breslau und die 6 Gebirgskreise waren von jeder Werbung frei, letztere deshalb, weil der König der Leinenindustrie, welche hier ihren Hauptsitz

hatte, keine Arme entziehen wollte.

Die zwangsweise Aushebung auf Grund der Kantonsverfassung ward, wenn sie gleich namentlich im Verhältnisse zur allgemeinen Dienstpflicht einen nur sehr kleinen Bruchtheil der Bevölkerung heranzog, doch als eine den Schlesiern früher ganz unbekannte Last- schwer genug empfunden,

und an die in Folge davon hier und da erzeugte Mißstimmung richteten sich jene Worte aus dem nach Wiederausbruch des Krieges von Maria Theresia erlassenen Manifeste an die Schlesier vom 1. Dezember 1744,

Schlesien sei durch die EnrollirungS-KantonS in ewige Sklaverei versetzt worden, so daß kein Vater mehr über seine Kinder verfügen könne. Etwa zwei Drittheile der schlesischen Städte wurden mit Garnisonen

belegt in der Gesammtzahl von 35,000 Mann, und zwar wurden, da zu­ nächst nur in den Festungen für Kasernen gesorgt werden konnte, die

8

Die Einrichtung der preußische» Herrschaft in Schlesien.

Soldaten Lei den Bürgern etnquarttert und die Letzteren aus dem Servisfonds, zu welchem alle Städte ohne Ausnahme beitrugen, entschädigt.

In

den tz wie schon erwähnt von aller Einquartirung und Aushebung be­

freiten Gebirgskreisen, ward zur Erhaltung der Ordnung und auch für den Kriegsfall zur Landesvertheidigung ein Regiment Miliz von 2000 Mann, das ausschließlich aus possessionirten Bürgern bestehen sollte, in Aussicht genommen*).

Die Lage des Soldaten in jener Zeit war wenig beneidenSwerth. Bei schwerem Dienste und einem so kargen Lohne, daß derselbe von dem

der alten Breslauer Stadtsoldaten weit übertroffen wurde, standen sie

unter einer wahrhaft eisernen Disziplin die doch vielfachen Excessen nicht vorbeugen konnte.

Denn wie sehr es auch begründet sein mag, daß in

keiner andern Armee der damaligen Zeit der Grad von Manneszucht herrschte wie in der preußischen, so dürfen wir doch nicht den Maßstab

unserer Zeit anlegen.

Und wer daS Breslauer Tagebuch des sonst so

gut preußisch gesinnten Steinberger durchlieft, staunt doch wohl über die große

Anzahl der von demselben verzeichneten hier in BreSlau

von

Soldaten verübten Verbrechen oder Vergehen, Diebstählen, am Häufigsten wohl in der Form des ohne Geld Kaufens, Trunkenheitsexcessen und der­ gleichen, während dagegen das Offizierkorps mit ganz vereinzelten Aus­

nahmen eine musterhafte Haltung bewahrt zu haben scheint. Es ist nicht zu leugnen, daß jene Vorkommnisse, die sich natürlich

an andern Orten ebenso wiederholten, die Vorliebe, welche die Schlesier

anfangs den Soldaten entgegengetragen hatten, einiger Maßen abkühlten. Ganz besonders wurde auch über die Werbeoffiztere geklagt, gegen deren

Uebergriffe wiederholte Patente erlassen werden**), während dagegen doch auch die Schlesier ermahnt werden mußten, Jenen die Ausübung ihrer

Funktionen nicht zu erschweren oder sie gar zu behindern***). Man liest aus den Patenten ganz unverkennbar heraus den lebhaften Wunsch des Königs, seinen schlesischen Unterthanen die militärischen Institutionen als Erforder­ nisse deS öffentlichen Wohls darzustellen, an denen sie selbst ein unmittel­ bares Interesse, welche zu fördern sie eine direkte Verpflichtung hätten.

Ganz besonders erschien daS von Bedeutung gegenüber der Desertion,

welche trotz rigoroser Strafen namentlich unter den angeworbenen Soldaten

oft genug vorkam.

Hier kam es darauf an die Einwohnerschaft vorzüglich

auf dem Lande nicht nur von jeder Beförderung einer Entweichung, worauf der Tod stand, abzuhalten, sondern sogar zur werkthätigen Theilnahme *) Patent vom 16. März 1744. **) Vom 20. November und 25. Dezember 1741. ***) Patent vom 1. August 1742.

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

9

an der Wiederergreifung deS Flüchtigen anzuhalten und zu gewöhnen.

Wie streng man es grade hiermit nahm, mag man aus jener Aeußerung des ControverSpredigerS von St. Matthias in BreSlau entnehmen, der in seiner kapuzinerartigen Weise in der ersten Zeit der preußischen Herr­ schaft einmal predigte, die Schlesier hätten jetzt zu den 10 Geboten noch 3 neue hinzubekommen:

du sollst nicht räsonniren, du sollst die Steuer

zahlen und du sollst die Ausreißer von der Armee anhalten*).

Und nicht

ohne Erfolg waren die Beamten nach dieser Seite hin thätig, schon im

November 1743 vermochte Münchow zu berichten, wie selbst in Ober­

schlesien bereits die Bauern anfingen den Regimentern gegen die Deser­

teure Hilfe zu leisten**). Die schlesischen Festungen Glogau, BreSlau, Brieg und vornehmlich

Neiße hatte der König zum Theil noch während des Krieges durch neue Werke

verstärkt,

zu

dem

Fort

Preußen in Neiße ward

bereits

am

29. Mai 1742 der Grund gelegt, und zur Sicherung Oberschlesiens ließ

dann der König von 1743 an durch den von ihm hochgeschätzten Ingenieur v. Walrave das durch die Oder wie durch Sümpfe geschützte Kosel zur Festung

umwandeln.

Es mag hierbei noch bemerkt werden daß tut Herbst 1741

Feldmarschall Schwerin und noch eingehender dessen Adjutant Schmettau

dem König auf das Dringendste statt der projektirten Erweiterung der Festung Neiße lieber die Anlage - eines großen Waffenplatzes beim Ein­

flüsse der Neiße in die Oder in der Gegend von Schurgast angerathen hatte, dieser Platz werde den Handel auf der Oder sichern und ganz

Oberschlesien auf beiden Seiten der Oder kommandiren, ein Plan der allerdings gemacht worden war zu einer Zeit, wo Oberschlesien noch nicht

preußisch war.

Der König geht damals auf denselben nicht näher ein

und äußert nur hinsichtlich der Festung Neiße, das Fortificiren allda sei seine Phantasie, und glaube er gute Ursache zu haben, daß er sich diese

Forttfikation was Rechtes kosten lasse***). Wenn wir nun an die kurze Skizzirung der Militärverhältnisse ein

Wort über die kirchlichen anreihen, so ist der Sprung weniger groß, als eS den Anschein haben könnte, denn auf keinem Gebiete des öffentlichen

Lebens haben die preußischen Waffen so schnell und unmittelbar gewirkt alS grade auf dem kirchlichen.

Brandenburg

Man muß an die älteste Zeit der Mark

zurückdenken, wo hinter den

nach Osten vordringenden

Heeren der Markgrafen immer sogleich die christlichen Missionäre her-

*) Kleine Bilder aus der Geschichte Schlesiens, Feuilleton der schlesischen Volk-zeitung. 1872. Nr. 248. **) Ranke 563. ***) Schöning, die 5 ersten Jahre Friedr. d. G. Volksausgabe 104.

10

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

schritten, um Analogien zu finden für die Erscheinung,

daß sowie die

Preußen nur ihren Einmarsch in Schlesien begonnen hatten, auch überall in

noch

den

von

ihnen

besetzten Landschaften

evangelische

Geistliche

angestellt wurden, um der evangelischen Einwohnerschaft den lang ent­ behrten oder nur mit meilenwciten Wanderungen zu erkaufenden Genuß

einer Predigt ihres Bekenntnisses zu gewähren.

Schon im Januar 1741

werden von dem Berliner Propst Reinbeck die ersten 12 dieser Geistlichen ordinirt, die 12 Apostel, wie der König selbst scherzend sie nannte.

ist

vollkommen

unrichtig,

wenn

man

von

denselben

sagt,

sie

ES seien

im Lande umhergezogen um für den Protestantismus Propaganda

machen*).

zu

Dieselben wurden vielmehr für ganz bestimmte Gemeinden

creirt, welche bisher eigene Prediger nicht hatten haben dürfen.

In dem

damaligen Hauptquartier vor Glogau-Rauschwitz wurden bald weitere 10 durch den dortigen Feldprediger ordinirt, und bis Ende 1742 waren an

200 neue Stätten für den evangelischen Gottesdienst geschaffen, wobei

allerdings vielfach irgend welche Säle, große Bauernstuben, Reitschulen,

Scheuern aushelfen mußten.

Keine einzige der vielen hundert Kirchen,

welche ein Jahrhundert früher den Protestanten weggenommen worden waren, wurde zurückverlangt, ja die Evangelischen mußten nach wie vor den katholischen Ortspfarrern alle Stolgebühren entrichten, und die Doti-

rung der neugegründeten evangelischen Pfarrsysteme fiel ebenso wie die Erbauung der GotteShänser ausschließlich den Patronen resp, den Ge­

meinden zur Last.

Doch wurde an Orten, wo eine der beiden Konfessionen

eines Friedhofes entbehrte, die andere verpflichtet, den ihrigen ebenso wie die Benutzung der Glocken unter Zuziehung des nächstwohnenden Geist­

lichen der betreffenden Konfession zum Begräbnisse zu

Die

gestatten.

Berfassung der evangelischen Kirche bestimmte eine unter dem 13. Septem­

ber 1742 erlassene JnspectionS- und Presbhterialordnung.

Die Oberbe­

hörde bildete das schon erwähnte Konsistorium, dessen Zusammensetzung

eS als Simultanbehörde erscheinen ließ. Bei Kindern gemischter Ehen galt als Norm, daß dieselben je nach

ihrem Geschlecht der Konfession des Vaters oder der Mutter folgen sollten, und eS existirt vom Jahre 1743 ein königlicher Spezialbefehl,

der in

einem einzelnen Falle, wo ein evangelischer Vater seine von einer katho­ lischen aber früh verstorbenen Mutter geborene Tochter evangelisch

er­

ziehen lassen wollte, diesen anhielt sie zunächst katholischen Religionsunter­

richt empfangen zu lassen, bis sie ad annos discretionis gekommen sich selbst

ihre Religion werde wählen können „maßen wir allen unseren

*) Theiner, Zustande der katholischen Kirche in Schlesien 1740—1758. S. 3.

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

11

schlesischen Unterthanen, von was für Religion sie sein mögen, eine ganz

unbeschränkte Gewissensfreiheit zu gönnen und nichts, was einiger Maßen nach Gewissenszwangs schmecket, zu gestatten entschlossen sind*). Ganz

in

demselben Sinne war es nun

einer allerdings für jene Zeit ganz

auch,

daß fortan

mit

unerhörten Freisinnigkeit hier in

Schlesien den verschiedensten religiösen GlaubenSmeinungen Duldung ge­ währt wurde.

So durften die Reformirten, deren Bekenntniß seit dem

AuSsterben der Piasten 1675 hier nicht mehr geduldet worden war, jetzt in BreSlau ihren Gottesdienst wieder beginnen; 1743 schenkte ihnen der

König

sogar das ehemalige Generalsteuerhaus auf der Karlsstraße, an

dessen Stelle sie sich nun eine 1750 eingeweihte Kirche erbauten, auch in

Glogau richteten sie einen Gottesdienst ein. gierung

so

Den unter der vorigen Re­

eifrig verfolgten Schwenkfeldern wurde durch ein Edikt von

1742 volle Duldung gewährt.

Auch utraquistische Böhmen

wanderten

schon 1742 in größerer Anzahl (an 1500) im Münsterbergischen ein, deren

Unterbringung anfänglich mannigfache Schwierigkeiten machte, und welche

erst allmählich und nachdem ihre Zahl bis auf 3000 angewachsen war,

sich zu einer Anzahl von Colonien zusammenfanden, so Tabor und Zizka bei Wartenberg, Hussinetz und Podiebrad bei Strehlen, Friedrichsgrätz bei Oppeln, Friedrichsgrund bei Habelschwerd **).

Auch die Herrnhuter oder böhmischen Brüder gründeten auf schlesischem Boden Pflanzstätten ihres Glaubens;

ihr

alter Gönner Ernst Julius

von Seidlitz auf Peilau bei Reichenbach, den die preußische Herrschaft erst aus längerer Kerkerhaft in Sauer um seiner religiösen Ansichten willen erlöst hatte, hielt schon 1742 in Breslau Gottesdienst, und auf seinem Gute Peilau sowie in Großkrausche bildeten sich die ersten herrnhutischen

Niederlassungen, denen bald andere folgten.

Der König ließ sie sogar

1746 in die Reihe der anerkannten Religionsgesellschaften, nicht bloß der geduldeten Sekten einreihen und gewährte ihnen Freiheit von der Wer­

bung.

Selbst für die kleine griechische Colonie, welche vornehmlich der

Handel nach BreSlau führte, ward schon seit 1742 ein griechischer Gottes­

dienst eingerichtet***).

Aus den ersten Jahren Friedrichs des Großen stammt jener ewig

denkwürdige Ausspruch: „in meinen Staaten kann Jeder nach seiner Fayon selig werden." Ganz in gleichem Sinne spricht er eS in einem Schreiben vom

29. Oktober 1741, mit welchem er die Unterwerfungserklärung des Fürst*) Hensel, schlesische Kirchengeschichte. S. 718. **) Beheim-Schwarzbach, Hohenzollernsche Kolonisationen. ***) Beheim-Schwarzbach a- a. O. S. 352.

S. 338.

12

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

bischofs von Breslau beantwortete, auS:

„Da die ungestörte ReligionS-

übung nach der Meinung der Menschen einen Theil ihrer Glückseligkeit ausmacht, werde ich nie von meinem festen Entschlüsse abgehn, jede Re­ ligion in ihren Rechten und Freiheiten zu erhalten.

Die Zänkereien der

Priester gehören nicht zum Ressort der Fürsten" und Nichts, fährt er dann weiter fort, werde ihn jemals verführen, Partei z»t ergreifen zwischen den

verschiedenen Religionsgesellschaften, welche fast immer auS Fanatismus

und Thorheit wüthend gegen einander seien*). ES verdient wohl betont zu werden, daß

dieser Grundsatz

unbe­

schränkter Glaubensfreiheit etwas wesentlich Neues war, den zu voller Geltung zu bringen eigentlich noch nie ein Herrscher versucht hatte; und eS war kein Wunder daß dieser Gedanke doch vielfach Bedenken erregte.

In den Kreisen der evangelischen Geistlichkeit hielt man ohnehin da­ für, daß der neue protestantische Herrscher für seine Glaubensgenossen zu wenig thue, daß die Protestanten doch Ansprüche hätten auf Zurückgabe

der in der Zeit der jesuitischen Reaktion so massenweise weggenommenen Kirchen, man trennte sich überhaupt in diesen Kreisen sehr ungern von der doch im Stillen immer gehegten Hoffnung, eS werde nun der Spieß

nmgedreht werden und der evangelischen Kirche die Rolle der ecclesia dominans, der herrschenden Kirche zufallen**). Man beklagte sich, daß nicht

gleich von vornherein alle den Protestanten präjudizirlichen Verordnungen aufgehoben worden seien***).

Die Verpflichtung zur Weiterentrichtung der

Stolgebühren an die katholischen Pfarrer erschien unbillig, und die Dul­ dung aller möglichen Sekten widersprach gradezu den Anschauungen auch

der gebildeten Kreise,

so

daß selbst ein so gutgesinnter und dabei so

intelligenter Mann wie unser Steinberger daran Anstoß nahm.

Noch weniger war natürlich die katholische Geistlichkeit zufrieden, bei welcher der König trotz aller seiner Bestrebungen volle Unparteilichkeit zu

zeigen, und obwohl er die von ihm gehegten Befürchtungen, er werde nach

dem

Beispiele anderer protestantischer

Fürsten die reichen Güter der

schlesischen Stifter einziehen f) ebensowenig erfüllt hatte wie die Hoffnungen *) Angeführt bei Mommsen, Friedrich der Große und das katholische Vikariat in Berlin, Preußische Jahrbücher 1877 S. 145 Stint. **) Falch: was sich die Schlesier vom alten Fritz erzählen S. 32 berichtet, wie der König am 3. November 1741 bei seiner Durchreise durch Brieg den Ausdruck herrschende Kirche, den der Superintendent Lesser in seiner Begrüßungsrede gebraucht, sehr ent­ schieden znrückgewicsen habe. So wahrscheinlich die Geschichte an sich wäre, so ist doch die Quelle allzu unzuverlässig. ***) So Pastor Scharff nach der Huldigung der Schweidnitzer am 15. August, Eollectaneen vom 1. schlesischen Kriege im Breslauer Staatsarchive. t) Mit dem Hinweis auf den aus solchem Verfahren für die katholische Kirche er­ wachsenden Schaden suchten österreichische Unterhändler im Oktober 1741 die fran­ zösischen Staatsmänner zu gewinnen. Wiener Staatsarchiv.

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

13

seiner Glaubensgenossen die einst im XVII. Jahrhundert von der öster­ reichischen Regierung weggenommenen Kirchen xurückzuerhalten, nicht allzu­

viel Dank erntete.

ES war natürlich, daß man in diesen Kreisen einen

katholischen Landesherrn vorgezogen haben würde, und deshalb der österreichi­ schen Regierung jetzt eigentlich mehr Sympathien nachtrug, als da man noch

unter ihr stand; aber es konnte doch kaum bestritten werden, daß der König von Preußen ihrer Konfession mehr gewährte als je ein Landesherr an­ dersgläubigen Unterthanen zugestanden hatte.

Freilich waren die Herren

damit noch nicht zufrieden und beschuldigten den König, den Paragraphen deS Breslauer Friedens, der bezüglich der katholischen Kirche die Aufrecht­ erhaltung des Status quo forderte, durch die den Protestanten gewährte

Religionsfreiheit verletzt zu haben*), um so mehr, da er nun auch noch anderen Sekten Duldung gewähre.

Wohl mochte eS ihnen unangenehm

fein, daß, wie sie in einer Beschwerdeschrift anführen, in den ersten zwei Jahren der preußischen Herrschaft 6000 Katholiken ihrem Glauben untreu

geworden waren, aber es hieß doch wohl ju todt gehn, wenn man dafür den König verantwortlich machen und diesen hindern wollte seine Glau­ bensgenossen auö dem bisherigen Druck zu erlösen, als ob das Recht einen solchen Druck auszuüben wesentlich zu dem Status der katholischen Kirche gehöre.

Wie fern übrigen« Friedrich eine prinzipielle Feindschaft gegen die katholische Kirche gelegen, dafür spricht auch schon die Thatsache, daß wäh­ rend aus dem Kreise der evangelischen Geistlichkeit, wenn man nicht Jordan dazu rechnen will, kaum Jemand sich rühmen durfte, dem Könige näher

getreten zu sein, die- sich doch von einigen höheren katholischen Geistlichen sagen läßt, so z. B. dem Prälaten des MatthiaSstifteS zu Breslau Daniel

Schlecht, dem Abt von Kamenz später von Leubus, Tobias Stusche.

Eine

Thatsache, welche begreiflicher wird, wenn wir erwägen, daß in jener Zeit bet dem höheren katholischen Klerus gar nicht selten neben seinen gesell­

schaftlichen Formen ein freierer weiterer Gesichtskreis angetroffen wurde als bei ihren evangelischen Amtsbrüdern,

deren starre Orthodoxie den

König sehr unsympathisch berührte. Nicht unempfindlich für das Schmeichel­

hafte, welches Aufmerksamkeiten von so gewaltigem Herrscher gespendet für sie hatten, gaben sich dann jene Prälaten gern dem Zauber gefangen, den deS Monarchen Persönlichkeit so wohl auSzuüben verstand, trotz der üblen

Nachrede, die ihnen im Kreise ihrer StandeSgenoffen daraus erwuchs. Zu ihnen gehörte auch der Cardinal Philipp Ludwig von Sinzendorf,

seit 1732 Fürstbischof von BreSlau, ein Mann von feiner Bildung und *) Gravainina aus einem der Breslauer Stifter stammend. archiv P. A. VII. I. d.

Breslauer Staats­

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

14

einer gewissen leichtlebigen Bonhommte, deren Milde wohl zuweilen an

Wenn er früher als Bischof von Raab in Ungarn

Schwäche grenzte.

seinen so

kirchlichen

hatte

ihn

Eifer auch den Protestanten fühlbar gemacht

nun

das

Alter

milder

gemacht.

Hat

er

hatte,

doch

am

28. August 1742 allerdings schon unter dem Einflüsse des Königs einen Hirtenbrief erlassen, der zu friedfertiger Gesinnung mahnt, den Gebrauch deS Wortes Ketzer oder die schimpfliche Bezeichnung des Abendmahls nach

protestantischem RituS als „stoppen" verbietet, die Aeußerung christlicher Liebe hauptsächlich betont und zum Gehorsam gegen den König ermahnt*).

Die feindliche Haltung, welche er im Sommer 1741 gezeigt und

durch eine kurze Haft gebüßt hatte, war bald bei der persönlichen Be­

kanntschaft des Königs gewichen, für dessen Auszeichnungen er keineswegs unempfindlich war.

Er hat bekanntlich bei der Friedensfeier im Juli 1742

vor dem Könige die Festpredigt gehalten und demselben zu Ehren auch einen Ball im Bischofshof veranstaltet.

Ihn hatte Friedrich für daS neu zu begründende Generalvikariat in den königlichen Landen auSersehen.

auS dem

Bestreben,

fremden

Dieser Plan entsprang wohl zunächst

vor Allen österreichischen

Einfluß

von

Schlesien fern zu halten, ein bei dem immer noch gespannten Verhältnisse

zu Oesterreich sehr begreiflicher Wunsch.

Wenn eS einmal nicht j« ändern

wäre, daß der katholische Klerus sich nach der früheren Herrschaft eines katholischen Landesherrn zurücksehnte, so sollte wenigstens möglichst ver­ hütet werden, daß von Oesterreich auS, wo man doch die Wiedererlangung Schlesiens nie aufgegeben hatte, jene Gesinnung durch formell ganz legale Einflüsse immer weiter genährt und gestärkt würde.

Nun waren die Ver­

bindungen der schlesischen Geistlichkeit mit Oesterreich noch sehr zahlreich. Die in Schlesien so zahlreich vertretenen geistlichen Orden hatten ihre

Oberen sämmtlich auswärts und zum größten Theile in Oesterreich; von

dem Domkapitel, ohnehin zumeist aus Nichtschlesiern bestehend,

hatten

mehrere noch in Oesterreich Kanonikate oder Pfründen, und wie der Bres­ lauer Bischof seinen Sprengel über einen Theil von österreichisch Schlesien auSdehnte, so standen umgekehrt Theile deS preußischen Antheils unter der

geistlichen Herrschaft der Bischöfe von Prag, Olmütz und Krakau. Recht im Gegensatze zu diesen Verhältnissen gedachte Friedrich eS

dahin zu bringen, daß wie er es selbst ausspricht, fremde ihm mit keinem Eide verpflichtete Personen sich nicht in die Angelegenheiten seiner Unter­

thanen einmischen dürften**).

In diesem Sinne hatte sich der König be­

müht die schlesischen Klöster von der Verbindung mit ihren ausländischen *) KornS Ediktensammlung (1742) 171. **) AuS der Instruktion für den Generalvikar vom 9. Februar 1743 bei Theiner I. 70.

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

15

Oberen loszumachen, aber schließlich um nicht zu einem direkten Macht­ spruch greifen zu müssen, die schwierige Sache aufgegeben*).

Den Je­

suiten gegenüber hat er zu dem eigenthümlichen Mittel gegriffen, Mit­

glieder dieses Ordens aus Frankreich zu berufen in der Hoffnung, daß

diese bei allem kirchlichen Eifer doch wenigstens nicht direkt österreichische Sympathien zeigen würden; eine Maßregel die übrigens aus den ersten

Jahren der preußischen Herrschaft stammt, da auch die schlesischen Jesuiten bekanntlich in späterer Zeit durch vorsichtige Haltung des Königs Gunst

zu erlangen gewußt haben. Eine Controle über die Vermögensverwaltung der geistlichen Stifter

hat der König immer beansprucht und in diese sogar durch autokratische

Verfügungen vielfach direkt eingegriffen,

ihnen Pensionen

an

einzelne

Personen, oder auch wohl die Anlegung gewisser gewerblicher Institute,

welche er im öffentlichen Interesse wünschte, auferlegt, sie zu Versuchen mit irgendwelchen ökonomischen Verbesserungen angehalten ganz

besonders pflegte

die Ernennung

und dergleichen;

eines neuen Abtes nicht ohne

mannigfache Opfer abzugehen, denn da sich der König, auf das Beispiel anderer Souveräne namentlich des Königs von Frankreich gestützt,

ein

Ernennungsrecht für die höheren geistlichen Würden zusprach, so konnten

die

Wünsche der betreffenden Körperschaften oder vielleicht sogar Prä­

sentationen einiger Kandidaten nur in Folge eines königlichen Gnaden­ aktes Berücksichtigung finden, und daß um einen solchen herbeizuführen Zugeständnisse oder Darbietungen nothwendig waren, verstand sich ebenso

von selbst, wie daß kein Widerspruch versucht wurde, wenn der König es

vorzog strikt von seinem Ernennungsrechte Gebrauch zu machen, so 1743, als des Königs Günstling Domherr Philipp Gotthard Graf Schaffgotsch

die Prälatur des Sandstiftes, oder 1747, als der bekannte Freund Friedrichs

Tobias Stusche zu der Abtswürde von Kamenz auch die von BreSlau erhielt.

Die eigentliche Veranlassung, daS

königliche Ernennungsrecht den

kirchlichen Corporationen gegenüber als bestimmten Grundsatz zu proklamiren, hat die Frage der Coadjutorwahl bei dem bischöflichen Stuhle zu BreSlau gegeben**).

Hier wo neben dem schwachen und kränklichen Cardinal-Fürstbischof

ein Domkapitel stand, dessen einflußreichste Mitglieder theils durch Fa­ milienverbindungen, theils durch Pfründen, die sie in Oesterreich besaßen,

mit diesem letzteren Staate verknüpft und schon deshalb dem preußischen *) Preilß. Geschichte Friede, b. Gr. Urkundenbuch. III. 110. **) Vgl. Lauer, die Ernennung des Gr. Schaffgotsch zum Loadjuter des B. ». Breslau schlesische historische Zeitschrift. IV. 225 ff.

Die Einrichtung der Preußischen Herrschaft in Schlesien.

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Regiments abgeneigt waren, hielt man es für nothwendig, schon bet Leb­

zeiten des Cardinals diesem in der Person eines ihm treu ergebenen und jugendlich thatkräftigen Mannes einen Coadjutor zu setzen.

Friedrich hatte

dafür seit 1742 den Domherrn Philipp Gotthard auS der alten schlesi­ schen Familie der Grafen Schaffgotsch auSersehen.

Aber er fand große

Schwierigkeiten um so mehr, da die Persönlichkeit des Candidaten mancher­ lei Grund zu Einwendungen darbot.

Zunächst mußte, da dem erst 27 jährigen Grafen noch 3 Jahre zu dem Alter der Eligibilität fehlten, ein päpstlicher DiSpenS beschafft werden, dann wurden mannigfache Klagen über Mangel

an kirchlichem Sinne

laut, den der Graf besonders auch durch seine eifrige Theilnahme an dem

Freimaurerorden bekundet habe, wofür er durch schriftlichen Widerruf und

Auslieferung der maurerischen Jnsignie deS Schurzfelles an den Bischof Genugthuung zu leisten hatte*), schlimmer noch waren Zweifel an seiner

Moralität, Beschwerden über leichtfertige Religionsspöttereien, welche daS Domkapitel bereit hatte, und über welche der König den Bischof selbst tröstet durch eine Hinweisung darauf, daß mehrere der geschätztesten Hei­

ligen der Kirche in der Lage gewesen seien mit David zu beten, Herr verzeihe mir die Sünden und Fehler meiner Jugend und daß, wie er sich entsinne gehört zu haben, eS für einen Kirchenmann gut sei, in Be­

treff der Sünden einige Erfahrung zu haben, weil er dieselben dann ab­ schreckender schildern und seine Heerde desto wirksamer zur Buße führen

könnte**).

Jedenfalls vermehrten sich die Schwierigkeiten dadurch, daß der Car­ dinal selbst dem Plane, ihm einen prticepteur, wie er es nannte, zur

Seite zu setzen, durchaus abgeneigt war***), wenn er gleich dem Könige gegenüber es vorzog, die Schuld auf den Papst und das Domkapitel zu

schieben und z. B. auf das so höchst charakteristische Aviso in einem Briefe Friedrichs vom 23. December 1743:

„Der heilige Geist und ich haben

zusammen beschlossen, daß der Prälat Schaffgotsch zum Coadjutor

von

Breslau erwählt werden wird, und wer von Ihren Canonikern dem wider­ strebt, verdient als eine dem Hofe von Wien und dem Teufel ergebene

Seele, für ihre Widersetzlichkeit gegen den heiligen Geist den schwersten Grad der Berdammniß", auf den Ton eingehend antwortet: „DaS enge

Einverständniß zwischen dem heiligen Geist und Ew. Majestät war mir neu,

ich wußte da nur von einer angeknüpften Bekanntschaft,

wünsche

*) den 25. August 1742 A. Thciner, Zustände der katholischen Kirche in Schlesien 1740—1758 S. 42. **) Anführung bei Mommsen a. a. O. 148 Anm. ***) Theiner I. 104.

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

17

aber, daß Jener dem Papst und den Domherren Eingebungen, die unsern Plänen günstig wären, senden möge"*). Indessen blieb der König hier fest bei seinem Willen, und wie ernst

er doch die Sache nahm, zeigt am Besten seine Aeußerung in einem Brief an den Cardinal, daß, wenn es kein anderes Mittel gäbe,

den

Papst hier zur Raison zu bringen, dieselben Grenadiere, welche den Kur­ fürsten von Brandenburg zum souveräneil Herzog von Schlesien gemacht

hätten, auch im Stande sein würden, für das Bisthum Breslau einen Coadjuior, wie er ihn wünsche, wählen zu lassen**).

Daher ward, ob­

wohl der Papst den für erforderlich erachteten Diöpens nicht ertheilte und das Domkapitel ohne einen solchen nicht vorzugehen zu können erklärte,

die Sache doch in der Weise entschieden, daß die Domherren zum 16. März 1744 zusammenberufen wurden, ad audiendum verbum regium, ihnen dann der Minister

wo

von Münchow eröffnete, daß der König den

Grafen Schaffgotsch zum Coadjutor des BiSthums Breslau ernannt habe,

zugleich aber auch überhaupt das Wahlrecht der kirchlichen Corporationen für aufgehoben erkläre.

ES ist nicht einmal zu einem Proteste der Domherren gekommen, Graf Schaffgotsch ist Coadjutor, cum spc futurae electionis und 1748

Fürstbischof von Breslau geworden, hat aber als solcher bekanntlich die Erwartungen des Königs gründlichst getäuscht.

Minder durchschlagenden Erfolg hatte der König bei dem seiner Trag­ weite nach noch ungleich bedeutungsvolleren Unternehmen,

das er dann

noch vor dem Abschlüsse des Breslauer Friedens in Angriff nimmt, näm­

lich dem Plane eines General-Vikariats für alle in seinen Landen woh­ nenden Katholiken, dessen Träger von ihm ernannt und ihm, durch einen

Eid verpflichtet, die höchste Instanz

für alle geistlichen Angelegenheiten

bilden sollte, in einer Ausdehnung, welche der päpstlichen Autorität kaum noch einen Spielraum

ließ sich zu äußern.

Auch für alle die Klöster

sollte der neue Generalvikar an Stelle der auswärtigen Obern, denen der König kein Recht in seinen Landen mehr einräumen wpllte, die oberste

Instanz bilden. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Urheberschaft dieses Planes dem

Großkanzler Cocceji gebührt, welcher schon unter Friedrich Wilhelm I. um'S Jahr 1732 den Plan eines geistlichen Vikariats für alle Katholiken (ur­

sprünglich für den ganzen Umfang des preußischen Staats beabsichtigt, dann aber auf die Lande beschränkt, bei denen nicht besondere Verträge

*) Anführung bei Mommsen a. a. O. 148 Anm. **) Mommsen a. a. O. 155 Anm.

Preußische Jahrbücher. Bd. XLVL Heft 1.

2

Die Einrichtung der Preußischen Herrschaft in Schlesien.

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Vorlagen) eifrig betrieben und für diesen Plan, der allerdings im Ein­

zelnen nicht so weit ging, wie der von 1743, auch bei Papst Clemens XII. eine sehr entgegenkommende Haltung gefunden hatte*).

Damals hatte der König anscheinend aus Antipathie gegen die in

Frage kommmende Persönlichkeit das Ganze fallen lassen, jetzt nahm Cocceji den Gedanken wieder auf. Derselbe knüpft im Grunde an die unter den Reichsfürsten ausgebildete Idee des Territorialkirchenthums und da­

mit an alte brandenburgische Traditionen an. Hatte doch der Große Kur­ fürst noch in seinem Testamente von 1676 seine Nachfolger ermahnt, die Reverse, welche seine Vorgänger Joh. Sigismund und Georg Wilhelm

bezüglich des Schutzes der Cleve'schen Katholiken den dortigen Ständen ausgestellt, treulich zu halten, macht aber diesen Schutz davon abhängig,

daß die römisch-katholischen Geistlichen in diesen Gegenden den Kurfürsten

allein für ihren supremum episcopum halten, wie sie allzeit die vorigen Herzöge von Cleve dafür haben erkennen müssen, des Papstes und der

Bischöfe Bullen, decretis und Befehlen nicht pariren, sondern sich einzig und allein an den Landesfürsten halten**).

In ähnlicher Weise enthielt doch auch der Plan Cocceji's kaum we­ niger als die Forderung, den König von Preußen, in dessen Auftrag der

Generalvikar die höchsten Jura circa sacra ausüben sollte, als summus episcopus anzuerkennen. DeS Königs kirchenpolitischen Anschauungen entsprachen nun eigent­

lich solche auf dem Boden des Territorialkirchenthums erwachsene Pläne wenig genug.

In solchen Dingen

fragte er nicht allzu viel nach dem

historisch Gewordenen, sondern folgte seiner eigenen Ueberzeugung, und diese diktirte ihm in kirchlichen Dingen

eine große Zurückhaltung,

ein

Gewährenlassen bis zu dem Punkte, wo die Interessen des Staates mit berührt wurden.

Hier aber stimmte er dem Plane Cocceji's zu, vornehm­

lich aus Rücksicht auf Schlesien, und weil ihm jener Plan geeignet schien,

manche der Fäden, welche die katholische Bevölkerung in seiner neuen

Provinz noch mit dem Auslande verbanden, abzuschneiden und so deren Zusammenwachsen mit seinen übrigen Provinzen zu fördern. Der Cardinal Sinzendorf, dem zunächst jene Stellung eines General­ vikars zugedacht war, ließ sich ohne Schwierigkeiten für ein Projekt, das ihm erhöhtes Ansehen, ausgedehntere Machtbefugnisse, größere Selbstän­ digkeit verhieß, gewinnen, und uns ist noch die Instruktion vom 9. Februar

*) Vgl. darüber M Lehmann, Preußen und die katholische Kirche seit 1640. und die Urkunden dazu. **) Ranke Genesis des preußischen StaateS-Analekten. 502.

S. 428ff.

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

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1743 erhalten, welche für den neuen Würdenträger ausgearbeitet war*). Doch fand

der ganze Plan, wie vorauszusehen war, bei Papst Bene­

dikt XIV., wie entgegenkommend sich derselbe auch sonst in seiner milden

und wohlwollenden Art König Friedrich gezeigt hat, mannigfachen Wider­ spruch.

Allerdings war derselbe weit entfernt, den Plan ganz zurückzu­

weisen, er zeigte sich vielmehr, nachdem die Sache einem Cardinalskolle-

fliunt vorgelegt worden war, bereit, auf den Plan einzugehen, allerdings unter gewissen Bedingnngen, welche im Wesentlichen auf die geforderte

Anerkennung der Dependenz deS Generalvikars von dem Papste als Ober­ haupt der Kirche hinauSliefen**).

Weitere Verhandlungen haben sich aber

dann vornehmlich um das Ernennungsrecht des Vikars gedreht, das der

Papst für sich in Anspruch nehmen zu müssen glaubte, und im Laufe dieser Verhandlungen hat endlich der König den ganzen Plan fallen lassen.

Es heißt, daß Friedrich eine Zeit lang daran gedacht habe, die Sache auch dem Widerspruche der Curie zum Trotz durchzuführen, aber er hat

es aufgegeben und hätte auch dann kaum dem Vorwurfe entgehen können, den Paragraph des Breslauer Friedens, welcher für die katholische. Kirche

die Erhaltung des Status quo festsetzte, verletzt zu haben.

Es ist wohl

auch möglich, daß er inne geworden ist, wie in dem ganzen Projekte etwas lag, was seinem Wesen und seinen Prinzipien im Grunde fremd war, und vielleicht ist es eben das, was Friedrich in den Coccejischen Ideen als

pedantisch tadelt***). ES handelte sich in der That doch darum, ob Friedrich wirklich den Gedanken, der in jenem Projekte unzweifelhaft enthalten ist,

um jeden Preis durchführen wollte, daß nämlich die den Katholiken zu­

gesagte Glaubensfreiheit nur um den Preis gewährt werde, wenn die­ selben auf die Gemeinsamkeit, welche die hierarchische Gliederung Kirche verbürgt, zu verzichten bereit wären.

der

Gestehen wir eS, daß er

mit dem Verzichte auf jenen Plan nur den erleuchteten Regierungs-Prin­ zipien, welche so hell in dem Kranz seines Ruhmes strahlen,

treu ge­

blieben ist.

Dagegen zeigen gerade diese Verhandlungen, daß, wenn er sonst von

der Höhe seiner philosophischen Weltanschauung auf die Gegensätze der Religionsparteien mit einer gewissen Gleichgültigkeit herabsieht, er dabei doch gegenüber den Schwierigkeiten, welche gerade die katholische Kirche

nicht vermöge ihres Glaubensinhaltes, sondern nur vermöge der äußeren Form ihres Organismus der modernen Staatsidee bereitet, keineswegs *) Bei Theiner a. a. O. I. 70. **) Das päpstliche Breve vom 4. Juli 1742 ist abgedruckt in den acta hist. eccl. VII. 206, ein ausführlicher Brief des Papstes an den Kardinal und dieser steht bei Theiner a. a. O. S. 87. ***) Mommsen a. a. O. 151.

Die Einrichtung der Preußischen Herrschaft in Schlesien.

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die Augen geschlossen hat,

und charakteristisch genug dafür ist die eine

Stelle aus der Vollmacht für Cocceji vom 26. März 1742: Wir zweifeln

keineswegs, Ihr werdet nach der tiefen Einsicht, die Ihr in die geistlichen Rechte sowohl als von denen Ränken der päpstlichen Clerisei besitzet, da­ gegen alle ersinnlichen praecautionen nehmen und die Sache dergestalt

zu fassen wissen, daß sothane Clerisei auf der einen Seite keinen gegrün­

deten Anlaß habe sich zu beklagen, an der andern Seite aber außer Stand gesetzt werden möge, künftighin einige uns und unserem Staat oder auch

dem Publico präjudicirliche und gefährliche Absichten zu formen und aus­ zuführen*).

Nur in allgemeinen Zügen sind in dem Vorstehenden die Formen, unter denen sich die preußische Herrschaft in Schlesien einführt, geschildert. Diese Einrichtungen zeugen von dem erleuchteten Geiste, der ihr Urheber­

war, und das ernsteste Streben landesväterlicher Fürsorge hat sie diktirt, aber wir mögen cs eingestehen, daß sie doch auch sehr durchgreifend waren.

Gar Vieles ist ihnen zum Opfer gefallen, die Jahrhunderte hindurch be­ wahrte schlesische Ständeverfassung ebenso wie die municipalen Freiheiten

sanken in Staub vor dem Willen des Herrschers, viele corporative Rechte und Privilegien

mußten sich beugen vor der Omnipotenz

des Staates,

selbst das starre Gefüge der Hierarchie wich an mehr als einer Stelle dem Drucke des weltlichen ArmeS.

Schwer empfand die große Menge den

unerbittlichen Zwang der Steuereintreibung, schwerer noch die ungewohnte

Härte der Wehrpflicht.

Nie waren in österreichischer Zeit die Nothwen­

digkeiten des Staates dem Einzelnen so furchtbar ernst entgegengetreten, wie jetzt, und es ist wahrscheinlich, daß die große Mehrheit der Schlesier

dieselbe Beobachtung gemacht haben, die ein sonst wohlgesinnter Zeitge­

nosse mit den drastischen Worten ausgedrückt hat, die brandenburgischen Hosen säßen doch noch viel enger, als die böhmischen.

Und doch hat der Historiker Nichts von einer ernstlichen Unzufrieden­ heit, geschweige denn von Gedanken einer Empörung gegen die preu­

ßische Herrschaft, zu verzeichnen.

Schweres Elend ist über Schlesien ge­

kommen, furchtbare Kriege haben seine Fluren verwüstet, aus tausend Wunden hat das Land geblutet, aber die Treue der Schlesier hat nie

gewankt, der große König ist nirgends populärer geworden, als in seiner neuerworbenen Provinz.

Das Vertrauen und die Zuneigung,

die ein

großer Theil der Bevölkerung ihm eigentlich vom ersten Augenblicke an entgegentrug, ist im Laufe der Zeit nur noch stärker und allgemeiner ge­

worden.

Diese Wahrnehmung kann etwas FrappirendeS haben, nament-

*) Angeführt bei Mommsen a. a. O. 151 Anm.

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

21

ltch wenn man daran denkt, wie in den österreichischen Provinzen die

Reformbestrebungen Josephs II., die im Grunde ja von einem ähnlichen Geiste getragen erscheinen, die Gemüther aufs Tiefste aufgeregt und mit Widerwillen gegen die Staatsgewalt erfüllt haben.

Mit dem Versuche zur Dlirchführung der Staatsidee über die alt­

vererbten Vorrechte kühn hinwegzuschreiten,

sehen

den ange­

wir dort

stammten Monarchen vollständig scheitern, hier den neuen Herrscher in dem Lande, das er erst mit den Waffen erobert, ohne eigentlichen Widerstand einen glänzenden Erfolg erzielen.

Wohl aber ist dieser Widerspruch zu erklären.

Zunächst wird man

hervorheben müssen, daß Friedrich, obwohl er mit manchen Stücken über die josephinischen Reformen hinausging, doch wieder andererseits von jener

stürmischen Gewaltthätigkeit, die das Vorgehen Josephs charakterisirt, die ihm

eigene

staatsmännische

Besonnenheit

zurückhielt.

Schwerer noch

dürfte in die Wagschaale fallen, daß in Schlesien der protestantische Theil

der Bevölkerung, bei welchem doch nun einmal die größere Summe von Intelligenz, Ansehen und Besitz war, in Friedrich den Erlöser aus schwerer

Glaubensbedrängniß verehrte, und den Gedanken einer Rückkehr unter den österreichischen Scepter

so

entschieden von sich wies,

sonstigen Unbequemlichkeiten der

daß

davor

alle

neuen Herrschaft zurücktreten mußten.

Vor Allem aber wird man sagen müssen, daß hier Nichts und Niemand

für das preußische Regiment so wirksam Propaganda gemacht hat, als der junge König selbst.

Von den Schlesiern, die 1740 lebten, hatte kaum Einer einen ihrer österreichischen Herrscher erblickt.

Seit König Mathias 1611 hatte keiner

derselben die schlesischen Grenzen überschritten, all der Zauber, den auS-

zuüben einem gekrönten Haupte damals noch viel leichter wurde als jetzt, hatte nie seine Wirkung gethan, bis jetzt König Friedrich

kam an der

Spitze eines stattlichen Heeres, im vollen Schmuck der Jugend, mit den

blitzenden Augen und dem herzgewinnenden Lächeln, mit Glanz und Ho­

heit angethan und doch leutselig gegen Jedermann.

Durch ganz Schlesien

zog er an der Spitze seiner Truppen; von weit her strömten die Menschen

um ihn vorüber reiten zu sehen; die höchste Gewalt war keine leere Ab­

straction mehr, sie war verkörpert unter die Augen deS Volkes getreten, man hatte wieder einen König und trug sein Bild im Herzen.

Von da

an woben sich still aber stetig Fäden von Liebe und Anhänglichkeit zwischen dem König und seinen neuen Untertanen.

Euer Abgott hat gesiegt, rief

am Abend von Mollwitz, ein österreichischer Officier, den Bauern eines Dorfes um Brieg zu.

Und als dann in immer steigendem Maße Friedrichs KriegSruhm

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

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die Welt erfüllte, da begegnete die Kunde davon bei den Schlesiern schon dem stolzen Bewußtsein, daß das ihr König sei, den die Welt so feiere,

und

der Antheil daran trug viel dazu bet,

die Menschen aufrecht zu

halten in den trüben Tagen des langen Krieges.

Der geplagte Bauer,

der schwer geschädigte Bürger, der mit entwerthetem Gelde überkärglich bezahlte Beamte, der in Schulden gestürzte Gutsbesitzer, sie Alle haben

in der Noth der Zeit mehr, als wir es uns jetzt vorzustellen vermögen, von dem Ruhm des Königs gezehrt und die durch Ueberlieferung bald ins Wunderbare gefärbten Nachrichten von seinen Siegen als die einzigen

Lichtblicke erkannt in dem grausen Dunkel jener Tage.

Und als dann

der Friede kam, da weihte gerade in Schlesien, dem Schauplatze so vieler Schlachten, so herrlicher Siege ein rührender Kultus rings das Land mit

Erinnerungen an den großen König.

Wer will all die Stätten zählen,

die hier in Schlesien an den alten Fritz erinnern, die Bäume,

unter

denen er gerastet, die Hügel, von denen er Umschau gehalten, die Häuser,

in denen

er gewohnt haben soll? Vor Allem aber war die Sage ge­

schäftig, neben dem, was die wirkliche Geschichte bot, noch zahlreiche ro­

mantische Erzählungen zu erfinden von merkwürdigen Gefahren, die der König bestanden und von wunderbaren Rettungen aus solchen Gefahren,

oft durch

die Hand eines sehr unscheinbaren Mannes

oder gar eines

Weibes.

Wie unwahrscheinlich auch diese Geschichten der Mehrzahl nach waren, das Volk glaubte sie und pflanzte sie eifrig fort.

Wohl liebt der Volks­

geist derartige Erzählungen, er findet eine Art ausgleichende Gerechtigkeit

in dem Gedanken, das Leben eines Helden, der die Welt mit seinem Ruhm erfüllt, einen Augenblick in der Hand eines niedriggeborenen Mannes

zu sehen; aber was hier allen jenen altfritzischen Erinnerungen zu Grunde

lag, war doch an erster Stelle der Wunsch,

sich ein Andenken zu ge­

winnen an den großen König und die engen Kreise des eignen Daseins,

die Umgebungen des täglichen Lebens zu weihen durch die Erinnerung an den Augenblick, wo ein Strahl jenes funkelnden Gestirns sie flüchtig streifte.

Und mit diesem Kultus des alten Iritz ist die Idee des Staates,

der Zusammengehörigkeit zu einem großen Ganzen, Patriotismus nennen,

eingezogen.

kurz das, was wir

erst recht eigentlich in die Herzen der Schlesier

In der Anhänglichkeit an den König haben sie das Band

gefunden, das sie zu größerer Gemeinschaft verknüpfte, in der Erinnerung an den alten Fritz sind sie Preußen geworden, denen verbunden, welche

gleich

ihnen die

schweren

und durchgemacht hatten.

aber ruhmreichen

Tage

mit durchgekämpft

Den Begriff des Vaterlandes, den Schlesien

Die Einrichtung der preußischen Herrschaft in Schlesien.

23

vor 1740 gar nicht gekannt hat, des Vaterlandes, für welches dann 1813 unsre Jugend begeistert die Waffen ergriff, hat erst Friedrich den Schle­ siern geschenkt, und diesem Geschenke gegenüber fällt das, was er ihnen

genommen, und was er ihnen auferlegt, federleicht in die Waagschale.

So darf cs denn gesagt werden: Dem König, der den kühnen Ge­ danken der Gewinnung Schlesiens allein gefaßt und gleich bewundernS»vürdig mit dem Schwerte wie mit der Feder durchgeführt hat, und der

dann das Land in furchtbaren Kämpfen, man kann wohl sagen, mit seinem Herzblute behauptet, gebührt auch der beste Theil an der kaum minder

schwierigen Arbeit, das Land innerlich seiner Monarchie zu verknüpfen. Wie die Festungen des Landes, hat er die Herzen seiner Bewohner zu

erobern verstanden,

ohne doch je einem Haschen

nach Popularität die

Grundsätze seiner Politik zu opfern, und als er die Augen schloß, hatten die 4 Jahrzehnte seiner Herrschaft hingereicht, das Land, das 300jährige

Herrschaft nicht innerlich mit Oesterreich zu verbinden vermocht hatte, so

fest

au Preußen zu kitten, daß die schwersten Prüfungen,

welche der

Monarchie Friedrichs Vorbehalte» waren, die Treue der Schlesier nicht einen Augenblick zu erschüttern vermocht haben.

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die

Staatsverwaltung. Von

A. Pernice.

AIS Caesar OctavianuS im Jahre 27 v. C.

die

außerordentliche

Machtbefugniß niederlegte, mit welcher ihn, wie er selbst sagt, der ein­

hellige Wille Aller bekleidet hatte, da schloß er endgiltig eine Aera blutiger Bürgerkriege, tyrannischer AusnahmSherrschaften und vergeblicher Restau­

rationsversuche.

DaS erschöpfte und erschlaffte Reich wollte Ruhe nach

den Aufregungen, Drangsalen und Anstrengungen der letzten scchszig Jahre.

So lange hatten die Provinzen bald für die Eine bald für die Andere der um die Weltherrschaft ringenden römischen Parteien die Kosten der

ungeheuren Rüstung durch willkürlich abgenöthigte Steuern

aufbringen

müssen; so lange schon waren sie von den Statthaltern und Capitalisten umschichtig oder gleichzeitig ausgeplündert.

Immer wieder waren Rom

und Italien zu „Werkstätten der Grausamkeit" geworden:

wüsten Hochverrathsprozesse und

sie hatten die

die Jagd nach den flüchtigen Opfern

ansehen müssen; wiederholt hatten sie den schamlosen Handel mit den con-

siscirten Gütern der Geächteten erlebt, der ein Gründer- und Speculantenthum der schlimmsten Art großzog.

Die Bürger und die Provinzialen

waren massenhaft zwangsweise zu den Heeren ausgehoben; sie hatten die Schlachten der Generale mitschlagen müssen, die entschieden, wer sie als

König beherrschen sollte.

Die Welt sehnte sich nicht nach der Freiheit,

sie sehnte sich nach einem

geordneten

wohlwollenden Regimente, nach

gleichmäßiger und gerechter Besteuerung, nach einem zuverlässigen RechtSschutze.

Dies Alles schien der neue Herrscher dem Reiche zu bieten.

Erklärlich genug, daß er, der Gottessohn (Divi filius), als Weltheiland begrüßt wurde.

Er war, wie ein begeisterter Verehrer rühmt, der Frie-

denShort, der jedem das Seine gab, der die

überall losgebrochenen

Stürme sänftigte, der die Krankheiten heilte, an denen Hellenen und Bar-

25

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

baren litten,

der die Banden, welche den Erdkreis fesselten und be­

drückten, nicht lockerte, sondern löste.

Niemals, sagt ein nüchtern ur­

theilender Zeitgenosse, ist den Römern und ihren Unterthanen ein solch friedliches Glück und eine solche Fülle des Reichthums zu Theil geworden, als ihnen August seit seinem Regierungsantritte gewährt hat und ihnen

jetzt

sein Sohn und Nachfolger

Tiberius gewährt,

Muster in Verwaltung und Gesetzgebung nimmt.

der

sich ihn zum

Der Ueberschwänglich-

keit des griechisch gebildeten Ostens konnte Octavian eS nicht verwehren,

ihm Tempel und Bildsäulen, wie einer Gottheit, zu errichten. Nicht minder

aber

verkündigen die

italienischen Dichter

die Volksüberzeugung

von

Caesar, dem erlösenden Gottmenschen: „ein Gott hat uns diesen Frieden

gebracht"; ein Götterjüngling ist der zertretenen Welt zu Hilfe geeilt; die Himmlischen beneiden die Erde und ihn.

Der Dichter sieht ihn, wie er

in der Sternenburg der Götter thront und mit den Purpurlippen Nektar schlürft. — Und auch der römische Senat, der Träger der republikanischen Ueberlieferungen und der Sammelpunkt des alten Amtsadels, hatte alle

Ursache den Mann mit dem

Beinamen

des

Heiligen (Augustus) zu

schmücken, der die unumschränkte Gewalt in den Händen hielt und dennoch

die Herrschaft über das Gemeinwesen dem Rathe und dem Volke zurück­ gab, also die VolkSsouveränetät feierlich als Grundlage der Verfassung

anerkannte.

In der That:

Augustus

hat den Versuch gemacht, und

Tiberius hat ihn erneuert und fortgeführt, mit der bisher herrschenden Klasse, d. h. mit dem Senate, gemeinsam zu regieren.

„Den Gesetzen

wurde ihre Geltung, den Gerichten ihr Ansehen, dem Senate seine Hoheit (maiestas), den Beamten ihre Gewalt in früherer Weise zurückgegeben;

die uralt hergebrachte Staatsverfassung wurde wiederhergestellt."

Nur

ein neuer oberster Beamter tritt hinzu, und dieser nennt sich bescheiden den ersten Bürger (princeps).

Das Heer und die auswärtigen Ange­

legenheiten nimmt er für sich vorweg; aber die Herrschaft über die Pro­

vinzen und die Verfügung über den Staatsschatz wird getheilt, und die alte hauptstädtische Verwaltung

bleibt ganz wie sie zu republikanischer

Zett war. Der Versuch

der Kaiser

ist gänzlich

mißlungen.

Die

absolute

Beamtenmonarchie hielt nach 150 Jahren rechtlich, wie schon länger vorher thatsächlich ihren Einzug; er ist mißlungen, trotz dem unbegrenzten Ver­

trauen, was daö Volk den beiden ersten Kaisern entgegenbrachte und be­

wahrte, trotzdem unläugbaren Herrschertalente, das sie beide auszeichnete; er ist gescheitert an der politischen Unfähigkeit des römischen Adels.

Die Aemter der römischen Republik sind durchweg Wahl- und Ehren­ ämter, die alle nur Ein Jahr lang verwaltet werden.

Man kann diese

26

Die ersten römischen Kaiser, der Adel mit die Staatsverwaltung.

Einrichtung als Selbstverwaltung im ausgedehntesten Sinne des Wortes bezeichnen.

Die staatlichen Funktionen in Heer, Gericht und Verwaltung,

also Finanzen, Polizei, Bauwesen u. s. w., bis zu einem gewissen Grade

auch in Cultus, werden nicht von besoldeten Berufsbeamten, sondern von Ehrenbeamten wahrgenommen, welche keine theoretische und praktische Vorbildung zu haben brauchen. Der moderne Staat kennt diese Selbst­

regierung in mannigfacher Gestalt und in verschiedener Ausdehnung gleich­ falls.

Das römische Wesen unterscheidet sich indeß von dem englischen

und deutschen so gänzlich, daß es schwer fällt, sich auch nur vorzustellen,

wie die Verwaltungsmaschine dort so lange und so erfolgreich hat arbeiten können.

Bei uns ist lediglich ein Theil der Verwaltungsgeschäfte den

Ehrcnbeamten überlassen: im Heere und im Gerichte sind durchaus die

Sachverständigen maßgebend, wenn wir auch Landwehrofficiere, Geschworene und Schöffen habe», und mindestens sind die obersten und centralen Ver­ waltungsstellen mit Berufsbeamten

besetzt.

In Rom dagegen

besteht

überhaupt kein Berufsbeamtenthum: nur ein gewisses Alter, nicht ein be­

stimmtes Wissen wird für die Wahl als rechtliche Voraussetzung erfordert. Ja, es giebt gar keine öffentliche oder private Anstalt, in welcher der

jugendliche können.

Candidat

sich die

nothwendigen Kenntnisse hätte

aneignen

Lernen mochte er dadurch, daß er sich einem erfahrenen Staats­

manne anschloß und ihm seine Künste ablauschte oder abfragte.

Die

meisten jungen Leute traten denn auch leidlich unwissend und unerfahren in das Amt ein.

Als ein wahres Phänomen wird berichtet, daß der

dreißigjährige Cato, ehe er das Amt des Schatzmeisters übernahm, erst einen

praktischen Cursus in der Finanzwissenschaft durchmachte.

Froh der frisch

gewonnenen Weisheit griff er dann auch in seinem Bereiche durch, mit ebenso viel Tugend als Selbstbewußtsein, wie das seine Art war.

Denn

natürlich mußte sich hier gerade jenes anonyme Schreiberregiment ein­

nisten, das die Gefahr aller Selbstverwaltung ist.

Die Subalternbeamten

waren thatsächlich auf Lebenszeit angestellt und wurden wahrscheinlich für

ihre Arbeit geschult.

Seit Shakespeare ist der thörichte und unwissende

Friedensrichter, der ohne die Einflüsterung seines Secretärs sich nicht zu

helfen weiß, eine stehende Figur der englischen Lustspiele und Romane.

Bei den römischen Beamten reicht der Verstand auch vielfach nur so weit, wie der gute Wille des Schreibers, und namentlich die Kassenbeamten „regierten selber": sie hatten mit den jungen Schatzmeistern leichtes Spiel.

Eine weitere Eigenthümlichkeit des römischen Systems im Gegensatze zu unserem ist, daß dort die strenge Abgrenzung der den einzelnen zuge­

wiesenen Geschäftskreise, die hierarchische Unterordnung der Behörden, der feste Jnstanzenzug ganz fehlten, die uns von jedem Staatswesen unzer-

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

OefterS ist dieselbe Befugniß

trennlich erscheinen.

27

oder Verpflichtung

verschiedenen Beamten übertragen, so daß nothwendig Collisionen entstehen

Bei Feuersbrünsten, die im vorneronischen Rom besonders ge­

mußten.

fährlich waren, sind 19 Beamte verschiedenen Ranges gleichmäßig berufen, eine völlig unzulängliche Löschmannschaft zu befehligen; man konnte nur

im Interesse der Ordnung

auf den größten Mangel

an Pflichtgefühl

hoffen. — Jeder Beamte durfte den gleich- oder niedrigerstehenden Collegen

auf Anrufen oder von Amtswegen an der Vornahme von Amtshandlungen

verhindern, und der Tribun übt das VerbietungSrecht gegen alle.

Es

war ilvch verhältnißmäßig harmlos, daß der höhere Veamte dem Collegen

„die Volksversammlung abrufen", d. h. die Versammlung mitten im Vor­

So widerfuhr

trage und ohne Angabe eines Grundes auflösen durfte.

es Cicero, als er am letzten Tage seines Consulats nochmals dem Volke deutlich machen wollte, wie er „Herrschaft und Freiheit"

gerettet habe.

Allein ebenso ließ sich auch die Aushebung, die Steuerausschreibung, der

Ausmarsch des Heeres hindern; ja Tiberius Gracchus schloß als Volks­ tribun in rein politischer Absicht die Gerichte, versiegelte die Staatskasse und niemand wagte zu widersprechen.

Den obersten Staatsbeamten und thatsächlich dem Senate ist eine

unerhörte Gewalt übertragen. Magistrate beschränkt.

halten sich

gegenseitig

In Rom und in Italien sind freilich die

Die mehreren

die Wage:

verliehenen gleichen Befugnisse

der Oberrichter ist

im Straf-

und

Civilverfahreu an den Wahrspruch Geschworener gebunden, und die Gleich­

heit aller Bürger vor dem Gesetze verhindert von selbst Willküractc des Amtsmißbrauches.

Aber frei schaltet der Senat mit dem Staatsvermögen

und unumschränkt sind die Beamten in der Provinz.

Allerdings sind die

höheren Beamten alle durch die niederen Magistraturen hindurchgegangen,

sie haben jahrelang an den Senatsberathungen Theil genommen, sie sind deshalb regelmäßig erfahrene und geschäftsgewandte Leute.

Indessen die

eigentlichen Verwalter der Staatseinkünfte sind die jüngsten Beamten,

und die älteren werden von den politischen Angelegenheiten zu sehr in Anspruch genommen, als daß sie sich um den Staatshaushalt im einzelnen

kümmern könnten. wirthschaften.

wesen.

Sie sind

überdies gewohnt, aus dem Vollen

zu

In der Staatskasse ist seit Jahrhunderten keine Ebbe ge­

Man sparte sich also die Feststellung der Einnahmen und Aus­

gaben, in der Zuversicht, die lange Zeit nicht trog, daß ein Ueberschuß

vorhanden sein werde.

Man verschleuderte die Staatsdomänen, gab sie

in den letzten Zeiten der Republik zu Parteizwecken an Kleinbürger und ausgediente Soldaten, oder ließ sie vom Adel gegen verschwindend kleine

Abgaben in Besitz nehmen.

Daß die Steuern und Zölle an große Aktien-

28

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

gesellschaften verpachtet wurden, entsprach der Gewohnheit des gesammten Alterthums.

Man schaffte sich damit eine mühselige Einzelarbeit vom

Halse, erzeugte und nährte aber dafür eine gewissenlose Geldaristokratie,

deren Untereinnehmer, die Zöllner, hätten Heilige sein müssen, wenn sie nicht Sünder werden sollten. — Viel umfassender war die Macht der

Statthalter in den Provinzen.

Zur Zeit Neros noch erscheinen sie dem

Verfasser der Apokalypse als Könige, welche die Herrschaft nicht empfangen

haben, eine Zeit lang aber erhalten

sie die Gewalt von dem Thiere.

In der That: es sind Könige im Sinne des Alterthums,

Herren über

Rechtlich ist das

Leib und Leben, über Gut und Kräfte der Provinzialen.

Land eine Domäne des römischen Staats, der Statthalter der Amtmann, der Gericht, Heer und Verwaltung in seiner Hand vereinigt, um sie zu

bewirthschaften und auszubeuten.

Die Bewohner sind steuer- und frohn-

pflichtige Hintersassen, die man duldet, deren man sich aber auch wohl

entledigt, wenn sie unbequem zu werden anfangen.

Caesar verkaufte von

dem einen gallischen Stamme mit einem Male 53,000 in die Sklaverei, den anderen ließ er, um das Leben der römischen Soldaten zu schonen,

von den Nachbarvölkern ausrotten. Diese an die höchsten Aemter und den Sitz im Senate geknüpfte Macht und Herrschaft fiel ganz naturgemäß dem römischen Adel zu.

ist ein Amtsadel.

Das

Er setzt sich aus den Familien zusammen, die von Ge­

meindebeamten und Senatoren abstammen.

Zum guten Theile sind das

uralte einheimische Geschlechter, welche ihre Geschichte bis auf die olympi­ schen Götter, auf vergötterte Heroen, oder doch auf einen der mit Aeneaö flüchtigen Troer zurückzuführen wußten.

gewesen.

Indeß die Nobilität ist nie spröde

Den Emporkömmling, wie MariuS, wie Cicero, sah sie über

die Achsel an, besonders wenn er schlechte Manieren hatte; aber bereits

seine Söhne und Enkel bestanden die Ahnenprobe.

Und

es fand sich

denn auch wohl ein gefälliger Stammbaummaler, der für die Anknüpfung

des Geschlechtes an einen Trojaner oder einen fabelhaften italischen Klein­ könig sorgte.

Zugleich aber vereinigen diese großen Häuser nicht blos

den ausgedehntesten Grundbesitz, sondern auch ein mächtiges bewegliches Vermögen; sie sind nicht dem Rechte, sie sind der gesellschaftlichen Stellung nach unbedingt die oberste Schicht des römischen Volkes.

In der Natur aller Selbstverwaltung ist es begründet, daß sie ein Fideicommiß der herrschenden Gesellschaftsklasse wird.

Wie ihr der Staat

das meiste gewährt, so darf er auch unentgeltliche Gegenleistungen fordern; und umgekehrt läßt sich nur hier der Gemeinsinn und zugleich die politische

Fähigkeit erwarten, welche nie die Sorge um das tägliche Brod begleiten. Und der römische Adel hatte voll begründeten Anspruch darauf, die Herr-

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

schäft zu führen.

29

Wenn es ein unzweifelhaftes geschichtliches Gesetz ist,

daß der Mann oder der Stand zur Leitung des Gemeinwesens befugt sind, durch die es geworden was eS ist; und wenn diese Herrschaft wohl

die Wirkung der geleisteten Dienste überdauern, niemals aber ohne solche

erlangt werden kann, so ruhten die Macht und der Einfluß des römischen Adels auf dem sichersten Fundamente.

Denn das römische Reich nach

außen und nach innen ist recht eigentlich das Werk der Aristokratie und des Senats.

Die Unterwerfung Italiens, die Zertrümmerung Karthagos,

die Erlangung der Weltherrschaft, das Alles ist nicht durchgeführt von

der Genialität einzelner hervorragender Männer; das Unternehmen, das der kleinen Landstadt fast wider Willen aufgenöthigt wurde, ist gelungen durch die schlaue Zähigkeit und thatkräftige Rücksichtslosigkeit, die daS be­

zeichnende Merkmal der Aristokratenstaaten

alter und neuer Zeit

sind.

Und ähnlich im Innern: die Gleichheit aller vor dem Gesetze, daS klare, billige Recht und seine gesunde Fortentwickelung, die unparteiische Rechts­

pflege, die Steuerfreiheit, das Aufblühen von Handel und Gewerbe, die

Einführung

griechischer

Bildung,

Kunst und

Wissenschaft:

alle

diese

Segnungen sind dem römischen Volke geworden seit jener glorreichen Re­ volution des Jahres 367, seit dem Jahre, in welchem der Kampf zwischen

den Stadtjunkern und den Neubürgern endigte und der neue Adel geboren wurde.

Es waren wirkliche Herrcngeschlechter, die 7,

12 Consuln und

ebenso viele Triumphatoren unter ihren Ahnen zählten, oder gar, wie die (Staubier, das Geschlecht des Kaisers Tiberius, 28 Consuln, 5 Dictatoren,

7 Censoren und 8 Triumphatoren. Es liegt auf der Hand, ein so eigenthümlich construirtes Regiment,

wie das römische, war nach allen Richtungen wesentlich bedingt durch den

Charakter der Regierenden.

Nur Selbstverläugnung der oberen Beamten,

Pflichtgefühl bei den niederen, Staatsgesinnung, gesunder Menschenver­

stand und Mäßigung bei allen konnten ein Gemeinwefln zusammenhalten, wo auf der einen Seite die höchste Macht und die höchste Verantwortung

auf den Beamten gelegt waren und

wo andererseits die eingehendsten

Kenntnisse bei ihm vorausgesetzt, die angestrengteste Arbeit von ihm ge­ fordert werden mußten.

sche Aristokratie geziert.

Lange Zeit haben diese Eigenschaften die römi­

Aber es war nichts

Augustus die Herrschaft übernahm.

mehr davon übrig, als

Und dennoch ist es kein unreifer po­

litischer Idealismus gewesen, wenn er sich entschloß, die Regierung mit diesem Adel zu theilen.

Es war einmal der unverwüstliche,

aber sehr

natürliche Glaube an die Lebenskraft und die politische Befähigung der alten Geschlechter, dann aber der Mangel an anderen für die Regierung geeigneten Elementen.

30

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung-

Der zweite Stand

des Reiches,

der sogenannte Ritterstand,

war

nicht danach geartet, daß der Kaiser sich seiner statt des ersten als Stütze hätte bedienen können.

Ein eigentlicher bürgerlicher Mittelstand,

die

Pflanzschule des Beamtenthums, fehlte gänzlich. Der Krämer, der kleine

Handeltreibende, der größere Handwerker find vollständig in die engsten

Interessen ihres Fleckens oder ihres Stadtviertels versunken.

Der Ehr­

geiz dieser Philister für ihre Söhne geht nicht über die benetdenswerthe

Stellung eines AuctionscommissarS oder höchstens eines Sachwalters hin­ aus.

Darum müssen die Söhne ein bischen Recht fürs Haus lernen;

denn dabei hat man sein Brot; einem harten Kopfe.

man kannS zu was bringen auch mit

Die Elemente dieser Klasse, welche weiter vorwärts

zu dringen suchen, sind theilweiS bedenklichster Art: Kriecher und Streber,

aus denen sich die gewerbsmäßigen Denuntianten ergänzen.

Die reichen

Angehörigen des Ritterstandes aber wenden sich mit Vorliebe dem Groß­

handel und dem Bankgeschäfte zu; sie sind die Hauptträger der Ueber­ zeugung, daß man eS dem Gelde nicht anriecht, ob es aus dem Kote auf­ gehoben ist.

Als Finanzmacht eng unter sich verbündet, fühlen sie sich

unabhängig oder doch einflußreich genug, um auf die zweifelhafte Ehre

kostspieliger Magistraturen verzichten zu können.

ES hat einer sorgfältigen

Erziehung bedurft, ehe es gelungen ist, in dieser Gesellschaftsklasse Nei­ gung und dann eine feste Tradition für den Staatsdienst zu begründen. AugustnS begann das Werk sofort.

Er reorgantsirte den Ritterstand mi­

litärisch ; er beförderte die reichen jungen Freiwilligen, die begreiflich gern

zu Pferde dienten, schnell zu Officieren und nahm sie dann in die CivilAber erst nach einem Jahrhundert konnte der adlich

verwaltung hinüber.

gesinnte Tacitus mit Recht darüber klagen, daß die Ritter das Uebergewicht in der Staatsverwaltung hätten.

juristische Vorbildung

Und noch später erst ist die civile

für den kaiserlichen Beamten

als gleichberechtigt

neben der militärischen Laufbahn anerkannt.

So war denn der Kaiser für'S erste auf Senat und Adel angewiesen;

ihn heranzuziehen entsprach

in der That den

gegebenen Verhältnissen.

Eines Adels kann kein Königthum, weder das legitime noch das usurpa-

torische, entbehren.

Der Erbkönig ist rechtlich wie thatsächlich der erste

Edelmann seines Landes, der Usurpator sucht eS zu sein.

Und hier ist

das Königthum einem der ältesten und erlauchtesten Adelsgeschlechter des

Volkes zugefallen.

Auch Cäsar fühlte, daß er sich mit Standesgenossen

umgeben müsse, unter denen er der erste war.

Aber mit jener rücksichts­

losen Genialität, die ihn überall die Ueberliefernng durchbrechen ließ,

suchte er diese nicht unter den Senatorenfamilien, sondern ging daraus aus, sich neben ihnen einen glänzenden, aber nichtigen Hofadel zu schaffen.

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

31

Darum erneuerte er die längst verschollene Würde des Patriciates, das

alte Stadtjunkerthum, wie eö einst in den ständischen Kämpfen der Ge­ Augustus dagegen glaubte, wie seine

meinde eine Rolle gespielt hatte.

ganze Zeit, ernstlich an die besondere Weihe des blauen Blutes.

Mit

einem Vergleiche, der den zahlreichen Sportsmen unter seinen Lesern ein­ leuchten mußte, sagt Horaz: Von Starkem nur geht Starkes und EdleS

aus; Im Rosse lebt, im Stiere die gute Art Des Stamms, es kann des

stolzell Aars Brut Nimmer der zagenden Taube

gleichen.

Und seinen

Mäcenas erhebt er zu des EtruskerfürstenhauseS würdigem

Sproßen.

„Er ist ein Nach­

Die adliche Abkunft erscheint an sich als Verdienst.

komme ausgezeichneter Männer; mag er selbst sein, wie er will, er ruht sicher im Schatten seines Stammbaumes.

Winkel

vom

Sonne

Wiederstrahle der

unbrauchbare Enkel

vom

Wie ein düsterer, dumpfiger

so

erhellt wird,

seiner Vorfahren."

Glanze

leuchtet

der

sagt

der

Das

liberale Philosoph in demselben Werke, in welchem er Milde und Güte

gegen die Sclaven als gegen „niedere Menschenbrüder" Tiberius

einen tüchtigen Mann

Stadtklätscher Der

Kaiser

art:

der

herausgefunden,

befördert, da

er

sei der

Hal der Spürsinn

Sohn

stamme von

sich

selber

ab;

Als der

eines

Preisfechters.

mit

der Redens­

„verhüllte diese schmachvolle Herkunft"

Mann

empfiehlt.

sie war gerade witzig

genug, um das Geflüster verstummen zu machen. — Eine gemeine Ver­

brecherin, Aemilia Lepida, die zur Zeit desselben Kaisers der Giftmischerei

und Kindesunterschiebung verdächtig ist, zieht in Begleitung vornehmer Frauen in'S Theater und erregt dort einen gewaltigen Sturm der Ent­

rüstung im Publikum.

Man weint, tobt, verwünscht ihren Mann, den

Quirinius, der als alter saft- und kraftloser Mensch es gewagt hat, eine Dame von so adlicher Geburt heimzuführen, die Urenkelin des PompeiuS

und Sulla, die einst zu Augustus Schwiegertochter ausersehen war.

Und

dieser Quirinius war ein tapferer Soldat, Consular und Triumphator;

er wurde, als er bald darauf starb, von Staatswegen feierlich bestattet;

„viele aber konnten ihm den Prozeß der Lepida auch über das Grab hin­ aus nicht verzeihen". — Unter den vielen traurigen Ereignissen des Jahre«

33 erregte eins besondere Betrübniß; eine Dame des kaiserlichen HauseS heiratete in zweiter Ehe einen Consular, an dessen Großvater, einen ein­

fachen Ritter, sich noch viele erinnerten.

Es ist der größte römische

Meister der Sprache und der Darstellung, der diese und ähnliche Ge­

schichten in einem unnachahmlichen Zwischentone von

Objektivität und stillvergnügtem Behagen berichtet.

stolzer historischer

Wie mußten solche

Erzählungen deS Tacitus die Gesinnung der Leser befestigen und ver­

breiten!

Und sie bestand weiter.

Noch im 3. Jahrhundert entschuldigt

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

32

sich der eben zum Kaiser erwählte Macrin beim Senate mit beweglichen

Worten ob seiner niedrigen Herkunft: mit den hochadlichen Kaisern Commodus und Caracalla sei man recht schlecht gefahren;

besser mit einem Roturier.

vielleicht gehe es

Jene hätten die Herrschaft wie ein Erbstück

gemißbraucht; er habe sie mühsam erworben und werde sie daher hegen und pflegen.

Eine Aristokratie, welche künstlich von den politischen Geschäften fern gehalten wird, verfällt unfehlbar der Opposition.

Augustus mußte aber

eine abgeneigte Stellung des Adels um so mehr zu vermeiden suchen, als dieser in dem letzten Verzweiflungskampfe der Republik eine überraschende

Lebenskraft entwickelt hatte; weniger freilich der Adel im Ganzen als in

einzelnen besonders befähigten Männern. nutzbar

Durch Einräumung einer Mit­

so schien es, wurden die politischen Talente für den Staat

herrschaft,

gemacht und

die

Bildung

einer Oppositionspartei verhindert.

Augustus that Alles, um die Aristokratie regierungsfähig zu machen oder

zu erhalten.

Er schied vor Allem die vielfach höchst zweideutigen Ele­

mente auS, die während der Bürgerkriege durch die Parteiführer in den

Senat gerufen waren.

winnen.

Der Stand sollte seine alte Reinheit wieder ge­

Die Zahl der Senatoren wird auf 600 festgestellt:

ihre Fa­

milien, d. h. auch wenn der Vater seinen Rang eingebüßt hat, ihre De­ scendenz

im Mannsstamme,

nehmen an den

Ehrenrechten

Theil,

die

Söhne tragen den adlichen Purpurstreif und besuchen das RathhauS, „um

sich an den Dienst für das gemeine Wesen zu gewöhnen".

Heiraten

der Senatoren und ihrer Söhne mit freigelassenen und bescholtenen Mäd­ chen, werden für

unzulässig

erklärt.

schlechter waren dünne geworden;

Männer ergänzen.

Allein die Reihen

der AdelSge-

man mußte sie durch Aufnahme neuer

Ein Gegengewicht gegen diesen bürgerlichen Zuwachs

suchte der Kaiser in der Einführung eines leidlich hohen Census.

Der

Senator mußte ein Vermögen von 72500 Thalern haben, sonst verlor

er seinen Sitz und damit seinen Rang. ganz neue Grundlage gestellt.

Dadurch ist der Stand auf eine

Die Idealbilder der guten alten Zeit sind

nun ein für allemal unmöglich geworden; jener Consular und Trium­ phator,

der die feierliche Gesandtschaft empfängt, während er am Herde

sitzt und sein kärgliches Mittagbrod umrührt; jener Dictator, der zur

Rettung des Vaterlandes vom Pfluge gerufen wird und nach Zerschmette­

rung des Feindes zum Pfluge zurückkehrt.

Gerade umgedreht; von jetzt

ab sind die Senatoren auf die „höchste Zinne" der Gesellschaft gefielst

und sie müssen deshalb standesgemäß, d. h. mit dem gehörigen Aufwande leben und leben lassen. waltig.

Die unvermeidlichen Ehrenausgaben waren ge­

Für Sklaven, Pferde und Wagen, für die ewig hungernde und

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

33

heischende Schaar von Klienten, die der Stolz jedes vornehmen Hauses

ist, für die Ausstattung von Festlichkeiten, Spielen und Thierkämpfen,

die das Amt mit sich bringt und wobei man eine scharfe Kritik aushalten

muß:

die Gladiatoren sind keinen Dreier werth, alte abgelebte Kerls,

zum Umpusten, das ist der Dank des Spießbürgers für das erhebende Schauspiel einer Schlächterei nach den Regeln der Kunst.

Die Ausgaben

steigerten sich mit den Ansprüchen des Publikums und dem natürlichen

Bestreben, es einander im Luxus und in der Eleganz des Auftretens zuvorzuthun.

So brach ein stolzes Vermögen nach dem andern zusammen.

Der Adel aber durfte sich nicht mehr, wie dereinst, damit begnügen über

Reiche zu herrschen;

sein.

es gehörte jetzt zu seinem Wesen, selber reich zu

Und so verstanden sich denn diese edelen Aristokraten zu dem, was

für eine Klasse von Privilegirten, die nicht arbeiten darf oder will, daS naturgemäße ist:

sie bettelten.

Die Kaiser werden mit Gesuchen über­

schüttet, verarmten Senatoren den Sitz im Rathe zu erhalten. Natürlich

nahm der Adliche die Unterstützung nicht als Almosen, sondern als sein gutes Recht in Anspruch.

Der Senat, wie TacituS mehrfach mit Ge­

nugthuung erzählt, vermerkte eine abschlägliche Antwort an einen StandeS-

Als häßliche Knauserei wird es angesehen, daß Ti­

genossen sehr übel.

berius erklärte, er werde nur dann zuschießen, wenn die Bittsteller ihren Antrag im Senate gehörig rechtfertigten.

Es galt

als eine besondere

Leistung, wenn man in so verzweifelter Lage noch Anstand und Haltung

wahrte und seiner Würde nicht durch allzureichlichen Dank vergab.

ich bekomme nichts?

Und

fragte einer von diesen Herren statt alles Dankes

den Augustus, als diese 300,000 Rthlr. Schulden für ihn bezahlt hatte. Immer besser war eS noch, so wieder zu Vermögen zu gelangen, als durch systematische Ausbeutung des Staates.

Ihn betrachtete

der

Adel in republikanischer Zeit als einen Privatbesitz, den man für sich auS-

nützen dürfe und müsse.

Es bedarf keine Schilderung, in welch unsag­

barer Weise die Provinzen von ihren Statthaltern auögeplündert wurden.

Aber Erpressung,

Raub, Bestechlichkeit und Unterschleife

dienten nicht

blos dazu, einem zerrütteten Besitze wieder aufzuhelfen; es sollten dadurch

auch häufig der vielfach nicht gemeine Kunstsinn oder die rohe Sammel­ leidenschaft auf wohlfeile Art befriedigt werden.

und

Denn selbst den fein

griechisch gebildeten Römer verläßt das merkwürdige Spar- und

Rechentalent seines Volkes nicht, das den Verschwender dem Wahnsinnigen

gleichachtet.

Und der böse VerreS hat seinen gesammten sicilischen Raub

sorgfältig im Rechnungsbuche verzeichnet.

Mit naiver Schamlosigkeit tritt

diese Auffassung zu Tage bei den sogenannten

freien Gesandtschaften.

Wenn ein Senator in Geschäften oder zum Vergnügen eine Reise machen Preußische Jahrbücher. Br. XI.VI. Hefti.

3

34

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

will, so läßt er sich als Senatsbote (legatus) verschicken.

Nicht einmal

der äußere Anstand wird gewahrt; kein Bestimmungsort wird bezeichnet,

kein Auftrag mitgegeben; ja Cicero findet es höchst unbequem, daß man nicht trotz der Gesandtschaft in Rom bleiben kann.

Der „Gesandte" er­

hielt auf dieser Reise freie Beförderung und Unterhalt für sich und seine

Begleiter von Staatswegen, die Gemeinden, die er besuchte, mußten ihm sogar die Ehren erweisen, die einem Staatsbeamten zukamen.

Die ersten

Kaiser haben beide Mißbräuche nur beschränkt, nicht unterdrückt durch die Oberaufsicht, welche sie über alle Statthalter führten, durch die schärfere Rechtscontrole und durch das feste, ziemlich hohe Gehalt, was die Statt­ Die alte Vorstellung wurzelte zu fest, daß die Provin­

halter bezogen.

zialen im öffentlichen und Privatinteresse beliebig geschätzt werden dürften: noch Tacitus wirft es einem Officiere vor, er habe Italiener wie An­

gehörige eines ganz niederen Volkes behandelt.

Ein in seinen Vermögens­

verhältnissen stark zurückgekommener Consular bittet den TiberiuS ganz harmlos, ihm

die Verwaltung einer Provinz zu übertragen;

als der

Kaiser das begreiflicherweise abschlägt, sieht er keinen andern Ausweg, als „freiwilligen Tod".

Aber sonst nahms der Kaiser mit den freien

Gesandtschaften und der Ausraubung der Provinzen nicht so genau.

In

der ersten Zeit mahnte er wohl: ein guter Hirt müsse die Schafe scheeren, nicht schinden; aber in seinen letzten Jahren, wo er in einer Art von

wahnsinnigem Ekel an der Menschheit die Sachen gehen ließ, wie sie

gehen wollten, meinte er: man müsse die Statthalter möglichst lange auf ihrem Posten lassen; satte Mücken stächen nicht so arg, wie hungrige. Der Erwerbstrieb schlug noch einen dritten Weg ein.

schöne Idee des

Augustus,

einen finanziell

Es war eine

unabhängigen Stand zu

schaffen, in welchem die adlichen Traditionen weiter leben und eine ge­

steigerte Thätigkeit für den Staat Hervorrufen sollten.

Deshalb durften

die Senatoren mit sogenannten schmutzigen Geschäften sich nicht beflecken,

sie

sollten wesentlich Großgrundbesitzer sein.

Die

alten Verordnungen

gegen den Handels- und Gewerbebetrieb des Adels wurden erneuert.

In­

dessen die stille Betheiligung an Handels- und Schiffahrtsgesellschaften

ließ sich nicht hindern; daß die Senatoren auf ihren Gütern industrielle Anstalten, z. B. Ziegeleien errichteten, mußte man dulden, und daß ein

Kapitalist sein Geld gegen möglichst hohe Zinsen ausleiht, liegt einmal, wenn nicht in der Menschen-, so doch in der Kapitalistennatur.

Ein

Versuch des Tiberius, den Wucher der Senatoren einzuschränken, verlief im Sande.

Den Seneca verhinderten seine stoischen Grundsätze so wenig,

wie einst den Brutus, Wucherzinsen von den Pronvinzialen zu nehmen und das Kapital rücksichtslos zu kündigen und beizutreiben.

&ic ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

35

Die vornehmen Herren hätten kluge Rechner oder sorglose Schulden­

macher und dabei doch umsichtige Staatsmänner sein können.

Die Mehr­

zahl aber war es nicht: die Politik war ihnen gleichgiltig geworden.

Es

genügte nicht, den Adel von jeder ernsthaften unpolitischen Arbeit fern­

zuhalten, um ihn für die Politik zu gewinnen.

Man hätte ihm auch den

Geschmack an den Genüssen höherer und niederer Art verleihen müssen,

die den Menschen ausfüllen und befriedigen können. DaS war eine Un­

möglichkeit.

ES ist natürlich, daß auch der Adel nach den Leiden, die gerade ihn so hart betroffen — denn wohl jede Familie zählte Angehörige unter den Opfern der Bürgerkriege — sich der Annehmlichkeit deS endlich gesicherten

Friedens mit vollem Behagen hingab.

Rom wollte sich vor allen Dingen

amüsiren, und eS gelang vortrefflich.

Zunächst unterhielt sich diese geistreiche, gebildete Gesellschaft mit sich

selber.

Sie war in fortdauernder Bewegung.

Besuche machen und em­

pfangen nimmt einen großen Theil des Tages in Anspruch.

Denn die

Höflichkeit erfordert nicht bloß, daß Freunde und Bekannte bei Familien­

festen, an Geburtstagen, bei Verlöbnissen, Hochzeiten, Mündigerklärungen

und bei feierlicher Gelegenheit, wie beim Amtsantritte, sich zahlreich mit

ihren Glückwünschen einfinden; auch ohne besonderen Anlaß muß man von Zeit zu Zeit seine Visite machen.

Und damit nicht genug.

Man

trifft sich an den verschiedensten Orten der Stadt, verabredet oder zufällig, in Hallen und Buchläden, im Bade und im Theater. verläuft mehr außer dem Hause, als drinnen.

Denn das Leben

Die Zahl der alten und

jungen Ardelionen, wie man sie nannte, die lediglich mit solchen Nichtig­

keiten ihre Tage hinbrachten, war nicht gering.

Aber auch ernsthafte

Leute von Rang können sich diesem Treiben nicht entziehen; sie mußten sich, so klagt einer, umherjagen lassen auf den Wogen der Stadt und ihr

Leben vergeuden in unfruchtbarer Mühsal.

Unfruchtbar war freilich dies

Salongetriebe, wo" der parfümirte, sorgfältig frisirte Stutzer am Stuhle der Damen lehnt und ihrer DiScretion die neueste Liebesgeschichte anver­

traut oder sie über den Stammbaum eines gefeierten Rennpferdes auf­ klärt; es kam für den Pedanten nichts heraus bei diesem Gespräche, das jede gründliche Behandlung

des Gegenstandes meidet,

und wie es der

rechten Cauferie gebürt, alle möglichen Dinge von der trivialen TageS-

neuigkeit bis zu den höchsten Fragen eben nur anstreift.

Unfruchtbar ist

sie gewiß, aber unterhaltend und anregend muß diese Geselligkeit gewesen

sein, wo jeder sich am Geiste des anderen erfreute und selber das Beste zu geben suchte.

Das erste, was bei dieser Art deS Verkehres in einer so redseligen

3*

36

Die ersten römifchen^Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

Stadt, wo man alle- wußte und alles beschwatzte, wo so viele Leute lieber den Kopf verlieren wogten als einen Witz, was sich da nothwendig ent­

wickeln mußte, war eine ungeheure Fülle von Klatsch, Verleumdung und

boshafter Lästerung.

Die Neuigkeitskrämer, die genau wissen, „was

nachts der Fürst der Fürstin hat in'S Ohr gesagt", die den Inhalt deS

jüngsten Berichts vom Kriegsschauplätze schon kennen, ehe der Brief ge­

öffnet ist, sind verhältnißmäßtg noch harmlos.

Viel ärgerlicher ist, die

Nachwirkung deS Lügenklatsches der hauptstädtischen überall in der Geschichtschreibung größte römische Historiker hält cs

„Welt", die wir

der Kaiserzeit spüren.

Selbst der

nicht bloß für nöthig, die Redereien

deS „Volkes" bei gewissen Anlässen ausdrücklich mitzutheilen, er ist ihnen auch stillschweigend oft genug gefolgt.

Und welcher Gemeinheit der Ge­

sinnung, welcher Niederträchtigkeit in lügenhafter Verhöhnung diese elegante

Gesellschaft fähig war, wo sie haßte, daS zeigt die giftige Schmähschrift deS Seneca gegen den verstorbenen Kaiser Claudius,

desselben Seneca,

der auch die amtliche Leichenrede verfaßt hat: ich kenne in der klassischen,

lateinischen Litteratur nichts widerwärtigeres. Wer als Unbetheiligter dem Platze nahe steht, an welchem die Welt­ geschichte gemacht wird, der ist ohnehin geneigt, große Ereignisse auf

kleine Anstöße zurückzuführen.

„Laune

und Leidenschaft", sagt Laroche­

foucault, „sind meistens die Ursache glänzender, das Auge blendender Hand­ lungen; wer kann sagen,

ob nicht das Ringen OctavianS und Marc

AntonS um die Weltherrschaft lediglich ein Streit der Eifersucht war?" ES bedarf eben einer gewissen zeitlichen und örtlichen Entfernung, um die Dinge im wahren Verlaufe zu sehen; und eS gehört in der unmittel­

baren Nähe ein besonders klarer Blick dazu, das Gewebe der angeblichen oder wirklichen Beobachtungen über die maßgebenden Personen und ihre

gegenseitigen Beziehungen zu

entwirren.

In der Hauptstadt war der

guten Gesellschaft in den Fluten des persönlichen Geklätsches dieser sichere Tact verloren gegangen.

Und läugnen läßt eS sich nicht:

der Stand­

punkt, von dem aus die persönlichen Verhältnisse in den Vordergrund treten, hat eine gewisse Berechtigung innerhalb eines vervetterten und

verfeindeten Kreises von Familien, domäne betrachten.

welche den Staat

als ihre Privat­

In der That war der Tribun Sulpicius wesentlich

durch sein Zerwürfniß mit dem einflußreichen Hause der Julier in die demokratische Opposition gedrängt, die seiner altadelichen Abkunft und Gesinnung gar nicht entsprach; der heftige Haß des Clodius gegen Cicero ist wiederholt der Hebel wichtiger politischer Ereignisse geworden.

Unter

den Kaisern aber kam jene überlegene politische Weisheit auf, welche ihr

Urtheil auf die Anekdote und das Kammerdienergeflüster gründet, die

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

37

deshalb von allen denkbaren Motiven den Handlungen des Gegners den niedrigsten oder nichtigsten Beweggrund unterschiebt.

Die

Gesellschaft

bedurfte erklärlich schärferer Reizmittel

für ihre

Unterhaltung, als sie Salongeschwätz und Geklätsch auf die Dauer bieten,

schon um diesem, das doch immer der Mittelpunkt blieb, neue Nahrung zuzuführen.

Daß man

gut aß und jezuweilen stark trank,

daß

man

über die Kunst des Essens und Trinkens sich beim Essen und Trinken

verbreitete, versteht sich von selbst: daS gehört nothwendig mit zum an­ geregten und heiteren Beisammensein.

ES ist eine starke Uebertreibung,

wem, die zum Theil recht steifleinenen Satiriker und Moralisten der

Kaiserzeit den Luxus und die Verschwendung dieser Art gerade als etwas häßliches oder unsittliches brandmarken.

zen,

Die Dinge hielten sich in Gren­

die, wenn nicht erträglich, doch jedesfalls nicht beispiellos

Jener Apicius, der die Kochkunst wissenschaftlich betrieb

Furcht Hungers zu sterben umbrachte,

als

sind.

und sich aus

er bloß noch 72500 Rthlr.

zu verzehren hatte, ist ein Narr, wieS ihrer zu allen Zeiten gegeben hat, kein Typus.

Viel bedenklicher sind andere Stimulantien.

Die Neigung

für Schauspiele und die Leidenschaft für Preisfechter und Pferde, diese

Sünden, sagt Tacitus mit Recht, sogen die Kinder schon mit der Mutter­

milch ein.

Die Kleinen spielten Gladiator; in den Gesprächen der Er­

wachsenen nahmen Theater, Wettrennen, Thierhetzen und Klopffechtereien

den breitesten Raum ein.

Das Hazardspiel ist in Rom verboten; eine

Börse in unserem Sinne gab es nicht; beim Würfeln waren Gewinn und Verlust nicht groß genug, um stark zu reizen.

Da bieten denn die

CircuSspiele den doppelten Vorzug, der Berauschung durch den bald stau­

bigen, bald blutigen Sport in der prachtvollsten Ausstattung, und zu­

gleich der Aufregung durch die hohen Wetten, die dabei üblich waren. Man begnügte sich nicht mit der Rolle des leidenschaftlich bewegten Zu­ schauers.

Senatoren und Senatorensöhne, sogar ihre Frauen und Töchter

suchten selbst als Helden der Arena oder durch ihre Anmuth im Ballet Lorbeeren zu erwerben.

Schon früher hatte dieser Mißbrauch so über­

hand genommen, daß er nach Cäsars Tode durch Rathsbeschluß verboten wurde.

Man umging das Verbot: man ließ sich durch richterliches Er­

kenntniß für ehrlos erklären, um ungeahndet auftreten zu können.

rius

mußte mit strengen Strafen einfchretten.

Gewiß

Tibe­

bezauberte und

blendete die fremdartige Pracht und Ueppigkeit der CircuSspiele die Zu­ schauer.

Aber was diese vornehmen Herren und Frauen zu selbstthätiger

Betheiligung trieb, daS lag in ihnen. in Nero bis zum Wahnsinn steigerte.

Es ist die Genußsucht, die sich Die Begierde nach sinnlicher Er­

regung, die zu den raffinirtesten Mitteln greift, und dabei die immer

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

38

noch vorhandene überschüssige Kraft, die irgend einen Ausweg sucht. zauberhaften Feste sind

Diese

zu gleicher Zeit das Symptom und die immer

neue Ursache der genußsüchtigen Ueberspannung. Und wunderbar:

der Genußsucht geht eine überraschende, dauernde

Genußfähigkeit zur Seite. mählich Uebersättigung

Man sollte meinen, daß der Gesellschaft all­

und Mattigkeit

sich

bemächtigen müßten, daß

Blasirtheit und weltschmerzlicher Lebensüberdruß

häufig wären.

Aber

keiner der Selbstmorde in den höchsten Klassen läßt sich darauf zurück­

führen.

Nicht hier, sondern in den mittleren und unteren Schichten, wo

die Lehren EpikurS schon seit langer Zeit verbreitet waren, sind die ma­

terialistische Weltanschauung und die Sehnsucht nach dem ewigen Nichts heimisch.

Trinkt Wein und küßt die Schönen;

Feuer und Erde raffen

das Andere hin, mahnte ein Grabstein, auf dem der Verstorbene, ein einfacher Bürger, mit dem Becher in der Hand abgebildet war.

Natür­

lich mußte man auö der kurzen Spanne Zeit zwischen dem Nichts und

dem Nichts das leidlichste zu machen suchen. — Ganz anders ist die Le­ bensfreudigkeit der oberen Klassen.

Hier begegnet man den Materialismus

nur als wissenschaftliche Ueberzeugung und die Todessehnsucht als philo­

sophische Doctrin.

Im Allgemeinen ist der Adel, seiner conservativen

Neigung entsprechend, gläubig.

der Unsterblichkeit.

Man hält fest an den Göttern und an

Gegen die Einzelheiten der Religion ist man ent­

weder gleichgiltig, indem man doch die äußeren Formen beobachtet, oder

man vermittelt sich daS Walten der Götter philosophisch, wie es eben

gehen mag.

DaS Leben aber ist ihnen allen ein kostbares Gut:

„Gieb

mir zittrige Hände und Lähm' an Fuß mich und Hüfte, Buckel heft mir

und Höcker an, Lockre und höhle die Zähne:

Wenn daS Leben nur währt,

ist's gut; DaS erhalte mir, sollt ich Sitzen selbst auf dem Marterholz."

Biele elegante Herren werden diesen poetischen Stoßseufzer des MäcenaS so geschmacklos gefunden haben wie wir, wenige aber so schmählich, wie

Seneca, der ihn berichtet.

In der That, auch das Alter hatte noch seine

eigenen Genüsse, nachdem es sich vom Circus und vom Theater zurück­ gezogen hatte.

Denn man thut der vornehmen Gesellschaft Unrecht, wenn man sie

beschuldigt, ihr sei der Sinn für edlere Bestrebungen

Vergnügen untergegangen.

im

rauschenden

Mit Litteratur und Wissenschaft eingehender

sich zu beschäftigen, gehört in der großen Welt der ersten Kaiserzeit zum

guten Tone.

Aesthetische Fragen sind ein Hauptgegenstand der Gespräche.

Die Dichter werden begünstigt, befördert, belohnt: eö gab mehr als einen Mäcen.

Bei Tafel läßt man Poesien vorlesen, die „Welt" strömt nach

dem Sale, wo ein Dichter sein neuestes, noch nicht veröffentlichtes Werk

39

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

Es langweilt sich wohl einmal ein würdiger Con-

„recitirt" (vorliest).

sular dabei: das mag hingehen, wenn er es nur mit Anstand thut: man

bleibt sitzen bis zum Schluffe; man könnte ja auch einmal eine geduldige

Denn der gesammte Adel ist Dilettant in der

Zuhörerschaft brauchen.

Nicht bloß ungezählte boshafte oder frivole Epigramme laufen

Dichtkunst.

um; nein, man fertigt ganze Gedichte über die wichtigen Angelegenheiten des hohen Lebens:

vor allem über Küche und Keller, über die Wissen­

schaft des Schwimmens und Schminkens und über die tiefsinnige Kunst

des Knöcheln«.

Zuerst wollte man sich hier wieder unterhalten.

Aber auch

würdigere Poesien gehen aus diesen Kreisen hervor; eS wurden ernsthafte

Studien nach griechischen Vorbildern gemacht, über die Technik und na­

mentlich über die VerSbehandlung nachgedacht; die Form war eine Haupt­ sache, man dichtete ja für die empfindlichen Ohren des Salons.

ähnlich wird die Wissenschaft gepflegt, nicht zur Schaustellung, aus innerem Drange.

Und

sondern

Es werden aus Privatmitteln öffentliche Biblio­

theken angelegt; vornehme Männer studieren und lehren die Rechtswissen­ schaft, wie Labeo und Nerva, oder schreiben Bücher über grammatische und antiquarische Gegenstände, wie Messalla CorvinuS, oder Geschichts­

werke, wie Asiniuö Pollio und L. ArruntiuS.

Es wird üblich, mit Fragen

über die verschiedensten wissenschaftlichen Dinge, aus der Geschichte, der

Alterthumskunde, dem Rechte, der Philosophie sich brieflich an Sach­ verständige um Auskunft zu wenden.

Manchmal mag Neugierde oder

Eitelkeit bei dieser Briefftellerei mitgewirkt haben. sachliches Interesse die

Feder.

Aber meistens führt

Wegen einer Wortform, wegen

einer

dunkelen Stelle bei Varro und dergleichen correspondirt ein eleganter

Herr nicht, wenn er nicht wirklich verstehen und sich belehren will. Damit in diesem Bilde einer genußsüchtigen, überfeinerten,

an­

maßenden Gesellschaft auch die letzten ergänzenden Züge nicht fehlen, so

ist sie erfüllt von einem tiefen,

rein theoretischen Sehnen nach einem

idyllischen, anspruchslosen Naturzustande, wie sie ihn sich auSmalt; so

schreitet feierlich durch ihre Reihen bald andächtig bestaunt, bald boshaft bespöttelt

der

philosophische

Tugendprediger

mit

seinen

herben

Er­

mahnungen. Horaz und Tibull werden nicht müde, halb aus Ueberzeugung, halb

zum Ergötzen ihrer vornehmen Gönner die Genüsse des Landlebens und

das harmlose Dasein des Bauersmannes zu singen.

DaS frische Grün

und den sanftmurmelnden Bach, an dessen Ufer sich'S süß im Schatten

der säuselnden Platanen

schlummert, preisen sie

im Gegensatze

zum

Qualme und Getöse der Stadt; ihrer Ueppigkeit und Schwelgerei stellen sie das irdene Geschirr auf sauberem Tische gegenüber und das blank-

40

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

geputzte

Erbsalzfaß beim mäßigen Mahle, wenn eS etwa grünen Salat

am Festtage

giebt oder

einen Lammsbraten.

Und dazwischen

ertönen

die sanften Schalmeien der wettsingenden Hirten Virgils, die die feinsten

Gefühle fühlen und durch die anmuthigsten Anspielungen erfreuen.

Die Philosophie soll eine Erzieherin zur Tugend sein, vorzüglich

von dieser

ethischen Seite her erscheint sie der römischen Gesellschaft

beachtenswerth.

Deshalb wendet der Lehrer der Weltweisheit sich nicht

bloß an den Verstand des Zöglings, sondern auch an sein Herz.

Man

folgt dem Vortrage des geschulten Redners gern und mit Eifer, das Notizbuch in der Hand, man fühlt sich höchst angenehm ästhetisch und ge­

müthlich angeregt, wie von einer erschütternden Musik, Behagen auf die eignen Laster und Sünden schelten.

man hört mit Freilich die we­

nigsten gehen in sich und thun Buße. Der Philosoph, als Erzieher zur Sittlichkeit, ermähnt auch den einzelnen Schüler, selbst nachdem er bereits seiner Zucht entwachsen ist.

Senatoren lassen es sich gefallen, wenn sie

wegen nicht standesgemäßer Tracht getadelt werden.

der Philosoph

Einen Schüler schilt

über sein stutzerhaftes Wesen aus und er kömmt das

nächste Mal in bescheidener Toilette wieder.

Der Philosoph Favorin

beglückwünscht einen alten Zögling zu seinem Erstgeborenen, er hält bei dieser Gelegenheit der ängstlichen Schwiegermutter eine ganz unverschämte

Rede über den Gräuel des Ammenunwesens — wir besitzen sie noch — und er wird nicht hinausgeworfen.

Ja, der große Stoiker MusoniuS

RufuS tritt sogar zwischen die in Schlachtordnung aufmarschirtcn Truppen des VitelliuS

und

Vespasian

und beginnt

eine Ansprache

Segnungen deS Friedens und die Wechselfälle des Krieges.

über

die

Und selbst

er wird vor den wohlverdienten Püffen bet gereizten Soldaten geschützt und durch freundliches Zureden beschwichtigt.

Später zog man den Phi­

losophen sogar als Erzieher der Kinder und als Berather für Alles ins Haus,

er mußte mit auf Reisen und ins Feld gehen.

ES putzte daS

Haus, ein solches Möbel: ein stattlicher, etwas steifer Mann mit grim­ migem Barte, nahm er sich vortrefflich aus, wenn er anständig ange­ zogen in den weichen Kissen der Schimmelkalesche lehnt.

Form der häuslichen Unterhaltung

Aber diese neue

tritt erst seit Ende des

1. Jahr­

hunderts auf, und erreicht naturgemäß ihren Höhepunkt, als mit Marc Aurel die Philosophie den römischen Kaiserthron selbst bestieg.

Vorher

begnügte man sich den Bußprediger außer dem Hause zu hören.

Helden konnte ein solches Dasein nicht erziehen.

Mißgeschick und

körperliche oder geistige Leiden vermochten die adlichen Herren nicht zu ertragen.

Nicht selten sind daher Fälle von Selbstmord wegen schmerz­

hafter Krankheit, wegen hoffnungsloser Vermögenszerrüttung.

Vor allem

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung. aber brechen sie zusammen,

41

wenn ihnen ein HochverrathSprozeß droht.

Eine strafwürdige Handlung des einzelnen Senators zu entdecken, und wärS auch nur eine unehrerbietige Aeußerung über den regierenden Kaiser, konnte dem Forschungseifer -der berufsmäßigen Angeber nicht schwer fallen.

Der Angeklagte wußte sich wohl regelmäßig schuldig und sah die Berurtheilung

durch daS

Senatsgericht

mit ziemlicher Sicherheit voraus.

Ein langwieriges, chicanöseS Verfahren, die Wahrscheinlichkeit, mindestens

aus Rom verwiesen zu werde», wo allein das Leben lebenswerth erschien: das ließ sich nicht aushalten.

Und dabei schmückt die stoische Philosophie

den Selbstmord mit allen Blumen ihrer Phraseologie: „Wenn die höchste Noth da ist, so scheidet der Weise auS dem Leben, um sich nicht mehr selber zur Last zu sein.

zu endigen.

zur Freiheit.

Wohin er blickt, findet er Mittel, die Leiden

Siehst du jene schroffe Klippe? Dort hinab geht der Weg Siehst du das Meer, den Strom,

ihrem Grunde wohnt die Freiheit. die Freiheit

hängt daran."

den Brunnen? auf

Siehst du jenen dürren Baumstamm?

Wer vermag

solchen Lockungen zu wider­

stehen, wenn eS doch einmal mit dem Genießen vorbei ist? Das sind die Elemente, auS welchen sich der Senat zusammensetzt,

und mit diesem Neben die

unternehmen eS die Kaiser, die Herrschaft zu theilen.

alte amtliche Bezeichnung deS römischen Staats als „Rath

und Volk der Quiriten" tritt die andere „Fürst und Rath" in mancher Sie handeln bald gemeinschaftlich,

Beziehung als gleich berechtigte ein.

bald jeder für sich mit voller Wirkung.

Die formale Gleichstellung tritt

zuerst deutlich darin hervor, daß die Provinzen und die zum

großen

Theile auS ihrem Ertrage fließenden Staatseinkünfte halb dem Kaiser,

halb dem Rathe

überwiesen. werden:

seine eigenen Beamten.

Sie zeigt

jeder verwaltet selbständig durch

sich weiter darin, daß sowohl dem

Rathe als dem Kaiser die höchste Gerichtsbarkeit in Strafsachen zusteht,

daß eS also zwei oberste Instanzen giebt; der Theorie nach, die freilich nur in den Anfängen Caligulas und Neros praktisch

nämliche auch von den bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten.

wird,

gilt daS

Sie ist endlich

dadurch unzweideutig anerkannt, daß beide Gewalten mit der Befugniß

auSgestattet sind, welche im römischen Staatsrechte als sicherstes Kenn­

zeichen der Souveränetät erscheint;

sie haben beide das Münzregal und

prägen in den ersten Jahren des Augustus nebeneinander Gold und Silber­

geld.

Man darf es für eine folgerichtige Weiterentwickelung dieses an­

erkannten Grundsatzes ansehen, wenn Tiberius die Wahl der Beamten der Volksversammlung entzieht und auf den Senat überträgt:

wie der

Kaiser sich seine Gehilfen selbst ernennt, so sollte auch der Senat die Magistrate anstelle», die ihn in der Ausübung seiner Hoheitsrechte unter-

42

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

stützte».

Damit war zugleich

ein anderer Erfolg erreicht.

Augustus

hatte wiederholt bei Wahltumulten gegen alle Ordnung persönlich ein­ greifen müssen.

ES lag ganz im Sinne des Tiberius, vor solchen Un­

regelmäßigkeiten zurück zu scheuen.

Der Versuch deS Caligula, die BolkS-

wahlen wieder einzuführen, war eine der zahlreichen Thorheiten seiner ersten RegieruitgSjahre, welche die freudige Zustimmung der altgläubigen Republikaner fanden.

Ganz dieser Entwicklung gemäß hielt das Gesetz­

gebungsrecht des Senats mit dem kaiserlichen gleichen Schritt.

Seit der

zweiten Hälfte der Regierung des Tiberius rücken die RathSschlüsse that­

sächlich völlig an Stelle der Volksgesetze, und in der nämlichen Zeit be­ ginnen auch die Kaiser direkt und mittelbar die Fortbildung deS Rechtes zu beeinflussen. Der rechtlichen Gleichstellung deS Senats

entspricht die Art, wie

die Kaiser ihm begegnen und mit ihm verhandeln.

Tiberius äußert In

der Rathsversammlung: Ich habe sonst schon wiederholt gesagt: ein Kaiser, den ihr mit so umfassender Befugniß ausgestattet habt, muß, wenn er

Gutes stiften will, sich dem Rathe, der gesammten Bürgerschaft, ja häufig

dem Einzelnen dienstbar machen; es gereut mich nicht, das gesagt zu haben,

gehabt.

an euch habe ich stets gütige, einsichtige und huldvolle Herren Die rhetorische Uebertreibung liegt freilich zu Tage.

lich aber erkannte der Kaiser den Senat als ebenbürtig an:

Thatsäch­ „er erhielt

dem Rath und den Beamten ihre frühere Hoheit und Gewalt", er brachte im Senate sogar die Maßregeln über Aushebung und Entlassung von Soldaten zum Vortrage, er wollte, daß die Generale an den Senat be­

richteten, ließ Senatsboten zu den meuternden Legionen am Rheine ab­ gehen, und verhandelte wiederholt mit dem. Rathe über Friedensschlüsse. Und dieselbe Haltung bewahrt der Kaiser im wesentlichen bis zuletzt trotz allen Wechselfällen, trotz aller Verachtung, die sich seiner mehr und mehr diesen Menschen gegenüber bemächtigte, die bald schmeichelten und hinterm

Rücken höhnten, bald sich verschwuren und offen murrten.

ES ist be­

zeichnend für die Regierungswetse des räthselhaften Mannes, daß er dem Rathe seinen vollgemessenen Theil der Verantwortung aufbürdete, nach­ dem er einmal „die elende und mühselige Knechtschaft" deS Kaiserthums auf sich genommen, sich, wie er sagt, entschlossen hatte, den Wolf an den

Ohren zu fassen.

.

Daß Caligula und Nero, so lange sie als zurechnungsfähig gelten

können, dem Senate noch mehr entgegenkommen, ist bekannt genug.

Ca-

ligula trat zuerst „ganz demokratisch" auf; er erklärte die Herrschaft mit

dem Senate theilen zu wollen, er bezeichnete sich als Sohn und Pfleg­ ling des Rathes und ließ in der That Senat und Beamte ungehindert

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

selbständig schatten.

43

Aber nach sieben Monaten befiel ihn eine schwere

Krankheit und von dieser blieb ihm offenbar eine geistige Störung zurück.

Nero verkündigt in seiner Thronrede: Der Senat soll seine alten Ob­

liegenheiten behalten; Italien und die Staatsprovinzen sollen unter der

Gerichtsbarkeit des Senats und der Consuln stehen, der Kaiser nimmt die Sorge für das Heer auf sich.

Man sieht, es sind die „Vorschriften

des Augustus", nach welchen er zu regieren verheißt.

Und so geschah eS

in den ersten Jahren unter der Leitung des BurruS und Seneca, die zur Adelspartei gehörten oder doch neigten, sehr gegen die Wünsche der Kaiserin

Mutter Agrippina. Von vornherein ist freilich bei dieser Zweiherrschast thatsächlich das materielle Uebergewicht auf Seiten der Kaiser. lichen

Befehle ist daS

Denn ihrem ausschließ­

gesammte Heer untergeben,

ihnen

leisten die

Soldaten den Fahneneid, auch die in den Staatsprovinzen stehenden, sie leiten die Aushebung, ernennen die Officiere und zahlen den Sold.

mit hängt es

der Staatsdomänen an Private sich allein vorbehielt. heit,

Da­

aufs genaueste zusammen, daß Augustus die Vergabung Die alte Gewohn­

sie zu Gunsten ausgedienter Soldaten aufzuthcilen,

besteht weiter.

Die Veteranen verlangen Landbesitz; es ist bezeichnend, daß die niederen, wie die höheren Klassen das unbewegliche Kapital dem beweglichen vor­

ziehen.

Unmöglich konnte der Kaiser die Macht aus

der Hand geben,

so willkommene Belohnungen lediglich nach seinem Gefallen zu gewähren.

Einer planlosen Verschleuderung des Staatsgutes ist dadurch allerdings vorgebeugt — die Kaiser des ersten Hauses sind durchgängig gute Wirthe;

— aber es ist ihnen ein außerordentlicher Vorzug vor dem Senate ein­ geräumt. Regimente.

Die Armee steht dann auch im Ganzen fest zum kaiserlichen

Der Statthalter von Dalmatien, CamilluS ScribontanuS,

sucht die Bürgerlegionen zum Abfalle von Kaiser Claudius zu bewegen: „er hält ihnen das Bild des Gemeinwesens vor und verspricht ihnen die

alte Freiheit."

Die Soldaten aber „fürchten neue Verwickelungen und

Veränderungen", sie verweigern den Gehorsam und zwingen ihren General zu Flucht und Selbstmord, während Claudius in Rom schon mit seinen Freunden zu Rathe geht, ob er nicht besser thue abzudanken. — Zur

kaiserlichen Partei gehörte außerdem selbstverständlich der Kleinbürger in Rom und den Landstädten Italiens, dessen Erwerb, ja dessen Existenz von der Erhaltung des innern Friedens abhängt, der sich deshalb überall der

Macht anzuschließen pflegt, die ihm Ordnung und damit materielles Wohl­ ergehen zu gewährleisten scheint.

Diese Klasse stellt die Büste deS Kaisers

in ihren Läden und ihren Werkstätten auf und illuminirt zu Kaisers Ge­

burtstage.

Zu bedeuten hat diese äußere Huldigung für den Monarchen

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

44

wenig.

Die Gesinnung und die Kritik behielt sich der Krämer vor, und

eine wirkliche Unterstützung

in schwierigen Zeitläuften konnte dies der

Waffen entwöhnte Geschlecht nicht leisten.

Die

welche dem Kaiser

Mächte,

gegenüber

hinter dem SenatS-

regimente stehen, liegen ganz auf dem idealen Gebiete; eS wäre indessen

sehr unrichtig, sie zu unterschätzen. Republik für sich,

die dadurch

Der Staat hat die Ueberlieferung der

eben angefrischt wurde,

daß man die

augusteische Herrschaft als Wiederherstellung des alten Staatswesens be­ zeichnete und behandelte.

Und die republikanischen Ueberzeugungen waren Selbst in der Armee, die ja immer

im ganzen Reiche weit verbreitet.

noch zum größten Theile aus Bürgern bestand, bricht sie hier und da Nach CaligulaS Ermordung halten die sog. städtischen Cohorten

hervor.

zum Senate „um die Gemeinfreiheit in Anspruch zu nehmen".

Als sie

die rathlose Zerfahrenheit des Adels bemerken, lassen sie ihn im Stiche.

Und doch steht diese Truppe unter dem Befehle des Polizeipräfecten, der recht eigentlich der Träger des kaiserlichen Regimentes in der Stadt ist.

Vor allem aber ist die republikanische Gesinnung die herrschende in Rom Man nahm hin, was die Kaiser Gutes brachten, man hatte da­

selber.

bei aber stets den Hintergedanken, die unbequeme Herrschaft abzuwerfen,

wenn sich Gelegenheit böte.

Denn daß man ohne sie fertig werden konnte,

davon war man durchdrungen.

der

neuantretende Herrscher

alten Institutionen erneuert.

Jedesmal jubelt das Volk auf, wenn

die republikanischen Formen

oder gar die

Selbst der Kaiser Claudius, den man bis

jetzt nur als halbblödsinnigen stammelnden Stubengelehrten gekannt und

wohl auch gelegentlich verhöhnt hatte, erwirbt sich in kürzester Zeit durch den demokratischen Anstrich seines Auftretens die größte Liebe und Zu­

Als sich das Gerücht verbreitet, er sei auf einer

neigung des Volkes.

Reise umgebrachl, ist alle Welt bestürzt.

rather, der Senat

Die Soldaten werden als Ver-

als Mithelfer beim Morde mit den ärgsten Ver­

wünschungen bedroht, bis man sicher erfährt, daß der Kaiser lebe und bald eintreffen werde.

Tiberius allein wird nicht mit Freuden begrüßt;

er ist ein viel zu stolzer Aristokrat und zu sehr praktischer Staatsmann, um sich auf die demokratischen Albernheiten einzulassen.

Dafür erzählt

man sich im Volke, sein früh verstorbener Bruder Drusus habe die Re­

publik

wieder Herstellen wollen,

Augustus verrathen.

Tiberius

aber habe den Plan dem

Daher rührte vorzugsweise die große Popularität

des GermanicuS, daß man glaubte, er fei ebenso gesinnt, wie sein Vater DrusuS.

An CatoS Andenken hing daS Volk wie der Adel.

DaS Auf­

treten Thraseas gegen Nero, obwohl eS zahm genug war, verglich man

mit Catos Opposition gegen Cäsar.

Man laS den Reichsanzeiger genau

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

45

in den Provinzen, im Heere, um zu erfahren, „was Thrafea nicht ge­

than", d. h. wo er sich wieder der Theilnahme an einem thörichten Be­

schlusse

des

Senats

„freiwillige Abwesenheit"

durch

entzogen

hatte.

Seinen Anklägern erschien schon dies nicht mit Unrecht als eine Gefahr für den Kaiser.

Die republikanischen

Gesinntingen im Volke werden genährt und

bestärkt durch die Litteratur,

beherrscht und

welche die Senatspartei fast ausschließlich

meisterhaft handhabt.

Die Dichter lind Prosaiker der

ersten Kaiserzeit werden in der ganzen Welt gelesen und bewundert.

Be­

kannt ist, wie ein Spanier aus Cadix eigens nach Rom kam, um den

Livius zu sehen,

und nachdem er ihn gesehen,

sofort wieder abreiste.

Diese Schriftsteller aber predigen die Republik nicht etwa mit ausdrück­

lichen Worten; wenige sprechen ihre Abneigung gegen das Kaiserthum so

unverhohlen aus, wie Lucan.

Aber alle verweilen mit Vorliebe bei der

guten alten Zeit, wo die Menschen derber, aber edler, die Verhältnisse

ursprünglicher, aber sittlicher waren.

Der Zug sanfter, stiller Wehmuth

und entsagender Sehnsucht nach der unwiederbringlich verlorenen Freiheit,

welche durch diese Litteratur hindurch geht, packt den Leser mächtiger, als unmittelbare Mahnungen.

Richt das Aufstellen

erreichbarer politischer

Ziele, sondern das Vorhalten und Ahnenlassen unbestimmter Ideale wirkt

auf das Gemüth der Massen; wir haben dafür an Schiller das groß­ artigste Beispiel.

Ein Werk, wie die Geschichte des Livius, mit seiner

schwärmerischen Begeisterung für die Helden und die Zustände der Re­

publik

mußte

allenthalben zündend

einschlagen.

Selbst gut kaiserliche

Schriftsteller, wie Velleius und Valerius Maximus, können sich dieser all­

gemeinen Strömung nicht ganz entziehen.

Sie nehmen die Dinge im

Wesentlichen so an, wie die republikanische Ueberlieferung sie festgestellt

oder zurechtgemacht hatte.

Cäsars Vorläufer, die Gracchen, sind ihnen

Revolutionäre, und Sulla, der Vorkämpfer des Adels, ein Held wie Scipio, abgesehen von den blutigen Aechtungen, die ein würdiger Gegen­

stand rhetorischen Abscheues sind. So von den Kaisern thatsächlich in die zweite Stelle zurückgedrängt,

hatte der Senat zwischen zwei Wegen seines politischen Verhaltens die Wahl.

Er konnte zuerst die Verfassung ehrlich annehmen und die ihm

darin zugetheilte Rolle gehörig durchführen.

Damit hätte er der Ge­

sammtheit den besten Dienst geleistet, und sich immer noch einen weit­

gesichert.

Italien,

das Weichbild

RomS, hätte er, wie Nero' sagte, vollständig beherrscht.

Und Rom be­

gehenden Einfluß

deutete damals noch alles.

Denn

Rom und

Daß ein Kaiser

außerhalb der Hauptstadt

ausgerufen werden könne, war ein „RegierungSgeheimniß", das die Welt

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

46

erst beim Sturze des jütischen Hause- errieth.

In der That, die Art,

wie Claudiu-, der stadtkundige Schwachkopf, von einem gemeinen Sol­ daten au- dem Verstecke hervorgezogen, von der Garde auf den Thron gesetzt und sofort im ganzen Reiche anerkannt wird, zeigt deutlich, daß

die Geschicke des Erdkreise- von einer Minderheit

wurden.

in Rom bestimmt

Cäsar hatte freilich schon die kühne Absicht gehabt, Rom zur

ersten unter den gleichen Städten herabzudrücken.

Aber, wie so manche

seiner vorgreifenden Ideen, ließ sein Nachfolger auch diese fallen, und die Hauptstadt bleibt auf lange hinaus die „goldene, ewige".

Die andere Möglichkeit für den Adel war, den Kampf mit dem

Kaiserthume aufzunehmen, sich zur formalen die materielle Gleichstellung

zu erobern, und im günstigen Falle die volle Herrschaft wieder zu ge­

winnen.

Der Kampf wäre nicht- weniger al-

wenn auch langwierig und wechselvoll.

aussichtslos

gewesen,

Da- zeigt sich darin, daß sogar

bei der Haltung des Senats, wie sie wirklich war, dennoch die Ent­

scheidung wiederholt von ihm abhing.

Der Einfluß des Senats auf den

höchsten Beamten wurde zu allen Zeiten nicht durch Gesetze bestimmt, sondern war fast vollständig ein moralischer.

den

Er hatte Rath zu ertheilen,

der Magistrat befolgen mochte, nur in Ausnahmefällen befolgen

mußte.

Aber der Senat der Republik hat die Jahresbeamten sich ge­

fügig zu machen gewußt; sie sind lediglich die Werkzeuge, durch welche die herrschende Gesellschaftsklasse den Staat regiert.

Schon in republi­

kanischer Zeit haben die Consuln sich oft genug nicht unterwerfen wollen; in der Blüteperiode der Oligarchie ruft einmal der Consul dem Rathe zu: Ihr seid nicht dazu da, mir Befehle zu ertheilen, sondern ihr habt meinen

Anweisungen zu gehorchen.

Es hing eben von Umständen und Persön­

lichkeiten ab, welcher von beiden Factoren den maßgebenden Einfluß übte.

Die Mittel des lebenslänglichen Kaisers, den Senat sich botmäßig zu

machen, waren begreiflich viel bedeutender, als die der jährlich wechseln­ den Consuln.

Allein auch der Kaiser kann durch die öffentliche Meinung

oder seine persönliche Ueberzeugung in anderem Siune bestimmt werden. Deshalb kam es darauf an, beide für sich zu gewinnen.

Und da- konnte

man nur durch eifrige Theilnahme am Staatsleben, durch den wirklich

geführten Nachweis, daß man nützlich, nothwendig, unentbehrlich sei. Welche Haltung man wählen mochte, ob man auf den kaiserlichen Plan einging oder den Kampf versuchte, immer blieb die Voraussetzung jedes Erfolges die aufrichtige und verständige Thätigkeit für das Gemein­ wesen.

Zu einer solchen aber war der Adel nicht mehr fähig.

Es be­

währte sich der Satz: je mehr ein Adel an weltmännischem Schliff ge­

winnt, desto mehr verliert er an staatsmännischem Schneid.

Die Selbst-

Die ersten römischen Kaiser, der Adel nnd die Staatsverwaltung.

47

verläugnung vor allem fehlte, ohne die jede politische Wirksamkeit, be­ sonders aber jede gedeihliche Selbstverwaltung unmöglich ist.

Um der

Sache, um der Allgemeinheit willen hätten sie lernen, sich mühen, auf

Verbesserungen sinnen müssen.

Aber die adlichen Herren hatten nur sich

und ihren Genuß im Auge und die goldene republikanische Zeit, in der

sie Alles gewesen waren. Ebensowenig

aber besaßen sie noch die weiteren Eigenschaften zu

einer aussichtsvollen Opposition:

den Muth sie zu beginnen, die Zähig­

keit sie festzuhalten, die Gedanken sie fruchtbar und populär zu machen.

Wo es galt, mit der eigenen Person einzutreten, wie nach dem jähen

Ende CaligulaS, da empfinden viele Senatoren eine unbezwingliche Sehn­

sucht nach der Landluft:

mit der „Freiheit" sei eS ja doch nichts.

Sie

hielten eS für besser, urtheilt ein Fremder über sie, als Sklaven unbe­ droht und unangefochten in träger Muße hinzudämmern, als der Väter

Ruhnie nachzutrachten, wenn sie auch das Leben auf'S Spiel setzten.

Da­

her schlug die frondirende Rathsmehrheit einen bequemeren Weg ein, der

den Vorzug völliger Gefahrlosigkeit hatte.

Sie macht dem Kaiser gar

keine Schwierigkeiten bei der Berathung neuer Einrichtungen unter dem

einleuchtenden Vorwande, er könne ja doch durchsetzen, was er wolle.

eS angeht, wird das dem Imperator unverhohlen

Wo

in'S Gesicht gesagt.-

Ich würde widersprechen, aber eS hilft ja nichts, heißt es dem Augustus

gegenüber.

Sag du doch deine Meinung, Cäsar, damit man weiß, woran

man ist, bekömmt Tiberius zu hören.

Freimuth.

Das gilt dann noch für edelen

Hinterdrein rächt man sich durch bitterböse Epigramme und

nach dem Tode deS Kaisers in der Geschichtschreibung.

Seneca höhnt,

die Parce habe den Lebensfaden des Kaisers Claudius durchgeschnitten,

ehe er allen Barbaren das Bürgerrecht verleihen konnte; damit doch ein

Paar Provinzialen zur Erhaltung des Stammes übrig blieben. Maßregel,

auf die sich dieser Spott bezieht,

war

Die

der Vorschlag deS

Kaisers, die Gallier seiner Geburtsstadt Lyon und ihrer Umgegend in daS römische Bürgerthum aufzunehmen.

Und als er im Senate einge­

bracht wird, da erhebt sich nicht Eine Stimme dagegen, so laut man vorher in den Salons gewesen war.

Mit vollem Rechte hält ein hervor­

ragender Redner, der kaiserlichen Partei unter Nero dem Führer des Se­ nates vor:

er solle doch sagen, was er gebessert und geändert wünsche;

eS sei leichter zu ertragen, wenn er einzelnes bekrittele, als wenn er sich in Schweigen hülle und so den Anschein erwecke, er sei mit nichts ein­

verstanden.

Es ist

eben eine unfindbare und

zu bekämpfende Opposition.

darum unendlich schwer

Sie gleicht einer jener schillernden Quallen,

die bei ruhiger See sich hervorwagen:

von Weitem glitzern sie in hüb-

48

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

schem Farbenspiele und täuschen das Auge, als ob sie ein selbständiges Leben hätten.

Faßt man aber zu, so zerfließt und verschrumpft das Ding

zu einem häßlichen Nichts und nur ein leises Brennen in der Hand zeigt an, daß es gewesen.

Vergeblich suchen wir aus den Schriften und Ge­

dichten dieser Legitimisten üns ein Bild von dem zu machen, was sie po­ sitiv erstrebten.

Nur die Negation, daß sie das Kaiserthum nicht wollen

oder doch nicht den gerade regierenden Kaiser, tritt deutlich hervor.

Keine

Opposition aber pflegt selbstbewußter und anmaßender sich zu geberden, als die, welche bloß verneint.

kraten nicht gelangen.

Und zu einer Position konnten die Aristo­

Denn sie waren einer Reaction verfallen, die je­

des politischen Gedankens baar ist;

sie hielten mit träger Starrheit fest

an den republikanischen Institutionen, sie hoben als Muster und Vorbild

den jüngeren Cato auf den Schild: den du (Rom), ruft der jugendliche

Lucan,

den du,

wenn du einmal dein Joch von dem Nacken geschüttelt,

heute, dereinst zum Gotte erhebst.

DaS war eine verhängnißvolle Wahl.

Denn bei Cato beruht die spröde Abweisung aller Neuerungen durchaus nicht auf einem klar durchgeführten Grundprtncipe, sie ist wesentlich mit­

bedingt durch sein Temperament und seine Langsamkeit im Denken und

Begreifen.

Hatte er sich einmal mühselig in eine andere VorstellungS-

weise hineingearbeitet, so konnte er die Neuerung eifrig befürworten und in's Werk setzen, wie seine versuchten Reformen im Finanzwesen darthun.

Bei den Republikanern der Kaiserzeit aber wird eS Grund- und Glaubens­ satz, daß nichts geändert werden durfte und darf, und dieses Dogma über­

hebt die gescheiten. Menschen des Nachdenkens über politische Dinge und

vor allem

über

ihre eigene staatsmännische Befähigung.

Nur solche

Satzungen ließ der große Jurist Labeo als verbindlich gelten, welche im alten, d. h. im republikanischen Staatsrechte anerkannt waren.

Ja man

ging noch weiter und beugte sich unter allen Umständen vor der höheren Weisheit der Vorfahren.

Im Jahre 61 wurde ein vornehmer Mann von

seinen Sklaven ermordet.

Die alte Sitte wollte in solchem Falle die

Hinrichtung sämmtlicher Sklaven, die zur Zeit deS Mordes im Hause gewesen waren.

Im Volke, selbst im Senate erhoben sich Stimmen gegen

diese zwecklose Grausamkeit.

Da setzte eS der Führer der Adelspartei,

der. berühmte Jurist C. CassiuS, ein Enkel des Befreiers, durch, daß eS beim alten bleibt und die 400 Sklaven getödtet werden. Er zweifle nicht,

beginnt er seine Rede, daß früher in allen Stücken bessere und gesundere Ordnungen festgestellt seien, als heute.

Der Adel begab sich also gewissermaßen aus Grundsatz des Rechts politisch mltzuthun und daher mitzuzählen. Die Unbeweglichkeit CatoS

ahmte man vortrefflich nach,

aber weislich hatte man seiner Mahnung

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

49

vergessen: nicht um Ruhms und Gewinnes willen, nicht mechanisch und

wie eS gerade passe, dürfe man die öffentlichen Geschäfte treiben; der

gute Bürger müsse am Staate bauen, wie die Biene an der Wabe. so

geräth

die

altrepublikanische

Berwaltungsmaschinc

Und

allmählich

in's

Stocken und versagte endlich auf allen Punkten.

Einige von den ärgsten Nebelständen hatte die Einsicht der älteren Robilität bereits thatsächlich beseitigt, andere erledigten sich factisch oder­

rechtlich durch die Neuordnung des Augustus.

Bor allem half der Un­

erfahrenheit der Beamten die im römischen Leben ganz allgemein herr­

schende Sitte ab, vor wichtigen Entscheidungen den Rath sachverständiger Freunde zu hören.

Aber freilich, diese Auskunft war gerade an der be­

denklichsten Stelle, bei der Finanzverwaltung, unanwendbar.

versuchte dadurch zu bessern,

Augustus

daß er die Aufsicht über den Staatsschatz

älteren, gewiegteren Magistraten übertragen ließ. — Das Verbietungsund Einspruchsrecht gleichstehender und übergeordneter Beamten gegen die

Collegen hat auch zur Zeit der Republik nur ausnahmsweise eine große Bedeutung gehabt.

Die Handlung gegen das Verbot war nicht ungiltig,

sie zog nur die angedrohte Geldbuße nach sich.

Diese ließ sich ertragen,

oder noch einfacher: der Vollzug der Strafe oder der Hochverrathsproceß wegen Nichtbeachtung des Einspruches,

wurden wieder durch Einspruch

gegen die Anklage oder die Vollstreckung des Spruches abgewendet.

Die

Befugniß der Tribunen, im weitesten Umfange die Verwaltung zu hindern, ist äußerlich unbeschränkt in die neue Ordnung übernommen; das Inter-

cessionsrecht ist auch unter der Monarchie bald für, bald gegen den Kaiser­

wiederholt geübt. drückte naturgemäß

Aber der Kaiser selbst hatte die Tribunengewalt: auf seine Amtsgenossen.

Man war deshalb

er­

be­

scheiden; man begnügte sich, einen Rathsschluß abzuändern, der Schau­ spieler wegen Ausschreitungen auf der Bühne mit Prügeln bedrohte, oder einen andern zu verschärfen, der Wahrsager und Zauberer Landes verwies

rind die Geisterseherei rmtersagte.

Die Provinzialverwaltung wurde, wie

schon hervorgehoben, nicht erheblich geändert.

Wirklich war auch eine durch­

greifende Besserung nicht möglich, so lange man die Provinzen rechtlich als

Staatsdomäne oder fürstlichen Besitz ansah und das heillose System der Steuerverpachtung beibehielt.

Thatsächlich kommen dennoch die Provinzen

in einen leidlichen Zustand: denn die Steuern wurden genauer bestimmt,

die Oberaufsicht über die Statthalter strenger gehandhabt und vor Allem

begann sich allmählich eine Annäherung, Ausgleichung und Vermischung

von Italienern und Provinzialen zu vollziehen oder doch anzubahnen.

Unberührt von der Neuordnung der Dinge blieb die eigentliche innere Civilverwaltung: die Finanzverwaltung, die Rechtspflege lind das Preußisch« Jahrbücher. Bd.XI.VI. Hefti.

4

50

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

weite Gebiet der Polizei.

Das sind

die Geschäfte der Prätoren,

die

eigentlich Gerichtsherren, seit Augustus auch die Staatskasse (aerarium) unter sich haben, und der Aedilen, denen die „Stadtpflcge" (cura urbis)

obliegt und

die man nicht recht passend Polizeimcister

nennen könnte.

Das Consulat wird immer mehr zu bloßer Ehrenstellung, ohne besondere

ihm zugewicsene Pflichten.

Die Consuln sind als Vorsitzende deö Senats

vorzugsweise Repräsentanten des Staates nach Außen und bleiben immer nur einige Monate im Amte.

Das Finanzwesen des Staates, sagt Tacitus, ist verschiedenartig be­

handelt und hat mehrfach seine Gestalt gewechselt, d. h. die Verwaltung der Staatskasse ist bald von dem, bald von jenem Beamten geführt.

Die

Kaiser versuchten eben auf mannigfache Weise Ordnung in die adliche

Wirthschaft zu bringen.

Denn die „Herrschaft über Einnahmen und Aus­

gaben" ist in der republikanischen Zeit die Hauptquelle des Senatsein­ flusses und der Mittelpunkt der Scnatsallmacht.

Daher haben die Kaiser,

bis in's dritte Jahrhundert rechtlich nicht an diese Grundlage der Mit­

regierung deö Rathes gerührt, sie stehen sogar lange an, auch nur that­

sächlich ihm die Macht zu entwinden und ihn hier auf die formale Gleich­

stellung zurückzndrängen.

Indessen sie experimentirten vergeblich: es war

auf diesem Wege nicht zu helfen. meister sich nicht:

Die Prätoren bewährten als Schatz­

das Loos, sagt Tacitus milde, verirrte sich auf unge­

eignete Persönlichkeiten, d. h. die republikanische Tradition der leichtsinnigen Wirthschaft erhielt sich «»geschwächt.

Die zahlreichen Verdingungsverträge

des Staats mit Lieferanten und Unternehmern verschiedenster Art wurden lüderlich abgeschlossen, die Rechnungen und Belege nicht gehörig aufbe­ wahrt.

Es scheint, daß sogar die Hauptbücher (tabulae publicae) in

Unordnung gerathen und zum Theil verloren gegangen waren; sie mußten

mühsam durch eine eigene Commission wieder hergestellt werden.

Die

fälligen Staatsforderungen an Private wurden nicht gehörig eingetrieben; Claudius veranlaßte deshalb die Wahl einer eigenen Behörde zur Ein­ ziehung rückständiger Schulden.

Erklärlich genug: kam es doch vor, daß

ein Schatzmeister, der schärfer vorging, von einem Tribunen altrepubli­

kanischer Schule, dem berühmten Helvidius Priscus,

im Senate ange­

griffen wurde, weil er „unnachsichtig gegen die armen Leute" sei.

Claudius

suchte dadurch zu bessern, daß er die alten Schatzmeister (Quästoren) wie­ der einsetzte, sie drei Jahre im Amte beließ und zugleich, recht bezeichnend, sie durch Aussicht auf Belohnungen zu

spornte.

sorgfältiger Amtsführung

Auch so ging eS auf die Dauer nicht:

an­

Nero übertrug die Fi­

nanzen endlich zwei Schatzpräfekten, die er, nicht wie bisher der Rath,

aus den älteren Senatoren auswählte.

Nach römisch staatsrechtlicher Vor-

51

Die ersten römischen Kaiser, der Adel nnd die Staatsverwaltung.

stellung sind diese nun vom Kaiser beauftragte; daher führt er über sie die Aufsicht und entscheidet gegen sie eingelaufene Beschwerden.

Mittel­

bar und thatsächlich also — das wird man nicht läugnen dürfen — steht

seitdem die Staatskasse dem Kaiser zur Verfügung. Ein vollständiges und klägliches Fiasko machten die Aedilen bei Ver­

waltung der

wichtigsten Zweige eine schwierige.

Stellung hier

In der That war

der Polizei.

ihre

Die Polizei muß, namentlich in einer

Weltstadt, wenn sic wirksam sein soll, eine gewisse diskretionäre Gewalt

haben, deren Umkreis durch Rechtsnormen niemals so genau beschrieben

werden kannte, daß nicht Uebcrgrisfc möglich,

ja unter Umständen im

Interesse des Ganzen, wenn nicht wünschens-, so doch Wagenswerth wären. Eben darum ist das Institut dem strenggläubigen Anhänger einer „freien Verfassung" an sich ein Greuel; die Republik kannte es gar nicht.

Nun

brauchte man es und forderte von den Aedilen das unvereinbare:

Ord­

nung zu halten in einer Großstadt und doch die engen constitutionellen

Formen nicht zu verletzen.

Vor allem vermochten sie ohne genügendes

Hilfspersonal nichts zu leisten.

Für Instandhaltung der Straßen, das

Feuerlöschwesen, die Criminalpolizei gab es wohl jugendliche senatorische Unterbcamte.

Aber die Mannschaft fehlte, die halbmilitärisch organisirt

dem Polizeimeistcr zur Verfügung stehen muß.

geboten.

Reformen waren dringend

Allein der Senat hat unseres Wissens auch nicht einmal den

Versuch gemacht, auf irgend einem Punkte die bessernde Hand anzulegen.

Was wir unter der Bezeichnung Wohlfahrtspolizei zusammcnzufasscn gewohnt sind, fällt nach dem öffentlichen Rechte der republikanischen und

der ersten Kaiserzeit zum größten Theile überhaupt nicht in den Kreis der StaatSthätigkeit.

So war die Sorge für Unterrichts- und Armenwescn,

die Gesundheitspflege, die Herstellung

von Verkehrsmitteln ganz

dem

Unternehmungsgeiste Privater überlassen; höchstens eine Ueberwachung des Handels in Bezug auf richtiges Maß und Gewicht, durch Verbot von Waaren fand statt; nicht eine Förderung von Landwirthschaft, von Ge­

werbe und Industrie.

Nur die Sitten- und Straßenpolizei ward von den

Aedilen mit umfassender Befugniß gehandhabt.

Und zugleich war ihnen

eine specifisch römische Aufgabe überwiesen, die schon in republikanischen

Zeiten eine wichtige Staatsangelegenhenheit geworden war: gung der Hauptstadt mit Brotkorn.

die Versor­

Der Getreidebau Italiens lag gänzlich

darnieder; man mußte den Weizen aus Sicilien, Sardinien und Aegypten

holen; er wurde dann zu mäßigem Preise oder ganz umsonst an die Be­

dürftigen ausgegeben.

Allein den Aedilen waren keine öffentlichen Gelder

zur Verfügung gestellt, und dadurch natürlich besondere Schwierigkeiten

geschaffen.

Hier wäre offenbar eine günstige Gelegenheit für den Senat 4*

52

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

gewesen nicht bloß wirklich Glites zu stiften, die ärmeren Klassen vor den

Kornwucherern lind der regelmäßig wiederkehrcnden Hungersnoth systematisch zu schützen; sondern auch durch umsichtige Maßregeln das Volk dem Adels-

regimente günstig zu stimmen.

Allein man fand das Mittel nicht:

gerostet in der Ueberlieferung ließ man die Dinge weiter gehen. freilich gehörte zu einer Besserung vor allen Dingen Geld.

ein­

Und

Daran aber

fehlte es der Staatskasse bei der adlichen Finanzwirthschaft fortdauernd.

So entstaub bei einer Theurung im Jahre 22 ein Aufstand; dem Augustus

wurde vom Volke unumschränkte Machtvollkommenheit

angetragen,

der

Senat im Rathhalise eingesperrt und genöthigt, sich anzuschließcn. Augustus

lehnte die Dictatur etwas theatralisch ab; aber er übernahm die Ober­ leitung der Kornzufuhr und seitdem kam alles in bessere Geleise.

Die Polizeidienstc, welche die vornehmen Herren

sonst zu leisten

hatten, waren allerdings theilweis recht niedriger Art aber sie waren sehr nützlich für das städtische Gemeinwesen: so vor allem die Reinigung der Straßen und die Sorge dafür, daß der Verkehr nicht gehemmt werde.

Bei der Enge der Wege, der unvertilgbaren Neigung der Bevölkerung mit Buden und Werkstätten vor die Häuser vorzurücken und die Straße als geeigneten Ort zrlm Arbeiten oder zur Aufstellung von

allerhand

Geräth oder zur Ablagerung von llnrath zu betrachten, war hier der kleine Krieg verewigt.

Caligula ließ einmal den Schmutz, den er in einem der

zahllosen Winkelgäßchen Roms entdeckt hatte, durch Soldateit dem Aedilen

Vespasian in die Brusttasche der Toga füllen.

Es war einer seiner vielen

Straßenjungenstreiche; aber er traf unzweifelhaft einen schwachen Punkt.

Später als Vespasian Kaiser geworden war, deutete man die Geschichte,

doch wohl ironisch, als Vorzeichen künftiger Größe:

Caligula habe Rom

dem Vespasian als seinem künftigen Schirmherr« selber ans Herz gelegt. Die derbe Mahnung ward nicht befolgt, Rom blieb schmutzig und un-

passirbar; die höchsten Staatsbeamten mußten auf dem Fahrdamme im tiefen Kote waten, weil das Trottoir versperrt war.

Erst Domitian

brachte Abhilfe. Die engen Gassen, die zahlreichen hölzernen Vorbauten und Erker

machten erklärlicherweise jeden Brand, der leicht genug entstehen konnte,

im höchsten Maße gefährlich.

Auch hier — wir kommen damit auf das

Gebiet der Sicherheitspolizei — sollten die Aedilen eingreifen.

Seit

Augustus haben sie das Feuerlöschwesen, es war ihnen eine Anzahl von

Sklaven zur Verfügung gestellt.

Ihre Mittel aber waren völlig unge­

nügend; die Selbsthilfe mußte daher im weitesten Umfange zugelassen und begünstigt werden; es war gestattet, das Nachbarhaus niederzureißen,

um durch die entstehende Lücke das eigene zu sichern.

DaS Volk war für

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung

53

jeden Schutz dankbar, der ihm gegen das Feuer gewährt wurde. Als im Jahre 26 der Aedil Egnalius NufuS bei mehreren Feuersbrünsten erfolg­

reich Hilfe geleistet hatte, berühmte er sich in einem öffentlichen Anschläge, er übergebe die Stadt heil und unversehrt seinem Nachfolger. Und das Bolk beschloß, ihm seine Auslagen zu ersetzen, und wählte ihn außer der Reihe zum Prätor. Der Senat beachtete diesen deutlichen Wink nicht. Augustus verstärkte die Löschmannschaft, dennoch gelang es nicht, Ordnung und Wandel zu schaffen.

Der Kaiser mußte endlich eine mili­

tärisch organisirte Feuerwehr einrichten mit einem besoldeten, von ihm ernannten und ihm verantwortlichen Brandmeister (praefectus vigilum) an der Spitze.

Dieser übernimmt da>m auch die Sorge für die nächtliche

Sicherheit der Stadt. Damit verbindet sich in Folge des naturgemäßen Schwergewichtes eines solchen unbegrenzbaren Amtes sehr bald erst die Möglichkeit, dann die Befugniß, Diebe, Einbrecher und Ruhestörer

summarisch abzustrafen. Zunächst handelt es sich dabei gewiß nur um ertappte Sklaven und freie Herumtreiber niedrigster Gattung. Indessen das Princip der republikanischen Verfassung ist verletzt, ein Ausnahme­

gericht ist begründet. Noch viel bedeutender war aber die Umgestaltung, die sich an die

Einsetzung eines kaiserlichen Polizeidirectors in Rom anknüpfte, sie schnitt deshalb den Verfassungstreuen besonders tief ins Herz. Selbst Messalla Eorvinus, der dem Augustus persönlich so nahe stand, weigerte sich das Amt zu behalten, weil es unconstitutioncll sei. Und als L. Piso unter

Tiberius den Posten endgiltig übernahm und lange Jahre musterhaft ver­

waltete, da vergalt ihm der Oppositionswitz durch daö liebenswürdige Märchen: Tiberius habe als Censor ihn zwei Tage und eine Nacht lang im Trinken geprüft; darum nenne er ihn auch im Anstellungspatente mit Recht seinen zu allen Stunden bewährten Freund. Und doch ließ sich ohne eine solche Behörde mit weitgehender Befugniß das überall her nach Rom zusammenströmende Gesindel, das freie und unfreie Proletariat der Weltstadt nicht im Zaume halten. Die sinkende Republik hatte die umherziehenden Fechterbanden fast zu einer Staatsinstitution werden lassen. Zerstörung fremden Eigenthums mit einem bewaffneten Haufen wird zwar mit vierfachem Ersätze gebüßt, ist aber ein ehrliches Verbrechen, denn es ist ein adlicheV Vergnügen. In der Stadt nahm die nächtliche Unsicher­ heit so gewaltig zu, daß nur bündiges Verfahren gegen die Uebelthäter

und strenger Wachtdicnst helfen konnten. Der Senat that keinen Schritt der Noth abzuhelfen; bei genauer Beobachtung des republikanischen Staats­

rechtes ließ sich in der That wenig oder nichts erreichen.

Dem neuen

Präfecten wird vom Kaiser „die Stadt anvertraut", er wird ihr zum

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

54

Hüter (custos urbis) bestellt; er hat also für Ruhe, Sicherheit und Ord­ nung im allerweitesteil Sinne zu sorgen.

Der Doktrinarismus machte

aber geltend, der Bürger werde dadurch seinem ordentlichen Richter ent­

zogen.

Er hatte vollkommen Recht:

durch den Polizeipräfecten ist das

alte Strafverfahren ans den Angeln gehoben.

Von der Polizeiverwaltung

ist eine gewisse Eriminalgerichtsbarkeit nach römischer Anschauung,

überall

gar nicht zu trennen.

rechtliche Gestaltungen auSprägt,

die Der

Präfect zieht vermöge seiner unbestimmten Machtvollkommenheit die ver­ schiedensten

Strafsachen

daneben gleich

an

Die

sich.

berechtigt bestehen.

zuerst einschreitet, hat die Entscheidung.

dlirchgängig der nächste dazu.

alten

Schwurgerichte

Welcher von beiden

blieben

Gerichtshöfen

Begreiflich ist der Polizeipräfect

Und der durch das Verbrechen Geschädigte

wendet sich lieber mit einer Denuntiation an ihn, wo das Verfahren ein schleuniges ist, als mit einer Anklage an den Prätor.

So ist denn der Prätor auf die Civilrechtspflege beschränkt,

diese

aber war schon in republikanischer Zeit die glänzendste Seite des AdelSregimenteS.

Auf diesem vom praktischen Staatsleben abgekehrten Gebiete

zeigte es sich, welche Kräfte noch in der Aristokratie verborgen liegen. Die alten Formen deS Verfahrens blieben bestehen, sie werden aber sach­ gemäß weiter gebildet.

Und daran schließt sich eine unerschöpfliche Fülle

praktischer und theoretischer Erörterungen, die das Recht immer feiner und

geschmeidiger ausarbeiten, ihm immer mehr die nationalen Ecken

und Kante»

abschleifen, eS immer mehr als ein nnmittelbar aus der

Vernunft und der Natur der Sache geschöpftes erscheinen lassen.

Voran

geht hier derselbe Labeo, der int öffentlichen Rechte keine Neuerung dulden

wollte; im Privatrechte warf er mehrfach bestehende Anschauungen ziem­ lich unsanft bei Seite.

kratischer Namen.

Ihm folgt eine lange Reihe berühmter aristo­

Aber die fruchtbare Thätigkeit der Nobilität hier konnte

keinen Ersatz bieten für ihre Unfruchtbarkeit in den übrigen Zweigett der

Staatsverwaltung. trales.

Das Gebiet der Privatrechtswissenschaft ist ein neu­

Darum treffen dort im Laufe der Zeit Adel und Ritterschaft

zusammen, und es erwächst aus ihrer Vereinigung der später in Rom

herrschende Stand der kaiserlichen Beamten. Damit es aber klar unb vor aller Welt unwiderleglich festgestellt

werde, daß der Adel allem Antheile an der Herrschaft entsage, daß die Monarchie in Rom legitim, weil die allein mögliche Regierungsform sei,

so kam wirklich der Augenblick,

von welchem Lucan geträumt und ge­

dichtet hatte, das Jahr 68, „heilig der Welt, der es die Freiheit verhieß":

Die Nevolutioit, welche mit dem Untergange der ersten Kaiserdhttastie begann und damit endigt, daß ein Mann der Senatspartei von uraltem

55

Die ersten römischen Kaiser, der Adel und die Staatsverwaltung.

Adel wider seinen Willen zum Alleinherrscher erhoben wurde.

Von dem

aquitanischen Fürstelienkel und römischen Senator Bindex geht der Anstoß

aus, die unerträgliche phantastische Tyrannei Neros abzuwerfen und die Republik, d. h. das volle Senatsregiment wieder herzustellen.

Alle Ge­

nerale in den westlichen Provinzen schließen sich an, sie lehnen bestimmt das Principat ab; sie lassen Geld prägen in republikanischer Weise mit

dem behelmten Haupte der Roma.

kein Widerstand zu erwarten.

Von den Generalen im Osten ist

Die Truppen freilich sind nicht ganz ein­

verstanden; aber sie rücken doch mit ihren Feldherren nach Italien vor. Nero giebt sich

mit Recht verloren.

Verstecke den Beschluß

Und nachdem

er noch in

seinem

des Senates gelesen, der ihn absetzt, stirbt er

unwürdig, wie er gelebt.

Der Senat hat die Entscheidung in der Hand.

Sie wird ihm nicht entrissen, es ist kein Widerstreben bemerkbar, sie ent­ gleitet ihm, weil er den Entschluß nicht findet, die Hand zur Faust zu ballen.

Nero,

Ein

kecker Gardeofsicier bestimmt seine Leute,

dem sie bis dahin treu geblieben sind,

an Stelle

des

einen der aufständischen

Generale, den S. Sulpicius Galba, den ältesten und vornehmsten, zum

Kaiser auszurufen.

Als der Senat von dem Beschlusse dieser 7000 Mann

benachrichtigt wird, fügt er sich, ohne ein Wort der Widerrede.

wird als Kaiser bezeichnet und

Galba

nimmt die Würde an, willig mit un­

willigem Gemüthe.

Es ist eine erschütternde Tragödie, wie sich an dem stolzen, hoch­

begabten Hause des Augustus das Weltgericht vollzieht, wegen der Zer­ störung der legitimen Republik und wegen all der blutigen Narrheit, die eS in einem Jahrhundert aufgehäuft hat,

wie es mit seinem vielleicht

geistvollsten, jedenfalls ungeheuerlichsten Sprossen in Schmutz und Graus erlischt.

Aber nach der schneidenden Ironie der Weltgeschichte fehlt dem

Trauerspiele nicht das halb possenhafte Satyr-Nachspiel: wie die römische

Aristokratie den

günstigen Augenblick

verpaßt, und

in der

thörichten

Einbildung, sie habe ihre Hoffnungen und Entwürfe für eine gelegenere

Zeit klüglich aufgehoben, alle Aussicht auf künftige Herrschaft mit eigenen Händen zerstört und einsargt.

Ueber die Grenzen des historischen Wissens. Cedo uulli, ich weiche Niemandem.

Diese Umschrift um das Bild

des Terminus, des Grenzgottes, hat bekanntlich einer der größten Ge-

tchrten, ein Gelehrter, der zn unsrer*) Stadt in den engsten Beziehungen gestanden, Erasmus von Rotterdam, ans seinem Siegel geführt.

ES ist

Erasmus durch eine zufällige Beranlassung iu den Besitz dieses Siegels

gekommen, aber eine bewußte und richtige Einsicht hat ihn geleitet, als er sein ganzes Leben hindurch sich desselben bediente und das Bild des Terminus auch sonst, als Wahrzeichen in seiner Wohnung und auf den Titeln seiner Bücher aubringen ließ.

In der That sollten dieses Bild

und diese Worte jedem Gelehrten fortwährend vor Augen stehen, damit

er sich der festen und unabänderlichen Grenzen bewußt werde und bleibe,

die jedem Wissen und jeder Art des Wissens gezogen sind, damit er sich nicht Aufgaben stelle, deren Lösung ihm doch ewig versagt bleiben wird.

Gerade in unsrer Zeit, wo das Wissen auf allen Gebieten sich steigert und die Kraft der Forschung aufs Höchste angespannt wird, liegt die

Gefahr nahe, daß diese Grenzen übersehen werden, und die Forschung dadurch auf Irrwege geräth.

Um so nöthiger ist eS, daß jede Wissen­

schaft sich genau Rechenschaft gebe über das, waS sie leisten soll und kann, und über das, worauf sie verzichten muß.

Gestatten Sie mir da­

her, daß ich versuche, dies hier in Bezug auf die Wissenschaft zu thun,

die ich an unsrer Universität zn vertreten die Ehre habe, in Bezug auf die Geschichte, daß ich klar darüber zu werden und eS Ihnen klar zu

macheu suche, welches die Grenzen sind, die dem Wissen und damit auch aller Forschung auf ihrem Gebiete gezogen sind. Was ist Geschichte? Das Wort bezeichnet seinem Ursprünge nach

was geschieht, ist wesentlich gleichbedeutend mit Begebenheit,

Ereigniß,

es bezeichnet sodann weiter die Summe dessen, waS geschehen ist,

und

endlich die Wissenschaft, welche die Erforschung und Darstellung sowohl

der Geschichten, d. h.

der einzelnen Begebenheiten,

*) RectoratSrede, gehalten an der Universität Basel.

als auch der Ge-

Ueber die Grenzen des historischen Wissens.

57

schichte, d. h. der Folge und des Zusammenhanges jener, zum Ziele hat,

und zwar verbinden wir mit diesem Sprachgebrauch sofort eine Beschrän­

des Begriffs,

kung

indem

wir, wenn

wir von Geschichte schlechthin

sprechen, die Naturgeschichte ausschließen und nur dasjenige umfassen, den Menschen geschehen ist, was der Mensch

was durch

Wesen gethan

und was er gelitten hat,

als geistiges

denn alles Leiden ist ja auch

ein Thun. Wie werden wir in den Stand gesetzt, dem nachzukommen, was die

Geschichte

als Wissenschaft, leisten will, wie wird uns die Erforschung

und Darstellung dessen, was durch den Menschen geschehen ist, was der

Mensch geleistet hat, möglich, sei es, daß wir die Geschichte eines ein­ zelnen Menschen, sei es, daß wir die eines Volkes oder die der ganzen

Menschheit oder einen Abschnitt au6 dieser oder jener herausgreifen, zum

Gegenstände unsrer Arbeit machen? Zweierlei Quellen sind es, aus denen wir den Inhalt unsres Wissens

zu schöpfen haben:

es findet sich dieser einmal in dem, was uns als

Ergebniß der Leistungen eines Einzelnen, eines Volkes vorliegt, sodann

in dem, was uns

durch

eigene oder fremde Beobachtungen über den

Gang seiner ganzen Entwicklung, über seinen Charakter bekannt ist. Fasseil wir zunächst diese zweite Art voll Quellen ins Auge, uiib

prüfen wir,

Darstellung

inwiefern sie uns eine genaue Kenntniß und eine genaue ermöglichen.

Am sicherstell werden wir uns ohne Zweifel

auf das verlassen können, was wir selbst gesehen, beobachtet, erlebt haben. Allein eine in jeder Beziehling zllverlässige Keniltniß wird es uns nicht

geben.

Unsre eigene Beobachtung wird nie eine ganz vollständige sein,

sie wird Lücken eilthalten und wir werden, um diese Lücken auszufüllen, um unsre Beobachtungen in den richtigen Zusammenhang zu bringen, zu

einer combinirenden Thätigkeit unsres Verstandes unsre Zuflucht nehmen

oder fremde Beobachtungen einschieben, am häufigsten wohl beides zu­ gleich in Anwendung bringen.

Sodailn ist Niemand, der

behallpten

könnte, daß er in jedem einzelnen Falle richtig beobachte, ja in Dingen

des geistigen Lebens wird eine absolut richtige Beobachtung überhaupt nicht möglich sein, es wird und muß unsre Beobachtung immer an einer

gewissen Einseitigkeit leiden.

Ferner werden eine Menge von einzelnen

Zügen, und zwar in um so stärkerem Maße, je später unsre Erinnerungen schriftlich fixirt werden, dem Gedächtniß entschwinden, manche werden sich

in ihrem Zusammenhang und in ihrer Reihenfolge verschieben, unb- die unablässig thätige Arbeit des Verstandes und der Phantasie werden aus

de>l unvollkommenen

im Gedächtniß noch

festgehaltenen Resten unsrer

Beobachtungen immer neue Bilder schaffen, von denen keines vollständig

Ueber die Grenzen des historischen Wissens.

58

demjenigen gleicht, das uns im vorhergegangenen Augenblicke vorgeschwebt hat.

So unzuverlässig ist also selbst diejenige Quelle, die uns in unsern

eigenen Beobachtungen und Erlebnissen fließt.

Die Unsicherheit vermehrt sich, je mittelbarer uns die Beobachtungen zukommen, mit denen wir es 311 thun haben.

diejenigen,

die von

Den eigenen zunächst stehen

andern Personen gemacht worden sind,

aber

von

solchen, die das, worüber sie berichten, als Augenzeugen mit angesehen,

die selbsthandelnd das,

viel kommt

vor Allem

Augenzeugen an:

was sie erzählen, mit erlebt haben.

Ungemein

auf die Fähigkeit und ans den Charakter des

inwiefern ist er im Stande gewesen, genau, gewissen­

haft, unbefangen zu beobachten, und inwiefern hat er das Ergebniß seiner

Beobachtungen unverfälscht wiedergeben wollen? Nehmen wir an, eö sei

beides in höchst möglichem Grade bei ihm der Fall gewesen, so gilt eben auch hier wieder das, was wir vorhin über den Werth unsrer eigenen Beobachtungen

gesagt haben:

auch dann werden sie den Stempel des

Unvollkommenen in hohem Grade an sich tragen: zwei Berichte, von

noch so zuverlässigen Augenzeugen über dasselbe Ereigniß abgefaßt, wer­

den nie ganz übereinstimmen, sie werden bisweilen sogar in nicht unwe­ sentlichen Punkten mehr oder weniger weit auseinandergehen. — Allein wie oft ist nicht der Augenzeuge unzuverlässig, und schon die Frage, ob er

dies ist oder nicht, die in erster Linie entschieden werden muß, kann eine

überaus schwierige sei», die von dem einen Geschichtsforscher so, von dem andern anders gelöst werden wird.

In vielen Fällen sind uns die Aufzeichnungen der Augenzeugen in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht mehr erhalten, sondern nur entweder in wortgetreuen Citaten ober' in Bearbeitungen, welche unS andere über­

liefert haben.

Bei den letztern ist die Unmittelbarkeit der Mittheilung

dadurch abgeschwächt, daß der ursprüngliche Bericht schon durch die Auf­ fassung eines andern hat hindurch gehen müssen und je nach derselben eine mehr oder weniger wesentliche Umgestaltung erfahren hat.

Die er­

steren haben den Vorzug, daß sie uns die eigenen Worte und Ausdrücke

des Berichterstatters wiedergeben, allein wir erhalten sie nicht in ihrem vollen Zusammenhang, der Citirende, dessen Gedankengang ja mit dem­

jenigen deS Alitors nicht in jedem Punkte zusammenfällt, und dem die Kenntniß von Manchem, was der letztere nicht ausdrücklich erwähnt, waS ihm aber doch beim Niederschreiben vorschwebte und auf die Fassung

seiner Niederschrift bestimmend einwirkte, fehlt, läßt Manches aus, durch dessen Weglassung das, was er uns mittheilt, den Zusammenhang ver­ liert, in welchem der Niederschreibende eS aufgefaßt wissen wollte, und

beeinträchtigt unsere Auffassung der Stelle dadurch,

daß er sie unS in

Ueber die Grenzen des historischen Wissens.

59

einer Gestalt und in einem Zusammenhänge mittheilt, die seiner eigenen

Auffassung entsprungen sind. — Es ist klar, daß je mehr Zwischenglieder

zwischen der Aufzeichnung des Augenzeugen und der Aufzeichnung,

die

wir besitzen, liegen, desto mehr die erstere Gefahr läuft, ihren ursprüng­

Zu dem, was der erste Bearbeiter

lichen Gehalt umgeformt zu sehen.

von dem eigenen hinzugethan hat, kommt die Umgestaltung, welche der

zweite mit der Arbeit des ersten vornimmt, und so immer weiter.. Und

eine solche Umgestaltung wird der Stoff erfahren, auch wenn die Bear­ beiter alle mit möglichster Unbefangenheit, Treue und Gewissenhaftigkeit

einerseits und mit möglichster Sachkenntniß andrerseits vorgehen. oft kommen

aber Entstellungen vor,

und mangelhaftem

Verständniß,

aus

hervorgegangen

Wie

aus Unwissenheit

vorgefaßten Ansichten

oder aus

Parteizwecken, welche den Bearbeiter leiten.

Wir haben bis jetzt von Berichten gesprochen, die von Augenzeugen

ausgezeichnet worden und entweder in ihrer ursprünglichen oder in einer abgeleiteten Gestalt auf uns gekommen sind.

Allein in sehr vielen Fällen

kann sich unsre Kunde von Begebenheiten weder unmittelbar noch mittel­ bar auf schriftliche Aufzeichnungen von Augenzellgen stützen, sondern was

wir wissen, beruht auf mündlichen Berichten von solchen, die dann ent­ weder von einem, der sie selbst angehört hat, ausgezeichnet worden sind

oder sich wiederum in mündlicher Ueberlieferung

fortgepflanzt und erst

später ihre schriftliche Fixirung erhalten haben oder aber auch noch fortlvährelld ausschließlich in der mündlichen Ueberlieferung aufbewahrt bleiben und fortleben.

Je länger diese mündliche Ueberlieferung fortdauert, desto

mehr wird natürlich der Stoff sich umbilden.

Was bei dem Einzelnen,

der in spätern Jahren sich die frühern Ereignisse aus seinem Leben ver­ gegenwärtigt oder sie andern erzählt, eintritt, daß eine Menge von Ein­

zelheiten ihm entfallen sind, auseinanderliegende Thatsachen sich zusammenschteben und Manches sich in einem andern Zusammenhänge darstellt als der, in welchem eS sich wirklich zugetragen, das Alles wird sich in viel

höherem Maße geltend machen, wo die Erinnerung an vergangene Zu­ stände und Thatsachen lange Zeiträume hindurch in der mündlichen Ueber­ lieferung eines Volkes fortlebt.

Dem aufmerksamen Beobachter werden

eine Anzahl bestimmter Momente sich aufdrängen, welche bei einer solchen

im Munde des Volkes fortlebenden Erinnerung

an vergangene Zeiten

maßgebend einwirken und ihr die Gestalt geben, in der sie sich als Sage

ausprägt. Zunächst ist bekannt, daß die Erinnerung des Volks sich an concrete

Thatsachen, Ereignisse, an Persönlichkeiten anzuschließen liebt, das Ab­

stracte, das Werdende, den langsamen Gang einer Entwicklung nicht fest-

Ueber die Grenzen des historischen Wissens.

60 zuhalten

vermag,

für verwickelte,

verschlungene Rechtsverhältnisse und

dergleichen keinen Sinn hat, daß daher die Sage letzteres ignorirt, wäh­ rend sie den ersteren eine Bedeutung giebt, die oft weit über diejenige

hinausgeht, welche sie in Wirklichkeit gehabt haben.

Beispiele der Art

zeigen sich uns allenthalben, wo wir im Stande sind, neben dem Bilde, das uns die Sage bietet, uns mit Hilfe urkundlicher Documente ein an­

deres zu construiren.

Das nächstliegende gewährt uns die Vergleichung

der Sage von der Entstehung der Eidgenossenschaft mit dem, was die kritische Forschung im Laufe der letzten Jahrzehnte zu Tage gefördert hat.

Diese letztere führt uns eine lange Entwickelung vor Augen, ein beharr­

liches, zähes Ringen, das wir beinahe ein Jahrhundert hindurch verfolgen können, und dessen endliches Ergebniß die selbständige Stellung der Wald­ städte ist, die sie sich dann durch den Sieg am Morgarten auf alle Zeiten

gesichert haben.

Die Sage dagegen zeigt uns statt einer solchen langen

Entwicklung eine einmalige Erhebung,

durch welche mit einem Schlage

die Waldstädte aus trauriger Kuechtschaft zur vollständigen Freiheit ge­ führt werden, und an die Stelle der ausdauernden Arbeit, welche ganze

Generationen an die immer völligere Befreiung ihrer Gemeinwesen ge­

setzt haben, treten die Unternehmungen eines Bundes von Verschworenen und die Kühnheit eines gewaltigen Schützen. Hiebei wirkt noch

mit ein zweites Moment, das für die Sagen­

bildung von großer Bedeutung ist.

Es reden und träumen die Menschen

viel von bessern künftigen Tagen, sagt der Dichter; sie reden und träumen

aber ebensoviel

von bessern vergangenen Tagen.

Die Ursache

hievon

liegt in dem Widerspruch zwischen der idealen Anlage des Menschen und seiner Unfähigkeit, dieselbe im Leben zum vollen Durchbruche zu bringen;

es wird jedem Menschen, und je idealer er angelegt ist, in desto höherem Grade, sein Thun und Handeln und die ganze Gegenwart, in der er lebt und wirkt, unvollkommen erscheinen, da er sich aber bewußt ist, daß seine Ideale nicht bloßer Trug

und Schein sind, so kann er von dem

Gedanken nicht ablassen, daß ihre Verwirklichung einmal in der Zukunft

eintreten werde;

dasselbe Gefühl der Unvollkommenheit der Gegenwart,

verbunden mit dem Bewußtsein,

daß der Mensch zu etwas höherem ge­

schaffen und geboren ist, wird ihm aber die Gegenwart zugleich auch als

Entartung einer bessern Vergangenheit erscheinen lassen, und unter dem Einflüsse dieses Gefühls wird sich ihm das Bild der Vergangenheit, die

er wirklich durchlebt hat, verklären, die Lichtseiten in demselben werden immer mehr hervor-, die Schatten immer mehr zurücktreten.

Das wird

der Fall sein beim einzelnen Menschen und bei ganzen Völkern.

Und

nun ist es ja sicher, daß gewisse Zeitperioden im Leben deS Einzelnen so-

Ueber die Grenzen des historischen Wissens.

61

wohl als im Leben der Böller Vorzüge vor andern voraus haben, die

nicht nur auf Einbildung beruhen.

Wenn der Greis sich nach der That­

kraft des Mannes zurücksehnt, der Mann nach der frischen Begeisterung

des Jünglings und der Jüngling nach der Harmlosigkeit und Unbefangen­ heit des Kindes,

so liegt seiner Sehnsucht

die wirkliche Thatsache zu.

Grunde, daß er einmal etwas besessen hat, was ihm jetzt fehlt.

Und wie

beim einzelnen Menschen die Sehnsucht ganz besonders gerne nach der

Jugendzeit, nach der Kindheit hinschweift, so auch im Leben der Völker:

nach der Zeit, in welcher ein Volk, ein Staat, ein Gemeinwesen zuerst in seine Stellung eingetreten, und nach den ersten Zeiten, die es in dieser

verlebt hat, wendet sich vorzugsweise die Erinnerung der späteren Ge­ schlechter zurück, die Gestalten jener Zeiten verklären sich ihm zu Helden,

gegen welche die Sterblichen, wie sie jetzt sind,

als bloße Zwerge er­

scheinen. Und um diese Heldengestalten noch gewaltiger erscheinen zu lassen,

tritt ein drittes Moment hinzu, die Verbindung des Mythus mit der Sage.

Bevor wir über diese Verbindung reden, haben wir uns über

die Ausdrücke Mythus und Sage zu verständigen und über den Unter­

schied, den wir zwischen beiden machen.

An die Etymologie der Worte

selbst können wir uns hiebei nicht halten, denn der Unterschied in dieser Hinsicht besteht einfach darin, deutsch ist.

daß das eine griechisch

und das andere

Es findet deshalb auch noch keine allgemeine Uebereinstimmung

über ihren Gebrauch statt, und es hat sich jeder, der sie gebraucht, über

die Art und Weise, in welcher er es thut, auszusprcchen.

Immerhin ist

es nicht eine von mir willkürlich aufgestellte Unterscheidung, sondern ich

folge einem Sprachgebrauche, der sich mehr oder weniger fest begründet hat, wenn ich unter Sage (dieses Wort im engern Sinne genommen, denn es hat auch eine weitere Bedeutung, in welcher es den Mythus in

sich schließt) die Umkleidung eines historischen Gehalts verstehe, während das, was ich als Mythus bezeichne, unter dem Gewände einer Erzählung eine religiöse Wahrheit zu versinnlichen sucht.

Den Inhalt der Religion

bildet unser Verhältniß zum Uebersinnlichen;

weil wir aber hier in der

Welt des Sinnlichen leben, so vermögen wir allen unsern Vorstellungen vom Uebersinnlichen nur Ausdruck zu geben, indem wir sie in ein sinn­

liches Gewand kleiden; sie werden damit allerdings sehr unvollkommen ausgedrückt, aber wenn wir es nicht thun, so vermögen wir sie überhaupt

nicht zum Ausdruck und damit auch nicht zu irgend welcher Anschauung zu bringen. Eine Religion ohne Mythus ist deshalb undenkbar.

Eine Gefahr

liegt allerdings in der Versinnlichung des Uebersinnlichen, die nämlich,

Ueber die Grenzen des historischen Wissens.

62

daß das sinnliche Bild nicht als Bild, sondern als daS Wesen selbst auf­ gefaßt werde, deshalb hat auch daS Alte Testament derselben eine Grenze gesteckt, indem cs die plastische Darstellung verbot, durch welche auS dem

Gottesdienste leicht ein Götzendienst wird, aber dieselben Propheten und Psalmsänger, welche in den heftigsten Worten gegen den Götzendienst eifern, haben kein Bedenken gehabt, in ihren Reden und Gesängen in

der anschaulichsten, sinnlich kräftigsten Weise von der Person Gottes und

ihren Eigenschaften zu reden.

Es gilt auch hier das Wort Christi:

So

ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht inS Reich Gottes kommen.

aufgefaßt werden.

Der Mythus muß in kindlicher, naiver Weise

DaS Kind, das sich den lieben Gott als einen freund­

lichen alten Mann und den Himmel als einen schönen Garten mit einem prächtigen Palaste darin vorstellt,

ist sich sehr wohl bewußt, daß die-

bloße Borstellungen, bloße Bilder sind, aber es hält gleichwohl daran

fest, und so müssen auch wir nnS stets vergegenwärtigen, daß auch un­ sere Vorstellungen von Gott und Unsterblichkeit, wenn wir sie auch so wenig sinnlich als möglich zu gestalten suchen, nur Vorstellungen und zwar

sinnliche Vorstellungen sind, aber sehr thöricht wäre es, wenn wir darum

solche Vorstellungen als unrichtig und schädlich verbieten und verwerfen würden; denn sonst müßten wir darauf verzichten, uns irgend welche Vor­

stellungen vom Göttlichen und Uebersinnlichen zu machen, und das kann nur derjenige, der überhaupt nicht an das Vorhandensein desselben glaubt.

In welchem naiven Verhältnisse die Griechen, und zwar auch die tiefsten Denker dieses Volkes, zu ihrem Mythus standen, das zeigt uns

am

Schlagendsten das Wort, das einer der Nüchternsten unter ihnen in einem

Augenblicke, wo ernste Männer keine schalen Witze zu machen pflegen, das SokrateS im Augenblicke seines TodeS seinen Schülern zurief:

Wir

sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, versäumt nicht, ihn zu opfern! — Keine Religion, so haben wir gesagt, kann eines Mythus entbehren, eS

kann sich derselbe aber in engeren oder weiteren Grenzen bewegen.

Wo

bet einem Volke die monotheistische Anschauung den Sieg davon trägt,

wird er sich viel weniger entfalten als da, wo eine Vielheit von Göttern verehrt wird, deren Beziehungen zu einander, deren Thaten und Schick­

sale immer mehr ausgemalt werden, so daß nach und nach eine ganze Mythologie entsteht. Dieser Mythus, die Sage von den göttlichen Dingen, und die historische Sage, die Erzählling von den Thaten der menschlichen Vor­

fahren, die sich beide neben einander im Munde des Volkes fortpflanzen, müssen nun unvermeidlich in enge Beziehungen zu einander

gerathen.

Eine Verbindung und Vermischung beider kann um so leichter eintreten,

Ueber die Grenzen des historische» Wissens.

63

als wie wir gesehn haben, die Helden der Vorzeit ohnedies in der Er­

innerung der 'Nachwelt mit einem Glanze umgeben sind, der sie über ge­ wöhnliche Sterbliche hinauShebt und göttlichen Wesen ähnlich erscheinen

läßt.

Da liegt es vor Allem nahe, diese Helden in der Weise mit den

Göttern in Verbindung zu bringen, daß man ihnen göttlichen Ursprung,

göttliche Abstammung zuschreibt, sie zu Göttersöhnen macht; eben so häufig aber als dieser Vorgang, durch welchen Helden der geschichtlichen Sage zu göttlichen Wesen gemacht werden, ist das Umgekehrte, daß Wesen, die

der Mythologie angehören, ihren ursprünglichen Charakter abstreifen und dem Zusammenhang der historischen Sage eingefügt werden.

Alle aus­

gebildeten Mythologien kennen ja göttliche Wesen verschiedenen Ranges, die unteren Klassen derselben stehen an sich den Helden der historischen Sage fast gleich, und sie werden sich um so eher mit diesen vermischen, als ihre Bedeutung sehr oft eine vorwiegend lokale oder doch ihre Ver­ ehrung durch lokale Beziehungen stark bedingt ist, mit der Lokalgeschichte

von vornherein in engem Zusammenhänge steht-

Allein auch Götter ersten

Ranges können dieses Schicksal haben, besonders wenn ihre Verehrung

von einem andern Volke, von einem andern Stamme her cingeführt wird und deren eigentliche Bedeutung sich schon durch einen andern Mythus

vertreten findet.

So sinken sie dann, wie wir es bei dem griechischen

Herakles sehn, der eine Umbildung des phönikischen Sonnengottes ist, zu

Halbgöttern herab, die sich im Bewußtsein des Volkes von den Helden der historischen Sage in

nichts mehr unterscheiden.

Eine solche Ver­

menschlichung der Götter wird auch da eintreten, wo ein Volk seine alte

Religion gegen eine andre vertauscht hat, und die Gestalte» derselben, die doch noch in seiner Erinnerung festhaften, nun feine andre Unterkunft mehr finden, als indem sie den historischen Erinnerungen eingefügt und demgemäß umgebildet werden.

So sind eö, wie wir gesehn, eine Reihe von Momenten, die auf die Sagenbildung bestimmend einwirken, das Hervortreten der That und das Zurücktreten der Entwicklung in der Erinnerung deS Volkes, woraus

weiter folgt einerseits die unmittelbare Verknüpfung wichtiger Ereignisse mit Wegfall der Zwischenglieder, andrerseits die Neigung, den Antheil an diesen Ereignissen auf bestimmte Persönlichkeiten zu concentriren, so­

dann der verklärende Schimmer, der sich in der Erinnerung über ver­ gangene Zeiten verbreitet, und der uns diese Persönlichkeiten der Vorzeit

als Helden von übermenschlicher Gestalt erscheinen läßt, und endlich die

Vermischung mythischer Züge mit der historischen Sage.

Einen äußerst

interessanten Einblick in diese Entwicklung der Sagenbildung

erhalten

wir, wenn wir die Gestalt, welche die gewaltigen Kämpfe der Völker-

Ueber die Grenzen des historischen Wissens.

64

Wanderung nach und nach in der Erinnerung des deutschen Volkes ge­ wonnen haben, bis sie zuletzt in einer Anzahl von Epen, namentlich in

dem Gedichte von der Nibelungen Noth ihren künstlerischen Abschluß ge­ funden, vergleichen mit den den Ereignissen mehr oder weniger gleich­

zeitigen Aufzeichnungen, wie sic uns in Rechts- und Geschichtsbüchern er­

halten sind. Eine gründliche Untersuchung dieses Gegenstandes hat Müllen­ hoff im zehnten Bande von Haupts Zeitschrift für deutsches Alterthum geliefert.

Solche Zeiten, wie die Zeit der Völkerwanderung bei den Deutschen, wie bei den Griechen die Zeit der Kriege, die mit der dorischen Wanderung ihren

Abschluß gefunden, Zeiten, in welchen ein Volk sich die Stellung erkämpft hat,

die es von nun an in der Geschichte einnimmt, und über welche hinaus seine Erinnerung nicht reicht, sind es denn auch hauptsächlich, die den Gegenstand

der reichsten Sagcnbildung hergeben, einer Sagenbildnng, die zu den schönsten Blüthen epischer Dichtung geführt hat; allein ihr Walten beschränkt sich keineswegs auf solche Zeiten; wie schon vorhin bemerkt, sind es nicht nur

die Anfänge ganzer Völker, sondern auch die Anfänge einzelner Staaten,

ja kleinerer Gemeinwesen, deren sich die Sage mit Vorliebe bemächtigt; wie die griechischen Colonien alle ihre eigenen Gründersagen hatten, so

haben wir Deutsche ein glänzendes Beispiel der Art an den schon einmal

angeführten Sagen von der Entstehung der Eidgenossenschaft.

Allein auch

sonst wird jedes bedeutende Ereigniß, von dem sich das Volk wirklich un­ mittelbar betroffen fühlt, und dessen Bedeutung sich seinem Bewußtsein

einprägt, auch in einer schreibseligen Zeit, allen gleichzeitigen historischen Aufzeichnungen zum Trotz, eben weil es im Volke wirklich fortlebt, eine

sagenhafte Umgestaltung erhalten, bei welcher alle die vorhin angeführten

Momente in mehr oder weniger hohem Grade sich geltend machen. Wir haben bis jetzt von der Einen Grundlage unsres historischen

Wissens gesprochen, von derjenigen, welche gebildet wird durch Nachrichten, die wir über historische Thatsachen besitzen, und wir haben gefunden, wie bei all diesen Nachrichten, von den Berichten des Augenzeugen an, und

wären wir auch selbst dieser Augenzeuge, bis zu den Ueberlieferungen der Volkssage, eine umgestaltende Thätigkeit gewirkt hat, daß wir die Ereig­

nisse nicht unmittelbar, sondern durch einen mehr oder minder gefärbten Spiegel zu Gesichte bekommen.

Nun besitzen wir aber eine zweite, wichtige Grundlage da, wo uns die Leistungen der Menschen, Einzelner oder ganzer Geschlechter und Völker noch selbst vorliegen und wir unmittelbar aus ihnen unsre Belehrung

schöpfen können.

Wir besitzen

die Schriften

eines Philosophen, eines

Dichters, die Gemälde oder Bildwerke eines Künstlers, die Bauten sind

Ueber die Grenzen des historischen Wissens.

65

uns erhalten, die ein Gemeinwesen hat aufführen lassen, die Gesetze, nach denen es gelebt, die Verträge durch welche eS die Verhältnisse mit seinen Nachbaren geregelt hat.

Das sind

und

nun feste

solide Grundlagen,

allein cs springt sofort in die Augen, daß sie, für sich genommen, uns nicht die Mittel geben,

ein vollständiges Gebäude historischen Wissens

aufzuführen, unser Wissen bleibt ein durch und durch lückenhaftes, auS

unzusammenhängenden Bruchstücken hergestelltes, wenn wir nicht das zuerst besprochene Mittel historischer Kunde heranziehen, wenn wir neben dem,

was uns von den Leistungen und Schöpfungen der Menschen vorliegt, nicht noch vernehmen, was über diese Schöpfungen und Leistungen be­ Wie können wir von der Entwicklung der Literatur eines

richtet wird.

Volkes eine irgendwie genügende Anschauung gewinnen, wenn wir nur eine Anzahl undatirter, anonymer Schriftwerke besitzen, wie von seiner politischen Entwicklung uns ein lebendiges Bild machen, wenn uns eine

Menge von Bauten aller Art von ihm erhalten sind, aber ohne jede

Nachricht über die Zeit und die Veranlassung ihrer Entstehung, Friedens­ verträge ohne jede Kenntniß der vorangegangenen Kriege, denn wohlgemerkt,

was uns von all diesem die betreffenden Denkmäler selbst erzählen, fällt eben auch ganz in die Reihe jener Nachrichten, von denen wir vorhin ge­

handelt haben; wenn ein Schriftstück von sich aussagt, es sei von dem

oder jenem Verfasser, so ist das eben auch eine Aussage, für die alles das gilt, was von den historischen Aussagen bemerkt worden ist, und wenn auf einem Bauwerke eingemeißelt steht, eS sei zum Gedächtnisse dieses

oder jenes Sieges errichtet, so erhält diese Behauptung dadurch

keinen

andern Charakter, daß sie in Stein gehauen ist; denn bekanntlich kann

man eine Unwahrheit ebenso gut in Stein hauen als auf ein Blatt Pa­

pier schreiben.

Es bedarf also auch der Kenntniß derjenigen Thatsachen,

die uns in bleibenden Denkmälern noch selbst vorliegen, wenn sie voll­

ständig verstanden und gewürdigt werden sollen, als nothwendiger Er­ gänzung des erzählenden Berichtes.

Dieser letztere ist unentbehrlich für

jede Geschichtsforschung und GeschichtSdarstellung.

Wie unvollkommen, wie unsicher er ist, haben wir zur Genüge ge­ sehn.

Um ihn zum richtigen Aufbau der Geschichte zu verwerthen, ist

eine gewissenhafte und sorgfältige Arbeit von Nöthen.

Wie diese Arbeit

beschaffen sein muß, ergiebt sich von selbst auS dem, was wir über die

Natur aller Berichterstattung gesagt haben.

Bei jedem Berichte muß

untersucht werden, inwiefern der Berichterstatter die Wahrheit sagen konnte und wollte.

Bei Augenzeugen und Zeitgenossen ist zu prüfen, wie nahe

sie den Ereignissen gestanden haben, wie genau ihre Kenntniß derselben sein konnte, ferner, ob sie denselben bloß zugesehn oder ob sie, handelnd Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1. Heft 1.

5

Ueber die Grenzen des historischen Wissens.

66

oder leidend, an ihnen betheiligt gewesen, welcher Art diese Betheiligung gewesen, und wie weit es ihnen in Folge davon möglich war, unbefangen

sowohl zu beobachten als ihre Beobachtungen wiederzugeben, es ist ferner zu prüfen, was für Aufschluß unS über Fähigkeiten und Charakter des Berichterstatters aus seinen eigenen Aufzeichnungen und aus denen An­ derer zu Theil wird, unter welchen Umständen sein Bericht abgefaßt wurde, und daraus haben wir uns ein Urtheil darüber zu bilden, inwiefern er

daS, was er mitangesehn, auch richtig auffassen und richtig erzählen konnte,

sowie darüber, ob eS ihm darum zu thun war, die Wahrheit zu berichten

oder ob er es vielmehr angemessen fand, sie nach der oder jener Seite hin

zu entstellen.

Bei abgeleiteten Berichten ist zu untersuchen, auS

welchen Quellen der Berichterstatter geschöpft hat, welches die Natur dieser

Quellen ist, und welchen Gebrauch er vermöge seiner Fähigkeiten, seines Charakters und der die Abfassung des Berichtes begleitenden Umstände

von denselben gemacht hat.

Wo verschiedene Berichte über dasselbe Er-

eigniß vorliegen, wird sich auS der Untersuchung herausstellen, inwiefern sie einander ergänzen oder ausschließen, und im letztem Falle, an welche

von ihnen wir unS zu halten haben.

Es ist dasselbe Verfahren, aller­

dings in einer großen Mannigfaltigkeit der Anwendung, das wir einzu­

schlagen haben bei der Prüfung und Verwerthung aller Geschichtserzählung

vom Berichte deS Augenzeugen an bis zu den Gestaltungen der Sagen­ dichtung.

Soll dieses Verfahren richtig in Anwendung gebracht werden,

so bedarf es dazu, wie zu jeder tüchtigen Leistung auf dem Gebiete der Wissenschaft und überhaupt jeder tüchtigen Leistung auf irgend einem Ge­ biete, einer natürlichen Begabung, immerhin läßt sich eine gewisse Technik

desselben durch Unterricht und durch Uebung erwerben.

Diesem Zwecke

dienen die historischen Uebungen, wie sie durch Ranke, den man ja selbst nächst Niebuhr als den Hauptbegründer der neueren kritischen Geschichts­

behandlung bezeichnen kann, in Aufnahme gekommen und jetzt wohl auf

allen deutschen Universitäten zu finden sind.

So zweckmäßig diese Uebungen

sind, und so wenig der Geschichtsforscher des Handwerkszeuges, zu dessen

Erwerbung sie dienen sollen, entrathen kann, so bergen sie doch auch eine Gefahr in sich:

die nämlich,

daß daS Handwerkszeug und

die äußere

Fertigkeit überschätzt werden, daß man glaubt, mit ihrer Aneignung sei Alles gethan, wer sie besitze, der sei ein gemachter Historiker.

Und be­

sonders schädlich haben sie und hat die vorwiegende Pflege der äußern

Seite der Geschichtsforschung dadurch gewirkt, daß. bezüglich der Methode

und der Sicherheit der wissenschaftlichen Forschung die Ansicht aufge­ kommen und von gewichtiger Seite ausgesprochen worden ist, die Gesetze

der Forschung seien für die Geschichte keine andern alö für Mathematik

Ueber die Grenzen des historischen Wissens.

67

und Naturgeschichte, und die Sicherheit ihrer Ergebnisse keine geringere

als bei diesen Wissenschaften, und daß nun in der That gar häufig der

angehende Geschichtsbeflissene unS das Ergebniß seiner Doctordissertation mit einer Zuversicht präsentirt,

als ließe eS sich so leicht und so einfach

beweisen, wie der Lehrsatz des Pythagoras. sein? gilt,

Sollte diese Ansicht richtig

Sollte, was für die Erforschung der ewigen Gesetze der Natur in unmittelbarster Weise von unsrem Geiste erfaßt werden

die

können, auch maßgebend sein für die Erforschung der menschlichen Thaten,

die uns nur durch die tausend- und tausendmal verschiedenartig gestaltete

Reflexion menschlichen Empfindens und Denkens vermittelt werden? Kann uns,

nachdem

wir unS vergegenwärtigt haben,

welche Schranken

die

Unvollkommenheit der menschlichen Sinne, die Fähigkeit zum Irren und

die Mangelhaftigkeit deS menschlichen Charakters einer richtigen Auffassung und einer getreuen Ueberlieferung deS Geschehenen gezogen haben, der allergeringste Zweifel daran bleiben, daß auf dem Gebiete deS historischen

Wissens keine absolute Sicherheit, daß nie mehr als eine bloße Wahr­

scheinlichkeit gewonnen werden kann, da ja auch die Daten, die wir alS die allersichersten, als die allerzuverlässigsten anzunehmen gewohnt sind, nur auf dem Zeugniß intellectuell und sittlich unvollkommener, dem Irr­

thum unterworfener Menschen beruhen.

Wird uns aber diese Einsicht entmuthigen?

Wird unS das historische

Wissen deshalb, weil wir eS als ein unvollkommenes, nicht auf absoluter

Sicherheit, sondern auf bloßer Wahrscheinlichkeit beruhendes erkennen, als

werthlos erscheinen?

Keineswegs, und was auf der Einen Seite als

Unvollkommenheit zugegeben werden mag, daS erscheint uns auf der an­

dern als ein Vorzug.

Indem wir darauf verzichten, der Geschichte unter

den exacten Wissenschaften einen Platz anzuweisen, nehmen wir für sie einen solchen unter den künstlerischen Thätigkeiten in Anspruch.

Die Ge­

schichtswissenschaft vermag die Thatsachen nicht in ihrer nackten Wirklich­

keit, nicht in ihrer Vollständigkeit, nicht unvermittelt wiederzugeben, son­ dern nur daS Bild, das sich dem an ihnen betheiligten oder dem sie beobachtenden Menschen eingeprägt, und das dieser, bewußt oder unbewußt,

dichterisch,

künstlerisch schaffend zum Ausdruck, zur Darstellung bringt.

Jede, auch die zuverlässigste, die verhältnißmäßig unmittelbarste Erzählung

fällt somit in das Gebiet der Dichtung, der Sage.

Eine scharfe Grenz­

linie zwischen dem, was wir als beglaubigte Geschichte anzusehn pflegen, und dem, was wir im gewöhnlichen Sprachgebrauch als Sage bezeichnen,

läßt sich

schlechterdings nicht ziehen.

Wird uns diese Erkenntniß aber

nicht dahin führen, daß wir der letztern eine andere, höhere und wichtigere Bedeutung beimessen, als

es namentlich in jüngster Zeit zu geschehen 5*

68 pflegt?

Ueber die Grenzen des historischen Wissens. Die historische Thatsache interessirt uns nicht lediglich, auch nicht

vorzugsweise um ihrer selbst willen, sondern um der Wirkung willen, die sie ausgeübt hat, um der Stellung willen, die sie in der Entwicklung eines Einzelnen, eines Volkes oder der gesammten Menschheit einnimmt, und deshalb werden wir es nicht bedauern, sondern als einen Vortheil

empfinden, daß die historische Mittheilung den Charakter hat, den wir ihr haben zuerkennen müssen, daß sie die Thatsachen nicht unvermittelt giebt, sondern so, wie sie sich in dem Gemüthe dessen, der sie unS auf­ bewahrt hat, eingcprägt haben.

Es kann ein Einzelner sein, durch den

diese Aufbewahrung geschieht, es kann aber auch ein ganzes Volk sein,

es kann die Zeit der Aufbewahrung eine kurze sein, sie kann sich aber auch durch Geschlechter, durch Jahrhunderte fortziehn, und je länger sie ist,

desto mehr werden sich alle jene umgestaltenden Einflüsse geltend machen, von denen wir früher gesprochen haben, aber immer wird sich die Um­

gestaltung vollzieh» unter dem Eindruck, den ein Geschlecht, den ein Volk

von den fraglichen Thatsachen erhalten hat, und den cS noch verspürt, es wird also die Ausbildung der Sage auf der Grundlage einer groß­

artigen historischen Wahrheit vor sich gehn und dadurch der Gehalt der Sage selbst und ihre Bedeutung eine eminent historische werden, ja dieser

historische Gehalt und diese historische Bedeutung können unter Umständen

wichtiger sein, als was wir gewinnen würden, wenn wir über dieselben

Thatsachen genaue Berichte hätten und uns eine sogenannte beglaubigte Geschichte construiren könnten.

Der Geschichtsforscher wird es ja immer

als seine Pflicht erkennen, dies letztere soviel als möglich zu Stande zu

bringen, er wird aber, sobald er die Aufgabe und die Bedeutung seiner Wissenschaft recht erfaßt, eS nicht bedauern, wenn er auf Ereignisse und

auf Zeiträume stößt, bei denen es ihm nicht gelingt und bezüglich deren er sich mit sagenhafter Kunde begnügen muß, und er wird auch nicht, wenn er neben eine solche sagenhafte Kunde eine mehr oder weniger zu­

sammenhängende beglaubigte Geschichte zu stellen vermag, die erstere über

Bord werfen und wo sie noch im Bewußtsein eines Volkes oder einer

Religionsgemeinschaft haftet, auS demselben herauszureißen trachten, vor­

ausgesetzt daß er sie als eine ächte, aus dem Bewußtsein dieses Volkes, dieser Gemeinschaft auch wirklich herausgewachsene Sage erkennt.

Es ist

nichts weniger als Heuchelei oder feige Anbequemung, wenn Männer der

strengsten kritischen Richtung sich scheuen, den unbefangenen Glauben an diese Sagen zu zerstören, es entspringt ihre Scheu auch nicht dem vor­ nehmen Gefühle, daß die Bedürfnisse der Männer der Wissenschaft andre

seien, als die des gemeinen Volkes, nein, sie selbst, die Männer der Wissenschaft, der strengen Kritik, welche diese Scheu empfinden, sie theilen

69

Ueber die Grenzen des historischen Wissens.

eben — so sonderbar dies vielleicht manchem klingen mag — mit dem Volke den Glauben an die Wahrheit jener Sagen, wenn sie sich auch in

andrer Weise darüber Rechenschaft geben.

Zur richtigen Auffassung der

historischen Sage gehört eben wie zu der des Mythus die kindliche Unbe­

fangenheit.

Wie uns bei der Auffassung des Mythus das Bewußtsein

leitet, daß wir uns Uebersinnliches in unvollkommenen sinnlichen Zeichen

anzueignen suchen, so hier die Erkenntniß, daß alle und jede erzählende Darstellung des Geschehenen uns nicht mehr als nur ein annähernd rich­

tiges Abbild davon geben kann. Was ist daS höchste Ziel aller historischen Forschung?

Eine Masse

von Wissensstoff aufzuhäufen? zur Kenntniß möglichst vieler Thatsachen zu gelangen? Keineswegs!

Sie soll vielmehr den Menschen zur Kennt­

niß seiner selbst führen, durch sie wird eine Selbstprüfung des Menschen­ geschlechtes vollzogen, eine Selbstprüfung, deren dieses ebensowohl bedarf,

alö der einzelne Mensch, um sich über seine Bestimmung klar zu werden und über die Wege, die es einzuschlagen hat, wenn es derselben nach­ kommen soll.

An der Verfolgung dieses Zieles aber wird die historische

Forschung durch die Grenzen, die ihr gezogen sind, keineswegs gehemmt.

Und wie sie selbst ihre Aufgaben nur erfüllen kann, wenn sie sich inner­ halb dieser ihrer Schranken hält, so wird sie helfen es dem Menschenge­ schlechte zum Bewußtsein zu bringen, daß allem Schaffen und Wirken

desselben bestimmte Schranken gezogen sind, und daß es, statt seine Kräfte

zu vergeuden, indem es diese zu durchbrechen sucht, vielmehr darnach zu trachten hat, sie innerhalb derselben zusammenzuhalten und damit zu einem

fruchtbringenden Schaffen tauglich zu machen.

Und so wenden wir am

Schlüsse unserer Betrachtung unsre Blicke wieder zu dem Bilde des Ter­

minus, von dem wir ausgegangen sind, deö Terminus, der mit seinem

Cedo nulli uns die Wahrheit verkündigen möge, daß nur die Erkenntniß

der dem Menschen gezogenen Schranken und die aus dieser Erkenntniß hervorgegangene Selbstbeschränkung, was die Griechen oaxpQoowT], was

unsre Vorfahren die mäze nannten, ihn befähigt, Großes nicht nur zu

unternehmen, sondern auch zu vollbringen.

W. Vischer.

Ugo Foscolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo Ortis". ii. Originalität und literarischer Werth.

Daß auf den Roman FoScolo'S der goethesche Werther nicht blos hinsichtlich der Form, sondern auf die ganze Ausführung, die Anordnung

des Materials und das letzte Ziel des Werkes einen durchgehenden Einfluß gehabt habe, darüber kann kein Zweifel bestehen, auch wenn der Verfasser nicht ausdrücklich zugestanden hätte, daß er dem Buche deS deutschen Autors

die Einrichtung für das feinige entlehnt habe.

Was aber den Inhalt

betrifft, so sind wir mit Hilfe der Biographien und der eigenen Briefe

FoScolo'S an seine Freunde und Freundinnen im Stande, das als richtig

zu bestätigen, was er darüber behauptet hat, nämlich daß er aus seinen

eigenen Erlebnissen den Stoff für den Roman entnommen habe. Weil aber derjenige, dessen Interesse wir für ein ihm vielleicht nur

dem Namen nach bekanntes Werk in Anspruch nehmen wollen, zunächst Verlangen trägt, den Inhalt desselben kennen zu lernen, so erscheint eS

angemessen, eine Uebersicht über denselben vorangehen zu lassen. Jacopo Ortis, ein venetianischer Jüngling, erfüllt von glühender Be­

geisterung für die Freiheit seines Vaterlandes, sieht sich nach dem Ab­ schlüsse deS Friedens von Campo Formio gezwungen, als ein Flüchtling

seine Vaterstadt zu verlassen.

Um den Verfolgungen seiner Gegner zu

entgehen, zieht er sich auf ein Landgut seiner Familie in den euganeischen Hügeln zurück, in die Nähe von Arquä, wo der classisch gebildete, patrio­ tisch gesinnte Dichter Petrarca einst sein ruhmvolles Leben beschlossen hat.

In seine Einsamkeit begleitet ihn die trostlose Ueberzeugung, Vaterland einem schändlichen Verrathe zum Opfer gefallen ist.

daß sein Seine

Verzweiflung darüber ist so groß, daß er im Gefühle seiner Ohnmacht, Rache nehmen zu können, sich ein Messer in die Brüst stoßen möchte, um

all sein Blut unter dem TodeSschrei seines Vaterlandes auSzuströmen.

Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo Ortis".

71

Mit sich nimmt er die trübsten Erfahrungen, welche ihm die frühe, dem

Dienste der Freiheit und des Vaterlandes geweihte Jugend eingebracht

hat.

Und dieser Schmerz wird in ihm noch heftiger und leidenschaftlicher

durch daS Unglück seiner Mitbürger.

„Wieviele Familien sind durch die

Umwälzung in Elend und Verzweiflung gestürzt, wieviele edle Männer

sind mit ihm die Schlachtopfer der Freiheit geworden!"

Für jetzt ist keine Wendung zum Bessern zu hoffen, die Uebermacht der Gegner hält Italien in knechtischer Abhängigkeit, und der sclavische

Sinn seiner Bewohner beugt sich der Willkür und dem Uebermuthe der Fremden ohne Widerstand.

„Was willst Du unternehmen", fragt er

seinen Freund, „da Du in der Mitte stehst zwischen zwei mächtigen Na­

tionen, welche als geschworene wüthende Todfeinde, sich mit einander ver­

binden, um uns in Fesseln zu schlagen, und von denen die Einen, wo ihre Stärke nichts ausrichtet, uns durch Freiheitsenthusiasmus, die Andern durch Religionsfanatismus betrügen; während wir durch die alte Knecht­

schaft und

die neue Schrankenlosigkeit völlig

verderbt,

verrathen

und

hungrig als feige Sclaven seufzen, welche weder durch Verrätherei noch

durch Hunger jemals aufgeregt werden." Bon Anfang an leuchtet ihm ein, daß es nur ein Mittel giebt, sich

dem grenzenlosen und unabwendbaren Unglücke, daS über sein Vaterland gekommen ist, zu entziehen, alle Erfahrungen und Erlebnisse, welche ihm

die folgende Zeit bringt, bestärken ihn in dieser Ueberzeugung, daß nur

der freiwillige Tod ihm auS dieser verderbten irdischen Existenz Erlösung

bringen und ihn auf ewig frei machen kann. Zwei unheilvolle Umstände aber drängen sein gequältes, bis aufs

Aeußerste gefoltertes Herz, daß

er sich auf diesen letzten verzweifelten

Schritt vorbereitet und ihn endlich, nachdem er alle Gründe dafür und

dawider erwogen hat, zur Ausführung bringt: auf der einen Seite ist es die heillose politische Lage Italiens, aus der andern eine unglückliche

Liebesleidenschaft.

Beide Motive gehen neben einander,

wechselseitig verstärken sie

ihre Wirkung und führen zuletzt den Untergang des

Hoffnung-- und

rettungslosen Jünglings herbei.

Auch in der Verbannung bleibt sein Blick auf die Geschicke seines

Vaterlandes gerichtet.

Aber nicht mehr gilt ihm das von Frankreich ver­

rathene, von Oesterreich gewaltsam geknechtete Venedig als sein Vaterland,

vielmehr sucht er die Freiheit in der ciSalpinischen Republik, diesem dem Namen nach italienischen Staate, der den Vertriebenen Aufnahme und

die Rechte aller Bürger gewährt hat.

Aber auch hierher ist die Freiheit

in Begleitung von Bedrückungen und Erpressungen durch die Fremden

72

Ugo Foscolo und sein Roman „die letzten Briefe des Iacopo Ortis".

gekommen.

Nach deren Willen toltb- die Regierung geführt, die neuen

Gesetze und Einrichtungen geben dem Staate keine Festigkeit im Innern, keine Unabhängigkeit nach Außen, dem Einzelnen gewähren sie keinen

Schutz gegen die Verfolgungen der Parteien.

Nicht die edlen patriotischen

Leidenschaften finden in diesem von den Franzosen errichteten Freistaate Aufmunterung und Ermuthigung, nur feige und niedrige Begierden

drängen sich

in den Vordergrund und gewinnen die Oberhand.

Die

wenigen edlen Geister, welche als Leiter und Vorbilder deS Volkes allein

vermöchten, Italien zu seiner früheren Größe zurückzuführen, sehen sich genöthigt, mit stolzem Grolle von dem Geschicke ihres Vaterlandes sich

abzuwenden und in die Einsamkeit zurückzukehren.

So ruft alles, was Ortis später auf einer Reise durch Italien voll den Umtrieben der Parteien und den verderbten Zuständen in den ein­

zelnen Städten kennen lernt, in ihm die Ueberzeugung hervor, daß

die

Sclaverei Italiens eine nothwendige, und daß eine Befreiung aus der­ selben mit gewöhnlichen Mitteln unmöglich ist. Er beklagt den Irrthum Derjenigen, welche wähnen, daß die fremden Nationen aus Liebe zur Billigkeit herkämen, gegenseitig sich auf den Ge­

filden Italiens zu morden, um dieses frei zu machen.

Dies unglückliche

Land ist seit Jahrhmlderten immer nur der Schauplatz für die Waffen-

thaten der Deutschen und Franzosen gewesen und ist stets dem Sieger als

Beute zugefallen.

Dies Mal ist dieser Kampfpreis den Franzosen zu

Theil geworden, aber sie haben es dahin gebracht, daß die Theorie von der öffentlichen Freiheit als eine fluchwürdige erscheint.

Um ihr eignes

Uebergewicht in Italien zur Geltung zu bringen, haben sie dem ciSalpinischen Staate eine ihren Absichten entsprechende Verfaffung gegeben, und diese wird nach den Vorschriften der Directoren in Paris gehandhabt.

Die Spuren dieser Abhängigkeit und ihre verderblichen Folgen treten dem Jünglinge am deutlichsten in Mailand selbst entgegen:

„Ich verlangte

bei einem Buchhändler das Leben Benvenuto Cellini's — ES ist nicht vorräthig, lautete die Antwort.

Ich bat denselben um einen anderen

Schriftsteller; darauf sagte er mit fast verächtlichem Tone, daß er italienische

Bücher nicht zum Verkauf habe. — Die Klasse der Gebildeten spricht

zierlich französisch und versteht kaum noch das reine Toskanisch.

Oeffent-

liche Verfügungen und Gesetze werden in einer Art von Bastardsprache

abgefaßt, deren ungeschickte Ausdrücke deutlich die Unwissenheit und den

knechtischen Sinn dessen kennzeichnen, der sie vorschreibt.

Die ciSalpini-

schen Demosthene stritten heftig in ihrem Senate, ob man nicht durch eine

strenge Verordnung

die

griechische

und

lateinische Sprache

Gebiete der Republik verbannen sollte" (u. s. w.).

aus

dein

In diesem Staate

Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo Ortis".

73

eine Anstellung zu suchen, räth ihm der besorgte Freund, mit stolzem Unwillen lehnt der Held deS Romanes einen solchen Rath ab.

„Für

Andre mögen die Tyrannen ihre Verletzungen und Wohlthaten aufbe­

wahren, es giebt deren so viele, welche gierig danach verlangen! will der Schande dadurch entgehen, daß ich unbekannt sterbe.

Ich

Und wenn

ich auS meiner Verborgenheit hervorzutreten gezwungen würde, so würde ich vorziehen, ein beklagtes Opfer zu sein, ehe ich als daS begünstigte

Werkzeug der Willkür oder der Tyrannei erschiene".

„Und doch", fügt

er hinzu, „ich bekenne es, oft habe ich mit einer Art von Wohlgefallen auf das Elend Italiens gesehen, weil es mir vorkam, als hätte das Schicksal und mein Heldenmuth vielleicht grade mir daS Verdienst auf­

bewahrt, eö frei zu machen". — Aber eine Unterredung mit dem bejahrten, ehrwürdigen Dichter Parini,

welche in die herrlichen Anlagen an der porta orientale Mailands ver­ legt ist, hat den Erfolg, daß der unglückliche Jüngling für immer dem Gedanken, seinem Vaterlande zu dienen und zu nützen, entsagt.

Der er­

fahrene Greis kann nach dem, was er selbst erlebt hat, den leidenschaft­

lichen jungen Mann nicht ermuthigen:

„O mein Sohn", ruft er seufzend

auS, „der Du ein dankbareres Vaterland verdientest, warum wendest Du deinen unseligen Eifer nicht auf andre Neigungen, wenn Du ihn nicht

auszulöschen vermagst?"

„Da blickte ich auf die Vergangenheit — dann

wandte ich mich der Zukunft entgegen, aber immer schweifte ich in daS

Leere, meine Arme sanken getäuscht herab, ohne etwas erfassen zu können, und ich erkannte meinen Zustand in seiner ganzen Schwere.

Ich erzählte

dem edelsinntgeu Italiener die Geschichte meiner Leidenschaften und beschrieb ihm Theresen als einen der himmlischen Genien, welche hernieder­

zusteigen scheinen, um die düstre Stätte dieses irdischen Lebens zu er­ leuchten.

Nein, sagte ich zu ihm, ich sehe vor mir nur daS Grab".

An dieser Stelle wenden wir uns dem Anfänge des Romanes wieder

zu, um die Liebesgeschichte kennen zu lernen.

Nachdem der Verrath Venedigs offenkundig geworden ist, hat OrtiS sich in die Einsamkeit zurückgezogen. In der freien Gottesnatur sucht er die Heilung seiner Schmerzen, ihre Schönheit erquickt auf ?urze Zeit sein krankes Gemüth, ihre Erhabenheit richtet ihn auf, die ländliche Umgebung

wirkt ablenkend und zerstreuend auf ihn.

Da macht er die Bekanntschaft

eines Herrn T..., eines Mannes von feiner Bildung und großer Recht­

schaffenheit, der ebenfalls in den Euganeen zurückgezogen lebt.

Dieser

Herr ist Vater von zwei Töchtern, Theresa und Isabella, seine Familien­

verhältnisse sind infolge der politischen Wirren in Unordnung gerathen, er hofft denselben dadurch aufzuhelfen, daß er seine älteste Tochter Theresa

Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo Ortis".

74

einem reichen jungen Manne aus Mutter, nicht

adlicher Familie verlobt hat.

Die

einverstanden mit dieser Convenienzheirat, ist mit dem

Gatten darüber zerfallen und lebt in Padua.

Alles dies erfährt Ortis

auS dem Munde der Tochter selbst während eines Spazierganges, den er in Gesellschaft der Familie nach dem Hause Petrarca'- macht.

„Ich bin

nicht glücklich!" sagt sie ihm mit sanfter, von Thränen erstickter Stimme.

Welcher Jüngling vermöchte solchen Thränen zu widerstehen! am wenigsten

einer, der selbst die Bitterkeit eines grausamen Geschickes erfahren hat. Ganz gewinnen sie das Herz des jungen Ortis, er möchte mit ihr Thränen vergießen, da er ihr keinen Trost spenden kann. — Und dieser Verlobte

selbst erscheint ihm so wenig fähig, dies himmlische Mädchen glücklich zu

machen.

Odoardo gehört zu jenen pedantischen, langweiligen AlltagS-

menschen, die Alles mit der Uhr in der Hand thun, die, in den Borur­ theilen ihres Standes befangen, dahinleben ohne jedes höhere Interesse,

ohne Verständniß für die edlen Regungen eines empfindsamen Herzens.

Dem Nachdenken

über das Unglück dieses Mädchens wird Ortis

durch die Fürsorge seiner zärtlichen Mutter und seines Freundes Lorenzo

entrückt, die beide es zu veranstalten wissen, daß er nach Padua übersiedelt, um dort seine Studien fortzusetzen.

Aber dieser Aufenthalt in Padua

bringt ihm nicht den erwarteten Gewinn und dauert nicht lange.

Die

eigenthümliche Sinnesart des jungen Mannes bringt ihn mit den in der

Gesellschaft herrschenden Vorurtheilen in Conflict, sein lebhaftes Ehrgefühl verwickelt ihn in ernstliche Händel.

Es kommt zu einer Herausforderung,

und da Niemand für den sonderbaren Jüngling, der in seinem Rechte zu sein glaubt, Partei nimmt, so verläßt er Padua wieder und kehrt nach

den Euganeen zurück. Theresa

Seinem Freunde gesteht er ein, daß die Liebe zu

ihn zurückgeführt habe:

„ach, Du mahnst mich von Neuem,

Theresen zu meiden; und das bedeutet nichts andres, als wenn Du zu

mir sprächest: sage Dich von dem los, was Dir das Leben lieb macht;

zittre vor dem schlimmen und stürze Dich in das noch schlimmere Uebel".

Inzwischen ist Odoardo, der Verlobte TheresenS, in Angelegenheiten seiner Familie nach Rom verreist und wird durch einen Prozeß mehrere Monate fern gehalten.

Ortis selber empfindet, in welche gefährliche Lage

er durch dessen Abwesenheit und durch den ungehinderten Verkehr mit Theresa versetzt ist. .Die im Frühling wieder erwachende Natur reißt

sein beständig aufgeregtes Gemüth zu wilder Schwärmerei hin. „Indessen", heißt eö in einem Briefe (vom 5. April), „wird die Natur wieder schön; — so muß sie gewesen sein, da sie zum ersten Male hervorgehend aus

dem gestaltlosen Chaos die lachende Morgenröthe des Mais voraufsandte; als diese dann am östlichen Himmel ihr blondes Haar wallen ließ und

Ugo Foscolo und sein Roman „die letzten Briefe des Iacopo OrtiS".

75

das All nach und nach mit ihrem rosenfarbenen Gewände umkleidete, als sie segenbringend

die frischen Thautropfen ausschüttete und den jung­

fräulichen Hauch der Winde erweckte, um den Blumen, den Wolken, den

Wassern und allen Wesen, welche sie begrüßten, die nahende Sonne zu verkündigen: die Sonne! des Gottes erhabenes Bild, das Licht, die

Seele, das Leben aller Creatur." Die schöne Natur entzückt sein Herz, mehr noch wird dasselbe von

TheresenS Schönheit und Sanftmuth bezaubert, schon fängt er an, darüber

nachzudenken, ob sie ihn wieder liebe.

Kurze Zett widersteht er den Prü­

fungen, welche sich ihm bieten, um sich diese Gewißheit zu verschaffen, bis

endlich an einem herrlichen Maiabend Theresa ihm das Geständniß ihrer Liebe macht.

Aber zugleich mit diesem Geständniß spricht sie es auS:

„Nie kann ich Ihnen gehören!"

Ein Kuß von ihr hebt ihn zum höchsten

Entzücken, aber die Nachricht, daß Odoardo zurückkehre, raubt ihm den

Schlaf, von den bittersten Schmerzen wird seine Seele zerrissen.

Zur selben Zeit wird ihm der Tod LaurettaS gemeldet.

Dies junge

Mädchen hatte seinen Freund Eugenio geliebt, aber ein grausames Ge­ schick hatte den Geliebten von ihrer Seite gerissen, aus Schmerz darüber

war ihr Sinn gestört worden.

In dem traurigen Schicksale dieser armen

Wahnsinnigen, mit der er das tiefste Mitleid empfunden, sieht er eine unheilvolle Vorbedeutung für sich selber.

Immer mehr wird es ihm zur

Ueberzeugung, daß Theresa ihm nicht gehören könne — sie selber flieht und meidet ihn.

Bon der furchtbaren Aufregung, die sein Herz erfaßt,

erschlafft sein Körper, ein dunkles Gefühl sagt ihm, daß er fliehen müsse. Indeß kehrt Odoardo zurück, er findet den Jüngling gänzlich verän­ dert, sein auffallendes Benehmen läßt ihn den Grund dieser Veränderung

ahnen.

Ortis erkrankt darauf ernstlich, während deS Krankenlagers be­

sucht ihn Herr T. . . und setzt ihm auseinander, daß daS Schicksal ihm keine andere Wahl übrig lasse, und daß er Odoardo sein Wort halten

müsse.

In dumpfer Betäubung, ohne eine Aeußerung seines Schmerzes

hört Ortis seine freundlichen und doch ernsten Worte mit an.

Er selber

empfindet, daß er unter diesen Umständen nicht bleiben könne, und be­

schließt abzureisen.

Wirklich tritt er diese Reise an, er besucht die herr­

lichen Städte, die von der gütigen Natur mit wunderbarem Reichthume und entzückender Schönheit ausgestatteten Landschaften Italiens.

Aber die

Wunder der Natur und Künste mahnen ihn immer wieder an die ver­

gangene Größe seines Volkes und zeigen ihm das gegenwärtige Elend seiner Landsleute.

Die Erinnerung an die Geliebte vermag durch das,

was er sieht, aus seinem Herzen nicht getilgt zu werden. schreibt er (den 25. September):

Bon Florenz

„In diesem glückseligen Lande war eS,

Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Iacopo OrtiS".

76

wo die heiligen Musen und die Wissenschaften aus der Barbarei wieder erwachten.

Wohin ich mich wende, überall finde ich die Stätten, wo sie

geboren wurden, und die geweihten Erdschollen, unter denen sie ausruhen, jene ersten großen Toskaner; bei jedem Schritte hält mich die Scheu, auf

ihre Ueberreste zu treten.

Ganz Toskana ist eine zusammenhängende

Stadt und ein Garten; die Bewohner sind von Natur gesittet; der Himmel heiter und die Luft erfüllt von Leben und Gesundheit.

Allein Dein Freund

findet keine Ruhe: beständig hoffe ich — morgen in dem Nachbarlande —

und morgen kommt, ich eile von Stadt zu Stadt, und immer drückender

lastet auf mir dieser Zustand der Verbannung und Einsamkeit." Bon Florenz wendet er sich nach Mailand, wo er die Unterredung

mit Parini hat. gesehen.

Welches der Ausgang dieses Gespräches ist, haben wir

OrtiS verläßt Mailand und setzt die Reise, die er in der Absicht

unternommen, seinem Vaterlande den Rücken zu wenden, Grenzen Italiens fort.

bis an die

Hier in der schaurig öden Natur erblickt er ein

Bild von dem hoffnungslosen Zustande seines eigenen Herzens.

Aber

unwiderstehlich zieht eS ihn nach seiner Heimath zurück, so beschließt er umzukehren. Unterwegs erfährt er die Vermählung Theresas mit Odoardo.

Damit ist das letzte Band zerrissen, welches ihn noch an daS Leben knüpfte. Noch einmal besucht er Venedig, um seiner edlen, um daS Wohl ihres

Sohnes tief bekümmerten Mutter das letzte Lebewohl zu sagen.

Der er­

schütternde Abschied von ihr bereitet seinem Entschlüsse zu sterben eine

harte Probe.

Darauf kehrt er nach den Euganeen zurück, noch einmal

sucht er die Stätten auf, welche der Schauplatz seiner LiebeS- und Leidens­ geschichte gewesen sind, nimmt dann von der Geliebten Abschied und tödtet sich in der Nacht, indem er sich einen Dolch in die Brust stößt.

Vielen, welche daS Werk zum ersten Male lesen, wird der bald düster fchwermüthige, bald wild leidenschaftliche Ausdruck der Gedanken und Ge­ fühle fast abschreckend erscheinen.

Aber man darf nicht vergessen, daß daS

Werk nur ein Ausdruck dessen sein sollte, waS der jugendliche Verfasser in einer stürmisch aufgeregten Zeit und in Folge dessen mit sich selbst ringend dachte, in einer Zeit, wo eS ihm schien, als wären alle Ideale,

welche der Menschenbrust Streben und Anreiz verleihen, nichtig geworden und dem Menschenleben daS, was ihm Werth giebt und die Lust am Dasein erweckt und erhält, in unwürdiger Weise entzogen worden. Nicht wenig wird darum daS Interesse, welches wir an dem Romane nehmen, durch den Umstand verstärkt, daß der Verfasser in demselben die

eigenen Erlebnisse unter dem Namen einer fremden Person dargestellt

Ugo FoScolo imb sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo OrtiS". hat.

77

In dem Briefe, den FoScolo im Jahre 1807 an den preußischen

Gelehrten Bartholdy schrieb, hat er sich ausführlich über den Titel, die

Entstehung und die Herausgabe seines Werkes erklärt und ausführlicher noch in einer Reihe von Aufsätzen, welche der 15. Ausgabe des Romanes

auS dem Jahre 1814 beigegeben sind.

Aber Alles, was er darüber be­

kannt gemacht hat, muß mit der größten Vorsicht ausgenommen werden,

weil in diesen Mittheilungen dem geringen Theile von Wahrheit eine

weit stärkere Dosis von Dichtung beigemischt ist, als man von vornherein zu glauben geneigt sein möchte, und es ist nicht leicht, überall daS That­

sächliche von dem zu unterscheiden, was einem bestimmten Zwecke dienende

Fiction ist.

Die erste Anregung zu dem Werke will der Verfasser während

eines Aufenthaltes zu Padua, für den er die Zeitangabe unterläßt, em­ pfangen haben.

Durch de» miterlebten Fall eines Selbstmordes ward

seine Theilnahme in hohem Grade erregt.

Der Unglückliche, welcher mit

seinem Leben nichts Besseres anzufangen wußte, als es gewaltsam zu

enden, führte den Namen Jacopo Ortis, war aus dem Friaul gebürtig und studierte zu Padua, wo seine Person und seine Verhältnisse wenig

gekannt waren.

Seit jener Zeit, so behauptet FoScolo von sich, habe er

über den Selbstmord nachgedacht, er habe Bücher studiert, welche denselben verwarfen, und solche, welche ihn vertheidigten.

Seine eigenen Gedanken

habe er in Form von Briefen niedergeschrieben

und ihnen den Titel

„letzte Briefe des Jacopo Ortis" gegeben, damit sie für das Werk eines

Anderen gelten könnten.

Diese Schreibereien seien von ihm sorgfältig

zwischen anderen Manuscripten versteckt worden, um sie vor der Polizei zu sichern, auch habe er Anfangs gar nicht die Absicht gehabt, dieselben

herauszugeben. Diese Briefe hätten zuerst nur eine Rechtfertigung des Selbstmordes aus philosophischen Gründen enthalten, später sei Vieles dazu gekommen,

was er über den Verrath Venedigs, über die von den Franzosen beein­ flußte Regierungsweise in

der ciöalpinischen Republik niedergeschrieben

hätte, und zuletzt erst sei er in ein LiebeSverhältniß verwickelt worden, dessen nähere Umstände ganz so gewesen, wie sie der Roman darstellt;

von den Briefen, welche er mit dem Gegenstände dieser Liebe wechselte,

seien einige fast ganz unverändert in den OrtiS übergegangen.

Je mehr man sich aber in die Einzelheiten dieser Entstehungsge­ schichte vertieft, desto klarer stellt sich heraus, daß FoScolo in dem be­

treffenden Briefe bemüht gewesen ist, die Vorgänge in ein gewisses, in sich abgeschlossenes System zu bringen und den Antheil seiner eigenen

Jdeenentwicklung, wie seiner eigenen Erlebnisse gegenüber der Einwirkung

Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe deS Jacopo OrtiS".

78

des deutschen Originales in den Vordergrund zu drängen.

Eine ein­

gehendere Erörterung der an sich äußerst verwickelten Sachlage zu geben, behalten wir uns für einen anderen Zeitpunkt vor.

Für jetzt sei eS ge­

stattet, nur auf die zwei wichtigsten Fragen, FoScolo'S erste Bekanntschaft

mit Goethe'S Werther und das zu Grunde liegende LiebeSverhältniß be­ treffend, einzugehen.

Die erste unter Beihülfe des Buchhändlers Marsili zu Bologna an­ gefangene Ausgabe (von 1798) hatte FoScolo, durch die wechselvollen po­

litischen Ereignisse dazu genöthigt, abgebrochen, als dann mit der Rückkehr

Napoleons aus Aegypten und besonders nach dem Siege von Marengo

ruhigere Zeitumstände eintraten, kehrte FoScolo mit den Truppen nach Mailand zurück, da fand er zu seinem Erstaunen — so erzählt er selbst —,

daß das von ihm abgebrochene Werk dennoch zu Stande gekommen war.

Ein junger Mann, dem er bei seinem Abmarsche von Bologna seine Papiere übergeben, um dieselben den Nachforschungen der Polizei zu ent­ ziehen, hätte sich durch die Versprechungen deS Buchhändlers bestimmen lassen, mit Hülfe jener Papiere den Roman zu vollenden, er habe ihm

den Titel gegeben „letzte Briefe deS Jacopo OrtiS oder wahre Geschichte

zweier Liebenden".

Mit großer Ueberraschung habe FoScolo gesehen, daß

vorn in dem Buche sich sogar sein Bild befand; mit dem Buchhändler aber hätte er wegen der Fälschung einen heftigen Streit gehabt.

Wirklich

erschien in dem von Marsili verlegten Monitore Bolognese (Januar 1801)

ein Widerruf, durch den das schon in drei Auflagen verbreitete Werk für untergeschoben und für das Machwerk eines Miethling» erklärt wurde.

Dies hatte denn die wunderbare Wirkung, daß dasselbe in dieser ältesten Form völlig auS dem Buchhandel verschwand.

Der rechtmäßige Inhaber

der Briefe deS OrtiS machte sich inzwischen daran, die Papiere, über

welche er verfügte, zusammenzustellen und zu ordnen, und gab den Roman in seiner jetzigen Gestalt 1802 in Mailand heraus.

In dem Briefe an Bartholdy und später in den erwähnten Aufsätzen erklärt FoScolo auf das Bestimmteste, der Goethesche Werther sei ihm

erst in die Hand gekommen, nachdem er die neue Bearbeitung vollendet gehabt.

Sogleich sei ihm die große Aehnlichkeit zwischen dem Inhalte

beider Werke ausgefallen, an dem Werther aber hätte er den einen Vorzug

bemerkt, daß daS Interesse deS Lesers dadurch ungemein concentriert werde,

daß alle Briefe an einen Freund gerichtet wären, mit dem sich der Leser unvermerkt identifiziere.

„Indem ich den Wilhelm sah, erfand ich den

Lorenzo, die einzige erdichtete Person in meinem Werke."

AlSdann erst

wäre nach dem Muster deS deutschen RomaneS die letzte Umgestaltung vor­ genommen worden.

Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo OrtiS".

79

Obwohl diese Darstellung mit der Miene äußerster Wahrhaftigkeit vorgetragen wird, so wird sie dennoch völlig zu Schanden, wenn man sie mit einer allerdings ganz vertraulich gemeinten Aeußerung FoScolo'S in

einem anderen Briefe zusammenhält, der bisher unbeachtet geblieben ist.

Dieser Brief befindet sich im ersten Bande des Epistolario unter Nr. 118, also elf Nummern vor dem an Bartholdy geschriebenen, in dem Datum

der beiden ist ein Unterschied von zwanzig Tagen (Nr. 118 den 9. Sept., Nr. 129 den 29. September 1808).

Herrn Luigi Muzzi in Bologna

schreibt der Verfasser: „Mein Herr, ich hatte nicht nöthig, mein Gedächtniß anzustrengen,

„um mich Ihrer zu erinnern. — Ihr Name zwar war mir entschwunden, „aber unter meinen Erinnerungen lebte noch immer die Uebersetzung der

„Wertherie*).

Ich danke Ihnen, daß Sie das Andenken an jene Jahre

„— wieder in mir wachgerufen haben u. s. w.

Ich erinnere mich also

„recht wohl an Bologna, wie an den ersten Entwurf deS OrtiS (e di que’

„primi abbozzi dell’ Ortis), an Ihre Rathschläge, wie an Ihre Persön-

„lichkeit.

Auch ist mir im Gedächtniß, daß ich Ihnen im December 1800

„in den Apenninen begegnete: ich ging nach Florenz, Sie kehrten, wenn „ich nicht irre, nach Bologna zurück." haben

die Herausgeber des

Gegen die Echtheit des Briefe-

Epistolario kein Bedenken erhoben,

den

Adressaten kennzeichnen sie in einer Anmerkung als Erfinder einer neuen Methode lesen und schreiben zu lernen, die Schrift worin diese auSeinandergesetzt war, ist FoScolo gewidmet, der seinerseits dem Verfasser in dem angeführten Briefe seinen Dank ausspricht.

Hiermit wäre denn die erste Frage, ob dem Verfasser deS Ortis der Werther für feine Arbeit vorgelegen habe, bejahend beantwortet, besonders zu bemerken wäre nur noch dies, daß die unzweideutigen Zeitbestimmungen

in dem Briefe an Herrn Muzzi genau das bestätigen, was wir in dem

ersten Theile unserer Abhandlung (Bd. 45 dieser Zeitschrift S. 68 und 69) über die chronologische Folge in FoScolo'S Erlebnissen 1800—1802 auS-

einandergesetzt haben.

War nun aber FoScolo von Anfang an mit dem

Werther bekannt, so läßt sich wohl auch mit einiger Sicherheit die Ver­

muthung aufstellen, daß er von vornherein die unglückliche Liebe seines

Helden als Motiv mit in den frühesten Entwurf aufnahm.

Geschah dies

aber, und dachte er dabei, wie er selbst behauptet, daran, aus seinen

eigenen Erlebnissen den Stoff für seine Wertheriade zu schöpfen, dann sind wir zu der Annahme berechtigt, daß der früheren Arbeit ein andere*) Die Herausgeber des Epistolario bemerken hierzu: Imitazione del Werther di Goethe, fatta dal Franceae Perrin, dal Muzzi tradotta e man data al Foacolo.

Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briese deS Jacopo OrtiS".

80

Liebesverhältniß zu Grunde liege, als dasjenige, welches unS der Brief

an Bartholdy andeutet, als daö toskanische nämlich, das wir selbst in daS

Jahr 1801 zu verlegen genöthigt waren.

Den besten Anhalt bietet hier­

für Pecchio'S Darstellung im 2. Capitel seiner Biographie

Foscolo'S.

Die Liebe, sagt er, habe dem Dichter die Hauptidee zu seinem Romane eingegeben, dann schildert er in seiner Weise den Gegenstand derselben, eine Römerin von Geburt, als eine Dame von stattlichem Wüchse, mit

dunklen Locken und ttefschwarzen Augen:

„Ich, der sie nach ihrer Ver­

mählung öfter auf einem Privattheater die Rollen der Isabella in Alfieri's

Philipp

und

der Wittwe Theresa*) in dem gleichnamigen Lustspiele

Greppi's darstellen sah, erinnere mich noch mit Vergnügen ihrer edlen

Vortragsweise und des ausdrucksvollen Spieles, womit sie alle Anwesenden hinriß." Alle Spuren,

die wir im Einzelnen zu verfolgen uns versagen

müssen, führen darauf hin, daß hier die Gattin des Dichters Vincenzo

Monti gemeint ist, die im Jahre 1798 nach Mailand kam, und für die FoScolo mit dem ihm eigenen Feuer leidenschaftlicher Liebe eine Zeitlang

schwärmte.

Die von Carrer hiergegen vorgebrachten Einwendungen haben

ihre Haupt-Quelle in dem Briefe an Bartholdy; was diesen aber an­ langt, so dürfen wir als feststehend ansehen, daß der Verfasser- seine Ab­

sicht, das Publikum über seine Bekanntschaft mit dem Werther, wie über die bei der Liebesgeschichte mitspielenden Personen zu täuschen, in der That lange genug vollständig erreicht hat.

AuS der einen Täuschung

folgte eben hier, wie so oft im Leben, mit Nothwendigkeit die zweite und die ganze Reihe der übrigen.

Da FoScolo einmal den ersten Entwurf

für untergeschoben erklärte, so meinte er seine Behauptung damit stützen

zu können, daß er der neuen Bearbeitung ein anderes LiebeSverhältniß

zu Grunde legte.

DaS erste mußte gänzlich verschwiegen werden, na­

mentlich durfte Bartholdy nichts davon erfahren, denn für die Wahr­

haftigkeit seiner Empfindungen, die er mit dem Blute seines Herzens ge­ schrieben haben wollte, wäre es in der That ein schlechtes Zeugniß gewesen,

wenn ihm nachgewiesen werden konnte, daß dies Herz zwei Mal und so

bald nach einander von heftiger LiebeSgluth zu zwei verschiedenen Damen in dem Grade zerrissen ward, daß er in der Verzweiflung nahe daran

war, sich umzubringen. Durch welche Umstände FoScolo veranlaßt ward, seine erste Leistung für untergeschoben zu erklären, ist nicht schwer herauSzufinden.

Er selbst

erklärt aber auch den von ihm erlassenen Widerruf auf daS Einfachste:

*) Gewiß nicht zufällig sind Theresa und Jsabellina die beiden Namen, die so oft in dem Roma» vorkommen.

Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo OrtiS".

81

der Verfasser sah ein, daß das Werk viele Mängel hatte, daß es feineRufeS und des Publikums nicht würdig gewesen.

In der ganzen Ent­

stehungsgeschichte deS OrtiS ist soviel

an- und weggedichtet

erfunden,

worden, daß man leicht geneigt sein dürfte, sich dem von Pecchio ausge­ sprochenen Urtheile anzuschließen und auch die Rolle jenes Miethlings

eben blos für eine Fiction zu erklären.

Dafür scheint auch der Umstand

zu sprechen, daß vorn in dem Buche sich FoScolo'S Bild befand.

Wie

dann der Verfasser mit dem Buchhändler zurecht kam, werden diese beiden

für sich behalten haben.

Daß daS Buch vielen Anklang gefunden, hatte

sich bereits gezeigt; wenn eS in einer verbesserten Gestalt austräte, ließ

sich hoffen, daß der Beifall noch anhaltender sein werde.

Hinzu rechne

man, daß der erste Druck unter bedrängten, sogar stürmischen Verhältnissen und auch in kurzer Zeit zu Stande kam, sodaß der Plan nicht einmal

ruhig durchdacht und geschickt auSgeführt sein konnte.

Die neue Ausgabe

bot also die beste Gelegenheit, die Mängel zu beseitigen.

Wie schnelle Verbreitung der Roman in Italien fand und welches Aufsehen er erregte, ergiebt sich aus der großen Anzahl von Ausgaben

und Abdrücken, welche rasch hinter einander folgten.

Auch in Frankreich

und England wurde der OrtiS viel gelesen, theils im Originale, theils in Ueberfetzungen oder nachgeahmten Bearbeitungen, und in gelehrten Zeit­

schriften erschienen Abhandlungen, welche die Vorzüge und Schwächen deS

Werkes besprachen. In Deutschland unternahm zuerst Professor

Luden in Jena eine

freilich mangelhafte Uebertragung 1807, auch behandelte er in den Kleinen

Aufsätzen (Göttingen 1807) eingehend die Bedeutung und den Werth deS Buches.

Ein Zeugniß für die Aufnahme des italienischen Werkes im

Norden unseres Vaterlandes findet sich in einem Briefe Georg NiebuhrS —

Hamburg den 26. Februar 1808 an die Henölerin in Kiel: . . . D. hat Die Ueber-

mir den italienischen OrtiS gegeben; der ist ganz vortrefflich.

sctzung ist aber flau.

Laß ihn Dir schicken und lieS ihn.

DaS sage ich

getrost, daß ein Buch nicht unbedeutend ist, bei dem ich wie ein Kind ge­

schluchzt habe.

Die mit dem Druckorte London 1817 erschienene deutsche

Uebersetzung entsprach dem italienischen Originale bei Weitem mehr als

die Ludensche und hat in der Sprache wesentliche Vorzüge vor dieser.

Sie

stammt aus demselben Berlage wie die 15. Ausgabe, der Uebersetzer ist der berühmte Gelehrte I. C. Orelli, der FoScolo sehr hoch schätzte, wie wir

auS dem Briefwechsel zwischen beiden ersehen. Die politische Richtung der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts

sah

aber die in dem OrtiS ntedergelegten Grundsätze und Ideen für

staatsgefährlich an, und daher kam es, daß die „letzten Briefe" in VerPreußifche Jahrbücher. Ad. XLVL Heft l.

6

Ugo FoScolo und fein Roman „die letzten Briefe des Jacopo OrtiS".

82

gessenheit geriethen, so daß man dieselben in Deutschland gegenwärtig

wenig kennt und liest.

Jedenfalls aber haben sie die- Schicksal nicht ver­

dient, einmal wegen ihrer Stellung, die sie in der italienischen Literatur

einnehmen, und ferner deswegen, weil uns in ihnen, wie wir mit Luden

hervorheben, ein lebhaftes Bild der Zeit aufbewahrt ist.

Zu denjenigen Fragen, welche in den Zeitschriften am lebhaftesten

erörtert wurden, gehört die über die Originalität des Buches oder über

sein Verhältniß zum Goethe'schen Werther.

Die Aehnlichkeit zwischen dem

Werther und Ortis ist so groß, daß der von Vielen dem Letzteren ge­ machte Vorwurf, derselbe sei nur ein Plagiat oder eine geschickte Nach­ ahmung, nicht ungerechtfertigt erscheint.

Biö zu einem gewissen Grade

jedoch verdient der Verfasser in Schutz genommen zu werden und eine Vergleichung beider Romane wird lehren, mit welchem Rechte FoScolo

behaupten konnte, sein Werk stelle nur ähnliche Dinge, aber in einer an­ deren Form dar.

Zu dem Zwecke wird eS am geeignetsten sein, auf die

Verschiedenheiten hinzuweisen, welche sich erkennen lassen in dem Geiste und in der Anlage beider Helden, in der Absicht beider Verfasser und in der Darstellung.

Zuerst muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß der LiebeSleiden-

schaft in beiden Romanen eine wesentlich andere Einwirkung eingeräumt ist. Im OrtiS ist eS die Liebe zu einer wtederliebenden Jungfrau, die in dem

Gemüth des Jünglings den Reiz der Hoffnung weckt, wogegen im Werther die Liebe zu einer Vermählten mit der Gluth der verzweifelten Eifersucht

brennt.

Die Leidenschaft, welche in das Innere Werthers Gift ergießt

und ihm alle Lebensfähigkeiten verzehrt, stärkt dagegen das von Rache und

Freiheit glühende Blut des Ortis und macht ihn fähig den Zustand der Verbannung und Einsamkeit zu ertragen.

Der junge Werther erscheint

bei Goethe als ein für das Edle und Schöne empfänglicher Jüngling,

aber getrieben von einem ihm selbst unerklärlichen Verlangen, das Leben

im Schmerz zu genießen; „die Krankheit seiner sittlichen Natur ist eS, die ihm das Leben unerträglich macht und für die seine unglückliche Liebe zum zündenden Funken wird.

Katastrophe.

Der Heftigkeit seiner Leidenschaft entspricht die

AIS er erkennt, daß statt der Glückseligkeit, nach welcher

sein krankes Gemüth ungestüm Verlangen trug, nur innere Schmerzen

und Verzweiflung das LooS seines Lebens sind, da stürzt er sich in den Abgrund der Ewigkeit, und daS zu einer Stunde, wo die Natur rings um ihn schrecklich und furchtbar tobt."

„OrtiS dagegen ist ein Mensch,

welcher an der Ehre und Un­

abhängigkeit seines Vaterlandes verzweifelt und von Anfang an schon zu lange gelebt zu haben glaubt; je mehr er die Fruchtlosigkeit seiner

Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacop» Ortis".

83

Leidenschaft einsieht und die Eitelkeit der menschlichen Hoffnungen, desto mehr befestigt er sich in dem Entschlüsse zu sterben.

Seit länger als

einem Jahre denkt er über den Selbstmord nach, er stellt mit sich selber Betrachtungen darüber an, er überredet sich dazu, erblickt aber in der Ge­ liebten nicht einen Antrieb, sondern ein Hinderniß zur Ausführung, und

erst als er die einzige Person, welche ihm das Leben noch werth macht, sich für immer entrissen sieht, da setzt er die Zeit und den Ort seines Todes fest; und als die Natur, den Frühling wiederbringend, ihn mit

ihrer Schönheit verlocken will, noch länger zu leben, da tödtet er sich, nachdem er mehrere Stunden zuvor mit dem Tode sich besprochen, welcher langsam und

allmählich die Nacht deS ewigen Schlafes um ihn ver­

dichtet." So wie die Werke der beiden Schriftsteller uns vorliegen und nach

dem Eindrücke, den sie auf den Leser machen, war bei beiden die Absicht

eine verschiedene.

Indem der deutsche Autor seine Gedanken über den

Selbstmord und das was dieselben in ihm erweckt hatte, niederschrieb,

gelang es ihm, sich aus einem gefährlichen Gemüthszustande durch einen

Akt der kräftigsten Selbstbefreiung loszuringen; und tote Goethe nachher erklärte, war seine Absicht die, für den Selbstmord Mitleid und Ver­ zeihung zu erwecken, als für pine unheilbare Krankheit gewisser Sterb­ lichen.

Der italienische Verfasser dagegen wollte in seinem Werke den

Selbstmord als das Ergebniß gewisser Umstände darstellen, die den Be­ troffenen in die höchste Verzweiflung an sich selber, an den Menschen und an Gott versetzt haben, und als das einzige Hülfsmittel sich aus diesem hoffnungslosen Zustande zu retten; und er wollte beweisen, daß der Mensch

wohl ein Recht habe, diesem irdischen Dasein freiwillig zu entsagen, in dem er zwar ein Geschenk der Gottheit sieht, das aber für ihn eine un-

versiegliche Quelle der Leiden und eine unerträgliche Last geworden ist.

FoScolo sagt von sich selber, daß er diese Ansicht von dem Selbstmorde auch in seinem späteren Leben beibehalten habe.

Wie sich der italienische Verfasser in Bezug auf die beiden berührten Punkte gegen den Vorwurf eines Plagiates zu vertheidigen versucht hat,

so hat er eS auch in Hinsicht der Darstellung gethan.

„Die Kunst, sagt

er, besteht nicht darin, daß man neue Dinge darstelle, vielmehr daß man sie auf eine neue Weise darstelle.

Wer mir hierin widerspräche, den

würde ich auf die Trauerspiele — und es sind ihrer nicht wenige — von trefflichen Meistern verweisen, welche denselben Borwurf, dieselbe Fabel,

dieselbe Katastrophe, dieselben Personen haben, und dennoch zeiht man sie nicht eines Plagiates.

So hat eS für die Kunst die Natur angeordnet,

die allgemeine Natur, welche beständig dieselben Dinge hervorbringt, die

6*

84

Ugo Foscolo nnb fein Roman „die letzten Briese des Jacopo Ortis".

einzelnen aber merkwürdig macht durch die kleinsten und unendliche Ver­ schiedenheiten, mit denen sie dieselben. auSstattet.

Wenn wir auf diese neue Weise der Darstellung näher eingehen, so ist bei dem Italiener daS Bestreben deutlich zu erkennen, jede einzelne

Handlung, jeden Charakterzug und die Entstehung solcher Grundsätze, wie wir sie an seinem Helden kennen lernen, genauer zu motiviren, während

im Werther mehr daS persönlich

eigenartige Gefühl unmittelbar und

darum mit der größten Wahrheit zum Ausdruck kommt.

Der unglück­

lichen Liebesleidenschaft geht wie eine einleitende Erklärung deS gereizten

geistigen und sittlichen Zustandes im OrtiS die Schilderung der politischen Zerrissenheit und Verkommenheit Italiens voraus und begleitet dieselbe.

Durch diese Zustände wird der für die Freiheit begeisterte Jüngling zur

Verzweiflung gebracht; während sein Herz von dieser erfüllt ist, und mit sich selber ringend, in der Einsamkeit sich nach Beruhigung sehnt, er­

scheint ihm eine neue Quelle deS Lebens, er beginnt zuerst langsam, dann mit vollen Zügen daraus zu trinken, zu spät erst erkennt er daS gefähr­ liche Gift, das er in seinen krankhaften Geist ausgenommen hat, und dies

Gift bereitet ihm den Tod.

Dies Bestreben zu motiviren, tritt besonders

in der Liebesgeschichte hervor und die Umstände sind hier solche, wie sie

Manche im Goethe'schen Werther gewünscht hätten: die Haltung des auf seinen Adel stolzen VaterS der Verlobten, das gleichgültige, eigennützige Benehmen und daS kalte Gemüth des Bräutigams, die bescheidene, zu­ rückhaltende Unschuld deS Mädchens, welche in stiller Duldung alle Opfer einer schönen Seele bringt, welche mit sich selbst die härtesten Kämpfe be­

steht, ohne daß sie ihre Umgebung mehr hineinblicken läßt, als sie durch die Heftigkeit ihrer Schmerzen gezwungen ist, alles dies sind Motivierun­

gen, welche FoScolo nothwendig erschienen, um die traurige Katastrophe herbeizuführen, und die in der That dazu beitragen, dieselbe als eine un­

ausbleibliche erscheinen zu lassen.

Nach dem aber vom Verfasser selbst gemachten Zugeständnisse, kann

unS die große Aehnlichkeit,

welche in Form und Inhalt zwischen dem

OrtiS und Werther besteht, nicht als zufällig erscheinen.

Im Ganzm und

Einzelnen ist dieselbe so groß, daß eine ziemlich starke Einwirkung deS

Werther auf den OrtiS nicht wegzuläugnen ist.

Aber auf der anderen

Seite muß hervorgehoben werden, daß die Haltung und Färbung deS

italienischen Romanes eine durch und durch italienische ist.

Erst all­

mählich werden wir Deutsche, ernster und kälter geartet und verständiger angelegt wie wir sind, uns an die Gluth des Pathos gewöhnen können,

und werden Anfangs vor dieser Heftigkeit der Leidenschaften erschrecken. Deswegen wird daS Buch zwar das tiefste Mitleid mit dem Unglücklichen

Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe des Jacopo OrtiS".

85

in uns erregen, der wegen seiner eigenen, nicht zu beugenden Natur von vornherein rettungslos verloren scheint, aber eS wird uns bei der Wild­

heit dieser unter einem südlichen Himmel geweckten Leidenschaft keine Ge­ fahr bringen.

Um so mehr dagegen können wir uns an seinen Vorzügen

erfreuen, die gewiß nicht geringe sind, und denen der OrtiS das gewaltige Aufsehen verdankt, das er bei seinem Erscheinen erregte.

Wir rechnen

dahin besonders die treffliche Motivierung aller Handlungen, die Groß­ artigkeit deS Stiles, die Feinheit und Natürlichkeit der Darstellung und

die lebendige Schilderung der socialen und politischen Zustände Italiens.

Einen besonderen Reiz verleihen ihm die landschaftlichen Schilderungen und die sogenannten Episoden. In der neueren italienischen Literatur nimmt der OrtiS ohne Zweifel

eine hervorragende Stellung ein und gilt mit Recht für eins der bedeu­ tendsten Erzeugnisse derselben.

Für eine Gattung der Prosa gab er ein

neues Muster, auch hierin dem Werther ähnlich.

Zwar werden Romane

dieser Art allein und vereinzelt pastehen, dennoch aber ist der OrtiS nicht

ohne Einfluß auf die ganze Anzahl neuerer und besonders historischer

Romane geblieben, die seitdem erschienen sind.

Ein Vorbild gab er

durch die Reinheit deS Stils, und zwar in einer Zeit, wo das Ein­

dringen französischer Vocabeln und Phrasen der italienischen Sprache nachtheilig zu werden drohte.

Im Gegensatze dazu zeigt FoScolo eher

eine Vorliebe für antikisirende Ausdrücke und Wendungen, die sich leicht

aus seinen Studien und seinem ganzen Bildungsgänge erklären und ent­ schuldigen läßt.

Gewiß wird Niemand demselben zum Fehler anrechnen,

daß in einem Buche, welches einen für die republikanische Freiheit be­

geisterten venetianischen Jüngling zum Helden hat, diese Begeisterung ge­ nährt erscheint durch daS Studium des classischen Alterthums und gestärkt

durch die Bewunderung für die Heldenthaten der Alten.

Vielmehr werden

wir diesen Zusammenhang mit dem Alterthum als einen Vorzug ansehen,

ebenso wie die außerordentliche Verehrung für die Vertreter der classischen italienischen Zett, welche der Verfasser auf den Helden deS Romanes von

sich übertragen hat.

Damit aber, daß er seinem Werke den nationalen

Hintergrund gegeben, hat er dem ganzen poetischen Gemälde nicht blos einen hohen Reiz verliehen, sondern auch den literarischen Werth desselben

gesteigert; denn darin, daß die Werke der Literatur eines Volkes mit dem nationalen Leben desselben auf daS Engste Zusammenhängen und auS ihm

hervorgehen, werden wir stets einen entschiedenen Vorzug erblicken.

Zum Schluß möge es gestattet sein, auf ein Werk Foscolo's hinzu­

weisen, welches fast um dieselbe Zeit von ihm verfaßt wurde, und durch

daS er sich auf einem anderen Gebiete der Prosa gleiche Verdienste er-

86

Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe de» Jacopo Ortis".

warb: die Rede an Napoleon Bonaparte, geschrieben in dem Zeitpunkte, wo dieser die Abgeordneten Italiens auf dem Congresse zu Lyon ver­

sammelte (November 1801), um die Verfassungsveränderungen der neu

etnzurichtenden italischen Republik zu berathen.

Auch diese Rede trug viel

dazu bei, FoScolo'S literarischen Ruf zu erhöhen. dem OrttS erschienen.

Dieselbe ist kurz vor

Bon den späteren Werken stehen „die Gräber"

dem OrtiS am nächsten, FoScolo'S berühmtestes Gedicht, durch welches er seinem verehrten Freunde dem Dichter Parini ein unvergänglicheres Denk­

mal gesetzt hat, als eins von Stein oder Erz gewesen wäre, dessen Er­ richtung die Behörden bei seinem Tode verhinderten.

In jener Rede hat er sich die Aufgabe gestellt, die bisherigen Miß­ stände in der cisalpinischen Republik, sowie die Mittel aufzuweisen, wie

ihre Heilung zu bewirken sei.

Eine neue Quelle des Ruhmes erblickt er

für Bonaparte darin, daß dieser die Wunden, welche ditrch deS Schicksals

Schuld, durch der Eroberung räuberische Gewaltthat, durch der Regierenden Habsucht und Unwissenheit lange Zeit die unglücklichen Provinzen Italiens gequält haben, mit seiner gewaltigen Hand lindere und heile.

Er thut

dar, wie verderbt in der cisalpinischen Republik die drei Grundbestand­ theile jedes Bürgervereines seien: die Gesetze, die Waffen, die Sitten, und

spricht den stolzen Sieger die Wünsche der Nation aus; er verkündet ihm,

daß der Größe seines Ruhmes nichts fehlen werde, wenn er Italien un­ abhängig und stark mache, nur so werde dies für Frankreich ein kräftiger

Bundesgenosse sein.

Bonaparte übernahm selbst die Präsidentschaft der italischen Republik und bestätigte den neuen Verfassungsentwurf für dieselbe.

Aber die Er­

wartungen einer neuen Ordnung gingen auch jetzt nicht in Erfüllung.

Die italische Republik, ihr Heer und ihre Gelder hingen ganz von Na­ poleons Verwendung ab, dessen Stellung einen immer mehr monarchischen Charakter annahm; bei seinen Kriegen zog er dieselbe ungefragt in Mit­ leidenschaft.

So dauerten die Bedrückungen fort, und diejenigen Männer,

welche die Republik verwalteten, übten ihre Macht nach den Vorschriften, die sie von Bonaparte empfingen.

FoScolo, dessen Hoffnungen auf die

Selbständigkeit der Republik gerichtet gewesen waren, sah sich in diesen

getäuscht-, deshalb trat er auf die Seite der Opposition und blieb auf derselben.

Der erste Ausdruck dieser Enttäuschungen sollte der Ortis sein.

Seitdem konnte er durch nichts bewogen werden, dem Interesse desjenigen

zu dienen, den er für einen Usurpator hielt; niemals ließ er sich dahin

bringen, um die Gunst desselben sich zu bemühen und sich um Ehren zu bewerben, die ihm sonst leicht zugefallen wären. Die Erfüllung

seiner Wünsche und Bestrebungen

erlebte FoScolo

Ugo FoScolo und sein Roman „die letzten Briefe deS Jacopo OrtiS".

87

nicht, vielmehr zwang ihn ein widrige- Geschick, sein Vaterland zu ver­ lassen, und so ist er als ein Verbannter in der Fremde gestorben.

Unter

den Männern aber, welche mit glühendem Patriotismus für die Wieder­ geburt Italiens den Kampf gegen Unterdrückung und Uebermacht eröffnet

haben, ist Foöcolo'S Name stets zuerst genannt worden.

Im Jahre 1870

in der Zeit, als der letzte Schritt zu der Einigung Italiens sich vollzog, haben seine Landsleute seine Gebeine aus England geholt und in der

göttlichen Santa Croce zu Florenz beigesetzt, wo sie neben den Resten seines Meisters Alfiert und

seines Freundes Nicolini ruhen; und die

Dankbarkeit der Nation wird ihm ein seiner würdiges Denkmal errichten

neben den Statuen Dante'S, Macchiavelli'S, Galilei'-, Alfieri'S und an­ derer um das Vaterland verdienter Männer. — Hatte indeß die große

nationale Aufgabe in den- heißen Jahren der Entscheidung alle Parteien bis zu einem gewissen Grade zu einer gemeinsamen Thätigkeit zu ver­

einigen vermocht, so hat sich bald nach der Erreichung deS Zieles der Ge­ gensatz unter denselben wieder schärfer entwickelt: während die Einen daS

Heil deS neuen Italiens in einer besonnenen und maßvollen Entwicklung

des auf constttutioneller Grundlage aufgebauten monarchischen Staates er­

blicken, trachten die Anderen — allerdings in sich gespalten und abge­ stuft — der Verwirklichung ihrer Freiheitötdeen nach und streben theils

unbewußt, theils mit bewußter Anstrengung dem republikanischen Systeme

entgegen.

Diese Letzteren haben FoScolo ganz zu einem der Ihrigen ge­

macht, und daraus erklärt es sich wohl, daß es zu einer allgemeinen Er-

innerungSfeier seines hundertjährigen Geburtstages (FoScolo war nach

dem urkundlichen Nachweise am 26. Januar 1779 auf der Insel Zante geboren) nicht gekommen ist, ja daß manche Zeitungen daS Factum kaum

der Erwähnung für werth gehalten haben.

Dr. F. Zschech.

Aus Ungarn. ES ist ein seltsame- Schauspiel, da- gegenwärtig in der österreichisch­

ungarischen Monarchie aufgeführt wird.

Während Jahrhunderte lang da­

deutsche Volk in diesem Staat das staatsbildende Element war, wird eS

heute Schritt für Schritt zurückgedrängt.

In Böhmen muß es dem

tschechischen den Platz räumen, in Galizien dem polnischen, in Ungarn

dem magyarischen.

Wie insbesonderS die Magyaren gegenwärtig gegen

da- deutsche Leben rasen, davon hat man, bei dem Vertuschen und Schweigen der Mehrzahl der deutschen Zeitungen, in Deutschland keine

Vorstellung.

Hat man doch dem deutschen Leben hier die Axt an die

Wurzel gelegt!

Im vorigen Jahr ist ein Gesetz geschaffen worden, durch

welche- die Volksschulen in Ungarn magyarisirt werden sollen.

Darnach

darf vom 30. Juni 1882 an kein Volksschullehrer angestellt werden, der der magyarischen Sprache in Wort und Schrift nicht völlig mächtig ist und

in jeder Volksschule ist hinfort das magyarische ein obligatorischer Unter­ richt-gegenstand.

Dabei ist zu bemerken, daß eS in Ungarn nahe an

14,000 konfessionelle Volksschulen gibt, zu deren Erhaltung der Staat

keinen Pfennig beisteuert und nur 131 Staatsschulen, die er erhält.

Noch

bezeichnender ist, daß es in dm meisten Theilen Ungarns Landstrecken gibt, wo man im gewöhnlichen Verkehr auf Meilen in der Runde kein magyari­

sches Wort hört; der Zwang der magyarischen Sprache in der Volksschule ist daher nicht einmal in einem praktischen Bedürfniß begründet, sondern

einfach ein herrisches Attentat auf das BildungSmaß der Nichtmagyaren und eine Herabdrückung dieses zu Gunsten der herrschenden Race, deren

Schulen an solchem Ballast nicht zu leiden haben.

Und was bet der

Verhandlung dieses Gesetzes bei aller Leugnung der Absicht seitens der Klägern doch immer klarer herauStrat, war eben die von den Heißspornen

betonte Nothwendigkeit allgemeiner Magyarisirung der Nationalitäten in

Ungarn, die '/, der Gesammtbevölkerung im Lande bilden gegen 7ä Ma­ gyaren.

„Ungarn ist nicht ein vielsprachiger sondern ein magyarischer

Staat" höhnte, ohne irgend einen Widerspruch von maßgebender Seite,

89

Aus Ungarn.

der Abgeordnete Mederaß.

„Wir wollen nicht blos ein selbständiges Un­

garn sondern einen Magyarenstaat.

fang des weitern.

Auch diese- Gesetz ist blos ein An­

Die zweifellose stetige Abnahme des magyarischen

Stammes kann nur durch eines verhindert werden, fügte der Reneget

Grünwald hinzu, daß wir in den Gemeinden mit gemischter Bevölkerung als Unterrichtssprache in die Volksschule das Magyarische einführen." Dieselben Ziele und Gedanken sind eS, die das ungarische Ministerium

bewogen haben im Mat d. I., dem Reichstag einen Gesetzentwurf vorzu­ legen über die Mittelschulen (Realschulen und Gymnasien).

Darnach soll

die StaatSomnipotenz auch ausgedehnt werden über diese Schulen, be­ züglich

deren

wieder

ein ähnliches Verhältniß

Volksschulen, der Staat besitzt fast keine.

wie

herrscht

bei

den

Die hauptsächlichsten Bestim­

mungen de- Entwurfs nach den Beschlüssen des Unterrichtsausschusses aber

sind folgende:

Es kann hinfort an allen Gymnasien und Realschulen

nur derjenige als Lehrer angestellt werden, der ein vierjähriges Universi-

tätSstudium nachweist; ein Jahr davon mindestens muß an einer Univer­ sität Ungarns (Pest oder Klausenburg) zugebracht werden.

Diese Hoch­

schulen aber sind durchaus magyarisch; keine andere BortragSsprache wird

geduldet.

Hier müssen auch alle Kandidaten deS Lehramtes ihre Prüfung

ablegen, natürlich magyarisch.

Für jeden, welches Lehrfach er immer

habe, ist ferner ei» PrüfungSgegenstand: „magyarische Sprache und Lite­

ratur, Sprachlehre und Stylistik, Uebersicht über die Entwickelung der magyarischen Literatur

Schriftsteller".

und Kenntniß

der Hauptwerke

hervorragender

Weiter hat der Kandidat nachzuweisen, „in wie weit er

die magyarische Sprache als Unterrichtssprache kennt".

Durch diese

Bestimmungen wird die früher gegebene Erlaubniß des Gesetzentwurfs, wornach drei Studienjahre an einer außerungarischen Universität zugebracht

werden können, für alle die illusorisch, deren Muttersprache nicht magyarisch ist;

der Besuch

deutscher Universitäten

ist

damit

verboten.

Denn der Deutsche oder Slave, der jenen Forderungen entsprechen will, muß alle vier Studienjahre in Pest oder Klausenburg zubringen und ist damit

wieder dem Magyaren gegenüber im Nachtheil, der in einem Jahr daS lernen und dann drei Jahre in Deutschland wirkliche Wissenschaft studiren

kann.

Damit ist besonders der zäh vertheidigte Zusammenhang der

Siebenbürger Sachsen mit den deutschen Universitäten zerrissen, der dem

siebenbürgischen Landtag im 17. Jahrhundert so bedeutsam für da- ganze Land erschien, daß er bestimmte, wer jemals diesen Besuch hindern wollte,

der „soll vor Gott verflucht und in dieser Welt jeder Ehre bar sein". Aber eS kommt noch etwas hinzu.

An den Mittelschulen selber soll

das magyarische obligatorisch und so gelehrt werden, daß die Schüler in

90

Aus Ungarn.

Wort und Schrift die Sprache geläufig gebrauchen. ist der gesammte Unterricht magyarisch.

An den Staatsschulen

Vergebens gebietet § 17 des

Nationalitätengesetzes, daß der Staat verpflichtet ist, dafür zu sorgen, „daß die Staatsbürger jedweder Nationalität in ihrer Muttersprache

sich

bis zu dem Punkte ausbilden können, wo die höhere akademische

Bildung anfängt."

Solche Bestimmungen, nur da um nach außen zu

prunken, hält man einfach nicht; der ungarische Staat errichtet nur ma­ gyarische Lehranstalten.

Solche Vergewaltigung und Verhöhnung wagt man natürlich nach

außen nicht einzugestehn. Wochen verkündigt, lediglich

darum:

Da wird ein Fechterkunststück gebraucht und seit

es handle sich bei der Einführung dieses Gesetzes

dem

Staat dasjenige Maß des

Einflusses

die

auf

Schulen zu sichern, das er u. a. in Deutschland mit schweren Kämpfen sich errungen.

Man verkündigt dabei freilich nicht, daß der ungarische

Staat thatsächlich — kein Staat, sondern eine Magyarisirungsanstalt ist. Es handelt sich also in vermehrter Staatsaufsicht über die Mittelschulen nicht um einen Kulturfortschritt, sondern um Vernichtung der deutschen und

andern nichtmagyarischen Schulen; in Siebenbürgen ist es ein Attentat

auf die tiefsten Wurzeln des deucschen Lebens unter den Sachsen.

Man

darf nicht übersehn, daß es in ganz Ungarn eben deutsche Mittelschulen nur gibt,

insoweit sie die evangelische Kirche in Siebenbürgen erhält;

Verstaatlichung ist in Ungarn gleichbedeutend mit Magharisirung,

also

Ruin. — Darum ist auch die Autonomie der Kirche in Ungarn, ihr Recht, selbständig Schulen zu erhalten, von ganz anderer Bedeutung als an­

derswo.

Ohne dieses Recht wäre hier der Protestantismus der Jesuiten­

politik des 17. und 18. Jahrhunderts zum sichern Opfer gefallen und hätte in Siebenbürgen evangelische und deutsche Kultur schon lange ihr

Grab gefunden.

In Ungarn sind der Wiener und der Linzer Friede, in

Siebenbürgen der Staatsvertrag deS Leopoldinischen Diploms und der

Sathmarer Friede sowie eine lange Reihe von Religionsgesetzen aus der Zeit der Fürsten und des Kaiserhauses Habsburg Zeugniß davon.

die Rechtsstellung der

Und

„akatholischen Kirchen", insbesonders wieder

in

Siebenbürgen, ist eine so unanfechtbare, daß es abermals der Mißachtung

allen Rechtes und Gesetzes bedurfte, wie sie den jetzigen Machthabern in

Ungarn eigen ist, um einen solchen Gesetzentwurf einzubringen.

Wenn

der türkische Sultan sich derartiges erlaubt, so wird die Frage zum Ge­ genstand eines europäischen CongresseS gemacht; in Ungarn wirthschaftet

man ungestört. So sind denn die einzelnen Confessionen um so mehr gezwungen ge-

All« Ungarn­

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wesen, Stellung zu nehmen gegen den Entwurf, der unter dem Vorwand des staatlichen Oberaufsichtsrechts alle außer den magyarischen Schulen

unmöglich machen würde.

Es liegt darin nichts „Kulturfeindliches", wie

der „Pest. Lld." höhnt, sondern eö ist der aufgedrungene Kampf für eine Lebensbedingung.

Der Stellung der Confefsionen, die hier um es nochmals zu betonen, nationale Güter und Güter des protestantischen Kulturlebens ver­ theidigen, ist es zu verdanken, daß der Gesetzentwurf vorläufig von der

Tagesordnung abgesetzt worden ist

Aber eS ist kein Zweifel, daß wenn

nicht auch in der öffentlichen Meinung draußen die Ueberzeugung durch­

dringt,

eS handle sich hiebei um einen neuen Schlag in erster Reihe

gegen deutsches und protestantisches Leben — dieser Schlag doch noch ge­

führt wird.

Politische Correspondenz. Nach der Entscheidung.

Berlin, 9. Juli 1880.

Volle sechs Wochen hat der preußische Landtag zur Berathung des Gesetzes betreffend Aenderungen der kirchenpolitischen Gesetze verwendet und zwar sechs Wochen einer Sommersession, die ursprüriglich nur be­

stimmt war, der sachlichen Verständigung über die Organisation der all­

gemeinen Landesverwaltung den formalen Ausdruck zu geben.

Obgleich

der Landtag seit Ende October versammelt war — in die dreimonatliche

Pause vom 20. Februar bis 20. Mai fällt die Session des Reichstags — haben wir nie weniger über parlamentarische Ermüdung klagen hören, als gerade in den letzten Wochen.

Und mehr als das — das Interesse der

Bevölkerung ist den Verhandlungen des Landtags über die kirchenpolitischen Fragen in einer so allgemeinen und intensiven Weise gefolgt, daß selbst

die nicht-preußischen Zeitungen, die sich sonst in von Jahr zu Jahr stei­

gendem Maße gegenüber den Vorgängen im preußischen Landtage spröde

zeigen, dieses Mal nur Ohren hatten für das Intermezzo, welches sich auf der Tribüne am Dönhofsplatz abspielte.

Die Behauptung, daß das

preußische Volk des Culturkampfs müde sei, daß eS, so zu sagen, um jeden Preis Ruhe und Frieden wieder haben wolle, konnte nicht in schlagenderer Welse widerlegt werden,

als eS durch die leidenschaftliche Theilnahme

aller Kreise an den letzten parlamentarischen Kämpfen geschehen ist.

Nicht

am wenigsten hat dazu freilich die eigenthümliche Gestaltung des Gesetz­ entwurfs beigetragen, der für die Regierung weitgehende Vollmachten ver­

langte, ohne eine Garantie dafür zu bieten, daß und in welchem Um­

fange und in welcher Richtung von jenen Vollmachten Gebrauch gemacht werde.

Kein Wunder, daß Angesichts der Ungewißheit über daS eigent­

liche Ziel der Regierung nicht eine einzige Partei sich geneigt zeigte, der Führung der Regierung rückhaltlos sich anzuvertrauen.

An halb oder

ganz autorisirten Erläuterungen über die Absichten der Regierung und deS leitenden Ministers hat eS freilich im Laufe der Berathungen nicht

gefehlt; aber bis heute ist es noch Niemandem gelungen, den Widerspruch

zu lösen, in dem die gesetzlichen Mittel zu dem Zwecke stehen, der mit

Politische Cvrrespondenz. denselben erreicht werden sollte.

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Herr von Puttkamer hat in seiner Rede

im Herrenhause erklärt, wie der Staat, als er im Jahre 1873 genöthigt wurde, „seine Rechtsordnung mit gesetzlichen Schutzwehren zu umgeben gegen den Ansturm derjenigen Tendenzen, welche in vatikanischer Richtung in der römisch-katholischen Kirche geltend geworden waren", nicht die Ab­

sicht gehabt habe, einen Conflict mit den Dogmen der Kirche heraufzube­

schwören oder gar in irgend einer Weise den religiösen Ueberzeugungen

der katholischen Bevölkerung entgegenzutreten. Diese nicht gewollte Wirkung der Maigesetze sei indessen eingetreten und deshalb habe die Regierung keinen Augenblick gezögert, die Hand zu einem friedlichen Ausgleich zu

bieten, sobald der Pabst Leo XIII. sich durch das bekannte Schreiben an

den Kaiser im Frühjahr 1878 zu einem solchen geneigt zeigte.

„Die Re­

gierung sah sich aber sehr bald vor der in ihren Augen unumstößlich fest­

stehenden Thatsache, daß zu einem ein wirklich dauerndes Verhältniß ver­ bürgenden Ausgleich mit der Curie nicht zu gelangen sei und war deshalb vor die Alternative gestellt, entweder ihre Bemühungen, den katholischen

Mitbürgern eine Erleichterung ihres Zustandes zu verschaffen, einzustellen oder ihrerseits selbständig auf dem Wege der Landesgesetzgebung vorzu­ gehen und den katholischen Mitbürgern dasjenige zu gewähren, waS sie

ohne Beeinträchtigung der unveräußerlichen Hoheitsrechte des Staates ge­

währen zu können glauben.

Meine Herren,

auf diesem Gedanken —

natürlich immer vorausgesetzt, daß uns die Ausführung eines

solchen Gesetzes durch ein entsprechendes Entgegenkommen von anderer Seite möglich gemacht wurde — beruht der im Mai dem Abgeordnetenhause vorgelegte Gesetzentwurf."

Wozu aber ein Gesetz, dessen

Ausführung von derselben Curie abhängig ist, welche erwiesener Maßen den Ausgleich des Conflicts auf der von der Regierung gewollten Basis

nicht will?

An diesem inneren Widerspruch — und nicht weniger an dem

offenbaren Widerspruch zwischen diesen Erklärungen des berufenen Vertreters der Regierung und dem Inhalte der als authentischer Commentar zu der Vorlage veröffentlichten diplomatischen Aktenstücke ist die Vorlage gescheitert.

„Die Verminderung der Geistlichen, das Verschwinden der Bischöfe, der Verfall der Seelsorge flößen uns die lebhafteste Sympathie mit un­

seren katholischen Mitbürgern ein, die auf diese Weise von ihren Geist­ lichen verlassen werden, weil die Priester auS politischen, den Laien schwer verständlichen Motiven die Seelsorge verweigern.

Es ist Sache der

Kirche und des PabsteS, dies zu verantworten.

Zu andern Zeiten

und in andern Ländern haben wir gesehen, daß die katholische Geistlich­ keit unter sehr viel härteren Bedingungen, ja unter großen Gefahren und

Demüthigungen, dennoch die Gläubigen, die ihrer bedurften, nicht unbe-

Politische Lorrespondenz.

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friedigt ließ, sondern daS Tolerari potest sehr viel weiter trieb, als eS

nöthig fein würde, um in Preußen Seelsorge zu üben, ohne mit den Mai­

gesetzen in Conflict zu kommen.

Wenn die heutige Hierarchie ihr Ziel

und ihre Ansprüche sehr viel höher schraubt und lieber den Gläubigen die

Wohlthaten der Kirche versagt, als daß sie sich den weltlichen Gesetzen fügt, so werden Kirche und Staat die Folgen tragen müssen, welche Gott

und die Geschichte darüber verhängen."

So zu lesen in der vertraulichen, im AuSzuge in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung"

kanzlers

vom 26. Mai publicirten Depesche des Reichs­

Fürsten Bismarck an den Prinzen Reuß, unsern Botschafter

in Wien.

Die Depesche trägt das Datum des 20. April, liegt also

dem Zeitpunkt der Einbringung des Gesetzentwurfs so nahe, und erhält durch die Veröffentlichung nach der Einbringung eine so unmittelbare

Bestätigung, daß die Auffassung, welche sie vertritt, nicht als eine durch

spätere Vorgänge überholte betrachtet werden kann.

Ist aber jene Auf­

fassung in der That die maßgebende, so bleibt — von der Eventualität

einer force majeure, eines moralischen Zwanges abgesehen — für die Vorlegung deS in Rede stehenden Gesetzentwurfs nur eine einzige Er­

klärung übrig.

Der Staat d. h. die Regierung in Uebereinstimmung mit

den beiden gesetzgebenden Factoren formulirt in der zwingenden Form einer gesetzlichen Vollmacht die äußersten Zugeständnisse an die katholische

Hierarchie einerseits und an die katholische Bevölkerung andererseits, um Angesichts der ablehnenden Erklärung der Curie die Verantwortlichkeit

für die Fortdauer der unerquicklichen Verhältnisse voll und ganz auf den Papst und die Bischöfe abzuwälzen. Der Gesetzentwurf vom 15. Mai ent­

hält unter diesem Gesichtspunkte die von dem Pronuntius Jacobini ver­ mißte Aeußerung der preußischen Regiernng darüber, wie dieselbe sich zu den (zwischen dem PronuntiuS und Geheimrath Dr. Hübler erörterten) römischen Desiderien stellen und in wieweit sie ihre eigenen Forderungen aufrecht erhalten wolle.

(Depesche deS Prinzen Reuß vom 15. April.)

Die Regierung mußte sich sagen, daß wenn — unerwarteter Weise nach

dem Verlaufe der Verhandlungen mit der Curie — die römische Partei im Abgeordnetenhause dem Gesetze ihre Zustimmung ertheilte, sie dies nach ihrer ganzen Vergangenheit nur als Mandatar deS PabsteS thun

konnte.

Lehnte das Centrum, wie geschehen, die Anerbietungen der Re­

gierung ab, so schloß eS sich seinerseits dem Non possumus der Curie an.

Je weiter die Regierung, nach der Ansicht der übrigen politischen

Parteien, in ihren Anerbietungen an Rom und daS Centrum über die Grenzlinie des Zulässigen hinauSging, um so durchschlagender war auch

für die katholische Bevölkerung der Beweis geliefert, daß das Scheitern

95

Politische Lorrespondenz.

der Verhandlungen nicht die Folge deS mangelnden Entgegenkommens der Regierung fei.

Von dem Augenblicke an, wo das Centrum die Aner­

bietungen der Regierung als ungenügend zurückwies, war die diplomatische Niederlage des deutschen Unterhändlers durch die moralische der Curie gedeckt.

Die Regierung aber mußte, wenn sie sich nicht dem Vorwurf

der Spiegelfechterei aussetzen wollte, an ihrer Vorlage bis zum letzten entscheidenden Momente festhalten, auf die Gefahr hin, daß das Resultat

der Berathung ein absolut negatives sei.

Ein minder friedliebender oder

parlamentarisch minder gewandter Minister als Herr von Puttkamer wäre an der Lösung dieser heikelen Aufgabe gescheitert.

Wie Herr von Putt­

kamer die seinige aufgefaßt hat, darüber hat er sich bet den Verhandlungen

des Herrenhauses und den Angriffen gegenüber, welche Professor Dr. Dove von evangelischem Standpunkte aus gegen ihn richtete, in völlig zureichender

Weise

ausgesprochen.

„Wenn

der Herr Vorredner, heißt es in dem

stenographischen Bericht, seine Ausführungen damit begann, daß ich unter

dem Beifall deS Centrums glänzende Reden als evangelischer Christ ge­ halten hätte, so ist das eine Aeußerung, an der ich nicht ganz mit Still­

schweigen vorübergehen kann.

Denn da ich nicht blos evangelischer Christ,

sondern auch Staats-Minister bin, so hat eine solche Aeußerung eine po­ litische Beimischung mir gegenüber, deren Natur dem Hohen Hause wohl

deutlich bemerkbar geworden ist.

Ich muß mir gestatten, darauf dieses zu

erwiedern: wenn ich in den Ausführungen gelegentlich der Verhandlungen

über das gegenwärtige Gesetz, die ich im anderen Hause gethan habe, mich

keines vorwiegend polemischen Tones den katholischen Mitgliedern gegen­ über befleißigt habe, so wird das Haus die Erklärung dafür ganz einfach in dem Umstande finden, daß ich eine auf Frieden und Versöhnung ge­ richtete Maßregel zu vertheidigen hatte. ...

Ich habe mir, offen gestan­

den, die Aufgabe, die mir im Abgeordnetenhause oblag, lediglich in dem

Sinne gedacht, daß ich durch meine Allsführungen mit dazu beizutragen habe, um das Ganze oder einen wesentlichen Theil der Vorlage zur An­ nahme zu bringen.

Ich glaube, daß die Centrumsfraction des Abgeord­

netenhauses ganz genau weiß, wie sie mit mir daran ist.

Aber ich habe

die Hoffnung, daß in meinen bisherigen Handlungen oder Worten keine

gegründete Veranlassung gegeben ist zu glauben, daß ich die mir anver­ trauten Staatsrechte und die im Allerhöchsten Auftrage unternommene Wahrung dieser Staatsrechte in irgend einer Weise außer Augen gesetzt

habe.

Ich habe dem Centrum in einer höflichen Weise zu Gemüthe ge­

führt, daß eS meiner Ansicht nach eine Thorheit begehe, wenn es die ihm

gebotene Hand ablehne." Die Höflichkeit des Herrn von Puttkamer hat das Centrum

nicht

Politische Torrespondenz.

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abgehalten, die Thorheit zu begehen, zu der es durch das Beispiel der

Curie autorisirt war, aber daS Centrum konnte sich nicht auf die Negation deS Gebotenen beschränken;

eS mußte endlich einmal eine Erläuterung

liefern jn den seit Jahren mit unnachahmlicher Würde colportirten Er­ zählungen von der Versöhnlichkeit der Curie und natürlich auch deS Centrums selbst.

Wenn der kirchliche Friede nicht schon längst auf fester

Basis wieder hergestellt war,

wenn der sehr begreifliche Herzenswunsch

deS Kaisers noch immer vergeblich auf Erfüllung

wartete,

so trug

Niemand anders die Schuld daran als eine die Bedürfnisse der Gegen­ wart nicht verstehende — Büreaukratie und der Einfluß deS

„falschen

Liberalismus", unter dessen Herrschaft die Maigesetze entstanden waren,

auf die schwankende Regierung.

Der Vorwurf, daß es vom Culturkampf

lebe, mit dem die Regierungspresse jetzt daS Centrum regalirt, ist zu­ erst von

den

ultramontanen Blättern gegen die Nationalliberalen ge­

schleudert worden.

Gutta cavat lapidem.

holte Versicherung,

Die in allen Tonarten wieder­

die Regierung, natürlich

eine ehrlich conservative

Regierung — denn das Centrum gebehrdet sich heutzutage, in Preußen wenigstens, als conservative Partei par excellence — könne einen ehren­

vollen Frieden haben, wenn sie nur wolle, hatte auf die Conservativen

im Parlament um so mehr Eindruck gemacht,

als sie trotz ihrer großen

Erfolge bei den Wahlen durch die Parteiverhältnisse gehindert wurden, dem Drang nach gründlicher Umgestaltung der liberalistischen Gesetzgebung

zu folgen und als das Centrum, welches über die zur Bildung einer festen Majorität erforderlichen Stimmen verfügte, sich darauf beschränkte, durch ein

gelegentliches Zusammengehen mit den Conservativen und der Regierung den

Heißhunger der ersteren nach einer selbständigen Majorität vielmehr zu reizen als zu stillen.

Auf die Dauer blieb jene PhantaSmagorie selbst in den

Kreisen der liberalen, in Wahlkreisen mit katholischer oder gemischt ka­ tholischer Bevölkerung gewählten Abgeordneten nicht ohne Wirkung.

Der

Culturkampf hat die rein oder überwiegend katholischen Provinzen Preußens

dem Liberalismus gänzlich entfremdet und politisch gewissermaßen paralhsirt. Der hervorragende Antheil, den gerade die nationalliberale Partei an der Maigesetzgebung genommen, hat die Wählerschaften theils in das radicale theils in daS conservative Lager getrieben, während die Erwählten, ohne

jede Rücksicht auf politische Parteistellung ihre Stimmen bald gegen bald

für die Regierung in die Wageschale warfen, je nachdem sie von der Re­

gierung Schädigung oder Förderung ihrer kirchenpolitischen Zwecke fürchteten oder erwarteten.

Es ist eine auf die Dauer für den Staat wir für die

Parteien schwer erträgliche Anomalie, daß nahezu ein Viertel aller Man­ date dem politischen Kampf entzogen und Interessen dienstbar gemacht

Politische Torrespondenz.

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wird, welche gewissermaßen außerhalb des Staats stehen — eine Anomalie, die zu unnatürlichen Coalitionen der Parteien unter sich

und mit der

Wenn man also die durch den Cultur­

Regierung geradezu herausfordert.

kampf geschaffene Lage rein äußerlich betrachtet, ohne auf die wirklichen oder eingebildeten Leiden der katholischen Bevölkerung einzugehen, so sind

Gründe genug vorhanden, auch vom protestantischen Standpunkte aus die

Wiederherstellung

des Friedens zwischen Staat und Kirche dringend zu

Ob indessen die großmüthige Verkündigung dieser Friedens­

wünschen.

ja hin und

liebe,

wieder das Paradiren mit derselben das geeignete

Mittel gewesen ist, die Curie und das Centrum einem gerechten Frieden

geneigt zu machen?

daß noch bei Lebzeiten Pius IX. zu

Wir wissen,

einer bestimmten Zeit im Vatikan ernstlich erwogen wurde, ob eö nicht

geboten

sei,

den Versuch einer Verständigung mit der preußischen Re­

gierung

zu

machen;

daß

Versuch

dieser

der hervorragendsten Mitglieder

nachdem

unterblieb,

des sogenannten

eines

linken Flügels

der

nationalliberalen Partei, der heute freilich dem preußischen Abgeordneten­ hause nicht mehr angehört, dem damaligen Cultusminister Herrn Dr. Falk

gegenüber in beredten Worten die Nothwendigkeit vertrat, dem Cultur­ kampf

ein Ende zu machen.

Und fast gleichzeitig war

eS einer der

Führer der nationallibcralen Rechten, der, wie Herr Dr. Lieber neulich

im Abgeordnetenhause anerkennend hervorhob, von der Tribüne des Reichs­ tags zuerst dem Frieden „warme, ergreifende Worte" gewidmet hat. diese Stimmungen im

Politik ausgebeutet wurden, Kanzler aus

Daß

Vatikan von den Gegnern einer versöhnlichen ist ebenso

den Friedensseufzern,

selbstverständlich wie

daß

der

welche von Rechts und Links, von

Oben und Unten auf ihn eindrangen zu dem Schluß geführt wurde, die

maßgebenden Factoren des Staates seien des CulturkampfeS müde, und

es sei also der Moment gekommen, unter möglichst billigen Bedingungen einen Ausgleich herbeizuführen.

Die Berathung deS Gesetzentwurfs vom 19. Mai hat hoffentlich auf

allen Seiten volle Klarheit darüber geschaffen, unter welchen Bedingungen

heute der Friede mit Rom geschlossen werden kann.

Die Vertheidiger

der päpstlichen Politik begnügen sich, wie Graf von Brühl nicht damit,

daß daS Haus, in welchem die Maigesetze ausgearbeitet worden sind,

dem Erdboden gleich gemacht wird; sie sagen heute wie vor fünf Jahren: „Weg mit den Maigesetzen mit Stumpf und Stiel, nur auf der Be­

dingung kann Frieden sein". Auf diese Rede hat Herr Dr. Miquöl bei der dritten Berathung der

Vorlage die einzig zutreffende Antwort gegeben: „ich sage es Ihnen auf­ richtig, Sie bekommen unter diesen Bedingungen keinen Frieden". Preußische Jahrbücher. Bt. XLV1. Heft 1.

7

Und

Politische Torrespondenz.

98

Herr von Puttkamer fügte dem hinzu: „Ich freue mich im Namen der preu­

ßischen Staatsregierung erklären zu können, daß sie in dieser Beziehung mit

dem Abgeordneten Dr. MiquA, und ich denke, mit der ganzen preußischen

Landesvertretung mit Ausnahuie des Centrums absolut auf demselben Boden stehe."

Und im weiteren Verlauf seiner Rede formulirte Herr von Putt­

kamer seine Auffassung und diejenige der Regierung dahin:

Wenn das

Centrum in dieser Weise, wie bisher geschehen ist, thatsächlich die Hand,

die ihm zum Frieden oder doch wenigstens zur Einleitung des Friedens geboten wird, zurückstößt und nicht acceptiren zu können glaubt, so erkläre

ich hiermit feierlich, dann falle die Verantwortung auf Sie zurück, die übernehmen Sie,

die Regierung

ihrerseits lehnt sie ab".

DaS Centrum, vielleicht in Erinnerung des früheren Geständnisses

des Ministers: wenn die Vorlage Gesetz werde, so müsse das Centrum in kurzer Zeit „verduften" — trug kein Bedenken, die Verantwortlichkeit

zu übernehmen, nachdem die Regierung mit den Conservativen die von

seinen

Führern

zurückgewiesen

formulirten hatte.

Von

Abänderungsvorschläge

der

ganzen

großen

als

unannehmbar

conservativen Partei

(107 Mitglieder) wären — nach dem Ergebniß der Fractionsberathung — nur 13 bereit gewesen, die Vorlage im Sinne des Centrums zu refor-

miren.

Aber selbst diese fügten sich der Entscheidung der Majorität.

Wir sind bereit, hatte ja einer von diesen Aeußersten, Herr von Kroecher erkärt, dem Centrum soweit entgegen zu kommen „als die Regierung es

zuläßt".

In der Enttäuschung darüber, daß alles Liebeswerben umsonst

gewesen, daß die seit dem Beginn der Session genährte Hoffnung auf die

Bildung einer conservativ-clerical-welfisch-polnischen Majorität eine Chimäre

gewesen, scheint den Conservativen endlich ein Licht aufgegangen zu sein, daß ihre politischen Grundsätze und diejenigen des Centrums schlechterdings unvereinbar seien. Herr von Rauchhaupt cttirte in der Sitzung vom 26. Juni die Resolutionen der westfälischen Katholikenversammlung in Dortmund,

welche bestimmt waren, das Centrum zur Ablehnung der Vorlage aufzu­

muntern, Resolutionen, welche in erster Reihe ein Gesetz über Ministerverant­ wortlichkeit, allgemeines direktes Wahlrecht, Beseitigung der Beschränkung

der Preßfreiheit sowie des Vereins- und Versammlungsrechts, wahre

Selbstverwaltung der Gemeinden, Kreise und Provinzen, Verkürzung der Dienstzeit in der Armee und Verminderung der Präsenzstärke deS HeereS

im Frieden fordern.

„Wenn Sie alle diese Sätze conservattv nennen,

rief Herr von Rauchhaupt aus, so befinden wir uns auf einem politisch diametral entgegengesetzten Standpunkte.

Selbst in liberalen Programmen

sind so radikale Forderungen nicht enthalten".

Neu sind indessen diese

Sätze nicht; sie wiederholen nur das alte Wahlprogramm der Centrums-

Politische Torrespondenz. Partei.

99

Die Dortmunder Versammlung hat am 17. Mai stattgefunden;

also vor der Einbringung der kirchenpolitischen Vorlage.

Wenn die con-

servative Partei trotzdem die Hoffnung nicht aufgab, auf dem Boden dieser Vorlage ein Bündniß mit dem Centrum zu schließen, so konnte sie für daS Scheitern deS Versuchs nur sich selbst, nicht aber das Centrum

Der freilich etwas späten Erkenntniß, daß mit

verantwortlich machen.

dem Centrum nicht zu pactiren ist (Rede des Grafen Udo zu Stolberg-

Wernigerode im Herrenhause) hat der CultuSminister im Abgeordneten­

hause einen noch schärferen Ausdruck gegeben, indem er dem Centrum zu­

rief:

„Sie werden sich in einem dauernden Krieg mit dem preußischen

Staat befinden müssen, es sei denn, daß Sie ihre Hoffnungen richten auf

große Katastrophen, vor denen Gott unser Vaterland beschützen möge und auf welche Ihre Hoffnungen zu richten Ihr eigener Patriotismus Ihnen

verbieten muß". So hat die parlamentarische Friedensaction zu demselben Ergebniß

geführt, wie die diplomatischen Verhandlungen mit der Curie.

Schon in

den Ende Mat veröffentlichten diplomatischen Aktenstücken wird daS Ver­

hältniß des Centrums zur Curie mit einer mindestens überraschenden

Brette behandelt.

Mit

der

ihm eigenen Rücksichtslosigkeit

weist der

deutsche Reichskanzler die lächerliche Fiction zurück, als ob das Centrum

eine selbstständige politische Partei sei, deren Verhalten sich jeder Ein­ wirkung

seitens des

Papstes entziehe und die also

auch nach einer

zwischen Regierung und Papst erzielten Verständigung fortfahren könnte,

durch ihre Opposition in den Angelegenheiten, die daS kirchliche Gebiet

gar nicht berühren und selbst in den kirchlichen Fragen die Regierung zu weiteren Zugeständnissen zu drängen.

Die Bildung der CentrumSfractton

im Jahre 1871 mit dem ausgesprochenen Zweck, das neue deutsche Reich den römischen Interessen dienstbar zu machen, hat den kirchlichen Conflict

recht eigentlich geschaffen; was ist da natürlicher als daß Fürst Bismarck eine Garantie dafür verlangt, daß der Kampf gegen Reich und Staat nach der Wiederherstellung deS Friedens mit der Curie eingestellt wird?

„WaS hilft uns die theoretische Parteinahme deS römischen Stuhls gegen die Socialisten", heißt eS in der Depesche vom 20. April,

„wenn die

katholische Fraction im Lande unter lauter Bekennung ihrer Ergebung in

den Willen deS Papstes, in allen ihren Abstimmungen den Socialisten

wie jeder anderen subversiven Tendenz öffentlich Beistand leistet?

Unter

Becheuerung guter Absichten, welche niemals zur Ausführung gelangen

und unter dem Vorwande, daß man gerade so, wie die Regierung eS betreibe, die Socialisten nicht bekämpfen wolle, im Uehrigen aber sie verurtheile, stimmt das Centrum stets mit den Socialisten; und wählte die

Politische Correspondenz.

100

Regierung andere Wege, so würden auch gerade diese wieder für das

Centrum nicht die annehmbaren sein.

AIS vor einem Jahre die katho­

lische Partei in der Zollfrage uns ihre Unterstützung lieh, glaubte ich an

den Ernst des päpstlichen Entgegenkommens und fand in diesem Glauben die Ermuthtgung zu den stattgehabten Unterhandlungen.

Seitdem hat die

katholische Partei, die sich speciell zum Dienste deS Papstes öffentlich be­

kennt, im Landtage die Regierung auf allen Gebieten, bei der Eisen­ bahnfrage, bei dem Schanksteuergesetz, bei dem Feldpolizeigesetz, in der polnischen Frage angegriffen.

Ebenso in der Reichspolitik und gerade in

Existenzfragen wie der Militairetat, das Socialistengesetz und die Steuer­

vorlagen steht die katholische Partei wie ein Mann geschlossen unS gegen­ über und nimmt jede reichsfeindliche Bestrebung unter ihren Schutz. Mag

eine solche von den Socialisten, von den Polen oder von der welfischen Fronde ausgehen, das System bleibt constant dasselbe, die Regierung deS

Kaisers nachdrücklich zu bekämpfen.

Fraktion irre geleitet

Wenn man nun sagt, daß

diese

werde durch einige Führer, welche vom Kampfe

leben und bei dem Frieden fürchten überflüssig zu werden, so ist mir das nicht glaublich angesichts der Thatsache, daß so viele Geistliche, hohe und

niedere, unmittelbare Mitglieder dieser regierungsfeindlichen Fraktion sind, und daß deren Politik, den Socialisten Beistand zu leisten, von den Mit­

gliedern deS reichsten und vornehmsten Adels unterstützt wird, bei dem kein anderes Motiv denkbar ist, als die Einwirkung der Beichtväter auf

Männer und noch mehr auf Frauen.

Ein Wort von dem Papst oder

von den Bischöfen, auch nur der diskretesten Abmahnung würde diesem

unnatürlichen Bunde des katholischen Adels und der Priester mit den Socialisten ein Ende machen.

So lange statt dessen die Regierung in

den Basen ihrer Existenz durch die römisch-katholische Fraktion bekämpft

wird, ist eine Nachgiebigkeit für die erstere ganz unmöglich." ES ist natürlich eine Entstellung der Absichten deS Reichskanzlers,

wenn aus dieser Argumentation der Schluß gezogen worden ist, Fürst

Bismarck wolle die Nachgiebigkeit der Regierung gegen die als zulässig

anerkannten Wünsche der Curie davon abhängig machen, daß der Pabst die Abstimmungen der katholischen Fraktion im Sinne der Regierung beeinflusse.

Wer die Einwirkung im bejahenden Sinne als berechtigt an­

erkennt, kann die Berechtigung einer Einwirkung im verneinenden Sinne nicht ablehnen.

Was Fürst Bismarck verlangt, ist das, daß die Neutralt-

sirung der politischen Ueberzeugungen der verschiedenen Elemente, auS denen die katholische Fraktion besteht, zu Gunsten rein kirchlicher.Ge­ sichtspunkte aufhöre.

Das Centrum

umfaßt alle politischen Nüancen,

Adelige und Bürgerliche, Priester und Laien, Welfische Particularisten und

Politische Correfpondenz.

101

Demagogen; aber alle Parteiunterschiede treten zurück vor der Parole:

Für oder Wider die Regierung in majorem ecclesiae gloriam.

Die

bloße Existenz einer solchen Partei ist eine gefährliche Fälschung deS

Parlamentarismus; gleich gefährlich für die Regierung wie für die politi­ schen Parteien.

Die Forderung, daß der Pabst, indem er die ihm er­

gebene Partei zwingt, auf die systematische Opposition zu verzichten, den

alleingültigen Beweis für seinen guten Willen liefere, mit dem Staate in Frieden zu leben, diese Forderung kann nur darauf berechnet sein, die Curie selbst von der Gefährlichkeit einer solchen Vertretung ihrer Inter­

essen zu überzeugen.

Die Erklärung der Depesche vom 20. April:

„so

lange die Regierung in den Basen ihrer Existenz durch die römischkatholische Fraktion bekämpft wird, ist eine Nachgiebigkeit für die erstere

unmöglich" war denn auch, wenn man unter „Nachgiebigkeit" jede Aen­

derung deS Wendung.

Status quo versteht, nichts mehr

keine andere Folge haben können, als die:

katholischen Fraction zu befestigen. welcher

als eine diplomatische

In der Praxis wird die Verewigung des „Culturkampfs" die Existenzbedingungen der

In der Depesche vom 14. Mat, in

die Haltung deS Centrums

einer

wiederholten Kritik unter­

worfen wird, zieht Fürst Bismarck aus denselben Prämissen den entge­ gengesetzten Schluß.

„ES drängt sich die Frage auf, schreibt der Reichs­

kanzler an den Prinzen Reuß, ob der päbstliche Stuhl nicht den Willen

oder nicht die Macht hat, die clertcale Fraction von der Beschützung der­ jenigen Bestrebungen abzuhalten, die er selbst so entschieden verdammt. Jedenfalls hat diese Wahrnehmung

bei der königlichen Regierung die

Hoffnung, daß das Entgegenkommen ein gegenseitiges sein werde, und das

Vertrauen, daß die Verhandlungen in jetziger Sachlage zur Verständigung führen werden, wesentlich abgeschwächt.

Demungeachtet wird die königliche

Regierung in derselben friedliebenden Gesinnung, welche sie den ersten Eröffnungen Seiner Heiligkeit entgegenbrachte und in der Theilnahme,

welche sie stets für die verwaisten Gemeinden empfunden hat, nicht länger

zögern, aus ihrer eigenen Initiative heraus diejenigen Maßregeln

den gesetzgebenden Faktoren vorzuschlagen, welche mit den unveräußerlichen Rechten des Staates verträglich sind und nach ihrer Ueberzeugung und nach ihren Wahrnehmungen in anderen Ländern die Wiederherstellung

einer geordneten Diözefan-Berwaltung und die Abhülfe des eingetretenen Priestermangels möglich machen."

Diese Depesche hielt noch an der Vor­

aussetzung weiterer Verhandlungen fest.

Curie,

angesichts der Ankündigung,

Nachdem aber

inzwischen die

die Regierung werde ohne vor­

gängige Verständigung mit ihr, den Umfang der zulässigen Abän­

derungen der Maigesetze gesetzlich feststellen, die in dem Breve vom

Politische Correspondenz.

102

24. Februar ausgesprochene bedingte Anerkennung der Anzeigepfltcht zurück­

gezogen hatte, schreibt Fürst Bismarck in der Depesche vom 21. Mai, mit der die Veröffentlichungen abschließen:

„Wir werden unsere Absichten in

der Gesetzgebung zu verwirklichen suchen, ohne von der Curie eine

Gegenconcession

zu

erhalten

oder zu erwarten, lediglich

Interesse der katholischen Unterthanen Sr. Majestät des Königs.

im

Wenn

diese Bestrebungen der königlichen Regierung durch den Widerstand der päpstlichen Partei im Landtage zu Fall gebracht werden, oder wenn die

Geistlichkeit von der ihr zu gewährenden Möglichkeit, die Seelsorge zu üben, keinen Gebrauch machen sollte, so können wir das nicht ändern, wissen uns aber auch für die Folgen nicht verantwortlich."

Das Bevollmächtigungsgesetz, welches also einen Keil zwischen die

„Geistlichkeit" und die „päbstliche Partei" im Landtage treiben sollte, ist von der letzteren, und zwar, wie die lehrreichen Artikel der päbstlichen „Aurora" bewiesen haben, unter Connivenz der Curie abgelehnt worden.

Die Fractionsinteressen haben sich stärker erwiesen, als die Rücksicht auf

den kirchlichen Nothstand der preußischen Katholiken.

Daß das Gesetz in

der vorgeschlagenen Fassung für die liberalen Parteien nicht annehmbar

war, bedarf nicht mehr des Nachweises.

Wie sehr aber die Vorlage den

Interessen, die das Centrum zu vertreten behauptet, entgegen kam, ist unseres Erachtens nicht zur Genüge anerkannt und seitens der Regierung

aus

leicht zu errathenden Gründen nicht hervorgehoben worden.

Die

Wortführer des Centrums im Abgeordnetenhause haben ein gutes Theil

Beredsamkeit verschwendet, um den Nachweis zu führen, daß die Erfüllung der Anzeigepflicht bet der Anstellung von Geistlichen, wie dieselbe durch

die 88 15 und 16 des Gesetzes vom 11. Mai 1873 begründet ist,

eine

baare Unmöglichkeit sei; sie haben aber sorgfältig verschwiegen, daß von

dem Augenblick an, wo der Artikel I gesetzliche Kraft erlangt haben würde, von allen Voraussetzungen, an welche das Maigesetz die Zulassung

zum geistlichen Amt in Preußen knüpfte, nur diejenige übrig geblieben wäre, deren Erfüllung im gemeinsamen Interesse des Staates und der zum Frieden geneigten Kirche gelegen hätte.

Wir meinen die Voraus­

setzung des § 16 Nr. 3 des Maigesetzes: der Einspruch (des Oberpräsi­ denten gegen die Anstellung) ist zulässig, wenn gegen den Anzustellenden

Thatsachen vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, daß derselbe den Staatsgesetzen oder den innerhalb ihrer gesetzlichen Zuständigkeit erlassenen

Anordnungen der Obrigkeit entgegenwirken oder den öffentlichen Frieden stören werde.

Wenn die geistlichen Oberen, wie sie daS

in anderen

Staaten thun, sich enthalten hätten, solche Personen zur Anstellung zu

bringen, so hätte eS zur vollen Ausführung deS neuen Gesetzes genügt,

Politische Torrespondenz.

103

daß die geistlichen Oberen das thaten, was selbst Frh. von Schorlemer als zulässig erachtete, nämlich daß sie dem Oberpräsidenten die Namen der

Anzustellenden mittheilten.

Selbst die Aufnahme der Clausel bezüglich der

Anzeigepflicht „in Gemäßheit des Gesetzes vom 11. Mai 1873" in den Artikeln I und IV würde an diesem Verhältniß in dem Rahmen der Vor­

lage nichts geändert haben.

Hätte das Centrum sich von sachlichen Er­

wägungen, nicht von FractionSinteressen leiten lassen, so würde eS die

Vorlage in der Specialberathung unterstützt, und, wie die Regierung in der That erwartete, die Annahme derselben in der entscheidenden Schluß­

abstimmung durch Stimmenthaltung herbeigeführt haben, wenn es durch sein Votum den Entschließungen der Curie nicht gewissermaßen präjudiciren

wollte.

Die falsche Taktik des Centrums hat leider in die Haltung der national­ liberalen Fraction ein Schwanken gebracht, welches gerade in diesen Fragen unter allen Umständen hätte vermieden werden müssen. Sobald einmal fest­ stand, daß das Centrum i. e. die Curie die ganze Vorlage ablehnen, also soviel an ihm liegt, die Friedensvorschläge zurückstoßen würde, konnte die Frage,

ob eS angezeigt sei, von nationalliberaler Seite die Hand zu bieten, um mit

den Conservativen ein möglichst unschädliches Surrogat an die Stelle der Vorlage zu setzen, ebenso gut bejaht wie verneint werden. Wenn Herr Miquel in der Schlußberathung ausführte, daß der Gesetzentwurf, wie er sich in

der Umarbeitung gestalten sollte und wie er sich schließlich auch, von der Ablehnung des Artikels I abgesehen, gestaltet hat, ein ganz anderer, mit

der Regierungsvorlage nicht auf demselben Boden stehender sei und daß deshalb er und ein Theil seiner politischen Freunde, „obgleich sie nicht

wissen, wohin man sie führt", für die neue Fassung stimmen würden, so erklärte Herr Dr. Rickert mit demselben Recht, weil wir nicht wissen,

wohin man uns führen will, lehnen wir es überhaupt ab, der Regierung Vollmachten zu geben, von denen, nach der Versicherung der Herrn von

der katholischen Partei, die Curie ohnehin keinen Gebrauch machen wird. Herr Miquel will die neue Fassung nicht ablehnen, weil er den Inhalt

derselben als ein Entgegenkommen gegenüber begründeten Klagen unserer katholischen Mitbürger betrachtet.

Diejenigen Bestimmungen, welche in

der That diesen Charakter haben, die neuen Artikel I, V, VI war auch

Herr Rickert bereit anzunehmen; aber den Artikel II, betreffend die An­

stellung von BisthumSverwesern in den durch den Tod der Bischöfe erle­

digten Bisthümern, sowie die mit diesen zusammenhängenden Artikel III und IV lehnt Herr Rickert ab, weil sie ohne vorheriges Entgegenkommen

der Curie unausführbar sind. Welche Erwägungen oder welche Stimmungen man als ausschlaggebend

Politische Eorrespondenz.

104

betrachten will, so konnte doch eine große Partei, wie eS die national­ liberale trotz alledem ist, eine Partei von 97 Mitgliedern, die an Zahl

dem Centrum nur um 3, der konservativen Partei nur um 10 Mitglieder nachsteht, keinen bedenklicheren'und für ihr Ansehen gefährlicheren Schritt

thun, als, wie geschehen, sich in zwei nahezu gleichstarke Gruppen auf­ lösen.

Ein Bischen

mehr FractionSparticulariSmuS würde die Partei

vor dem Schicksal bewahrt haben, die Entscheidung aus der Hand zu geben und den Schein eines Zwiespalts über die kirchenpolitischen Fragen

hervorzurufen. Den Schein eines Zwiespalts — denn, wie Herr Miquöl mit Recht behauptete, würden; die Nachgiebigkeit der Curie in dem

scheidenden von beiden Theilen der Fraktion festgehaltenen Punkte, die Anzeigepflicht nämlich, vorausgesetzt, auch die Gegner des Gesetzes einer sehr viel Wetter gehenderen Milderung der Maigesetze zustimmen.

Und

wenn

wenigstens

das

Zusammengehen

des

einen

Theiles

der Fraktion mit den Conservativen und Frei-Conservativen hingereicht hätte, eine feste, daS Terrain beherrschende Majorität zu bilden!

So

aber spaltete sich daS HauS in zwei ganz gleiche Theile und nur die Stimmen der vier Minister, welche dem Hause angehören, gaben den

Ausschlag zu Gunsten der Annahme des Gesetzes.

Die Leitung der Fraktion hat wieder einmal sehr unglücklich operirt; und da

nun

augenblicklich die skandalsüchtige Journalistik nichts An­

deres zu thun hat, so wird die Differenz, die im FracttonSzimmer nicht ausgeglichen wurde, jetzt in der Tagespresse auSgefochten — natürlich

zum Ergötzen der gemeinsamen Gegner, die sich an der Möglichkeit weiden, daß die nationalliberale Partei, in der Verstimmung über den parlamen­

tarischen Fehltritt sich in geradezu selbstmörderischer Weise in

standtheile auflösen könnte.

ihre Be­

Wem anders würde dieser neue und schwerste

Fehler zu Gute kommen, als den extremen Parteien, den Hochconservativen, die endlich von der unangenehmen Pflicht befreit würden, der liberalen

Mittelpartei Rechnung zu tragen und der Forlschrittspartei, die sich selbst­ verständlich beeilen würde,

den Herren Rickert und Genossen ihre Pro­

tection angedeihen zu lassen. Denn wie will man auf *°m Boden der Abstimmung vom 28. Juni eine neue liberale Partei" begründen?

Die Minorität der Fraktion, welche gegen das praktisch werthlose Gesetz gestimmt hat, umfaßt vorwiegend freihändlerische Elemente; aber bewährte

Freihändler wie Grumbrecht haben mit Herrn von Bennigsen für daS Gesetz gestimmt.

Und der eigentliche Führer der Minorität, Staatsminister

Dr. Falk hat am 12. Juli 1879 int Reichstage seine Stimme für den

neuen Zolltarif abgegeben.

Der Boden, auf dem sich die Minorität zu­

sammenfand, ist der der Verneinung gegenüber einer zur Zeit als unzu-

Politische Correspondenz.

105

lässig und überflüssig erkannten Friedensdemonstration an die Adresse der jedes Entgegenkommen verweigernden Curie.

Gesetzes

Mit der Publication des

aber ist die Phase der Verhandlungen und für die nächsten

Jahre auch diejenige der „organischen Revision" der Maigesetze zum Ab­ schluß gebracht.

Von neuen Verhandlungen' oder weiteren gesetzgeberischen

Actioneir kann erst wieder die Rede sein, wenn die Curie durch Aner­

kennung

der gesetzmäßigen Anzeigepflicht den

drückten Beweis ihre Friedensliebe geliefert hat.

beseitigt,

dtlrch Thatsachen

ausge­

Vorerst ist die Gefahr

daß ein preußischer Gesandter im Vatikan die Lücke ausfüllt,

velche dtlrch die Abberufung des belgischen Gesandten entstanden ist.

Wie

in Belgien der Versuch gescheitert ist, trotz des vatikanischen Concils die Verantwortlichkeit der Curie für die staatsfeindliche Haltung der Bischöfe

abzulehnen, so ist auch in Preußen der Curie die Möglichkeit verschlosseu, deil Schein der Versöhnlichkeit aufrecht zu erhalten, solange die katholische

Fraktion den Kampf gegen Staat und Reich fortführt. So unnatürlich auch die Vermischling grundverschiedener Elemente in der nationalliberalen Partei erscheinen mag:

Die Abstimmung über

das Kirchengesetz bietet keinen genügenden Anlaß zur Trennung.

In Frankreich sehen wir bereits das Vorspiel zum letzten Akte der Begründung der „Republik für die Republikaner" in Scene gehen.

Während

Gambetta die Radikalen drirch die Amnestirung der Commune mittelst eines

Gesetzes, welches auch die Brandstifter und Mordbrenner in die bürger­ lichen und politischen Rechte wieder einsetzt, zu versöhnen

bestrebt

ist,

soll die Auflösung der Jesuiten-Niederlassungen den clerical-legitimistischen Gegnern der Republik endlich den letzten Halt entziehen.

So soll

der Boden vorbereitet werden, um aus den Neuwahlen zur Deputirtenkammer und aus den Ergänzungswahlen zum Senat im nächsten Jahre die unvermeidliche Dictatur Gambetta's hervorgehen zu lassen.

Die Ab­

neigung Frankreichs gegen auswärtige Abenteuer ist zur Zeit noch be­

dingt durch den Wunsch, in regulärer Weise die Krönung des Gebäudes vorzubereiten; aber die Gährung, in der sich das republikanische Frank­

reich befindet, kann jeden Augenblick zu einer Krisis führen, welche den Dictator „.o^gt, vor der Zeit auf die Scene zu treten und die aus­ wärtige Politik oder, um ohne Umschweife zu sprechen — die Revanche­

politik zur Ueberwindung der inneren Schwierigkeiten nach dem bekannten Recept.zu benutzen.

Die Beschleunigung dieses Processes wäre um so

mehr zu befürchten, wenn die Türkei den Versuch machen sollte, sich den

Consequenzen des Berliner Vertrages und ihrer eigenen Schwäche durch ein fatalistisches Va-Banque«®piet zu entziehen.

Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1. Heft 1.

•8

Notizen. A. v. Taysen.

Die militärische Thätigkeit Friedrich deS Großen

im Jahre 1780.

Berlin 1880.

Mittler u. S.

8°. 38 ©.

Herr Major v. Taysen läßt seinen Schriften: Friedrichs des Großen Lehren

vom Kriege (1877) und der Ausgabe und Erläuterung des militärischen Testaments Friedrichs des Großen (1879 aus

den Miscellaneen zur

Geschichte König

Friedrichs des Großen) im gleichen Verlag die vorliegende Studie zur militäri­ schen Geschichte des großen Königs folgen und beabsichtigt dieselbe in Zukunft

bis zum Tode Friedrichs des Großen fortzusetzen.

Nach einer Einleitung über die politische Lage deS Jahres 1780 — bei welcher der berühmte Fall des Müllers Arnold der gestellten Aufgabe zu fern

liegt, um so ausführlich berührt zu werden — stellt der Herr Berfaffer nach

umfassendem archivalischem Material in anregender Weise die unermüdliche mili­

tärische Thätigkeit des körperlich bereits leidenden Helden dar und giebt uns ge­ wissermaßen im Durchschnitt ein anschauliches Bild dieser so wichtigen Seite

seiner Regierung.

Die große Sorgfalt des Königs in der Auswahl, Beförde­

rung und Durchbildung der Offiziere tritt in's hellste Licht.

Erbfolgekrieg verwilderten Elemente wurden beseitigt.

Die im bairischen

Bei den Husaren beför­

derte Friedrich der Große im Gegensatz zu seiner ausschließlichen Vorliebe für

adlige Officiere hin und wieder sogar tüchtige Wachtmeister „damit nicht so viel

jung Zeug von Officiers bei die Husaren ist".

Bei dieser Truppe wünschte er

noch weniger als sonst, daß die Officiere heiratheten.

Kriegsräthe, — wie es

ja von dem verdienten Schaffner bekannt ist, beim König nicht sonderlich be­

liebt, — sollen nicht adliger Herkunft sein.

Trotz seiner großen Sparsamkeit, auch in Bezug auf Pensionirung invalider Officiere, kargte der König nicht mit Belohnungen an besonders tüchtige Offi­ ciere und mit ehrenden Auszeichnungen für die heldenhaften Generale.

1780

wurde das — jetzt bekanntlich öffentlich nur in Bronzenachbildung aufgestellte — Seydlitzdenkmal von Taffaert auf dem Wilhelmsplatz errichtet, und der alte

Zielen, dessen 150jähriges Militärjubiläum jüngst so glanzvoll gefeiert wurde, erhielt Erlaubniß, sich bei einer Revue „der Vorrechte eines Veteranen bei den Römern" zu bedienen, nämlich die schweren Adlerflügel und die Tigerdecke seiner Uniform abzulegen.

Friedrich vermied Gunstbeweise für ihm werthe Persönlichkeiten, wenn da­ durch Andere geschädigt wurden.

Geburts- und Neujahrswünsche, Geschenke,

Notizen.

107

namentlich an Wild und Früchten bekundeten, wie nahe der ruhntgekröule könig­ liche Feldherr persönlich seinen Officieren stand.

Den Werth und die Bedeutung der nach seinem Tode so vielfach vernach­ lässigten kriegswissenschaftlichen Bildung würdigte der große kriegswissenschaftliche Schriftsteller natürlich vollkommen, war jedoch ungehalten, daß der Mineur-

capitän v. d. Lahr eine Schrift über die Minirkunst drucken ließ: „Wenn wir das wissen, ist das gut für uns und nicht für andere Leute."

Nach sorgfältiger

Untersuchung einer Erfindung des Lieutenant von Freitag wurden bis zum Februar 1781 alle in den Händen der Truppe befindlichen Gewehre mit koni­ schen Zündlöchern versehen, wodurch das zeitraubende Zuschütten von Pulver

vor dem Schuß unnöthig wurde.

Eine fernere von einem Büchsenmacher vor­

geschlagene Verbesserung des Zündlochs wurde bei den Borrathgewehren ein­ geführt. Der Herr Verfasser veröffentlicht und erläutert eine bisher ungedruckte „Instruction an die Inspecteurs der Infanterie", welche namentlich durch einige

Vorkommnisse des bairischen Erbfolgekriegs veranlaßt war.

Vor Allem sollte

die Dorfvertheidigung, auf deren Wichtigkeit der letzte deutsch französische Krieg die Aufmerksamkeit wieder in erhöhtem Maße gelenkt hat, besser geübt, auf das Nachrichtenwesen größere Sorgfalt verwandt werden.

Die Offensive soll kühn

und doch maßvoll und besonnen sein; je widriger die Umstände, desto mehr soll

durch, neue Anstrengungen ein Umschwung herbeigeführt werden, ein Streben, welches die preußische Heerführung in jeder glänzenden Periode bis auf die jetzige beseelt hat.

Die in der Instruction von 1780 vorgeschriebenen Uebungen

können als Keim der heutigen Officieraufgaben angesehen werden.

Friedrich

der Große duldete keineswegs, wie man ihm vorgeworfen hat, bei den berühmten

Potsdamer Manövern Dinge, welche nur auf dem Exerzierplatz ausführbar find, dieselben waren durchaus nicht künstlich.und auf imposante Tableaus berechnet,

sondern sollten Führung und Verhalten großer Truppenmassen in der Schlacht lehren.

Friedrich der Große allein suchte die ungefüge Form der Lineartaktik

flüssig zu machen.

So wenig der Herr Verfasser die Uebelstände auch des fridericianischen Heerwesens der letzten Zeit verkennt, so hat er doch mit Erfolg nachgewiesen,

daß dasselbe bisher zu ungünstig beurtheilt worden ist.

Nicht nur der Militär,

sondern auch jeder GeschichtSfreund wird seine Schrift mit Vergnügen lesen,

v. K.

v. Estorfs.

Taktische Betrachtungen über das Jnfanteriegefecht

auf dem Schlachtfeld von Gravelotte — St. Privat. 1880.

Mittler u. S.

8°.

Berlin.

75 S.

Es kann in dieser Zeitschrift nicht beabsichtigt sein, ein Urtheil über die taktischen Lehren auszusprechen, die Herr Major v. Estorfs aus dem Verlauf

der Schlacht von Gravelotte — St. Privat zieht, vielmehr kann es nur gelten,

108

Notizen.

auf seine Schrift als auf einen kritischen Beitrag zur Geschichte der furcht­ barsten Schlacht im deutsch-französischen Kriege, eine Ergänzung der objektiven

Darstellung im Generalstabswerk hinzuweisen.

Der Verfasier spricht als die

herrschende Ueberzeugung in unserem Heere aus, daß wir nufere damaligen

Erfolge bei oft großen taktischen Fehlern der Vorzüglichkeit unserer Strategie,

unserer Organisation und der Truppen danken. Wesentlichen

Compagnie

noch die

nur

durch

eine

Es herrschten damals im

allzuweitgehende

Selbständigkeit der

modificirten Anschauungen der auf den Erfahrungen der napo­

leonischen Kriege begründeten Taktik.

Erst im Lauf des Krieges gewann die

deutsche Kavallerie das vielgerühmte Geschick im Aufklärungsdienst.

Dies trug

namentlich bei der Ueberlegenheit der Chassepotgewehre wesentlich zu den großen Verlusten und dazu bei, daß sich der linke französische Flügel in einer na­ türlich starken und geschickt befestigten Stellung gegen die Uebermacht deutscher

Truppen auf der Hochebene des Point du jour zu behaupten vermochte.

Die

Deckung der zu weit vorgehenden Artillerie und das Waldgefecht verbrauchten nutzlos viele kostbaren Kräfte, während gleichzeitige Angriffe nach gründlicher

Vorbereitung durch die Artillerie schließlich gegenüber St Privat zum Ziele führten.

Der Verfasser kann am Schluß darauf Hinweisen, daß gleichzeitig mit

ihm Oberstlieutenant von Boguslawski im I. Bd. der Entwickelung der Taktik

seit dem Kriege 1870 -1871 zu denselben taktischen Ergebnissen gelangt ist. v. K.

Verantwortlicher Redacteur:

H. v. Treitschke.

Druck und Verlag vvn G. Reimer in Berlin.

Der deutsche Prosastil in unsern Tagen. Motto:

„Wir sind nicht philiströs, intolerant, reactionär, aber wir wollen nicht, daß Freiheit heiße, was Frechheit ist, geistreich, was Unsinn ist, Bildung, waS Verunstaltung, Regel, was Unwissenheit sich nuSklügelte." LanthippuS.

Als Goethe in dem viel besprochenen und viel angefochtenen 29. vene-

tianischen Epigramme das merkwürdige Bekenntniß ablegte, daß er, der so Mancherlei unternommen, nur Ein Talent der Meisterschaft nahe ge­

bracht habe, „Deutsch zu schreiben", da hat er unS bestimmter, als

er sonst wohl pflegt, auf die Schwierigkeiten hingewiesen, mit denen er Zeit seines Lebens im Kampfe lag.

Viele von seinen Nachfolgern, zum

Theil grade solche, die den Namen dieses größten Genius unserer Nation ganz gern im Munde führen, lassen weniger klar erkennen, daß sie be­

müht sind, den schwer zu behandelnden Stoff der deutschen Sprache kunst­ voll zu bändigen.

Als Thatsache darf zunächst htngestellt werden, daß die

Kunst des Schreibens, speciell die Handhabung des deutschen Prosastils, seit Goethes Tode in einer, nahezu beleidigenden Weise vernachlässigt worden ist, daß grade die Prosa-Arten, welche quantitativ am meisten ge­

lesen werden, die in den politischen Zeitungen und den endlosen „spannen­ den" Romanen vertretenen, an Nachlässigkeit und Unsauberkeit des Stils daS äußerste leisten und viel dazu beigetragen haben, den Sinn für die

Kunstform der deutschen Prosa leider nicht bloß in döv großen Masse ab­ zustumpfen.

Diese Thatsache braucht nur hingestellt, nicht bewiesen zu

werden; seit einigen Jahren wird sie in der That nicht mehr bezweifelt

außer natürlich von denen, die sich getroffen und doch außer Stande fühlen ihre Sünden abzuthun.

Wie weit die Erkenntniß dieses Uebelstandes sich

schon verbreitet hat, beweist unter Anderm die umfangreiche Literatur, welche auf diesem Gebiete im Verlaufe des letzten Jahrzehnts anklagend

und heilen wollend erwachsen ist*).

Die Tagesliteratur, welche dabei zu-

*) „Die Gallicismen in der deutschen Schriftsprache mit besonderer Rück­ sicht auf unsere neuere schön-wissenschaftliche Literatur." Eine patriotische Mahnung

Preußische Jahrbücher. Bd. XLVL Heft 2.

9

110

Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.

meist angegriffen wurde, aber auch zunächst Veranlassung gehabt hätte, sich diese Angriffe zu Gemüthe zu führen, hat in pharisäischer Selbstge-

rechtigleit entweder gar keine Notiz davon genommen, oder ist hochmüthig

über sie zur Tagesordnung übergegangen.

Indessen ist das angeregte

Thema ein so wichtiges, daß es eine immer wiederholte intensivere Be­ handlung im höchsten Grade wünschenSwerth erscheinen läßt.

Mir kommt eS hier hauptsächlich auf die Beantwortung der Frage an: was erschwert den Schriftstellern unserer Tage die Behandlung der deutschen Prosa als einer Kunstform?

Eine Antwort hierauf läßt sich,

wie mir scheint, nur in der Weise geben,

daß

auch einzelue weitere

Probleme dabei berührt und andere eng damit zusammenhängende Fragen erörtert werden. Ein kunstmäßiger Gebrauch der ungebundenen Sprache, neben der Poesie einerseits und der bloß naturalistischen Anwendung derselben an­

derseits, ist durchaus keine neue Erfindung; alle occidentalischen Cultur­ völker haben neben der Entwickelung der Poesie eine nach bestimmten Ge­ setzen sich vollziehende Formvollendung der Prosa aufzuweisen, und zwar will es scheinen, als ob die letztere zu den feinsten Culturblüthen zähle

und mit der Culmination der jedesmaligen Entwickelungen der Völker

coincidire.

Bei den Culturen, die wir in jeder formellen Hinsicht als

unsere Vorbilder anzusehen pflegen, der hellenischen und italischen, trifft dies entschieden zu.

Die größten attischen Prosaiker stehen chronologisch

in der Mitte zwischen Phidias und Praxiteles,

Alexander.

zwischen Perikles

und

Der Stil PlatoS muß vielleicht überhaupt an erster Stelle

genannt werden, wenn von den höchsten Hervorbringungen menschlichen

FormensinnS die Rede ist, eS hat wohl niemals die Arbeit eines Men­ schengehirns in schönerer, schlichterer, vollkommenerer Weise die ihm eigen­

thümliche Ausdrucksform gesucht und gefunden, als eS in den platonischen Schriften geschieht.

Auch bei den Römern fällt die höchste Entwickelung

des Prosastils mit dem Wirken Cäsars, des größten produktiven Genies dieser Nation zusammen, und ebenso begleitet anderthalbtausend Jahre

später die toskanische Prosa den schönen Entwickelungsgang der Kunst in ziemlich parallelem Laufe.

Von Spanien und Frankreich läßt sich Aehn-

licheS nachweisen; der größte castilianische Prosaiker, Cervantes der Einvon Dr. Franz August Brandstäter. Leipzig, Johann Friedrich Hartknoch. — „Sprachliche Sünden der Gegenwart" von Professor Dr. August Lehmann, Braunschweig, Wreden. — „Deutscher AntibarbaruS. Beitrage zur Förde­ rung des richtigen Gebrauchs der Muttersprache." Von K- G. Keller, Stuttgart, A. Liesching & Comp. — Ueber Verrottung und Errettung der deutschen Sprache." Von HanS von Wolzogen. Leipzig, Edwin Schlömp. — „Das Wort sie sollen lassen flau. Ein Mahnwort an die Freunde unserer lieben deutschen Muttersprache" von ZkanthippuS. Schwerin, Stillersche Hofbuchhandlung.

Der deutsche Prosastil in unfern Tagen.

111

zige, steht in der Mitte zwischen den beiden CulminationSpunkten der

spanischen Cultur, dem Zeitalter der Conquistadores und dem des Murillo, ebenso wie die Thätigkeit des gleichfalls in seiner Art einzigen Voltaire den Raum zwischen dem specifischsten französischen Helven Ludwig XIV. bis zur ebenfalls echt französischen „großen" Revolution hin auSfüllt. Richt so einfach ist das Verhältniß bei den Deutschen, deren Ge­

schichte sich auS lauter Anomalien zusammenzusetzen scheint. Die mönchisch­

ritterliche Cultur deS romanischen Zeitalters, sowie die kriegerisch-bürger­

liche des „gotischen" finden in Kirchenbauten und Kriegszügen den ent­ sprechendsten Ausdruck für ihren Thatendrang.

Darf auch die sich daneben

entwickelnde Literatur nur in geringerem Grade als eine Repräsentantin

des geistigen Lebens jener Zeit gelten, so ergänzt sie uns doch in sehr willkommener Weise das Gesammtbild der deutschen mittelalterlichen Cultur.

DaS ungefüge deutsche Idiom, vor Kurzem noch die Sprache der Bauern,

gewinnt dilrch die Behandlung der priesterlichen und ritterlichen Dichter eine größere Geschmeidigkeit und bereitet sich zu ihrem Beruf vor, daS

trefflichste Ausdrucksmittel deS Denkers, Redners und Erzählers zu wer­

den.

Von großer Bedeutung ist in dieser Hinsicht die literarische Thätig­

keit der volkSthümlichen Geistlichen des

vierzehnten Jahrhunderts.

In

den sogenannten Mystikern ahnen wir schon die Anfänge deS neuen deut­ schen ProsastilS; den größten Künstler auf diesem Gebiete, Luthern, können

wir uns ohne ihre Einwirkung kaum denken.

das Geheimniß,

Sie verrathen uns zugleich

wie ein vollkommener Prosastil

allein entstehn kann,

nämlich die äußerst einfache Regel: willst du gut schreiben, so habe einen

bedeutenden geistigen Gehalt und suche diesen auf eine ganz einfache, dir gemäße Weise zum Ausdruck zu bringen.

Wer unter solchen Voraus­

setzungen die formgebende Kraft besitzt, wird dann zum Künstler.

Luther

besaß diese letztere im höchsten Maße; wohlverstanden, nachdem er in un­ geheurer Anstrengung danach gerungen hatte, sie auS sich zu entwickeln.

Denn die Thätigkeit der beiden größesten deutschen Sprachkünstler, Luthers und Goethes, würde man ganz falsch verstehen, wollte man annehmen, diese Kunst sei ihnen sonder Mühe als reife Frucht in den Schoß gefallen.

Bei Luther traf Mehreres in glücklichster Weise zusammen: eine gewaltige innere Leidenschaft, die ihn oft genug befangen und ungerecht machte, aber

ihn trieb, sich rücksichtslos seine eigene Welt aufzubauen; jene Simplicität und Wahrhaftigkeit, die das sicherste Merkmal des echten Genies sind, und die ihn immer die natürlichen und einfachsten Mittel ergreifen ließen;

endlich sein inniger Zusammenhang mit den Wurzeln deS deutschen VolkSthums.

DaS wunderbarste an seiner Thätigkeit als deutscher Prosaiker

ist vielleicht doch seine Wortwahl.

Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.

112

Er hat dadurch die AuSdruckSformen deS deutschen Denkens und Empfindens so erweitert, daß die nächstfolgende Zeit mit diesem von ihm

geschaffenen Reichthum kaum etwas anzufangen wußte.

Erst Goethe, der

sich auch hierin als Nachfolger und Schüler Luthers wiederholt bekennt,

hat sehr bestimmt an ihn angeknüpft.

Luther schuf Vorbilder für die

erzählende und rhetorische Prosa; einen kunstmäßigen Prosastil für wissenschaftliche Darstellung zu finden, blieb der Zukunft überlassen. ES dauerte lange genug, ehe hier die Erben deS großen Reformators

kamen.

Mit der Verarmung des geistigen Lebens der Deutschen, wie wir

sie von der Mitte des 16. Jahrhunderts an wahrnehmen können, ging auch ein Verfall der deutschen Sprache Hand in Hand.

Ja es hatte in

dem nun folgenden Zeitalter des Barock- und dem des RococcostilS den Anschein, als sollte die edle deutsche Schrift-Sprache, die einzige europäische, die ein wirklich gewachsenes ursprüngliches Idiom ist, kein bloß zur

Schriftsprache entwickelter Dialekt, auf die Stufe eines PatoiS herab­ sinken.

Die eleganteren, bequemeren romanischen Idiome, französisch und

italienisch hatten sich die Gunst der höheren Stände erobert, die rein

wiffenschaftliche

Literatur

blieb

beim

Lateinischen

stehen,

oder kehrte

wieder zu ihm zurück, anstatt zu versuchen, die deutsche Sprache auch

für diese Denkformen ausdrucksfähig und geschmeidig zu machen.

Die

literarischen Zustände der salischen Kaiser schienen wiedergekehrt.

In­

dessen blieb jener Besitz, den uns der höchste Aufschwung der deutschen

Volkskraft im ReformattonSzeitalter erworben hatte, unverloren und trat wieder in sein volles Recht, als vom zweiten Drittel deS vorigen Jahr­ hunderts an das geistige Leben der Deutschen auf allen Gebieten, wie

mit einem Schlage, erwachte; als Bach eine völlig neue Ausdrucksform

für Empfindungen und Leidenschaften schuf, als Winckelmann den Schutt

von Pedanterie und Plattheit hinwegräumte, der unsern Blick auf das hellenische Alterthum verhinderte, als Kant dem wichtigsten aller wissen­

schaftlichen Probleme auf der Spur war und Friedrich dem verkümmerten Nationalgefühl einen neuen Halt gab.

Diese vier zeitgenössischen Männer

wußten wenig von einander; sie hatten genug zu thun, jeder seinen eigenen

Weg zu verfolgen, aber sie haben thatsächlich zusammen gewirkt.

In

Winckelmann und Kant fand zugleich der beleidigte Genius der deutschen

Sprache zwei tüchtige und berufene Vertreter.

Das wichtige an ihrer

sprachbildenden Thätigkeit ist wiederum, daß Jeder sein ganz besonderes geistiges Leben führte und für diesen ihm eigenthümlichen Gehalt mit tiefstem Ernst und treustem Fleiß den speciellen dazugehörigen Ausdruck

suchte.

DieS macht ihren Stil, dem es übrigens nicht an Härte und

Monotonie fehlt, so überaus werthvoll.

Sie sind, mit Lessing und Herder

113

Der deutsche Prosastil in unsern Tage».

zusammen, die Schöpfer des modernen deutschen Prosastils für wissen­

schaftliche Darstellung. Wollte ich nun hier den Namen des größten deutschen Sprachkünstlers einfach als das Glied einer langen Entwickelung als einen von den Vielen anreihen, so würde ich mir eine häufig begangene Ungerechtigkeit gegen den Dichter und eine große historische Unrechtfertigkeit zu Schulden kommen Wunderbar, daß eine ganze Anzahl aus der langen Reihe un­

lassen. serer

gelehrten und breiten Literaturhistorien völlig

befangen

werden,

wenn sie auf Goethe» zu sprechen kommen; sie behandeln ihn einfach als

das Mitglied einer größeren Dichterrepublik, als einen der vielen deut­ schen „Classiker", anstatt ruhig zu bekennen, nicht bloß, daß wir es

bei ihm mit einer ganz besondern Cultur zu thun haben,

sondern auch

daß seine Sprache, die gebundene ebensowohl, wie die ungebundene, ihren ganz incommensurabeln Kunstwerth besitzt.

Es ist ein großes Ver­

dienst H. Grimms, in seinen Vorlesungen über Goethe hierauf, und zwar meines Wissens zum ersten Male, mit allem Nachdruck hingewiesen zu

haben; eS bleibt nur wunderbar, daß die deutschen Philologen hundert Jahre von dem Erscheinen des Werther an nöthig gehabt haben, um diese

Thatsache zu constatiren. Von einer Aneignung dieser Kunst im gewöhnlichen Sinne ist bei Goethe keine Rede, mit Recht durfte er von sich aussagen: Als Poet fand ich Ruhmes Gewinn, Frei Segel, freie Wimpel, Mußt' aber alles selber thun,

Konnte Niemand fragen.

Schon in dem ersten Prosawerk des fünfundzwanzigjährigen Jüng­ lings tritt uns seine Sprache in ihrer ganzen unnachahmlichen Schönheit, Farbe und Modellirung entgegen:

eine vollkommnere, genialere Hand­

habung der deutschen Prosa als in Werthers Leiden kenne ich überhaupt

nicht.

Er hat sich diese Kunst erworben, wie eben ein Genie lernt, alles

beeinflußte ihn, was ihm verwandt war, die Franzosen,

die Römer,

Wielands leichte Eleganz hat er auf sich wirken lassen, aber die Wurzel

seiner sprachlichen Kraft war sein Vermögen, die Welt in klaren, gerun­ deten, plastischen Bildern in sich aufzunehmen, und den gewonnenen Ge-

sammteindruck in einfacher, möglichst prägnanter und bildlicher Weise

wiederum zum Ausdruck zu bringen.

Diese Richtung, die ihm indivi­

duell eigen war, obwohl er sie einmal als ein Gemeingut seines heimath­ lichen Stammes bezeichnet, stellte ihn in einen ganz analogen Gegensatz

zu der

verschnörkelten Kunst und Rede der

eleganten

Kursachsen im

Rococcozeitalter wie schon ehedem seinen großen Glaubensgenossen Winckel-

Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.

114 mann.

ES war gewiß eine treue und zuverlässige Erinnerung, wenn sich ersten Aufenthalt unter den feinen

der 60 jährige Dichter über seinen Leipzigern also äußert:

„Ich war in dem oberdeutschen Dialekt geboren

und erzogen und obgleich mein Vater sich stets einer gewissen Reinheit der Sprache befliß und uns Kinder auf das, was man wirklich Mängel

jenes Idioms nennen kann, von Jugend an aufmerksam gemacht und zu

einem besseren Sprechen vorbereitet hatte, so blieben mir doch gar manche tiefer liegende Eigenheiten, die ich, weil sie mir ihrer Naivetät wegen ge­ fielen, mit Behagen hervorhob und mir dadurch von meinen neuen Mit­

bürgern

jedesmal einen

strengen

Verweis

Der

zuzog.

Oberdeutsche

nämlich drückt sich viel in Gleichnissen und Anspielungen aus, und bei

einer inneren menschenverständigen Tüchtigkeit bedient er sich sprüchwörtlicher Redensarten.

In beiden Fällen ist er öfters derb, doch, wenn man

auf den Zweck deS Ausdrucks sieht,

immer gehörig;

nur mag freilich

manchmal etwas mit unterlaufen, was gegen ein zartes Ohr sich anstößig erweist.

Jede Provinz liebt ihren Dialekt:

denn er ist doch eigentlich

das Element, in welchem die Seele ihren Athem schöpft" u. s. f.

Ferner:

„Mir sollten die Anspielungen auf biblische Kernstellen untersagt sein, so

wie die Benutzung treuherziger Chroniken-Ausdrücke.

Ich sollte vergessen,

daß ich den Geiler von KeiserSberg gelesen hatte und des Gebrauchs der Sprüchwörter entbehren, die doch statt vieles Hin- und Herfackelns, den

Nagel gleich auf den Kopf treffen, u. s. f."

Die ganze Stelle, Dichtung

und Wahrheit, gegen Ende des 6. Buches verdient im Zusammenhang

nachgelesen zu werden. Man begreift nun auch, wie diese Richtung ihn auf Luther Hinweisen

mußte, speciell auf dessen Bibelübersetzung, vielleicht das einzige Buch, das

ganz direkten,

Sprache geübt hat.

intensiven

und nachhaltigen Einfluß

auf Goethe's

Noch in spätem Alter empfiehlt er sie jungen Dichtern,

damit sie „deutsch schreiben lernen". Wenn das Wunder der deutschen Prosa schon in dem Erstlingswerk deS Dichters nach einer Richtung hin vollendet dasteht, so ist doch in

seinen weiteren Dichtungen eine erstaunliche Entwickelung in die Breite

wahrzunehmen. Schönheit

ist

Von ähnlich ursprünglicher Kraft und höchster rhetorischer

vor Allem der kostbare kleine Aufsatz „Natur",

den er

später selbst glaubt in das Jahr 1780 zurückverlegen zu müssen. nun sich

folgenden Hauptwerke,

Die

Wahlverwandtschaften, Dichtung und

Wahrheit und, die Prosa-Dichtung par excellence, der langsam und all­ mählich sich entwickelnde Wilhelm Meister zeigen, welcher Reichthum an

Ausdrucksmitteln und Farben dieser einzige Künstler zur Verfügung hat:

Charakteristiken von Menschen, Situationen und Gegenden, Schilderungen,

Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.

115

Erzählungen, alles gelingt ihm mit derselben Leichtigkeit, für Alles findet

er die gleiche glückliche Form sowohl was Wortwahl als den Satzbau anlangt.

Der vollendete Meister in der gebundenen Sprache, ist er es

auch in der ungebundenen.

Auch hat uns der große Herzenskündiget das

Geheimniß nicht vorenthalten, worin nach ihm das Wesen des großen

Stilisten liegt, wenn er mit unnachahmlicher Einfalt das Leben des

Dichters schildert: „Er fühlt, daß er eine kleine Welt In seinem Gehirn brütend hält,

Daß die fängt an zu wirken und zu leben, Daß er sie gern möcht' von sich geben. Er hätt' ein Auge treu und klug, Und wäre auch liebevoll genug,

Zu schauen manche» klar und rein, Und wieder Alle» zu machen fein;

Hätt' auch eine Zunge, die sich ergoß, Und leicht und fein in Worte floß."

Die Schilderung, welche Goethe hier von der Thätigkeit des Dichters

entwirft,

auch von der des Prosaschreibens.

gilt von jeglicher Kunst,

Hiermit ist denn auch das oben schon Gesagte atlsgedrückt, daß diese Kunst

sich nicht anders lehren läßt als durch die schlichte Regel: habe eine innere Welt und erwirb dir die Form, sie mitzutheilen!

Diese Form freilich ist

in gewissem Sinne lehrbar und speciell von der Goetheschen Sprache

können, müssen wir fort und fort lernen.

sächlich nur in sehr geringem Maße;

ES geschieht dies aber that­

Goethe ist noch nicht der große

Lehrer deS deutschen Volkes, sondern nur der vertraute Freund einer

ganz kleinen Gemeinde, denn die von der Menge ausschließlich gelesene Prosa der politischen Zeitungen, inclusive „Feuilleton" und „wissenschaft­

liche" Beilagen, der Unterhaltungsblätter,

der Roman- und Novellen­

literatur, ist durchschnittlich von einer solchen Jncorrectheit, Verdorbenheit und Häßlichkeit, daß sie für jeden einfach unerträglich sein muß, für den

Goethe die tägliche Lectüre bildet.

Bei so strengem Urtheil, für das ich

als weitere Bestätigung die Beschaffenheit unserer Literaturhistorien schon

oben angeführt habe, werden natürlich immer einzelne Ausnahmen gelten, aber ich wiederhole: wer an der Diction deS Durchschnitts unserer TageSliteratur — es bleibt Jedem überlassen sich hier auS dem Kreise seiner

Erfahrung bestimmte Typen statt deS allgemeinen Begriffs zu setzen — sein Genüge findet, der spare sich

die

verlorene Mühe, als Jünger

Goethes gelten zu wollen. Vor 50 Jahren war die deutsche politische Zeitung noch ein ganz

zahmes bescheidenes Geschöpf, aber in den drei Decennien nach Goethes

. Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.

116

Tode nahm das Zeitungsunwesen immer riesigere Dimensionen an. . Dem

Philister wurde nun plausibel gemacht, daß in der That täglich etwa zehn

Spalten wissenSwerther Dinge mitzutheilen

seien; diese Weisheit des

TageS ward ihm so servirt, daß sein weiteres Nachdenken überflüssig ja

unmöglich gemacht wurde. — Wer sind diese berufenen Lehrer der edelen deutschen Nation?

Gewiß befinden sich viele tüchtige Männer darunter,

die ein ehrlicher Eifer für die Sache treibt.

Aber soll ich über die zahl­

reichen anderen Physiognomien sprechen die sich an den RedactionSpulten und unter den Correspondenten der deutschen politischen Zeitungen, nicht

bloß der Börsenblätter, zeigen? Den nichtsnutzigen Studenten trieb vielfach die Furcht vor dem Examen, den bankerotten Kaufmann die Noth zu dem

Berufe, das Volk über Politik, Nationalökonomie, Literatur rc. zu be­ lehren.

sächlich.

Das bekannte geflügelte Wort des Kanzlers ist durchaus that­ In dem widerwärtigen Stil vieler unserer Zeitungen erkennt

man oft genug mit großem Verdruß diese catilinarischen Existenzen.

Wie

soll man aber nun von Einem, der zwei Stunden über der Lektüre seiner

so beschaffenen Zeitung zugebracht hat, erwarten, daß er sich noch irgend welchen Sinn für sprachliche Schönheit rettet?

Dieser entnervende Ein­

fluß wird von den Romanschreibern vielleicht in noch eindringlicherer und

erfolgreicherer Weise ausgeübt.

Allen voran steht hier Gutzkow, einer der

unheimlichsten Zerstörer und Verderber der edeln deutschen Sprache.

Wenn

das vorherrschende Gefühl gegen einen zeitlebens kranken und unglücklichen

Mann das Mitleiden ist. Iso kann uns dies doch Thatsache nicht hindern, daß

am Aussprechen der

er den Reigen jener unseligen Roman-

„Dichter" eröffnet, die mit kaninchenhafter Fruchtbarkeit ihre endlosen,

bänderetchen Romane produciren und diese Wunderwerke der erstaunten Mitwelt gleichzeitig „unter dem Strich" einer politischen Zeitung, in einem Unterhaltungsblatt, in einer wohlfeilen und einer theuren Buchausgabe anbieten.

Es wäre natürlich pedantisch bei solchen Massenproduktionen

eine edle durchgebildete Form zu erwarten.

Der Philister aber Hat hier

endlich seine „Klassiker" gefunden, und kann recht bös werden, wenn man

sie ihm

nicht ohne Weiteres gelten läßt.

die Leidenschaften —

In solchen Romanen werden

freilich nicht die edeln — angeregt, da giebt cS

politische, religiöse rc. Anspielungen, ja auf Verlangen hat man zugleich

ein historisches Collegium, man braucht gar nicht erst ägyptische Alter­ thümer zu studiren, sondern erfährt zu seiner größten Befriedigung, daß

eS schon vor zwei und vier Tausend Jahren am Nil so platte Bursche gegeben hat, wie jetzt an der Spree.

Einer unserer besten historischen

Dichter im guten Sinne dieses Wortes, W. Alexis, der ein wahrer Lehrer

des Volks sein könnte, wurde über solche Afterautoren schier vergessen;

117

Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.

der treffliche G. Freitag war, wenn man ihn aus den Kritiken gewisser ZeitungS-FeuilletonS und Wochenschriften hätte kennen lernen wollen, ein

verdrehter, ungeschickter Sonderling.

Mitten

auS diesem Hexensabbath heraus erhob zum ersten Male

Arthur Schopenhauer seine nachdrucksvolle Stimme, als Stilist ersten Ranges,

wie wenige berufen, dieses Wächteramtes zu wahren.

Sein

Aufsatz „über Schriftstellerei und Stil" ist noch heute ca. 30 Jahre

nach seinem Entstehen in hohem Grade beachtenswerth, und die oben an­ geführte kritische und polemische Literatur

Besseres thun als an ihn anzuknüpfen.

konnte in der That nichts Zuvörderst freilich war seine

Stimme die des Predigers in der Wüste; sie verhallte wirkungslos.

Heute

aber ist die Reaktion gegen die Sprach-Corruption in ihrer Zunahme deutlich erkennbar; auf einen, der seine Stimme erhebt, kommeil hundert, die mit ihm empfinden, ohne das Wort zu ergreifen.

Freilich stelle man

sich selbst nach der gründlichsten Diagnose die Therapie des anerkannten

Uebels nur gar nicht leicht vor!

Der Mehrzahl der Lesenden ist durch

die Masse des zu bewältigenden Stoffes die Fähigkeit benommen, über­ haupt noch klar zu schauen und scharf zu beuten.-

Statt vor einer, wenn

auch noch so bescheidenen Kunstform stehen sie vor einem Trümmerhaufen,

aber ihr abgestumpftes Stilgefühl erlaubt ihnen nicht mehr diesen Unter­

schied zu erkennen.

Wer es unternehmen will hier zu heilen, muß offen­

bar damit beginnen, unser Sprechen und Denken correkt zu gestalten.

Freilich ist ein Stil, der frei von Verstößen gegen Logik und Grammatik

ist, noch lange keine Kunstform, aber die nöthigste Vorbedingung dazu ist er doch, und mit dieser negativen Seite unserer Aufgabe, der Purifikation

des Stiles sind wir wenigstens am Anfänge des WegeS zu einer kunst­ mäßigen Veredelung unsrer Sprache.

Hierbei

ist nun oft genug ein

grober taktischer Fehler gemacht worden, dem man auch jetzt noch ge­ legentlich begegnet, ich meine die unbedingte Kriegserklärung gegen alle

Fremdwörter. Die abgeschmackten Versuche und Vorschläge der teutonischen Puristen sind zu bekannt, um noch einmal erörtert zu werden.

UebrigenS

ist auch diese Frage aufs leichteste zu erledigen: ein Fremdwort, das uns für einen neuen Begriff eine neue, unserm Idiom mangelnde Form bietet und das sich der deutschen Sprache anpassen läßt, ist keine Verderbung sondern

eine Bereicherung derselben.

Unnölhige Fremdwörter statt

guter, völlig synonymer deutscher anzuwenden wird den Eindruck deS

Gespreizten und Manierten machen; der Gast aber, der uns aus irgend

einem fremden Lande etwas Neues, Werthvolles bringt, ist willkommen.

Weit wichtiger schon ist die Frage nach den Construktionen, die wir fremden Sprachen entlehnen.

Die sprachliche Wendung ist in weit höherem

Der deutsche Prosastil in unser« Tagen.

118

Grade das Eigenthum deS specifischen Sprachgefühls,

als das einzelne

Wort; aber eine Bezeichnung unserer Ausdrucksmittel durch fremde Ent­ lehnungen ist auch hier von vornherein durchaus nicht ausgeschlossen.

ist Sache deS feineren Sprachgefühls hier zu wählen.

ES

Nachweisbar ver­

danken wir der in Deutschland verbreiteten Beschäftigung mit den beiden

alten Sprachen eine Reihe von werthvollen geradezu unentbehrlich ge­ wordenen Construktionen und Wendungen, ohne daß der Geist der deut­

schen Sprache dadurch entartet wäre.

Noch erkennbarer ist vielleicht der Einfluß deS Französischen.

Die

zahlreichen Gallicismen in unserer Sprache, zuvörderst weniger in pole­ mischer. Absicht, als

einfach

im Interesse der sprachlichen Statistik, zu

sammeln und zu ordnen, hatte sich Brandstäter zur dankenSwerthen

Aufgabe gemacht.

Sein Buch bietet eine interessante Uebersicht, wie stark

der französische Einfluß auf unsere gesammte Literatur ist, wie bei Goethe sich einzelne Gallicismen finden, die wir nachzuahmen offenbar nicht nöthig

haben, wie vor Allem Lessing sich seinen Stil unter dem Einfluß französischer Vorbilder geformt hat.

Brandstäter ist indessen selbst bereit, zuzugeben, daß nicht jede nach­ weislich aus

dem Französischen in unsre Sprache übergegangene Con-

struktion eo ipso verwerflich wäre.

Schließlich gilt von den Sprach­

formen doch das Gleiche, was von den Rechtsformen, Kunstformen kurz jeder Ausdrucksweise unseres geistigen Lebens zu sagen ist, daß der Glaube

an unsre eignen Götter uns nicht abhalten darf, auch die geistigen Er­

werbungen Fremder gelegentlich für uns zu verwerthen. Weit wichtiger ist eS, auf die Formen der Corruption in der deut­ schen Sprache zu achten, die ohne den Milderungsgrund eines fremdsprach­

lichen PräcedenzfalleS entstanden sind und sich fortpflanzen.

Der Auf­

deckung und Bekämpfung derselben gelten die ferneren oben erwähnten

Schriften.

Der

„Antibarbarus"

von Keller

und

die

„sprachlichen

Sünden" von Lehmann stehen wesentlich

auf

Bon der beobachteten Thatsache ausgehend,

daß unsre deutsche Sprache

demselben Standpunkt.

sich in einem Zustande beklagenSwerther Entartung befindet, suchen sie das

schwach gewordene Sprachgefühl dadurch zu stärken, daß

sie die land­

läufigsten Verstöße gegen Logik, Grammatik, Wohlklang, guten Geschmack rubrikenweise aufzählen und nachweisen.

umfassender und

prinzipieller

als

Indessen ist die Arbeit KellerS

die LehmannS, vor Allem

ist sein

Material an Belegstellen von der nöthigen Reichhaltigkeit und Univer­

salität.

Denn ganz mit Recht citirt er nicht bloß anerkannte Autoren,

sondern greift auch hinein in den Jargon der TageSblätter, obrigkeitlichen

Verordnungen rc. — was ja bei dem Zwecke seines Unternehmens durch-

119

Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.

aus unerläßlich war.

Damit soll indessen Daniel Sanders keineswegs

gerechtfertigt werden, wenn er in seinem „Handbuch" da wo es sich ledig­ lich um Feststellung des aktuellen, anerkannten

guten Sprachgebrauchs

handelt, in Einem Athem neben Goethe und Ranke etwa Gutzkow und Adolf Stahr citirt.

energisch danken!

Für solche „Classiker" müssen wir ebenso höflich wie Bei dem großen Verdienst, welches

ich willig der

fleißigen Arbeit des „AntibarbaruS" zuerkenne, will ich nicht verhehlen, daß das Buch einerseits gelegentlich über das Ziel hinausschießt, andrer­

seits nicht durchaus vollständig ist.

Der Verfasser will, — um nur Ein

Beispiel herauszugreifen — nicht zugeben, daß das Verbum fahren im

transitiven Sinne der deutschen Sprache gemäß sei und hält diese An­ wendung für einen Provinzialismus der Norddeutschen — entschieden mit

Unrecht!

Ferner vermisse ich eine Rüge des sehr verbreiteten. Fehlers,

das Passivum von solchen Verben zu bilden, welche das Objekt im Dativ

haben.

Zu sagen, „er wird gefolgt von" rc. wird dadurch nicht richtig

und erlaubt, daß es selbst von einem unserer besten Historiker und Stilisten mit Vorliebe angewendet wird*). schreibt sogar: „ich werde geholfen!"

Einer der modernsten „Classiker"

Je mehr selbst der feinere Sprach­

sinn sich gegen eine solche Fehlerhaftigkeit des Ausdrucks abzustumpfen beginnt, desto lebhafter und energischer müssen wir dagegen protestiren.

Noch einzelne Uebertreibungen, Pedantereien und Mängel des Keller-

schen Buches ließen sich moniren, doch entspricht es nicht dem Zweck unserer Untersuchung Einzelheiten aus dieser Sammlung, die ich in der Hand

des Lehrers und Schriftstellers wissen möchte, hier mitzutheilen.

Wer im

Wesentlichen unsrer Ansicht ist, wird viel aus ihm lernen und — oft

genug wird ihm sein eigenes Gewiflen schlagen, denn fürwahr wir sind allzumal Sünder, und die allgemeine Krankheit hat nur wenige, auch von

den Besten, ganz unberührt gelassen.

Nur muß hier — es geschieht vielleicht zum Ueberfluß! — vor dem

Irrthum gewarnt werden, als sei Mangel an Fehlern das einzige, oder

selbst nur ein genügendes Kennzeichen eines kunstvollen Prosastils.

Zu­

nächst verzeiht man den genialen, reichen, wirklich großen Sprachkünstlern

gern einzelne Jncorrektheiten und Unebenheiten, — kann man doch der­ gleichen selbst bei Goethe nachweisen, und grade bei besonders herrlichen

*j Der Gallicismus „gefolgt von" (gebildet nach „suivi de“) kommt fast bei allen unseren guten Prosaisten vor, von Klopstock und Goethe bi« herab auf Gottfried Keller, und kann heute wohl als erlaubt gelten, zumal da man dabei eher an „Gefolge" als an „folgen" denkt. Auch besitzt unsere Sprache schlechterdings keinen anderen Ausdruck, der den einfache» Begriff ebenso kurz und ebenso anschaulich wiedergäbe. Selbst I. Grimm findet das Wort wenigstens „erträglich". A. d. R.

120

Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.

Stellen wird man durch das Uebermaß der Schönheit wie durch einen Zauber über gewisse Fehler hinweggetäuscht.

Ein recht merkwürdiges

Beispiel hierfür bietet der Anfang des berühmten Monologs: „Verlassen

hab' ich Feld und Auen, die eine tiefe Nacht bedeckt rc.", der eine offen­

bar grammatisch-falsche Satzbildung enthält, an welche man sich indessen so gewöhnt hat, daß man sie nur mit Mühe spürt und dann nicht hin­ wegwünscht.

Keller macht hierauf, so wie auf AehnltcheS aufmerksam.

Umgekehrt ist es möglich, daß eine Schreibweise absolut „correkt" und

trotzdem völlig werthloS ist,

in dem Falle nämlich, daß jene Correkthett

rein negativer Art ist und uns niemals die Ueberzeugung verschafft, daß sie für den gegebenen Stoff genau die entsprechende Form bietet, daß in ihr Gedanke und Wort sich völlig decken.

Hierdurch

aber entsteht doch

allein erst daS, was wir Classicität des Stils nennen, vorausgesetzt natür­ lich, daß der Gedanke überhaupt mittheilungSwürdig war. Ich spreche von der Schreibweise solcher Leute, die dem Genie die

äußeren Manieren, „wie er sich räuspert, wie er spuckt" ablernen und nicht die Kraft besitzen eine eigene Form aus sich zu erzeugen.

Ihr Ge­

baren hat etwas durchaus CastratenhafteS. Diese sogenannte Correktheit ist schließlich doch lediglich daS Resultat

der Feigheit.

Künstlergröße hat, wie jede menschliche Größe in der Kühn­

heit eine ihrer Hauptwurzeln.

Der Sprachkünstler muß den Muth haben

nach den bezeichnendsten Worten zu greifen, um grade das zu sagen, waS

er zu sagen hat; er darf vor kühnen Bildern und Metaphern nicht zurück­

schrecken um seiner Diktion Licht und Schatten zu geben.

Hier erkennt

man ehesten, ob und in welchem Grade man eS mit einem Sprachgenie

zu thun hat.

Auch nach dieser Richtung ist Goethe der größeste von allen

denen, welche die deutsche Sprache behandelt haben; in

der Wahl der

Bilder und der Formung der Worte zeigt er jene nachtwandlerische Sicher­

heit des Genies, in der ihn bis jetzt noch keiner der deutschen Sprach­ muster erreicht hat.

Im Gegentheil ist in dieser Hinsicht unsäglich ge­

frevelt worden, und mit dem gerechten Kampf gegen eben diese unsinnig

corrumpirte Bildersprache unsrer modernen Prosaliteratur beginnt HanS

von Wolzogen sein dänkenSwertheS Buch.

Die Grundstimmung, die

ihn leitet, ist die gleiche, , wie die der beiden zuletzt genannten Werke, aber

sein Angriff richtet sich ganz speciell gegen die Sprache der letzten zwei Decennien, gegen den Stil der „Jetztzeit", wie der genügend gebrand-

markte Terminus lautet, mit dem viele Journalisten ihr Zeitalter zu be­ nennen pflegen.

Wolzogen hat mit ehrlichem Fleiß und feinem Ver­

ständniß sich der nicht sehr angenehmen, aber sehr erfolgreichen Arbeit

unterzogen einige der gefeiertsten Romane, Zeitschriften rc. der jüngsten

Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.

121

Gegenwart mit der Gesinnung des Inquisitors zu durchmustern, und führt unS nun eine lange Reihe von Autoren auf die Anklagebank.

ES ist über die Maßen lehrreich, und, je nach dem Standpunkt, den man einnimmt, ergötzlich oder niederdrückend, die von Wolzogen angeführte Auswahl von Belegstellen nachzulesen, die natürlich ohne sonderliche Mühe

auS andern modernen Werken, selbst wissenschaftlichen, sich beträchtlich ver­ mehren ließe.

WolzogenS Buch tritt nicht mit dem Anspruch auf eine

vollkommene Statistik der jetzt landläufigen Fehler und Verirrungen zu liefern;

er hat einen erfolgreichen Fischzug gethan, breitet vor unsern

erstaunten Augen die mißgestalteten

Ungethüme auS

und überläßt

es

Andern, ebenfalls ins volle Leben der „jetztzeitigen" Literatur Hineinzu­

greifen.

Diesen Charakter der Studie trägt auch die kleine Schrift von

Xanthippus, ein Pseudonym, hinter welchem sich ein Sprachforscher von feiner Empfindung, wohlthuender Liebe zu seinem Gegenstände und treff­ lichem Humor verbirgt.

Das sehr unscheinbare Gewand in welchem seine

Briefe erschienen sind, nöthigt mich zu desto ausdrücklicherer Anerkennung. Seine beredten Worte verdienen ein zahlreiches Publikum auch deßhalb

zu finden, weil er neben seiner sehr berechtigten Polemik, reizvolle positive

kleine Beiträge zur deutschen Etymologie und zur Erläuterung des deut­ schen Sprachgebrauchs liefert, — alles, in ziemlich tadelloser, wohlthuen­

der Form. Wäre nur die Zeit schon gekommen, da die mit beredter Ueberzeugung vorgetragenen Worte des braven LanthippuS in der Brust jedes für feine

edele Muttersprache interessirten Germanen ein Echo fände! jeder,

daß

Fühlte doch

ein Ende gemacht werden muß mit dem heillosen Sündigen

gegen den heiligen Geist der deutschen Sprache! Denn sie ist ein Tempel, der unsre Ehrfurcht erheischt, von dem nicht jeder Erste Beste diesen und jenen Zierrath abreißen dürfte! Aber wie soll es hier beffer werden?

Von den genannten Werken

beschäftigt sich nur Wolzogen in einem besondern Kapitel mit der Frage

nach der Errettung des deutschen Sprachstils.

Nach ihm ist die moderne

„deutsche" Sprache überhaupt so gründlich undeutsch geworden,

daß sie

zu kunstmäßtgem Gebrauch nicht mehr zu retten ist, die einzige Form in welcher sich

die wahrhaft deutsche Sprache,

freilich

ohne

jegliche

„Modernität" erhalten kann, ist nach ihm das musikalische Drama Richard Wagners.

Einem so einseitigen Pessimismus gegenüber muß ich denn doch einige

andre von Wolzogen nicht beachtete Gesichtspunkte geltend machen.

Denn

wenn es auch keine Frage ist, daß WagnerS Diktion eine äußerst frische,

wahrhaft deutsche und was hier vor Allem in Betracht kommt, seine Prosa

Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.

122

von durchgängiger Correkthett ist, so hat doch sein ganzer Stil, so wie überhaupt seine Kunst in ihrer ganz individuellen Richtung nur eine äußerst geringe schulbildende Kraft.

selbst,

Den Beweis liefert u. A. Wolzogen

der seine Prosa-Diktion, offenbar nicht zu seinem Vortheil, zu

ängstlich nach des Meisters Vorbild geformt hat.

Mit solcher Einseitig­

keit ist uns nicht geholfen.

Sie ist aber auch ungerecht; denn es ist zu­

nächst einfach nicht wahr,

daß

unsere Zeit überhaupt

keine anderen

echten und wahrhaft deutschen Prosaiker aufzuweisen hätte.

Jacob Burckhardts, um nur

Der Stil

ein. mir zufällig nahe gerücktes Bei­

spiel herauszugreifen, ist bei vollkommener Correktheit so ausdrucksvoll, reich und treffend,

zähle.

daß

ich ihn getrost

den

ächten Kunstformen zu­

Ueberhaupt lassen sich einige unsrer modernen deutschen Historiker

anführen, deren Schreibweise die Anforderungen einer Kunstform zu er­ füllen scheint.

Ohne grade vollständig in meiner Aufzählung sein zu

wollen, nenne ich Ranke, Mommsen, Sybel, Max Duncker, Baumgarten, Max Jordan in seiner auch formell hervorragenden Bearbeitung Crowe und Cavalcaselle'schen Werkes.

Vielleicht wird

des

man den Stil

einiger der genannten, besonders etwa Mommsens, zu individuell finden, um ihn grade für vorbildlich halten zu können; vielleicht kann ferner Einigen der Genannten in formeller Hinsicht hie und da etwas am Zeuge geflickt werden, aber wie reichlich werden solche etwaige vereinzelte Jn-

correktheiten ausgewogen durch die rhetorische Kraft des Ausdrucks, durch

die Sicherheit der Wortwahl und die Schönheit des Satzbaues. Unter den poetischen Erzählern verdient vor allen Anderen der vor­

treffliche Schweizer Dichter Gottfried Keller genannt zu werden, der mehr von Goethe gelernt hat, als vielleicht irgend ein andrer Novellen­

dichter und ihn doch nirgends (wie etwa Jmmermann) direkt nachahmt. Diese Aufzählung, weit davon entfernt, ein annähernd vollständiges Inventar aufzunehmen, soll nur beweisen, daß die Kraft der deutschen Sprachbildung nicht überhaupt erloschen ist, sondern noch unter uns be­ steht und in einzelnen tüchtigen deutschen Schriftstellern neue Keime treibt.

In der größeren Masse aber und unter den sogenannten „Gebildeten"

scheint diese Kraft in der That geknickt, das deutsche Sprachbewußtsein erheblich getrübt.

Also nochmals die Frage: wie ist hier zu helfen? Das

Nächste was zu thun ist, müßte ein negatives Verfahren sein: man suche

die Umstände zu beseitigen, welche der Reinheit und Entwickelung des deutschen SprachbewußffeinS hindernd im Wege stehen; man beschneide

den ungebührlichen Raum, den das Interesse für die großen politischen Zeitungen und die endlosen Romane bei Volk und „Gebildeten" einnimmt.

Dann erwecke man statt der Lust am politischen Kannegießern, die Freude

123

Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.

an der wahren im Dienste deS Staates gethanen Arbeit, man bilde

den Sinn für die ächte Poesie statt des Interesses an deren Afterarten.

Die Schule kann hierin etwas thun, aber lange nicht Alles, wie man ihr wohl gelegentlich hat zumuthen wollen.

Ganz richtig ist, wie

ihr Xanthippus vorwirft, daß sie in der letzten Zeit häufig dazu gekommen ist,

mehr

ein dünkelhaftes Halbwissen als ächte Bildung zu erzeugen.

Aber die Schule ist hierin nur ein getreuer Ausdruck der unsre ganze Zeit beherrschenden Gesinnung, ihre Unzulänglichkeit lediglich ein Symptom, keine primäre Erscheinung.

Wir können also im Interesse unseres Zweckes

die etwaigen Mängel der Schule füglich außer Acht lassen. Unsere gesammte Cultur hat einen hektischen Zug, der ihr verliehen

wird durch den Charakter der Gährung und deS Uebergangs. Dies wenig­

stens wird ziemlich allgemein empfunden, und es giebt vielleicht von der Etsch bis an den Belt jetzt Keinen, der mit seinem Zeitalter völlig zu­

frieden wäre.

Das Schlagwort derer, welche dieser Unzufriedenheit Aus­

druck geben wollen, pflegt heutzutage die sogenannte „Halbbildung" zu sein,

überall begegnet man dem Kampf gegen dieses Gespenst,

ganze

Bücher werden darüber geschrieben, grade als wollte man aufs allerbe­

stimmteste beweisen, daß man eben noch gar nicht recht weiß, was man will.

Die „Bildung" d. h. die Entwickelung der Kräfte eines Menschen

zu dem denkbar vollkommensten Grade hin, ist stets etwas Werdendes,

also Unvollkommenes, Halbes. daß seine Bildung ganz war?

Wer hat denn von sich sagen dürfen, Noch Goethe sagt als Greis:

„stet- geforscht und stets gegründet, nie geschlossen, ost gekündet".

Also auch er fühlte sich nur theilweise gebildet, ich kann nicht sagen

ob grade halb oder dreiviertel.

Nun, was man ausdrücken wollte, als

man jenen schlaffen schielenden TermintlS substituirte, war vielmehr wohl „Halbwissen".

Das Wissen von einer Sache muß entweder ganz da

sein, oder es fehle ganz; daS halbe, unklare, unsichere Wissen ist verwerf­

lich, und wenn man Letzteres als einen verbreiteten Fehler unserer Zeit erkannt zu haben glaubt und dagegen streitet, hat man sehr Recht. Aber

dieses eine Beispiel falscher Begriffsbestimmung — und wie zahlreich sind sie! — beweist, daß auch die vordringlichen Apologeten vielfach gar nicht

wissen, was sie eigentlich wollen.

Nicht darin,

daß unsere Bildung unvollkommen ist, besteht ihr

Hauptmangel, .sondern daß Pseudo-Ideal ist

ihr ein

die Polymathie.

falsches Ideal

Nicht,

daß einer

vorschwebt.

Dies

seine Kräfte in

seiner Weise entwickelt und so eine wenn schon vielleicht einseitige so doch

erfreulich harmonische Größe auS sich erzeugt, sondern daß er von allem

124

Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.

Möglichen etwas versteht und ein wanderndes Conversations-Lexikon bildet,

danach strebt man heute in der Schule, wie im Leben.

Eine solche Stimmung vernichtet nun grade das, was die unentbehr­ lichste Grundbedingung aller und jeder echten Kunst bildet: die Wahr­

haftigkeit der Gesinnung, die Naivetät der Empfindung.

Ist unsere

Zeit nicht im Stande, diese beiden der Menge des Volkes immer mehr

abhanden kommenden Eigenschaften ihr wieder zu erwerben, so gebe sie die Hoffnung auf den so ängstlich gesuchten deutschen Stil in der Kunst

zu finden, oder die sprachbildende Kraft neu zu beleben.

schulen,

Alle Kunst­

Museen, Akademien rc. schaffen uns ebenso wenig eine deutsche

Kunst, wie Gymnasien, Universitäten und Akademien allein im Stande

sind den Verfall der deutschen Prosa aufzuhalten.

Eine naive Gesinnung

d. h. ein gesunder Volks-Instinkt würde im Stande sein, uns wenigstens

einige der Güter wieder zu erwerben, deren Verlust von Allen empfunden, von Wenigen klar erkannt wird:

Einfalt der Sitten, gesunde Freude an

der produktiven Arbeit, Uebereinstimmung des Jndividualbewußtseins mit

den Idealen der Zeit und Umgebung. Die Frage nach den Ursachen unserer Sprach-Misere wird somit zu einer recht eigentlichen Zeitfrage, die gesuchte und etwa gefundene Heilung

deS Uebels würde zugleich die richtige Cur für andere Krankheiten dar­

bieten, deren Symptome deutlich erkennbar sind. Die Aufgabe des Dichters in gebundener und ungebundener Sprache wird hiermit zu einer hohen

und heiligen,

er muß sich somit auch die höchsten Ansprüche an seine

Thätigkeit gefallen lassen.

„Vom Poeten, sagt der wackere XanthippuS,

fordern wir die genauste ängstlichste Correktheit der Sprachbehandlung. Grade er soll am wenigsten Sprachbildner sein, er soll der treuste Depositär der heiligen, unantastbaren Ueberlieferung sein. ist Gnade.

Ueberlieferung

Damit ist nicht gemeint, daß wir vom Dichter nicht Neues

lernen sollten.

Nur soll das Neue nicht subjective Willkühr sein, sondern

aus dem Geiste der Volkssprache geboren,

edleS altes soll er uns zu

frischem Gebrauch wieder schenken, den Worten in die klugen Augen schauen, sie sagen lassen, waS sie eigentlich sagen wollen, und was sie

sagen können. . .

Für wen die Sprache nichts ist, als ein conventioneller

Kram zu möglichst schneller Mittheilung der ungemein interessanten „TageSinteressen", der ist wenigstens nicht werth, daß unser Herrgott eine so hochherrliche Sprache hat werden lassen, wie unsere liebe deutsche Mutter­

sprache.

WaS der Zeitungsmensch verhunzt,

erhalte der Dichter uns

reinlich!" —

Eine glänzende Bestätigung meiner nachdrücklichst aufgestellten Be­ hauptung, daß es die Naivetät der Gesinnung und die innere Schlichtheit

125

Der deutsche Prosastil in unsern Tagen.

des Wesens sind, welche nicht weniger für die Reinheit und Schönheit deS Prosastils die erste und unentbehrlichste Grundbedingung bilden, wie für

jede sonstige ächte künstlerische Leistung, bietet unsere jüngste vaterländische Geschichte.

Es dürfte unter unS wenig Menschen geben, welche nicht bloß

durch ihr Thun und Wirken, sondern auch durch ihr Sein und Leben so

sehr den Eindruck wahrhaft genialer Naturen machen, wie Graf Moltkx. Schwerlich hat er in seiner Jugend zu den Füßen germanistischer Pro­ fessoren gesessen, um deutsche Sprache ex officio zu studiren, aber sein erstaunliches Sehvermögen, den Dingen und Gedanken ganz klar und scharf in die Augen zu schauen und ihnen das Wesentliche abzugewinnen,

d. h. seine ächte Künstlernatur macht ihn den Beherrscher des GefechtS-

feldeS zugleich zu einem Künstler auf dem Felde deutscher Prosa. Die Einleitung zu dem Werke deS großen Generalstabs über den letzten Feldzug giebt eine schöne Bestätigung der Thatsache, daß daS ächte Genie in

allen seinen Lebensäußerungen groß ist, sie beweist einmal wieder daS Zutreffende der Schillerschen Sätze, mit denen ich meine Beobachtungen schließe:

„Wenn der Schulverstand, immer vor Irrthum bange, seine

Worte, wie seine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik schlägt,

hart und steif ist , um ja nicht unbestimmt zu sein, viele Worte macht,

um ja nicht viel zu sagen, und dem Gedanken, damit er ja den Unvor­ sichtigen nicht schneide, lieber die Kraft und die Schärfe nimmt, so giebt

das Genie dem feinigen mit einem einzigen glücklichen Pinselstrich einen

ewig bestimmten festen und dennoch ganz freien Umriß." — „Eine solche Art des Ausdrucks, wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet, und wo die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam nackend läßt, da ihn die andere nie darstellen kann, ohne

ihr zugleich zu verhüllen, ist es, was man in der Schreibart vorzugsweise genialisch und geistreich nennt."

April 1880.

Preußische Jahrbücher. ?Bt. XLV1. Heft 2.

Bernhard Förster.

10

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft. Dem Andenken Carl Friedrich Schinkel's gewidmet*). Von

Professor Dr. Guido Hauck.

Wohl dürfte eö jedem von uns ein Bedürfniß sein, in dem Einerlei

des Alltaglebens, wo jedem nur das einförmige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre tönt, sich von Zeit zu Zeit einen Rasttag zu gönnen,

an dem der Geist sich frei macht von dem Mechanismus der

Berufsthätigkeit und den Blick auf das große Ganze richtet,

um sich

Rechenschaft zu geben über die Beziehungen der persönlichen Arbeit zu den allgemeinen Fragen, welche die Zeit bewegen,

und zu den großen

Aufgaben, deren Lösung daS ideale Ziel menschlichen Daseins bildet. Solche Rasttage empfangen ihre schönste Weihe durch daS Andenken

unsrer Geistesheroen, die nicht blos in ihrem speciellen Berufsfache sich den Ruhm der Virtuosität errungen, sondern die weit über die Grenzen

des

engeren Kreises ihrer Thätigkeit hinaus Leben weckend und Licht

spendend gewirkt haben und damit von entscheidendem Einfluß auf die ganze Richtung ihrer Zeit geworden sind.

Die innige Vertiefung

in

daS geistige Leben und Schaffen eines solchen Genius ist gerade um so anregender und erfrischender, je weiter der Schwerpunkt seines Schaffens von dem engeren Gebiete unsres eigenen Berufsfaches entfernt liegt.

Es

bildet sich ja jeder seine Lebens- und Weltanschauung von seinem indivi­

duellen Standpunkte auS; so

weit auch sein Gesichtskreis reichen mag,

so laufen doch die perspektivischen Linien seines geistigen Erkenntnißbildes alle in einem einzigen, ihm eigenthümlichen Augpunkte zusammen.

Und

je weiter nun zwei Standpunkte auseinanderliegen, um so schöner werden *) Nach einer Festrede, gehalten bei der Schinkel-Feier am 13. März 1880 im Architekten-Verein zu Berlin. —

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

127

sich die beiderseitigen Anschauungen gegenseitig ergänzen, um so kräftiger werden die Schlaglichter sein, welche die eine auf die ändere wirst, um

so lebendiger und fruchtbarer die Anregungen, welche jede von der anderen

empfängt. In diesem Sinne möge es gedeutet werden, wenn ein Mathematiker

sich in die Betrachtung einer Künstlernatur versenkt, widerstehlichen

Anziehungskraft

nachgibt,

die

ein

wenn er der un­

Genius

wie

Carl

Friedrich Schinkel auf seine Seele auSübt. Schinkel's Bedeutung ist in der That eine universelle.

Sie ist

nicht beschränkt auf den engern Kreis seiner Fachgenossen, sein Name ist nicht

blos

mit

goldenen Lettern eingegraben am Ruhmestempel der

bildenden Kunst, er bedeutet vielmehr einen der Marksteine in der allge­ meinen Geschichte menschlicher Cultur.

Und jeder, der sich den Sinn für

die idealen Ziele der Menschheit bewahrt hat, wird liebend und verehrend zu dem Manne emporblicken, der durch Wort und Werk und That uns die sittlichen Aufgaben der Wissenschaft und Kunst zu neuem Bewußtsein

gebracht hat, der die Bestimmung der Kunst dahin definirte, daß ihre Werke „ein Bild der sittlichen Ideale der Zeit" sein sollen.

Wohl mag eS in erster Linie dem Künstler oder Kunsthistoriker ge­

ziemen, den Mann zu preisen, der uns den reinen Quell der Schönheit in seiner lebensprudelnden Kraft neu erschlosien hat, und wohl mag viel­

leicht der Künstler allein im Stande sein, Schinkel in seinem ganzen Denken und Fühlen vollkommen zu erfassen.

Wohl aber darf und soll

auch der außerhalb der Kunstgenossenschaft Stehende, der sich mächtig an­ gezogen fühlt von der sympathischen Gewalt, welche dieser herrliche Geist

in seiner harmonischen Einheit und Ganzheit auf ihn ausübt, — der Frage nachspüren: Was ist eS denn, was mich an dem Manne so sym­ pathisch berührt? WaS ist der Anknüpfungspunkt, der mir sein Denken und Fühlen als ein dem meinigen geistesverwandtes erscheinen läßt?

Der Mathematiker braucht nicht lange zu suchen um diesen An­

knüpfungspunkt aufzufinden.

Kaum wird eines Mannes Denkarbeit mit mehr Recht ein vom Geiste mathematischer Schärfe durchdrungenes genannt tocrben können, als

wir dies von Schinkel sagen dürfen.

DaS Wesen der Mathematik beruht ja nicht in dem Zauber der

Formeln, sondern vielmehr in der Schärfe der Abstraktion, in der Zurück­ führung der Probleme auf ihre Principien, von denen aus dann eine Kette von Schlußfolgerungen — in streng logischer Folgerichtigkeit eine

aus der andern herauswachsend — fortgeführt wird, so weit, bis das letzte Glied der Kette die Antwort auf die gestellte Frage enthält.

10*

128

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

Und wenn wir nun Schinkel in seiner geistigen Thätigkeit belauschen, wenn wir beobachten, wie er nicht blos die allgemeine Frage nach dem Wesen und der Aufgabe der Kunst begrifflich zergliedert und mit zwingen­

der Logik der Gedanken zum bewußten Systeme klärt, sondern wie er auch jede einzelne Specialaufgabe auf den principiellen Gedanken zurück­ führt, dessen künstlerische Verwirklichung ihm das Problem repräsentirt,

wenn wir dann weiter beobachten, wie er die tectonischen Form-Elemente zu organischen Complexen combinirt, die gleich einem auS mathematischen

Symbolen gefügten Formelsystem den vollen Inhalt seiner geistigen Vor­ stellungen wiedergeben: — müssen wir da nicht das Wesen Schinkel'scher

Geistesthätigkeit als ein mathematisches im eminentesten Sinne des Wortes

bezeichnen? Schinkel selbst sagt*): „Nur da wo man sucht, ist man wahrhaft

lebendig, .... und in jeder künstlerischen Darstellung muß die Kritik heraustreten, die dem schöpferischen Geiste nothwendig beiwohnen muß".

Und dasselbe drückt er in seinem Wahlspruche ebenso kurz als bezeichnend „Unser Geist ist nicht frei, wenn er nicht Herr

aus mit den Worten:

seiner Vorstellungen ist". Wenn bei Schinkel die Poesie des Künstlers und die Strenge des Mathematikers sich vereinigen zur Kraft der schöpferischen Originalität,

so mag eö wohl gerechtfertigt erscheinen, daß wir bei einer Erörterung über die Stellung der Mathematik zur Kunstwissenschaft ge­

rade den Namen Schinkel'S als Ausgangs- und Anknüpfungspunkt wählen.

Die Stellung der Mathematik zur Kunstwissenschaft! — Kann man denn heute

überhaupt noch von Beziehungen zwischen

beiden

reden?

Scheint es nicht vielmehr, als ob gerade in gegenwärtiger Zeit, wo der

Gegensatz zwischen humanistischer und realistischer Bildung sich zur höchsten

Schroffheit gesteigert hat, eine Kluft zwischen jenen zwei Wissenschaften befestigt wäre, die eine gegenseitige Annäherung unmöglich erscheinen läßt?

In der That!

Die Zeiten der Lionardo da Vinci,

Angelo, Albrecht Dürer, sind längst vorüber.

Michel

Verächtlich schaut der

Vertreter der exakten Forschung auf die speculattven Bemühungen der Kunstphilosophen herab,

und abwehrend ruft die Kunst der Mathematik

das Veto zu: Rühr mich nicht an mit Deiner kalten Hand,

Von Deinem Hauche fürcht' ich zu erstarren I--------*) Diese und die folgenden Citate sind dem Werke entnommen: „Aus Schinkel'S Nachlaß". Berlin, 1862.

von Wolzogen,

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

129

Das war freilich alles ganz anders in jener sonnigen Zeit, wo die

poetisch-ästhetische Weltauffassung eines Plato dem JdeenleLen der jugend­ frohen Menschheit ihre erhabene Weihe gab. Dort in den heiteren Gefilden des alten Hellas,

dort in

der

LiebeSheimath unsres Schinkel, war jene großartig-künstlerische Idee der

Pythagoräischen Weltanschauung zum Leben gereift, welche die Welt als ein nach

einheitlichem Plane harmonisch gegliedertes Ganzes

auf­

faßte, in dem die durch einfache Zahlenverhältnisse repräsentirte Ord­

nung

als

beherrschte.

allwaltendes Bildungsprincip Ausgehend

daS

Ganze

wie

die Theile

von der Wahrnehmung, daß die musikalische

Harmonie in einfachen Verhältnissen der SchwingungSzahlen

dercon-

sonirenden Töne begründet und daß also daS reine freie Entzücken der

Seele am Wohllaut der Töne durch einfache Zahlenverhältnisse bedingt ist, sah Pythagoras allgemein in der Verwirklichung einfacher Zahlen­ gesetze die Ursache und daS Wesen des befriedigten Wohlgefallens der

Seele am Schönen und Wahren.

Und insofern die befriedigte Seligkeit

der Welt der Endzweck alles Seienden ist, so mußte auch die Welt als

Ganzes einen harmonisch gegliederten Organismus darstellen, in dem das

Princip der nämlichen arithmetischen Verhältnisse das Grundgesetz des harmonischen Gefüges 'repräsentirte.

Gleich den Saiten an Apollon'S Lyra

waren die Himmelskörper angeordnet und gleich dem reinen Vollklang der Aeolsharfe erzeugten sie im Umschwung

um den

centralen Quell des

Lebens — „harmonisch all das All durchklingend" — die Harmonie der

Sphären. Und mit dieser großartigen, poetisch-mathematischen Naturanschauung verknüpfte nun Plato die sittlich-ernsten Grundsätze der Sokratisch-en

Philosophie. Er sieht in der Welt ein Abbild deS göttlichen idealen Ur­ bildes, ein Abbild, das den ewigen Gedanken der Gottheit zur Erscheinung

bringt.

Daher die göttliche Vernunft die ganze Natur durchdringt und

sie zu einem harmonisch in sich zusammensttmmenden Kunstwerk stempelt,

dem

geometrische

Symmetrie

und arithmetische Harmonie die scheinbare Willkür ordnet.

In dieses

zu

einem

lebendigen

Organismus,

in

Kunstwerk göttlicher Vernunft ist der Mensch

gesetzt, seine unsterbliche

Seele ist aus der Idealwelt in die sinnliche Welt herübergekommen. kann und soll sich wieder zur Idealwelt aufschwingen.

Sie

Die Schönheit

ist es, welche ihre Sehnsucht nach dem Göttlichen weckt und befriedigt,

und — um von unserem Schinkel die Worte zu entlehnen—: „darum bilde der Mensch sich in allem schön, jede Handlung sei ihm eine Kunst­

aufgabe! . Nur das Schöne ist der höchsten Liebe fähig, und darum handle

man schön, um sich selbst lieben und dadurch selig werden zu können!" —

130

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kuustwisseuschaft.

Wahrlich! goldene Worte, die, wenn sie nicht von Schinkel wären, von

Plato sein müßten!--------Solange die tief-ernste Poesie der platonischen Philosophie die Geister beherrschte, gingen Mathematik und Kunst in schwesterlichem Vereine Hand

in Hand.

Und mächtig ist der Einfluß, den diese aus dem universellen

hellenischen Geiste herausgewachsene ästhetische Wektbetrachtung, — die in gleicher Weise als ästhetische Theorie der Form und Zahl wie als mathe­

matische Theorie des Schönen bezeichnet werden könnte, — auf die Ent­ wickelung ebensowohl der Mathematik als der Kunst ausgeübt hat.

Wer

wollte so vermessen sein, es einen Zufall zu nennen, daß das Heimath-

land eines Pythagoras und Euklid auch dasjenige eines Phidias und

Praxiteles war?

Noch weit über die Grenzen der politischen Lebensdauer des Hellenen­

volkes hinaus hat der Platonismus seine Kraft bewährt.

Platonischer

Geist war eS, welcher das herrliche Zeitalter der Renaissance durch­

wehte und die erstorbene Kunst zu neuem Leben entfachte. auch

heute die spekulative Idealwelt Plato's

Und wenn

die Bedeutung objektiver

Möglichkeit für uns verloren hat, wenn sie dem Regenbogen zu vergleichen

ist, der vor der greifenden Hand des entzückten Beschauers entflieht:

so

werden wir eS uns doch nie nehmen lassen, mit Plato die Unvollkommen­

heiten der sinnlichen Welt in Gedanken zu eliminiren und uns zu Bildnern

einer schöneren Welt zu träume», in deren innerer Anschauung die von

den Mühen des Lebens ermattete Seele sich wieder neue Kraft mit) neue Freudigkeit zum Kampfe schöpft.

Die lebenskräftigen Elemente der platonischen Weltansicht sind in unsere moderne Naturanschauung übergegangen.

Ja, so sehr hat die

ideale Weltausfassung Plato's ihre schöpferische Kraft bewährt, daß eben sie es ist, die im 16. Jahrhundert dem Phönix gleich die neue Welter­ kenntniß aus sich selbst heraus erzeugt hat. Johannes Keppler ist der Mann, an den sich jener ewig denk­

würdige Zeugungsproceß knüpft, — Johannes Keppler, auf den sich unser Auge mit besonderes Interesse richten muß, infoferne er uns die an Schinkel gerühmte mathematisch-künstlerische Geistesrichtung gewissermaßen

in symmetrisch umgekehrtem Spiegelbilde widerstrahlt. Schinkel den mathematisch denkenden Künstler, so

Sehen wir in

zeigt

sich uns in

Keppler der künstlerisch fühlende Mathematiker. Mit dem glühendsten Feuer jugendlicher Begeisterung hatte Keppler

den pythagoräisch-platonischen Gedanken der Weltharmonik erfaßt.

ans Ende seiner ruhmerfüllten Laufbahn blieb

er

dem

Glauben an diese großartig-künstlerische Idee treu,

Bis

enthusiastischen

und 'fein

ganzes

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

131

Streben ging darauf, dieselbe mit der Copernicanischen Weltansicht und mit den experimentellen Erfahrungsthatsachen in Einklang zu bringen.

Er war kein enthusiastischer Schwärmer, der die empirischen That­ sachen mit den schönen Träumen seiner dichterischen Phantasie hätte ver­

schwimmen lassen.

ihm der poetische

ES vereinigte sich vielmehr in

Schwuitg einer kühnen Einbildungskraft mit der strengen Gewissenhaftig­

keit eines ernsten Ringens nach Wahrheit.

Sein Wahlspruch lautete:

„Amicus Plato, amicus Aristoteles, sed magis amiea veritas.“

Und

so wurde er eben an der Hand seiner philosophischen Speculationen zur reinen Quelle der Wahrheit geführt; so wurde er, der begeistertste An­

hänger der alten spekulativen Methode zugleich der Begründer der modernen

experimentellen

Forschungsweise.

Wenn

er

an

seinen

Idealen mit der ganzen Innigkeit des deutschen Herzens bis 311 Ende fest­

hält rind nun in seinem letzten Werke, der „Harmoniee mundi“ dem

kühnen Bau, dessen Grundstein einst Pythagoras gelegt hatte, den Schluß­ stein einfügt, indem er sein bekanntes „drittes Gesetz" triumphirend als den Träger des durch zwei Jahrtausende hindurch gesuchten harmonischen

Weltgesetzes verkündet: so legt er eben mit diesem Schlußstein zugleich den Grundstein zu dem neuen Gebäude der modernen Weltbetrachtung.

Denn

jenes dritte Kepplcr'sche Gesetz schließt das Princip des Newton'schen An­ ziehungsgesetzes in sich, auf welches sofort Newton den stolzen Bau seiner

himmlischen Mechanik gründete*).

In der letzteren feierte

die

exakte

Forschung ihren höchsten Triumph, und fortan ist diese es, welche die

moderne Wissenschaft voll und ausschließlich beherrscht. Es

ist

für unsere weiteren Betrachtungen von größter Wichtigkeit,

daß wir uns das Wesen dieser modernen experimentellen Forschungsmethode

zu recht klarem Verständniß bringen. Der Laie ist nicht selten geneigt,

der Mathematiker

zu glauben,

„beweise" die Naturgesetze durch seine untrügliche Rechnung. Gegen diese Ansicht ist

vor allem zu bemerken:

kann nicht aus Nichts Etwas machen;

Die Mathematik

sie kann nur von gegebenen

Voraussetzungen auSgehen, auf denen sie dann vermittelst fortgesetzter Um­

formungen ihre logischen Schlußfolgerungen aufbaut.

DaS Resultat dieser

Schlußfolgerungen enthält aber genau dasselbe Quantum von. positiven

Thatsachen, das schon in der Voraussetzung enthalten war; eS giebt diese Thatsachen nur in anderer Form, in anderem Ausdruck wieder.

Nicht

ein Minimum mehr, als zu Anfang in die Rechnung hineingetragen

*) Bergl. hierüber Förster, Joh. Keppler und die Harmonie der Sphären. Förster'S „Sammlung wissenschaftlicher Vorträge". Berlin. 1876.

In

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

132

wurde, kann wieder von ihr zurückgefordert werden; das Zurückgegebene ist nur qualitativ, nicht quantitativ von dem Hineingetragenen verschieden.

Wenn sich daher die Naturforschung der Mathematik bedient, so kann sie von derselben nimmermehr verlangen, daß sie ihr Gesetze a priori beweise, sondern nur, daß sie die experimentellen ErfahrungSthatsachen

qualitativ umforme.

Und nun besteht das Wesen der modernen For­

schung darin, daß für eine größere Summe von Erscheinungsthatsachen eine allen gemeinschaftliche Form des mathematischen Ausdruckes gesucht

Mit andern Worten:

wird.

man

sucht

eine größere Mannigfaltigkeit

von empirischen Thatsachen auf einzelne Principien zurückzuführen,

als

deren mathematische Umformungen oder logische Folgerungen die That­ sachen sich mit strenger Nothwendigkeit erweisen.

gleichgiltig,

Dabei ist es vollkommen

ob jene Prinzipien dem Vorstellungsvermögen

weniger plausibel erscheinen,

mehr

oder

„sufficit hoc uuum, si calculum obser-

vationibus congruentem exhibeant“ (Copernicus). Je größer aber die Anzahl der Erschcinungsthatsachcn ist, welche sich auf das nämliche Princip zurückführen lassen, um so mehr werden wir die Berechtigung haben, von dem Princip aus umgekehrt den Schluß auf das muthmaßliche Eintreten von neuen Erscheinungen

zu machen;

mit

andern Worten: um so mehr wird das Princip das Recht auf den Namen

eines „allgemeinen Naturgesetzes" beanspruchen können.

Die schönste Illustration für das Gesagte bietet eben die Astronomie, die Königin der Wissenschaften.

Die That Keppler'S bestand darin, daß

er die unendliche Mannigfaltigkeit der astronomischen Beobachtungsthat­ sachen zurückführte auf drei Principien, nämlich auf seine berühmten drei Gesetze.

Die That Newton'S bestand sodann darin,

daß er die drei

Keppler'schen Gesetze noch weiter zurückführte auf die zwei einfachen Prin­

cipien deS Galileischen „Trägheitsgesetzes" und des Newton'fchen „An­

ziehungsgesetzes".

Wenn dann nachträglich von diesen zwei Principien

aus umgekehrt auf das Eintreten neuer Erscheinungen geschlossen wurde,

ja wenn sich die Kühnheit solcher Schlußfolgerung bis zur theoretischen Construction von neuen, bisher unbekannten Weltkörpern steigerte (NeptunLeverrier): so hat bis jetzt das wirkliche Eintreten einer jeden solchen vor­

hergesagten Erscheinung

die Allgemeingiltigkeit

jener Principien aufs

glänzendste bestätigt. Als unrichtig werden sich dieselben nie erweisen.

Denn sie reprä-

sentiren ja nur eine Darstellung der positiven BeobachtungSthatsachen in

abgeleiteter, aber mit den Thatsachen äquivalenter Form.

Es kann sich

nur der Kreis der Erscheinungen, innerhalb dessen sie Giltigkeit besitzen,

enger oder weiter schließen.

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

133

Daß die Galilei - Newton's chen Prinzipien nicht die allgemeinsten

Naturgesetze darstellen, sondern daß sie zusammen mit andern in den übrigen naturwissenschaftlichen Gebieten giltigen Gesetzen sich

auf noch

allgemeinere Grundprincipien zurückführen lassen werden, ist nicht blos

möglich, sondern es weisen bei dem heutigen Stande der Wissenschaft so­ gar alle Anzeichen darauf hin.

Kehren wir nunmehr wieder zu unsrem eigentlichen Thema zurück, so scheint es freilich beim ersten Anblick, als ob zwischen dem strengen,

nüchternen Ernst dieser modernen Forschungsmethode einerseits und dem poetischen Schwung der Phantasie, wie er sich in den Werken der Kunst

ausspricht,

lassen.

zwischen

andererseits — kaum

eine Gemeinschaft sich werde herstellen

Es scheint, als ob in der modernen Wissenschaft die Beziehungen

Mathematik

und

Kunst

abgebrochen

„Descriptive ^Geometrie", welcher

seien

und

als

ob

die

die Pflege dieser Beziehungen

vorzugsweise obliegt*), kein Bindeglied mehr, sondern nur ein Streit­

objekt zwischen beiden bilde.

In der That liegen die Verhältnisse bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge nicht viel anders.

Die Deskriptive Geometrie hat sich mehr

und mehr auf die reine Mathematik zurückgezogen, die ihr gerade in

jüngster Zeit ungleich günstigere Chancen bot als die Kunst, auf deren

unsicherem Boden es ihr nicht gelingen wollte festen Fuß zu fassen.

Und

fragen wir, welche mathematischen Elemente in der Kunstwissenschaft heute noch unbestrittene Giltigkeit haben, so schrumpft deren Zahl auf ein

Minimum zusammen.

Selbst die scheinbar so festen Stützen der geome­

trischen Perspective wurden jüngst für morsch erklärt.

Längst schon

galt es unter den Künstlern als ausgemacht, daß die Centralperspective auf menschliche Figuren nicht in gleicher Weise anwendbar sei

als auf

architektonische Objekte; wie denn z. B. Raphael die Figurengruppen, mit

denen er seine centralperspektivischen Jnnenräume belebte, stets in parallelperspectivischer, gerader Ansicht bildete.

Hat schon durch diesen inneren

Widerspruch die Autorität der Perspective einen bedenklichen Stoß erlitten, so wurde gar in allerjüngster Zeit die Behauptung offen ausgesprochen, daß

dem seitherigen System der geometrischen Perspective eine aprioristische Berechtigung nicht zuerkannt werden könne**). *) Dabei ist der Begriff „deskriptive Geometrie" im weitesten Sinn des Wortes zu verstehen. Ihre Aufgabe, die Vermittlerin zwischen Mathematik und bildender Kunst zu sein, mag geradezu als Definition des Begriffes dienen. **) Bergt. Häuck, die subjective Perspective und die horizontalen Lurvaturen des dori­ schen Stils. Stuttgart, Verlag v. C. Wittwer. 1879. — Die Frage, inwieweit jene Behauptung gerechtfertigt ist, mag immerhin verschiedene Beurtheilung finden. Hier genügt die Thatsache, daß ein solcher Angriff überhaupt gewagt werden konnte.

134

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

Was hält da noch fest? — Wie wird sich die Mathematik gegen den

Borwurf vertheidigen, den ihr die zürnende Kunst ins Antlitz schleudert:

„Belogen und betrogen hat mich Dein falscher Mund!"? Die Mathematik wird keinen Versuch machen, sich zu vertheidigen. Sie wird vielmehr glücklich sein,

daß

auf die lange schwüle Zeit des

Mißverständnisses endlich ein reinigender Gewittersturm losbricht, der das Dürre und Todte herabschlägt, so daß, wenn nun der Sonnenschein der

Versöhnung folgt, die frischen und gesunden Keime Raum haben, sich zu

entfalten. Worin aber, fragen wir, beruhte denn das Mißverständniß, welches uns einen sicheren Boden für die Beziehungen zwischen Mathematik und Kunst bisher nicht hatte finden lassen? Unsere vorangegangenen Betrachtungen über das Wesen der exakten Forschungsmethode geben uns darauf die Antwort.

ES liegt in der Natur der Sache, daß die mathomatische Kunstbc-

trachtung nur zu leicht geneigt ist, mit vorgefaßten Meinungen auf speku­

lativem Wege an die Lösung der Probleme heranzutreten.

Knnstgesetze

lassen sich aber ebensowenig a priori „ausrechnen" wie Naturgesetze. Auch für die kunstwissenschaftliche Forschung

wie überhaupt für

jede

wissenschaftliche Forschung gilt der allgemeine Grundsatz, daß man nimmer­ mehr

mit der dogmatischen Feststellung der Begriffe und Axiome be­

ginnen darf, daß vielmehr die Grnndprincipien sich erst als das Re­ sultat der ganzen Untersuchung ergeben können.

Auch in der Kunst­

wissenschaft stehen die allgemeinen Gesetze nicht a priori fest, sie können

vielmehr nur an ihren Aeußerungen in den Kunst-Erscheinungen erkannt werden. Als die pythagoräisch-platonische Weltanschauung der Keppler-Newton'schen das Feld räumen mußte, da wurde der mathematischen Kunstbetrachtung

der alte Boden unter den Füßen weggezogen, und auf dem neuen Boden fand sie keinen Punkt, auf dem sie wieder festen Fuß hätte fassen können.

Empirische Thatsachen, deren Vorhandensein für die exakte Forschungs­ methode die unerläßliche Vorbedingung ist, waren auf dem Gebiete der

Kunst nicht gegeben oder wenigstens nicht gekannt.

Erst jetzt,

nach­

dem der unermüdliche Fleiß der Kunsthistoriker ein reiches Material von Beobachtungöthatsachen gesammelt, geordnet,

gesichtet und zur weiteren

Verarbeitung vorbereitet hat, erst jetzt ist eS möglich, daß auch in der

Kunstwissenschaft die Grundsätze der modernen experimentellen Forschung praktische Anwendung finden können, um die Prin­

der

cipien,

die

Genius

bewußt

divinatorische

Instinkt

oder unbewußt befolgte,

deS

künstlerischen

aus seinen wohl-

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

135

geprüften Werken zu erkennen und in Gesetze zu formuliren. Erst jetzt ist wieder ein Boden für nähere Beziehungen zwischen Mathe­

matik und Kunst gewonnen. Kaum dürfte eS nothwendig sein, den Satz noch ausdrücklich zu be­

gründen, daß die Gesammtheit der Schöpfungen des künstlerischen Genius eine Summe von Thatsachen vorstellt, an die wir berechtigt sind, die nämlichen Werkzeuge der Forschung

anzulegen

wie an die Werke der

Schöpfung, die aus der Hand der Gottheit komplt.

Spiegelt doch das Werk des im Liebesaufschwung der Begeisterung

der Stimme göttlicher Inspiration folgenden Künstlers dasselbe göttliche Ideal wieder, als dessen Abglanz und Offenbarung wir die Natur mit

ihren Schönhcitswundern

erkennen.

Oder — um

ein Wort unsres

Schinkel zu citiren — hat doch die Kunst „den Beruf, die innere, sicht­ bar gewordene Vernunft der Natur weiter zu bilden".

Auch der Begründer der modernen Weltanschauung:

Newton be-

wllndert den sinnvoll schönen Zusammenhang der N'atuvordnung als die Quelle des reinsten ästhetischen Genusses.

Und wenn nun einerseits die

natürliche Schöpfung uns als ein ideales Kunstwerk erscheint, und andrer­

seits die Werke der Kunst die in der Natur verkörperte göttliche Vernunft wiederspiegeln: so werden die Bildungsgesetze, in welchen jene Vernunft zum Ausdruck gelangt, im einen wie im andern Fall auf die nämliche

Weise sich dem forschenden Mcnschengeiste erschließen müssen. Um das Gesagte sofort an einem Beispiele zu erläutern, so löst sich von diesem neuen Standpunkte aus die vorhin berührte Frage der Be­

rechtigung der geometrischen Perspective auf sehr einfache Weise. Die Mathematik lügen.

als solche hat nicht „gelogen", sie kann nicht

Die Täuschung ist vielmehr auf folgenden Punkt zurückzuführen:

Die Mathematik construirt eine ganze Reihe von Systemen der bild­ lichen Darstellung.

So viele kartographische Systeme existiren, nach denen

die Erdkugel abgebildet werden lassen sich aufstellen.

kann, so

viele perspectivische Systeme

Von rein mathematischem Gesichtspunkte aus

wohnt allen diesen verschiedenen Systemen genau die nämliche Wahrheit

und die nämliche Berechtigung inne.

Wenn aber nun die Speculation aus all diesen Systemen ein ein­ ziges herausgegriffen und dessen monopolistisches Anrecht auf die An­

wendung in der Ktinst a priori als dogmatisches Axiom aufgestellt hat, so ist dies von wissenschaftlichem Standpunkte aus als ein Willkür-Ver­ fahren zu bezeichnen, welchem an und für sich jede Berechtigung abzu­ sprechen ist, und welches,

wenn es von Seiten der Mathematik aus

erfolgen sollte, als eine unerlaubte Ueberschreitung ihrer Befugnisse ge-

136

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

rügt werden müßte.

Ganz ebenso in der Skulptur.

Es ist als eine

Ueberschreitung ihrer Befugnisse zu bezeichnen, wenn die Mathematik —

wie es in der That ab und zu geschieht — sich unterfängt, die soge­ nannte geometrische Reliefperspektive als die einzig mögliche Form

der reliefistischen Darstellung zu Privilegiren und sich darob zu echauffiren, daß gerade der bedeutendste Reliefistiker, Thorwaldsen sich am wenigsten an dieselbe kehrte.

Die Frage nach demjenigen System oder denjenigen

Systemen der Darstellung, welche in der Kunst zur Anwendung gebracht

werden dürfen, kann vielmehr nur dadurch erledigt werden, daß die Werke

der ersten Meister der Malerei und Skulptur auf ihr Zusammentreffen mit den verschiedenen möglichen mathematischen Systemen geprüft werden und daß dann aus dieser Vergleichung das Urtheil über die Ver­

wendbarkeit derselben mit Bezugnahme auf die äußeren Verhält­ nisse und Besonderheiten der einzelnen Fälle gewonnen wird.

Man könnte zwar cinwerfen, es müsse bei der Beantwortung solcher Fragen doch vor allem die Physiologie der Sinnesempfindungcn ein Wort mitzusprechen haben.

stätigen.

Dies ist allerdings

vollauf zu

be­

Es wird jede Untersuchung, die sich mit den Methoden bildneri­

scher Darstellung befaßt, von physiologischen Erwägungen ihren Ausgangs­ punkt nehmen müssen.

Allein abgesehen davon, daß wir bei bloßer

Rücksichtnahme auf den äußeren Sinneseindruck Gefahr laufen, in das bedenkliche Fahrwasser eines seichten Realismus zu geratheu, liefert die

Unzahl von verunglückten optisch-ästhetischen Theorieen, welche auf diesem

Wege schon zu Tage gefördert worden sind, den schlagenden Beweis da­ für, daß die Physiologie für sich allein nicht im Stande ist, uns über das Geheimniß der ästhetischen Wirkung einer bildnerischen Darstellung Auf­ schluß zu ertheilen.

ES rührt dies eben daher, daß innerhalb btr reinen physiologischen

Thatsachen noch ein unendlich weiter Spielraum für daö künstlerische Ge­ schmacksurtheil offen bleibt.

Es darf sich eine Darstellungsmethode aller­

dings nicht im Widersprüche mit allgemeinen physiologischen Wahrheiten befinden; allein nicht' jede Methode, die dieser Grundbedingung genügt,

kann damit schon den Anspruch auf ästhetische Wirkung und künstlerische Annehmbarkeit erheben.

ES kommt eben in der Kunst eine höhere

Physiologie in Betracht, in welcher neben den anatomisch-physiologischen

Gesetzen auch »loch

psychologische Momente als

bestimmend für die

ästhetische Wirkung mit in Rechnung gezogen werden.

Und gerade auf

dem Gebiete dieser höheren Physiologie ist nun daS kritische Urtheil des gebildeten Künstlers, wie sich dasselbe in klarer und bestimmter Weise in

seinen Werken ausspricht, ein Factor von ausschlaggebendem Gewichte.

137

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

Es können in diesem Sinne die ausgewählten Meisterwerke der Kunst geradezu als eine Summe der vorzüglichsten physiologischen BeobachtungSthatsachen angesehen werden.

Helmholtz sagt in dieser Beziehung:

„Wir müssen die Künstler als Individuen betrachten, deren Beobach­ tung sinnlicher Eindrücke vorzugsweise fein und genau, deren Gedächtniß

für die Bewahrung der Erinnerungsbilder solcher Eindrücke vorzugsweise

treu ist.

Was die in dieser Hinsicht bestbegabten Männer in langer

Ueberlieferung und durch zahllose, nach allen Richtungen hin gewendete Versuche

an Mitteln und Methoden

der Darstelluüg gefunden

haben,

bildet eine Reihe wichtiger und bedeutsamer Thatsachen, welche der Phy­

siolog, der hier vom Künstler zu lernen hat, nicht vernachlässigen darf." So werden wir denn gerade von physiologischem Gesichtspunkte aus

auf eine neue Bestätigung der Richtigkeit unseres Princips geleitet.

Alles

weist uns auf den einzig sicheren Weg der exacten experimentellen For­ schungsmethode hin.

Und wie in der Malerei und Skulptur —, so ist es auch in der Baukunst.

Sehen wir von den unerbittlichen absoluten Gesetzen der

Statik und Festigkeitslehre ab, welche keinerlei Beeinflussung durch den künstlerischen Geschmack gestatten, sondern umgekehrt von sich aus eine

Einwirkung auf das ästhetische Bewußtsein auSüben:

so handelt es sich

in der Baukunst vor allem nm die Gesetze, nach welchen sich „Begriff, Zweck und statische Funktion" der einzelnen Strukturtheile eines Bauwerkes

in die Sprache der geometrischen Formen übertragen, und ferner um die

Gesetze der Eurhythmie und Symmetrie*), das heißt um die Principien, nach welchen jene geometrischen Form-Elemente zu einer rhythmisch geglie­

derten und in schönem Gleichmaß geordneten Gesammtheit zu combiniren

sind, um in ihrer lebendigen Wechselwirkung einen einheitlichen, harmonisch zusammenstimmenden Organismus vorzustellcn, in welchem — alles sich

zum Ganzen webt, eins in dem anderen wirkt und lebt.

Und nun möchte ich fragen:

Ist es nicht gerade — Schinkel, der

uns für die Aufgabe, diese Gesetze festzustellen, den Weg der empirischen

Forschung gewiesen hat?

Sagt er doch in der Vorrede zu dem von ihm

projektirten architektonischen Lehrbuche klar und deutlich:

„Nachdem im Verlauf der Zeiten für das Wesen der Architektur — durch das Bestreben der würdigsten Männer auf dem Wege geschichtlicher Forschung, auf dem Wege der genauesten Messung architektonischer Mo-

*) „Symmetrie" ist hier im antiken Sinne des Worte« zu verstehen. (Vergleiche Vitruv I. 2: „Symmetria est ex ipsius operis membris conveniens Con­ sensus, ex partibusque separatis ad universae figurae speciem ratae partis responsus“.)

138

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

numente aller Zeiten, endlich durch vielfältige Bearbeitung der einzelnen

Constructionen in ganzen Werken der Baukunst in empirischer Weise und durch veranstaltete Sammlungen von Darstellungen solcher Gegenstände — der ganze Umfang der Baukunst, wie sie sich bis auf unsern Tag herab

gestaltet hat, zur übersichtlichen Anschauung vor uns ausgebreitet und dar­ gelegt worden ist: dürfte es vielleicht kein ganz vergebliches Bemühen

sein, den Versuch zu machen, in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen dieser vielfältig und verschiedenartig behandelten Kunst, besonders was

den Stil betrifft, die Gesetze festzustellen, nach welchen die Formen und die Verhältnisse, die sich im Verlauf der Entwickelung dieser Kunst ge­

stalteten, und außerdem jedes nothwendig werdende Neue in dieser Be­ ziehung bei den vorkommenden Aufgaben der Zeit eine vernunftgemäße Anwendung finden können." Ist in diesen Worten nicht eben die emptrisch-exacte Methode klar

und deutlich als das Grundprincip Schinkel'scher Kunstforschung ausge­ sprochen? — .Kaum wird cs nothwendig sein, noch ausdrücklich darauf hinzuweiscn,

daß eS das nämliche Princip ist, daS in den Schwesterkünsten der Poesie

und Musik längst unbestrittene Anerkennung gefunden hat. Wo hat eS je ein Theoretiker wagen dürfen, ein aprioristisch aufge-

stelltes Gesetz der Metrik oder deS Generalbasses dem selbstschaffenden

Genius aufzuoktrohiren? — Metrik und Generalbaß sind vielmehr nichts, als der Inbegriff der Gesetze, die auS den ursprünglichen Schöpfungen

des Genius nachträglich abstrahirt und formulirt worden sind.

Als

Beethoven einmal von seinem Verleger auf einen angeblichen Schreib­ fehler in seinem Manuskripte, der einem Verstoße gegen den Generalbaß gleichkommen sollte, aufmerksam gemacht wurde, erwiderte er die stolzen

Worte:

„Meine Noten bestimmen den Generalbaß!"

Die Nothwendigkeit einer empirischen Kunstbctrachtung ist denn auch

in der That den Kunstgelehrten längst zum Bewußtsein gekommen. sind „Aesthetiker" und

„Kunsthistoriker"

fast identische Begriffe.

rastlosem Eifer werden die Thatsachen gesammelt, geprüft, shstematisirt, analogisirt.

Heute Mit

geordnet,

Man hat erkannt, daß in aller Mannigfaltig­

keit ded Erscheinungen doch gemeinsame Bildungsgesetze walten, daß

auch in der Kunst Freiheit und Nothwendigkeit vereinigt sind.

Man hat

begonnen, die in den gemeinsamen Gestaltungsmomenten zum Ausdruck gelangende Nothwendigkeit von der durch die künstlerische Individualität bedingten Freiheit zu trennen und die Wechselwirkung beider zu beobachten.

Trotz ihrer Jugend

hat diese „praktische Aesthetik"

Triumphe der Erkenntniß aufzuweisen.

schon die schönsten

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

Mehr und mehr macht sich ihr aber das Bedürfniß

139

fühlbar, die

übrigen Gebiete des Wissens mit ins Interesse zu ziehen, und hier ist eS

denn vor allem die Mathematik, deren Mithilfe sie schlechterdings nicht entbehren kann.

Auö dem Zusammenwirken beider Wissenschaften, aus der innigen Verschmelzung der ihnen charakteristischen Operationsmethoden läßt sich

tausendfältige Frucht der Erkenntniß erhoffen.

Und sicher wird auf diesem

Wege vieles, waS heute noch außerhalb unseres Gesichtskreises liegt, früher

oder später in den Bereich unseres Wissen« fallen. —

Zu einem ersprießlichen Zusammenwirken ist aber freilich die Er­ füllung einer Vorbedingung unerläßlich: Wir müssen uns vor allem gegenseitig besser kennen und

verstehen lernen! Wohl kann und soll man in unserer Zeit der Theilung der Arbeit

von dem Vertreter einer Wissenschaft nicht verlangen, daß er gleichzeitig noch auf einem zweiten Gebiete thätig sei.

Die wirkliche Vertiefung in

ein engeres Gebiet der Forschung erfordert schon den ganzen Mann.

Und nur zu häufig verbirgt sich hinter der scheinbaren Vielseitigkeit der schlimmste Feind der Wissenschaft: wisserei.

die

dilettantisch-oberflächliche Viel­

Allein doch bleibt der Ausspruch Schiller's ewig wahr, daß

die einseitige gymnastische Uebung einzelner Körpertheile zwar athletische

Virtuositäten züchtet, daß aber nur im freien gleichförmigen Spiel der Glieder sich die Schönheit ausbildet.

In gleicher Weise muß auch der

Vertreter einer Specialwissenschaft sich stets bewußt bleiben, daß er nur

ein Glied des Ganzen ist und daß das Ganze nur in dem harmonischen Zusammenwirken aller seiner Glieder gedeihen kann.

Sobald er aber das

im Auge behält, wird er den übrigen Gliedern wenigstens sein Interesse nicht versagen dürfen.

Jede Specialwissenschaft hat das Recht, von den Vertretern einer andern Specialwissenschaft — zwar nicht ein Hinübergreifen in ihr Ge­

biet, wohl aber ein Interesse und vor allem die gebührende Achtung vor

ihrem Ziel und Streben zu verlangen. In dieser Beziehung kann ich nun leider die Thatsache nicht ver­

schweigen, daß zwischen den Vertretern der Mathematik und der Kunst vielfach nicht diejenige Fühlung und das gegenseitige Interesse und Wohl­

wollen vorhanden ist, wie es zu wünschen wäre.

Sie stehen sich nicht

blos kühl und fremd, sondern meist antipathisch, ja sogar mit einem ge-'

wissen Mißtrauen gegenüber. Der Jünger der Kunst hüllt sich so gerne in seinen aristokratischen

140

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

Künstlermantel und sieht mit souveränem Mitleid auf den Mathematiker

herab als auf den kalten Pedanten, den trocknen Zahlenmenschen, „das Thier auf dürrer Heide, von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt, und ringS umher liegt schöne grüne Weide".

Der Mathematiker andererseits, dem die Strenge und Exaktheit seiner Wissenschaft in Fleisch und Blut übergegangen ist, drapirt sich so gerne mit

dem Talare schulmeisterlicher Unfehlbarkeit itnb sieht auf den Künstler als einen in der Verstandesbildung tief unter ihm stehenden Menschen herab;

er moquirt sich über die speculativen Combinationen des Kunstgelehrten, bei denen der poetische Instinkt so häufig den Leitstern bildet und bilden

muß, und macht ihnen den Vorwurf schönrednerischer

chimärischer Schwärmerei.

schränktheit geltend,

Hohlheit

oder

Nur zu oft macht sich jene pedantische Be­

welche „die Regeln des eigenen Geschäftes jedem

Geschäfte ohne Unterschied anpassen" will.

Es ist so rasch der eine mit

dem Urtheil über den andern fertig, und nur zu leicht wird vergessen,

daß jeder — wenn auch in verschiedener Weise — doch der nämlichen

reinen Schönheit der Erkenntniß dient. Beim Lichte betrachtet ist die geistige Thätigkeit des einen keineswegs

so sehr verschieden von derjenigen des andern. Der Mathematiker einerseits kann die Hilfe der Combinationsgabe einer poetischen Phantasie eben so wenig entbehren, als andererseits der

Kunstgelehrte für die Resultate seiner speculativen Conjecturen den An­

spruch auf Beweiskraft erheben kann, wenn dieselben nicht die nachträg­ liche mathematische Probe auf ihre Uebereinstimmung mit den Thatsachen

bestehen.

Die

versuchsweise

Speculation

einer

kühnen,

wahrheitahnenden

Phantasie bildet für den Mathematiker die Sondirruthe des Eklaireurs,

der die Fürthen des Stromes entdeckt, die dann von der exacten For­ schung mit dem Senkblei des Experimentes untersucht werden, bis die richtige Stelle gefunden ist, über welche schließlich

Brücke der Erkenntniß schlägt.

die Mathematik die

Nie dürfen wir vergessen, daß Keppler

durch keine andere Geistesthätigkeit als durch feine künstlerifch-divinatorifchen Spekulationen

zu der großen Entdeckung

feines dritten Gesetzes

gelangen konnte. Auf der andern Seite aber wollen wir auch stets im Auge behalten,

daß es unserem Schinkel niemals möglich gewesen wäre, seine große That zu vollbringen und die Kunstsprache längst entschwundener Zeiten in

das Denken und Fühlen der modernen Zeit zu übersetzen, wenn er nicht zuvor die Form-Elemente derselben mit der Schärfe des mathematischen

Secirmessers zergliedert hätte.

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

141

Ihr Künstler und Kunstgelehrten! betrachtet Ihr unsern Keppler als einen der Eurigen, und wir Mathematiker wollen Euren Schinkel als

einen der

unsrigen betrachten, — dann werden

wir uns

ver­

stehen! — Eben diese zwei Seiten der Beziehung zwischen Mathematik und

Kunst, die wir in jenen zwei Geistesheroen in so charakteristischer Weise

verkörpert sehen, — wie schön und sinnig bringt sie Schinkel selbst zum Ausdruck, wenn er in seinem herrlichen Farbengedichte in der Vorhalle seines Museums den Genius der Mathematik,

der das Senkblei der

messenden Forschung in die Tiefe senkt, dem trauten Vereine der Musen

gesellt, von denen die eine seinem Werke mit sinnendem Blicke folgt, die andere die segnende Hand über ihn breitet.

Es ist jedoch noch ein weiteres künstlerisches Element in dem Wesen

der Mathematik hervorzuheben, das vielleicht in noch höherem Maße ge­ eignet sein dürfte,

einen Vereinigungspunkt zwischen ihr und der Kunst

zu bilden. Wie gerne möchte ich Euch, Ihr Künstler,

einen Einblick in das

Innerste unsrer mathematischen Werkstätte ermöglichen!

Ihr würdet ge­

wahr werden, daß eS darinnen keineswegs so kalt und öde ist, als Ihr vielleicht glaubt.

verspüren,

deren

Ihr würdet darinnen das Geisteswehen einer Poesie

Reinheit

und

Erhabenheit

der Eurigen

geistesver­

wandt ist.

In der That!

Wenn es wahr ist, daß das Wesen des reinen ästhe­

tischen Wohlgefallens darin begründet ist, daß innere Ideale des Geistes

ihre verklärenden und belebenden Strahlen auf die todte Form des An­ geschauten werfen —: schwelgt dann der Mathematiker nicht beständig

im reichsten Genuß reinster ästhetischer Freuden? Wo kommt das Princip

der Belebung der Form durch den Inhalt der Vorstellungen reiner und geistiger zum Ausdruck als in der Formelshmbolik der Mathematik?

Der Laie sieht in den a b c und x y z der mathematischen Formel freilich nichts als unverständliche Zeichen, denen er gegenübersteht wie der Muselmann der hellenischen Kunstwelt.

Dem Mathematiker aber ist

jeder Buchstabe ein Symbol, jede Formel der Ausdruck einer Idee.

Seiner Formeln künstliche Gefüge zeigen ihm, wie in melodisch reichem Fluß des Reizes Linien sich winden, wie der Curven Netze sich verschlingen, wie der Flächen Wölbungen sich dehnen; und der leere Raum belebt sich

ihm zu einer Welt voll Schönheit und Entzücken. In dem schlichten Kleide seiner Buchstabensymbole sieht sein Seher-

Auge — jetzt die in geometrisch strammer Ordnung gelagerten Massen­ atome, — jetzt das fröhliche Getümmel der von Helios begeisterten, in Preußische'Jahrbücher. Bd.Xl.Vl. Heft 2.

11

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

142

muntrem Reigentanz sich schwingenden Aethermolecüle, — jetzt die ge­ wallten Welten, die in stolzer Majestät ihre sichren Bahnen durch das

Weltall wandeln.

Und wenn dann seine Symbole sich zu schön gegliederten Complexen

gruppiren, zwischen denen er unerwartete tiefe Beziehungen und Verbin­

dungen wahrnimmt, so sieht er in diesen Verbindungen den Abglanz der erhabenen Gesetzlichkeit und Harmonie, welche allwaltend das Universum

durchdringt

in der Fluth der wechselnden Erscheinungen Ordnung

und

und Einheit schafft.

Ein Blatt voll Formeln wird ihm zum Gemälde,

welches das großartige Gesetz der Erhaltung der Energie des Weltalls seinem staunenden Blicke entschleiert.

hebt

So

Schwingen der

er

sich

an der Hand seiner Formelsymbolik

auf

den

Phantasie empor — bis zu jenen Höhen, wo ihn die

überirdische Gewalt jenes

stillen sanften Sausens erfaßt,

in dem

sich

seiner ahnenden

Seele die Nähe deS WeltgetsteS offenbart, — zu jenen

Höhen, wo der

strahlende Schein der Erkenntniß der göttlichen Weltord­

nung erwärmend und erquickend in sein Herze fällt, wo er den geheimniß­

vollen Kreislauf des Beginnens und Zerrinnens, Vergehens

als

des Entstehens

und

die Bethätigungen der ewigen allwirkenden Kräfte und

Gesetze erkennt, die von des Schöpfers Hand als formbildende und leben­

gebende Principien in die todte Materie gelegt worden sind, und er erschaut „in reinen Zügen die wirkende Natur vor seiner Seele liegen".

Und eben dort in jenen Höhen, wo sich der Forscher Klarheit schafft

über die weitesten und höchsten Fragen, wo er sich seiner Menschenwürde

voll bewußt wird und Stellung nimmt zu den hohen Aufgaben und Pflichten, deren Verwirklichung den Zweck menschlichen Daseins und das

Ziel seines Ringens und Strebens bildet, — eben dort begegnet er dem Künstler, der — getragen von den Sehnsuchtsschwingen heiliger

Begeisterung für das ewig Wahre und Gute und Schöne — derselben

Quelle reiner Erkenntniß, demselben „Strahlensitz der höchsten Schöne" zustrebt.

Dort tauschen sie den Bruderkuß, und — Hand in Hand und

Herz in Herz — schwelgen sie im Anschauen des reinen Lichtquells ewiger

Wahrheit und Schönheit.

Und wenn dann jeder wieder herabsteigt in die Wirklichkeit des täg­

lichen Lebens und der. praktischen Berufsthätigkeit, so wird die Erinnerung an die gemeinsam verlebte selige Stunde ihrem Werke eine höhere Weihe

geben; sie wird sie vor Engherzigkeit und egoistischer Einseitigkeit bewahren und ihren Blick ungetrübt auf das große Ganze gerichtet erhalten.

Und

ist ihnen das schöne LooS zu Theil geworden, einen Einfluß auf die Er­

ziehung der Heranwachsenden Jugend zu haben, so wird sie derjenige Geist

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

143

beseelen, der es.allein ermöglicht, die Ausbildung des jugendlichen Ver­

standes und Gemüthes in harmonischen Einklang zu bringen. ES sei mir gestattet, schließlich noch diesen Punkt zu berühren.

Die

Gedanken, denen wir im Vorangehenden Ausdruck verliehen haben, hängen

zu

innig

mit den brennenden Fragen des ErziehungS- und Unterrichts­

wesens zusammen, als daß es mir möglich wäre, hierüber mit Still­

schweigen hinwegzugehen.

In dem Getriebe des geschäftlichen Lebens,

wo jeder nur ein Rad

in der großen Maschine ist, mag die Theilung der Arbeit eine Forderung unabänderlicher Nothwendigkeit sein; es mag ferner im Unterrichtswesen

die Trennung in Fachabtheilungen schon auS Verwaltungsrücksichten noth­ wendig geboten sein. Trennung

Aber hüten wir uns, daß wir diese

nicht auf den

äußerliche

inneren Organismus des Unterrichts über­

tragen! Hier wirkt die Einseitigkeit als Gift; und daS Specialistenthum,

das bei der nächtlichen Lampe ein Segen ist, wird auf dem Katheder unheilvoller Saat so gar leicht nur geistlose

zum Fluche,

aus dessen

Rolltine und

pedantischer Formalismus

erwächst.

Jeder sei vielmehr

vom Geiste deS Ganzen ergriffen, um seine Specialwissenschaft als ein organisches Glied des Ganzen zu begreifen! Nur in der klaren Erkenntniß der Gesammt-Aufgabe, nur in einem bewußten einheitlichen Zusammen­ wirken aller Kräfte läßt sich das hohe Ziel erreichen, der Jugend den­

jenigen Fonds von Verstandes- und Herzensbildung zuzuwenden, der sie be­

fähigt, die praktischen Bedürfnisse der Zeit mit dem idealen Streben des nach Erkenntniß ringenden Geistes zu vereinigen, — das hohe Ziel, das

nach Schinkel'S Definition darin besteht,

Mitarbeiter an der heiligen

Aufgabe der sittlichen Vervollkommnung deS menschlichen Geschlechtes zu

erziehen.

Fassen wir unsere Aufgabe in diesem Sinne, so erscheint manche

Frage in anderem Lichte, und die Möglichkeit ihrer Lösung wird uns näher gerückt. Ich will den Streit zwischen humanistischer und realistischer Bildung

hier nicht heraufbeschwören.

Aber meiner Ueberzeugung darf ich wohl

Ausdruck verleihen, daß die mögliche Ausgleichung auch dieses Gegensatzes nicht in unerreichbarer Ferne liegt.

Wenn wir einerseits unser Augenmerk auf eine solche Ausbildung

des jugendlichen Geistes richten müssen, welche in gleicher Weise die Kraft deS mathematischen Denkens schärft und den Sinn für daS Ideale weckt, so daß die Erziehung von Verstand und Gemüth in ein harmonisches

Gleichgewicht gebracht wird, — wenn wir aber andererseits in unseren

vorangegangencn Betrachtungen gesehen haben, wie ein solcher harmoni11*

144

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft,

scher Einklang zwischen Verstandes- und Herzensbildung in den beiden

Repräsentanten modernen Geisteslebens, Schinkel und Keppler nach zwei verschiedenen Richtungen hin entwickelt erscheint: so dürfte sich hier­ aus ergeben, daß sich daS Ziel wohl auf doppelte Weise erreichen lassen Die Vergeistigung mathematischen Ernstes mit künstlerischer Poesie,

wird.

die Vermählung deutscher Geistesvertiefung mit hellenischem Idealismus

wird sich ermöglichen lassen entweder dadurch, daß wir von der klassischen Bildung auSgehen und

diese mit den Elementen der modernen exakten

Wissenschaften innerlich durchtränken, oder dadurch, daß wir die realistische

Bildung als Fundament wählen und ihr durch den Geist antiker Kunst

und Poesie eine ideale Richtung geben*).

In beiden Fällen erscheint unser heutiges Unterrichtswesen einer Re­ organisation bedürftig. Eine solche aber wird nur dann zu einem erfreulichen Ziele ge­ langen, wenn wir die alten Gegensätze zwischen sogenannter klassischer und sogenannter moderner Bildung fallen lassen und unS auf einen

neuen Boden stellen.

Und hier ist es nun wieder Schinkel, der unS

diesen neuen Boden vorgezeigt und geebnet hat. Auch in dieser Frage muß und wird die große Idee der helleni­

schen Renaissance ihre schöpferische Kraft bewähren.

Schiller sagt in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen:

„Der Freund der Wahrheit und Schönheit lebe mit seinem

Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf" .... „Eine wohlthätige Gott­ heit reiße den Säugling bei Zeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn

mit der Milch eines besseren Alters und lasse ihn unter fernem griechi­ schen Himmel zur Mündigkeit reifen.

Wenn er dann Mann geworden

ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück;

aber

nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie AgamemnonS Sohn, um es zu reinigen.

Den Stoff zwar wird er von

der Gegenwart nehmen, aber die Form von einer edleren Zeit, ja, jenseits aller Zeit, von der absoluten, unwandelbaren Einheit seines Wesens ent­

lehnen."

Schinkel hat dieses Dichterwort in seiner Kunst zur Wahrheit ge­ macht.

Wenn er aber diese That in der Art vollbrachte, daß er sich

die Frage stellte — nicht: wie haben's die Hellenen gemacht? sondern

wie würden sie'S heute mit Berücksichtigung der veränderten Verhält­

nisse machen? —: so würde Schinkel sicherlich auch die in Rede stehende Unterrichtsfrage nicht in der Weise behandeln, wie sie in dem heutigen *) Ich weise ausdrücklich darauf hin, daß die Begriffe „Latein und Griechisch lernen" und „den idealen Geist der Hellenen in sich aufnehmen" keineswegs identisch sind.

Ueber die Stellung der Mathematik zur Kunst und Kunstwissenschaft.

unerquicklichen und unfruchtbaren Parteigezänke erörtert wird.

145

Er würde

vielmehr der Frage die einfache Fassung geben: Wie würden die Hellenen heute verfahren, wenn ihnen

die Aufgabe gestellt würde,

die Erziehung der Jugend den

Ansprüchen der modernen Zeit zu accommodiren? Ich denke, daß diese Form der Fragestellung den Interessen beider Parteien in gleicher Weise gerecht würde und daß sie daher wohl den Aus­

gangspunkt für den Versuch einer Verständigung bilden könnte. aber auch die feste Ueberzeugung,

Ich hege

daß sie eine befriedigende Lösung deS

Problems wirklich herbeizuführen im Stande ist. Der gesunde Sinn des deutschen Volkes

hat von demselben Ge­

sichtspunkte aus schon schwierigere Fragen zur glücklichen Lösung gebracht.

Wenn uns die herrliche Zeit hellenischen HeldenthumeS, wo Geistes­ männer wie Aeschhlus und Sokrates sich glücklich priesen, des Armes

Kraft im Dienste des Vaterlandes erproben zu dürfen, wiedergekehrt ist durch die Wohlthat unsrer Wehrverfassung, wenn die gymnastische Aus­

bildung des hellenischen Jünglings wieder aufgelebt ist in

dem Segen

unsrer allgemeinen soldatischen Schulung, —: Können wir das nicht auch

eine glückliche Lösung moderner Bedürfnißfragen

in hellenischem Geiste

nennen? Und wenn der gesunde Sinn des deutschen Volkes diese Aufgaben

glücklich bewältigt hat, so müßte eö doch merkwürdig zugehen, wenn er

nicht auch über die noch schwebenden Fragen Herr werden sollte, sobald er sie nur im richtigen Geiste erfaßt.

Schiller, Schinkel und Scharnhorst haben unS den Weg ge­ zeigt.

Folgen wir ihrer Weisung!

Die Wichtigkeit der Aufgabe ist deS

Versuches werth. Bringen wir Schinkel den Tribut unsrer Dankbarkeit und Ver­ ehrung damit dar, daß wir sein großes reformatorisches Werk der helle­

nischen Renaissance in seinem Sinne fortführen und die Wiederbelebung hellenischen Geistes aus deutscher Kraft zur Vollendung bringen. Wenn der Rasttag, den wir seinem Andenken geweiht haben, vor­

über — und

die ernste TageSarbeit wieder ausgenommen ist,

so um­

schwebe uns sein Geist und erleuchte unsern Sinn, auf daß unser Werk

seinem Andenken zur Ehre, dem Vaterlande zum Heil und der Mensch­

heit zum Segen gereiche!

Zur Geschichte des deutschen Adels*). So weit wir auch immer in der Geschichte aller Culturvölker rück­ wärts gehen, überall — auch in den primitivsten Anfängen staatlicher

Organisation — stoßen wir auf eine mehr oder weniger scharfe Trennung

des BolkSganzen in einzelne, durch erbliche Vorrechte,

kennzeichnete Classen.

bez. Pflichten ge­

Dies ist daö Wesen der Stände, wie man heutzu­

tage diese Abtheilungen der Bolksgenoflenschaft nennt. Das eine Moment des Begriffs ist ein bestimmtes Maaß von Rechten bei den oberen, von

Lasten bei den unteren Ständen, das andere

die Erblichkeit derselben.

Jene Rechte und Pflichten decken sich dabei stets insoferne, als die Lasten

der Niederen eben die Rechte der Höheren ausmachen, die dadurch zu Vorrechten für diese werden.

Die Erblichkeit gibt dann solchen Verhält­

nissen erst das Constante und Wesentliche, ohne welches keine geschichtliche Erscheinung gedacht werden kann.

Würden jene Vorrechte lediglich in

vorübergehender Weise an den betreffenden Stand geknüpft sein, so würde dies auf einen Act der gesetzgeberischen Thätigkeit oder aus ein vertrags­

mäßiges Uebereinkommen sich zurückführen kaffen: dadurch aber, daß der Anfang

solcher Verbindungen in jedem bestimmten Zeitpunkt historisch

oder wenigstens juristisch nicht mehr nachweisbar ist, nehmen dieselben den Charakter geschichtlich gewordener Verhältnisse an.

Vorrechte mannig­

facher Art gewährt z. B. auch der sogenannte persönliche Adel, trotzdem wird Niemand denselben als einen wirklichen Adel gelten lassen, weil ihm eben das Merkmal der Erblichkeit fehlt;

erst wenn er durch mehrere

Generationen hindurch immer wieder von den Descendenten durch eigenes Verdienst erworben wird, wird er zum ächten, d. h. erblichen Adel.

Wenn ich im Folgenden — als Abschluß meiner in diesen Blättern veröffentlichten Studien zur deutschen Ständegeschichte — die historische *) Benutzte Literatur: Waitz, Deutsche Berfafsungsgeschichte; Maurer, Ueber das Wesen des ältesten Adels der deutschen Stämme; Savigny, Beiträge zur RechtSgeschichte des Adel« im neueren Europa; Mundt, Geschichte der deutschen Stände; Göhrum, Die Lehre von der Ebenbürtigkeit; Löher, Ritterschaft und Adel im spätern Mittelalter u. a.

Zur Geschichte des deutschen Adels.

147

Entwicklung unseres Adelsstandes zu zeichnen versuche, so werde ich, außer

jener Einschränkung, die ich, wie dem Begriffe des Adels, so insbesondere auch den

Arbeit ziehen

Grenzen meiner

muß,

auch gleich hier den

charakteristischen Inhalt desselben kurz kennzeichnen müssen.

Ich nehme mir

zmn Gegenstand also bloß den historischen Adel, denn nur dadurch wird es mir möglich, eine einheitliche Idee in den wechselnden Formen des­

selben herauszufinden.

Die Anschauungen über diesen Punkt gingen von jeher und gehen Ohne mich hier in eine weitläufige

heute noch weit von einander ab. Controversc einzulassen,

will ich sofort das mir einzig und allein als

Grundinhalt des AdelSbegrisis giltige Prinzip benennen; meine historische

Ausführung wird dann, wie ich hoffe, die Richtigkeit desselben feststellen. Es ist — um

es kurz zu

sagen — der politische Macht-Begriff,

welcher überall und immer das Wesen des ächten Adels ausgemacht hat; wo dieses Merkmal fehlt, kann voll einem wahren Adel keine Rede sein.

Es gilt dies übrigens nicht bloß vom Adel, auch die werden erst dadurch zu

solchen,

daß sie Stellung

übrigen Stände

zu jenem wichtigsten

Staatsbürgerrecht nehmen. Wahrhafte Stände gibt eS nur da, wo diesen eine wesentliche Theilnahme an den politischen Rechten,

regierung

zusteht.

Dies

ist

das Princip

an der StaatS-

aller Bürger,

Bauern und

Adeligen, ein gemeinsames in Deutschland von jeher gewesen; keine Idee davon,

daß

sich

der Adel jemals durch ein besonderes Erbrecht in den

germanischen Staaten gebildet habe.

Auch in England ist das Majorat

ein allgenieincs Institut für alle Stände, und in Deutschland hatten einst

die Freien, namentlich die Bauern, dasselbe Erbrecht wie der Adel.

Bildung eines gesunden und für

Die

das Volk erträglichen Adels ist viel­

mehr immer auf politischem Wege angefangen und beendet worden; sein Untergang lag da, wo er seine politischen Rechte gegen persönliche Vor­

züge aufgab oder verlor, damit war immer auch sein ständischer Begriff dahin, denn nur im Gegensatz und in der Verbindung

mit anderen

Volksständen kann der Adel etwas bedeuten. Sobald daher in Deutschland,

etwa seit dem 17. Jahrh., die alten

Formen ständischer Verfassungen untergraben wurden, und namentlich in

den größeren Territorien Administration der Regierung

an die Stelle

fürstlicher und ständischer Herrschaft trat, verlor mit den Bürgern und Praelaten zugleich der LandeSadel seine Bedeutung.

Mehr oder weniger

bestanden die Staaten seitdem aus Classen von Administrirten, nur ein­

zelne persönliche Vorzüge blieben,

die immer etwas Gehässiges in den

Begriffen der großen Menge der Staatsbürger behielten.

In unserm

Jahrhundert haben nun die meisten deutschen Staaten wieder eine all-

8ur Geschichte des deutschen Adel-.

148

sie haben Verfassungen erhalten,

umfassende Restauration durchgemacht,

die alle auf der Voraussetzung ständischer Gliederung in den Stämmen Deutschlands beruhen, welche Voraussetzung freilich insofern nicht ganz

der Wirklichkeit angemessen war, als gerade die freiheitbildenden politi­ schen Rechte der Stände

überhaupt

untergraben oder ganz vernichtet

ES wäre eine Thorheit gewesen, alle gothischen Ruinen der alt­

waren.

ständischen Verfassungen wieder aufzubauen, eine Unmöglichkeit eS durch­

zusetzen und eine Revolution eS nur zu versuchen.

Denn wo war jene

Leibeigenschaft oder Unterthänigkeit des heute zahlreichsten Standes der

Bauern, wo war jene Selbstverwaltung des Bürger-, Prälaten- und Ritterstandes, wo war jene Autonomie der Corporationen, wo waren die

ständischen Cassen, theilung,

ihre Beamten

zur

Steuerhebung und Steuerver-

wo war die ständische Verwaltling

der Staaten geblieben?

Hätte man sollen die ganze Organisation der Regierung umstürzen, hätten die Fürsten sich selber aller ihrer Macht, der man so viel Treffliches im

Staatsleben verdankte, entschlagen, das Volk des Landes wieder knechten

sollen, bloß um einen Antiquitätenstaat mit Wappen und Schildern, einen Schatten ohne Fleisch und Bein mit Patriziern und Plebejern, mit Rittern

und Harnischen, Minne- und Bänkelsängern wieder heraufzubeschwören? Man war also in Deutschland gezwungen, auf der Grundlage des Be­

stehenden, ächt conservativ, repräsentative Verfassungen zu geben, d. h. Grundzüge vorzuzeichnen, nach welchen die weitere Bildung des politischen Lebens geschehen sollte. Man fing damit an, den Ständen ihre politischen

Rechte, Steuerbewilligung, Theilnahme an der Gesetzgebung rc. wiederzu­ geben.

Dies war die allgemeine Grundlage der Restauration; die spezielle

war die,

daß

man dem Bauern- und Bürgerstande die Gemetndever-

fassungen gewährte, daß man also anfing auch die ständischen Rechte in ihren einzelnen Kreisen demokratisch Leben gewinnen zu lassen, daß man

Freiheit und Luft gab sich zu entfalten.

Es war ein Glück für die deut­

schen Staaten, daß sich die meisten Fürsten bestimmt fanden, nicht allzu lange mit der Vorzeichnung

jener Grundzüge, d. h. der Constitutionen

zu zögern, und die Einsicht hatten, man müsse die weitere Ausbildung

und Entfaltung der Stände der Zeit überlassen, denn man hörte wohl hie und da solche Stimmen erschallen, eS sei ein Unding Constitutionen zu geben, wo eS an aller Aristokratie in Deutschland fehle; eS müsse ein conservativeS Prinzip, ein Beharrendes, Stabiles da fein, wo man reprä­

sentative Kammern bilden wolle.

Allerdings ist eS wahr, daß eS keinen

gesunden Adel in den reinen AdmintstrationSstaaten gab und geben kann, ebensowenig

wie einen wahrhaften Bürger- und Bauernstand.

Die

Elemente zu einem politischen Adel fanden sich aber und finden sich noch

Zur Geschichte des deutschen Adels.

149

im ganzen Deutschland; es waren die großen Grundbesitzer; aus diesen

konnte hervorgehen und ist der eigentliche Adel in den meisten constitutsonellen Staaten zum Theil hervorgegangen, nicht etwa dadurch, daß man

ihm persönliche Vorzüge anwies, sondern dadurch daß er politische Rechte als Stand erlangte, welche in der Standschaft der ersten Kammer zu­

sammengefaßt sind, und daß er dafür auch zu seinem Theil die Lasten

des Staates übernahm.

So viel bleibt aber wahr:

ohne Reichsstände

gibt es keinen wahren Adel; nur mit den andern Ständen deS Volks steht und fällt der Adel, gewinnt oder verliert er seine Bedeutung.

Um die Richtigkeit des Vorstehenden zu beweisen, weise ich ans ein Land hin, dessen Adel allgemein als der gesundeste und entwicklungs­ fähigste anerkannt wird: ich meine natürlich England.

Bei unS ist eine

scharfe Grenzlinie zwischen dem Adel und dem Nichtadel; diese Grenzlinie wird einzig und allein durch die Geburt und Abstammung bestimmt, und

eS ist also genau genommen eine physische Unmöglichkeit sie zu über­

springen, weil kein Mensch sich andere Väter geben kann, als er von Haus auS gehabt hat.

In England ist die Geburt allerdings auch ein

Moment und wohl das vornehmste aller der Momente, die in Rücksicht gezogen werden, um die Stellung, welche Einer einnimmt, zu bemessen.

Außerdem aber sind Reichthum,, politischer und moralischer Charakter, Amt und Würde ebenfalls sehr große Gewichte.

Die Geburt hat aber

weit mehr Stufen als bei uns, und diese Stufen gehen von der obersten Peerage bis zum untersten Mob weit gleichmäßiger und gewissermaßen

in einander greifend und sich verschlingend hinab. blos

Adel (nobility) heißen

die betitelten ältesten Söhne der betitelten Väter.

Die jüngeren

Söhne treten, wiewohl von adliger Geburt, aber nicht von adligen Rechten,

zu dem Nichtadel fühle.

über und bringen zu diesem ihre aristokratischen Ge­

Obgleich sie keine PeerS sind, bleiben sie doch, wäs ihnen kein

Gesetz nehmen kann, verwandt und verbunden mit den Peers und LordS

des Reichs, mit einem Worte, es entsteht daraus jene merkwürdige Ueber-

gangSclasie von Menschen, die man in England very respectably connected oder auch highly connected people nennt.

Wie in zwei große,

durch eine tiefe Kluft getrennte Wasser gespalten liegt unsere und auch anderer Völker Gesellschaft da.

In England hilft daher auch der aristo­

kratische Sinn der Nation zur Kraft und selbst zur Einigung und Milde­

rung der politischen Parteiungen in der Gesellschaft.

weg im ganzen Volk willkommen und populär.

Der Adel ist durch­

Mit derselben Leichtigkeit,

mit welcher der hohe englische Adel seine Blutsverwandten auS seinem Kreise ausschließt, nimmt er auch neue Mitglieder in seine Mitte auf und amalgamirt sie schnell.

Wilhelm IV. creirte auf einmal mehr als

Zur Geschichte des deutschen Adels.

150

60 Peers, und dieselben waren schon bald als ebenso gute LordS als irgend welche angesehen.

Es ist dies natürlich, denn man schafft diese

Leute nicht auS dem bloßen Nichts; sie standen schon vorher groß da und

waren längst der schönen Frucht nahe, die ihnen dann allmählig reif in

den Schooß fiel. Kein Adel eines anderen Landes ist seiner ganzen Natur nach so politisch und staatsrechtlich bevorrechtet wie der englische.

Im Oberhause

sitzen nicht nur die durch Geburt als weltliche LordS dazu Berechtigten,

sondern auch die aristokratischen Häupter der Kirche, die auf Lebenszeit oder für jede Parlamentsdauer gewählten LordS von Irland und Schott­

land, die höchsten Richter des Landes und die durch ihre Talente ausge­

zeichneten Männer, welche der Krone besonders geeignet erschienen sind in die Aristokratie des Landes einzutreten. besitz einer Herrschaft

ES ist also außer dem Grund­

auch daS Princip der monarchischen Ernennung,

daS der Wahl des Standes der Aristokratie und das der höchsten StaatSund Kirchenämter im englifchen.Oberhaufe repräfenttrt.

lichen Principien auch

Da diese sämmt­

den ersten Kammern deutscher Verfassungen zu

Grunde gelegt sind, so sollte man glauben, eS müsse sich auch die deutsche Aristokratie homogen der englischen entwickeln oder bereits entwickelt haben. Dem ist aber bis jetzt nicht so.

Der englische Adel besteht bei über 28

Millionen Einwohnern allein aus ein paar hundert politischen Personen,

der deutsche auS einer Unzahl von Geschlechtern, die gar nicht einmal in ihren persönlichen Rechten gleichstehen, viel weniger in ihren politischen; der englische Adel ist rein politisch, durch Staatsrechte als Stand ge­ bildet, gar nicht privatrechtlich, nicht durch ein unterschiedenes Erbrecht,

welches sich fast in ganz England unter allen Landbesitzern als dasselbe

erhalten hat.

Eben wegen dieser seiner politischen Natur ist der Begriff

der Ebenbürtigkeit der englischen Nobility fremd; sie hat ihre Abstammung von den Normannen den Sachsen gegenüber vergessen, alle aus Vorur­ theilen oder

aus bloß natürlichen Verhältnissen der Geschlechter ent­

sprossenen Rechte aufgegeben; keine Ahnentafel, kein Stammbaum gibt

Rechte; der englische Herzog verbindet sich ohne Nachtheil für sich

und

seine Kinder mit einer Gemeinen; nur wer im Oberhause Standschaft

hat, ist von Adel, alle andern desselben Geschlechts, die jüngeren Söhne

und Töchter sind Gemeine; jeder Gemeine kann eine Erbin oder Peereß

hetrathen, sein ältester Sohn wird adelig.

So

ist dieser Stand keine

Kaste, das ganze Volk von England ist adelsfähig.

Bon so jungem Adel

auch die meisten Mitglieder des Oberhauses sind — unter den deutschen

Geschlechtern gibt es weit mehrere von älterm Adel —, so ist die eng­ lische Nobility doch die erste Aristokratie, welche die Geschichte kennt; nicht

151

Zur Geschichte des deutschen Adels.

Rom, nicht Sparta, nicht Venedig haben einer solchen ewigen Aristokratie sich zu rühmen, denn der englische Adel hat sich in denselben wesentlichen

Rechten als Stand seit 800 Jahren immer erneut, immer verjüngt, immer neue Wurzeln im Volk geschlagen und seine Gipfel bis in die Regionen

der Krone erhoben.

Er ist derselbe geblieben seit seiner Geburt, das

deutsche in der

Alter hat ihn nicht gealtert;

er ist nicht wie der hohe

Landeshoheit untergegangen;

er hat nicht das Königthum überwunden,

obgleich gegen die unbeschränkte Fürstenherrschaft gekämpft; auch hat er sich nicht wie der französische in der Hoffähigkeit und in dem Hofdienst

verloren;

er hat am frühesten die Leibeigenschaft seiner Bauern aufge­

hoben und

doch seinen Landreichthum

behalten;

er hat Radicale und

Demokraten, Whigs und Tories, die größten Talente ohne Unterschied in sich ausgenommen und doch sein Wesen bewahrt, seine Stellung zwischen

Monarchie und Demokratie, und ist aus dem Grabe der Republik itach Cromwell in voller Kraft auferstandcn.

So ist er eine fast einzige Er-

scheinling in der politischen Geschichte geblieben; gerade durch den Wechsel der Personen, durch die Mischung des Blutes und die Verjüngung des Geistes hat sich das politische Princip seines Standes, seiner Rechte er­

halten.

Das alles vermag der Staat, die Gemeinsamkeit einer gesunden

Corporation, das politische Princip, das seine richtige Anwendung findet.

Allerdings hat auch der englische Adel eine historische Erinnerung für sich, er hat eine Geschichte;

sie läßt sich aber nicht von der Volksgeschichte,

auch nicht von der des Königthums trennen; sie ist keine Geschichte der

Wappen und Bilder, keine Familienanekdotensammlung, keine Genealogie, die mit Cäsar Augustus oder Adam als Stammvater der Geschlechter be­

ginnt, sondern sie ist die Geschichte der englischen Verfassung, der eng­ lischen Freiheit und nebenher auch die deS englischen Adels als Stand.

Wohl ist eS richtig,

daß man in den englischen Biographieen großer

historischer Charaktere gern mit dem ausgezeichneten Geschlechte beginnt,

daß man die hohen Verbindungen deS Helden rühmt, daß man ihm oft das zum Verdienste anrechnet,

was er nur seiner Geburt zu verdanken

hat: aber dies ist nur die immer wiederkehrende Schwachheit der Menschen­

natur, die einen Zug auf das Aristokratische hat; tischen Adels hilft dies wenig oder nichts.

zum Wesen deS poli­

Napoleon, als er von Elba

zurückgekehrt seine wankende militärische Herrschaft durch Volksrechte und Constitution stützen wollte, gab dem Drängen deS ehemaligen Republika­

ners Benjamin Constant, der eine erbliche unabhängige Pairie als Bürg­ schaft der verfassungsmäßigen Freiheit für Frankreich verlangte, nach und

schuf sie, er konnte sich aber nicht enthalten, da er die Mehrzahl der alten

Seigneurs als feindlich kannte, in Bezug auf die Marschälle und Diener,

152

Zur Geschichte des deutschen Adel«.

die neuen Pairs, hinzuzusetzen: „ohne Erinnerungen, ohne geschichtlichen

Glanz, ohne große Besitzungen, werden?

auf waS

soll meine Pairie gegründet

Die englische Pairie ist etwas ganz Anderes.

dem Volke, aber in ihm und war nie gegen dasselbe.

Sie steht über

Der englische Adel

gab England die Freiheit; die magna Charta stammt von ihm.

Mit

er steht auf der Seite derselben.

Aber

der Verfassung ward er groß,

schon in dreißig Jahren von jetzt an werden meine Pilze von Pairs nur Soldaten oder Kammer-Herren sein.

Man wird nur ein Feldlager öder­

em Vorzimmer sehen."

Dieselbe enge Verbindung zwischen Adel und politischer Macht zeigt

uns unsere ganze deutsche Geschichte.

Die Blüthezeit desselben fällt genau

mit derjenigen Periode zusammen, in welcher ihm ein bedeutender An­

theil an der Regierung des Landes, überhaupt ein hohes Maaß politischer Rechte eingeräumt war und während welcher gleichzeitig seine kastenartige

Absperrung gegen die untere Volksklasse sich noch nicht oder wenigstens nicht in der engherzigen Art wie späterhin vollzogen hatte: sein Nieder­ gang datirt von der politischen Ohnmacht desselben, von seiner Absperrung

nach unten und seinem Sichverlieren in kleinlichen äußerlichen Spielereien. DaS letztere ist dabei nur die folgerichtige Consequen; des ersteren:

der

menschliche Geist, mag er sich nun in der Einzelpersönlichkeit oder in großen Volks- und Gesellschaftsgruppen repräsentiren, will stets einen

Gegenstand seiner Thätigkeit haben; verliert er die tieferen Zwecke auS dem Ange, so wirft er sich auf Aeußerlichkeiten, wird schrullenhaft, eigen­

sinnig und kleinlich. Gehen wir

auf die ersten glaubwürdig überlieferten Anfänge un­

serer Geschichte zurück, so bietet sich uns bezüglich der Standesverhält­ nisse folgendes Bild.

Die gesellschaftliche Grundlage, auf der Alles in

seinen bestimmenden Wurzeln steht, bildet die Freiheit. meinde und mit ihr das

Die freie Ge­

demokratische Princip nimmt unter dem be­

günstigenden Einfluß der noch halbnomadischen Agrarverhältnisse die erste Stelle im germanischen Volksleben ein. heitsprincip nicht so gedeutet werden,

Trotzdem darf aber dieses Frei­ als ob unter ihm nicht doch eine

Sonderung nach Standesunterschieden und der Rechte möglich wäre.

eigenthümlichen Abstufungen

Wenn wir auch den Zustand unseres Volkes,

wie er uns von den großen römischen Geschichtschreibern geschildert wird, als den Naturzustand desselben annehmen wollten — was er, beiläufig

bemerkt, keineswegs ist —, so dürften wir dennoch in ihm nicht das Evangelium der Freiheit und Gleichheit erblicken.

Der Naturzustand eines

Volkes ist vielmehr stets die fretwüchsige Auseinandersetzung aller ur­

sprünglichen Unterschiede, die in Natur- und Menschenwesen vorhanden

153

Zur Geschichte des deutschen AdellS.

sind.

Die Gleichheit tritt erst als historischer Prozeß auf, in der Natur

ist sich

nichts

gleich, am allerwenigsten der Mench.

Jene beiden im

ältesten germanischen Gesellschaftsleben gegen einamdir ringenden Principe — auf der einen Seite die Freiheit als Grundlage des ganzen socialen

Baues, auf der andern daS tief in der Menschenmatur schlummernde Be­

streben nach Vernichtung dieser allgemeinen Freiheit und Gliederung der Gesellschaft vielmehr nach Stufen der Ungleichheit — werden wir scharf

im Auge behalten

müssen,

wollen wir anders

dcS merkwürdige Bild

unserer frühesten sozialen Zustände richtig verstehen.

aufs

Das erste hängt

innigste mit der ältesten Wirthschaftsgeschichtc unseres Volkes zu­

sammen, das letztere ist nebenbei namentlich auch durch den äußeren Gang der Geschichte gefördert worden.

Ein Viehzucht und

Weidcwirthschaft

treibendes Volk, wie daS unsrige noch zu Cäsars, in gewisser Beschrän­ kung auch noch zu Tacitus' Zeiten war, wird immer in seinen gesellschaft­

lichen Verhältnißen das Bild demokratischer Gleichheit Aller darbieten;

wenn

sich

dabei

aristokratische oder monarchische Bildungen offenbaren,

bewegen sich solche doch lediglich in den Grenzen deS Patriarchalismus,

der von der Freiheit und den Rechten Aller nur gerade so viel an sich nimmt, als zur Wahrnehmung der gemeinsamen Jn'.eressen absolut noth­

wendig Form

bringt.

ist, und

einer

seine sanfte Gewalt überdies noch in der natürlichen

Herrschaft der

Familienältesten

zur äußeren

Erscheinung

Die Nachklänge eines solchen WirthschaftssystemS und einer solchen

Verfassung liegen noch wahrnehmbar in der Germania des Tacitus vor; was in der Schilderung nicht zu diesen Tönen stimmt, kommt auf Rech­

nung eines mehr äußerlichen geschichtlichen Prozeßes, den unser Volk vor und während der Zeit seines römischen SittenschildererS durchgemacht hat.

Ich meine seine Wanderungen von Osten nach Westen, die höchst wahr­ scheinlich zu Cäsars Zeiten noch in vollem Fluße waren, zu denjenigen

des Tacitus jedenfalls einen gewissen Abschluß erreicht hatten, wenngleich ein definitives Ende erst durch die große Völkerwanderung herbeigeführt

worden ist.

Wären jene ersten Wanderungen friedlich vor sich gegangen,

so würde dennoch das Culturbild unseres Volks wenig verändert worden

sein; daß daS Vordringen nach Westen auf ernste Hindernisse stieß, daß

alteingesessene Völkerschaften sich -mit Waffengewalt den wandernden Ger­ manen

entgegenstellten und

von diesen mit denselben Mitteln nieder­

geworfen werden mußten — das wissen wir, nicht etwa aus Mittheilungen

griechischer oder römischer Geschichtschreiber, die darüber vielmehr absolutes

Stillschweigen beobachten — wahrscheinlich weil jene Wanderungen Jahr­ hunderte hinter der Blüthe Hellas' und Roms zurückliegen — sondern einzig und

allein aus den in der Schilderung des Tacitus von dem

Zur Geschichte des deutschen Adels.

154

Wirthschaft-bild eine- Hirtenvolkes abweichenden Linien und Conturen. Das Bild, das uns die Germania von dem Culturzustand unserer Alt­

vorderen entwirft, weist deutlich die Spuren einer früheren Unterwerfung fremder Völkerschaften ailf.

Denn nur auS mit Waffengewalt Uilterjochten

können, da die von Tacitus aufgeführten Quellen der Unfreiheit nume­

risch gar nicht in Betracht kommen, die jedenfalls zahlreichen Sklaven hergeleitet werden.

Erwägt man, daß auf diesen nahezu die ganze Last

der wirthschaftlichen. Arbeit ruhte, und daß diese letzteren selbst von den freien Germanen mit Verachtung betrachtet wlirde, so ist der Schluß wohl

kein voreiliger, daß die Klasse der Unfreien, wie sie numerisch die der Freien weit übertroffen haben wird, auch' qualitativ in scharfem Gegen­

satze zu dem herrschenden Stande gestanden hat, in einem Gegensatze, der nach einer bei allen erobernd vordrtngenden Culturvölkern gemachten Be­

obachtung nur der der Race, des Blutes gewesen sein kann.

Dies war

die erste, durch den äußeren Gang der Geschichte herbeigeführte Durch­

löcherung deS ursprünglichen Freiheitsprincips, wenn es nicht vielleicht richtiger ist, das Princip der Unfreiheit, als einen fremden Blutstropfen,

unserm Volke durch die Berührung mit tiefer stehenden Stämmen auf« octroyirt, überhaupt nicht als Durchbrechung der germanischen FreiheitSidee gelten zu lassen.

Erklärt sich so in ungezwungener Weise das Vorkommen eines zahl­

reichen Sklavenstandes bei einem die gemeine Freiheit so nachdrücklich an die Spitze seiner Verfassung stellenden Volke, so ist dagegen die daneben

auftretende Erscheinung eines über den Freien stehenden Adelstandes schwer zu verstehen.

Leider sind die wenigen Nachrichten, die uns Tacitus hin­

sichtlich desselben gibt, eben nicht durch klare Durchsichtigkeit ausgezeichnet. Ganz dunkel bleibt namentlich sein Ursprung.

Man hat an eine Ver­

bindung desselben mit dem Priesterthum gedacht: sei es in historischer, sei

eö in fernliegender Urzeit hätten bestimmte Familien in priesterlicher Würde gestanden und um deßwillen auch höherer Auszeichnung sich er­

freut, als besonderer Ehre theilhaftig, vielleicht selbst in gewißem Maaße als heilig gegolten.

Aber wenigstens

in den Zeiten, von denen wir

Kunde haben, ist nichts der Art vorhanden.

An sich würde eS auch viel­

mehr einen Priesterstand als einen Adel'begründen, und jenen hat es

nach bestimmten Zeugnissen bei den Deutschen nicht gegeben.

Daß ein

solcher früher vorhanden war, ist an sich nicht wahrscheinlich; daß er seinen ursprünglichen Charakter aufgegeben und in einen Adel ohne priesterliche Funktionen sich verwandelt habe, nicht denkbar: auch gar nichts in den

Verhältnissen des Adels weist auf einen solchen Ursprung hin.

Die Vor­

steher des Volks, die Könige, haben wohl auch priesterliche Functionen

155

Zur Geschichte deS deutschen Adel».

geübt, aber weder hat dies auch bei den Königen etwas mit ihrem Adel zu thun, noch hat sich daraus ein Standesvorzug ergeben, ein Adel ge­

bildet. Noch weniger darf an eine Stammesverschiedenheit des Adels gedacht

werden:

weder ist er so zahlreich, noch nimmt er eine solche Stellung

ein, daß davon irgend die Rede sein könnte.

Adel und Freie zusammen

bilden vielmehr, wie wir gesehen haben, einen herrschenden Stamm und Stand gegenüber der abhängigen unfreien Bevölkerung.

So werden wir uns denn bescheiden

müssen, den Ursprung des

deutschen Adels als ein Räthsel der Geschichte, wie so manches andere,

hinzunehmen.

Jedenfalls reicht er mit seinen Wurzeln in die graue Vor­

zeit ztlrück, indem er vielleicht zugleich mit der ersten Ordnung und Gliede­

rung deS Staates entsprungen ist. an Götter

Anknüpfung

Darauf deutet auch seine sagenhafte

oder Helden überirdischen Ursprungs hin.

So

wurden die angelsächsischen Königshäuser, die ja auch ursprünglich nur anglischcr,

sächsischer

oder jütischer Adel sind,

so die Könige bei den

Langobarden, deren Ahnfrau uns deutlich genug

als eine Walküre be­

zeichnet wird, die Amaler bei den Gothen, an deren Spitze sogar ein Stammheros

des

ganzen Volkes zu

stehen scheint, mit übernatürlichen

Kräften in Verbindung gebracht, und noch bei den jedenfalls aus altem schwäbisch-baierischen Adel entsprossenen Welfen hat sich die Sage von einem außerordentlichen,

wenn auch nicht mehr

heidnisch-göttlichen Ursprünge

erhalten.

WaS ist nun das Wesen des ältesten deutschen Adels? Die Antwort ist nicht

leicht,

und wir werden zu einer richtigen Vorstellung erst auf

dem Umwege gelangen, daß wir vorerst die Punkte feststellen, die nicht

feinen Inhalt ausmachen.

Vor Allem müssen wir uns hüten, in ihm

etwa verwandte Anklänge an die römische Nobilität zu finden.

Der Adel,

von dem TacituS spricht, ist kein Ritterstand im Sinne der Römer.

Da

er sich auch bei solchen Stämmen vorfindet, wo von Königen nie die Rede ist, so ist auch das Königthum nicht die Quelle desselben; vielmehr waren die edlen Geschlechter der Urzeit, aus welchen die Könige gewählt wurden,

denselben völlig ebenbürtig, eine Anschauung, welche sich durch daS ganze Mittelalter hindurch erhalten hat.

Stirbt das Königliche Haus aus, so

daß sich gar kein Sprößling desselben auch in weiter Ferne mehr findet, so wird dasselbe meist wieder durch ein anderes edles Geschlecht ersetzt,

und wie großen Werth man dabei auf den Adel legte, zeigt sich nament­

lich auch darin, daß sogar ein besonders edles Geschlecht eines fremden Stammes auf diese Weise zur Herrschaft berufen werden konnte.

Der

Adel der alten Deutschen beruht auch nicht auf besonderem Landbesitz, wie

Zur Geschichte des deutschen Adels.

156

überhaupt die Beschaffenheit des GrtlndbesitzeS, den er hat, von keinem Belang für seine Stellung

gewesen ist.

Auch den Anspruch auf ein

höheres Wcrgeld dürfen wir ursprünglich nicht alö ein Dorrecht des Adels

es beruht jener vielmehr zu Anfang lediglich auf der höhere»

ansehen;

Macht und thatsächlichen Anerkennung, welche dem Adel zu theil wurde:

erst in einer Zeit, in welcher die alten Zustände überhaupt sich schon um­

gestaltet hatten, wurde die thatsächliche Bevorzugung in Wergeld und Buße

zu

einer rechtlichen.

So kommt denn auch nirgends ein Verbot

der Wechselheirathen zwischen Edlen und Gcmeinfreien vor, wie ein solches für die Heirathen zwischen Freien und Unfreien, ja sogar zwischen Freien und Halbfreien, allgemein besteht.

Von besonderen Abhängigkeits- oder

Schutzverhältnissen anderer Klassen der Bevölkerung zum Adel finden sich in der Urzeit keine Spuren.

Daö Recht, ein Gefolge zu halten, gebührt

nur den Fürsten, obwohl es scheint, daß durch große KriegSthaten oder

auch durch ein gewaltsames Hervordrängen von Macht und Stellung jene Berechtigung gewonnen werden konnte.

Bestimmte politische Rechte lassen

sich außer dem Anspruch auf das Königthum überall nicht nachweisen. Näher kommen wir einem richtigen Verständniß, wenn wir uns der

Art und Weise erinnern, auf welche die alten Deutschen in den Besitz

des von ihnen schließlich zu dauernden Siedelungen occupirten Landes gelangt waren.

Wir haben aus der frühesten Wirthschaftsgeschichte unseres

Volkes Heraus den Beweis entnommen, daß die Klasse der Unfreien von

fremden unterjochten Stämmen ihren Ursprung genommen.

Der Krieg

war also schon in der grauen Vorzeit, wie noch zur Zeit der römischen

Geschichtschreiber,

ein hervorragendes Element der Volksgeschichte.

Auf

dem nämlichen Principe nun, auf welchem der Gegensatz zwischen Freien und Unfreien beruht, beruht auch der zwischen den gemeinen Freien und

dem Adel.

Wie einerseits die Ueberwundenen ihre kriegerische Ehre und

ebenbannt Recht und Freiheit verloren, so gewannen andererseits einzelne hervorragende kriegerische Persönlichkeiten eine höhere Bedeutung

ihren Volksgenossen.

Um angesehene Krieger sammelte sich

leicht

unter

eine

Schaar rüstiger, ihnen treu ergebner Männer, anfangs zu vorübergehen­

den Kriegszügen, späterhin als ständige Gefährten. Durch solche Comitate gehoben, erlangten Gefolgsherren nicht nur bei auswärtigen Völkerschaften, sondern auch bei ihrem eigenen Volke ein höheres Ansehen; sie bildeten

die natürlichen Häupter desselben

und man durfte sie füglich die Ersten

(principes), die Mächtigeren (potentiores, potentissimi) ihres Stammes

nennen.

Daß ihnen eine besondere öffentliche Bedeutung zukam, kann

nach dem Gesagten nicht

es ausdrücklich.

mehr befremden

Auch die Quellen bestätigen

Sie erhielten von den einzelnen Gliedern der Volks-

Zur Geschichte des deutschen Adel«.

gemeinde freiwillige Gaben zum

157

Unterhalte ihrer Gefolgschaften;

auS

ihrer Mitte, als den Tüchtigsten der Nation, wählte man vorzugsweise die Volksrichter und Heerführer; ihnen überließ man die Besorgung der

unbedeutenderen und die Vorberathung der bedeutenderen Volksangelegen­ heiten. Neben dem Gegensatz zwischen plebs und principes erwähnt TacituS noch einen zweiten: den zwischen ingenui und nobiles.

Die Abstammung

von einem persönlich bedeutenden Vater, von einem princeps, zeichnete dessen Sprößlinge unstreitig vor andern Freien auS; allein wirkliche Vor­

rechte waren damit nicht verbunden.

Eine edle Geburt gewährte nur

insofern einen Vorzug, als tu nobiles einen weiteren Sporn persönlicher

Auszeichnung darin fanden und ihren Bestrebungen die günstigen Vorurtheile ihrer Volksgenossen zu Statten kamen.

Schon in frühester Jugend

verschaffte ihnen die Gunst eines Gefolgsherrn die ersten Rangstufen im Comitate;

waren sie zu Männern herangewachsen und hatten sie durch

ihre persönlichen Eigenschaften ihrer Geburt entsprochen, so mochten sie um so leichter eine ständige Gefolgschaft um sich versammeln und

aus

der Maße des Volks, der sic bis dahin angehörten, in die Reihe der proceres übertreten.

Der Gegensatz zwischen nobiles und ingenui be­

ruhte somit auf einem Unterschiede der Geburt,

der Gegensatz zwischen

der plebs und den principes aber auf einem Unterschiede der politischen Bedeutung.

lichkeit

Sofern sich also die letztere auf eine hervorragende Persön­

gründete, könnte man die principes als eine Art persönlichen

Adels bezeichnen; insoweit ihnen ihre Abstammung zu jener verhalf, auch als eine Art von GeburiSadel.

Beide Gegensätze deckten sich nicht: eine

höhere politische Bedeutung stand wohl mit einer ausgezeichneten Geburt in einiger Verbindung, nur in keiner rechtlich nothwendigen.

Zwei Hauptmerkmale ergeben sich unS also bezüglich des Inhalts des ältesten deutschen Adelsbegriffs: einmal eine Reihe bedeutender that­

sächlicher Vorzüge, sodann die vollständige Unabgeschlossenheit desselben nach unten.

Die alten germanischen Geschlechter stellen durchaus keine

Kaste mit erblichen Vorrechten dar:

wäre dies der Fall, so

ließe sich

schwer begreifen, wie eine so kerngesunde und freiheitliebende Nation, wie die deutsche bei ihrem Eintritt in die Geschichte war, dem Adel so neidlos

den ersten Rang in ihrem Gesellschaftsbau überließ.

Das demokratische

Princip der ältesten Verfassung unseres Volkes ist absolut unvereinbar mit erblichen Vorrechten eines einzelnen in sich geschlossenen Standes. Was dagegen recht wohl neben jenem Platz fand, ja mit innerer Noth­ wendigkeit aus ihm sich ergeben mußte, das war ein nach unten offener

Stand der Tüchtigsten des Volks, Preußische 2>>hrl>ncher. 80. XLV1. Hefe 2.

der

nur dann vom Vater auf den 12

Zur Geschichte des deutschen Adels.

158

Sohn fort erbte, wenn er von diesem durch eigenes Verdienst neu erworben

wurde, und der sich mit Vorzügen begnügte, die ihm die öffentliche Mei­

nung fteiwillig darbrachte.

Der älteste deutsche Adel stellt nur die Vor­

züge der ganzen Nationalität auf höchster Stufe an sich dar und gleicht

sich dabei in jeder Weise mit dem Volke aus, in dessen Mitte er lebt

und von dessen Art er ist.

Nur der freien Wahl desselben verdankt er

seine Stellung, nicht eigenem festbegründeten Rechte.

Im engsten Anschluß

an da- übrige Volk zieht er alle seine Kraft lediglich aus dem Verbände mit diesem.

Daher die eigenthümlich begeisterte Anhänglichkeit, die das

Volk überall an seinem Adel zeigt, die sich am deutlichsten in der bereits hervorgehobenen Anknüpfung desselben an dir Gottheiten und Helden deS Volks äußert.

Die Urgeschichte des Adels ist unzertrennbar verflochten Wie sich die Freien überhaupt den Un­

mit der deutschen Heldensage.

freien gegenüber als edlerer Art betrachteten, wie selbst ein Volk vor dem andern den Vorzug höheren Adels ansprach, so wieder die hervorragenden Geschlechter gegenüber den eigenen freien Stammgenoffen; wie das ge-

sammte Volk seine Freiheit und seinen Adel auf die Abkunft von den

Göttern stützt, so wieder im Einzelnen dessen edelste Geschlechter.

Auch

hier erscheint demnach der Adel keineswegs als eine außer oder über dem Volke stehende Classe, sondern lediglich als der persönlich gewordene Aus­

druck des innersten Wesens der gemeinen Freiheit;

es hat derselbe seine

Grundlage in den Freien und besitzt alle Eigenschaften dieser letzteren nur in weit höherem Maaße.

DaS ist ohngefähr das Bild, das uns TacituS von dem Wesen des ältesten deutschen Adels entwirft.

Vergessen wir jedoch nicht, dabei eines

Umstandes uns zu erinnern, der die volle Glaubwürdigkeit des Berichts einigermaßen abzuschwächen geeignet sein dürfte.

Wir kennen die Ereigniße und Zustände der Vergangenheit nur noch

auS den Beobachtungen Anderer, unserer eigenen sinnlichen Wahrnehmung bleibt daneben nur ein sehr beschränktes Feld der Beobachtung, und sogar

diese

ist zahlreichen Schwankungen und Irrthümern unterworfen.

Der

Geschichtschreiber vollends hat bei seiner Arbeit vorwiegend ein künstlerisches

Jntereffe im Auge: er will wohl Begebenheiten erzählen, Zustände und Charaktere schildern, aber er will dies nur in einer schönen Form, zu einem bestimmten Zwecke thun.

Unter dem Einflüße der ersteren nehmen

die unvermittelt neben einander liegenden Bausteine seiner Erzählung eine

Gestalt an, von der wir nicht wissen,

ob sie dem wirklichen Bilde ent­

spricht, oder ob sie nicht vielmehr lediglich ein Erzeugniß der künstlerischen Phantasie deS Historikers ist;

ist dann weiter die Absicht desselben über

das rein künstlerische Interesse

an dem schöngefügten Werke hinaus auf

Zur Geschichte des deutschen Adels.

159

die Erweckung bestimmter Affecte in dem Gemüthe des Lesers gerichtet,

dann sinkt, genau in dem Maaße als der künstlerische und sittliche Werth

der Quelle sich steigert, ihr rein geschichtlicher Werth für denjenigen, dem

es lediglich um die nüchterne Beobachtung deS factisch Geschehenen und Bestandenen jit thun ist.

des Tacitus Zeiten.

Wir bewundern mit vollem Recht die Germania

als eine der künstlerisch vollendetsten Culturstudien

aller

Aber sollte dieses Urtheil nicht ein wenig beeinflußt sein von der

stolzen und freudigen Genugthuung, daß unsere Altvordern eS waren, von

denen der große Römer ein wie WaldeSgrün und Quellenfrische inmitten

von Sonnengluth versengter Gefilde anmuthendeS Bild entworfen hat? Muß sich nicht, gerade weil die Farben desselben so wunderbar harmonisch

in einander fließen, der Zweifel aufdrängen, ob sie auch überall der wirk­

lichen Gestalt der Dinge entsprechend gewählt sind? Seiner in Sinnen­ lust und Knechtssinn entarteten Nation wollte der große Geschichtschreiber in der Schilderung eines keuschen und fretheitliebendcn Naturvolks einen

Spiegel Vorhalten, in welchem sie ihre eigene Schande gewahr werden sollte: ist er hier nicht zu weit gegangen, indem er die fremden Sitten­

zustände nicht genau schildert, wie sie wirklich waren, sondern wie er sie

sich

dachte, wie er sie brauchte,

um ein wirksames Gegenbild zu dem

Sittenbilde seines eigenen Volks zu gewinnen? Einzelnes mag auch der Beobachtung des Historikers entgangen oder von ihm mißverstanden worden

sein.

Jedenfalls ist eine Aristokratie, wie sie Tacituö als bei den ältesten

Deutschen bestehend

annimmt,

in der Geschichte noch nicht da gewesen,

oder, wenn sie einmal existirt hat, so hat sie doch sehr bald diesen reinen

idealen Charakter eingebüßt.

Ein Umstand ist eS namentlich, der sich dem

längeren Fortbestehen eines solchen Musteradels feindselig entgegenstellt. Tief in der Menschennatur begründet liegt das Streben, erworbene Vor­

züge auf die Nachkommen forterben zu lassen, gletchgiltig ob diese durch

eigene Verdienste der gleichen Auszeichnung sich würdig machen oder nicht. Diesem Streben kommt dann auf Seiten der Menge ein gewisser aristo­

kratischer Grundzug entgegen: man ist geneigt, den Abkömmlingen die

Verdienste ihrer Voreltern ohne weiteres zu gute zu schreiben, in ihnen die gleichen Vorzüge vorauszusetzen.

ES läßt sich ja auch nicht leugnen:

die Eltern leben in der Race der Kinder fort.

Auf dieser Uebertragung

und Fortpflanzung deS eigenen Wesens beruht die Continuität der Familie,

bet Gemeinde, des Volkes und des Staates.

Man leugnet sie wohl ge­

legentlich in der Theorie, aber beachtet sie täglich in der Praxis.

Die

Kinder spiegeln schon in ihrem Körperbau, in ihrer Physiognomie, in ihrer Haltung, in ihrer Stimme das Bild ihrer Eltern wieder. 12*

Und wie

Zur Geschichte des deutschen Adels.

160

könnten wir von Familien und Geschlechtern reden, wenn diese natürliche

Erbgemeinschaft nicht da wäre? An diesen Umstand knüpft die Umwand­ lung deS Personaladels in einen Erbadel an, und

auch bei den alten

Germanen werden sich Einflüße dieser Art wirksam gezeigt haben, wenn gleich

hier

das

demokratische

FreiheitSprincip

gegen

die

Ausbildung

eines eigentlichen Geburtsadelsstandes unübersteigbare Schranken aufge­ richtet hat. Bei einzelnen deutschen Stämmen' hatte sich daneben noch aus grauer

Vorzeit her ein ächter Erb- und Geburtsadel erhalten. wissen wir von ihm nicht.

Freilich viel

Er scheint, da wir zuerst von ihm hören,

vielleicht schon im Absterben begriffen zu sein.

Jedenfalls ist er für die

Entwicklung deS späteren Adels völlig einflußlos geblieben; nur wenige

leise Spuren deuten in der folgenden Periode auf eine vereinzelte Fort­ dauer desselben über die heidnische Zeit hinaus hin.

Auf ihn bezieht

sich jene vorchristliche Sage des Nordens, welche, wie die Entstehung der

Stände überhaupt, so auch den Ursprung deS Adels als eines erblichen

Standes auf die erste Erzeugung der Menschen zurückführt und, ähnlich der göttlichen Schöpfung der indischen Kasten, Hörige, Freie und Edle

aus drei verschiedenen Zeugungen des menschenschaffenden Gottes entstehen läßt.

Nach dem Liede in der Edda vom Äsen Rigr, dem Schöpfer der

Stände, war schon zuvor der Stand der Unfreien und der der Freien

geschaffen.

Dann erst erhob sich der Gott zur Erzeugung der erhöhten

Freien und der Edeln.

Die Bilder, welche das alte Lied von der be­

sonderen Erscheinung und Lebensart der Urstände gibt, sind sehr bezeich­

nend für die Auffassung jenes alten Erbadels.

Der Freie hat „eine freie

offene Stirne, gekämmten Bart, funkelnde Augen, rothe frische Farbe",

sein Weib „trägt den Halsschmuck, auf dem Haupt die Haube, ein Tuch um den Nacken, aber in eng anschließendem knappen Kleide; sie wechseln

unter sich die Ringe".

Aber glänzender ist das Aeußere der Edeln.

Die

edle Frau erscheint „in wallendem weiten Gewand, ein Geschmeid an der

Brust,

glänzender die Braue, weißer die Brust, lichter der Nacken als

leuchtender Schnee".

Der neugeborne Jarl (der Edle), in Seide gelegt,

hat „lichte Locken, leuchtende Wangen, die Augen scharf, als lauerten

Schlangen".

In schlichtem Hause wohnt der Freie, ein Bauer, der seine

Aecker bestellt, die Scheune füllt, seine Stiere zähmt oder auch Tücher

webt.

Ihm hilft die Hausfrau in der Arbeit und spinnt vom Rocken ihr

Garn ab.

Der Edle dagegen wohnt in weiten Hallen und ist reich an

Erb und Eigen und Schlössern, reich an Gütern, die er an seine Mannen und Knechte vertheilt, reich an schlanken Pferden, an Schmuck und Ge­

schmeiden.

Sein Beruf ist:

Zur Geschichte des deutschen Adels. „Linden schälen,

Sehnen winden

Bogen spannen,

Und Pfeile schäften,

161

Spieße werfen,

Lanzen schwingen,

Hengste reiten,

Hunde hetzen.

Schwerter ziehen,

Den Sund durchschwimmen."

Und Edle erlernen die Wissenschaft der Runen und den Zauber: „Menschen zu bergen,

Schwerter zu stumpfen.

See'n zu dämmen,

Die Bögel verstehen,

Feuer zu stillen,

Die See zu besänftigen.

Sorgen zu heilen."

Wo die Freiheit die gesellschaftliche Grundlage des Adels bildet, da muß dieser untergehen, sobald erstere schwindet.

als ständebildender Factor ver­

Der älteste deutsche Adel, aufs engste mit der alten Demo­

kratie verbunden, steht und fällt mit dieser.

In dem monarchischen Staats­

wesen, wie es sich bald nach dem Schluß der großen Wanderungen von dem fränkischen Gallien aus als allein giltige Staatsform über alle Lande

der Christenheit verbreitete, war kein Platz für Ansprüche, die ihre Quelle wo anders als in dem Alles bestimmenden Willen des Herrschers suchten.

Daher die auffallende Thatsache, daß in den ältesten Quellen der fränkischen Periode keine Spur eines Adelselements im alten Sinn sich vorfindet. Das fränkisch-salische Rechtsbuch weiß nichts von einem Geburtsadel, noch überhaupt von persönlichen und rechtlichen Vorzügen, die in einem ständi­ schen Element begründet liegen könnten.

Als persönlicher Vorzug, der

durch die Höhe des Wehrgeldes bestimmt wird, tritt statt des Adels die Zugehörigkeit zur Gefolgschaft des Königs oder der Dienst im Heere ein.

Von einem Adel, wenn wir unter einem solchen eine GesellschaftSclasse mit anerkanntem Vorrang vor den übrigen Classen deS Volks verstehen, kann dabei noch keine Rede sein.

Aber die fruchtbaren Keime zur Bildung

eines neuen Adelsstandes waren gegeben.

Wir haben oben auf die hohe

Bedeutung des Gefolgschaftswesens für den Charakter deS ältesten deutschen

Adels hingewiesen; das Institut deS Principals ruht sogar mit seinen Wurzeln vollständig auf der im Kriege, inmitten einer Schaar treuer­ gebener Waffengefährten gewonnenen ausgezeichneten Stellung.

Es leuchtet

daher ohne weiteres ein, daß in einer Zeitperiode, in welcher der Krieg

mit allen seinen Abenteuern fast den ausschließlichen Inhalt der VolkSgeschichte ausmachte — und das war gerade in den letzten Jahrhunderten

der antiken Welt, im ersten Jahrhundert der fränkischen Zeit der Fall — gerade jenes altgermanische Gefolgschaftswesen eine weitere Fortbildung

erhalten

mußte.

In erster Reihe äußerte diese erhöhte Bedeutung deS

162

Zur Geschichte deS deutschen Adels.

kriegerischen Comitats ihren Einfluß auf die Bildung einer größeren An­

zahl mächtiger Fürstengeschlechter.

Der germanische princeps war, trotz

der Auszeichnung, die ihm und seinen Abkömmlingen in der Volksgemeinde zustand, doch immer nur ein Orgail derselben, das mit allen seinen Be­

fugnissen lediglich auf der Gewalt des LolkSwillenS basirt war: der Ge­ folgsherr der späteren Zeit löste sich, eben weil die Grundlage des ganzen Volkslebens eine völlig andere geworden war, mehr und mehr von jener Unterlage der Volksherrschaft ab, um seine Gewalt auf das Recht seiner

eigenen Persönlichkeit zu stellen.

Hatte er ursprünglich ein kriegerisches

Gefolge bloS zu vorübergehenden Gelegenheiten um sich versammelt und war dasselbe nach dem AuSgang des Kriegs- oder Raubzugs meist wieder

auseinander gegangen, so schloß jetzt daS zur Regel, zum ausschließenden Lebensinhalt gewordene kriegerische Handwerk

einem dauernden Verbände zusammen. Auffassung noch zweifelhaft sein,

Führer und

Gefolge zu

Konnte eS nach altgermanischer

ob nicht die strenge Abhängigkeit im

Dienste eines Gefolgsherrn die Standesehre schmälere, so galt jetzt solcher Dienst als eine Auszeichnung unter sonst gleichstehenden Genossen.

Gerade

der Umstand, daß der Germane, dem im Uebrigen jeder Dienst — und

bestände derselbe auch nur in einem von ihm innegehabten, einem Andern eigenthümlich zugehörigen Grundstück — wie eine mit dem Principe der

gemeinen Freiheit unvereinbare Fessel erschien, den kriegerischen Dienst im Gefolge eines Mächtigen für nicht freiheitschmälernd ansah — nec rubor

inter comites adspici sagt TacituS — gibt den schlagendsten Beweis

von dem hohen Ansehen, in welchem das Institut der Gefolgschaft schon bei den ältesten Deutschen gestanden hat, wenn freilich dieses Ansehen vorerst noch nicht so weit gestiegen war, daß der Gefolgsdienst höhere

Standesehre verliehen hätte.

DieS letztere wurde erst möglich, als daS

alte demokratische Gemeindeprincip aufgehört hatte, die Alles bestimmende Grundlage des Volkslebens auszumachen.

Ein förmlicher Codex gefolg­

schaftsrechtlicher Bestimmungen bildet sich nunmehr auS.

Strenger Ge­

horsam auf der einen, Gewährung von Schutz und Antheil an den Er­ rungenschaften des Krieges auf der anderen bildeten die Grundbedingungen

des Verhältnisses.

In der Verherrlichung des Führers erblickten seine

Getreuen den Gegenstand ihrer heiligsten Verpflichtungen; sie wetteiferten mit ihnen in Thaten der Tapferkeit, deren Vollbringung jedoch nicht ihnen selbst, sondern ihrem Führer zum Ruhm gereichte.

Wenn er im Kampfe

fiel, war es entehrend für daS ganze Leben und schmachvoll, den Fürsten

überlebend auS der Schlacht gewichen zu sein. für den Fürsten, der Fürst für den Sieg.

Die Begleiter stritten nur

Die Gefolgsherren dagegen,

deren Ansehen nächst ihrer eigenen Tüchtigkeit auf dem Glanze ihres Ge-

Zur Geschichte des deutschen Adel«.

163

folge« beruhte, strebten durch das zahlreichste und tapferste Comitat sich die

Daher die reichen

überwiegendste politische Bedeutung zu sichern.

Zuwendungen an Waffen

äußeren Vortheilen.

und Rossen,

an Kriegsbeute und

sonstigen

Im Uebrigen bestand die Gefolgschaft keineswegs

bloß als eine Geleitschaft im Kriege, sondern bildete ebenso im Frieden, wenn auch in verringerter Anzahl, das Ehrengefolge des Führers.

Da

mithin alle Bestrebungen der Gefolgschaft auf einen Mittelpunkt, auf ihren Führer, zusammentrafen, und dieser die ihm zu Gebot stehenden Kräfte

nicht sowohl für ein Standesinteresse gegen die Freien, als vielmehr für

die Erweiterung seines eigenen politischen Einflusses gegenüber anderen

Principes einsetzte, so ist es auch erklärlich, wie sich vorerst daS monarchische Princip kräftiger als das aristokratischste entwickelte, und wie gegen daS Ende dieser Periode nicht etwa ein scharf ausgeprägter Adelsstand, son­

dern eine größere Anzahl von Fürstengeschlechtern hervortrat.

Gerade nun

aber in den Mitgliedern einzelner fürstlicher Familien, welche vermöge

Geburtsrechts in die Krone succedirten, kam zuerst ein eigentlicher Ge­ burtsade! zur Erscheinung. Die Aufgabe, alle diese zahlreichen größeren und kleineren StammeSfürsten unter einer einzigen Herrschaft zu vereinigen, war einem genialen

Häuptling der salischen Franken vorbehalten.

Die Gründung deS großen

Frankenreichs durch Chlodowech ist auch für die Entwicklung deS deutschen

Adels von einschneidendster Bedeutung geworden.

Was wir eben über

die Ausbildung des Gefolgschaftswesens bemerkt haben gilt in gesteigertem Maße auch für die erste Zeit des fränkischen Reichs.

Das Dienstgefolge

des fränkischen Königs bildet einerseits gleichsam das Musterbild,

die

höchste Blüthe der Entwicklung, wie es anderseits wieder der Ausgangs­ punkt für eine völlig neue Schöpfung, wie sie unS fertig in dem Feudal­ adel des Mittelalters vorliegt, geworden ist.

Versuchen wir eS, in kurzen

Zügen das Wesen deS königlichen Dienstgefolges zu schildern!

Eine Bezeichnung desselben ist es vorerst, die uns einen tiefen Blick in den 'Charakter des Verhältnisses thun läßt: die Bezeichnung deS Ge­ folges mit convivae regis.

Es drückt diese daS enge Band aus, in dem

König und Gefolge nicht nur im Kriege, sondern auch während der ganzen übrigen Zeit ihres Lebens zu einander stehen.

Namentlich der eigentliche

Hofdienst, der vorzugsweise in jene Bezeichnung mit eingeschlossen ist, ist

für die spätere Gestaltung deS Adels bedeutsam und vorbildlich geworden. Am Hofe war jedem Gefolgsmann fein eigenes Geschäft angewiesen, und hieraus entwickelte sich, zum Theil an byzantinische Einrichtungen sich an­

schließend, eine Reihe von Hofämtern, deren jedes ursprünglich nur für die Privatbedürfnisse deS Königs zu sorgen hatte, die aber später geradezu

Zur Geschichte des deutschen Adel«.

164

in wahre Staatsämter übergingen.

Der König war durchaus an keine

Bedingung hinsichtlich derer gebunden, welche er in sein Dienstgefolge und

in die Umgebung seiner Person aufnehmen wollte.

Dieser monarchische

Dienstadel wurde im Gegensatz zu dem alten demokratischen Nationaladel

aus allen Elementen der Gesellschaft zusammengeschöpft; es kam dabei zu­ nächst so wenig auf das Blut in den Adern dieses neuen Adels an, daß

selbst Freigelassene die Leiter des Königsdienstes bis Ehrenstufen emporklimmen konnten.

zu

den höchsten

Diese Gefolgsleute nun gebraucht

der König naturgemäß als seine nächsten Rathgeber.

Besondere Ver­

trautheit mit ihm einerseits und großes Ansehen beim Volke wegen ihrer kriegerischen Lebensweise andererseits befähigten sie dazu vor Allen.

Aus

ihnen nimmt er die Anführer zu Kriegszügen, Statthalter über unter­

jochte Länder, ja sogar Könige für unterworfene Völker, Vormünder für minderjährige Könige; die Geschichtsschreiber nennen in dieser Beziehung

vornehmlich ehemalige Sklaven als damit Beauftragte.

Seinen Gefolgs­

leuten überträgt der König wohl auch am liebsten die ständigen Aemter

eines Herzogs, Grafen, Aldermannes, Schultheißen und dergleichen, so­ bald er über diese zu verfügen die Macht hatte. Die Auszeichnungen für diese Königsdienstleute beginnen mit der

Hochstellung

ihres Wehrgeldes.

Der König ließ sich für die Tödtung

oder Verletzung eines ihm Dienstbaren neben dem volksrechtlich dem Ver­ letzten gebührenden Betrage von Wehrgeld oder Buße noch eine weitere

Summe für die Verletzung seines Schutzrechtes bezahlen; später wurde diese von ihm, wie eö scheint, dem Beleidigten selbst überlassen, so daß nunmehr dessen Wehrgeld und Buße erhöht erscheint.

Für den Antrustio

beträgt dasselbe gerade dreimal so viel als für den freigebornen Franken, während der römisch-geborne Dienstgefolgsmann, der vorzugsweise als

Tischgenosse des Königs bezeichnet wird, in dieser Abstufung nur halb so viel gilt als der fränkisch-geborne Antrustio.

Da der Antrustio zunächst

als ein unter dem besondern Königsschutz stehender Freier betrachtet wird,

so steht dadurch seine Schätzung zu einem dreifachen Wehrgeld an ihrer

richtigen Stelle; denn eö erscheint als ein allgemeines Princip in den

Volksgesetzen, daß die zum königlichen Dienstgefolge Gehörigen nach einem Dieser Maßstab

um das Dreifache erhöhten Maßstab geschätzt werden.

der Verdreifachung des Werthes kehrt dann auch im Felde wieder, wo die Schätzung

des Antrustio sich auf 1800 Solidi steigert,

aber auch nur

wieder in regelmäßiger Einhaltung der Scala, indem dann auch der Gemetnfreie, der sonst 200 gilt, aus 600 erhöht wird.

Die übrigen Vor­

züge, deren der Antrustio genoß, erscheinen deßhalb weniger formulirt,

weil sie ganz der individuellen Entwicklung angehörten, die sein persön-

Zur Geschichte des deutschen Adels. licheS Verhältniß zum Herrn nahm.

165

Ihre Stellung vor Gericht scheint

aber nicht minder eine bevorzugte gewesen zu sein. Doch ist das Gefolge nicht der einzige Bestandtheil der neu sich

bildenden Aristokratie: als ein zweiter kommen noch hinzu die Staats­ beamten.

Diese waren wahrscheinlich schon zur demokratischen Zeit durch

höhere Buße und höheres Wehrgeld geehrt.

AlS die Macht der Volks­

gemeinde in die Hand des Königs übergegangen war, wurden die Beamten

von diesem ernannt; in ihrer äußeren Stellung änderte sich dadurch aber weiter nichts, als daß sie die Treue, die sie bisher der Gemeinde ge­ schuldet hatten, nunmehr auf den König übertrugen.

Damit traten sie

aber sofort in ein Verhältniß, welches dem der Gefolgsleute sehr ähnlich war, obwohl man sie mit diesem keineswegs zusammen werfen darf; wie die Gefolgsleute sind auch sie nunmehr dem Könige zu besonderer Treue

verbunden und genießen daher dessen Schutz, während sie andererseits ihren alten Einfluß sich großentheits erhalten haben. Aus beiden Elementen,

der Gefolgschaft und

den Staatsbeamten,

entwickelt sich nunmehr eine

Aristokratie des Dienstes, welche, erst schwankend und nichts weniger als

selbständig, allmählich sich befestigt und zuletzt zu einem wahren Adel her­ anwächst. WaS dem neuen Dienstadel in den ersten Jahrhunderten feinst Ent­

wickelung noch fehlte, um für einen in sich abgeschlossenen Adelstand gelten

zu können, war namentlich das Princip der Erblichkeit.

Dieses lag durch­

aus nicht in der Natur des neuen Verhältnisses, das aus individuellen

Beweggründen eingegangen und aus denselben wahrscheinlich auch wieder

gelöst werden konnte.

Doch beginnen derartige Stellungen oder wenigstens

ihre Vorzüge hier und da bereits auf die Söhne sich zu übertragen.

Es

wurde das in gleicher Weise von den Interessen der Krondienstleute wie

des Königs geboten.

Den ersteren gewährte der Königsdienst zu bedeu­

tende Vortheile, als daß sie demselben die Unabhängigkeit des einfachen freien Grundherrn vorgezogen hätten; der König hingegen mußte bei den

zahlreichen inneren Streitigkeiten stets dafür Sorge tragen, diese einfluß­

reichen Geschlechter immer von neuem

an sich zu fesseln.

Dies letztere

scheint aber hauptsächlich durch die Knüpfung der Aristokratie an den Grundbesitz vermittelt worden zu sein, wie solche in dem Benefizialwesen sich ausspricht; doch ist nicht zu verkennen, daß auch abgesehen hievon der

durch das ganze deutsche Rechtsleben gehende Trieb nach Erblichkeit öfters

zu Erscheinungen geführt hat,

aus welchen

ein solcher Adel erwachsen

konnte.

Aber auch sonst mußte die volle Entfaltung dieser neuen Aristokratie

durch einige andere Umstände vorerst noch znrückgehalten werden.

Einmal

Zur Geschichte de« deutschen Adels.

166

genoß, trotz deS UebergangeS deS Herrschaftsprincips von der Volks­

gemeinde auf den König, die gemeine Freiheit immer noch eine so hohe Bedeutung, daß sogar Adel und Freiheit geradezu für identische Begriffe

galten,

und selbst der

Eintritt

in daS königliche Dienstgefolge

von

Manchen als eine beschimpfende Erniedrigung der angestammten Freiheit Gleichwohl gestalteten sich schon in der gegenwärtigen

betrachtet wurde.

Periode — abgesehen von dem Aufkommen deS KönigSdienstcs — manche Verhältniße, welche den Werth der gemeinen Freiheit herabzudrücken

Wegen mangelnden Grundbesitzes waren viele Freie genöthigt,

drohten.

sich auf den Gütern wohlhabender Grundherren niederzulassen

denselben gleich den Unfreien entweder

und

sich

als Bauern zu Abgaben und

knechtischem Dienste oder als Vasallen zu gefolgschaftlichen Obliegenheiten

zu verpflichten.

wurde zwar im Allgemeinen ihre politische

Hierdurch

Stellung noch nicht verrückt:

sie huldigten dem Könige, sie dienten im

Heerbanne und erschienen auf dem Grafendinge wie die freien Allodial­ besitzer.

Wurde also auch durch solche Abhängigkeitsverhältniße die persön­

liche Freiheit nicht aufgehoben, so blieb doch eine Schmälerung derselben

zurück, welche wiederum auf d,ie Schätzung der von ihr Betroffenen un­

günstig einwirken mußte.

In dem Maaße aber,

in welchem ein Theil

der gemeinen Freien unter das Niveau der Freiheit herabsank, stieg ein anderer — eben die reichen und angesehenen Grundherren — über dasselbe

hinaus.

Diese fielen aber vorerst keineswegs mit den königlichen Gefolgs­

leuten zusammen; es konnten vielmehr neben denselben noch eine Anzahl von jedem Dienstverbande unabhängiger vornehmer Freier existiren, die an äußerer gesellschaftlicher Schätzung die Erstgenannten aufwogen, viel­

leicht sogar überboten. vornehmen Freien

Jedenfalls sind wir nicht befugt, diese unabhängigen

in einer Zeit, in welcher der neue Adelsbegriff sich

noch so wenig fixirt hatte, von diesem auszuschießen; die Theilnahme am

Gefolge deS Königs war bislang wohl der wichtigste, nicht einzige Factor in jenem Werdeproceße.

aber der

Das Wort Adel findet demgemäß

vorerst auch noch Anwendung auf die verschiedenartigsten Verhältnisse, in

denen Volksgenossen als hervorragend über die Menge erscheinen,

vor­

zugsweise gerade auf die, welche auf eigenem Grund und Boden saßen

und aller der Rechte theilhaftig waren, die von Alters her den Freien zustanden.

In den Schenkungsurkunden aller Stämme wird „adelig" un«

zählige Male in diesem Sinne gebraucht, auch Standesgenossen oder der­ selben Person, sei es abwechselnd, sei es zugleich, Adel und Freiheit bei­

gelegt: man spricht von freiem Adel, von Adel der Freiheit.

Und wenn

mitunter Adlige und Freie neben einander genannt werden, so ist es eben auch nicht anders, als wenn die verschiedensten Ausdrücke für diese zu-

Zur Geschichte des deutschen Adels.

167

sammengefügt sind, um den weiten Umfang, den der Stand der Freien

hat, vollkommen zu begreifen und die verschiedensten Bestandtheile desselben zusammenzufassen, derselben

unter Umständen vielleicht wieder die Angeseheneren

herauözuheben.

So

stehen die

Adligen auch

allgemein im

Gegensatze zu dem gemeinen Volk, den Bauern: man theilt das ganze Volk in Adlige und Unadlige. So lange nun die äußere Stellung der Dienstleute noch keine vor

dem übrigen Volke wesentlich ausgezeichnete war, konnte von einer eigent­

lichen Aristokratie des Dienstes noch keine Rede sein.

Diese Bezeichnung

wird erst möglich, nachdem die Gefolgschaft sich über die ganze vornehmere

Klasse deS Volkes ausgedehnt und allen oder doch fast allen Einflllß im

Staate an sich gezogen hatte. wahrhaften Aristokratie

Ein weiteres Hinderniß der Bildung einer

lag darin, daß

die rechtliche und thatsächliche

Stellung der KönigSdienstleute lange Zeit hindurch von der freien Willkür

deS Königs als Dienstherrn abhängig war.

Ein bedeutsamer Fortschritt

zur Gewinnung eines freieren Standpunkts lag nun bereits in der von

unS schon oben namhaft gemachten Erhöhung des Wehrgelds und der Buße, beziehungsweise der Zuschlagung der Königsbuße zu dem einfachen Wehrgeld des Gefolgmanns.

Aber auch sonst gelang

dienstleuten, ihre Stellung mehr und mehr zu festigen.

es den Königs­ Zu Statten kam

ihnen bei diesem Bestreben namentlich die Schwäche der späteren mero-

vingischen Könige und deren Verwicklung in zahllose Kriege.

Es bildete

sich unter solchen Einflüssen eine förmliche Corporation königlicher Dienst­ männer aus, mit bestimmten Rechten und Ansprüchen nicht sowohl gegen

das übrige Volk, als vielmehr gegen den König.

Und von Franken aus

verbreitete sich diese Entwicklung nach dem innern Deutschland und nach Italien, zu den Westgothen und Angelsachsen.

Hatte bis dahin der König

als der absolute Spender aller Rechte und Gnaden gegolten, so daß das persönliche Verhältniß zu ihm ausschließlich den größeren oder geringeren

Grad von Bedeutsamkeit jedes Staatsangehörigen geregelt hatte, so be­

trachtete das Volk nunmehr die Ehre und die Vorzüge der Dienstleute für in ihrer eigenen Stellung begründet; der König sah dieselben sich ge­

genüber zu einer selbständigen Macht erwachsen, die zu brechen ihm die Kraft fehlte.

Alle bedeutenden Aemter des Staates und Hofes werden

ihnen anvertraut, bei allen wichtigen Angelegenheiten müssen sie zu Rathe gezogen werden.

So vollendete sich allgemach die Umwandlung der alten Geburts­ stände in HerrschaftSklassen. Ich habe hier nur die Entwicklung des Adels

zu verfolgen; dennoch glaube ich von dem allgemeinen historischen Gang, den ohngefähr vom 6.—8. Jahrhundert im ganzen christlichen Europa die

Zur Geschichte des deutschen Adels.

168

Geschichte der ständischen

Grundzüge

genommen hat,

Verhältnisse

einige leitende

als auch für unsere spezielle Aufgabe wichtig kurz andeuten

zu dürfen. Nächst dem Uebergang des Mittelalters in die neuere Zeit ist keine Zettperiode von solcher Wichtigkeit für die Gesellschaftsgeschichte, als gerade die Epoche der merovingischen Könige.

Allgemein tritt in dieser eine

durchgreifende Umwandlung der Geburtsstände hervor, beruhend auf der

steigenden Bedeutung aller herrschaftlichen Verhältnisse, verbunden mit dem Zurückweichen der genossenschaftlichen.

Einst standen Adlige, Freie und

Liten in scharfer ständischer Sonderung,

und unter ihnen die unfreien

Knechte; nur die Freilassung bahnte den Uebergang von der Rechtlosigkeit dieser wenigstens zu einem besseren Recht.

Nun sind die alten Ordnungen

Ein Prozeß der Zersetzung ist von unten nach

in Auflösung begriffen.

oben immer weiter geschritten.

Die zahlreichen Freilassungen, welche bald

nicht blos die mindere, sondern auch die volle Freiheit gaben, brachten

der Volksgemeinde

weiteres

stets neue Elemente zu, welche doch nicht so ohne

mit dem alten Stamm

der Bevölkerung verwachsen konnten.

Zu den Formen des heimischen Rechts kommen die fremden hinzu, zu den

Abhängigkeitsverhältnissen, welche dort mit der Ertheilung von Land zu­

sammenhingen,

die des Patronats und der Clientel, welche sich dann

wieder mit denen deS deutschen Mundiums und mit anderen freieren auf Treue und persönliche Ergebenheit

beruhenden Verbindungen

mischten.

Auch Deutsche, die kein eigenes Land hatten oder einen mächtigen Schutz

suchten, treten freiwillig oder gezwungen in solche Verhältnisse ein, aber

bald dienten sie für den Preis ihrer Freiheit,

aus-verschiedene Weise:

bald wurden sie Colonen; hier gaben sie sich in persönlichen Schutz, dort übertrugen sie ihr Land und behielten bloß einen Nießbrauch.

Zugleich

brachte die Eroberung größere Landbesitzungen in eine Hand, die zu ver­ änderten Wirthschaftseinrichtungen Anlaß gaben und den Inhaber häufig auch zu einem Herrn über zinöpstichtige Ackerbauer machten.

Besonders

in den westlichen und südlichen Gegenden deS erweiterten deutschen Landes

war dies der Fall; diese wurden der Sitz großer Grundbesitzer, die Wiege

mächtiger Geschlechter.

So schwand die alte Regelmäßigkeit in der Ver-

theilung der Aecker, auf der die Gleichberechtigung der Freien wesentlich

beruht hatte.

Dagegen erlangten alle Verbindungen, mochten sie auf Amt

und persönlichem Dienst oder auf dem Empfang königlicher Güter beruhe», eine steigende Wichtigkeit.

Es ist nicht mehr die Genossenschaft der Freien

allein, welche in Betracht kommt, sondern das Volk in allen seinen Be­

standtheilen und seiner mannigfachen Gliederung.

ES ist nicht die Ge­

sammtheit wesentlich gleichstehender gleichberechtigter Volksgenossen, welche

Zur Geschichte des deutschen Adels.

169

den Staat ausmacht, sondern verschiedene Reihen sich über einander er­

hebender Personen und Gewalten führen hinan bis zu den Stufen deS Die einen haben sich den anderen übergeordnet, ja sie fangen

Thrones.

an, diese so von sich abhängig zu machen, daß sie auS der unmittelbaren

Verbindung mit dem Oberhaupt des Staates und mit dem Staate selbst hinaustreten.

Ganz besonders kam diese Umwandlung den königlichen Dienstleuten

zu statten.

Dazu trat dann noch als ein weiteres die Gleichartigkeit der

ihrer Klasse Angehörigen, ihre feste Abschließung gegen außen begünstigendes Moment die Ausdehnung des königlichen Dienstverbandes über die ganze vornehme Klasse deS Volkes.

Dies letztere war das Ergebniß der stetig

wachsenden Bedeutung des Benefizialwesens, welches in seinen Anfängen wiederum aufs engste mit dem Gefolgschaftswesen zusammenhängt.

Schon

Montesquieu hat mit intuitivem Scharfblick den Ursprung des gesammten

LehnwesenS, dieses spezifisch germanischen Institutes, in der Gewohnheit der alten Germanen gefunden, sich, wo es sich um die Ausführung eines größeren EroberungS- oder Raubzuges handelte, freiwillig unter den Be­ fehl eines prineeps zu stellen und dessen Führerschaft unbedingt anzuer­

kennen.

So oft nun ein germanisches Volk einen neuen Landstrich eroberte

und besetzte, wurde ein Theil deS Grund und Bodens unter die Eroberer vertheilt unb von diesen in Besitz genommen. türlich solchen,

die die

Der König erhielt na­

größten Ländereien und von diesen überließ er gewöhnlich bei ihm in besonderer Gunst standen oder die sich durch

Tapferkeit um daS Gelingen des Eroberungs-ZugeS besonders verdient

gemacht hatten, größere oder kleinere Stücke als Lehen.

Im Uebrigen

beließ man den Boden im ruhigen Besitz des unterjochten Volkes — nicht

auS irgend welcher der damaligen Zeit unverständlichen Großmuth, son­ dern aus dem einfachen Grunde, weil in den dünnbevölkerten und durch

fortwährende Kriege arg decimirten Landstrichen noch genug herrenloser Grund übrig war, der für den Sieger vollständig ausreichte.

DaS sind

die Anfänge des mittelalterlichen Lehenswesens, dessen weitere Entwick­

lung — so wichtig sie für die Geschichte unseres Adels geworden ist — wir hier auch nicht einmal kurz skizziren können.

Es genüge die Fest­

stellung der Thatsache, daß durch die Aufnahme eines dinglichen Moments — eben jener königlichen Landverleihung an das Gefolge — in das ur­ sprünglich rein persönliche Treuverhältniß die Idee des GefolgschaftSwesens, wie ihren endgiltigen Abschluß, so auch ihre Ausdehnung auf

den gesammten Kreis aller durch irgend welche Vorzüge ausgezeichneten Personen erlangt hat: das Benefizialwesen ist der Schlußpunkt des neuen

ständischen Umbildungsprozesscs, aber auch die alle mittelalterlichen Lebens-

Zur Geschichte des deutschen Adels.

170

Verhältnisse beherrschende, befruchtende und erfüllende Idee.

Nur wer ein

wenn auch noch so geringfügiges Glied in der Kette auSmacht, die nun­

mehr, von dem Könige als letztem und oberstem Herrn alles Bodens und

Inhabers aller Rechte ausgehend, die ganze Gesellschaft mit allen ihren Rechten und Pflichten, allem ihrem Thun und Lassen umschließt, hat An­

spruch auf politische und sociale Geltung.

Auch andere Volksklassen, wie

der Bürger- und Bauernstand, andere Lebenskreise, wie die Kirche, haben sich diesem allbeherrschenden Einfluß der Lehensidee nicht entziehen können: doch ist es naturgemäß, daß ihre Wirkungen sich am lebhaftesten und ein-

schneidensten bei derjenigen Gesellschaftsklasse fühlbar machten, bei welcher sie zuerst zur Erscheinung gekommen waren, deren ganze Lebensart und

sociale Aufgabe die engste Verwandtschaft mit ihr aufwies, die endlich ihrer Spitze, dem Könige als obersten Lehnsherrn, zunächst in der Rang­ ordnung stand.

Die Vornehmen deS Volks — beruhe nun die Grund­

lage ihrer Auszeichnung auf ihrer Verbindung mit dem Könige, auf großen Grundbesitz, auf Abstammung von einem besonders verdienten Geschlechte

oder auf Vorzügen irgend welcher Art — hatten bis dahin eine natür­

liche Aristokratie, wie sie jedes Culturvolk in sich schließ!, gebildet;

in

dem Dienstgefolge des Königs war dann auS ihrer Mitte eine Gesellschafts­ klasse aufgetreten, welche den fruchtbaren Keim zu einem wirklichen Adel in sich trug: das Streben nämlich, factische an die Einzelperson geknüpfte Vorzüge in erbliche Familien- und Standesvorrechte zu verwandeln — ein Streben, das Verwirklichung namentlich dadurch erfuhr, daß, während bis dahin der Genuß persönlicher Auszeichnung ein Gnadenact des Königs

war, nunmehr die Gefolgsleute in corporativen Zusammenschluß ihrem Herrn

gegenüber sich zu einem gleichberechtigten Factor emporarbeiten

und ihre dadurch bereits wesentlich gefestigten Vorrechte noch weiter da­

durch zu stützen sich anschicken, daß sie dieselben dinglich radiziren, mit Grundbesitz in Zusammenhang bringen.

Oberflächlich betrachtet änderte

dies an dem Wesen ihrer Rechte noch nichts, da die Lehen von Anfang

an ebenfalls nur auf Ruf und Widerruf gegeben wurden, der Verleiher nicht bloß ideeller, sondern factischer Eigenthümer blieb.

Aber es ist doch

ein gewaltiger Unterschied, ob die Ertheilung von Vorrechten lediglich an die Person des Begnadigten geknüpft ist, oder mit ihr zugleich jene Land­ leihe verbunden wird.

ES mag eine solche auch in der dem Beliehenen

wenigst günstigen Form, sie mag auch ganz ohne inneren Zusammen­

hang mit der persönlichen Stellung desselben erfolgt sein,

so wird sich

doch alsbald ein doppelter Vorgang bezüglich des Verhältnisses zwischen

Leihendem,

Belehnten und Lcihgegenstand bemerkbar machen.

Zunächst

trachtet die flüchtige Form nach fester, dauernder Gestalt: aus der Leihe

Zur Geschichte de« deutschen Adels.

17'1

auf Zeit wird eine solche auf Lebenszeit des Empfängers, dann eine Erb­ iethe; in diesem Stadium erhält sich dann das Verhältniß lange Zeit,

weil meist das faktische Besitzrecht deS Erbbelehnten dem wahren Eigen­

thum sehr nahe kommt, bis schließlich die Umwandlung in ächtes Eigen

fast kaum mehr als Vortheil empfunden wird.

Noch merkwürdiger ist die

Wandlung, welche das Verhältniß zwischen dem Belehnten und dem Lehens­

stück erfährt.

Wir machen hier nämlich schon bald die Beobachtung, daß

der Belehnte seine persönlichen Vorrechte so sehr mit dem von ihm leih­

weise besessenen Grund und Boden im Zusammenhang bringt, daß nicht mehr die Person, sondern daS Gut als der Träger der ausgezeichneten Stellung seines Inhabers erscheint.

ES ist daS eine wirthschaftliche That­

sache, die ihre Erklärung zumeist in den conscrvativen Charakter alles

Grundbesitzes, findet.

aller

der Bodenbearbeitung zugewandten Hantierungen

Es ist daher ein Ereigniß von der größten Tragweite gewesen,

alS die königlichen Gefolgsleute aufhörten, ihre Zeit nicht mehr ausschließ­ lich zwischen Krieg und Hofdienst zuzubringen, sondern daneben sich der

Bewirthschaftung des ihnen vom Könige verliehenen Landes zu unterziehen.

Aber noch ein anderes folgte aus dieser Radizirung des Königsdienstes

auf Grundbesitz.

den

Bis dahin hatte nämlich eine scharfe Trennung zwischen

Gefolgsleuten

und

den

übrigen angesehenen Persönlichkeiten

des

Volkes bestanden; es hatte an einem Band gefehlt, das alle diese hervor­

ragenden Volkselemente zu einer Corporation mit gemeinschaftlichen Inter­

essen zusammengeschlossen hätte; der königliche Dienstmann befand sich,

wenn er nicht in kriegerischen Unternehmungen auswärts war, am Hofe des Fürsten, der reiche Grundherr dagegen saß vereinsamt, ohne den ge­ ringsten Zusammenhang mit dem Getriebe des Hoflebens und der Staats­

verwaltung, auf seinem Herrengut, umgeben von zahlreichen Hörigen und sonstigen Abhängigen, über die er allerdings wie ein kleiner Fürst herrschte, ohne daß jedoch dieser sein Herrschaftsbezirk in näherem Contact mit dem Staate als solchem stand.

Die alten Grundlagen der Volksfreiheit, die

solche kleinen und kleinsten Herrschaftskreise wesentlich zu ihrer Unterlage

gehabt hatte, war geschwunden und an ihrer Stelle die absolute Monarchie

getreten: noch bestanden allerdings die alten Formen der demokratischen Zeit, aber sie waren taube Schalen geworden, in denen der volle Frucht­

kern auf ein Minimum zusammengeschrumpft war; noch immer besuchte der freie Grundbesitzer die alten Volksdinge, ja er wurde dann und wann

sogar zu allgemeinen Hof- und Reichstagen entboten, aber dort präsidirte jetzt ein königlicher Beamter, das Urtheil wurde in dessen Namen gefällt

und von seinem Unterbeamten vollzogen, hier stand die Berufung völlig in der Willkür des Königs und auch so erschien die Einholung des Volks-

Zur Geschichte des deutschen Adels.

172

willen- fast nur noch als eine Formalte; auf die Fassung der wichtigsten Beschlüsse ist derselbe so gut wie einflußlos gewesen.

Jetzt dagegen war

die Möglichkeit gegeben, auch ohne daß man den strengen Anforderungen

des GefolgSdiensteS sich unterzog, in ein diesem ähnliches persönliches Ver­ hältniß zum Könige zu gelangen.

Der König hatte selbst die treffende

Parole auSgegeben, indem er seinen Dienstmannen Güter, Höfe und Forsten anwieS.

Diese Belehnung wurde nun Vorbild und Antrieb für die un­

abhängigen Grundherren.

Wenn sie in Form und Ehre mehr sein wollten

als Grundbesitzer, die blos durch die größere Zahl der Aecker und Hörigen

sich von den gemeinen Freien unterschieden, so gab es jetzt eine bequeme Art, dieS zu bethätigen, eben jene persönliche Verbindung mit dem Fürsten,

welche das LehenSband gewährte. festen und

Das war daS Mittel, um an Hos-

bei anderen Gelegenheiten einen hohen Stand einzunehmen.

Und lockte nicht auf diesem Wege die Aussicht, Aemter und Güter zu er­

langen, Zölle, Zehnten und Vogteirechte über Kirchen und Klöster, die man nicht selbst gestiftet? Auch sanfte Gewalt deS Fürsten mochte mit­

wirken, daß allmählich die großen freien Grundbesitzer sich in seine LehenSmannen umwandelten.

Sie trugen ihm ihre Güter auf, d. h. der Form

wegen übergaben sie ihm dieselben, um sie unter dem feierlichen Treuge­ löbnisse als Lehngüter wieder zu empfangen.

Nur Wenige erhielten sich

frei von aller Lehnspflicht, sie trugen ihre Burg sammt den zugehörigen Höfen von Keinem zu Lehen als von der Sonne, welche Thurm und Aecker in ihren Strahlen glänzen ließ. Sonnenlehen.

Man nannte ihr Besitzthum ein

War ihr Gebiet einigermaßen ansehnlich, so trachteten sie

reichsunmittelbar zu werden.

Auf diese Weise vollzog sich die Verschmelzung der Dienst- und Lehensmannen zu einem mächtigen Adelsstände mit bestimmten StaatS-

Wohl lebte in den Lehensmannen die Erinnerung, daß sie mit

interessen.

Person und Gut nicht, wie die Dienstleute, aus der Unfreiheit hervorge­ gangen.

Doch das gleiche adlige Leben, das gleiche Vermögen und An­

sehen bei Hofe und im Lande, der gemeinschaftliche Dienst bildete eben­ soviel leichte Uebergänge zwischen beiden Klassen.

Wo das Wesen einer

Sache besteht, bleibt auf die Dauer auch der Rang nicht aus.

Die Erben

der vornehmsten Hofämter saßen mit ihren glänzenden Titeln längst auf ihren Gütern, nur noch ihr Amt.

bei seltenen und feierlichen Anläßen verrichteten sie

Die stolzesten LehenSmanncn hatten kein Bedenken mehr,

sich um solche Aemter voll Ehren mit wenig Dienst zu bewerben.

WaS

aber Lehens- und Dienstmannen mehr verschmolz als gleiches Ansehen und Besitzthum war der gemeinschaftliche Gewinn und Schaden; ihre An­

strengungen

hatten ganz dasselbe Ziel nach oben und nach unten.

Fest

Zur Geschichte deS deutschen Adels. standen die Belehnten dem Herrn gegenüber

verbündet

173 und

schirmten

jedes ihrer Mitglieder mit den Waffen in der Hand bei seinem Besitze. Wollte jener Gehorsam, so fand er stillen Widerstand, der nicht zu brechen war; wollte er Dienste in der Noth, so mußte er sie mit neuen Gütern

und Zugeständnissen erkaufen. So wurde die königliche Herrschaft allmählich ihres Inhaltes ent­

Das Land zersplittert in unabhängige Herrschaften, der König

leert.

nichts als Häuptling der Adelsherren, — das war das Ideal der Va­

sallen.

Durch Lehens- und Diensthörigkeit waren die großen Grundbesitzer

hindurchgegangen, um zuletzt sich wieder in germanischer Weise frei und

eigenherrlich auf ihrem Gebiet zu finden, zahlreicher und mächtiger als jemals in der alten Zeit.

Blos in Deutschland gab es kein Hemmniß

gegen diese unglückliche Zersetzung.

In Spanien fesselte der Kampf gegen

den maurischen Erbfeind alle Kräfte der Nation, daß sie an den König

gebunden blieben. In England hatte die normannische Eroberung ein ähnliches Resultats In Frankreich wurde es erreicht durch die Jahrhunderte lang fortgesetzte Politik eines einzigen Königshauses, welches schon von den Römern her die Gewöhnung an eine centrale Regierung vorfand. In dem weiten deutschen Reiche fehlten alle diese Thatsachen: hier mußte der Lehensstaat zuletzt das Reich in Fürstenthümer zersplittern, aber das­

selbe Princip suchte auch die Fürstenthümer in Baronien zu zersetzen. Es würde uns hier zu weit führen, wollten wir die Umwandlung

der alten Reichsämterverfassung in den mittelalterlichen Feiwalstaat näher

darlegen.

Wir müssen uns mit obigen kurzen Andeutungen begnügen und

unsere Aufmerksamkeit nunmehr auf die Folgen richten, welche jene Um­ bildung der äußeren Reichsverfassung speziell für die Gestaltung des deut­ schen Adelsstandes nach sich gezogen hat.

(Schluß folgt.) Posen.

Preußische Jahrbücher. Sb. XLV1. Heft 2.

Christian Meyer.

13

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung. Die Vollendung des Tasso; Goethe und Schiller 1788—1789.

In den Beziehungen zwischen Goethe und Schiller liegt etwas Dämoni­ sches; bei ihrer Bedeutung für die deutsche Literaturgeschichte geht das

Interesse dafür weit über daS Persönliche hinaus.

Durch verschiedene neue

Publicationen Hal die Geschichte mehr Farbe gewonnen; die folgenden Blätter sollen den Versuch machen, von ihrem ersten Zusammenstößen und

den dabei mitspielenden Umständen ein Bild zu entwerfen, das freilich Fragment bleiben muß.

Damals — bet Goethe'S Rückkehr aus Italien, bei Schillers Fort­ gang aus Weimar — entschied sich auch in sittlicher Beziehung beider

Schicksal.

Wie das alles sich, bewußt und unbewußt, im „Tasso" wieder­

spiegelt, vielleicht der wunderbarsten Dichtung Goethe'S, soll angedeutet

werden. Goethe'S italienische Briefe, wie ehemals die WinckelmannS, sprechen Begeisterung aus und theilen Begeisterung mit.

Nicht erst 1817, wo sie

veröffentlicht wurden: sie circulirten, und wer sie nicht zu lesen bekam,

hörte wenigstens davon erzählen.

Kräftiger als Winckelmann'S zündete

Goethe'S Wort: in immer größeren Kreisen, immer weiter und mächtiger verbreitete sich der Glaube an die alleinseligmachende Kirche der griechi­

schen Kunst, der griechischen Schönheit, der griechischen Götter. „Alles bei unS will nach Italien!" schreibt Frau von Stein an

ihre junge Freundin Lottchen von Lengefeld.

„Ich selbst lobe mir mein

Zuhaus, und wem zu HauS nicht wohl ist, dem ist nirgend wohl, und ist eine solche Reise nur eine Palliativcur." — Goethe'S reiche und schöne Correspondenz hatte sie einigermaßen die Trennung verschmerzen

kaffen; aber noch immer lauschte sie mit Mißtrauen auf daS, was nun

kommen sollte. Zu denen, die Italien aufsuchen wollten, gehörte die Herzogin Amalia; nun wünschte der Herzog, daß Goethe noch bleibe, um ihren

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

Cicerone zu machen.

175

Ein solches Geschäft aber kam ihm

unerträglich

vor; er beschloß zurückzukehren. „Gar manches macht nzir den Rückweg reizend", schreibt er 25. Jan.

1788 an den Herzog.

„Die Hauptabsicht meiner Reise war, mich von

den physisch-moralischen Uebeln zu heilen, die mich in Deutschland quälten

und mich zuletzt unbrauchbar machten; wahrer Kunst zu stillen.

sodann den heißen Durst

nach

Das Erste ist mir ziemlich, das Letzte ganz ge­

glückt. Zur Ausübung bin ich zu alt, auf dem rechten Wege des StudillmS und der Betrachtung bin ich." — „Das Herz, merk' ich, wird in einem fremden Lande leicht kalt und frech." — „Meine beste Zeit habe ich mit

Ihnen, mit den Ihrigen gelebt und dort ist auch mein Herz und Sinn, wenn sich gleich die Trümmer einer Welt in die andere Wagschale lagern. Der Mensch bedarf wenig:

Liebe und Sicherheit seines Verhältnisses zu

dem einmal Erwählten und Gegebenen kann er nicht entbehren." Freilich verschwieg er, namentlich gegen Herder, seine Besorgnisse „Ich bin dies Jahr moralisch sehr verwöhnt worden.

nicht.

Ganz ab­

geschnitten von »der Welt, habe ich eine Zeit lang allein gestanden:

nun

hat sich wieder ein enger Kreis von Menschen um mich gezogen, die alle gut sind, alle auf dem rechten Weg, und die Freude an meiner Gegenwart finden.

Ich bin unbarmherzig, unduldsam gegen Alle, die schlendern oder

irren, und doch für Boten gehalten werden wollen; mit Scherz und Spott

treib' ich'tz so lange, bis sie sich von mir scheiden.

Wie sonst zu schweigen,

oder für krank und bornirt gehalten zu werden, ziemt mir weniger als jemals."

„Ich darf wohl sagen", schreibt er an den Herzog 17. März, „ich habe mich in dieser anderthalbjährigen Einsamkeit selbst wiedergefunden — als Künstler! — Was ich sonst noch bin, werden Sie beurtheilen und

nutzen.

Sie haben durch Ihr fortdauerndes wirkendes Leben jene fürst­

liche Kenntniß, wozu die Menschen zu brauchen sind,

weitert und geschärft.

immer mehr er­

Nehmen Sie mich als Gast auf, lassen Sie mich

an Ihrer Seite das ganze Maß meiner Existenz ausfüllen und des Lebens

genießen, so wird meine Kraft, wie eine neu geöffnete, gesammelte, ge­ reinigte Quelle von einer Höhe nach Ihrem Willen leicht dahin oder dorthin zu leiten sein — Ihre Gesinnungen für mich sind bis zur Be­

schämung ehrenvoll! kommen sein.

Jedes Plätzchen, das Sie mir aufheben, soll will­

Mir wird eS Freude machen, in eine eingerichtete Haus­

haltung zu treten, nicht als einer der ordnen und entscheiden hilft, sondern als einer, der sich in das Entschiedene und Geordnete mit Freuden fügt."

Goethe's Stelle im Cabinet wurde dem Geh.-Rath Schmidt, Fanny'S

Bruder, übertragen; den Ehrenvorsitz behielt der Herzog schicklicher Weise 13*

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

176

dem alten Freunde vor, aber eS war das beiderseits als bloße Form auf­ gefaßt:

Goethe sollte wieder, was er zuerst gewesen, der ungebundene

Freund des Herzogs sein. Bon

dieser Last fühlte sich Goethe nun frei;

Scheiden!

aber nun kam das

„Es ist immer eine sonderbare Empfindung (22. März), eine

Bahn, auf der man mit starken Schritten fortgeht, auf einmal zu ver­ lassen.

Doch muß man sich darin finden und nicht viel Wesens machen.

In jeder großen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn, man muß sich

hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen." „ES wird Goethe schwer, Italien zu verlassen", schreibt Knebel 14. April: „ich fürchte, daß er sich sobald nicht wieder an deutsche Luft ge­

wöhnen möchte. -Unser elendes ReichSshstem, Borurtheile aller Art, Plump­ heit, Ungefühl, Ungeschmack sind noch schlimmer als die schlimmste Luft. — Das Seinsollen, mit deutscher Armuth und Elend, ist mir nachgrade un­

erträglich.



Halbheit richtet jeden ehrlichen Charakter zu Grund."

Gegen das Ende seines römischen Aufenthalts nahm Goethe noch von

einer schönen Mailänderin, die seine Neigung erregt, Abschied.

„Den

Gang des anmuthigsten Gesprächs, das, von allen Fesseln frei, das Innere

zweier sich nur halbbewußt Liebenden offenbarte, will ich nicht entweihen durch Wiederholung; eS war ein wunderbares, zufällig eingeleitetes, durch innern Drang abgenöthigteS lakonisches Schlußbekenntniß der unschuldigsten und zartesten wechselseitigen Gewogenheit, das mir auch nie aus Sinn

und Seele gekommen ist." liebe Mädchen

blickt

Er gab ihm einen poetischen Ausdruck; das

sehnsüchtig

dem Geschiedenen nach:

„Schon seit

manchen schönen Jahren seh' ich unten Schiffe fahren; jede- kommt an

seinen Ort.

Aber ach, die steten Schmerzen fest im Herzen schwimmen

nicht litt Strome fort."

Auch diese Sehnsuchtslaute legte er seiner Mignon

in den Mund, wie früher seine eigene Sehnsucht nach den Citronen und den Marmorbildern Roms.

Aber noch eine andere seiner poetischen Ge­

stalten tauchte in diesem Abschied auf:

schuldig- halb unschuldig entflieht;

Nausikaa, der Odysseus, halb

„von ihr hat ahnungsvoll mein Lied

gesungen!" Am 22. April reiste er aus Rom ab. „Diese Hauptstadt der Welt, deren

Bürger man eine Zeitlang gewesen, ohne Hoffnung der Rückkehr zu ver­ lassen, giebt ein Gefühl,

das sich durch Worte nicht überliefern läßt.

Niemand vermag es zu theilen, als wer eS empfunden.

Ich wiederholte

mir immer und immer Ovid'S Elegie, die er dichtete, als die Erinnerung

eines ähnlichen Schicksals ihn bis an'S Ende der bewohnten Welt verfolgte. Jene Distichen wälzten sich zwischen meinen Empfindungen immer auf und

ab:

Wandelt von jener Nacht mir das traurige Bild vor die Seele,

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

177

welche die letzte für mich ward in der ewigen Stadt, wiederhol' ich die

Nacht, wo des Theuern soviel mir zurückblieb, gleitet vom Auge mir noch jetzt eine Thräne herab. — Nicht lange jedoch konnte ich mir jenen fremden

Ausdruck eigener Empfindung wiederholen, als ich genöthigt war, ihn

Doch scheute ich mich eine Zeile

meiner Lage am besondersten anzneignen.

zu schreiben, aus Furcht, der zarte Dllft inniger Schmerzen möchte ver­ schwinden.

Ich mochte beinahe nichts ansehn, um mich in dieser süßen

Qual nicht stören zu lassen. — Doch gar bald drang sich mir auf, wie herrlich die Ansicht der Welt sei, wenn wir sie mit gerührtem Sinn be­ trachten.

Ich ermannte mich zu einer freiern poetischen Thätigkeit; der

Gedanke an Tasso ward angeknüpft, und ich bearbeitete die Stellen mit

vorzüglicher Neigung, die mir in diesem Augenblick zunächst lagen.

Den

größten Theil meines Allfenthalts in Florenz verbrachte ich in den dortigen Lust- und Prachtgärten.

Dort schrieb ich die Stellen die mir noch jetzt

jene Zeit, jene Gefühle unmittelbar zurückrufen." — Zwei Acte des „Tasso" hatte Goethe fertig nach Italien mitgenommen,

in poetischer Prosa, Inhalt uitb Gang ungefähr derselbe wie in der spätern Version; aber grade diese Acte wurden unter dem Hauch der Florentiner

Eindrücke anders gefaßt.

Augenscheinlich sind oben die Gartenscenen des

1. Acts gemeint.

Wir könnten stundenlang uns

„Ja es umgiebt uns eine neue Welt! in

die

goldne Zeit der Dichter träumen. . .

Morgenwinde

sich

die jungen Zweige.

Schwankend wiegen im

Die Blumen von den Beeten

schauen uns mit ihren Kinderaugen freundlich an. . .

Der blaue Himmel

ruhet über uns, und an dem Horizonte löst der Schnee der fernen Berge

sich in leisen Drift."

In dieser dichterischen Luft wird selbst der prosaische Antonio verzückt, in ein Mährchenland versetzt.

Er malt

sich

Ariosto's Schaffen

aus.

„Wie die Natur die innig reiche Brust mit einem grünen bunten Kleide deckt, so hüllt er alles Große in's blühende Gewand der Fabel ein; alles

Große scheint geistig in seinen Liedern persönlich wie unter Blüthenbäumen

auSzuruhn, bedeckt von Schnee der leicht getragenen Blüthen, umkränzt von Rosen, wunderlich umgaukelt vom losen Zauberspiel der Amoretten." Nicht blos der Geist des Alterthums, der Geist der italienischen Renaissance war Goethe in Italien aufgegangen; wie den italienischen

Dichtern und Malern des 16. Jahrhunderts kam ihm jetzt das nordische Klima und die nordische Sitte barbarisch vor.

„Wie mit Ovid dem Local nach, so konnte ich mich mit Tasso dem Schicksal nach vergleichen.

Der schmerzhafte Zug einer leidenschaftlichen

Seele, die unwiderstehlich zu einer unwiderruflichen Verbannung hinge-

Au« der Blüthezeil der deutschen Dichtung.

178

zogen wird, geht durch das ganze Stück.

Diese Stimmung verließ mich

auf der Reise nicht trotz aller Zerstreuung."

Bei der öffentlichen Ankündigung seiner Werke, Juli 1786, hatte er für den 7. Bd. angemeldet:

„Tasso, zwei Acte"; also was aus dem

Jahr 1782 fertig war; die Vollendung des Stücks hatte er aufgegeben.

Indeß hatte er seinen Sinn geändert.

Bald nach seiner Ankunft in Rom

hatte er den Tasso vorgesucht, lange fteilich, ohne die rechte Stimmung dafür zu finden.

„Hätte ich nicht besser gethan", schreibt er 16. Februar 1787 auS Rom, „nach meinem ersten Entschluß diese Dinge fragmentarisch in die Welt zu schicken, und neue Gegenstände, an denen ich frischen Antheil nehme, mit frischem Muth und Kräften zu unternehmen? Thät' ich nicht

besser,

„Iphigenie auf Delphi" zu schreiben^ als mich mit den Grillen

des Tasso herumzuschlagen?

Und doch habe ich auch dahinein schon zu­

viel von meinem Eignen gelegt, als daß ich es fruchtlos aufgeben sollte. — Tasso muß ganz umgearbeitet werden; von dem, waS dasteht, ist nichts

zu brauchen."

„Der Gegenstand ist noch beschränkter als Iphigenie, und will im Einzelnen doch mehr ausgedrückt sein.

werden kann.

Doch weiß ich noch nicht, waS eS

Das Vorhandene muß ich ganz zerstören, das hat zu lange

gelegen, und weder die Personen, noch der Plan, noch der Ton haben mit

meiner jetzigen Ansicht die mindeste Verwandtschaft."

16. März.

„Das soll mich nicht abschrecken, mit Tasso eine ähnliche

Operation vorzunehmen wie mit Iphigenie. Feuer.

Lieber würf ich ihn ins

Aber ich will bei meinem Entschluß beharren, und da eS einmal

nicht anders ist, so wollen wir ein wunderlich Werk daraus machen." In der That liegen zwischen der Zeit, in der die zwei ersten Acte

geschrieben wurden — 1780—1781 — und der gegenwärtigen manche

Erfahrungen. DaS merkwürdige Schicksal Tasso'S fand damals eine Art von Gegen­ bild in Rouffeau'S „Confessions“; mehr noch in größerer Nähe, in

dem Auftreten von Lenz in Weimar.

In dem vergeblichen Streben, in

die edlere Gesellschaft der Ehrenbürger einzutreten, war Lenz in Irrsinn

verfallen, verdorben.

Goethe hatte über seine imaginäre Nebenbuhler­

schaft von Friederike Dinge erfahren, die er seinem Tasso gegen Antonio

in den Mund legt.

„Irr' ich mich in ihm, so irr' ich gern!

Ich denk'

ihn mir als meinen ärgsten Feind, und wär' untröstlich, wenn ich mir ihn nun gelinder denken müßte." Goethe hatte ihm damals mit der Härte

eines Antonio gegenübergestanden; in sein Gemüth hatte sich doch wohl daS Unglück eingegraben.

Aus der Bliilhezeit der deutschen Dichtung.

179

Aber Lenz' Figur war nicht zu brauchen; Goethe machte cS wie im

„Werther" mit Jerusalem, er substituirte ihm seine eigene Persönlichkeit. Tasso empfängt den Lorbeer von der Princessin, wie der Dichter der

„Iphigenie" aus den Händen Corona'S. zu Frau v. Stein wird

„dem

Das Geheimniß der edlen Liebe

holden Lied bescheiden anvertraut" —

es ist das durch die gleichzeitigen Briefe bezeugt.

Frau v. Stein bewegt

sich im Verkehr mit gebildeten Männern gerade wie die Princessin.

Der

Dichter will nur für seine Geliebte, nur für seine Freunde leben, nur

von ihnen verstanden werden; die Gesellschaft von Weimar erscheint ihm

im rosigen Licht; die goldne Zeit der Dichter erscheint ihm wieder, wo edle Frauen entscheiden, was sich ziemt.

DaS war nun anders geworden.

Der Dichter hatte das Entnervende

empfunden, das gerade für sein Geschäft in der Beschränkung des Kreises

„Ein edler Mensch kann einem engen Kreise nicht seine Bildung

liegt. danken.

Vaterland und Welt muß auf ihn wirken.

Ruhm und Tadel

Muß er ertragen lernen."

Die Sehnsucht nach großem Leben hatte -den Dichter nach Rom ge­ trieben.

„Spricht in jener ersten Stadt der Welt nicht jeder Platz, nicht

auch in der Fiille des

jeder Stein zu uns?" — Und doch wollte ihn

römischen Lebens der alte innere Zwiespalt nicht freigeben.

„Manchmal

gedenke ich Rousseau's lind seines hypochondrischen Jammers, und doch

wird mir begreiflich, wie eine so schöne Organisation verschoben werden

konnte.

Fühlt ich nicht einen solchen Antheil an den natürlichen Dingen,

und säh' ich nicht, daß in der scheinbaren Verwirrung hundert Beobach­

tungen sich vergleichen und ordnen lassen, wie der Feldmesser mit einer

Linie viele einzelne Messungen probirt, ich hielte mich oft selbst für toll." Ein volles Jahr lang stockte die Arbeit.

„Ich lese jetzt", schreibt

Goethe 28. März 1788, „daS Leben des Tasso

vom Abbate Serrassi.

Meine Absicht ist, meinen Geist mit dem Charakter und den Schicksalen dieses Dichters zu füllen.

Ich wünsche daS angefangene Werk wo nicht

zu endigen, doch weit zu führen, ehe ich zurückkomme. angefangen, so würde ich es jetzt nicht wählen.

Hätte ich es nicht

Indeß, wie der Reiz, der

mich zu diesem Gegenstand führte, aus dem Innersten meiner Natur ent­

sprang, so schließt sich jetzt die Arbeit, die ich unternehme, um eS zu en­ digen, ganz sonderbar an's Ende meiner

italienischen Laufbahn.

Wir

wollen sehri, waS es wird". Serrassi'S Werk, der Princessin Beatrice von Este gewidmet, war

1785 erschienen, und bemühte sich, die alte Legende von Tasso zu wider­ legen und daS Verhalteir des fürstlichen HauseS in ein milderes Licht zu

stellen.

Dem Dichter sehr willkommen: da er Weimarer Sitten ideali-

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

180

fiten wollte, konnte er den grausamen Tyrannen Alfons, die italienische

Tücke und verzehrende Leidenschaft, die Gift- und Dolch-Atmosphäre des 16. Jahrhunderts nicht brauchen.

Freilich nahm Goethe von dem überlieferten Material nur, was ihm für seine Zwecke paßte: manches, was sich garnicht fügen wollte, z. B.

die Pilgerschäft Tasso's zu seiner Schwester, trat als Vision auf.

Ein­

zelnes Gleichgültige, Historische blieb stehen, nicht mit Unrecht: solche Ne­ benumstände, bereit sich auch Shakespeare gern bedient, machen den Leser

zutraulich.

Der ganze Inhalt aber ist nicht historisch: die leuchtende, oft

grelle Farbe deö Südens und der Renaissance ist durch das gedämpfte

Lebensgefühl deutscher Sitten aus dem 18. Jahrhundert abgeblaßt.

„Uebrigens bin

ich

23. Mai aus Mailand

ganz

entsetzlich verwildert!"

an den Herzog.

schreibt Goethe

„Ich habe zwar in meinem

ganzen Leben nicht viel getaugt, und da ist mein Trost, daß Sie mich nicht so sehr verändert finden sollen.

Der Abschied aus Rom hat mich

mehr gekostet, als für meine Jahre recht und billig ist; indessen habe

ich

mein Gemüth nicht zwingen können, und habe mir auf der Reise

völlige Freiheit gelassen, darüber habe ich denn jede Stunde wenigstens

siebenerlei Humor, und es freut mich im Herzen, daß die Sudelei dieses Briefes in's lustige Siebentel fällt."

Am 18. Juni kam er in Weimar an. Hof und Gesellschaft drängten sich an ihn, vom gelobten Land zu hören.

Aber der Enthusiasmus, mit dem

er es that, seine Klagen über den Verlust beleidigten: „die Freunde, statt

mich zu trösten und wieder an sich zu zweiflung.

ziehen,

brachten mich zur Ver­

Mir geht es, wie dem Epimenides nach seinem Erwachen."

An italienische Sitten gewöhnt- sah er in den besten Menschen kleinbür­ gerliche Beschränktheit. Er hatte gelernt, das Sinnliche antik zu genießen

und darzustellen, nicht mehr im Farbenreiz schüchterner Empfindung, son­ dern in plastischer Nacktheit.

Natur empfunden.

Er hatte Jugendfrische und ungezwungene

Nun wurde er gewahr, daß die geliebte Freundin,

die er gleichsam zum ersten Mal mit Künstleraugen anschaute, über 45 Jahr alt sei. „Goethe", schreibt Knebel 30. Juni

an Lottchen v. Lengefeld,

„kennt die Dinge, und weiß, daß man die vergangenen als einen Traum ansehen muß.

Indeß wenn der Traum gut gewesen, bleiben doch Er­

innerungen, die den Zeitpunkt, worin wir stehen, glücklich und reich machen

können."

Seine Amtsgeschäfte hatten aufgehört, dafür zog man ihn fast täg­

lich an den Hof, und das langweilte ihn.

Der Herzog war öfters un­

wohl, er trieb Politik und hatte eine Liebschaft: „beides hat feisten Zweck,

181

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

Wie soll es Zufriedenheit gewähren!"

Er ließ ihn nicht von sich:

„so

vergeht eine Zeit nach der andern, man wird des Lebens weder gewahr

„Ihr Gemüth", schreibt er ihm einmal, „muß in einem

noch froh."

immer geschäftigen,

doch meist genußlosen Leben leiden.

Ihr Unmuth

liegt ganz außerhalb des Kreises meines Raths und meiner Hilfe." Sich zu einer ernsten Arbeit zu concentriren, war er mit seinen Jnteressetl noch

zu zerstreut. Es war die mißvergnügteste Zeit in Goethe's reichem Leben. Selbst die deutsche Sprache, auf der er mit solcher Meisterschaft spielte, wurde

Er war so unausstehlich, wie es ein so lieber Mensch nur

ihm verhaßt. sein kann.

Italien hatte ihn nicht zu neuem Leben erfrischt, sondern ihn

gegen die deutsche Art völlig verstimmt, seine Augen getrübt.

Wie herr­

lich hatte er früher unter dem deutschen Himmel sein Naturgefühl ent­

wickelt!

Das

war

jetzt vorbei.

„Das

Wetter ertötet meinen

Geist:

wenn das Barometer tief steht und die Landschaft keine Farben hat, wie

kann man leben!" „Ich will so fortleben", schreibt er 20. Juli an

es gleich eine sonderbare Aufgabe ist.

alle Farbe.

Der trübe

Frau v. Stein, „ob

Himmel verschlingt

Die Witterung macht mich ganz unglücklich, ich fürchte mich

vor Erde unb Himmel, und befinde mich nirgends wohl als in meinem Stübchen: da

wird ein Eaminfeuer angemacht, und

es mag regnen wie

es will. — Gern will ich alles hören, was Du mir zu sagen hast; ich

muß nur bitten, daß Du es nicht zu genau nimmst mit meinem jetzt so zerstreuten, ich will nicht sagen, zerrissenen Wesen!"

— „Es ist gefährlich, wenn man allzu lang sich klug.und mäßig

zeigen muß.

Es lauert der böse Genius dir an der Seite, und will

von Zeit zu Zeit ein Opfer haben. . .

Bei Freunden läßt man frei sich

gehen, man ruht in ihrer Liebe, man erlaubt sich eine Laune, ungezähmter wirkt die Leidenschaft, und so verletzen wir am ersten die, die wir am zärtsten lieben." — So erläutert Antonio nach seiner Rückkehr aus Rom

sein Betragen. „Ihre Kränklichkeit", schreibt Lottchen v. Lengefeld, von Frau v. Stein,

„und manches andre machen sie in sich verschlossen, und es ist schwer, ihr

nahe zu kommen." Wiederholt fiel es Caroline Herder auf, wie trocken und kalt sich Fratl

v. Stein gegen Goethe hielt. Freilich war auch sie empört, wenn Goethe auf einem Piknik mit keiner gescheuten Frau ein Wort redete, sondern den Fräuleins nach der Reihe die Hand küßte und ihnen schöne Sachen sagte.

„Die Kalb findet das abscheulich."

Zu den Fräuleins gehörte auch die

Nichte der Frau von Stein, die schöne Amalie von Imhof. —

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

182

— „Ihr strebt nach fernen Gütern, und lich sein.

euer Streben muß unend­

Ihr wagt es, für die Ewigkeit zu handeln, wenn wir ein einzig

noch beschränktes Gut auf dieser Erde nur besitzen mögen, und wünschen, daß eS uns beständig bleibe.

Wir sind von keinem Männerherzen sicher,

Die Schönheit ist vergänglich,

das noch so warm sich einmal unS ergab. die ihr doch allein zu ehren scheint.

WaS übrig bleibt, das reizt nicht

mehr, und was nicht reizt ist todt. — Wenn'S Männer gäbe, die erkennen möchten, welch einen holden Schatz von Treu' und Liebe der Busen einer Frau bewahren kann; wenn das Gedächtniß einzig schöner Stunden in

euren Seelen lebhaft bleiben wollte; wenn euer Blick, der sonst durch­ dringend ist, auch durch den Schleier dringen könnte, den uns Alter oder Krankheit überwirft; wenn der Besitz, der ruhig machen soll, nach fremden

Gütern euch nicht lüstern machte: — dann wär' uns wohl ein schöner Tag erschienen, wir feierten dann unsere goldene Zeit." — Wie kommt die Princessin dazu, diese Rede über die Männer an Tasso zu richten, der doch nicht daran dachte, ihr untreu zu werden? —

Aber Frau v. Stein, wenn ihr Goethe das vorlas, mußte es wohl heiß und kqlt über den Rücken laufen.

Immer öder wurde es um Goethe.

3. August erhielt er von dem

alten Jugendfreund Merck einen entsetzlichen Brief.

Merck hatte seine

Spekulationen über das Maß seiner Kräfte ausgedehnt und

Rande des Bankrotts. schreibung.

stand am

„Meine Situation übertrifft an Elend alle Be­

Ohne Schlaf und ohne Muth, physisch und

moralisch

zu

Grunde gerichtet, wandre ich ohne Ruhe noch unter den Lebenden herum,

Jedem zur. Last, und fürchte für meinen Verstand." — Noch gelang es Goethe, Merck mit Hülfe des Herzogs aus der drängendsten Noth zu

retten: fein Freund, der Banquer Willem er in Frankfurt

war

der

Vermittler.

Nun sollte er auch Herder's entbehren.

Dieser hatte ein beträcht­

liches anonymes Geschenk erhalten, und war von dem Domherrn v. Dalb crg, dem jüngsten Bruder des CoadjutorS, aufgefordert worden, mit ihm nach

Italien zu gehen; leider sollte auch die Geliebte des Domherrn, eine Frau v. Seckendorf, von der Gesellschaft sein.

6. August reisten sie ab.

5. September ging Goethe mit Caroline Herder nach Kochberg zu Frau von Stein, die ihn sehr kalt empfing.

Dort fand er Lottchen von

Lengefeld; lange war er mit ihrer Familie befreundet gewesen; nun sollte ihm durch sie der Mann, dessen meteorisches Wirken er mit Unmuth ver­

folgt, näher treten. Lottchen hatte Januar bis April 1788 in Weimar gelebt, wo sie

ursprünglich zur Hofdame ausgebildet werden sollte; Schiller sah sie

183

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

wiederholt und faßte bald eine lebhafte Neigung; er machte gegen Körner 6. März eine leise Andeutung.

„Doch daS schläft tief in meiner Seele,

und Frau von Kalb selbst, die mich fein durchsieht und bewacht, hat noch nichts davon geahnt. — Vor einer übereilten Heirath laß Dir nicht bange

sein; die Wieland'sche Tochter ist so gut als versprochen." Um den ewigen Aufregungen zu entgehen, die doch mit der Nähe

Charlottens verknüpft waren,

hatte er mit Lottchen verabredet,

die

Sommerfrische in ihrer Nähe, auf einem Dorf bei Rudolstadt, zu neh­

„Was für schöne Träume bilde ich mir für diesen Sommer, die

men.

Sie alle wahr machen können.

Aber ob Sie eS auch wollen? ES beun­

ruhigt mich oft, ob nicht das, was meine höchste Glückseligkeit Ihnen nur ein vorübergehendes Vergnügen gab!

macht,

Könnte ich hoffen, daß

von der Glückseligkeit Ihres Lebens ein kleiner Antheil auf meine Rech­

nung käme, wie wenig sollte eS mir kosten, den Bezirk, den Sie bewoh­

nen, für meine Welt anzunehmen!" 14. Mai 1788 kam er in Rudolstadt an. — „Doch werde ich," be­

ruhigt er Körner, „eine zu ausschließende Anhänglichkeit zu vermeiden suchen.

Es hätte mir etwas der Art begegnen können, wenn ich mich

Aber jetzt wäre es grade der schlimmste Zeitpunkt, wenn ich das bischen Ordnung, das ich mit Mühe

mir selbst ganz hätte überlassen wollen.

in mein Herz gebracht habe, durch eine solche Distraction wieder über

den Haufen werfen wollte." Er fühlte, ein neues Band könne nur geknüpft werden nach schmerz­ lichem Zerreißen eines alten, und das scheute er.

einem

Eben noch hatte er in

alten Verpflichtungen

übereilten Augenblick zu den

gegen Frau

v. Kalb eine neue übernommen.

21. Juni erhält Lottchen von Frau v. Kalb ein großes Packet für Schiller, angeblich aus dritter Hand: chen, „sehe ich Sie diesen Sominer".

„vielleicht", schreibt sie an Lott­

Was in dem Packet enthalten war

erzählt sie in ihren Memoiren. Schiller hatte an sie geschrieben und sie nach Rudolstadt eingeladen: „Sie finden daselbst Bekannte, die Ihre Freundinnen werden können."

In dem Brief war viel von einem Ideal der Freundschaft die Rede, und es wurde die Ansicht ausgesprochen, daß eine junge, lebenslustige Frau, die mit ihrem Manne nichts anzufangen weiß, am besten thäte, sich schei­ den zu lassen.

Schiller hatte die Tragweite dieses Briefes nicht überlegt.

Char­

lotte lehnt nicht ab, aber sie verlangt, daß Schiller durch einen öffent­

lichen Schritt ihre absolute Zusammengehörigkeit feststelle: er soll persön­ lich kommen und sie holen.

„In diesem Schreiben waren meines Lebens

184

Aus der Blülhezcit der deutsche» Dichtung.

Loose enthalten. — Es vergingen Wochen, Monate, und ich erhielt keine Antwort." „Seit geraumer Zeit geht's mir wie dem Orest, den die Eumeniden

Herumtreiben: den Muttermord freilich abgerechnet, und statt der Eume­ niden etwas Anderes

gesetzt, das am Ende nicht viel besser ist."

schreibt Schiller einmal an Lottchen.

nach

So

An Körner, 20. August: „Es ist

und nach ein Gemüthszustand in mir aufgekommen, der garnicht

wohlthätig auf dich wirken würde.

immer und ewig.

Herz und Kopf jagen sich bei mir

Ich kann keinen Moment sagen, das; ich glücklich bin,

daß ich mich meines Lebens freue. . .

Bin ich nicht Herr meines Schick­

sals? warum verharre ich in einem Zustand, der garnicht für mich ist? — Das sind Betrachtungen, die ich jetzt so oft und so anhaltend anstelle,

daß sie es endlich doch zu einem Beschluß bringen werden ... Du wirst fragen, was ich eigentlich will? — DaS weiß ich selbst nicht."

21. August meldet ihm Lottchen, sie wolle an Frau von Kalb schrei­ ben,

ob er etwas zu bestellen habe? — Diese

fragt

an,

ob

er ihren

Brief erhalten?

Schiller hatte so lange mit der Antwort gesäumt, weil er nicht

wußte, was er schreiben solle.

Einen Eclat, wie sic ihn sich dachte, wollte

er nicht; aber doch fühlte er sich engagirt.

So schrieb er einen leeren

Zettel: „Ich habe Ihren Brief erhalten, bin aber auf manche Weise be­ hindert worden, ihn eingehend zu beantworten."

Frau v. Kalb, wieder

in Weimar, hat die Haltung, an Lottchen einen freundlichen Brief zu

schreiben, auch über Schiller.

Als sich Körner nach Frau v. Kalb erkun­

digt, giebt Schiller 1. September eine ausweichende Antwort:

„Wie ich

höre, ist sie wohl, und die Zerstreuung hat ihr gut gethan."

Um sich auf Goethe ju stimmen, las der Dichter der „Götter Griechen­

lands" verschiedene griechische Schriftsteller, freilich in französischen Ueber» setzungen, und bemühte sich sie nachzubilden.

„In den nächsten zwei Jah­

ren lese ich keine modernen Schriftsteller mehr; nur die Alten geben mir

wahre Genüsse." Endlich, 9. September, erschien Goethe, von Frau v. Stein und Caroline Herder begleitet, in Rudolstadt; Schiller hatte ihn mit bren­ nender Ungeduld erwartet. „Auf des Lebens leicht bewegter Woge bleibt Dir ein stetes Herz.

So seh' ich Dich.

Und was wär' ich, ging ich Dir nicht entgegen? sucht

ich begierig nicht auch einen Theil an dem verschlossenen Schatz, den Du bewahrst?

Ich weiß, es reut Dich nicht, wenn Du Dich öffnest! ich weiß,

Du bist mein Freund, wenn Du mich kennst! . . Still ruhet noch der Zukunft goldne Wolke mir um's Haupt."

185

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

So spricht Tasso, von dem Goethe in Rudolstadt viel erzählte, zu

Antonio; so empfand Schiller gegen Goethe.

Das Resultat der sehn­

suchtsvoll erwarteten Zusammenkunft war niederschlagend. „Sein erster Anblick", schreibt er an Körner, „stimmte die hohe Meinung ziemlich tief herunter, die man mir beigebracht hatte.

mittler Größe,

trägt sich

steif und

Er ist

geht auch so; sein Gesicht ist ver­

schlossen, aber sein Auge sehr ausdrucksvoll, lebhaft, und man hängt mit Vergnügen

an seinem Blick.

viel Wohlwollendes.

Bei vielem Ernst hat seine Miene doch

Seine Stimme ist überaus angenehm,

seine Er­

zählung fließend, geistvoll und belebt. — Unsere Bekanntschaft war schnell gemacht und ohne den mindesten Zwang.

Freilich war die Gesellschaft

zu groß und Alles auf seinen Umgang zu eifersüchtig, als daß ich etwas Anderes als allgemeine Dinge mit ihm hätte sprechen können. gern und mit leidenschaftlicher Erinnerung von Italien . .

Er spricht Im Ganzen

ist meine, in der That große Idee von ihm nach dieser persönlichen Be­ kanntschaft nicht vermindert worden, aber ich zweifle, ob wir einander je

sehr nahe rücken werden.

Vieles, was mir jetzt noch interessant ist, was

ich noch zu tvünschen und zu hoffen habe, hat seine Epoche bei ihm durch­ lebt ; er ist mir (an Jahren weniger als an Lebenserfahrungen und Selbst­ entwickelung) so weit voraus, daß wir unterwegs nie mehr zusammenkommen werden, und sein ganzes Wesen ist schon von Anfang her anders angelegt als das meinige; unsere Vorstellungsarten scheinen wesentlich verschieden."

Goethe's allgemeine Verstimmung hatte noch einen besonderen Grund. Seine Werke hatten nicht den Anklang gefunden, den er zu erwarten berechtigt war; durch die lange Pause hatte er sich dem Publikum ent­

fremdet.

Im vorigen Jahr war erschienen:

„Zueignung",

„Werther",

„Götz", „die Mitschuldigen", „die Geschwister", „Iphigenie", „Clavigo",

„Stella", „Triumph der Empfindsamkeit", „die Vögel", — also Schriften

sehr verschiedenen Stils, über deren Zusammenhang man sich nicht leicht orientiren konnte.

Der fünfte Band nun enthielt „Egmont", „Claudine"

und „Erwin"; diesen Band hatte Schiller eben recensirt. Bei dem besten Willen, zu loben, hatte er doch den hochverehrten Dichter ziemlich unsanft zurechtgewiesen.

„In der Lit.-Ztg.", schreibt Goethe 1. Oct. an den Herzog, „steht eine Recension meines Egmont, welche den sittlichen Theil des Stückes

gar gut zergliedert.

Was den poetischen Theil betrifft, so möchte Recen­

sent Andern noch etwas zurückgelassen haben".

die Recension zur Hälfte gut, zur Hälfte schief.

Caroline Herder findet

Dem Recensenten freilich

erzählte man, Goethe habe mit sehr viel Achtung und Zufriedenheit davon

gesprochen.

186

Aus der Bllithezeit der deutschen Dichtung.

Zu dem

decidirten Ton konnte Goethe den Dichter des

Carlos" doch kaum für berechtigt halten.

„Don

ES verstimmte ihn, daß die

junge Generation ihn wie Einen behandelte, der noch seine Proben zu

machen habe.

Auch das Urtheil des Herzogs über den „Egmont" fiel

nicht günstig auS, dagegen mußte er von nahestehenden Frauen — z. B. Frau von Stein — übertriebene Lobreden auf den Dichter vernehmen, der sich als seinen Nebenbuhler ausspielte.

„Du gehst mit vollen Segeln!

Scheint es doch, du bist gewohnt

zu siegen, überall die Wege breit, die Pforten weit zu finden. . ."

. . . „Wenn ein wackrer Mann mit heißer Stirn von saurer Arbeit kommt, und spät am Abend im ersehnten Schatten zu neuer Mühe aus­

zuruhen denkt, und findet dann von einem Müßiggänger den Schatten breit gesessen: soll er nicht auch etwas Menschliches in dem Busen fühlen?"

„O mein Bruder!" schreibt Goethe 22. September an Herder, „wel­ cher böse Geist trieb dich, mich zurückzurufen!

Ich hätte dich auffangen

können, und wir hätten sie alle auSgelacht!" „Frau v. Kalb", meldet Schiller aus Rudolstadt 20. Oktober an Körner, „habe ich diesen Sommer gar wenig geschrieben; es ist eine Ver­ stimmung unter unS, worüber ich dir einmal mündlich mehr sagen will.

Ich widerrufe nicht, was ich von ihr geurtheilt habe: sie ist ein geistvolles

edles Geschöpf: aber ihr Einfluß auf mich ist nicht wohlthätig gewesen." „Ich bin

ihre Vertraute", schrieb Caroline Herder 31. Oktober

an ihren Gatten,

„und glaube, daß sie jedesmal gestärkt von mir geht.

Sage aber Niemand von unsrer nahen Freundschaft, ich bin der einzige,

zu dem sie spricht.

Sie ist in einem unwürdigen Verhältniß, das ich

nicht dem Papier anvertrauen kann; es wird sich über kurz oder lang ändern". —

— Schiller's Sommerfrische hatte ein volle« Halbjahr gedauert. Fast täglich war er mit der Familie v. Lengefeld, privatim und in Ge­ sellschaften, zusammen gewesen.

Frau v. Lengefeld, eine klar sehende und

herzensgute Frau, mochte sich wohl mitunter die Frage vorlegen, ob nicht etwas weiteres dabei herauskommen werde?

Sie ließ alles gehen, nur

mitunter schickte sie Lottchen zu Frau v. Stein nach Kochberg.

Das Ver­

hältniß gewann noch dadurch an Unbefangenheit, daß Caroline, die

ältere Schwester, in der Regel die Unterhaltung leitete. sind ein wahres Sprühfeuer von Witz und Malice.

Ihre Briefe

Sie war mit einem

Gatten versehen, Herrn v. Beulwttz, der nicht blos von seiner Frau,

sondern auch von seiner Schwägerin schlecht behandelt wurde; die Schwieger­

mutter, streng moralisch, nahm für ihn Partei. Endlich nahte die Zeit des Abschieds; Schiller's letzte Billets an

187

Aus der Bliithezeit der deutschen Dichtung.

Lottchen waren nicht blos zärtlich, sondern streifen an'S Leidenschaftliche. „Ich denke mit Verwunderung nach, was in einem Jahr alles geschehen

kann!

Heute vor einem Jahr waren Sie für mich so gut als garnicht

auf der Welt, und jetzt sollte es mir schwer werden, mir die Welt ohne Sie zu denken."

Gleich da er in Weimar ankommt, 14. November:

„Alles ist mir

hier fremd geworden; ein Interesse an den Dingen zu schöpfen, muß man das Herz dazu mitbringen, und mein Herz lebt nur Ihnen. — Empfangen

Sie hier meine ganze Seele!" — Auf dergleichen wiederholte Aeuße­ rungen pflegt sonst ein Heirathsantrag zu folgen; aber Schiller, sonst schnell genug bei der Hand, that nichts dergleichen. „Mein Abzug aus Rudolstadt", schreibt er an Körner, ist mir schwer

geworden; ich habe dort schöne Tage gehabt und ein werthes Band der Bei einem geistvollen Umgang, nicht ganz frei von

Freundschaft gestiftet.

einer gewissen schwärmerischen Ansicht der Welt, wie ich sie liebe, fand

ich dort Herzlichkeit und Delicatesse, Freiheit von Vorurtheilen und Sinn für das was mir theuer ist. Trost.

Ich habe redlich

Aber mein Herz ist ganz frei. Dir zum

gehalten,

was ich Dir angelobte:

ich habe

meine Empfindungen durch Vertheilung geschwächt, und so ist

das Verhältniß innerhalb

der

Grenzen

einer

herzlichen

vernünftigen

Freundschaft." Schiller hatte sich die Sache wohl noch selbst nicht ganz klar gelegt; zudem drückte ihn daö Vorgefühl der bevorstehenden Explicatio» mit Frau

v. Kalb, die bis jetzt auf Lottchen noch keinen Verdacht hegte. Goethe

war

in

einer

ähnlichen

Lage.

Der Gatte der Frau

v. Stein war krank, glaubte bald zu sterben und räumte alles bei sich auf;

ihre Unruhe wuchs, da nun eine Entscheidung bevorstand.

In derselben

Zeit schickte ihr Goethe „Morgenklagen" und ähnliche Liebesgedichte höchst

sinnlicher Art, von der sie nur zu gut wußte, daß sie nicht ihr gelten konnten.

Seit geraumer Zeit stand Goethe in einem Verhältniß, das für seine Zukunft entscheidend werden sollte.

Bald nach seiner Rückkehr au»

Italien, 13. Juli, trat ihn ein hübsches junges Mädchen an, Christiane

VulpiuS, eine Blumenmacherin, und bat für sich und ihren Bruder, der verschiedene Räuberromane verfaßt und sich einmal atlch dem Dichter

der „Räuber" vorgestellt hatte, um Unterstützung. Sie fand Beifall.

Die Freunde in Rom und Neapel hatten ohne

Arg frische Mädchen im Hause gehabt; auch Goethe hatte sich dieser Sitte nicht entzogen.

Christiane hatte schwellende Lippen und zierliche Füße;

sie verstand nichts von Spinoza und Kant, aber gern hörte sie zu, wenn

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

188

ihr Goethe von den Verwandlungen der Pflanzen erzählte, wie er früher

dem kleinen Fritz Stein von den Verwandlungen der Erde erzählt hatte. Gewiß verstand sie wenig davon, aber es ließ ihr gut, wenn sie hörte; sie half ihm Pflanzen suchen. Er hatte die große Gabe, sich die Geschöpfe

zu idealisircn.

Sie hatte manche Fehler, obgleich man ihrem Rtif nichts

Schlimmes nachsagen konnte.

Sie gehörte nicht zur guten Gesellschaft,

die „zum kleinsten Gedicht keine Gelegenheit giebt."

Sie war zärtlich,

demüthig ergeben, nicht eifersüchtig, nicht gebieterisch; sie machte keine Scenen; sie störte ihn nicht in seinen Studien und seinen Vergnügungen.

Es ließ sich an ihrem Busen ruhn, und Goethe war nun in das Alter

gekommen, das zu schätzen. Die gute Gesellschaft freilich, sonst in ihren sittlichen Begriffen nicht

sehr difficil, war empört über diese Begünstigung des Bürgermädchens. Wiederholt ermahnten die Schwestern ihren Freund, Goethe jit be­

Schiller brannte vor Verlangen, aber er wollte nicht zudringlich

suchen.

sein.

Endlich sand sich eine amtliche Gelegenheit.

Die „Niederländische Rebellion"

hatte Aufsehn gemacht; man bot

Schiller eine Professur in Jena an, zu Ostern anzntrcten, freilich ohne

Gehalt.

Schiller stellte sich Goethe vor, und nahm ans sein Zureden die

Stelle an, 15. December: es war ihm nicht ungelegen, aus Charlottens

unmittelbarer Nähe zu kommen. „Mein ganzes Absehn bei der Sache ist, in eine gewisse Rechtlichkeit nnd bürgerliche Verbindung einzutretcn.

Meine Idee war es. immer:

freilich wollte ich gern ein paar Jahre zu meiner bessern Vorbereitung

verstreichen lassen.

In der neuen Lage werde ich mir selbst lächerlich

vorkommen: mancher Student weiß vielleicht inehr Geschichte als der Herr-

Professor.

Indeß müßte es schlimm zugehen, wenn ich in jeder Woche

nicht soviel zusammenlesen und zusammendenken könnte, um es

einige

Stunden lang auf eine gefällige Weise auskramen zu können." Schiller glaubte Goethe Dank schuldig zu sein; er ahnte nicht, wie stark

dieser gerade damals gegen ihn eingenommen war.

Dazu hatte namentlich

Goethe's römischer Freund Moritz beigetragen, der 1. December 1788 in

Weimar ankam: er hatte die Reise von Rom, wo er mit dem von ihm

so hochverehrten Herder einen Monat verlebt, zu Fuß gemacht.

Goethe

empfahl ihn dringend dem Herzog; von Frau Herder, Frau von Kalb und Frau von Stein wurde er auf Händen getragen:

„er ist", schreibt

die letztere, „wie ein überirdisch Wesen, so rein, so gleichmüthig; zu jedem

Wesen läßt er sich herab und bleibt vornehm in sich".

In Goethe weckte

er wieder die leidenschaftliche Erinnerung an Italien. Moritz hatte Schiller's erste Stücke mit großer Härte besprochen; er

Aus der Bliithezeit der deutschen Dichtung.

bestärkte Goethe leidenschaftlich in seiner Abneigung.

189

Goethe empfand den

äußersten Verdruß über den Beifall, welchen „die ethischen und theatra­ lischen Paradoxen dieses kunstvollen und unreifen Talents, von denen er

selbst sich zu reinigen gestrebt", ebenso bei dem wilden Studenten wie bei der gebildeten Hofdame (Frau v. Stein?) fanden.

Bemühn verloren, was

mich am

„Ich glaubte all mein

die Art, wie ich mich gebildet, schien mir gelähmt;

meisten

schmerzte,

alle mit mir verbundenen Freunde,

Moritz li. s. w., schienen mir gleichfalls gefährdet: denn wo war eine Aus­ sicht, jene Productioncn von genialem Werth und wilder Form zu über­

bieten?"

In einer Schrift von Moritz, die Goethe damals herausgab, „von der bildenden Nachahmung des Schönen", .einer begeisterten Verherrlichung der absoluten Kunst, fand Schiller, den Moriz trotz ihrer alten Fehde wiederholt besuchte, willkommenen Stoff für ein großes Gedicht, mit dem

er sich damals trug, „die Künstler".

Entworfen hatte er es schon in

Rudolstadt, wo er eö 9. November den Freundinnen vorlaS.

Zum Ab­

schluß gab ihm eine Unterredung mit Wieland Gelegenheit, über die er

9. Februar 1789 an Körner meldet. Wieland empfand es sehr unhold, daß die Kunst nur Dienerin einer höheren Cultur sein sollte; auch die Wissenschaft habe die Aufgabe,

sich zum Kunstwerk zu adeln. — „Diese Vorstellung schien in meinem Ge­

dicht unentwickelt zu liegen, und nur der Heraushebung zu bedürfen." — „Die Kunst hat die wissenschaftliche und sittliche Cultur verbreitet, aber

diese ist noch nicht das Ziel, sondern nur eine Vorbereitung dazu:

denn

erst ist die Vollendung da, wenn sich wissenschaftliche und sittliche Cultur wieder in Schönheit auflöst." Indem eS nur die Griechen vor Augen hat, schreibt das Gedicht der

Kunst eine schöpferische Kraft zu: sie habe die Religion des Grauens und

der Furcht in

eine Religion der Freude verwandelt.

Als

Gott den

Menschen in die Sinnlichkeit verbannte, „und eine späte Wiederkehr zum Lichte auf schwerem Sinnenpfad ihn fühlen ließ", folgte von allen himm­

lischen Geistern ihm nur die Kunst, und da dem Wilden, der nur durch die Fessel der Begierde an die Erscheinungen gebunden war, unempfunden

die schöne Seele der Natur entfloh, löste die Kunst mit leiser Hand daS

Bild, den Schatten von den Dingen ab, „von ihrem Wesen abgeschieden, ihr eignes liebliches Idol", und aus den Freuden der Ferne, die seine Be­

gier nicht reizten, erkannte der Mensch zum erstenmal seine Freiheit.

Die

Kunst sammelte die verschiedenen Strahlen der menschlichen Natur in ein

Bild, und brachte so die wahre Religion hervor.

„Der Mensch erbebte

vor dem Unbekannten, er liebte seinen Wiederschein." Preußische Jahrbücher. Bb. XLVl. Hcfl 2.

Die Sittlichkeit

14

Aus der Bliithezeit der deutschen Dichtung.

190

wie die Wissenschaft nährten sich an den Symbolen der Kunst: von den

Schrecken des Lebens durch das schöne Spiel befreit, lernte der Mensch das unverständliche Schicksal ertragen, und als nun die Barbaren diese schöne Zeit zerstörten,

wurde (im 14. und 15. Jahrhundert) der

letzte

Opferbrand den entheiligten Altären des Orients entrissen und durch ihn der neue Tag herbeigeführt.

Kühne Geister haben sich dann bemüht, durch

die Macht des Gedankens dies Licht 311 nähren,

aber ihre wahre Be­

stimmung werden sie erst erfüllt haben, wenn die Wahrheit in gefälligeiu Dienst zu Füßen der Schönheit liegt.

Die Frage, wie weit die historischen Thatsachen der Auffassluig dieses Gedichts entsprechen, kommt erst in zweiter Linie; die Hauptsache ist, daß

es Schillers wirkliche und bleibende Ueberzeugung ausspricht.

Den Ideen

des Marquis Posa hatte er in aller Form abgesagt, und kehrte nie wieder

zu ihnen zurück; Weltbildes.

er stand auf dem Boden des rein ästhetischen

„Was schöne Seelen schön empfinden, mnß trefflich und

willkommen sein." Die Freunde hatten an der Form viel auszusetzen.

„Du hast deu

Hang", schreibt ihm Körner, „Deine Producte durch Schmuck im Ein­

zelnen zu überladen.

Manche schöne Idee geht dadurch verloren, daß

man sie blos im Vorübergehen mitnehmen soll.

Jnteressirt man sich für

die Hauptidee Deines Gedichts, so kann man unmöglich auf all diese ein­ zelnen Züge soviel Aufmerksamkeit heften, als erfordert wird, sie ganz zu verstehn." „Gleich über der Schwelle strauchelte Wieland: eine Allegorie, die

nicht gehalten sei, sich alle Augenblicke wieder in eine neue Allegorie ver­

liere oder gar in philosophische Wahrheit übergehe, das Durcheinander­ werfen poetisch wahrer und wörtlich wahrer Stellen incommodire ihn; die malerische Sprache und

das

luxuriöse Uebergehn

von Bild zu Bild

blende ihn, so daß er vor Licht nicht sehe" u. s. w. Schiller hatte mit seinem Gedicht hauptsächlich an Goethe gedacht;

er wußte wohl, wie nahe ihre Ideen sich berührten.

Freilich hatte Goethe

den Schleier der Dichtung, „aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit", nur aus der Wahrheit Hand empfangen wollen.

Schiller hörte nichts

Erbauliches von ihm; er wurde irre an seinem Talent, sechs Jahre lang

bleiben „die Künstler" sein letztes größeres Gedicht. — „Dichten, das ist vorbei!" schreibt er einmal an die Schwestern. Februar 1789 brachte der Herzog selbst Moritz nach Berlin, wo

ihm eine kleine Stelle bei der Akademie geschafft wurde.

Gemeinsam mit

dem Capellmeister Reichardt begründete er nun, hauptsächlich mit geist­

reichen

Jüdinnen,

eine

stille Gemeinde,

die

in

lebhafter Opposition

191

A»S der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

gegen das alte Berlinerthum dem poetischen Idealismus einen Altar er

richtete. „Die Abgötterei, die Moritz mit Goethe treibt", schreibt Schiller

2. Februar 1789 an Körner, „hat mich von seinem nähern Umgang zu­ rückgehallen. — Oesters um Goethe zu sein,

machen.

würde mich unglücklich

Er hat auch gegen seine nächsten Freunde keinen Moment der

Ergießung, er ist an nichts zu fassen.

Er besitzt das Talent, die Men­

schen zu fesseln, aber sich selbst weiß er immer frei zu halten.

Ein solches

Wesen sollten die Menschen nicht um sich herum aufkommen lassen.

Eine

ganz sonderbare Mischung von Haß und Liebe ist, die er in mir erweckt,

eine Empfindung, derjenigen ähnlich, die BrutuS und CassiuS gegen Cäsar gehabt haben müssen; ich könnte seinen Geist umbringen, und ihn dann

wieder von Herzen lieben." Aehnlich hatte sich Schiller gegen Lottchen geäußert.

„Goethe hat

sich durch seinen Geist und taufenb Verbindlichkeiten Freunde, Verehrer

und Vergötterer erworben; sich selbst aber hat er nie gegeben." Lottchen bestreitet das nicht ganz.

„Er kann den Menschen viel geben,

Andre ihm nichts, das habe ich schon oft bemerkt.

Er kommt sich oft so

einsam vor, weil er sich zu groß fühlt, und ich glaube, das macht ihm

manchen trüben Augenblick." Darauf Schiller, 25. Februar.

„Wenn ich auf einer wüsten Insel

mit ihm allein wäre, so würde ich allerdings weder Zeit noch Mühe

scheuen, diesen verworrenen Knäuel seines Charakters aufzulösen.

Aber

da Jeder in der Welt, wie Hamlet sagt, seine Geschäfte hat, so habe ich

auch die meinigen; und man hat wahrlich zu wenig baares Leben, um Zeit daran zu wenden, Menschen zu entziffern, die schwer zu entziffern sind. —

Ich habe zu viel Trägheit und zu viel Stolz. — Wenn einmal meine Lage so ist, daß ich alle meine Kräfte wirken lassen kann, so wird Er

mich kennen, wie ich seinen Geist jetzt kenne. — Erwarten Sie nicht zu

viel Herzliches von Menschen, die von allem was sich ihnen nähert, in Bewunderung und Anbetung gewiegt werden.

Sollte ich einmal berühmt

werden, so sein Sie mit Ihrer Freundschaft vorsichtiger!" —

Denselben Tag an Körner.

er seine Kraft anwenden will.

„Mit Goethe messe ich mich nicht, wenn Er hat weit mehr Genie als ich, weit

mehr Reichthum an Kenntnissen, eine sichere Sinnlichkeit und einen ge­

läuterten Kunstsinn, was mir in einem Grad mangelt, der bis zur Un­ wissenheit geht." 9.'März. — „Du wirst mich wohl recht in meiner Schwäche gesehn

und im Herzen über mich gelacht haben.

Aber mag es immer!

mich gern von Dir kennen lassen, wie ich bin.

Ich will

Dieser Mensch, dieser

14*

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

192

Goethe, ist mir einmal im Wege, unb er erinnert wich so oft, daß das

Schicksal mich hart behandelt hat.

Wie leicht ward sein Geilie von seinem

Schicksal getragen, und wie muß ich bis auf diese Minute noch kämpfen!" Schiller ahnte nicht, daß grade damals Goethe wenig Grund hatte,

sich für glücklich zu halten. „Wenn Du es hören willst", schreibt Goethe an Frau von Stein,

„so will ich Dir gern sagen, daß Deine Vorwürfe, wenn sie auch für den

Allgenblick empfindlich sind, keinen Verdruß lind Groll im Herzen zurück­ lassen.

Wenn Du manches an mir dulden mußt, so ist es billig, daß

auch ich wieder von Dir leide.

Es ist besser, daß man freundlich ab­

rechnet, als daß man sich immer einander anähnlichen will, lind »ernt das nicht reussirt, ciilander

aus dem Wege geht.

Mit Dir kann ich am

wenigsten rechnen, weil ich bei jeder Rechnluig Dein Schuldner bleibe." „Ich war den Winter immer nicht recht wohl", schreibt sic an Lottchen 29. März, „und da wird man geneigter zum Nachdenken, das einen im Leben nicht glücklicher macht. — Ich habe keine Anhänglichkeit an's Leben, und freue mich auf den Schlaf, denn ich bin müde. — Der andere mir-

mühsame Begriff von meinem ehemaligen 14 Jahre lang gewesenen Freund

liegt mir auch manchmal wie eine Krankheit auf, und ist mir nun wie

ein schöner Stern, der vom Himmel gefallen.

Wenn ich Sie sehe, will

ich Ihnen mancherlei darüber erzählen, was ich nicht schreiben mag. — Schiller hat sich so zur Einsamkeit gewöhnt, daß er, glaube ich, gar keine Sprache für die Menschen mehr hat." „Die Leute", erzählt Schiller 9. März, „wunderten sich anfangs;

endlich gewöhnte man sich daran.

Charlotte besuche ich noch am meisten;

sie ist diesen Winter gesünder und im Ganzen auch heiterer wie im vorigen.

Aber ich habe, seit ich wieder hier bin, Principien von Unabhängigkeit in mir aufkommen lassen, denen sich mein Verhältniß zu ihr, wie zu allen

übrigen Menschen, blindlings unterwerfen muß!

Alle romantischen Lust­

schlösser fallen, und nur was natürlich ist, bleibt stehn. — Hintergangene Erwartungen haben mich in dem Umgang mit Menschen scheu und miß­

trauisch gemacht, ich habe den leichtsinnigen Glauben an sie verloren." Noch ein anderer Besuch bestärkte Goethe in seiner Abneigung gegen

Schiller:

Goethe's

Capellmeister Reichardt aus Berlin, der übernommen hatte, Dichtungen

zu

componiren;

Goethe's; nach Schiller's Urtheil

ein

leidenschaftlicher

Verehrer

„ein unerträglich aufdringlicher und

impertinenter Bursch". Er trat auch Bürger in den Weg, der 29. April nach Weimar kam. Klopfenden Herzens ging er zu Goethe, er suchte den alten Ton anzu­

schlagen.

Goethe empfing ihn kalt, gemessen; er fragte ihn nach den

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

Es war wohl nicht blos Ver­

Verhältnissen der Universität Göttingen.

legenheit:

193

er wollte den Zudrang des einen Sturm- und Drangdichters

abwehren, nachdem er den andern losgeworden war.

Bürger war em­

pört: die Epigramme, in denen er seinem Groll Luft machte, haben am

meisten dazu beigetragen, Goethe in den Ruf eines herzlosen Menschen, eines höfischen Antonio zu bringen. Von Schiller wurde er freundlich ausgenommen.

„Er hat nichts

Ausgezeichnetes 'm seinem Aeußern und seinem Umgang, aber ein grober

guter Mensch scheint er zu sein. zuweilen ins Platte.

Wie in seinen Gedichten verliert er sich

Das Feuer der Begisterung scheint in ihm zu einer

rostigen Arbeitslampe herabgekommen zu sein." 11. Mai ging Schiller nach Jena ab, eine Woche vorher waren

sein neues Amt anzutreten;

in Versailles die Etats Geueraux

eröffnet.

Erwartungsvoll richteten sich alle Blicke nach Paris.

Mai bis Juli 1789 wurde der „Tasso" vollendet: diese Arbeit fällt

zwischen das Zusammentreten der Generalstände in Versailles und die Er­

stürmung der Bastille. „Es hat der Mann, der unerwartet zu uns trat, nicht sanft aus einem schönen Traum mich aufgeweckt. . .

Was daS Herz im Tiefsten

mir bewegte, es waren die Gestalten jener Welt, die sich lebendig, rastlos,

ungeheuer um einen großen Mann gemessen dreht. . .

ich auf. . .

Begierig horcht'

Doch ach! jemehr ich horchte, mehr und mehr versank ich vor

mir selbst. . ."

.Zum Theil um dem ewigen Gerede vom großen Friedrich, den hoff­ nungslosen Beschäftigungen mit der deutschen Union zu

entgehn,

war

Goethe nach Italien gewandert; er hatte in der schönen Welt deS Alter­

thums und der Renaissance geschwelgt.

Nun klopfte die Revolution, die

er schon vor seiner Abreise mit Grauen kommen gesehn, drohend an die Thür deS Hauses; Kunst und Wissenschaft schienen gestört;

Rom sollte

nicht mehr die Hauptstadt der Welt sein: „die Wirklichen, sie dringen auf

mich ein!" — In Goethe'S „Tasso"

findet

der Geist

der Renaissance,

den

die

deutsche Literatur im vorigen Jahrhundert den andern Weltmächten gegen­

überstellte, seinen edelsten, vornehmsten Ausdruck; etwas Vornehmeres hat Goethe kaum geschrieben.

Die Form verräth mehr als die der Iphigenie

die ausgeschriebene Hand, sie ist vollendet künstlerisch.

Bild ist gewählt, nicht eine unedle Zeile läuft ein.

Jedes Wort, jedes

Der Ton liegt hoch

über dem des gewöhnlichen LebenS, aber man merkt es kaum bei der gleich­

schwebenden Temperatur: so möchte man nicht nur wünschen zu reden, so

schmeichelte man sich auch wohl, in guten Stunden reden zu können.

Die

194

Ans der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

subjectivsten, paradoxesten Empfindungen und Gedanken kommen zur Sprache,

aber sie sind alle ins Gebildete übertragen; bei aller individuellen Echtheit erscheinen sie als allgemein wahr, als rein menschlich.

Und doch machen

sie nie den Eindruck einer abgezogenen Sentenz, sie drängen sich in Farben

und Gestalten auf.

Es ist eine Studie von unendlicher Lebenshelle, von

einer Tiefe, die bis zum Schaudern geht; bis ins kleinste Nervengeflecht

vom Geist der Poesie durchhaucht. Im Stil ist „Tasso" den Werken der Sturm- und' Drangzeit ent­ gegengesetzt; im Problem nicht.

„incompleten

Pflanzen",

von

Tasso ist wieder Werther, eine von jenen jenen

„problematischen

Naturen",

„die

keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug

thut."

„Daraus entsteht der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne

Genuß verzehrt."

Aber das Problem ist vertieft.

Werther entschädigt für sein Proble­

matisches nur durch Liebenswürdigkeit und Güte; bei Tasso hängt eö mit

dem Höchsten zusammen, waS in seiner Seele liegt: mit seinem Dichten.

Jedes Bild setzt seine Seele in schwingende Bewegung, und ruft eine Reihe anderer Bilder hervor.

Man giebt ihm Stubenarrest: sogleich er­

scheint ihm das häßliche Gefieder der Nacht, das in Kerkern zu weilen pflegt.

Man warnt ihn vor der Reise nach Neapel: sogleich sieht er sich

in Pilgerkleidern geheimnißvoll von Thür zu Thür schleichen.

Man setzt

ihm den Lorbeer auf: sogleich träumt er von einem siegumlaubten Jüng­ ling der Vorzeit,

über dessen Geschick die Nachwelt grübelt. — Diese

Association der Bilder ist dichterische Eigenschaft; aufs Leben übertragen, durch keine andere Eigenschaften eingeschränkt, bringt sie den Menschen in

die verkehrtesten Lagen; sie spielt ihm Täuschungen unter und macht ihn mißtrauisch.' „Wie ein Dichter am fähigsten ist, einen andern auszulegen, so wird

er auch tiefer ergründen, wie sich in einer Dichterseele die Triebe zart in einander weben; feiner belauschen, wie die Regung sich allmälig zur That

bildet."

Das ist eine Bemerkung A. W. Schlegels.

Werther ist viel dramatischer als Tasso: die Katastrophe erschütternd.

der Fortgang ist deutlich,

Im „Tasso" scheint nichts rechtes vorzu­

gehn; der Dichter begeht eine Unschicklichkeit, aber deswegen wird die gute

Gesellschaft, wie sie hier erscheint, ihn nicht ins TollhauS werfen, wie der Tyrann von Ferrara wirklich gethan.

Dennoch ist der Eindruck tragisch:

Tasso erwacht, und bricht im deutlichen unabweisbaren Bewußtsein, eine

„incomplete Pflanze" zu sein, in sich zusammen. Es ist ebenso gefährlich wie reizend, sich in den Abgrund seines

Innern zu stürzen.

Aber der Dichter kann nicht anders.

„Verbiete Du

An« der Blllthezeit der deutschen Dichtung.

195

dem Seidenwurm zu spinnen, wenn er sich schon dem Tode näher spinnt! Das köstliche Geweb' entwickelt er aus seinem Innersten, und läßt nicht

ab, bis er in seinen Sarg sich eingeschlossen. . .

Ich scheine nur die

sturmbewegte Welle; doch überhebe nicht Dich Deiner Kraft!

In dieser

Woge spiegelte so schön die Sonne sich, es ruhten die Gestirne an dieser

Brust, die zärtlich sich bewegte." „Werther"

hatte augenblicklich gezündet;

„Tasso" gehörte zu den

Dichtungen, in die das Bolk erst hineinwachsen muß; er war zu vornehm,

um sofort verstanden zu werden.

„Der Eindruck, den

der Tasso das

erstemal zurückläßt",

schreibt

Huber an Körner, „ist peinlich verworren. Die Charaktere und Situationen

behalten unter dem zarten Hauch eines miniaturähnlichen Colorits eine

gewisse Unbestimmtheit, die den Eindruck des Ganzen kaum wohlthätig

macht, und sie sind in der innigen und seelenvollen Behandlung, Goethe

eigen ist,

ungefähr

ebenso

die

auf eine Nadelspitze gestellt wie

manche Charaktere und Situationen in Lessings subtiler und sinnreicher Manier."

A. W. Schlegel in Göttingen schreibt:

„Ein Schauspiel, das sich

mehr durch sorgfältige Ausführung, durch Feinheit und Zierlichkeit deS

Dialogs als durch Kühnheit und Kraft auszeichnet, muß auf den Leser

stärker wirken als auf den Zuschauer.

der einschmeichelnden Anmuth

Aber auch jener wird mehr bei

einzelner Stellen

Interesse des Ganzen hineingezogen werden.

verweilen

als itt das

Köine der handelnden Per­

sonen ist so geschildert, daß man ihr Wohl und Wehe mit vollem Herzen

zu dem seinigen machen könnte.

Tasso selbst erregt nur eine mit Un-

muth über sein grillenhaftes Betragen gemischte Theilnahme, und die Princessin äußert

jh

matte, kränkliche Gefühle, als daß man lebhaften An­

theil daran sollte nehmen können."

So die beiden ausgezeichnetsten Kritiker

des nächsten Jahrzehnts. In gewissem Sinn hatte es Goethe gemacht wie Schiller: um die

Gestalten rein zu haben, hatte er seine Empfindung durch Vertheilung geschwächt.

„Zwei Männer sind's, ich hab' es lang gefühlt, die darum Feinde

sind, weil die Natur nicht Einen Mann aus ihnen beiden formte." — So grausam war in Wirklichkeit die Natur nicht gewesen:

sowohl Tasso als Antonio: jeder Zoll ein Dichter,

Goethe war

hatte er doch vom

Bater mit der Statur auch „des Lebens ernstes Führen" geerbt.

Es ging

ihm im „Tasso" wie Schiller im „Don Carlos": je älter der Dichter wurde, desto stärker entwickelte sich seine ernste Charakterseite; Posa ge­

wann den Vortheil über Carlos, Antonio den Vortheil über Tasso.

196

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

Die krankhafte Empfindlichkeit Tasso'S, sein ewiges Mißtrauen, sein Bedürfniß, sich verzieh» und verzärteln. Andre für sich sorgen zu lassen,

lag Goethe'S gesunder und tüchtiger Natur völlig fern; eine solche Hülflosigkeit war eS nicht, was die Frauen an ihn fesselte.

Aber viel vom

Taffo steckte in ihm, dem Liebling aller Frauen.

„Sein Ohr vernimmt den Einklang der Natur; was die Geschichte reicht, das Leben giebt, sein Busen nimmt eS gleich und willig auf: das

weit Zerstreute sammelt sein Gemüth, und sein Gefühl belebt das Un­

belebte.

Oft adelt er, was uns gemein erschien, und das Geschätzte wird

vor ihm zu nichts.

In diesem engen Zauberkreise wandelt der wunder­

bare Mann, und zieht unS an, mit ihm zu wandeln, nehmen.

an ihm theilzu-

Er scheint sich uns zu nahn, und Geister mögen an unsrer

Stelle seltsam ihm erscheinen."

— „UnS liebt er nicht!

AuS allen Sphären trägt er, was er liebt

auf einen Namen nieder, den wir führen, und sein Gefühl theilt er unS mit: wir scheinen den Mann zu lieben, und wir lieben nur in ihm das

Höchste, waS wir lieben können." Die Gräfin Sanvitale beobachtet fein.

Etwas von dieser idealisi-

renden, poetischen Liebe, die vom Gegenstand einigermaßen unabhängig war, hatten Annette, Lucinde,' Friderike, Lotte, Lilli, Corona u. s. w. wohl empfunden.

Aber Frau von Stein war diese Selbstbeobachtung neu und

fremd: gegen sie war er nicht so gewesen, er hatte ihr willenlos zu Füßen

gelegen, im tiefsten Herzen abhängig von jedem ihrer Blicke, gehorsam

jedem ihrer Winke. Hatte er auch sie getäuscht! auch gegen sie seine Empfindung über­

trieben?

Denn die wilde Leidenschaft, in die Tasso zuletzt ausbricht, ist

ihm nicht natürlich; er empfindet sich in sie erst hinein, und eS erfolgt

eine tolle Reaction.

Hatte die Princessin am Ende Recht, wenn sie

scherzhaft deS Dichters Herz zwischen den beiden Leonoren getheilt schilderte? und Unrecht,

jüngere,

wenn sie ihm Gleichgültigkeit, ja Abneigung gegen die

schönere Rivalin

vorwarf?

Sie selbst,

der zuerst

Tasso'S

unbedingte Huldigung galt, erkannte sie sich denn auch zuletzt in diesem Bilde? — „Ihre Neigung zu dem weichen Manne ist ihren andern Leiden­

schaften gleich.

Sie

leuchten wie

der

stille Schein des Monds dem

Wandrer spärlich auf dem Pfad zu Nacht; sie wärmen nicht, und gießen keine Lust nach LebenSfreud' umher." —

Ihre Neigung sollte nicht wärmen? sie sollte matt sein wie kränklich? — So hatte, nach der Auffassung deS Dichters, die ältere Freundin am Ende mit dem Jüngling ebenso gespielt wie die jüngere!

197

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

--------- „Sie wird mich gern entlassen, wenn ich gehe, wenn es zu

meinem Wohl gereicht. — O fühlte sie eine Leidenschaft Im Herzen, die

mein Wohl und mich zu Grunde richtete! willkommener ergriffe mich der Tod, als diese Hand, die kalt und starr mich von sich läßt." — Welcher

Undank! — Goethe war es vielmehr, der zu ihrem tiefen Schmerz sich von ihr losgerissen hatte!

Möllere hatte im „Misanthrop" einen ähnlichen ThpuS zu zeichnen versücht, der noch heute bei den Franzosen als sein Meisterstück gilt. Wir Deutsche können das nicht leicht nachempfinden; im Grunde hat der

„Misanthrop"

in all' seinen Urtheilen Recht: die Leute, gegen die er

auftrttt, sind schlechtes, unbedeutendes Gesindel; die einzige interessante

Person ist eine herzlose Coquette.

Wer mit dieser Welt nicht lügen will,

muß Misanthrop werden.

So einfach liegt die Sache im Tasso keineswegs.

Im Grunde alles

gute, brave, gebildete Leute, die man achten, mit denen man gern ver­

kehren mag; selbst die leichtfertigste unter ihnen, die Gräfin Sanvitale, ist doch überwiegend

Wo kommt nun der Ekel her vor

wohlgesinnt.

dieser Welt, der uns nicht blos aus der Seele des hypochondrischen Tasso, sondern aus dem ganzen Gedicht anweht? — Das Gefühl: diese schöne,

anständige, gebildete, wohlmeinende Welt mit kleinem Wollen und leichtem ist doch am Ende auch eine Sphäre, in der eine freie Seele

Entsagen

verzweifeln möchte!

„Die Menschen kennen sich einander nicht!

Nur die Galerensklaven

kennen sich, die eng an eine Bank geschmiedet keuchen; wo keiner was

zu fordern hat und keiner was zu verlieren hat: die kennen sich! wo jeder sich für einen Schelmen giebt, und Seinesgleichen auch für Schelmen

nimmt.

Doch wir verkennen nur die andern höflich, damit sie wieder

uns verkennen sollen." —

Freilich ist es nur der historische Tasso, den der Dichter so reden läßt, noch dazu in einem Augenblick halber Raserei; aber solche Farben

für die gesuchte Empfindung findet der Dichter nicht, wenn er nicht selber

im tiefsten Herzen darunter mitleidet.

Goethe selbst erzählt später, er

habe in dem Tasso deS Herzbluts mehr als billig tranSfundirt.

„Wundern kann ich mich nicht, daß die Menschen die Hunde so lie­ ben:

denn ein erbärmlicher Schuft ist wie der Mensch, so der Hund!"

DaS ist nicht lange nach dem „Tasso" geschrieben, aber nicht im Namen „Tasso'S". Die Stimmung im Tasso

Werther.

ist

eigentlich viel bitterer,

als die im

Das ganze Leben sieht wie eine Krankheit auS: als ob Träume

die Menschen von einander sonderten, sie in dunkle Kammern einschlössen.

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

198

Man schaudert vor dem Blick,, der bis in die Tiefe des Abgrundes zu dringen scheint. Das Stück erweckt die tiefste Rührung, und doch weiß

man nicht

warum? — Im „Hamlet", an den sich „Tasso" in der Weltliteratur wohl am nächsten anreiht, versteht man den Hauch des Todes wohl, der

sich über die entsetzlichen Begebenheiten breitet; aber was geht eigentlich

im „Tasso" vor? — Man muß zum Verständniß die Stimmung erwä­ gen, in der Goethe den „Tasso" vollendete.

Das Verhältniß zu Frau v. Stein hatte einen traurigen Abschluß

gefunden.

Um sich von beit ewigen Aufregungen zu erholen, machte sie

eine Reise nach Süddeutschland zu Sophie Laroche; sie ließ Goethe einen bittern Brief zurück.

„Er hat mich", schreibt dieser 1. Juni, „aus

mehr als eine Weise betrübt.

Ich zauderte zu antworten, weil eS in

einem solchen Falle schwer ist, aufrichtig zu sein und nicht zu verletzen. —

Wie sehr ich Dich liebe, habe ich durch meine Rückkunft auS Italien be­ wiesen . .

Was ich in Italien verlassen, mag ich nicht wiederholen, Du

hast mein Vertrauen darüber unfreundlich genug ausgenommen.

Leider

warst Du, als ich ankam, in einer sonderbaren Stimmung, und ich ge­

stehe aufrichtig, daß die Art, wie Du mich empfingst, mir äußerst emfindlich war...

Ich mußte mir hartnäckig wiederholen lassen, ich hätte

nur wegbleiben können, ich nähme doch keinen Theil an den Menschen

u. s. w. — Und das Alles,

ehe von einem Verhältniß

die Rede war,

daS Dich so sehr zu kränken scheint. — Und welch ein Verhältniß ist es?

wer wird dadurch verkürzt? wer macht Anspruch die ich dem armen Geschöpf gönne? ...

an die Empfindungen,

Es müßte durch ein Wunder

geschehen, wenn ich allein zu Dir daS beste, innigste Verhältniß verloren

haben sollte.

Aber die Art, wie Du mich bisher behandelt hast, kann

ich nicht dulden.

Wenn ich

gesprächig war, hast Du

mir die Lippen

geschlossen, wenn ich mittheilend war, hast du mich der Gleichgültigkeit, wenn ich für Freunde thätig war, der Kälte und Nachlässigkeit beschul­ digt.

Jede meiner Mienen

hast Du controllirt, meine Bewegungen,

meine Art zu sein getadelt, und mich immer mal ä mon aise gesetzt.

Wo sollte da Vertrauen und Offenheit gedeihen, wenn Du mich mit vor­ sätzlicher Laune von Dir stößest! — Ich möchte gern noch manches hin­

zufügen, wenn ich nicht befürchtete, verfaffung

eher beleidigen

daß es Dich bei Deiner GemüthS-

als versöhnen könnte. — Unglücklicherweise

hast Du schon lange meinen Rath in Absicht des Kaffees verachtet.

ES ist

nicht genug, daß es schon schwer fällt, manche Eindrücke moralich zu über­ winden, Du verstärkst die hypochondrische quälende Kraft der traurigen

Vorstellungen durch ein physisches Mittel."

199

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

Der Brief war hart, er stieß Charlotten ins Herz. übte Nothwehr,

er konnte das Verhältitiß nicht

Aber Goethe

Der

länger ertragen.

Brief war hart, aber nicht höhnisch; er war durchaus ehrlich und auf­

richtig gemeint; auch die Warnung vor dem Kaffee, den Goethe einmal für Gift hielt.

Der Brief war hart, aber er hatte dem Absender viel­

leicht ebenso viel Schmerz gemacht als der Empfängerin. „Nicht leicht ist mir ein Blatt so sauer geworden!

8. Juni.

Indeß

ist doch wenigstens die Lippe geöffnet. — Wenn bei uns alles folgenlos

wird, wenn man hier fast seinen. Menschen nennen kann, der in seinem Zustand behaglich wäre, so gehört schon Kraft dazu, sich aufrecht in einer gewissen Thätigkeit zu erhalten

und sich

nicht nach und nach zu lösen;

wenn aber gar ein übles Berhältniß zu dem Nächsten entsteht, so weiß man nicht mehr, wohin man soll.

Es schmerzt mich unendlich, Dich unter

diesen Umständen noch so tief zu betrüben . . will ich nichts sagen.

Zu meiner Entschuldigung

Nur mag ich Dich gern bitten: hilf mir selbst,

daß das Verhältniß, das Dir zuwider ist, nicht ausarte,-sondern stehen bliebe wie es steht!

Schenke mir Dein Vertrauen wieder, sieh die Sache

aus einem natürlichen Gesichtspunkt an, erlaube mir. Dir ein gelassenes Wort darüber zu sagen, und ich kann hoffen, es soll sich Alles zwischen

lins rein und gut Herstellen."

Auch der Brief war ernst und ehrlich gemeint; es stand völlig in der Macht der alten Freundin, Christiane in die zweite Stelle zurückzu­

drängen.

Sie hatte herrliche Erinnerungen, an denen sie zehren durfte:

sie tonnte echte Freundschaft finden.

Aber ihr

Stolz bäumte sich

auf

gegen das Mädchen aus dem Volk, und wilder Haß bemächtigte sich ihrer Seele.

Wäre sie nur Goethes Freundin gewesen, so war ihr Verhalten

der reine Wahnsinn.

Aber sie hatte mehr gehabt; es hatte sie große

Kämpfe gekostet, ehe sie das einging; nun bot ihr Goethe, was sie ihm

zuerst geboten, die reine Frermdschaft; da empörten sich ihre Eingeweide, und in der zurückhaltenden Weltdame brach die ursprüngliche wilde Natur

hervor.

Sie war nicht vornehm genug, ihren Groll in sich zu verschließen; leidenschaftlich genug, ihn viele Jahre festzuhalten.

In den nächsten Jah­

ren sahen sie sich garnicht: dann glich sich äußerlich das Verhältniß wie­ der aus; aber wo es irgend anging, sprach sie sich bitter und höhnisch

über Goethe aus, der doch der Mittelpunkt ihres Sinnens blieb.

Aller

böswillige Klatsch gegen Goethe fand in ihrem Hause bereitwillige Auf­ nahme und geschäftige Verbreitung; das Unglück hatte sie nicht besser

gemacht. „Wohl ist sie schön, die Welt!

In ihrer Weite bewegt sich so viel

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

200

GuteS hin und her. sich

zu

entfernen

Ach daß es immer nur um einen Schritt von uns

scheint,

und unsere lange Sehnsucht durch das Leben

auch Schritt vor Schritt bis nach dem Grabe lockt! daß die Menschen finden, was ihnen doch

bestimmt

So selten ist es, gewesen schien,

selten, daß sie das erhalten, was einmal die beglückte Hand ergriff!

so Es

reißt sich los, was erst sich uns ergab, wir lassen los, was wir begierig faßten. — Es giebt ein Glück, allein wir kennen's nicht: wir kennen's

wohl, und wissen's nicht zu schätzen." Tief erschüttert über dies Scheiden, athmete Goethe dennoch auf, da

er der schwülen Luft des „Tasso" entfloh.

„Nun", schreibt er 10. August

an Herder „sind wir frei von der Leidenschaft, solch eine consequente Eom-

position zu unternehmen: die Fragmentenart erotischer Späße behagt mir besser."

Er arbeitete die „Römischen Elegien" aus, ein lieblicher Blumen­

kranz griechischer Bilder, halb Nachklänge aus der römischen Zeit, halb zu Ehren des neuen Liebchens gewunden.

„Laß Dich, Geliebte! nicht reue», daß Du mir so schnell Dich er­ geben !

Glaub es, ich denke nicht frech, denke nicht niedrig von Dir. . .

Reizendes Hinderniß will die rasche Jugend; ich liebe, mich des versicher­ ten Guts lange bequem zu erfreun."

Er besingt die Göttin Gelegenheit: „einst erschien sie auch mir, ein bräunliches Mädchen, die Haare fielen ihr dunkel und

reich

über

die

Stirne herab; kurze Locken ringelten sich um's zierliche Hälschen, unge­ flochtenes Haar brauste vom Scheitel sich auf.

Und ich verkannte sie nicht,

ergriff die Eilende: lieblich gab sie Umarmung und Küsse bald mir ge­

lehrig zurück."

Zwischen Fama, der Göttin des Ruhms, und Amor ist eine bestän­ dige Fehde: „wie sie sich Helden erwählt, gleich ist der Knabe darnach.

Wer sie am höchsten verehrt, den weiß er am besten zu fassen, und den Sittlichsten greift er am gefährlichsten den bringt

er vom

an.

Will ihm Einer entgehen,

Schlimmen in's Schlimmste . .

schämt, der muß erst leiden. . .

Wer sich

seiner

Aber auch sie, die Göttin, verfolgt ihn

mit Augen und Ohren . . strenge vcrruft sie das Haus. . .

Uud

so

geht es auch mir: schon leid' ich ein wenig; die Göttin, eifersüchtig, sie forscht meinem Geheimnisse nach." „Schwer wird es mir, ein schönes Geheimniß zu wahren!

Lippen entquillt Fülle des Herzens so leicht!

Ach den

Mein Entzücken, dem Hain,

dem schallenden Felsen zu sagen, bin ich endlich nicht ping, bin ich nicht einsam genug.

Dir Hexameter, dir Pentameter, sei es vertrauet, wie sie

des Tags mich erfreut, wie sie des Nachts mich beglückt . . . und blühet, geliebte Lieder!

Wachset

und wieget euch im leisesten Hauch lauer

201

Aus der Blüthezeit der deiltscheu Dichtung.

und liebender Lust, und entdeckt den Quirilen geschwätzig eines glücklichen

Paars schönes Geheimniß zuletzt."

In diesem Schwelgen in den Italienischen Erinnerungen mußte ihm, was Herder aus Italien schrieb, halb verrückt vorkommen.

ist kein

„Rom

Ort

Jahren ist hier zu suchen;

für mich.

Alles

Eine Welt von drittehalbtausend so weit

liegt

einander und hat

aus

Ideen neben und vor sich, daß ich mir jeden Tag unwissender dünke . .

Rom erschlafft die Geister, es ist ein Grab des Alterthums, in dem man sich gar zu bald an ruhige Träume und an den lieben Müßiggang ge­

Man fühlt sich wie in einer Tiefe, in der man nicht viel weiter

wöhnt.

kommt, je mehr man mit Händen und Füßen strebt.

Die Fäden, die

sich aus Rom in alle Geschäfte schlingen, sind so vielartig, daß es. besser ist, zu guter Zeit sie aus den Händen zu lassen und nur deu Knäuel in

seinem Gemüth

zu behalten. . .

man ganz, weil

wozu das Denken?

Sein

Das Denken und die Mühe verlernt

sich immer der Gedanke

einziger

aufdrängt:

wozu

die Mühe?

Es ist doch Alles ein Traum!"

Trost

ist

Angelica

Kaufmann,

„dies

seltene

jungfräuliche Kunstwesen; eine wahre himmlische Muse voll Grazie, Be­ scheidenheit und einer ganz unnennbaren Güte des Herzens; dabei viel­ leicht die cultivirteste Frau in Europa."

In Neapel besserte sich seine Stimmung etwas. Rom befreit,

fühle ich mich wie einen ganz

geboren an Leib

Ort. . . unsinnlich,

hätte.

und Seele.

Ich lebe in der

Rom

„Vom drückenden

andern Menschen, wieder­

ist eine Mördergrube

gegen diesen

höchsten Sinnlichkeit

von außen so ätherisch

daß ich selbst in Deutschland keinen

Begriff davon gehabt

Wo Alles

sinnlich ist, wird man unsinnlich;

man sucht mit der

Seele etwas, das man mit den Sinnen nicht findet. Aus einer Unzufriedenheit fiel er in die andere.

„Zartheit und Nach­

giebigkeit", sagte Goethe zu Caroline, sind seine Eigenheit, und nun leidet

er darunter . . Daher kommt's manchmal, daß er nachher am unrechten Ort das Rauhe hcrauskehrt."

Freilich machte es Goethe in Weimar

nicht anders.

Die italienische Reise war 'im Ganzen für Herder eine falsche Ten­ denz: für einen ältern, kränklichen, hypochondrischen Mann von schwachen

Augen war der Genuß zu angreifend.

Zudem wollte er nicht wie Goethe

incognito leben sondern als Prälat auftreten; das kostete Geld, und er

wußte sich auch darin nicht zu helfen.

Er war von den Launen seines

Reisegefährten und mehr noch von der Maitresse desselben abhängig, und verstand nicht, sich aus dieser falschen Position zu ziehn.

Wieder spricht Caroline Herder in den Briefen an ihren Mann

Aus der Blüthezeit der deutsche» Dichtung.

202

mit großer Wärme von Goethe; nach Herder's Gefühl Wärme.

mit zu großer

Sie ertheilt ihm in Goethe's Namen Rathschläge, wie er sich

zu benehmen habe.

Der fünf Jahre jüngere

Schüler, will ihn bevormunden!

Mann, sein ehemaliger

Und dabei nennt ihn dieser nur fünf

Jahre jüngere Mann einmal den „guten Alten!"

Die Art, wie Herder

das aufnimmt, ist für den Unbctheiligten äußerst komisch, aber es wirft

ein Streiflicht auf seine Natur und zeigt, wie schwierig es war, mit ihm Die Art, wie er für,sich sorgen ließ und doch

dauernd zu verkehren.

darüber empfindlich war, ist ganz Tasso. „Verdrießlich fiel mir stets die steife Klugheit, und daß er immer Anstatt zu forschen, ob des Hörers Geist nicht

nur den Meister spielt.

schon für sich auf guten Spuren wandle, belehrt er Dich von manchem,

tiefer fühltest . . . Verkannt zu sein, verkannt von

das Du besser und

einem Stolzen, der lächelnd Dich zu übersehen glaubt!

Ich bin so alt

noch nicht, daß ich nur duldend gegen lächeln sollte!" —

15. März erhielt Herder von Heyne den förmlichen Antrag einer

Professur in Göttingen; dort war alles für ihn eingenommen, auch Planck und Spittler verwandten sich lebhaft für ihn. Für Weimar und Jena wäre es ein schwerer Schlag gewesen. Goethe warnte den Freund.

„Hier ist zu rechnen und nicht zu fühlen, zu erwägen

und nicht in einen Lostopf zu greifen.

macht mir bange.

Dein und Deiner Frauen Zustand

Wenn ihr euch nicht im Glauben und Zutrauen an

einem Freund halten mögt, den ihr lange genau kennt, so seid ihr in Ge­ fahr, euch auf Zeitlebens zu Grunde zu richte«.

Bedenke, daß Dr« nicht

als ein junger Mensch Dein einzeln Schicksal aufs Spiel setzest, sondern

daß Du in Jahren, mit einer großen Familie Dich veränderst, und daß Dein Gemüth, wie das Deiner Frau nicht aushalten würde, wenn der

Göttinger Zustand mißlingen sollte."

Ruhig zu erwägen,

war

noch Carolinen's Art;

weder Herder's

sie waren in der äußersten Aufregung und kamen zu keinem Entschluß.

Goethe veranlaßte — mitten in der Arbeit am Tässo — den Herzog

zu Anerbietungen,

genug

waren,

und

die

sehr bedeutend klangen,

deren

Tragweite

keiner

der

aber nicht

bestimmt

Betheiligten

völlig

übersah. Herder empfing sie 31. Mai in Bologna; dazu einen sehr herzlichen Bries der Herzogin Luise.

Er vertagte die Entscheidung.

9. Juli kam

er in Weimar an, wo man ihn zum Vicepräsidenten des Consistoriums ernannt hatte.

Verschiedene Kränkungen und Mißverständnisse,

die er

schwerer nahm als nöthig, machten ihn mißmüthig; er wußte nicht, wem

er trauen sollte.

Daß Goethe ihn davon abhielt, daö Geschäft contractlich

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

zu ordnen, machte die Sache noch unklarer.

203

Erst Ende September schrieb

er definitiv in Göttingen ab.

In Weimar gab er Anstoß, daß er die Schicksale seines Lebens auf die Kanzel brachte. Schiller.

„Noch ein Beispiel von seinem Savoir-vivre!" schreibt

„Bei der Tafe.l der Herzogin nannte er den Hof einen Grind­

kopf und die Hofleute die Läuse, die sich darauf herumtummelten." —

lind das in den Tagen des Bastillesturms!

Wenn Herder dem alten Freunde wiederholt den Tasso-Thpus ver­ trat, so fehlte es nicht an Exemplaren derselben Gattung in der Nähe.

„An der innern Wahrheit der dargestellten Charaktere ist nicht zu zweifeln.

Tasso lebt zwiefach für uns in Rousseau und noch Jemand,

dessen Bild bei seiner Trennung von uns mich nicht verlassen hat." So

Huber an Körner.

„Ich weiß sehr gut, was ich Dir bin, und es be­

schämt mich nicht, daß ich durch das Sinken eines Andern bei Dir gestiegen bin."

Huber war April 1788 als kurfürstlicher Legationssecretär nach Mainz

gegangen;

vorher hatte er sich mit Körner's Schwägerin, der Malerin

Dora Stock verlobt. Der Andre, der noch Jemand ist Schiller, den Huber auf der

Reise aus Dresden, aber nur im Fluge gesehen hatte. vollgültig, Körner urtheilt im Grund ebenso.

Das Zeugniß ist

Schiller hat in der That

die Tasso-Stimmung durchgemacht, aber er hat sich in seinen reiferen

Jahren völlig davon befreit.

6. Akai schlug ihm Körner eine reiche Partie vor.

„Ich zweifle, ob

Du Talent zur häuslichen Glückseligkeit hast, und in diesem Fall würde ich ein liebenswürdiges Geschöpf bedauern, das Dich durch innern Werth

reizte, aber doch nicht auf immer fesseln konnte." Seit lange hatte Körner mit seiner Familie einen Besuch in Aus­

sicht gestellt; Schiller, sehr erfreut, war doch in einiger Unruhe über die Berührung desselben mit Frau v. Kalb. Die Lengefeld'schen Schwestern, die Jena 10. Juli berührten, fanden wenig Gelegenheit zum ruhigen Ver­

kehr.

Schiller schreibt ihnen 24. Juli nach Lauchstädt, wo sie sich auf­

hielten, einen gefühlvollen Brief, doch ohne bestimmte Erklärung.

„Sie

glauben nicht, wieviel Muth ich brauche, dies freundlose Dasein hier fort­ zusetzen!

Meinem Herzen fehlt es an einer beseelenden Berührung, und

durch keinen Gegenstand um mich her geübt, verzehrt sich mein Herz an wesenlosen Idealen". —

Die Sache hätte noch lange fortgehen können, wenn sich nicht Caro­ line entschlossen hätte, ein Ende zu machen.

Sie nahm 2. August in

Lauchstädt Schiller bei Seite uud wies ihm nach, daß er Lotte und daß

204

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

Lotte ihn liebe.

Schiller erhielt in Jena 5. August von Lottchen schrift­

lich die Bestätigung.

Man beschloß, vor der Mutter die Sache vorerst geheim zu halten —

vielleicht weil Caroline sie gleich mit der Nachricht überraschen wollte, sie sei Willens, sich von Beulwitz scheiden zu lassen. Schiller's Briefe nach der Verlobung klingen mitunter recht seltsam,

es sieht so aus, als wolle er beide Schwestern heirathen, seelisch.

„Ihr seid mein!

wenigstens

O wie sehnlich wünsche ich, daß Ihr mich

ganz durchschaut haben möchtet, alle meine Schwächen gesehen und mich dennoch gewählt . . . Dein Brief, theuerste Caroline! hat meine Seele

tief bewegt

Aber vor meiner Seele steht eS verklärt und hell, welcher

Himmel in der Deinigen mir bereit liegt ..."

Gegen Körner, der grade in den Tagen der Verlobung seinen Be­ such in Jena auSgeführt hatte und verstimmt abgereist war, hatte Schiller

kein gutes Gewissen.

„WaS wir im stillen Umgang mit einander hätten

abmachen können", schreibt er ihm 31. August, „war bei diesem geräusch­

vollen Zusammensein freilich nicht möglich.

Wir schieden fast wie im

Traum, und ich hätte Dir gern tausend Dinge gesagt, die mir zu spät einfielen."

„Daß Du Dich", antwortet Körner 7. September, „unseres Zusam­ menseins mit Vergnügen erinnert, war mir um desto lieber, da ich wirk­

lich schon auf den Gedanken gekommen war, als ob diese Zusammenkunft unS mehr entfernt als genähert hätte.

Du wirst mich verstehn und kannst

mir glauben, daß ich auch Dich verstanden habe." — Er grollte dem Freunde, daß er ihm wegen seiner Verlobung auch jetzt nur ein halbes

Vertrauen schenkte. „Ich werde mich hüten", schreibt Schiller an die Schwestern, die er 18. September in Rudolstadt besuchte, „ihm Aufschluß zu geben. Brief an ihn enthielt meine Seele nicht.

Mein

Es ist mir jetzt auf eine Zeit­

lang viel Freude entzogen, daß ich mein Herz nicht gegen ihn reden lassen

kann — aber wie vieles macht Ihr mich vergessen!" „Ich bin", schreibt Schiller 11. September an Lottchen,

„jetzt in

einem recht guten Verhältniß mit Frau v. Kalb, und wünsche, daß es so bleiben möchte.

Sie hat auf meine Freundschaft die gerechtesten An­

sprüche und ich muß sie bewundern, wie rein und treu sie die ersten Em­ pfindungen unserer Freundschaft in so sonderbaren Labyrinthen, die wir

mit einander durchirrten, bewahrt hat.

Sie ahnt nichts von unserm Ver­

hältniß, auch hat sie, mich zu beurtheilen, nichts als die Vergangenheit,

und darin liegt kein Schlüssel zu der jetzigen Stimmung meines Gemüth-. Aber sie ist mißtrauisch und auch die Freundschaft kann empfindlich sein.

Aus bet DliitheM der deutschen Dichtung.

205

Ihr begreift also wohl, wie wenig ich wünschen kann, sie in unserm Kreise

zu sehen." „Uebrigens macht sie mich doch etwas verlegen.

Das Verhältniß,

worin sie sich mit ihrem Mann versetzen will, hat mich ihr in gewissem

Betracht unentbehrlich gemacht.

Sic verlangte und konnte mit Recht ver­

langen, daß ich nach Weimar kommen

und die Lage mit ihr berathen

sollte. — „Aber — —" Er hatte keine Zeit! und schlug ihr vor, nach Jena zu kommen.

übcrzengt.

Sie lehnte ab.

Ihre Lage ist

„Zum Theil haben mich ihre Gründe

jetzt doppelt dclicat,

daß die Sache unbeachtet bleiben werde.

und

sie glaubt nicht,

Ich habe nun das Meinige

gethan." „Mit der Kalb", schreibt er 28. Seprember an Körner, wahrscheinlich zur Scheidung kommen.

„wird cs

Auf den Brief, den sic ihrem Mann

darüber schrieb, hat er so geantwortet, daß er ihrem Willen nicht Gewalt anthun wolle, und die Hindernisse, die er entgegensetzt, hat sie durch einen Er beruft sich auf eine Liebe, die sic ihm nie

neuen Brief widerlegt.

gezeigt und nie für ihn gefühlt hat, und auf die (einige, die sie nie er­ fahren hat.

Sein Brief zeigt Delicatcsse und Empfindung, aber er ist

schlaff und verbessert seine Sache nicht." Sie erlebte schreckliche Scenen:

man wollte ihr die Kinder nehmen.

Wenn Schiller fürchtete, die Stein möge plaudern, beruhigte ihn Lottchcn.

„Wenig Menschen können unser Verhältniß so ahnen wie es

ist, und zumal was Du mjr bist; ich kann es Dir ja selbst nicht be­ schreiben".

Aber etwas Anderes beunruhigte sie. — „Schon bei Deinem

vorjährigen Aufenthalt" schreibt sie ihm 28. October, „kam mir zuweilen

ein Mißtrauen an mich selbst an, und der Gedanke, daß Dir Caroline mehr sein könnte als ich, zog mich auch mehr in mich zurück.

Ich fürchtete

lästig zu sein." „Soll ich es Dir gestehn?" erwidert Schiller. nicht mehr für ganz frei.

„Ich hielt Dich

Eine frühere Neigung, fürchtete ich, hätte Dich

gebunden." An Caroline an demselben Tag:

„Den schönsten Strahl möchte

ich nehmen vom Licht der Sonne wie Iphigenie, und ihn vor Dich nieder­ legen, das Reinste in der Natur, rein, wie Du selbst bist, und in seiner

Einfachheit unvergänglich wie Deine Seele! . . Ich kann Dir nicht sagen, nicht Worte finden, wie meine Seele Dich umfaßt!

Alle meine Gedanken

umschlingen Dich, und könnte ich nur, in welcher Gestalt es auch sei, wär'

es nur mit diesem Herzen, um Dich wohnen!" — Solche überschwängliche

Aeußerungen gegen die künftige Schwägerin mußten der Braut zu denken Preußisch« Jahrbücher.

XLVI. Heft 2.

15

206

AuS der Blüthezeit der betitschen Dichtung.

geben; Schiller hatte wohl Grund zu der Aeußerung, es sei überflüssig,

daß die Schwestern ihre Correspondenz einander mittheilten.

Caroline hat später ihre eigenen einige haben sich erhalten.

Briefe an Schiller verbrannt;

Hier eine merkwürdige Stelle:

„In unserm

Herzen däucht es mir ein schöner Irrthum, daß wir die Gänseblumen mit gleicher Liebe wie die Gebern umfassen möchten.

Er deutet mir auf das

Dasein einer schönheitsreichen Welt, deren Ahnung unsere inneren Sinne Sich selbst hielt sie wohl nicht für ein Gänseblümchen.

ergriffen hat."

ES klang wirklich, als ob der wunderliche HerzenSconfliet aus Ja-

cobi'S „Woldcmar" sich zum zweiten Mal in einem Dichterleben abspielte: als ob eS Schiller ging wie Goethe's Tasso, bei dem das Bild der einen

Geliebten sich in das der andern verwob. 15. November.

„Unsere Liebe

braucht keine

Wachsamkeit.

Wie

könnte ich mich zwischen Euch beiden meines Daseins freuen, wenn meine Gefühle für Euch beide, für jede von Euch, nicht die süße Sicherheit hätten, daß ich der Andern nicht entziehe, was ich der Einen bin. .. Ca­ roline ist mir näher im Alter, und darum auch gleicher in der Gedanken­

form; sie hat mehr Empfindungen in mir zur Sprache gebracht als Du, meine Lotte!

Aber ich wünschte nicht, daß dies anders wäre.

Was Ca­

roline vor Dir voraus hat, mußt Du von mir empfangen:

mein Ge­

schöpf mußt Du sein, Deine Seele muß sich in meiner Liebe entfalten,

Deine Blüthe muß in den Frühling meiner Liebe fallen!" Lottchen, 23 Jahre alt, konnte doch wohl glauben, bereits geschaffen

zu sein; eigentlich war sie bereits fertig. — Sie hatte schon die Idee, zu Gunsten ihrer

Schwester

zurückzutreten.

Sie theilt

diese Idee einer

Herzensfreundin mit, Caroline, der Tochter des Präsidenten v. Dache-

röden in Erfurt.

„Es ist ein Gedanke", antwortet diese, „werth in Deinem schönen

Herzen geboren zu sein, aber Du würdest dabei alle Kräfte Deines Lebens aufreiben. . .

Es ist ein Hirngefpinnst Deiner getrübten Phantasie. . .

Schiller's Herz umfaßt Euch beide, vermischt Euch, und doch steht Ihr

wieder

allein und verschieden in seiner Seele, jede in schöner eigner

Grazie.. .

Wenn Du die Idee nicht als eine krankhafte Vorstellung weg­

räumen kannst, so sei offen gegen Deinen Geliebten! . . O Lotte! ich

fürchte, Du umfaßt ein Ideal, daß Du nie beseffen hast!

Die Männer,

selbst die besten, können nicht lieben, wie wir, sie fühlen auch ihr Wesen,

während wir es vergessen haben." Nicht wenig hatte Frau v. Stein dazu beigetragen, Lottchen unruhig

zu machen. über Goethe:

Auf einem Besuch in Rudolstadt spricht sie mit Caroline

„es sind böse Reminiscenzen in ihr geblieben".

„Sie ist

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

207

ein verständiges Weib, aber für zarte Hcrzcnsverhältnisse ist ihr jetzt der Sinn verschlossen, sie ist ohne Glauben daran.

Diese Stellung der Ge­

müther wirkt Entfernung zwischen uns; ihr Zustand thut mir weh, und

ich kann ihr nichts geben; nichts tönt in ihrem Wesen wieder, dessen daS meine voll ist. . .

Nach ihren Erzählungen wird mir die Weimarische Ge­

sellschaft als ein Gewebe von Coquetterie, Rivalität und Armseligkeit

deutlich. . . mit ihr.

Die letzten Tage unseres Zusammenseins stimmte ich besser

Sie war in eine stille Trauer über ihr Verhältniß mit Goethe

gesunken, und da schien sie mir wahrer als in der widernatürlichen Stim­ mung der Gleichgültigkeit oder Verachtung.

Ein zwölfjähriges zärtliches

Verhältniß kann sich nicht in so widrige Empfindungen auflösen, ohne die

besten Kräfte des geistigen Lebens zu vernichten. — Sie ist aufgerieben

in sich. — Arme Seelei" Lottchen wünschte sehr, daß Schiller ihr näher träte.

„Sie fühlt

Deinen Werth." — In der That nähert sich Schiller immer mehr der

Stein, Goethe immer mehr der Kalb. „Die Kalb", schreibt Schiller 3. November, „ist doch ein seltsam

wechselndes Geschöpf, ohne Talent, glücklich zu sein: wie könnte sie geben,

was sie selbst nicht hat!

Vor ihrer Neugier muß man sich hüten, die

sie oft verleitet, sich selbst nicht zu schonen, und vor ihrer Starkgeisterei,

die sie leicht verführen kann, es mit den Lastern Anderer nicht genau zu

nehmen."

Nun kamen die beiden Schwestern in die Lage nach Weinjar zu gehen'und dort Frau von Kalb zu treffen.

„Es wird wunderliche Sce­

nen geben", schreibt Caroline an Schiller; „sie dauert mich, aber nach

allen Bildern, die ich von ihr fasse, danke ich dem Himmel, daß sie Deine

Frau nicht wird."

Sie verspricht ihm, jede Intimität zu vermeiden.

Schiller geht die bevorstehende Zusammenkunft sehr im Kopf herum. „Ich vermuthe, sie wird gegen Lottchen abgemessen sein. — Ich zweifle,

ob sie Wärme

geben kann. — Ihr lauernder Verstand, ihre prüfende

Klugheit, die auch die zartesten Gefühle zerschneidet, fordert einen immer auf, auf seiner Hut zu sein.

Sie hat mich immer mißverstanden, und

würde sich auch jetzt in meine neue Lage zu ihr garnicht zu finden wissen." Er will eö vermeiden, sie zu sehen.

Die Zusammenkunft findet 5. December statt; Frau v. Kalb ist gegen

Lottchen sehr entgegenkommend überrascht.

und freundlich.

Beide Schwestern sind

„ES ist wahr", schreibt Caroline, „der Ausdruck ihres Ge­

fühls elektrisirt nicht; sie hat gar keinen ungezwungenen Ton. mir nun

denken, wie Euer Verhältniß war,

anfänglich anzog."

Ich kann

aber nicht, wie sie Dich

Aus der Blülhezeit der deutschen Dichtung.

208

Schiller warnt wiederholt.

„Sie kann Dich", schreibt er 2. Dec.

an Lottchen, „nicht lieben, selbst wenn sie eö wollte!

verzeihen sich niemals.

Gewisse Dinge

Ihr Betragen bringt mich fast auf den Gedanken,

daß sie mein Verhältniß zu ihr noch nicht ganz aufgegeben hat." — Er

kam selbst nach Weimar, ohne Frau von Kalb zu besuchen, die sich über diese „Unhöflichkeit"

gegen Lottchen etwas indignirt aussprach.

befremdete es sehr",

meint diese:

„Mich

„ich besäße zu viel Stolz, über eine

Vernachlässigung mich, beleidigt zu zeigen."

Auch zwischen den Schwestern war noch nicht alles

in Nichtigkeit.

„Lina", tröstet Caroline v. Dacheröden ihr Lottchen, „wird ja auch wahr­ scheinlich bei Euch wohnen; ich glaube nicht, daß etwas sie an der Aus­

führung dieses Gedankens hindern kann." So auch Schiller an Körner, 12. December. sehr übel mit ihrem Mann.

„Die Beulwitz stimmt

Er ist ein recht schätzbarer Mann von Ver­

stand und Kenntnissen; dabei denkt er gut und edel, aber es fehlt ihm

an Delikatesse, und seine Frau weiß er nicht zu behandeln.

Sie hat

viel mehr Geist als er iyib eine ganz eigene Freiheit der Seele, für die

er nun ganz und garnicht gemacht ist." — Genau dasselbe Verhältniß

wie zwischen Frau v. Kalb und ihrem Gatten! — „Diesem Übeln Ver­ hältniß wird abgeholfen, wenn wir mit ihm und seiner Frau zusammen leben.

Wir Beide vertragen uns gut, und wenn die Beulwitz nicht auf

die Gesellschaft ihres Mannes eingeschränkt ist, so geht auch mit ihr alles

besser.

Im Hause haben wir Platz.

Frau v. Lengefeld war bisher nicht im Geheimniß; sobald fie es

erfahren, ertheilte sie in der würdigsten Art ihre Zustimmung, 24. Dec. Um diese zu erleichtern, hatte sich Schiller vom Herzog von Weimar ein

kleines Gehalt, vom Herzog von Meiningen den Hofrathstitel auSgewirkt; Coadjutor v. Dalberg in Erfurt sicherte ihm, sobald er als Kurfürst

in Mainz succedirt haben würde, eine glänzende Zukunft.

In Erfurt um Dalberg und Caroline von Dacheröden sammelte sich jetzt um Weihnacht die ganze Gesellschaft.

Von jener schreibt Lottchen

kurz vorher: „sie hat etwas so Erhabenes, daß eS mir oft ist, wenn ich bei ihr bin, als müßte ich vor ihr niederknien, als sei sie ein höheres

Wesen!. Wenn es viel solche Art Menschen gegeben hätte, so könnte ich mir recht gut denken, wie man auf die Ideen von Engeln und Halb­ göttern kam." Ueber das Verhältniß

zu Männern dachte sie ziemlich frei;

einige

ihrer Beziehungen hatten selbst in diesem Kreis, der darin doch nicht difficil war, Anstoß gegeben.

helm von Humboldt verlobt.

Eben hatte sie sich mit dem jungen Wil­

„Er sagt", schreibt die andere Caroline,

Ans der Blüthezeit der deutsche» Dichtiuig.

„daß er sie nicht liebe, doch glücklich mit ihr sein werde. sehr zartes Gewebe unter ihnen sein. . .

209 Es wird ein

Sie sind im Klaren zusammen

und einverstanden, daß die Heirath kein Band der Seelen ist; so werden sie sich nicht falsch begegnen."

Die Erfurter Zusammenkunft hatte bei Schiller keinen guten Eindrlick hinterlassen.

„Es ist mir gar lieb, daß auch ihr es gefühlt habt,

meine Lieben! wie wenig eigentlich bei unserm lärmenden Zusammensein

für unser Herz gewonnen ist.

Es war wirklich Zeit, daß wir uns trennten.

Nichts Schlimmeres konnte uns je begegnen, als in unsrer eignen Gesell­

schaft Langweile zu empfinden, und eö war nahe dabei.

Der Himmel

verschone uits davor, daß wir je alle zusammenleben!"

— „Humboldt ist mir zu flüchtig, zu sehr aus sich herausgerissen,

zu weit verbreitet; ich traue ihm viel Fläche lind wenig Tiefe zu.

Sein

Geist ist reich und geschäftig, sein Herz edel, aber ich vermisse in ihm die Stille der Seele, die ihren Gegenstand mit Liebe pflegt." werther erster Eindruck eines Mannes,

Bemerkens­

der Schiller einmal so nahe

treten sollte!

In derselben Zeit entschied sich Goethe'S Schicksal:

zu Weihnacht

schenkte ihm Christiane einen Knaben; wie es scheint, sein erstes Kind.

Bon dieser Zeit datirt er seine „Gewissensehe", die 27 Jahre dauerte. „Ich will nicht wagen", schreibt Herzogin Luise, an Lavater, „über Goethe zu urtheilen, weil die schönen Geister bisweilen unergründlich

sind."

— „Geht!

Ihr seid der Frauen nicht werth!

Wir tragen die Kinder

unter dem Herzen, und so tragen die Treue wir auch; aber ihr Männer,

ihr schüttet mit eurer Kraft und Begierde auch die Liebe zugleich in den Umarmungen aus!" — „Also sprach die Geliebte, und nahm den Kleinen

vom Stuhle, drückt' ihn küssend an's Herz, Thränen entquollen dem Blick. Und wie saß ich beschämt, daß Reden feindlicher Menschen dieses liebliche Bild wir zu beflecken vermocht!" — Nun da die Verlobung erklärt war, durfte Schiller auch dem Dres­

dener Freund zuversichtlicher entgegentreten.

„Du hast", schreibt ihm

Körner 27. Januar 1790, „nach Deinen individuellen Bedürfnissen ohne ärmliche Rücksichten eine Gattin gewählt. . .

Du bist nicht fähig, als

ein isolirtes Wesen blos für selbstsüchtigen Genuß zu leben.

Irgend eine

lebhafte Idee, durch die ein berauschendes Gefühl Deiner Ueberlegenheit

bei Dir entsteht, verdrängt zwar zuweilen eine Zeitlang alle persönliche Anhänglichkeit; aber das Bedürfniß, zu lieben und geliebt zu werden,

kehrt bald bei Dir

zurück.

Ich kenne die aussetzenden Pulse Deiner

Freundschaft; aber ich begreife sie, und sie entfernen mich nicht von Dir;

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

210

sie sind in Deinem Charakter nothwendig, und mit andern Dingen ver­ bunden, die ich nicht anders wünschte.

Mit Deiner Liebe wird es nicht

anders sein; und Deiner Gattin, wenn ich vertraut genug mit ihr wäre, eine solche Aeußerung zu wagen, würde ich nichts Besseres an ihrem Ber-

mählungstag wünschen können, als das Talent, Dich in solchen Momenten nicht zu verkennen."

— ES war daS letzte Grollen; wenig Tage darauf ist die alte schöne

Freundschaft völlig wtederhergestellt. nie von Dauer sein. wird

„Mißverständnisse unter uns können

DaS aufzugeben, waS wir einander sein können,

sich keiner von uns so leicht entschließen."

Fortan dauerte die

Freundschaft der beiden Männer unentwegt bis an den Tod. 11. Januar 1790 ist Lottchen wieder bei Frau v. Kalb, wieder sehr

freundlich und theilnehmend ausgenommen.

Aber nun geht das Geträtsch

in Weimar loS; man trägt Lottchen angebliche gehässige Aeußerungen ihrer Nebenbuhlerin zu, und bringt sie in Aufregung:

„ihre Eifersucht haben

viele hier bemerkt (4. Februar): wären wir zusammen in Italien, so könnte

mir ein Dolchstoß in eine andere Welt helfen.

Gut, daß unser rauhes

Klima unsre überspannten Köpfe mäßigt."

Nun verliert Schiller völlig die Haltung.

„Auch ohne italienischen

Himmel würde ich Dir nicht rathen, in gewisien Augenblicken mit ihr zusammenzutreffen:,

ich

weiß,

sie fähig ist.

wessen

Leidenschaft

und

Kränklichkeit haben sie manchmal an die Grenzen des Wahnsinns ge­ bracht."

Immer toller wird der Klatsch; man hat sie im Berdacht, Briefe zu

unterschlagen.

Frau v. Kalb bittet Schiller wiederholt um eine Zusammen­

kunft; er lehnt ab: er zweifle, ob sie jetzt die Stimmung schon gefunden habe, worin die Zusammenkunft erfreulich sein könne; er läßt seinen Ver­ dacht merken.

Sie antwortet, er irre sehr, wenn er ihr jetziges Betragen

mit jenem ungeschickten Traum in Zusammenhang brächte, der schon lange nicht mehr in ihrer Erinnerung sei.

DaS erzürnt ihn wieder, und um

sich zu rächen — so berichtet er ausdrücklich an Lottchen, schildert er ihr

in beredten Worten seine neue Liebe.

„Hat sie eS nicht durch die

Plattitüde verdient, womit sie ihre eigene Empfindung herabsetzt?

Sie

war nie wahr gegen mich, außer etwa in einem leidenschaftlichen Augen­ blick; mit List suchte sie mich zu umstricken."

Lottchen, die zuerst von diesen Briefen nichts wußte, geräth ganz außer Fassung,

als ihr die Kalb eine furchtbare Scene macht.

einmal (10. Februar) treffen sie sich bet der Stein:

Noch

„sie sah aus wie

ein rasender Mensch, bei dem der ParoxtSmuS vorüber ist, so erschöpft,

so zerstört.

Sie saß unter uns wie eine Erscheinung auS einem andern

Aus Der Blülhezeit der deillschen Dichtung. Ich fürchte für ihren Verstand.

Planeten.

211

Ich beklage sie wohl, aber sie

rührt mich nicht." 17. Februar gab Schiller Charlotte ihre Briefe zurück, sie hat sie

später vernichtet. — Man kann nicht sagen, daß Schiller in dieser Sache gut abschloß; er machte es weniger feinfühlcud als Goethe,

solche Ver­

hältnisse werden nicht gelöst, ohne daß beide Theile einigermaßen schuldig

werden.

Schiller war in die Leidenschaft hineingezogen, er wußte nicht

recht wie; eine Verpflichtung nach der andern hatte sich ihm aufgedrängt und lastete auf ihm.

Er fand nicht die rechte Form, sie abzuschütteln;

die Unruhe darüber machte ihn hart, ungerecht

und weitigsteits einen

Augenblick ungenteel. Es spricht für beide Theile, daß sehr bald ein leidliches, in wenig

Jahren ein ziemlich herzliches Verhältniß sich wiederherstellte.

Charlotte

hatte bei allen Fehlern etwas Hochherziges, und Schiller war ihr dank­

bar, obgleich er sein Urtheil über sic nicht änderte. 22. Februar wurde Schiller in Jena getraut.

„Die Veränderung

ist so unmerklich vor sich gegangen, daß ich selbst erstaune.

Ich bin noch

Meinem künftigen Schick­

iin Taumel, und mir ist herzlich wohl dabei.

sal sehe ich mit heiterem Muth entgegen, jetzt da ich am Ziel stehe, er­ staune ich selbst, wie alles über meine Erwartungen gegangen ist.", „Gebe der Himmel", schreibt Wieland, „daß der Ehestand dazu

beitrage, Schiller von der Ueberspannung zu heilen, die ihm bisher in manchem Betracht nachtheilig, wiewohl der Grund seines großen Nuss

gewesen ist.

Sobald er in sich selbst zu einer gewissen Ruhe gekommen,

ivird er unfehlbar einer der größten Männer unserer Zeit sein, wie er

einer der besten Menschen ist, die ich kenne."

Als Frau v. Stein einmal

gegen ihn den Engelscharakter Lottchen's rühmte, sprang Wieland auf

und rief: dafür müsse er ihr die Hand küssen!

ES war doch wohl auch ein Glück für das junge Ehepaar, daß sich

im Hause kein Platz für die Familie Beulwitz fand.

Schwägerin Ca­

roline fand für ihr Herz zunächst eine andere Nahrung: sie wandte ihre

Neigung eiuem geistlichen Herrn, dem Coadjutor v. Dalberg zu. 30 Jahre war Schiller alt, da er heirathete.

14 Jahre dauerte

die edle und glückliche Ehe; nicht die leiseste Spur einer Herzensirrung kommt in dieser Periode vor.

Er lebt nur mit seinem Lottchen, die an­

deren Damen müssen sich mit dem bescheidenen Platz begnügen, der guten

Freundinnen zukommt. Schiller ist derjenige Dichter, der die Ansicht des deutschen Publi­

kums über den häuslichen Beruf des Weibes hauptsächlich fixirt hat; seine „Würde der Fratien", seine „Glocke"

sind

noch heute

in Aller Mund.

212

Aus der Blüthezeit der deutschen Dichtung.

ES ist erfreulich, zu verfolgen, wie fein Leben mit seiner Dichtung sich deckte.

Als unerfahrner Jüngling hatte er sich zeitweise über sich selbst

getäuscht: auch sein Beruf wie seine Natur lag im Sittlichen.

„Mir kommt vor", hatte er schon Nov. 1788 an Lottchen geschrieben, „daß die Frauen

geschaffen sind, die liebe heitre Sonne auf dieser

Menschenwelt nachzuahmen, und ihr eignes und unser Leben durch milde Sonnenblicke zu erheitern.

Wir stürmen und regnen und schneien und

machen Wind; Ihr Geschlecht soll die Wolken zerstreuen, die wir auf Gottes Erde zusammengetrieben haben, den Schnee schmelzen und die

Welt durch ihren Glanz wieder verjüngen." Julian Schmidt.

Die Chamäleonsnatur des Ultramontanismus. Politische Correspondenz.

Berlin, 8. August 1880. Bon den zahlreichen und für die Entwickelung Europa'S wichtigen Gedenktagen des Jahres 1880 ist nur einer von den Nächstbetheiligten mit fast ängstlicher Sorgfalt ignorirt worden: wir meinen den zehnjährigen

Jahrestag der feierlichen Verkündigung des Dogma'S der päbstlichen Un­ fehlbarkeit durch Pabst Pius IX. am 18. Juli 1870.

Die katholische Presse

in Deutschland hat kein Wort der Erinnerung an die bedeutungsvolle

Thatsache gehabt, daß an demselben Tage, an dem die französische Re­ gierung Preußen und dessen Verbündeten den Krieg erklärte, Pius IX., unter

den Blitzen und

dem

Donner eines die Siebenhügelstadt

schütternden Gewitters feierlich das von dem

vatikanischen

er­

Concil be­

schlossene Decret vorlas, welches nichts anderes ist und sein sollte als eine

Kriegserklärung des Pabstthums an den modernen Staat, die Ankündigung einer neuen Phase in dem alten Kampfe Rom's um die Weltherrschaft.

Das Ideal der Theokratie, welches Gregor VII. und Bonifacius VIII. vor der Reformation zu verwirklichen getrachtet hatten mit geistigen und vor

allem mit weltlichen Mitteln, sollte jetzt durch eine absolutistische auf die

Unfehlbarkeit des römischen Bischofs gegründete Kirchengewalt in die Praxis eingeführt werden.

Der Verlust der weltlichen Herrschaft, welche in Folge

der Constituirung des italienischen Königreichs auf Rom und das städtische

Gebiet beschränkt war, hatte das Pabstthum von jeder Rücksicht auf die politischen Verhältnisse entbunden und den Ausspruch Thiers' bestätigt:

„Nur der Kirchenstaat hielt noch den Pabst im Zaum; ein Mönch ohne

Pflichten gegen den Staat würde sich allmächtig dünken."

Die unbe­

dingte Herrschaft des geistlichen Hauptes der katholischen Kirche über die Gläubigen aller Nationalitäten sollte der Hebel sein, mit dessen Hülfe

das Pabstthum die Staaten nöthigen würde,

das Postulat der Bulle

Unam sanctam Bonifacius' VIII. zu realisiren:

„die zwei Gewalten,

die weltliche und die geistliche, sind in der Macht der Kirche, d. h. des

Pabstes, welcher jene — die weltliche — durch Köüige und Andere, aber

Die Chamäleonsnatur des MtramontauiSniuS.

214

nach seinem Winke und solange er sie duldet, verwalten läßt.

Der geist­

lichen Macht steht es gemäß der von Gott an Petrus verliehenen Diacht­

vollkommenheit zu, die weltliche Gewalt einzusetzen und, falls sie nicht gut ist, zu richten; wer sich diesen ihren Geboten widersetzt, ist ein Empörer

wider Gottes Stiftung."

Vor und unmittelbar nach dem Concil ist über die Frage, ob die Verkündigung der päbstlichen Unfehlbarkeit

als Glaubenswahrheit eine

praktische Wirkung auf die bestehenden Beziehungen zwischen Staat und

Kirche, auöüben würde, vielfach diskutirt und von den Einen bejaht, von den Andern verneint worden.

Die theologische Facultät der Münchener

Universität hat selbst die Frage, ob in dem vorausgesetzten Falle die öffentlichen Lehrer der Dogmatik und deS Kirchenrechts sich verpflichtet er­

achten würden, die Lehre von der göttlich angeordneten Herrschaft deS

PabsteS über die Monarchen und Regierungen, fei eS als potestas directa oder indirecta in temporalia als jeden Christen im Gewissen verpflichtend zu Grunde zu

legen, bejaht,

freilich

mit dem Zusatz,

daß der Ge­

brauch oder Nichtgebrauch jener Gewalt im einzelnen Falle ganz von dem Ermessen deS jeweiligen PabsteS abhängig sei.

Am 20. Juli 1871, nach­

dem die Hoffnungen, welche das Papstthum auf „die älteste Tochter der katholischen Kirche", auf Frankreich gesetzt hatte, durch den Frankfurter

Frieden vernichtet worden waren, hat PiuS IX. als einen der „malitiöfesten

Irrthümer" den erklärt,

als fei in der Unfehlbarkeit das Recht einge­

schlossen, Fürsten abzusetzen und die Völker vom Eide der Treue zu ent­

binden.

Dieses Recht sei einige Male in äußerster Noth ausgeübt wor­

den, habe aber mit der päbstlichen Unfehlbarkeit durchaus nichts zu thun. Gleichwohl weist auch PiuS IX. das Verlangen zurück, in officieller Form,

d. h. in einer für ihn und feine Nachfolger verbindlichen Weife das ton«

cilianische Decret zu ergänzen und somit auch für Fälle der äußersten Noth auf jenes „Recht" zu verzichten.

Alle abschwächenden Erklärungen

der Unfehlbarkeitslehre scheitern an der einfachen Thatsache, daß die un­

fehlbaren Entscheidungen des römischen PabsteS die den Glauben odör die Sitten betreffenden Lehren umfassen; daß aber der Begriff „Sitten" das gesammte Leben der Staaten und Völker, der Körperschaften und

Individuen umfaßt; wie das schon aus den Ueberschriften der zehn Kapitel deS Shllabus vom 8. December 1864 hervorgeht.

Vor allem von dem

Decret über die Unfehlbarkeit gilt, was Graf Arnim in seiner vertrau­

lichen Depesche an den Staatssekretär Antonelli vom 23. April 1870 von gewissen Dekreten sagte, „welche, indem sie unter der Form von dogmati­ schen Definitionen tiefgreifende Aenderungen in der jedem

Grade der

Hierarchie zugewiescnen Autorität einführen, nicht verfehlen könnten, zu-

Die Chailiälevlisnatur beü UltramoutauiSmus.

215

gleich die gegenseitige Stellung der weltlichen und geistlichen Macht zu

stören.

Solche Decrete,

weit entfernt eine unbestimmte Drohung

für

die Zukunft zu sein, scheinen vielmehr darauf berechnet, alte hinreichend bekannte und beständig von der bürgerlichen Gesellschaft aller Zeiten und

aller

Constitutionen wieder aufleben zu

Nationen bekämpfte päbstliche

lassen und mit einer neuen dogmatischen Sanction zu umgeben.

Diese

Principien heute von dem päpstlichen Lehrstuhl herab proklamiren und sie

mit allen Mitteln der Ueberredung, über welche die Kirche verfügt, stützen

zu wollen, das tvürde, fürchten wir, Berwirrung in die Gesammtheit der Beziehungen der Kirche zum Staate werfen und Krisen herbeiführen, von welchen die päbstliche Regierung, trotz ihrer traditionellen Weisheit, sich

vielleicht feine' Rechenschaft giebt, weil sie weniger im Stande ist, als wir, über die Stimmung der Gemüther in unsern Ländern zu urtheilen."

Die

kirchenpolitische Geschichte der letzten zehn Jahre hat in einem für alle

Theile überraschenden Umfange jene Prophezeiungen bestätigt.

Freilich selbst in Deutschland würde die gegen die Unfehlbarkeits­ lehre gerichtete altkatholische Bewegung allein ein dauerndes Zerwürfniß zwischen Regierungen und Curie nicht hervorgerufen haben.

Aber die

Frage deö Dogma's bildete nicht den Inhalt des Streites, sondern nur

den Ausgangspunkt oder vielmehr den Vorwand.

Niemals würde ein

Concil den Pabst mit der absolut unumschränkten Gewalt über die Kirche bekleidet haben, wenn nicht andere Rücksichten als diejenigen auf die Ein­

heit des Glaubens den Ausschlag gegeben hätten.

noch 1870 war das Dogma bedroht.

Weder im Jahre 1864

Der Shllabus war die Kriegser­

klärung des Papstthums nicht sowohl gegen den modernen Staat über­ haupt, (obgleich das die weitere Conscquenz war) als gegen den italienischen nationale» Staat, der den weltlichen Besitz des Pabstthums im Namen der Selbstbestimmung und der Einheit der Nation zurückforderte. Das vatikanische

Concil sollte alle Machtmittel der katholischen Kirche in die Hand des einzigen Pabstes legen, um die weltliche Macht des Pabstthums wiederherzustellen.

Zunächst freilich hatten die deutschen Siege über das kaiserliche Frank­ reich und der Sturz des Kaiserthums die Folge, daß die italienische Armee

sich der Hauptstadt selbst bemächtigte.

Aber schon im October wendete

sich der Bischof von Hildesheim in einer Adresse an den König von

Preußen, mit der Bitte, seinen mächtigen Arm zum Schutze des weltlichen

Thrones des Pabstes auszustrecken.

Der Anfang November findet den

Erzbischof Grafen Ledochowski in Versailles, um, zugleich im Namen des Bischofs

von Culm,

gegen die

schreiende Verletzung

der Rechte

von

200 Millionen auf der ganzen Erde zerstreuten Katholiken zu protestiren.

„So wollen Allerhöchstdieselben, heißt es in

der von dem Erzbischof

216

Die Chamäleonsnatur des UltramontamsmuS.

übergebenen Adresse, gnädigst geruhen, für uns und alle unsere Glaubens­ genossen großmüthig

einzutreten,

damit wir in Frieden den Arm des

Herrschers segnen, der unsern heiligen Vater aus seiner Bedrängniß be­ freit und den hochherzigen König, der die verletzte Majestät des verlassenen

Königs gerächt hat, preisen."

Der Schtlderhebung der clertcalen Partei

bet den Neuwahlen zum preußischen Abgeordnetenhause (16. Nov.) folgt im

März 1871 bei den Wahlen zum ersten deutschen Reichstag die Bildung einer 63 Mitglieder umfassenden clertcalen Fraktion, in deren Namen Herr Dr. A. Retchensperger bei der Adreßdebaite

und Pabst" verlangte.

„die Einheit von Kaiser

Mit der Ablehnung des JnterventionSgedankens

zu Gunsten des PabsteS und der von der katholischen Fraktion bei der

Berathung der revidirten RelchSverfassung beantragten „Grundrechte", in

denen die Preß- und Vereinsfreiheit zum Deckmantel der dem Artikel 16 der preußischen Verfassung nachgebtldeten Bestimmung über die Selbst­

ständigkeit der Kirchen dienten, war der Zwiespalt zwischen dem ReichS-

gedanken und dem UltramontaniSmus Thatsache geworden.

Und nun er­

eignet sich daS Seltsame, daß der Eifer der Bischöfe für das UnfehlbarkeitSdogma gerade in Preußen, wo nach Bischof v. Ketteler der Artikel 15 der Verfassung

den religiösen Frieden garantirt, wo sich, nach Herrn

Reichensperger,

in Folge des Art. 15 die kirchlichen Dinge immer ge­

sunder und normaler gestalten, einen heftigen Conflict mit der Staats­

gewalt hervorrufen; und diese Conflicte führen schließlich zur Beseitigung eben jenes Artikels 15 und zu einer kirchenpolitischen Gesetzgebung, welche

auf den im Jahre 1848

verlassenen Boden des preußischen Landrechts

zurückkehrend, die Unterwerfung auch der katholischen Geistlichkeit unter die Staatsgesetze fordert.

Die katholische Partei im Frankfurter Parlament

hatte die konstitutionelle Schablone mißbraucht, um die Unabhängigkeit der

Kirche von der Staatsgewalt zu statuiren, nach dem Eintritt der Reaction aber die liberale Partei im Stich gelassen und

sich der Staatsgewalt

als Bundesgenossen gegen die revolutionäre Bewegung unentbehrlich zu

machen gesucht.

Im deutschen Reichstage setzt die Partei, in der sich süd­

deutsche Conservattve,

Vertreter des

welfische Conservative,

mit norddeutschen demagogischen Elementen und

rheinisch-westfälischen Adels und

Budgetweigerern zusammenfinden, wieder die konstitutionelle Maske auf — trotz der Verfluchungen des syllabus errorum!

weist die

Dieses Mal aber

liberale Partei das unnatürliche Bündniß mit den Fahnen­

trägern der herrschsüchtigen Hierarchie zurück,

während die preußischen

Conservativen, den Phrasen von der Solidarität von Thron und Altar Glauben schenkend, die Regierung zur Berufung an die Wähler zwingen. Als die conservative Partei bei den Wahlen der Jahre 1873 und 1874

Die Chamäleonsnatur des UltramontanismuS.

geworden war,

machtlos

trug

das

Centrum

217

jener Solidarität

Rech­

indem eö seine Bundesgenossen bei den Polen und Welfen, bei

nung,

den Partikularisten aller Schattirungen und vor allem auf der äußersten Linken bei der Fortschrittspartei Fichte.

Und dabei konnte man immer

beobachten, daß die Tonart, in der die Mitglieder des Centrums sich ver­ nehmen ließen,

genau dieselbe war wie diejenige, welche der Pabst in

seinen Enchclikcn und Allocutioncn,

briefen mit) Protesten anschlugen.

und die Bischöfe in ihren Hirten­

Wenn der Pabst in seiner Allocution

von Weihnachten 1872, welche die Abberufung des deutschen Geschäfts­

trägers zur Folge hatte, den preußischen Staatsmännern vorwarf, daß sie, während sic die katholische Kirche mißhandelten, nicht anständen, „scham­ loser Weise zu behaupten, von ihrer Seite widerfahre derselben keine Benachtheiligung", wer kann sich da wundern, daß die Herren von Mallink­ rodt und Windthorst von der Tribüne des Abgeordnetenhauses herab über

Rcchtsbruch klagten und ihrer Freude darüber Ausdruck gaben, daß eö einen Mann gebe, der in der Lage sei, Hoch und Niedrig, ohne Ansehen

der Person und Stellung, von Zeit zu Zeit die ungeschminkte Wahrheit

zu sagen.

Und wenige Monate später, in dem denkwürdigen Schreiben

an den Kaiser vom 7. August 1873 eignet Pabst Pius IX. sich diesen Gedanken an: „Ich rede mit Frcimuth, denn mein Panier ist Wahrheit", um den König von Preußen daran zu mahnen, daß, wenn die auf „Ver­

nichtung des Katholicismus" zielende Politik fortgesetzt werde, diese Maß­ regeln

keine andere Wirkung haben,

als diejenige „den Thron Eurer

Majestät zu untergraben".

Erst das Jahr 1878 bringt eine neue Wendung.

Der endgültige

Sieg der Republikaner in Frankreich hat die Hoffnung auf eine mon­

archische Restauration, deren Träger die Hülfe des Clerus

durch eine

Intervention zu Gunsten des Pabstes wett machen sollte, zu Grabe ge­ tragen; die Eventualität eines französischen Culturkampfes rückt immer

näher.

des

In Deutschland dagegen trifft der Tod Pius' IX. und die Wahl

angeblich friedfertigen

Cardinals Pecci zu dessen Nachfolger sehr

glücklich zusammen mit der tiefgehenden Erschütterung, welche die Atten­

tate auf den Kaiser Wilhelm und das bedrohliche, durch die wirthschaftliche Noth der letzten Jahre geförderte Anwachsen der socialdemokratischen

Bewegung in allen Kreisen Hervorrufen.

Die bedingungslose Ablehnung

des ersten Entwurfs eines Socialistengesetzes seitens der nationalliberalen

Partei drängt die Regierung wieder nach Rechts, während Fürst Bismarck

gelegentlich seines Badeaufenthalts in Kissingen mit dem päbstlichen Nun­ tius

in München, Msgr. Masella die vielbesprochenen

wegen Anbahnung eines modus vivendi beginnt.

Verhandlungen

Da mit Einem Male

Die ChamälconSuatur des UltramontaniSmnS.

218

erinnert sich das Centrum

seiner konservativen Principien, von denen

freilich in seinen Wahl- und Parteiprogrammen bis dahin nie die Rede gewesen war.

Natürlich:

der ConservativiSmuS des Centrums ist nur

eine andere MaSke für die kirchlichen Tendenzen, was Herr Windhorst gelegentlich durch die Phrase verhüllte, „die konservative Partei habe nicht die wahrhaft konservativen Grundsätze", sobald nämlich die konservative

Partei sich -weigerte, die kirchenpolitischen Forderungen des Centrums zu unterstützen.

Gleichwohl konnte das Centrum sich nicht entschließen, für

daS Socialistengesetz zu stimmen, weil eS das gerade vorliegende Gesetz nicht für geeignet zur Bekämpfung der socialistischen Agitation hielt, deren

Gefährlichkeit — für den Staat nämlich — die Partei, so zu sagen mit Wohlgefallen anerkannte.

Etwas später hat Niemand anders als Pabst

Le.o XIII. die authentische Interpretation zu dieser Behauptung deS Cen­

trums gegeben, indem er in der Enchclica über den Socialismus auSführte, daß dieses Uebel nur durch eine von den Fesseln der Staatsgesetze befreite Kirche wirksam bekämpft werden könne.

Auf eine Bethätigung der konservativen Gesinnungen der römischen

Partei haben die Conservativen seither vergebens gewartet.

Daß Fürst

BtSmarck in einem diplomatischen Aktenstück und in der hochdiplomatischen ReichStagSrede vom 8. Mai die Zustimmung des Centrums zu dem Ge­

setze über den Zolltarif als ein erstes Entgegenkommen gelobt hat, freilich

mit dem Zusatz, dabei habe es leider sein Bewenden gehabt, ist eben nur eine diplomatische Wendung gewesen, welche die Führer

des Centrums

wiederholen oder ablehnen, je nachdem sie ihre verkannten Verdienste um

'den Fürsten Bismarck oder die Consequenz ihrer Politik hervorzuheben für nöthig halten.

Für die Beurtheilung des Verhaltens des Centrums

ist die Thatsache von Wichtigkeit, daß die am 17. Oktober 1878 von 204 Mitgliedern der unter Führung von Varnbüler, Kardorff, Löwe stehenden

„volkSwirthschaftlichen Vereinigung" deS Reichstags erlassene Erklärung zu

Gunsten einer Reform deS deutschen Zolltarifs zum Schutze der nationalen

Arbeit von den 103 Mitgliedern des Centrums nicht weniger als 87 unterschrieben hatten, zu einer Zeit, wo die Bekehrung deS Fürsten Bis­

marck zu der neuen WtrthfchaftSpolitik noch ein Geheimniß der Büreau'S

war.

Nicht die Connivenz gegenüber der Regierung, sondern die Rück­

sicht auf die Wähler war es, welche das Centrum bestimmte, die land-

wirthschaftlichen und industriellen Schutzzölle durch die Erhöhung der Ft-

nanzzölle zu erkaufen. Dieser innere Zusammenhang darf um so weniger übersehen werden, als in der nächsten Session eine Wiederholung dieser

zweideutigen Operation in Aussicht zu stehen scheint, wenn eS sich darum

handelt, den Interessen der landwirthschaftlichen Kreise, welche durch die

Die Chamalconsnatiir des UltramontauiSmus.

219

Mitglieder des Centrums vertreten sind, Rechnung zu tragen.

Weder in

der vorigen noch in der diesjährigen Session, weder im Landtage noch im Reichstage hatte die Regierung und hatten die Conservativen die Un­

terstützung des Centrums auch nur in einer einzigen rein politischen Frage. Und da, wo eS sich wie bei den Präsidentenwahlen um eine conservativclericalc Demonstration handelte, war das Centrum besorgt, der Action

eine Spitze gegen die Regierung zu geben.

Die Coincidenz der parla­

mentarischen Taktik des Centrums mit der diplomatischen Haltung der

Curie

gegenüber

dem

Gesetzentwurf,

betreffend

die Abänderung

der

kirchenpolitischen Gesetze in der Nachsession des preußischen Landtags ist

notorisch.

Das vatikanische Princip der Ueberordnung der Kirchengewalt

über die Staatsgewalt mußte gewahrt werden gegenüber dem Versuche

der Regierung, ohne vorgängige Verständigung mit dem Pabste eine an­ derweitige Regelung der kirchenpolitischen Verhältnisse anzubahnen, ganz

ohne Rücksicht auf die Art der Regelung. war da nicht mehr die Rede.

Von Conservativ oder Liberal

Die Bedenken gegen den doctrinären Cha­

rakter deS Gesetzes, die „Diktatur", welche das Gesetz begründen sollte,

machen einen eigenthümlichen Eindruck, wenn sie aus dem Munde von

Vertretern einer Kirche kommen, für welche die Dictatur des unfehlbaren Oberhaupts durch den Beschluß eines allgemeinen Concils zum Glaubens­

artikel erhoben worden ist.

Die Conservativen im preußischen Abgeord­

netenhause waren schmerzlich enttäuscht über die Weigerung deS Centrums, auf dem Boden des Gesetzes die lang ersehnte conservativc Majoritäts­

partei zu schaffen. öffneten ihnen

Erst die fanatischen Naivetäten deS Herrn vr. Lieber

die Augen über die eigentlichen Tendenzen der Partei.

Da erst hat Herr von Rauchhaupt in der Erregung,

in der ihn diese

Erkenntniß versetzte, den Versuch gemacht, das Centrum zu entlarven. „Sollte Herr Windthorst, welcher immer und immer wieder uns Vor­ lesungen über ConservativiSmuS hält, dies auch im vorliegenden Falle ver­

suchen, so muß ich dagegen Verwahrung einlegen, indem ich die Herren vom Centrum einfach auf die politischen Grundsätze verweise, welche sie selbst bis in die neueste Zett in ihrem Parteiprogramm vertheidigt haben

und welche in der That großenthetls das Gegentheil von dem waren, was

wir für conservativ erachten.

Es liegt uns hier ein Beschluß der großen

westfälischen Katholikenversammlung vom 17, Mai dieses Jahres vor und

in diesem Beschlüße heißt eS: Die Versammlung giebt dem festen Ver­ trauen Ausdruck, daß das Centrum seine, im heißen Kampfe errungene Stellung gegen jeden Angriff vertheidigen und daß eS festhalten wird an folgenden, in allen Wahlprogrammen der Centrumspartei ent­

haltenen Forderungen: a) Endliche Verwirklichung des von der Verfassung

220

Die Chamäleonsnatur des UltramontaniSmuS.

geforderten und gegenwärtig mehr als je nothwendigen Gesetzes über Vie Verantwortlichkeit der Minister; (Bravo! im Centrum) b) Allgemeines direktes Wahlrecht — behufs Formirung einer auf gesunden Grundlagen beruhenden Vertretung der verschiedenen Volks­ interessen; (Bravo! im Centrum) c) Beseitigung der Beschränkun­

gen der Preßfreiheit sowie deS Vereins- und Versammlungs­

rechtes; (Bravo! im Centrum) ä)Deccntralisation der Verwaltung; wahre Selbstverwaltung der Gemeinden, Kreise und Provinzen; (Bravo! im

Centrum) e) Gesetzlichen Schutz gegen Ueberschreitung der Befugnisse der Verwaltung und der Polizei; (Bravo! im Centrum) , k) Festhaltung der

föderalen Stellung Preußens zum deutschen Reiche und Bekämpfung aller gegen den verfassungsmäßigen föderativen Charakter der staatlichen Verhältnisse in Deutschland gerichteten politischen und wirthschaftltchen Bestrebungen; (Bravo! im Centrum) g) Beschränkung der Staatsausgaben, insbesondere für die Armee durch angemessene Verkürzung der Dienstzeit und Verminderung der Präsenz­ stärke des Heeres im Frieden; (Bravo! im Centrum) h) Gleich­

mäßige und gerechte Vertheilung der Steuern und Lasten; Beseitigung der Doppelbesteuerung u. s. w. (Bravo! im Centrum). Meine Herren! Sie rufen bei jedem Satze Bravo, nun gut, — wenn Sie alle diese Sätze konservativ nennen, so befinden wir uns auf einem diametral entgegen­ gesetzten Standpunkt. Selbst in liberalen Programmen find so radikale Forderungen nicht enthalten. (Rede deS Herrn von Rauchhaupt in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 26. Juni.) Der Redner der Conservativen zog aus diesem Programm den sehr richtigen Schluß, daß die katholische Kirche, „in dem Augenblicke, wo sie ihr hierarchisches Gerüst dogmatisirt habe, in dem paritätischen Staate einer politischen Partei bedürfe, durch deren Mund sie das Gerüst aufrecht erhalte"; er hätte aber auch den weiteren Schluß ziehen müssen, daß das Centrum eine politische Partei überhaupt nicht ist, wenigstens keine Partei, welche ihre auf staatlichem Gebiete liegenden Ziele mit festen politischen Mitteln verfolgt. Oder glaubt irgend Jemand, das Centrum würde für Mtnisterverantwortltchkeit schwärmen, wenn Herr von Kleist Minister wäre? Oder die römische Partei würde das allgemeine direkte Wahlrecht

fordern, wenn sie von der Ausdehnung des Wahlrechts auf die Ungebil­ deten einen Protest gegen die Macht der Priesterschaft befürchtete? Würde der Pabst die Verfluchung der Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit

im Shllabus zurückziehen, wenn ein klerikales Ministerium das Heft in der Hand hätte? Und wo bliebe in diesem Falle der Ruf nach gesetz­ lichem Schutz gegen Competenzüberschreitung von Verwaltung und Polizei?

221

Die Ehamäleonsnatur des UltramontaniSmus.

Und endlich, würde das Centrum die Beschränkung der Staatsausgaben

für die Armee verlangen, wenn die deutsche Regierung gewillt wäre, auf den Trümmern des

italienischen Staats die weltliche

Herrschaft

des

PabsteS wiederherzustellen?

Wen die Entwickelung des preußischen CulturkampfS von der grund­ sätzlichen Grundsatzlosigkeit der ultramontanen Partei nicht überzeugt, der

mag seinen Blick durch den Vergleich der deutschen Zustände mit den

französischen und belgischen schärfen. In Belgien wie in den katholischen Gebieten Deutschlands sind die

Massen der Bevölkerung, die Arbeiterklasse und der Kleinbürgerstand der eigentliche Sitz der ultramontanen Leidenschaften.

In diesem rein katho­

lischen Lande aber steht dem katholischen Fanatismus nicht die protestan­ tische Nüchternheit, sondern der freigeistige Radikalismus gegenüber.

Die

Antipathie der katholischen und der liberalen Belgier gegen daS protestan­ tische und konservative Holland war bekanntlich der Ausgangspunkt der

secessionistischen Bewegung, welche angefacht durch die französische Juli­

die Trennung Belgiens und die Gründung des belgischen

revolution,

Staates herbeiführte.

Die belgische Verfassung, das Vorbild der Charte

Waldeck trägt denn auch den breiten Stempel der Union der katholischen und der liberalen Parteien, welcher der belgische Staat seine Existenz

verdankt.

Dieses Muster einer konstitutionellen Verfassung hat zugleich

das Ideal der Römlinge,

die freie Kirche im

freien,

politisch

aber

der Kirche gegenüber gebundenen Staat, unter der Verpflichtung des letzteren zur Zahlung der Gehälter und Pensionen der Geistlichen ver­

wirklicht.

Der Unterricht

ausgeliefert

und

unter

ist

dem

„frei", d. h. in die Hände deS CleruS

ausdrücklichen

maßregel", d. h. jeder staatlichen Controle.

Verbot

„jeder Präventiv­

Diese gepriesene Verfassung

hat den Culturkampf zu einer verfassungsmäßigen Institution, zu einem dauernden Kampf um die politische Macht in Belgien gemacht. Aber

ein Culturkampf im deutschen Sinne, d. h. unter Auflehnung deS CleruS gegen das Gesetz, hat erst in dem Augenblick begonnen, wo daS liberale Ministerium

Fröre—Orban,

UltramontanismuS,

erschreckt durch die steigende Fluth deS

die verfassungsmäßige Garantie der

Freiheit

des

Unterrichts für die Gründung von Staatsschulen unter Leitung von Laien in Anspruch nahm.

Der CleruS weigerte sich nicht nur, Religionsunter­

richt in diesen öffentlichen Schulen zu ertheilen.

Die Bischöfe haben die

Seelsorger angewiesen, den Lehrern, den Mitgliedern der Schulcomitee'S,

dell Schulinspektoren und endlich allen Personen, die die Staatsschulen in irgend einer Weift begünstigen (also auch den Eltern, die ihre Kinder in

diese Schule schicken) oder dieselben vertheidigen, die Communion, sogar

Preußische Jahrbücher. Bb. XLV1. Heft 2.

16

222

Die ThamäleouSnatur des UltramontaniSmuS.

öffentlich zu verweigern!

In Belgien aber bilden die Gesinnungsgenossen

unserer radikalen Ullramontanen die konservativen Partei par excellence! Conservativ und Clerical sind identische Begriffe.

Aber diese eigenthüm­

lichen „Conservativen" haben sich stets gut vertragen mit den Radikalen,

welche in jeder Beschränkung auch der Zügellosigkeit der Gegner eine Be­

drohung der konstitutionellen Freiheit sahen. Erst die bitteren Erfahrun­ gen, welche Belgien mit einem dem SyllabuS, der heute noch an der ka­

tholischen Universität Löwen durch vom Staate bezahlte Professoren ge­ lehrt wird, und dem unfehlbaren Pabst ergebenen CleruS gemacht hat,

führten zu der Bildung einer liberalen Partei,

welche die Freiheit der

Kirche auf dem kirchlichen Gebiet, aber nicht die politische Herrschaft der

Bischöfe anerkennt, und die entschlossen ist, die geistige Selbstbefreiung

des Volkes zu vollenden. Wie in Preußen das Schulaufsichtsgesetz, in Belgien das VolkSfchulgefetz den latenten Widerstreit deß katholischen CleruS gegen den mo­ dernen Staat zum offenen Ausbruch brachte, ist auch in Frankreich die

Schulfrage der Ausgangspunkt des CulturkampfeS gewesen.

Die Volks­

schule dem beherrschenden Einfluß des ultramontanen CleruS und der kirch­

lichen Genossenschaften zu entziehen, die Erziehung und den Unterricht der

neuen Generation in „nationalem" Sinne zu sichern, das hatte sich wie in Deutschland und in Belgien, so auch in Frankreich als ein absolutes

In Frankreich vor Allem deßhalb, weil die ultra­

Bedürfniß erwiesen.

montane Partei von dem Augenblick an mit allen Feinden der republi­ kanischen Jnstutionen gemeinsame Sache machte, wo die Hoffnung sich als

eitel erwies, daß die moralische und materielle Macht des neuen Staates

gegen die Räuber des weltlichen Besitzes des heiligen Stuhls gewendet werde.

Hätten die französischen Ultramontanen vor drei Jahren das ge­

than, was die „Germania" ihnen heute vorschlägt, d. h. hätten sie bei Zetten ihren Frieden mit der Republik gemacht, sie würden einen Kampf

vermieden haben, dessen AuSgang schon zu errathen ist.

der römischen Politik hätten sie nicht hindern können.

Die Traditionen

In Frankreich ist

nicht die Masse deS Volkes der Träger des UltramontaniSmuS, sondern

der monarchistisch gesinnte Adel, die bonapartistischen Parvenüs,.die kein

Bedenken trugen, den CleruS als Sturmbock gegen die Republik der Re­ publikaner zu benutzen.

Der französische CleruS kann nicht vergessen, daß

es der erste Consul war, der die französische Kirche in Frankreich wieder­ herstellte, daß unter der Herrschaft Napoleon' III. die klösterlichen Genossen­ schaften, allerdings im Widerspruch mit dem Concordat deS Jahres 1801, von der Verpflichtung, für ihre Niederlassungen die Erlaubniß der Re­ gierung einzuholen,

befreit blieben.

Gegen die Thätigkeit dieser nicht-

Die EhainaleonSnatur des UltramontaniSmuS.

autorisirten

Genossenschaften —

223

im Jahre 1877 wurden 500 Nieder­

lassungen mit 22000 Mitgliedern gezählt — auf dem Gebiete deS öffent­

lichen Unterrichts richtete sich der Art. VII des Ferry'fchen Unterrichtsgesetzes mit der Bestimmung, „Niemand welcher einer religiösen, nicht autorisirten Genossenschaft angehört, möge eS ein Orden sein, welcher es wolle, darf Unterricht ertheilen oder eine Schule leiten".

Im Senat, wo bisher die

Gegner der Republik die Majorität behauptet haben, wurde dieser Artikel

mit 148 gegen 129 Stimmen abgelehnt und dadurch die Regierung ge­ zwungen, unter Berufung auf das Concordat die Auflösung der Jesuiten­ niederlassungen sowie der Niederlassungen der übrigen Genossenschaften, wenn dieselben nicht die staatliche Zulasiung nachsuchen sollten, anzuordnen.

Die republikanische Regierung handelt im Stande der Nothwehr, in-. dem sie die Herrschaft der Jesuiten und ihrer Helfershelfer über die Schule

energisch bekämpft, solange in deren Anstalten die Jugend, nicht weniger als 70,000 Knaben und 200,000 Mädchen, in dem Hasse gegen die neue Ordnung der Dinge erzogen werden.

Es mag freilich zweifelhaft er­

scheinen, ob die Schließung der Niederlassungen und der UnterrichtSan-

stalten der Jesuiten genügen wird, die Macht derselben zu brechen, welche eS nicht verschmäht, neben den geistigen Mitteln auch weltliche (Soll doch eines der größten Modemagazine von Paris „Au bon marche“ Eigen­

thum der Jesuiten sein) in Anwendung zu bringen.

Die Regierung wird

aber ohne Zweifel, in der Passivität, welche das französische Volk bei der

am 30. Juni erfolgten Schließung der Jesuitenniederlassungen beobachtet hat und in dem vorwiegend republikanischen Ergebniß der letzten General-

rathSwahlen*) eine Ermunterung sehen, auf dem eingeschlagenen Wege

*) In der Verzweifelung über die Niederlage der französischen Tlericalen »nd ihren Verbündeten bei den Wahlen am 1. August schreibt die „Germania" vom 7. August also: „DaS Prätendententhum ist augeuscheinlich dem Bolte verhaßt; selbst die weiße Fahne erweckt in dem Bauern kein anderes Gefühl als das der Angst vor Wiedereinführung der Frohndienste. Also warum das Geschick der Kirche und der couservativen (sic!) Ideen an die schlechten Chancen der Prätendenten fesseln? Wenn die große Mehrheit deS Volkes, wie kaum noch zu bezweifeln ist, die re­ publikanische Regierungsform liebt, dann rennt der kluge Mann sich doch nicht den Kopf ein an diesem republikanischen SiegeSwagen, sondern er springt hinauf und ergreift die Zügel." Den Royalisten, welchen diese republikanische Farce bedenklich erscheinen möchte, ruft daS leitende Blatt der deutschen Ultramontanen zu: „Ein Tropfen demokratischen Oeles würde der Krone der allerchristlichsten Könige nichts schaden; denn der Rost der zahllose» Verbrechen der Vorgänger Heinrichs V. klebt noch an dieser Krone. ES ist nicht genug immer nur von den Rechten deS Königs zu reden; man rede auch von den Pflichten. Die Zeit ist vorbei, als man glaubte, daS Volk fei des Königs wegen da. Die Legitimisten müssen voll nnd ganz den Gedanken erfassen, daß also daS französische Volk mehr Beachtung verdient, als die Stimmung iu Frohsdorf, daß die conservative Sache sich nicht auf Roß und Reisige, sondern auf die „Liebe des freien Mannes" stützen muß. Kurz — man gebe die unfruchtbare Hof- und Kastenpolitik auf und wende sich einer Volk?-

224

Di« EhamäleonSuatur des UltramontaniSmus.

weiter zu gehen.

Cs sei denn, daß die Curie, gerade mit Rücksicht auf

die den katholischen Genossenschaften und namentlich

den Jesuiten un­

günstige Stimmung der Bevölkerung, welche einem Culturkampf nach preußischem Recept unüberstetgltche Hindernisse entgegensetzt, die übrigen Genossenschaften anweist, die staatliche Genehmigung nachzusuchen, um zu

retten, was noch zu retten ist.

Andernfalls bleibt ihr auch hier, nur die

Hoffnung auf die Revolution oder auf den Revanchekrieg.

So ist also das Bleibende in dem Wechsel der Farben, in welche sich die ultramontane Politik in den einzelnen Ländern und zu verschie­ denen Zeiten kleidet, das Streben nach politischer Macht, nach der Herr­

schaft der katholischen Kirche über den Staat — eine Tendenz, welche ur-

.sprünglich nur dem Jesuitismus eigen, durch das vatikanische Concil das

herrschende Princip der Kirche und des Pabstthums geworden ist.

Und

so lange der JesuitiSmuS diese Herrschaft im Vatikan behauptet, so lange nicht eine Reaction aus dem Schooße der Kirche selbst diesem Mißbrauch

der Religion zu weltlichen Zwecken ein Ende macht, wird ein dauernder,

auf fester Grundlage beruhender Friede zwischen Staat und Kirche nicht mehr möglich sein.

Jedes Zugeständnis, welches die Regierungen im

vermeintlichen Interesse

der Religion

oder aus

egoistischen Rücksichten

machen, kann nur dazu dienen, dem unversöhnlichen Gegner neue Waffen in bk Hand zu geben.

Auf diesem Boden können Compromisse nur den

Staat compromittiren.

Der Staatsgewalt bleibt nichts übrig als dem

in stets wechselnden Verkleidungen andringenden Gegner gegenüber den

Boden des Rechts und des Gesetzes mit unerbittlicher Strenge zu ver­ theidigen. — thümlichen Politik zu, denn salus reipublicae (und fügen wir hinzu ecclesiae) suprema lex esto.“ Das Heil der Kirche sei daS höchste Gesetz, daS ist der Wahl­ spruch dieser „conservativen" Partei.

Berantwortlicher Redacteur: H. v. Treitschke. Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.

Zur Geschichte des deutschen Adels. (Schluß.) Der Schwerpunkt des Adelsbegriffs lag in der merovingischen und der

ersten fränkischen Zeit in gefolgschaftlichen Beziehungen, nach den nunmehr

eingetretenen Veränderungen aber äst er in dem Besitze eines reichSunmittelbaren Gebietes und dem damit gegebenen ReichSstandschaftSrechte zu suchen. Trotz der wesentlichen Veränderungen, welchen hienach dieser Begriff jetzt

unterlag, bleiben gleichwohl dessen frühere Attribute noch erkennbar; nur treten sie jetzt entwickelter als in der vorigen Periode hervor.

Die fränki­

schen Edlen besaßen Reichsämter und Grundherrlichkeiten:

ebenso der

mittelalterliche Adel, nur freilich mit ausgedehnteren Befugnissen.

Selbst

der kleinere Herrenstand hatte nunmehr das volle Grafenrecht über seine immunen Besitzungen erworben.

Die Reichsämter, welche ehedem als

Benefizien vom Könige verliehen worden waren, hatten sich in erbliche Reichslehen verwandelt und einen patrimonialen Charakter erhalten.

Aus

dem ursprünglichen Jmmunitätsrecht der Adligen, d. h. der Befugniß, die königlichen Beamten bezüglich der Handhabung ihrer Amtsgewalt von

ihren Besitzungen fern zu halten, hat sich allgemach das Recht der vollen Gerichtsbarkeit über alle in ihrem Herrschaftsbezirk Ansässigen entwickelt. Haben sie früher lediglich ihre Hintersassen zur Leistung ihrer Verpflich­

tungen angehalten, so hat sich jetzt der privatrechtliche Charakter solcher

Abgaben in einen öffentlich-rechtlichen verwandelt und erscheint demgemäß ausgedehnt auf alle Unterthanen des Territoriums.

Waren sie vordem

als Mittelsperson lediglich zwischen dem König und ihren Schutzbefohlenen gestanden, so war jetzt jeder direkte Zusammenhang zwischen dem ersteren und dem einzelnen Staatsangehörigen aufgehoben: der König entbietet

nunmehv nur sie,

nicht ihre Unterthanen zum Reichsdienst.

Deßhalb

werden auch in den späteren Reichsmatrikeln die Reichslasten zunächst nur dem Herrenstande, nicht dessen Untersassen auferlegt.

Auf diese Weise gelangten allmählich die Edlen zu einer der Reichs­

hoheit untergeordneten Regierungsgewalt über ihre Gebiete. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 3.

17

Ihr privi-

Zur Geschichte des deutschen Adels.

226

legirter Gerichtsstand vor dem Könige, welchen sie bereits zur fränkischen

Zeit in beschränktem Maße gehabt hatten, erweiterte sich jetzt dahin, daß

alle Gegenstände, welche ihre Person, Ehre, Lehen, Eigen und Erbe be­ trafen, vor dem Könige verhandelt und entschieden werden mußten.

Die

Edlen schwangen sich folglich zu reichsunmittelbaren Landesherren empor; doch zeichnete sie nicht sowohl der Besitz der Reichsfreiheit, als vielmehr

der Besitz landesherrlicher Rechte vor allen übrigen Geburtsständen aus,

denn es gab nicht nur reichsunmittelbare Ritterbürtige,

sondern

auch

Die geistlichen Fürsten und die reichs­

reichsfreie Bürger und Bauern.

städtischen Corporationen genossen zwar hierin

dasselbe Recht wie die

Edlen; der bedeutsame Unterschied liegt aber darin, daß das Recht der

ersteren auf ihrer Abstammung beruht, gerade wie dies auch mit der

Reichsstandschaft der Fall ist.

Versinnbildlicht wird dieses Recht durch

ihre Belehnung Seitens des Kaisers unter Entfaltung der Reichsfahne, während bei den geistlichen Fürsten die Belehnung bloß mit dem Scepter

geschieht. Daneben bildete ein zweites Hauptmerkmal ihrer hohen Stellung ihr alle andere Klassen ausschließendes Recht der Reichsstandschaft, d. h. des in ihrer Äeiziehung zu den reichstäglichen Verhandlungen zur Er­ scheinung kommenden Mitwirkungsrechts beim Reichsregiment.

Der Begriff des Adels schließt sich demnach

deutsche Reichsverfassung an.

aufs engste an die

Alle Familien, deren Häupter sich im Be­

sitze eines reichsunmittelbaren Territoriums befanden und das Recht der

Reichsstandschaft genossen, wurden nach mittelalterlichem Recht den edlen Geschlechtern beigezählt.

Zwar fand unter ihnen selbst wiederum eine

Verschiedenheit des Ranges statt: zuerst kommen die Grafen, welche bis

1180 allesammt zugleich Fürsten sind, sodann die edlen oder freien Herren, von gleichem Range mit den Grafen, aber deS amtlichen Einflusses ent­

behrend und in der Regel nicht so reich begütert.

Zu ihnen werden dann

manchmal auch die Grafen selbst gezählt und beide Klassen zusammen als

nobiles den Ministerialen gegenüber gestellt. Indessen begegnet man selbst jetzt noch einzelnen Zeugnissen, welche

lebhaft an die frühere Stellung der Edlen erinnern. mentlich der Sachsenspiegel.

Hierher gehört na­

Die Fürsten und freien Herren stellt er in

Buße und Wergeld noch den Schöffenbarfreien, d. h. dem Geburtsstande

der alten Freien gleich und gesteht somit noch die Ebenbürtigkeit beider Klaffen von Freien zu.

Ueberhaupt spricht er nur wenig vom Herren­

stande und selbst da, wo er die beste Gelegenheit hätte, ihn als einen be­

sonderen Geburtsstand

gegenüber

den

anderen

Freien

hervorzuheben,

schweigt er wie geflissentlich von demselben; wo.er die verschiedenen Klaffen der Freien aufzählt, nennt er nur die Schöffenbarfreien, Pfleghaften und

Zur Geschichte des deutschen Adels. Landsassen.

227

Allein andererseits anerkennt er doch auch wieder die höhere

Stellung der Edlen, indem er festsetzt, daß man ihnen Buße und WerDagegen scheidet sie der Schwaben­

geld in Gold entrichten soll u. a.

spiegel unter der Bezeichnung „Semperfreie" von den übrigen Klassen der Freien aus und stellt sie an die Spitze des ständischen ShstemS.

Die

Bezeichnung ist nur ein verdorbener Ausdruck für die Sendbarfreiheit, für die dem Stande einwohnende Fähigkeit, sowohl selbst einen Send

(Gericht) abhalten zu können, als auch auf dem Send des Kaisers, dem

Reichstag, in Ausübung der Reichsstandschaft erscheinen zu dürfen. sind die freien Herren,

Ganz

strenge

darf

ES

welche andere Freie zu ihren Mannen haben.

freilich dieses diskretive Moment

nicht

genommen

werden, da auch bloße Ritterbürtige nicht selten in der nämlichen Eigen­

schaft auftreten.

Ebensowenig ist umgekehrt die Nobilität durch das Va­

sallenverhältniß zum Könige bedingt; denn wenn gleich die Fürsten durch­

gängig Lehensmannen des Königs, die einfachen Ritterbürtigen dagegen wenigstens sehr häufig Lehensmannen der Fürsten sind, so findet sich doch

immerhin eine Anzahl von Herren, welche sich in keine Lehensabhängigkeit begeben haben, und deren Freiheit gerade deßhalb als eine besonders aus­

gezeichnete gerühmt wird.

Die hohen Freien — wie man die Edlen nach

dem Vorgang der Spiegel gleichfalls nennen kann — bilden somit den erblichen Herrscherstand der Nation.

Zu dieser regierenden Aristokratie

gehören nun:

1.

die drei geistlichen und die vier weltlichen Kurfürsten,

2.

die übrigen geistlichen Fürsten (Erzbischöfe,

Bischöfe und ge­

fürstete Aebte), 3.

die übrigen weltlichen Fürsten (Herzöge, Pfalzgrafen, Markgrafen,

4.

die Grafen und freien Herren,

gefürstete Grafen), die zwar keine Fürstengewalt,

aber doch Landesherrschaft und Reichsstandschaft besitzen. Beobachten wir genau das innere Wesen dieses Adels, so springen unS alsbald zwei scharfe charakteristische Merkmale desselben in die Augen.

DaS eine ist seine Geschlossenheit, die wiederum aufs engste mit seiner

Vererbungsfähigkeit zusammenhängt.

Der älteste germanische Adel war —

wenige Ausnahmen abgerechnet — ein offener Stand: indem er aus den Tüchtigsten des Volksstammes sich zusammensetzte, gehörte ein beständiger

Ab- und Zugang zu seiner Natur.

Zwar hat das Vererbungsprincip auch

an ihm seinen Einfluß geübt, so daß wir in den späteren Jahrhunderten die freiwillig ertheilten persönlichen Vorzüge der Edlen mehr oder we­

niger in erbliche Vorrechte derselben umgewandelt sehen:

trotzdem blieb

daS Grundprincip unangetastet und brach sich, wenn auch häufig gedeckt, 17*

228

Zur Geschichte des deutsche» Adels.

doch immer wieder Bahn.

Ebensowenig kann der fränkische Dienstadel als

ein geschlossener Stand mit erblichen zeichnet werden.

Vorrechten seiner Mitglieder be­

Geschlossenheit und Vererbung liegen nicht in der Natur

des Dienstes, auch nicht des Königsdienstes; erst mußte die Verpflichtung, die dieser auflegte, von dem Recht, das er gab, überwunden werden, ehe

er als Grundlage eines Standesrechts betrachtet

werden konnte.

Und

dies letztere" geschah erst durch die Verknüpfung des KönigSdiensteS mit

dem Benefizialwesen.

Von da ab datirte das Streben, sich zur Sicherung

seines Besitzstandes, wie nach oben gegen den Herrn, so nach unten gegen

die übrigen Volksklassen in korporativem Verbände abzuschließen.

Trat

in der germanischen Zeit das Individuum als einzig maßgebender Factor

bei der Zuerkennung höherer Rechte und Ehren hervor, so ist eS jetzt die Rasse, das. Blut, die Abstammung von einem edeln Vater und einer edeln

Mutter, welche den Adel verleiht.

Doch finden auch da wieder merk­

würdige Durchbrechungen deS strengen Princips statt — Durchbrechungen,

welche jedenfalls mit der bereits

oben gekennzeichneten Auffassung der

Standesverhältnisse im Sachsenspiegel zusammenhängen. Einmal sah man zuweilen lediglich auf das Blut des edlen Vaters, indem man den Söhnen

eines Edeln auch Adel zuschrieb, wenn nur die Mutter von Geburt eine Freie war.

Wichtig ist die Durchlöcherung, welche die Kirche des Mittel­

alters geschaffen hat.

AuS der obenstehenden Classifizirung dcS Adels er«

giebt sich nicht nur die Zugehörigkeil, sondern auch der theilweise Vorzug der hohen Geistlichkeit vor den weltlichen Großen. diese geistlichen Reichsämter mehr

Freilich wurden auch

oder weniger ausschließlich von der

weltlichen Aristokratie in Beschlag genommen, aber ganz konnte doch eine

Kirche von dem Princip deS Jndividualadels nicht Abstand nehmen, deren

Stifter und Apostel größtentheilS hatten.

den

untersten Volksständen angehört

Aber auch in die Kreise deS weltlichen Adels wußten sich schon

damals einzelne begünstigte oder verdiente Persönlichkeiten durch eine förmliche Standeserhöhung seitens deS Reichsoberhaupts Eingang zu ver­ schaffen.

Ein zweites augenfälliges Merkmal des mittelalterlichen Adels, auf das wir übrigens schon mehrmals im Gange unserer Untersuchung hinzu­ weisen Gelegenheit gehabt haben, ist sein politischer Charakter. Auch hierin weicht er — wenn auch nicht in dem Maße wie hinsichtlich des erstge­

nannten Punktes — von dem Wesen des ältesten germanischen Adels ab. Zwar der Ursprung ist bei beiden derselbe.

Beide Male erzeugte sich ein

Adel auS dem kriegerischen Dienstgefolge hervorragender Führer; während

aber der germanische Adel im Wesentlichen auf dieser Stufe stehen blieb — eine weitere Ausdehnung desselben wäre auch bei dem demokratischen

Zur Geschichte deS deutschen Adels.

229

Charakter der öffentlichen Verfaffnng nicht möglich gewesen —, bildete

sich der fränkische Dienstadel zu einem herrschenden Stande fort.

Und erst

in seiner politischen Machtstellung kam er zur vollen Entfaltung seines

Wesens.

Geschlechter und Familien, welche diese in den äußeren Ver­

hältnissen geoffenbarte Macht nicht erlangen oder nicht behaupten konnten,

verloren sich allmählig in den übrigen Volksständen; andere, obwohl we­ nige Familien, welche zur Herrschaft sich aufschwangeu, begründeten eben dadurch neue Dynastenfamilieu.

Eigentlich waren nur diese Herrschergeschlechter die wirklichen Träger

des Adels.

Das Wort „Adel" wurde daher während eines großen Theils

des Mittelalters nur auf sie bezöge«.

Die Urkunden des 13. Jahrhun­

derts unterscheiden noch regelmäßig, wenn sie die Namen der Zeugen auf­

führen: Mobiles, niilites, niiuisteriales.

Erst gegen Ende des Jahr­

hunderts und vorzüglich im 14. ändert sich der Sprachgebrauch und man fängt

an, auch die Ritter, zuletzt die Dienstleute unter dem

gemein­

samen Namen der „Edelleute" zusammenzufasseu und

mit dem Worte

„Adel" den hohen und den niederen Adel zu begreife».

Welcher Art sind

nun diese neuen Adelselcmente und auf welche Weise haben sie sich mit

jenen alten Bestandtheilen zu einer socialen Klasse zusammengeschlossen?

Wir müssen, um eine richtige Vorstellung von diesem merkwürdigen Prozeß zu gewinnen, hier noch einmal an die allmählige Entwickelung

deS alten Adelstandes erinnern.

Denn genau dieselben Momente, welche

in der merovingischen und karolingischen Zeit das Aufkommen des dynasti­ schen

Adels begünstigten, sind auch für die Ausbildung deS

Adels maßgebend gewesen.

niederen

Ein Unterschied besteht nur darin, daß es

bei dem ersteren der Königsdienst in der fränkischen Zeit, bei den letzteren

der Hofdienst bei den späterhin den Begriff deS hohen Adels ausmachen­ den Dynasten war, der die Umbildung aus einer dienenden Klasse in einen Adelstand bewerkstelligt hat.

Und wie dort

mittelst

des Lehens­

bandes ursprünglich unabhängige größere Grundherren in eine derjenigen

der vornehmen Gefolgsleute ähnliche Stellung zum Könige eintraten, so sind hier durch Auftragung ihres Grundbesitzes an einen Dynasten zahl­ reiche angesehene Freie der gleichen Ehrenrechte wie die ursprünglich un­

freien Ministerialen theilhaftig geworden.

Vom Standpunkt des Mittel­

alters aus betrachtet besteht dann ein weiterer bedeutsamer Unterschied

zwischen beiden Classen deS Adels darin, daß der Dhnasten-Adel damals schon längst ein historischer, nach unten abgeschlossener erblicher Geblüts­

stand ist, während der Ritter- und Ministerial-Adel das ganze Mittelalter hindurch — wenn ich so sagen darf — im Flusse deS Entstehens be­ griffen ist, in seinem Anfang und Fortgang aus den einfachen Freien

Zur Geschichte de« deutschen Adels.

230

und selbst auS hörigen Familien sich herleitet. Derselbe bleibt daher auch

im Blute nach wie vor mit jenen ersteren verbunden, trotz allen Versuchen

deS Kastengeistes, ihn ebenfalls nach Art des hohen Adels abzuschließen. Nur mit den Unfreien ist die Ehegenossenschaft beschränkt.

Der Grund der allmähligen Standeserhöhung ist nun zu suchen theils in einem ansehnlichen Grundeigenthum von mindestens 3 Huben, theils

in bedeutendem Lehenbesitz.

Mit jenem verband sich das Recht, in dem

gräflichen Gerichte als Schöffe zu sitzen und zu urtheilen (Schöffenbar­

freiheit), sowie die höhere KrtegSpflicht und KriegSehre des Ritters, auf

diesem beruhte ebenso die ehrenvolle Vasallenverbindung mit dem LehenSherrn zu Schutz und Trutz, In Hoffahrt und Heerfahrt.

Das wichtigste

Moment ist jedenfalls der Ritterdienst, der, nachdem späterhin beide Ver­

hältniße — Grundetgenthum und Lehenbesitz — in einander übergegangen

sind, höher geschätzt wurde als das schöffenbare Grundetgenthum.

Es

hängt dies aufs innigste zusammen mit der Art deS Kriegsdienstes und der damit verbundenen Lebensweise.

Als der alte Heerbann immer mehr

in Verfall gekommen war, bildete sich ein neues KriegSshstem, in welchem der Dienst zu Pferde, die bessere Bewaffnung, die schwerere Rüstung und

gewisse Anfänge der Taktik dem kriegsgeübten Manne eine höhere Stellung gaben; die Waffenübung wird im Laufe von Menschenaltern allmähltg zu

einem Lebensberuf in stufenweiser Ausbildung.

Gewöhnlich rücken daher

jetzt nur noch die Dtenstmannen und Vasallen der Fürsten und andere begüterte Freie ins Feld.

Diese vertreten — hierin

einem durch die

ganze mittelalterliche Geschichte gehenden Zug auf korporativen Zusammen­

schluß durch gleichen Lebensberuf verbundener folgend — in eine beson­ dere Genoffenschaft zusammen, deren sämmtliche Mitglieder eine blos krie­

gerische Lebensart führen und. als deren höchste Würde die Würde des

Ritters betrachten.

Hierin liegt der Ursprung der ritterlichen Geschlechter.

Selbstverständlich waren die Söhne derer, die das ritterliche Leben führten,

diejenigen, welche auch zunächst durch die Schwertleite der Ehre und des Rechts der Väter theilhaftig wurden.

Und wenn auch dieses vorerst noch

kein ausschließliches Recht war, und mehr als das Geschlecht der wirkliche

Dienst belohnt wurde, so- ist doch in der staufischen Zeit auf die Ritterbürttgkeit ein entscheidendes Gewicht gelegt worden. hängige Bauer befand sich in einem solchen Gegensatz.

Aber nur der ab­ Wo er in alter

Weise sich auf eigenem Grund und Boden erhalten, führte er auch wohl

ritterliche Waffen.

Der holsteinische Adel, wie er uns im 12. Jahrhun­

dert entgegentritt, besteht aus freien Bauern, die zu der Grenzvertheidigung verpflichtet waren und deren Recht hierauf, wie auf der Theilnahme am Landesgericht beruhte.

231

Zur Geschichte deS deutschen Adels.

Im Laufe der Zeit sonderte sich dann jene Klasse der Bevölkerung, die im Waffendienst ihren Beruf sah,

als geschlossener Ritterstand von

den übrigen Ständen des Ackerbaues,

deS Handels und der Gewerbe.

Die Grundlagen ihrer ständischen Auszeichnung bestehen in einem Grund­

besitz, verknüpft mit der persönlichen Freiheit und

ritterlichem Leben.

Ihr Besitz und ihre Freiheit büßten dadurch nichts ein, daß ihr Inhaber in ein Lehens- und Vasallenverhältniß zu einem Fürsten trat: im Gegen­

er gelangte damit erst zu einem Platze in der Heerschildordnung,

theil,

die jetzt die Grundlage der ganzen Gesellschaftsordnung wurde. Fürst durch das Fahnenlehen

hinangerückt ist,

Wie der

unmittelbar an die Person deS Kaisers

so erscheint der ritterliche Grundbesitzer durch die Auf­

tragung seines Gutes an den Fürsten an diesen angeknüpft und gewinnt dadurch Fühlung mit dem Reichsoberhaupt.

Und nur eine solche, wenn

auch mittelbare Verbindung schaffte dem begüterten Freien eine Stellung, einen Rang im Heerschilde.

DaS Rittergut mußte nothwendig Lehngut

werden, wenn es in das ganze LehenSshstem passen sollte.

Die Bedin­

gungen für den Eintritt in diesen Ritterstand sind dann schon frühzeitig

rechtlich fixirt worden.

Um als ritterbürtig vor seinen Genossen und vor

dem Volke zu gelten, mußten zwei Voraussetzungen erfüllt sein:

erstens

vier freie Ahnen, zweitens soviel Vermögen, daß man für den Schmuck des Lebens übrig hatte und niemals blos vom Werk seiner Hände zu

leben brauchte.

Die erste Bedingung stellte das Gesetz auf, der Sachsen­

spiegel und der Schwabenspiegel sind darin deutlich und fast gleichlautend. Beide Großeltern und beide' Eltern mußten vollfret sein: dies, aber nur dies

war

nach dem Gesetze unerläßlich zur Ritterbürtigkeit.

Wer also

selbst noch hörig war oder dessen Eltern hörig gewesen, mußte, wenn

er in den Rang der Ritterbürtigen eintreten wollte, erst vom höchsten Herrn

im Lande feierlich als ein Mann von Rittersart anerkannt werden.

Dies

geschah durch Erkheilung des Ritterschlages zum Zwecke der Erhebung in

den Adelsstand.

Die zweite Bedingung war von der Sitte vorgeschrieben.

Sie ließ trotz der persönlichen Freiheit nicht zu, daß bloße Bauern und

Handwerker sich unter die Leute von Rittersart mischten.

öffneten diese ihre Gesellschaft vor dem Manne,

der

Wohl aber

thatsächlich

ihnen

werth wurde an Freiheit, Vermögen und Bildung, und sie schlossen ihre Kreise hinter demjenigen, welchen die natürlichen Unterlagen eines adligen

Lebens entschwanden.

Tausende, deren Großeltern noch als Bauern oder

Handwerker arm und unfrei begannen, traten fort und fort in die Reihen der Ritterbürtigen ein, wenn die Großeltern frei, vermögend und ange­

sehen geworden und die Eltern diese vornehmere Lebensstellung fortgesetzt hatten.

Zur Geschichte des deutsche» Adels.

232

Die ritterliche Art des Kriegsdienstes hat aber nicht blos die

eine

Folge gehabt, die ihm als Beruf ergebenen begüterten Freien zu einem besonderen Stand zusammenzuschließen, sie hat auch nach oben und nach

unten gewirkt: nach oben, indem sie den hohen Adel, der ja gleichfalls in der Führung ritterlicher Waffen, wenn auch nicht wie die Vorbezeichneten

seinen Lebensberuf, so doch eine seiner hauptsächlichsten Aufgaben erblickte, in dieser einen Beziehung auf die gleiche gesellschaftliche Stufe mit den

bloßen Ritterbürtigen brachte, nach unten, indem sie die ursprüitglich un­ freien Dienstleute, in soweit sie das Waffenhandwerk zum Berufe hatten, trotz dieser ihrer persönlichen Unfreiheit zu der Stufe der freien Ritter­

bürtigen heraufnimmt, bis schließlich der gleiche Berns bezüglich aller drei, in ihrem Ursprung und sonstigeil Lebensverhältnißen so weit auseinander

gehenden Klassen eine so mächtig ausgleicheilde Wirkung erzeugt, daß sie nach

außen wie ein einziger Stand auftreten.

Dies war der höchste

Triumph der ritterlichen Waffenführung: daß das Ansehen und die Ehre,

welche sie gab,

derart überwogen, daß die ursprünglichen Grundlagen:

Herrschaft, Freiheit und Unfreiheit dagegen zurücktratell.

Adel war nun

Ritterstand; der Ritter galt als adelig, auch wenn er als Ministeriale

der vollen Freiheit entbehrte.

Nicht auf einmal hat sich dieser merkwürdige Prozeß vollzogeil.

Lang­

sam pflegen die Veränderungen der socialen Welt vor sich zu gehen, und der Schritt voir der nahezu bedingungslosen Unfreiheit des herrschaftlichen

.Dienstmannes bis zur vollen Freiheit des Rittermannes hat Jahrhunderte in Anspruch genommen.

Die Anfänge dieser Personenklasse sind wohl in

den servi beneficiarii der Volksrechte zu suchen.

Schon Tacitus hat beu

merkwürdigen Zug des germanischen Charakters wahrgenommen, daß der

Dienst an dem Hofe eines hohen Herrn den Dienenden emporhebe.

Es

äußerte dieser Zug seine Wirkung bei der Bildung des fränkischen Adel­

standes, wie später bei der Hinaufhebung der unfreie« Dienstleute der Dynasten zur Stellung freier ritterbürtiger Herren.

Der Glanz des

Herrn beleuchtet auch die nächsten Diener, der nahe persönliche Umgang

mit jenem gab diesen Einfluß und Ansehen. Der Gang dieser Entwicklung dürfte ohngefähr folgender gewesen sein. Ursprünglich stehen sie, gleich den gemeinen Unfreien, wenn auch nicht in dem­

selben Grade der Rechtlosigkeit, im Eigenthum ihres Dienstherrn.

In der

Wahl ihrer Frauen sind sie auf die Ministerialinnen desselben beschränkt. Ihr

Eigen fällt nie aus dessen Gewalt. sie durch ihn vertreten.

Gegenüber von dritten Personen werden

Solange man also diese Seite ihrer Stellung be­

sonders ins Auge faßt, muß man sie unbedingt unter die niedrigste Klasse

der Freien stellen.

Sie werden deshalb auch im Sachsenspiegel noch nicht

Zur Geschichte des deutschen Abels.

233

in der Ordnung der Heerschilde genannt und erhalten durch ihre Frei­

lassung blos daS Recht freier Landsassen; .selbst noch der Verfasser des

Schwabenspiegels trägt kein Bedenken, sie geradezu Eigenleute zu heißen. Im Gegensatz zu den übrigen Unfreien durften die Dienstmannen jedoch nur zu ehrenvollen, namentlich kriegerischeil Diensten verweildet werden.

Dies war der eigentliche Ausgangspunkt ihrer späteren hohen gesellschaft­ lichen Geltung.

Und mit der Zeit kam die vermögensrechtliche Ausstattung

mit Gütern hinzu, welche an llmfang und Erträgniß den ritterlichen Lehen­

gütern nicht nachstanden.

Diese Güter wurden zwar ursprünglich nicht

zu Lehensrecht verliehen, sondern aus Gunst des Herrn zu Hofrecht ge­ geben.

Aber das Hofrecht der Dienstleute ward großentheils dem Lehen­

rechte der Vasallen nachgebildet und in dem Hofgericht des Herrn so gut

gestützt,

wie dieses Besitzes.

und dort wie hier kam es zu fester Erblichkeit des

Daher konnte ihnen der Schwabenspiegel nach ihrer Freilassung

,licht mehr die nämliche Stellung wie den gemeinen Eigenleuten anweisen,

sondern mußte ihilen das Recht der Ritterbürtigen und damit den fünften Heerschild

Es entstand so

zugestehen.

um die Fürsten und Edleil her

neben dem erstell Kreise der ritterlichen Vasallen ein zweiter Kreis vor­ nehmer Dienstleute,

welche durch Hofämter und Hofdienst allsgezeichnet

und durch hosrechtlichen Gruildbesitz begütert waren. An der höheren Bil­

dung und der feinen höfischen Sitte der Zeit hatten sie nicht minder

Sie führten ritterliche Waffen und folgten dem

Theil als die Ritter.

Herrn in die Fehde, wie die Ritter.

Wie eng allmählig die Berührung

beider Klassen wurde, davon gibt unter anderm der Umstand Zeugniß, daß die alte Dienstmannenordnung der Rahmen wurde, in welchen sich nach und nach alle Ritterschaft einfügte.

Alle die Bezeichnungen, die von

jetzt an die Skala der Grade des Ritterthums auSmachen (Schildknechte, Knappen,

Ecuyers,

Hidalgos,

Bedeutete früher Knabe

Famlili),

und Knecht

erinnern

an

Dienstbarkeit.

den unfreien Dienstmann eines

Herrn im Gegensatz zu dem freien miles, so wurde jetzt diese Bezeichnung einfach vom Standpunkt des edlen Waffendienstes aus, ohne Rücksicht auf die persönliche Stellung des Betreffenden, aufgefaßt: die Knaben (Knappen)

waren nicht die Herrn, sondern die Knechte der Waffen.

Auf diese Weise streiften die Dienstmannen allmählig ihre früheren knechtischen Eigenschaften ab und verschmolzen mit den ritterlicheil Freien

zu einem Gebürtsstande.

Die zunftmäßige Abschließung des Ritterthums,

die in seinem Wesen lag, brachte auch die in ihm wirkenden Ideen in

ein System.

Nur das Wichtigste kann ich hier berühren.

Wie schon in

der Germania des Tacitus die Wehrhaftmachung der jungen Männer

einen bedeutungsvollen Act des nationalen Lebens gebildet hatte, so war

Zur Geschichte des deutschen Adel«.

234

jetzt die Schwertleite daS Zeichen der Mündigkeitserklärung des ritterlichen Jünglings.

Vorausgegangen war dieser meist eine längere Prüfungs­

und Dienstzeit bei einem hervorragenden KriegSmann.

Hatte sich

der

Knabe wacker gehalten, so erhielt er nunmehr mit gewisser Feierlichkeit die Manneswaffen, die volle ritterliche Rüstung.

Und wie schon in alt­

germanischer Zeit mit der Wehrhaftmachung die Jünglinge auS dem Kreise

deS Hauses heraustreten und fortan als Männer und Glieder deS Volks

angesehen wurden, so stand auch jetzt dem ritterlichen Jüngling, wenn er

auS dem Leibdtenst seines Lehrherrn entlassen war, die Welt offen.

Der

eigentliche Ritterschlag ist von dieser Freilassung ganz unabhängig und

seiner Bedeutung nach nichts als der ideale Abschluß in der Rangordnung der Ritterbürtigen.

Meist liegen beide Akte weit auseinander, Froissard'S

Liebling, der Marschall Bouciquaut, und Lalain, der Spiegel aller Ritter­

schaft, hatten, nachdem sie die ritterlichen Waffen angelegt, schon eine

hübsche Reihe von Heldenthaten verrichtet, ehe der eine auf dem Schlacht­ felde, der andere, bevor er in einen schweren Zweikampf ging, sich den

Ritterschlag erbat; Bayard und FrundSberg galten längst als die besten

Ritter im Heere, als sie zu Rittern geschlagen wurden.

Der Schwer­

punkt der gesellschaftlichen Bedeutung des Ritterstandes lag in der ihm besondern Art der Waffenführung.

Schwert und Lanze waren der Stolz

des Ritters, und das Recht des Waffentragens im Frieden sollte seine Auszeichnung bleiben.

Der Landfrieden von 1156 bestimmte, daß der

Richter jedem Bauern, der Lanze, Schwert oder überhaupt Waffen trüge, entweder diese oder 20 Schilling abnehmen solle.

Auch dem Kaufmann,

der in Handelsgeschäften die Provinz durchreiste, durfte nach demselben

Gesetz das Schwert nur am Sattel hängen oder auf dem Wagen liegen.

Ritterliche Preiskämpfe boten den KriegSleuten Ehre und Auszeichnung auch im Frieden, der Menge, die sich um die Schranken drängte, ein will­

kommenes Schauspiel.

Um nach außen hin in die Ferne der Welt zu

wirken, bildeten sich die Ritterorden, in welchen der Krieg als ein neues

Weltprincip auf ideeller Grundlage aufgefaßt wurde.

so

vielen Gestaltungen deS

Mittelalters,

Auch hier, wie bet

hatten die Institutionen der

Kirche Muster und Vorbild gegeben, wie auch der Endzweck dieser Orden immer nur die Verherrlichung des Christenthums war. Ueberhaupt machen die Ideen eines christlichen Weltreichs, die Ausbreitung und Aufrechter-

haltung seiner Principien das Grundelement des

aus.

ganzen Ritterwesens

Im Cultus der göttlichen Jungfrau gewinnen diese halbmystischen

Bestrebungen eine sichtbare Spitze,

das ewige Göttliche verkörpert sich

darin zum ewig Weiblichen und gibt von da aus den Anlaß zu einem charakteristischen Cultus des FrauendienstS überhaupt.

Endlich muß noch

Zur Geschichte des deutschen Adels.

235

eines mehr äußerlichen Merkmals des RitterthumS erwähnt werden, das

späterhin von großer Wichtigkeit für den gesammten Adelsstand geworden ist: ich meine die zuerst bei jenem und durch jenes vorkommende Führung von Familiennamen und Wappen.

Die ersteren begegnen uns zuerst im

eilsten Jahrhundert, wo sie sich auf Güter oder Schlösser beziehen, die der Familie angehören.

Doch

entbehren sie noch der festen Constanz,

wechseln in den sich folgenden Generationen oder sind gerade bei Brüdern

verschieden nach dem Besitze, den jeder hat, oder anderen Umständen.

Die

Grafen hatten sich ihren Namen ursprünglich nach dem Gau gegeben, der

ihren Amtssprengel bildete.

Durch den Prozeß, in dem aus Amt Ge­

schlecht gemacht wurde, hatte sich auf diesem Territorium allmählig auch ein Hauptgut herausgehoben, auf dem sich der neue Herrschaftsbegriff vor­

nehmlich zu concentriren begann und von dessen Bezeichnung der Graf dann auch am liebsten seinen eigenen Namen sich übertrug.

Diese Be­

zeichnung wurde der Hauptursprung der neuen aristokratischen Geschlechter­ namen.

WaS das Aufkommen der Wappen betrifft, so hatte schon in den

ältesten Zeiten das Zusammenstehen der Verwandten im Kampfe zu einer eigenthümlichen Gliederung der Heerhaufen geführt, wobei die Schilder

durch gleichartige Farben und Abzeichen diese Gemeinschaft auch äußerlich wahrnehmbar charakterisirten.

ES

entsprang daraus der Gebrauch der

Waffen, deren Sinnbilder sich besonders in den Kreuzzügen feststellten und mit denen die Familien die Geschlossenheit ihrer Geschlechter be­

siegelten.

Es würden aber diese äußerlichen Motive zu einer selbständigen Ge­ schlechterbildung nicht ausgereicht haben, wenn daS Ritterthum nicht zugleich

die materiellen Besitzverhältnisse zur Grundlage seiner Entwickelung er­

griffen hätte.

DaS

Ritterwesen

verwuchs mit der Lehensfähigkeit zu

einem und demselben Begriff.

Es wurde dadurch diesem Stande vorzugs­ weise die Bahn eröffnet, höheres Eigenthum an das Geschlecht zu fesseln. Der ritterliche Grundbesitz wurde für die ganze Zeitanschauung der Höhe­ punkt und Werthmesser aller politischen und materiellen Rechte.

Steuer­

freiheit, Landtagsfähigkeit und richterliche Gewalt erschienen als die von diesem bevorzugtem Besitz getragenen Realberechtigungen.

In socialer Be­

ziehung aber bezeichnet das Ritterthum, wie das ganze Lehnwesen, einen

ungeheuren Fortschritt des Mittelalters, einen entscheidenden Schritt zur

Befreiung und ehrenhaften Erhebung der Arbeit und ihres Verdienstes gegenüber dem Besitz.

von

einem

Der

anderen Mann

alte Germane hätte sich einen Mann, geliehenen Grundbesitz

gegen Leistung

Diensten angenommen, nicht anders denken können, wie als Knecht.

der

von Die

bewaffneten Hintersassen der Großen sind in der That bewaffnete Knechte.

Zur Geschichte des deutschen Adels.

236

Daß jetzt der bewaffnete dienende Mann als ehrenhaft galt, obgleich er nur auf geliehenem Gut, nicht auf echtem Eigenthum faß, daß der Name Knecht sogar zum Ehrentitel werden konnte, ist ein bedeutsamer Fortschritt der Zeit, herbeigeführt durch

ein gemeinsames Bedürfniß der Völker

Daher der kosmopolitische Sinn des Instituts, welcher beson­

Europa'«.

ders seit den Kreuzzügen unter der Pflege der Kirche gedieh; und dieser

Sinn war eS denn auch,

welcher den großen Grundherrn mit dem klei­

neren Besitzer, den Vasallen mit dem Astervasallen vereinigte; Erziehung, Lebensberuf und kriegerische Ehre waren ihnen gemeinsam.

Der Stand

des Ritterbürtigen wurde der eigentliche Grundstock des sogenannten nie­ dern Adels, der in Deutschland bald auf der breitesten Grundlage und

in einer gewissen Massenhaftigkeit sich zu entwickeln und fortzupflanzen begann.

Einen Grundstock bildeten die freien Grundbesitzer

auf dem

Lande, welche wohlhabend genug geblieben, um geharnischt zu Rosse auf« zurciten, jedoch nur unter der einen Bedingung, daß sie oder ihre Vor­

fahren auf ihrem Hof keine bäuerlichen Dienste oder Lasten, wie die Hö­ rigen und Leibeigenen sie leisteten, übernommen hatten.

Von ihnen sagte

das Sprüchwort: „Ein Edelmann mag Vormittags zum Acker gehen und

Nachmittags im Turnier reiten."

Dazu kamen die zahlreichen großen

und kleinen Gutsbesitzer, welche früher Dienst- oder Burgmannen gewesen,

die aber ihre ritterliche Lebensweise aus dem Stande der Unfreien heraus­ gehoben hatte.

In einer Menge von Dörfern, wo jetzt keine Spur von

Adligen zu finden, weisen die Urkunden ritterbürtige Leute nach.

Häufig

saßen auf einer Burg oder einem Hofe, der seinen Thurm hatte, zwei oder drei Familien zusammen.

Der Sternerbund in Hessen und Um­

gegend zählte über 2000 adelige Männer, welche zusammen nur vierthalb-

hundert Burgen hatten.

Die Glosse zum Sachsenspiegel sagt, daß nur

diejenigen nicht das Recht der Leute von Rittersart übten, welche keinen

eigenen Grund und Boden hätten und Pferde blos zu ihrer LeibeSnoth-

durft hielten.

Man hat in neuerer Zeit vielfach bezweifelt, ob auch die Patrizier unserer alten Reichsstädte diesem Adel der Ritterbürtigen beigezählt wer­

den dürfen.

Ich denke, daß nach den obigen Ausführungen dieser Punkt

kaum mehr in Frage kommen kann.

Wenn genügender Grundbesitz, ver­

bunden mit ritterlicher Lebensweise, dazu ausreichten, den Mann aus der

Klasse der gemeinen Freien in den Kreis des Ritteradels hinaufzuheben,

so ist der Patrizier sicherlich ritterbürttg gewesen.

Er besaß nicht nur

innerhalb der Stadtmauern, sondern auch auf dem Lande eine Anzahl

Burgen, Höfe, Zehnten, grundherrliche Gefälle, Jagden, Zölle und andere Berechtigungen,

er stand meist

in LehnSbeziehungen

zu geistlichen und

Zur Geschichte des deutschen Adels.

237

weltlichen Fürsten, er hielt sich eine Menge Untergebener und Schützlinge —

das

Institut der Muntmannschaft kommt zunächst im Gefolge des Pa­

triziats vor —, er führte eine ritterliche Lebensweise, tummelte sich mit

seinen Knechten im Kampfe, wie im Turniere, kurz er erfüllte getreulich alle Pflichten eines echten Ritters.

konnte ihm in den Augen

Daß er daneben Großhandel betrieb,

seiner Standesgenossen

so

wenig Nachtheil

bringen, als dem Landedelmann, welcher sein Gnt bewirthschaftete: nur durfte er, gleich wie jener

nicht zum gemeinen Bauer herunter

sinken

solüe, nicht ein bloßer Krämer sein; er sollte nicht nach Pfunden auswiegcn

und nicht nach der Elle

ausschneideu.

Würde im Mittelalter — und

lediglich mit dessen Anschauungsweise haben wir es hier zu thun — eine andere Auffassung gültig gewesen sein, so müßten auch die venetianischeu

und

slorentinischen Nobili, die Deutsch-Ordensritter, die alle schwung­

haften Handel betrieben, es müßten auch solche hochgestiegene Familien, wie die Mediceer und Fugger, die mit den Wurzeln ihrer Größe und ihres Reichthums auf den Handel und Gelderwerb zurückgehen, aus den Reihen des Adels gestrichen werden.

Erst gegen Ende des Mittelalters,

als Kraft und Leben deö Adels erstarben, suchte der Landadel die Pa­

trizier von Turnieren, Domstiftern und Ritterorden auszuschließen.

So

viel der Adel damals an Bedeutung im Volksganzen einbüßte, um ebenso viel suchte er sein Selbstgefühl zu

steigern, indem

er sich kastenmäßig

abschloß und nicht mehr dem Volke, sondern immer nur seinen Genossen

ins Gesicht blickte.

werthvoller,

Nie war edle Abkunft

Ganz anders war das früher.

nie übte

der Adel

eine größere politische Macht,

als im

Mittelalter, aber niemals schien er auch weiter verbreitet, niemals frischer

und flüssiger.

Er stand damals wie eine organische lebendige Institution,

die sich fortwährend verjüngte und erneuerte, weil sie an Stelle der ab­ sterbenden Glieder sich neue aus dem Volke heranzog.

Der deutsche Adel des Mittelalters, wie er sich aus den dynastischen

und ritterbürtigen Geschlechtern zusammensetzt, hat so bezüglich seiner Ent­

wickelung denselben Prozeß, wie die übrigen Volksstände durchgemacht. Drei große Wahrzeichen sind eS, welche die Geschichte unserer ständischen Verhältnisse in ebenso viele Perioden abtheilen:

Geburt, Besitz, Beruf.

Die altgermanische, ständische Gliederung fußte auf der Unterscheidung

der

Volksgenossen

in

Freie

und

Unfreie;

Adel

rechtliche Sonderstellung über der gemeinen Freiheit.

begründete

keinerlei

Das Mittelalter be­

ginnt dann damit, dem Grundbesitz, der schon früher nicht ohne Einfluß auf die gesellschaftliche Schätzung seiner Inhaber gewesen ist, als vorzugs­

weise» Factor bei der neuen socialen Ständegliederung Geltung zu ver­ schaffen ; geehrt und ausgezeichnet vor dem übrigen Volke ist jetzt vornehm-

Zur Geschichte beö deutschen Adels.

238

lich der reiche Grundherr, der auf immunem Boden sitzend über zahlreiche Hintersassen gebietet.

Daher hat nun durch die Anknüpfung des könig­

lichen und später des fürstlichen Dienstes an die conservative Macht der GrundeigenthumSverhältniffe der erstere sich auS seiner ursprünglichen Beschränkung zur Stufe eines neuen ständebildenden Elements empor­

Diese Verbindung von Dienst und Besitz erzeugt nunmehr

gearbeitet.

jenes dem ganzen Mittelalter eigenthümliche Institut des abgeleiteten Be­

sitzes mit persönlicher Dienstpflicht, welche sich jedoch sehr bald auf eine

kriegerische Heerfolge beschränkt.

DaS ist das Wesen der Feudalität,

welche von jenem ersten engsten Kreise der königlichen Gefolgsleute auS allmählig alle irgendwie hervorragenden Volkselemente in seinen Bann zwingt und ihnen -neue Gestalt und neues Leben mittheilt.

Die gemein­

same Grundbedingung dieser neuen ausgezeichneten Stellung innerhalb des Volksganzen bildet nunmehr die Führung ritterlicher Waffen und die damit zusammenhängende ritterliche Lebensart, die alten auszeichnenden Faktoren Herrschaft und Besitz schwinden daneben nicht ganz, aber sie

vermögen doch nur Unterabtheilungen innerhalb des großen Adelsbegriffs

zu schaffen.

Der hohe Adel gründete sich auf das dem gesammten Adel

gemeinsame Prinzip der Ritterbürtigkeit und auf den Besitz eines reichs­ unmittelbaren Gebietes und der Reichsstandschaft, der niedere lediglich

auf jenes erstere.

Streng genommen entspricht daher nur der Dynasten-

Adel den Anfordungen, die wir in der Einleitung als Grundbedingungen adeligen Wesens hingestellt haben.

Wir werden jedoch weiter unten in

der Jnterstitution der Reichsritterschaft eine UebergangSstufe vom hohen

zum niedern Adel kennen lernen, welche die wesentlichen Merkmale des

Adelsbegriffs aufweist und diese wenigstens theilweise auf die eigentliche niedrige AdelSklaffe hinübergelcitet hat.

Merkwürdig ist bei jenem Wechsel der den Adelsbegriff bestimmenden Faktoren, wie dieselben, wenn sie ihren Einfluß bei dem obersten Volks­

stande verloren haben, immer in die nächste GesellschaftSschicht Hinabstet­

gen, um hier ihre ständebildende Kraft neuerdings zu äußern.

Das gilt

dann gemeinschaftlich für die drei alten Volksstände: Adel, Bürger und

Bauern.

Wo die Freiheit aufhört, Adel und Gemeinfreie als zwei ver­

schiedene Grade des einen Standes der Freien auseinander zu halten, fängt sie an, sich als scharf scheidendes Moment zwischen der zweiten und dritten Gesellschaftsklasse geltend zu machen; sobald sie auch hier diese

Wirkung verliert, steigt sie in die unterste Klasse hinab, um hier dann bis in die neueste Zeit herein sich in jener Eigenschaft zu erhalten.

In

der fränkischen Zeit wird bezüglich der Begriffsbestimmung des adeligen Standes das Moment der freien Geburt nicht weiter in Betracht gezogen:

239

Zur Geschichte beS deutschen Adels.

Sklaven arbeiten sich allmählig zu den höchsten Hof- und Staatsämtern

empor und treten damit in die Kreise der Aristokratie ein; tiefer unten aber dauert der Gegensatz zwischen Freien und Unfreien noch lange in

seiner alten Schärfe fort, bis dann derselbe durch das Aufkommen der

Städte seine Kraft einbüßt und von jetzt ab nur noch unter den Baltern der alte Geburtsunterschied zwischen Freien und Unfreien fortdauert.

In

gleicher Weise hat der Besitzbegriff, nachdem er aufgehört, eine Unter­

scheidung zwischen Vornehmen und Geringen hervorzurufen, in den ersten Jahrhunderten des

die mit

Städtewesens

eigenem Grund und Boden

angesessenen altfreien Bürger von den grundbesitzlosen Beisassen getrennt,

bis mit dem Sieg der Zünfte der Beruf an seine Stelle getreten ist und

jetzt der Betrieb eines Gewerbes das charakteristische Merkmal des Bür­

gers ausmacht.

Dieses Berufsprincip aber ist wiederum schon geraume

Zeit vorher bei der Bildung des neuen Adelsstandes

wirksam gewesen,

indem es hier alle diejenigen, welche berufsmäßig den kriegerischen Ge­ schäften obliegen, in einer Gesellschaftsklasse — die der Ritterbürtigen —

zusammenfaßt. Natürlich mußte, sobald erst diese Unterlage einer vor den übrigen

Volksklassen

ausgezeichneten Stellung

ins

der

gerieth,

Wanken

ganze

darauf aufgebaute gesellschaftliche Zustand stark erschüttert werden. Katastrophe trat mit dem Anbruch

Veränderungen im

Kriegswesen

kriegerische Bedeutung.

der neueren Zeit ein.

Diese

Die großen

frühere

raubten dem Ritteradel seine

An die Stelle der adeligen Lehensmannen treten

die meist aus den niedrigsten Volksklassen geworbenen Söldlinge.

Die

Ritterwürde wird nicht mehr blos an Edle, sondern auch an Unedle ver­

liehen, ohne daß man dabei noch irgendwie an eine kriegerische Lebensweise gedacht hätte.

Selbst der Gemeinfreie kann jetzt Lehen erwerben.

Kurz

die Edlen verlieren ihre ursprüngliche Bestimmung, zu schirmen was des

Schirmens bedurfte.

Noch früher war mit dem Herrenstande unserer Nation eine beachtenswerthe Veränderung vorgegangen.

Seit dem Anfang des 15. Jahr­

hunderts wurde hier und da die freiherrliche und

gräfliche Würde von

den deutschen Kaisern an bisher ritterbürtige Familien ertheilt.

ches HauS trat dann in die Genossenschaft der

Ein sol­

alten dynastischen Ge­

schlechter ein, eS erhielt die gleichen Vorrechte wie diese, namentlich auch

das Recht der Reichsstandschaft, ungeachtet es natürlich durch die bloße Standeserhöhung noch kein immediates Gebiet erworben hatte. eine

Familie ohne reichsunmittelbares Territorium,

selbst

eine

Selbst

land-

säßige Familie konnte daher zu der Genossenschaft der alten hochfreien

Geschlechter

gehören.

Namentlich

seit Karl V. wurde die hochadelige

Zur Geschichte des deutschen Adels.

240

Standeswürde so verschwenderisch von den Kaisern verliehen, daß die

reichsständischen Häuser sich genöthigt saheü, ihren althergebrachten Rechts­ zustand mit der strengsten Sorgfalt gegen die neuerhöhten Familien sicher zu stellen und den kaiserlichen Standeserhöhungen ihre frühere staats­

rechtliche Wirkung zu benehmen.

Hierher gehören namentlich die zum

Schutze ihres Territorialrechts getroffenen Bestimmungen des Reichsabschieds

von 1548, der Wahlcapitulattonen Leopold I. von 1658 und Karl VII. von 1742.

Zur Wahrung seines reichstäglichen Ansehen traf der Herren­

stand schon seit 1653 die nöthigen Bestimmungen in den Wahlcapitulationen.

So blieb im Allgemeinen die Stellung des hohen Adels, der

sich nicht wesentlich und ausschließlich auf die Kriegsverfassung gründete, auch in die neuere Zeit herein eine unveränderte.

Vielmehr bot ihm die

weitere Entwickelung der deutschen Staatsverfassung Gelegenheit genug, den Kreis seiner Gerechtsame sogar noch zu erweitern.

Denn im Laufe

der Zeit hatte das deutsche Reich eine wesentlich aristokratische Verfassungs­ form bekommen;

ein staatsrechtlicher Körper, dessen Haupt der Kaiser,

dessen Glieder die Reichsstände bildeten, war der Träger der Staats­ gewalt geworden.

Die Herrengeschlechter, mi8 deren Schooß ein beträcht­

licher Theil der Glieder, das Haupt des souveränen Reichskörpers ent­ sprang, blieben mithin gerade durch diese ihre ausgezeichnetste Eigenschaft

fortwährend von allen übrigen Geschlechtern geschieden; blos sie waren im Sinne des Reichsstaatsrechts die herrschenden, die nichtreichsständischen die beherrschten Geschlechter.

Wir führen hier ihre einzelnen Vorrechte gegenüber dem nicht reichs­ ständischen Adel an:

1.

Nur reichsständische Personen durften sich des PrädicatS „Wir" bedienen;

2.

Sie allein wurden vom Reichskammergericht mit dem Titel „Herr"

3.

Bei ihren Prozessen hatten ihre Räthe kein Juramentum calum-

und „Frau" beehrt; niae zu leisten; 4. Zu gewissen Stellen waren sie ausschließlich befähigt.

Im Straß­

burger Hochstifte ließ man nur Herren aus reichsständischen

Häusern zum Kanonikate zu.

Zu Präsidenten des Kammergerichts

und deren Vertretern sollten ebenfalls nur Personen aus reichs­ ständischen Familien genommen werden; ebenso zu Stellvertretem

des Kaisers in Reichsgeschäften; 5.

Genossen sie Sperrfreiheiten am kaiserlichen Hofe zu Wien.

Im Großen und Ganzen wird man sagen dürfen, daß der hohe deutsche Adel bis zur Auflösung des Reichs

seine

ursprüngliche Natur

Zur Geschichte des deutschen Adels.

241

eines in sich abgeschlossenen, historischen, mit bedeutenden politischen Herr­ scherrechten ausgestatteten Adelsstandes sich treu bewahrt hat. Dagegen hat — wie wir bereits hervorgehoben haben — der niedere

Adel in Folge der seit Beginn des 16. Jahrhunderts tiefveränderten Zeit­

verhältnisse eine gründliche Umgestaltung erfahren.

Hatte der Herrenstand

im Mittelalter einen Herrscherstand gebildet, so war der Stand der einfach

Ritterbürtigen ein Kriegerstand gewesen.

Als daher Bewaffnung

und

Kriegsführung seit der letzten Hälfte des 15. Jahrhunderts allmählig eine andere wurde, mußte jene ihre Haupteigenschaft bedeutend an Werth ver­

lieren.

Immer seltener wurden die Ritter zum Reichsdienst

entboten.

Damit entschwand ihnen aber die große Aufgabe, ohne die keine organische

Einrichtung der Geschichte sich auf die Dauer halten kann.

Statt für

jene, wurde nun die überschüssige Kraft in Roheiten und Gewaltthaten

aufgebraucht.

Ulrich von Hutten nennt seine Genossen rauh

freundlich und von

centaurischer Häbtigkeit.

Kriege im eigenen Interesse, waren Rachezüge

Mittel, sich gegen Beides zu schützen.

und un­

Ihre Kriege waren nun oder Räubereien oder

Hatte der Nachbar das Waidwerk

über die Grenzen ausgedehnt, hatten seine Bauern das Vieh auf des

Andern Triften weiden lassen, so war der Grund zu langen und blutigen Raufereien gelegt; zeigte

sich Aussicht, die Pfeffersäcke reichsstädtischer

Kaufleute zu erbeuten, so war Veranlassung genug vorhanden, um derer von Nürnberg oder Augsburg Feind zu werden.

Tage und Nächte hin­

durch lagerten die Ritter als Straßenräuber, wie Kaiser Maximilian I. sie bezeichnete, an den Handelswegen.

Wurden sie von den Städtern auf­

gespürt, so verloren sie als Placker und adelmäßige Taschenklopfer durch Henkershand ihr Leben; blieben sie Sieger über die Bürger, so nahmen

sie ihnen nicht nur das Gut, sondern übten auch die rohsten Grausam­ keiten an denselben,

ermordeten die Gefangenen oder hieben ihnen die

Hände ab und ließen sie verstümmelt laufen.

Rühmt doch Götz von

Berlichingen als Zeichen besonderer Großmuth von sich selbst, er habe die Gefangenen niederknieen und ihre Hände auf den Stock legen lassen, als hätte er ihnen Kopf und Hände abhauen wollen; „dann aber", setzt er hinzu, „trat ich den einen mit dem Fuß auf den Hintern und gab dem

andern eins an das Ohr, das war meine Strafe gegen ihnen und ließ sie also wieder von mir hingehen."

Das Ehrlose und Verwildernde eines

solchen Lebens trat den Rittern nicht vor die Seele, die Räuberei erschien ihnen vielmehr als eine männliche und herzhaftige Unsrommheit; wenn

sie nur in der richtigen Form abgesagt hatten, dann ließen sie sich das Morden und Brennen nicht weiter kümmern. Noch einmal schien es jedoch, als wolle der Adel seiner natürlichen Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 3.

18

Zur Geschichte des deutschen Adels.

242

Aufgabe, Anwalt und Führer des Volkes zu fein und bei jeder wahr­ haften Nationalreform sich an die Spitze desselben zu stellen, eingedenk

sein.

Als die Idee des Humanismus über die Alpen zu den deutschen

Geistern herniederstieg, hatte sich zuerst der Stand der deutschen Ritter als der fruchtbarste Boden gezeigt, auf dem sie ausgenommen und ver­

pflanzt werden konnte.

Mitten in seiner Corruption war der Adel doch

zuerst mehr als jeder andere Stand von der wiedergebornen Wissenschaft

getroffen und gereizt worden.

Und später sehen wir ihn auf politischem

Gebiete bestrebt für Herstellung einer zeitgemäßen, insbesondere die ver­

schiedenen Stände und ihre Sonderinteressen einander mehr annähernden

Reichsverfassung, der Reformation gegenüber im Bunde mit dem Bürgerthum im opferfreudigen Kampfe für die neue Glaubensfreiheit.

aber hört dies mehr und mehr auf.

Bald

In den protestantischen Ländern

durch die Aufhebung der geistlichen Pfründen um die Mittel der Versor­ gung seiner jüngeren Söhne gebracht, fast allerwärtS durch die Herab­

drückung der Stände in Abhängigkeit von der fürstlichen Gewalt und in

Unbedeutendheit in dieser seiner bisherigen, wenigstens zum Theil volksthümlichen Wirksamkeit beschränkt, sucht der Adel für jenes erstere wie für

dieses letztere Ersatz und Entschädigung im Hofdienst, drängt sich seitdem immer lebhafter an die Höfe, welche ohnehin von eben dieser Zeit an wie

an Macht so auch an äußerm Glanz einen Zuwachs erhalten, und nimmt

allmählig alle Hofämter in Besitz, während noch im 16. Jahrhundert Bür­

gerliche bisweilen solche, selbst von

den höchsten, bekleideten.

Zugleich

sondert er sich durch üppige und nichtige Lebensweise, durch hochfahrende Anmaßung von dem Bürger und seiner Gemeinschaft und mindert durch

gewaltsame Ausbeutung deS ihm untergebenen moralisches Ansehen.

„armen Mannes"

sein

Der demokratisch-speculative Sebastian Frank, der

den volkSthümlichen Bewegungsgeist der Reformation am tiefsten in sich ausgenommen, nennt daher den Adel „ein fremdes Ding im Christenthum" und einen auf „heidnische Privilegien" niedergelassenen Stand, den er

mit dem Geist der Brüderlichkeit und Gleichheit nicht vereinigen kann. Die traurigen Zeiten deS dreißigjährigen Krieges steigerten, indem

sie die Kraft des BürgerthumS Adels noch mehr.

vollends brachen, den Uebermuth deS

Statt seinen verarmten Gutsunterthanen aufzuhelfen,

benutzte er zum großen Theil ihre Noth und Ohnmacht, um ihnen neue oder höhere Lasten auszulegen.

Statt die allgemeinen Lasten zu theilen,

suchte er dieselben möglichst von sich abzuwälzen, indem er für seine Güter Steuerfreiheit beanspruchte, obschon das frühere Aequivalent dafür, der

Ritterdienst, aufgehört hatte.

Statt durch eigene Bewirthschaftung seiner

Güter deren zerrütteten Zustand

zu bessern, dadurch auch der kleinen

Zur Geschichte des deutschen Adels.

243

ländlichen Bevölkerung ein gutes Beispiel zu geben und förderlich zu sein, zog er es meistens vor, sich an den Höfen oder auf Reisen ins Ausland

moralisch und finanziell vollends zu ruiniren. Nur an vereinzelten Stellen hatte sich die alte gute Zucht noch länger

auch unter dem Adel forterhalten.

So schwor z. B. auf dem stettinischen

Landtage im Jahre 1602 die Ritterschaft feierlich, denjenigen, der sich künftig weigern werde, richtige Schulden prompt zu bezahlen, für einen Unmann, Schelm und Bösewicht zu halten und mit ihm weder essen noch trinken zu wollen.

Versündigung am Vaterland, Höhnung des Gottes­

dienstes, grobe Insolenz, muthwilliger Bankerott sollten der

ritterlichen

Vorrechte verlustig machen und den Gutsbesitz auf den niedigeren Agnaten bringen; bewährte Rechtschaffenheit und Gemeinsinn, was auch vom Bauer

gefordert werde, sei die erste Bedingung, um auf die adlichen Vorrechte

des Vaters Anspruch zu machen, und die Vorrechte sollten nicht durch Reichthum, sondern durch ausgezeichnete Verdienste ums Vaterland, also

auch stets mit gewissen Civil- und Militärstellen zugleich erworben werden. In solchem wahrhaft ritterlichen Sinn hatten der pommersche und bran­ denburgische Adel ihre Kinder meist in spartanischer Genügsamkeit für den Dienst des Königs erzogen, und die Schlachtfelder, auf denen Preußen seine

Ebenbürtigkeit mit den großen Mächten errungen, dem Stande den ersten Rang nach dem regierenden Hause gegeben. Dieser Standesgeist erlitt im Laufe des 18. Jahrhunderts eine nach­

theilige Veränderung.

Ganz besonders ist diese dem Eindringen fran­

zösischer Sitten und Anschauungen zuzuschreiben.

Der französische Adel

war seinem Wesen wie seinen Manieren nach vorzugsweise der Typus der europäischen Aristokratie geworden und wurde namentlich in Deutsch­

land als das eigentliche Ideal adeliger Sitten und Lebensweise in For­ men, Bildung und Gesinnung angesehen und nachgeahmt.

Der deutsche

Adel büßte sowohl durch die Richtung seines Naturells, wie auch in der

allgemeinen Haltungslosigkeit der nationalen Verhältnisse allmählig jeden originellen Charakter ein und verfiel in seiner Sprache wie in allen seinen Anschauungen dem französischen Zuschnitt.

Die Theorie des adeligen

Blutes gewann an der exclusiven Bildung ein neues Motiv ihrer Ent­

wicklung. Wie der edlere Nahrungsstoff den aristokratischen Körper weicher und zarter formte, so sollte auch eine spezifische Geistesbildung psychisch wirken und einen persönlichen Organismus darstellen helfen, der in seinem fein präparirten Geäder, wie in der Harmonie aller seiner Theile und

Formen mit keinem anderen menschlichen Product zu vergleichen wäre. Wie die Aristokratie ihr besonderes Blut hatte, so hatte sie auch bald ihren besonderen Gesichtsschnitt, Hände und Füße.

Zur Geschichte des deutschen Adels.

244

Selbst ein Friedrich der Große vermochte es nicht, sich von solchen

Anschauungen ganz los zu machen.

Nach seiner Meinung sollte der Lan-

deSadel nicht nur bei seinen alten persönlichen Vorrechten, sondern auch

bei seinem überkommenen Besitz erhalten werden. den Uebergang

adelicher

Güter

Er verbot deshalb

in bürgerlichen Besitz und

gestattete

davon nur während deS siebenjährigen Krieges eine Ausnahme.

Nach

dem Frieden aber kehrte er wieder zu dem zeitweilig verlassenen Princip zurück; in einer Verordnung vom Jahre 1774 bestimmt er sogar, daß,

damit ein in Concurs gerathenes adelicheS Gut nicht in seinem Werth ver­ ringert werde, für dasselbe eine besondere Administration durch einen von

der Kriegs- und Domänenkammer aus ihrer Mitte zu bestellenden Kriegs­

rath einzusetzen sei.

Wo dennoch Bürgerliche in den Besitz von Ritter­

gütern gelangten, wurden ihnen die mit denselben verbundenen adelichen

Ehrenrechte (Gerichtsbarkeit, Kirchenpatronat, Benennung nach dem Gute und die freilich illusorisch gewordene Landstandschaft) abgesprochen.

Eine

CabinetS-Ordre von 1785 verordnete dann unbedingt, daß „kein Mensch bürgerlichen Standes mehr die Erlaubniß haben soll, adcliche Güter an sich zu kaufen, sondern alle Rittergüter sollen bloß und allein für die

Edelleute sein und bleiben".

Solche Verbote waren freilich nicht durch­

zuführen, da der Adel selbst nicht ungern sah, wenn das wohlhabende Bürgerthum ihm seine verschuldeten Güter zu guten Preisen abkaufte. Friedrich der Große aber empfahl dem Adel selbst die Errichtung von Majoraten, um das Grundeigenthum der Familien ungetheilt und unge­ schwächt in den Händen ihrer Erstgeborenen zu erhalten, wie er auch den

Mißheirathen zwischen StandeSverschiedenen im Interesse des Adels streng entgegentrat.

Edelleute und Bürger waren auch in ihrem gesellschaftlichen Auf­ treten nicht blos durch die principielle Auffassung, sondern, was fast noch

tiefer wirkt, durch Aeußerlichkeiten und Abzeichen aller Art, durch den dem

Adel ausschließlich zukommenden Degen an seiner Seite und durch den dreieckigen, mit den weißen Straußenfedern gezierten Hut auf seinem Kopf

geschieden.

Dies erstreckte sich bis auf die Ballfeste int Berliner Opern­

hause, auf denen

es zu dem

exclusiven Recht deS Adels gehörte, in

Domino'S von Rosastoffen zu erscheinen, wie es die Standesgrenze der Bürgerlichen bezeichnete, daß sie in dem Tanzsaal nur hinter der durch eine Schnur gezogenen Schranke sich bewegen durften. Friedrich der Große ließ solche Verhältnisse bestehen, weil er den Adel als Princip in fein RegiernngS-System aufnehmen zu müssen glaubte.

Besonders aber suchte

der König in diesem Sinn die Offiziersstellen zu einer ausschließlichen Prärogative des Adelsstandes zu machen.

Einige junge Leute, die im

Zur Geschichte des deutschen Adels.

245

Kadettencorps ausgenommen worden und von denen er gehört, daß sie nicht von „rechten und wahren Adel" seien, -ließ er daraus entfernen und

gab anheim, solche Menschen lieber zur Artillerie abzugeben, wo sie eher

geduldet werden könnten. Solche Verhältnisse waren doppelt unerträglich, nachdem Besitz und

Bildung dem Adel gegenüber den übrigen Ständen keineswegs mehr ein

erhöhtes Ansehen gaben.

Die gegen Ablauf des Jahrhunderts einreißende

Gewinnsucht, der Güter- und Uuterthanenhandel desselben löste die sitt­

lichen Bande, zog den Stand von seiner Höhe herab, uiib je mehr er sich auch in der äußeren Lebensweise den reichen Städtern näherte und mit ihnen in Berührung trat, desto mehr mußte sich die willige Anerkennung

der gesetzlichen Unterschiede verlieren.

Die Frage über die Zukunft des

Adels -war für denkende Staatsmänner um so weniger abzuweisen, als die Lehren und Waffen der französischen Revolution, so weit sie reichten,

auf Vernichtung desselben ausgingen, und die bevorstehende Einführung der allgemeinen Wehrpflicht mit erblichen Vorzügen im Dienste unver­

einbar war.

Zur Kenntniß der zur Zeit der Stein'schen Gesetzgebung herrschenden einschlägigen Verhältnisse diene nur die eine Thatsache, daß sich in der

Mark Brandenburg das platte Land theils als unmittetbares, theils als

mittelbares Eigenthum in den Händen der vierthalbhnndert Ritterguts­ besitzer befand, denen die Gerichtsbarkeit und Ortspolizei zustand und die

meist das Patronatsrecht über Kirchen und Schulen übten; auch gehörte ihnen die mittlere und niedere Jagd und blieben ihnen die Gutseinge­ sessenen zu Geld- und Naturallieferungen verpflichtet.

Die Rittergutsbe­

sitzer selbst waren von allen direkten Abgaben, bis 1799 auch von den

Zöllen befreit, sie waren dem gezwungenen Militärdienst nicht unterworfen, sie vertraten die übrigen Stände des platten Landes in allen land- und kreisständischen Angelegenheiten.

In diese Zustände griff nun die Stein'sche Socialgesetzgebung mit kühner, aber heilsamer Hand ein.

Das Edict vom 9. October 1807,

„den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigenthums, sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner betreffend", knüpft

an die Aufhebung des Unterschieds zwischen adeligen und nichtadeligen Grundstücken sofort in § 2 die Zulassung des Edelmanns zum Besitz

bürgerlicher und bäuerlicher, wie auch des Bürgers und Bauern zum Be­ sitz von Rittergütern.

Wenn auch die Freizügigkeit von Stand zu Stand

zunächst nur innerhalb der Volksstände erklärt wurde, so war doch da­

durch ein tiefer Riß, der die weiteren Consequenzen von selbst ersichtlich machte, in das feudale Gesellschaftsshstem geschlagen worden.

Zu diesen

Zur Geschichte des deutschen Adels.

246

verschwiegenen Consequenzen gehörte, als eine der principiellen Forde­ rungen der Revolution, die Aufhebung des Adels selbst, welche zwar ganz und gar nicht unter den OrganisationS-Jdeen Stein's sich befand, die sich

aber logisch von selbst verstand, sobald überhaupt nach individuellem Be­ dürfniß von einem

Stand in den anderen übergegangen werden konnte

und sobald auf der andern Seite die Feudalität des Adels, welche immer

vorzugsweise seinen Begriff und sein Wesen ausmachen wird, für erloschen erklärt wurde.

Denn diese Feudalität fiel im ganzen Umfang

ihrer

Rechte durch das Edict selbst, welches die Theilbarkeit des GrundeigenthumS und die Auflösung aller und jeder Gutsunterthänigkeit anordnete und die Aufhebung der Lehne, Familien-Stiftungen und Fideicommisse

auf dem Wege der Familienschlüsse wenigstens anzubahnen begann.

Die unmittelbaren Anschauungen und Arbeiten Stein's

über die

jedenfalls von ihm bezweckte Reorganisation des Adels sind leider mit den Akten, in denen sie ntedergelegt wurden, auf eine ziemlich unerklär­

liche Weise der Oeffentlichkeit entzogen worden.

Einen Rückschluß auf

dieselben dürfen wir mit großer Wahrscheinlichkeit aus den einschlägigen Ansichten seines Jugendfreundes August Wilhelm Rehberg machen.

Der­

selbe hatte im Jahre 1804 in einer Schrift „über den deutschen Adel" den Gedanken entwickelt, den Adel durch Umbildung nach dem Muster

der englischen Peersgeschlechter in ein richtigeres Verhältniß za den übri­

gen Ständen zu bringen.

Daß Stein einer- solchen Reform nach eng­

lischem Muster zugeneigt war, darauf weisen auch mannigfache Andeutun­

deutungen in seinem VerfassungS-Entwurfe hin.

Wie jeder ächte Staats­

mann konnte er nicht unbedingt eine Einrichtung verwerfen, welche zwar

in ihrer gegenwärtigen Erscheinung Unzulänglichkeiten zeigte, aber in ver­

jüngter Gestalt einen wohlthätigen Einfluß

auf das Ganze behaupten

konnte: er wollte Verbesserung, nicht Abschaffung des Adels.

Wie bet

allen seinen Neueinrichtungen geht er auch bezüglich seiner Reformge­

danken über den Adel auf die historischen Grundlagen desselben zurück. Größerer Grundbesitz mußte ihm daher als die wesentliche Vorbedingung

adeligen Wesens gelten.

Zugleich sollte sich jedoch der Adel auch

auf

eigenes Verdienst um den Staat gründen, das aber schon dadurch festge­

stellt sei, wenn Jemand einem Geschlechte des bisherigen Adels angehöre — hierbei wurde dann eben gleichsam das Verdienst der Vorfahren als

das eigene mangelnde ersetzend angenommen —, oder eine höhere Stellung im Staatsdienste etnnehme.

Zugleich dachte er daran, den Adel nach der

Verschiedenheit seines Einkommens in verschiedene Classen abzustufen, wo­

bei er als den entscheidenden Grundsatz aufstellte, daß der Adel mit dem

unverminderten Landeigenthum sich vererben solle.

ES war dies eine an

Zur Geschichte des deutschen Adels.

247

das englische Muster erinnernde Unterscheidung zwischen Adel und AdelSfähigkeit, welche letzte nur denen zugeschrieben wurde, welche nicht in daS

Erbe des vollen GrundeigenthumS eingetreten waren, oder die als Mit­ glieder des bisherigen Adels doch nicht zum Eintritt in den neuen Adel für befähigt

erachtet werden sollten.

Dieser Punkt bot

die

größten

Schwierigkeiten dar, da er eine große Zahl ehrenwerther Menschen in ihren ererbten Gefühlen verletzen mußte — man denke nur an die Tau­ sende durch den Tilsiter Frieden brodlos gewordenen Offiziere! —, aber

die Noth der Zeit war so groß, daß man noch zu schwereren Opfern ent­

schlossen gewesen wäre.

Der als wirklicher Standesrepräsentant aner­

kannte Adel war dann, als erster Stand, dazu bestimmt, persönlich zu

den Provinzial-Landtagen und, theils persönlich, theis durch Abgeordnete

aus seiner Mitte, zu den Reichsständen berufen zu werden. organischen Verfassungsarbeiten aber

In seinen

erklärte Stein mehrfach eine aus

Geschlechts- und Güteradel zusammengesetzte erste Kammer oder Herren­

kammer für eine nothwendige Institution.

Zur Hebung und Pflege dcS

aristokratischen Standesgeistes sollten StandeSgerichte constituirt werden,

um unwürdige Mitglieder des Adels aus demselben auszustoßen.

der anderen Seite stand ihm

auch wieder die

Auf

nationale Freiheitssache

höher als jedes Standesinteresse: als es sich um die Eröffnung des euro­ päischen Krieges gegen Frankreich handelte, machte Stein in einer ge­ heimen Berathung mit Scharnhorst, Gneisenau, Grolmann und Bohen

den Vorschlag, bei Ausbruch des Kampfes die Aufhebung des Adels zu erklären. Schon vor den Steinschen Reformen hatten äußere politische Ereig­

nisse den Rechtszustand des gesammten deutschen Adels auf das Heftigste erschüttert.

Namentlich der hohe Adel verlor in Folge der Mediatisirung

seiner Gebiete die eigentliche Grundlage seiner ausgezeichneten Stellung,

und nur ein sehr geringer Bruchtheil seiner alten Vorrechte ist ihm durch die deutsche Bundesacte wieder zurückgegeben worden.

Der Artikel 15

derselben beabsichtigte, den im Jahre 1806 und seitdem mittelbar gewor­

denen ehemaligen Reichsständen „einen gleichförmig bleibenden RechtSzustand" in allen Bundesstaaten zu verschaffen, und sicherte dazu diesen fürstlichen und gräflichen Häusern vor allen daS Wesen des „hohen Adels"

in Deutschland und „das Recht der Ebenbürtigkeit in dem bisher damit

verbundeneu Begriff

Nach dieser Bestimmung der BundeSacte sollten

die Häupter dieser Häuser die ersten Standesherren in dem Staate sein,

zu dem sie gehören, und in demselben nebst ihren Familien die „privilegirteste Klasse" bilden, welche Eigenschaft ihnen nicht nur in Ansehung der Besteuerung, sondern auch durch privilegirten Gerichtsstand, durch Be-

Zur Geschichte des deutschen Adels.

248

fretung von aller Militärpflicht für sich und ihre Familien, durch selbst­ eigene Ausübung der bürgerlichen und peinlichen Gerichtspflege in erster

und auf großen Besitzungen auch in zweiter Instanz, durch OrtSpolizei und Aufsicht in Kirchen- und Schulsachen, wie auch durch Ertheilung mancher anderer Rechte, wenn auch unter Hinweisung auf die besondern

Vorschriften der Landesgesetzgebung, zugesichert wurde. Eine Mittelstellung zwischen dem hohen und niedern Adel hatten zur

Zeit des alten deutschen Reichs die Reichsritter eingenommen.

Obschon

ihnen nicht die volle LandeSsvtlveränität der reichsständischen Geschlechter

zustand, so war ihre staatsrechtliche Stellung doch keine von derjenigen der letzteren wesentlich verschiedene.

Gewöhnlich hatten die Reichsritter, theils

in Folge langjährigen Herkommens, theils in Folge kaiserlichen Privilegs, die wichtigsten Territorialrechte über ihre Gebiete erworben und durften

daher jedenfalls nicht als bloße Grundbesitzer betrachtet worden.

Der Um­

stand, daß die ReichSritter manche einzelne Befugnisse von spezieller kaiser­ licher

Concession herleiteten, konnte nicht im Wege

stehen, auf ihre

Territorial-Verhältniffe den Begriff der Landeshoheit anzuwenden, denn

auch die Reichsstände hatten bekanntlich viele ihrer landesherrlichen Rechte

auf die nämliche Weise erhalten, und gleichwohl zweifelte Niemand an deren Landeshoheit; im Gegentheil, als für die immer höher steigende Summe der reichsständischen Territorialrechte der allgemeine, aber freilich

stets unbestimmt gebliebene Begriff der LandeSobrigkeit oder der Landes­ hoheit geschaffen wurde, gebrauchte man denselben auch für die wachsende

Territorialgewalt der ReichSritter.

Auf ihrem Gebiete übten sie nicht nur

GesetzgebungS- und Besteuerungsrecht, sondern auch die Regalien

der

Münze, des Zolls, des Geleits, der Posten, der Jagd, der Gerichtsbarkeit

und Polizei.

Sie unterschieden sich also von dem hohen Adel nur da­

durch, daß sie auf dem Reichstage keinen Sitz hatten.

Auf den tiefen

Verfall, in welchen ihre Corporation in den letzten Jahrhunderten vor

Auflösung des deutschen Reichs gerathen war, weiter

will ich mich hier nicht

einlassen, nachdem diese Verhältnisse in Perthes und später in

Häusser so treffliche Schilderer gefunden haben.

Es genüge also, wenn

ich noch bemerke, daß auch diese Gruppe des historischen Adels von den Wogen des Revolutionszeitalters mit fortgeschwemmt wurde.

Zum Wiener

Congreß nun trat die Reichsritterschaft zusammen und wählte Bevoll­

mächtigte, die ihre Sache vertreten sollten.

Im Einzelnen wichen freilich

ihre Wünsche vielfältig von einander ab.

Während die ReichSritter am

Rhein und in der Wetterau, an deren Spitze Stein unterzeichnet stand,

nur verlangten, bei den Rechten geschützt und in deren Genuß wieder ein­ gesetzt zu werden, welche zur Erhaltung der adeligen Familien und zur

Zur Geschichte des deutschen Adels.

249

Sicherstellung des richtigen Verhältnisses des Adels zum Staate überhaupt

nothwendig und mit der künftigen Verfassung vereinbar seien, tauchten daneben bald Begehren auf, deren Erfüllung eine der unzweifelhaft wohl­

thätigen Wirkungen der Revolution von 1803—1806 wieder aufgehoben hätte.

In einer Denkschrift, die nachher übergeben ward, war vorerst die

volle Restitution der früheren Stellung als ein wohlbegründetes Recht gefordert;

indessen wenn die künftige deutsche Verfassung gewisse Ein­

schränkungen durchaus gebieten sollte, so sei der Adel wohl bereit, sich der

eisernen Nothwendigkeit insoweit zu unterwerfen, als er gewisse Rechte durch Vertrag an die Glieder des künftigen Bundes abtreten würde.

solche Einräumungen waren bezeichnet:

Als

die Anerkennung der landesherr­

lichen Jurisdiction, die Aufsicht über die Rechtspflege erster und die Ueber-

lassung der Rechtspflege zweiter Instanz, die hohe Polizei, die Landes-

vertheidigungs-Anstalten, der keit u. a.

Schatzungsbezug, die Oberkirchenherrlich­

Auf den übrigen Rechten glaubte man aber bestehe» zu müssen;

außerdem ward die Aufhebung des Lehnsverbandetz gegen die Fürsten des Rheinbundes und bei den künftigen Reichsversammlungen die Ertheilung

einiger Curiatstimmen gefordert. Hand in Hand mit diesen auf die Wiedergewinnung der verlorenen

äußeren Stellung gerichteten Bestrebungen gingen andere, welche eine in­ nere Reform des Adelstandes bezweckten.

Gerade in die Zeit des Wiener

Congresses fällt jener Plan der sogenannten Adelskette, welche unter diesem

symbolischen Namen zunächst einen aristokratischen Bildungsverein durch ganz Deutschland in's Leben rufen wollte, indem auf dem Grunde einer

gemeinschaftlichen und zusammenhängenden Organisation die körperliche, geistige und sittliche Ausbildung des Adels zu einer eigenthümlichen, alle anderen Stände überragenden Höhe gebracht und in jedem Sinne eine

aristokratische Musterwirthschaft, jedoch im Interesse und zur Ehre der

Nation selbst gegründet werden sollte.

In Kreise und Gauen getheilt,

durch Vorsteher geleitet und zu regelmäßigen Versammlungen zusammen­ tretend, sollte der Verein den gesammten deutschen Adel als eine organi­ sche Körperschaft umfassen, denselben „fest wie die Ringe einer Kette zu­ sammenhalten und weder Anfang noch Ende zeigen, an dem die Glieder

getrennt und von einander entfernt werden könnten".

Der Plan hat je­

doch gleich bei seinem. Entstehen vielfachen Widerspruch erweckt, und es ist denn auch bei dem Entwürfe geblieben.

WaS von Adelsprivilegien die nach französischem Muster eingerich­

teten Gesetzgebungen,

die Stein'schen Reformen,

endlich seit 1815 die

neuen konstitutionellen Verfassungen übrig gelassen hatten, damit räumte das Jahr 1848 vollends

auf.

Nur noch

geringe Reste der früheren

Zur Geschichte des deutschen Adels.

250

Sonderstellung hat der deutsche Adel in unsere Gegenwart herein gerettet.

Daher die eigenthümliche unsichere Haltung desselben:

einerseits keine

klare und bedeutende politische Stellung, die ihm das Gefühl großer

Pflichten nahelegen könnte, in seiner Mehrzahl auch ohne auszeichnende materielle Mittel, um damit eine hervorragende Rolle im öffentlichen oder

im socialen Leben zu spielen, andererseits doch wieder in seinen Namen und Titeln wie in seinen geschichtlichen Erinnerungen Ansprüche und An­

triebe mit sich herum tragend, die ihn nicht ruhen, ihn zu einem völligen

Aufgehen in der Gesammtheit deS Volks schwer kommen lassen.

Da

wir hier blos Beiträge zur Geschichte deS deutschen Adels liefern wollten,

so fällt die Gegenwart und Zukunft desselben völlig unserer Aufgabe.

aus dem Bereich

Nur das eine wollen wir noch, gleichsam

als die

Grundlehre, die uns die Lehrmeisterin Geschichte für jede künftige Reform an die Hand giebt, hervorheben: daß nämlich jede solche, wenn sie Aus­

sicht auf nachhaltigem Erfolg haben will, wieder auf die Grundlagen und Bedingungen unseres alten historischen Adels wird zurückgreifen müssen. Wie ein rother Faden zieht durch die ganze Geschichte unserer Gesellschaft

die Lehre, daß der Adel nur da an seinem richtigen Platze ist und ein

gesundes, entwickelungsfähiges Glied des Volksganzen repräsentirt, wo er, wie in England, auf historischem Glanz, großem Grundbesitz, unabhän­

giger Stellung und insbesondere auf politischer Macht sich aufbaut. Hier aber liegt gerade für unseren heutigen Adel die Schwierigkeit.

Die deutschen Constitutionen haben sämmtlich die Repräsentation des Adels an den Grundbesitz geknüpft, sind aber der englischen Verfassung dadurch vollständig entgegengesetzt, daß man in Deutschland kaum sagen

kann, worin der Adel bestehe, während in England nur die Repräsen­

tanten der vom Staate anerkannten, indeß numerisch sehr beschränkten Aristokratie von Adel sind.

Alle bedeutenden politischen Schriftsteller

(Montesquieu, Möser, B. Constant, Dahlmann, Zachariae) kommen darin

überein, daß die constitutionelle Monarchie

einen politischen Adel

als

Stand bedürfe, daß aber, um einen solchen zu bilden, außer dem Grund­

vermögen als erster Bedingung Selbständigkeit der Personen dazu gehöre. Alle legen deshalb einen besonderen Werth auf bekannte, hochgestellte, freie, historische Geschlechter, die bei den Ernennungen zu PatrS in Zukunft zu

berücksichtigen wären, , so weit sie eS nicht schon sind. aber in Deutschland gar nicht zu finden?

Wären solche nun

Solche, die der Neid nicht

träfe, weil man in den Vorzügen, deren sie genießen, nur eine geringe

Entschädigung für frühere Verluste sieht?

ehemals

Ich meine die Mitglieder deS

reichsständischen, jetzt sogenannten

mediatisirten Adels, deren

.Häupter allein ihre Herrschaften vertreten, obwohl ihnen an Ehrenrechten

Zur Geschichte des deutschen Adels.

251

nach der alten deutschen Bundesverfassung die niederen Mitglieder der­ selben Familie gleichstehen.

Die politischen

Rechte derselben sind bis

jetzt nur vorgezeichnet, keineswegs zu einer Harmonie mit den Verfassun­ gen der Länder, in welchen sie sich aufhalten, gebracht, sie sind weit mehr persönlicher als dinglicher Natur, weil der Begriff einer Herrschaft und

die Rechte, die aus derselben fließen, nirgends vollkommen und gesetzlich festgestellt sind.

Welchen reellen Nutzen gewähren z. B. alle persönlichen

Vorzüge und Ehren der Mitglieder reichsständischer Familien, die nicht

Häupter derselben oder nicht Besitzer von Herrschaften sind, wenn sie nicht von dem Augenblick an, wo sie durch Kauf, Bermächtniß u. s. w. in den

Besitz solcher Herrschaften gelangen und Häupter werden, auch die poli­ tischen Rechte der Standschaft erhalten?

Und doch läge dies gerade im

Princip des Adels als Stand, im Princip eines wesentlichen Adels, wie ihn die deutschen Verfaffungen voraussetzen, daß nicht bloß die persön­

lichen Vorrechte, sondern der Grundbesitz und die Lasten, die auf dem­ selben ruhen, die Staatsrechte gewähren.

Ein Gesetz, wie es zu Anfang

der vierziger Jahre in der ersten Kammer Bayerns durchgegangen ist: „daß dem Könige das Recht zustehe, nach dem Erlöschen einer ehemals reichSständtschen Familie oder nach dem AuStreten derselben aus dem Be­ sitze einer vormals reichsständischen, im Königreich gelegenen Herrschaft einer anerkannten reichsständischen Familie, welche seitdem zu dem Besitz einer normal reichsständischen, im Königreich gelegenen Herrschafft gelangt ist, die erbliche ReichSrathSwürde für das Haupt dieser Familie zu ver­

leihen" — ein solches Gesetz dürfte sich der Zufriedenheit aller constitutionellen Stände mit Recht erfreuen.

Denn will man überhaupt zu einer

Reform deS Adels schreiten, so dürfte eS am gerathensten sein, denjenigen Theil dieses Standes in seiner Grundlage zu festigen, der die wenigste

Abneigung gegen sich hat und der sich noch am meisten der Selbständig­

keit erfreut.

Denn wer möchte es diesen alten reichsständischen Familien

streitig machen, daß sie die wesentlichen Bedingungen einer vernünftigen

Aristokratie in sich tragen?

Durch ihre Ebenbürtigkeit stehen sie den

Souverainen am nächsten; ihre Macht ist meistentheils durch großes Ver­ mögen und schon durch persönliche Rechte geschützt; sie sind eine Noth­

wendigkeit geworden, der nur politischer Unverstand sich entgegenstemmen kann; für die Entwicklung deS StaatSlebenS selbst müßte es vortheilhaft

erscheinen, einen Adel zu haben, auf dem allein noch als solchem die Er­ innerung der alten deutschen ReichSfreiheit ruht;

sie haben historische

Namen, sie waren der heutigen Souveratne ehemalige Genossen und

Gleiche; sie werden nicht, wenn sie immer mehr und mehr an die Lan­

desverfassungen geknüpft werden, die auch zu den ihrigen gemachten Ber-

Zur Geschichte des deutschen Adels.

252

fassurigSrechte fallen lassen, denn sie sind am stärksten gegen jede Willkür geschützt, können ihr am leichtesten entgegentreten und werden im Gefühl

der erlittenen Unterdrückung um so zäher an den ihnen gebliebenen Rech­ ten festhalten.

Ihr Adel stammt von keinem Landesherrn; der Kaiser,

der sie erhob, ist nicht mehr; sie sind ein durch und durch freier Stand.

Nur durch die Anknüpfung einer Reform unseres Adelsstandes an diese historischen Grundlagen seiner Existenz ist ein gedeihliches Wieder­

aufleben desselben möglich.

Alle übrigen Verhältnisse und Eigenschaften,

welche vormals den Adel zum herrschenden, tonangebenden Stand gemacht haben: Besitz, Bildung, persönliche Thätigkeit, ritterliche Tüchtigkeit u. s. w.,

sind heutzutage Gemeingut aller Gebildeten.

Die Besitzverhältnisse wie

die Berufsarten und ihre entsprechende Geltung im gesellschaftlichen GesammtorganiSmuö sind wesentlich andere geworden. Diese Veränderungen rückgängig zu machen, wird weder einem

ganzen Stande gelingen.

einzelnen noch

selbst einem

Nur wer sie anerkennt und sich in sie schickt,

wird vermögend sein, einen Einfluß in der Gegenwart zu üben, der ihm selbst und dem Ganzen frommt. DaS ist die zweite Mahnung, die man bei jedem Reformversüch wohl beherzigen möge; auch in diesem Punkte,

dem frischen, sich immer wieder erneuernden Jneinanderfluß der einzelnen Volksstände, dem organischen Verwachsensein deS Adels mit den übrigen

Theilen des GesammtnationalkörperS, ist England und seine Aristokratie

ein leuchtendes Vorbild. Posen.

Christian Meyer.

Zur Würdigung Lavater's. Eine Nachlese über Lavater kann sich nur auf seine Theologie und auf seine Physiognomik, soweit dieselbe noch nicht gewürdigt worden ist,

unter steter Bezugnahme auf seine Gesammtstellung in der Geschichte der Cultur erstrecken.

Der Mensch, der Bürger und Patriot, der Dichter

geistlicher und nichtgeistlicher Lieder, der Beichtvater und Gewissensrath eine- engeren und eines weitesten Kreises, der Epistolograph Lavater — sie alle haben in der Literatur ihre genügende Beachtung gefunden; aber

der genannte Nachtrag steht noch auS.

Unstreitig ist Lavater'S theologischen Bestrebungen, die während seines Lebens und Wirkens von der Aufklärung in Bausch und Bogen verurtheilt,

von der Kirche sprachlos angestarrt, von Gleichgesinnten mehr mit einem

succös d’estime, als mit lebhaftem Beifall und klarem Verständniß be­ gleitet worden sind, neuerdings von Männern, wie Holtzmann, K. I. Nitzfch,

Geher, Hagenbach die gebührende Aufmerksamkeit zugewendet worden; noch

fehlt'S aber an einem gründlichen Bericht über deren Inhalt und an einer befriedigenden Ausmittlung der Stelle, die sie in der Geschichte der Theo­

logie einnehmen.

Die wissenschaftliche Arena hat Lavater im Jahr 1769 mit einer Art akademischen Schrittes betreten, indem er „allen Freunden der Wahrheit

zur unparteiisch-exegetischen Untersuchung drei Fragen von den Gaben des

heiligen Geistes vorlegte".

Unter den Gaben des heiligen Geistes ver­

steht er einmal die Mittheilung dieses Geistes, sodann die Kraft des Ge­

bets, auf Gott eine bestimmende Wirkung hervorzubringen, endlich das

Vorrecht des Glaubens, Wunder thun zu können.

Diese Gaben seien,

wie niemand in Abrede ziehe, den Aposteln verliehen worden; aber sie seien seiner Ueberzeugung nach nicht auf die ersten Zeiten des Christen­ thums beschränkt, vielmehr seien sie der Bibel zufolge allen Christen aller

Zeiten und Orte aus gewisse Bedingungen hin ebenso unbeschränkt ange­ boten worden,

als die Vergebung der Sünden und das ewige Leben.

Er behaupte, es lasse sich in der ganzen Schrift keine Stelle finden, welche

Zur Würdigung Lavater'S.

254

dieselbe nur dem Urchristenthum beilege.

Lavater erhielt Zeitlebens auf

die genannten Fragen, die er bis an fein Ende auf dem Herzen trug, keine Antwort, die ihm entsprochen hätte.

Mochten ihm seine AmtSbrüder

beifallen, wenn er in dem ihnen vorgelegten „Etwas über meine Religion und mein Christenthum" (Herzenserleichterungen 1784) die Beiwohnung

des Geistes als eines specifischen Bindemittels mit Gott, als einer Bei­ hilfe zu ausgezeichneten Tugendleistungen, Geistesgenüssen, EwigkeitSausblicken beansprucht: sie konnten mit ihm nicht gehen, wenn er den GeisteS-

beitrag bis zu Verleihung des Vermögens der Divination und Prophetie

steigert, sowie sie und andere, in ihrer gut bürgerlichen Denkweise, über­ haupt vor einer Supranaturalisirung der Gegenwart durch Verpflanzung

einer

wunderhaften Vergangenheit

auf ihren

nüchternen

Boden

und

wiederum vor einer Naturalisierung der heiligen Geschichte durch Ein­ mischung der natürlichen Faktoren der Jetztzeit in ihre Vorgänge*) zurück­

beben mochten.

Ja, Herder, wenn er sich gegen Nicolai über die drei

Fragen dahin ausspricht, sie seien ohne Kenntniß der Bibelsprache und der ersten Zeiten des Christenthums

gestellt und der Weg zu tausend

Schwärmereien, mochte bereits diese natürlichen Factoren näher kennen. Er mochte ahnen, daß hier dem selbstlosen Wirken heiliger Männer im

Dienste Gottes, der sie mit seinen großen Thaten begleitete, das persön­ liche Virtuosenthum des Wunderthäters oder der Seherin, der mitunter auf Magie sich richtende Genialitätsdrang der Sturm- und Drangperiode unterschoben worden ist**).

Gervinus, auf dem an sich richtigen Satze fußend, daß beim ersten

Auftreten Lavater'S alles, nicht nur Klopstock und die Klopstockianer, auch Herder, auch Goethe, selbst Lichtenberg mit oder ohne ihn geschwärmt

haben, beruft sich für die damalige formale Berechtigung Lavater'S, seine GeisteSgaben aufzustellen, darauf: wie konnte man es ihm verargen, die

Zeiten der Apostel wieder zu bringen, wenn man selber die Zeiten Ossian'S und Homer'S zu erneuern dachte?

Wir möchten hierauf bemerken, daß es

denn doch Lavater gar nicht um eine Restauration der Apostelzeit mit

ihrer Wesenheit, mit ihrer Einfalt und ihrer Sittenstrenge zu thun war. Er mochte zwar auch hie und da dorther etwas ihm Zusagendes, wie *) Vgl. Bodemann: Lavater nach seinem Leben, Lehren und Wirken 1856 S. 351: In der erste» Aufregung äußerte er sogar etwas überschwänglich von MeSmer: „ich verehre diese neu sich zeigende Kraft als einen Strahl der Gottheit, als einen königlichen Stern der menschlichen Natur, als ein Analogon der unendlich vollkommneren prophetischen Gabe der Bibelmänner". **) Gegen Spaltung erklärt 1786 Lavater die DivinationSgabe der magnetisierten Somnambülen für ein Analogon der Prophetie und die Befähigung des Magneti­ seurs, diese Exaltation zu bewirken, für ein Analogon der apostolischen Handaaflegung, welche ähnliche, nur unendlich höhere Effecte hervorbrachte.

Zur Würdigung Lavater'S.

255

gegen Symbolzwang den „unbtndenden Geist der Apostelzeit", reklamieren: noch mehr aber ging er auf das unveräußerliche Urrecht des Christen aus,

alle Segensfülle der christlichen Urzeit in seinen eigenen Besitz zu be­

kommen.

Indem er auf diese Weise weniger nach Art der Teutonen und

Bardenanbeter romantisch schwärmte, als revolutionär gegen' sein nüch­

ternes, glaubensträges Zeitalter vorging, ist die genannte formale Be­ rechtigung anderswo zu suchen, als GervinuS meint.

Sie beruht darin,

daß er im Interesse der Religion ein lebensfrisches, geistdurchdrungenes

Christenthum, mochte sich auch dasselbe unter seinen Händen recht indivi­ dualistisch gestalten, und im Interesse der Logik eine einheitliche, durch keine

Extrawunderperiode der Menschheit durchlöcherte, Weltanschauung reclamierte. Vorzüge die eS lohnen, den Prämissen nachzugehen, auf die sich seine GeisteSgabentheorie gründet.

Lavater hat seine theologischen Ideen am meisten im Zusammenhang

niedergelegt in:

„Briefe über die Schriftlehre von unserer Versöhnung

mit Gott durch Christum, an einen „„Graf"" 1793 geschrieben" und in

dem Artikel:

„Jesus Christus stets derselbe, nicht beschränkt durch Zeit

und Raum, nicht durch die Unwürdigkeit der Glaubenden an ihn oder

neue Ausgabe des alten Evangeliums für rechtgläubige Christen", Arbeiten,

die im zweiten, religiöse Briefe und Aufsätze enthaltenden, Band seiner

von Georg Geßner 1801—1802 edierten nachgelassenen Schriften stehen

und zu denen „die Aussichten in die Ewigkeit" 1768—1772 und aus seiner ausgebreiteten Correspondenz besonders der „Briefwechsel mit Hasen­

kamp" (ed. K. Ehmann 1870) beizuziehen ist*). ES war im Zeitalter Lavater'S, in das noch kein kategorischer Im­

perativ, noch weniger das später aufgestellte radicale Böse**) eingedrungen

war, nichts Neues, daß der Sünd- und Schuldbegriff theils abgeschätzt, theils zum mindesten abgeschwächt,

die menschlichen Fehler blos

noch

anthropologisch und psychologisch und nicht mehr theologisch taxiert, die

Erbsünde durch die ursprüngliche Güte und Trefflichkeit der Menschen-

*) Pontius Pilatus oder die Bibel im Kleinen und der Mensch im Großen in drei Bänden 1781—1784 bietet de« Dogmatischen wenig. Dafür ist diese Schrift, von der Goethe (erst beim letzten Band urtheilte er milder) wegen der in ihr präten­ dierten Dramatisterung der Leidensgeschichte Jesu und wegen ihres mitunter pro­ vokatorischen Tones über Gebühr angewidert worden ist, eine auch jetzt noch ver­ wendbare homiletische Fundgrube. **) Vgl. über dieses Novum eine der stärksten antilavater'schen Stellen Goethe'S, an Herder 1793: „Bon Lavater'S Zug nach Norden habe ich gehört, auch daß er den Philosophen deS Tags unterwegs gehuldigt hat. Dafür werden ste ihm ja auch gelegentlich die Wunder durch eine Hinterthüre in die Wohnung des Menschenver­ standes wieder hereinlaffen, werden sortfahren, ihren mit vieler Ruhe gesäuberten Mantel, mit dem Saume wenigstens, im Quarte des radikalen Uebels schleifen zu lassen."

256

Zur Würdigung Lavater'S.

natur, die stellvertretende Genugthuung Christi durch daö freiwillige Er­ barmen und Verzeihen einer im Lieben unerschöpflichen Gottheit abgelöst, über die tiefe Kluft des christlichen BußgefühlS mit dem kecken Ansprung

aufgeklärten Tugendeifers hinübergesetzt wurde.

Galt eS ja überhaupt

damals, daß die Menschheit wieder ein rechtes Herz zu sich und zu ihren

eigenen Hilfsquellen fassen sollte.

Lavater hat diese pelagianische Richtung

der vorkantischen Zeit verschärft und vertieft.

Er leistet fast Unglaubliches

in der Anpreisung deS moralischen lapsus als eines fast gesicherten TugendhebelS und Impulses zum sittlichen Fortschritt.

Wenn der Gläubige erst

der ErlösungSthat Christi bedurfte, um sich den Zutritt zu Gott zu er­

möglichen, wenn selbst dem deistischen Auseinanderhalten des Göttlichen und Menschlichen die Scheu vor dem unnahbaren -Absoluten, vor Gott,

dem Heiligen zu Grunde lag:

Lavater hat sich von Kind auf gewöhnt,

für physische und moralische Bedürfnisse von seinem Gott Gebrauch zu machen, hat einen zu guten Glauben an die Menschheit und sein eigenes

redliches Streben, als daß er nicht keck bei der ihm zu dem noch durch Christus verbürgten Gerechtigkeit vor Gott

zugriffe.

Wenn aber die

Kirchenlehre durch die äußerliche Vorstellung von einer Uebertragung des Verdienstes Christi auf die Gläubigen in ihrem Bemühen, das Göttliche dem Menschenherzen immanent zu machen, gehemmt, die Aufklärung in der Streichung des Gottmenschen

die Verbindung zwischen Gott

und

Mensch fast aufgehoben hatte, so vertieft er die Theologie, hier durch Wiedereinschiebung Christi, des Regenerators der sinkenden Menschheit*),

dort durch Ueberwindung der Stufe der Vorstellung und Anbahnung der Stufe deS Begriffs.

Vor Allem gilt eS nun aber, daß der Gelehrte Lavater vor feinem

eigenen AmtSgewiffen, das

ihn übrigens zum Voraus vom kirchlichen

Symbol dispensiert hat, und vor dem Publikum feine christliche Loyalität decke.

Er muß seinen Standpunct exegetisch rechtfertigen können.

Eine

Aufgabe, der er in seiner durch rege Phantasiebeweglichkeit unterstützten

Pietät gegen den Buchstaben der Schrift eine gute Dosis von bona fides

entgegenbringt und der er, alles erwogen, Dank der Mannigfaltigkeit der biblischen Anregungen, auf eine Weise, deren er sich nicht zu schämen

braucht, gerecht geworden ist.

*) Vcrgl. eine Aeußerung vom 28. December 1785 (Lavater'S ausgewählte Schriften ed. Orelli 1844 ff.), wo beides nebeneinander steht: Christus, Sammelpunkt aller in den Menschen vorhandenen Ebenbilder Gottes, so daß er des Menschen GotteSwürde in stch aufgeschlossen hat und Christus, der diese GotteSwürde des Men­ schen durch stch rehabilitirt hat. Ueber das Ausschließen s. u. Christus, Interpret der Menschennatur.

257

Zur Würdigung Lavater'S.

Bei dem Angelpunct des Christenthums, der Versöhnung, geht Lavater von der Grundthesis auS: Christus hat Gott nicht versöhnt, son­

dern unS.

Denn Gott war nie unser Feind, aber wir waren Feinde

GotteS, d. h. wir kannten ihn nicht; wir mußten also anders werden und

erst Gottes Liebe erkennen.

Der Grund davon, daß Gott nicht unser

Feind oder auf uns nicht böse geworden sei, kann bei Gott oder beim Menschen liegen.

Bei Gott nun sucht Lavater den Hemmschuh des Böse-

werdenS nicht; für ihn, der fortwährend bei seinem festen Glauben an

GebetSerhörungen für die Determinierbarkeit GotteS' grundsätzlich sprechen muß, existiert eine göttliche Unveränderlichkeit, die einen Goethe trieb, so­

gar eine göttliche Sündenvergebung zu negieren*),, keineswegs. stärker steckt nach ihm der Haken beim Menschen.

Um so

Eine Sünde, meint

er, könne darum keine oder gar eine unendliche Beleidigung GotteS sein,

weil hiezu bei dem Sündigenden aller animus fehle.

Derselbe denke ja

während seines Sündethuns gar nicht an Gott, viel weniger an das, was man Unendlichkeit Gottes heißen könne; überhaupt könne ein Endlicher nichts Unendliches thun.

Damit falle aller Grund zu einer Ehrenrettung

der unendlich gekränkten Gottheit, oder zu einer Genugthuung der gött­

lichen Gerechtigkeit durch den Tod Christi weg.

Wie so? Welt?

etwas wäre

Ist denn Christus nicht das Opfer für die Sünde der

Freilich ist er es, aber nicht in dem recipirten, sondern in einem anderen Sinne**).

eS denkbar,

daß

Weder auf Gottes, noch auf Christi Seite

Christus Strafen hätte übernehmen müssen,

Strafen hätte übernehmen können, welche den Menschen, bei denen ohne­

dies der Verfasser der „Aussichten in die Ewigkeit" die positiven in die natürlichen Strafen zu verwandeln geneigt ist, gebührt hätten. „Wie konnte denn Gott zu einer Zeit, wo er seine Liebe auf eine Weise ver­

herrlichte, daß alle aus Erlösung Hoffenden dadurch in Erstaunen gebracht sein müssen, wirklich zornig gewesen sein?

Mein Herz würde erbeben

für eine Religion, die lehren würde, daß Gott habe versöhnt werden müssen 1"

Und wäre es nicht bei Christo

wenn eS ihm zu Sinne

eine bloße Komödie gewesen,

gewesen wäre, als hätte er selbst gesündigt,

wenn er sich in eine Disharmonie mit Gott gesetzt, sich gar in die gottes­ lästerlichen Rasereien eines durch sich selbst Verdammten hineinversetzt

und sich damit so gebehrdet hätte, als ob er Gottes oder Gott sein Feind *) Siehe in den „Recensionen" AuSg. v. 1830. 33,81: „Zürnen und Vergeben sind bei einem unveränderlichen Wesen doch wahrlich nichts als Borstellungsart." **) Auch für einen blos symbolischen Werth der Opferidee spricht er sich gegen Hasen­ kamp auS (Briefwechsel zwischen beiden S. 105 ff.): „Liebe ist das Ziel aller Opfer. Mein Tod ist Anderer Leben. Für Andere sterben, sich auszehren, daS ist der Geist, den die Opferlehre einhauchen soll." Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 3.

19

Zur Würdigung Lavater's.

258

wäre?

er hat unsere Sünden getragen, findet

Der biblische Ausdruck:

auf ihn seine Anwendung, aber nicht, als ob er die Sündenleiden auSgestanden hätte; denn er ist sowenig von Gott verdammt worden, als er

darum, weil er nach Matth. 8, 16 f. unsere Krankheit getragen hat, krank geworden ist.

Getragen hat er die Sünden, indem er sie weggcnom-

men, sie mit äußersten Leiden weggehoben hat. Seine Leiden nemlich waren etwas Wirksameres, als es bloße Mär-

threrleiden sind, da vom Blute eines Märtyrers nie gesagt werden konnte,

was vom Blute Christi gesagt wird, eS reinige von aller Untugend. Das

Letztere aber tritt wirklich ein.

„Wenn wir beim Tode Jesu sehen, welche

entsetzliche Folgen Lesdenschaft, Neid, Bosheit, Heuchelei und alle Sün­ den haben, die Jesum an'S Kreuz brachten, sollten wir nicht durch den

schreckenden Anblick dieser Folgen, durch das Gericht, das dieser Anblick über unS selbst verhängt, von der Sünde weggeschreckt werden?"

Erfolgte nicht die sittliche Besserung, wie die physische Errettung der Brüder Joseph'S durch ihre Meinung, diesen ihren Bruder gelobtet zu

haben?

Und kann nicht auf gleiche Weise Gott es zwischen JesuS und

uns so geordnet haben, daß das Leiden der Unschuld Ursache unserer Be­ kehrung und damit Schulderlassung für die Schuldigen wurde?

Ist hier sichtlich da«: „für uns" in daS: „uns zu gut" bei'm Tode

Christi abgeschwächt, so hat Lavater doch gegen da« Moment der Stell­

vertretung an sich nichts, da schon da« Mystische derselben ihn fesseln muß.

Verwirft er also die satisfactio Vicaria, so will er damit ja nicht

alles vicarium verwerfen.

ein Beispiel geliefert.

Hat er ja doch für die eigene Person davon

Auf seinem langen LetdcnSlager richtete er*) sich

an dem Gedanken auf, daß das Leiden in der Welt sein Kontingent haben

müsse und deswegen er durch Uebernahme übergewöhnlicher Pein andere in ihrer Beitragspflicht erleichtere.

liter auS:

„Christus ist das Opfer für die Sünde der Welt; sein Tod

ist daS Leben der Welt. als

So spricht er denn auch jetzt forma­

Er ist statt unserer gestorben; denn seinem Tode,

einem stellvertretenden,

haben wir unsere Rettung, Entsündigung,

Wiedereinsetzung in verlorene Rechte, Rehabilitierung zu verdanken."

Er

würde, wenn nicht beim leidenden, so doch beim thätigen Gehorsam Christi eine Art Compensation für daS bei uns Fehlende durch Christi Leistung zugeben: seine Gerechtigkeit, Gehorsam, Genugthuung gegen das göttliche

Gesetz schaffte einen Ersatz von Tugend, Moralität, Religiosität zur Stelle oder brachte ein Gegengewicht gegen daS Sündenübel in die Welt, wo­ durch eS vertilgbar wurde.

Freilich die angeblich durch den Tod Christi

*) Siehe Lavater'S Lebensbeschreibung von G. Gegner 3, 528 f.

Zur Würdigung Lavater's.

259

erwirkte faktische. Versöhnung Gottes mit den Menschen schlägt für ihn

um in eine bloße durch Christum uns gewordene Gewißheit von der apriori

vorhandenen versöhnlichen Stimmung Gottes. Besonders die Auferstehung Christi soll die göttliche Sündenvergebung manifestieren.

„Was schien

unvcrtilgbarer, unvergütbarer, als der Tod des Heiligsten?

Was unver­

tilgbarer, als dieses Todes Folgen?

stehung

Beides ist aber durch die Aufer­

Also, wenn die schrecklichste aller

ausgehoben.

Sünden,

die

Kreuzigung Christi vergeben werden konnte, kann überhaupt jede Sünde

vergeben werden".

Kurz, Lavater eilt vom Christus für uns weg thun-

lichst schnell zum Christus in uns und bahnt sich den Weg zu einer durch unsere Gemeinschaft mit Christo möglichen gemüthlichen Annäherung an Gott, der ohne die Vorgänge bei Christus uns gleich einem verzeh­ renden Feuer wäre.

Mit Christus selbst geht dabei ein Proceß vor, bei dem in der

Lavater'schen Darstellung Socinianismus und fließen.

Spekulation ineinander­

Lavater legt nemlich dem. alle Arten von Selbstverleugnung in

seinem Leiden durchwachenden Christus a la Socin eine sittliche Werde­ periode mit erfolgender Standeserhöhung bei und läßt den Jesus der Geschichte in Folge seines exemplarischen Tugendwandels und besonders

seines von ihm mit allen ungöttlichen Mächten bestandenen Kampfes zu

einer Regenerationspotenz der Menschheit aufquellen.

Mit Paulus setzt

er den Seorspo? A’8a;io, in dem alles lebendig wird, dem ersten Adam, in dem alle sterben, entgegen.

Er bedient sich eines Bildes, um uns die

dogmatische Bedeutung deö sterbenden und auferstandenen Herrn zu zeigen. Er vergleicht ihn einem Kronprinzen, der bei einer Seuche sein Blut

tropfenweise den Landeseinwohnern eine cuttert, daran entkräftet stirbt, um nachher wunderbar wieder auszuerstehen und jetzt erst seine segensreiche

Herrschaft anzutreten.

Daher der Schluß: „wie der Schooß Saft zieht

aus dem Weinstock, so der Christ wahres, unsterbliches Leben aus Christo,

dem Menschen, dem durch Leiden und Tod zum würdigsten Haupt und Mittler der Menschheit ausgeglühten und alles beseelenden

Menschen; daher bereits auch Anklänge an den Hegel'schen Gedanken, daß

die Apostel an dem Geist gewordenen Christus mehr hatten, als an dem zuvor leiblich vor ihnen Wandelnden, da er aus einer beschränkt wirken­

den Kraft eine allwirkende Kraft geworden war, hinauf in die Höhe ge­ fahren war, nicht um die Erde zu verlassen, sondern um alles zu er­ füllen, überhaupt Ansätze zu einem frommen Pantheismus, dem natür­

lichen Gegensatz gegen

einen ungläubigen Deismus, dem Lavater mit

aller Energie seines Wesens entgegenzutreten sich berufen fühlte.

Mit dem Bisherigen haben wir Andeutungen, aber nicht weiter, von 19*

260

Zur Würdigung Lavater'S.

dem, was Lavater an seinem Christus hatte, eine Frage, die mit der seitherigen Negierung des: „Gott war in Christo und versöhnte die

Welt mit ihm selber"

gegeben ist.

Denn dadurch ist der Schwerpunkt

deS ErlösungSprocesses von dem Interesse des heiligen und gütigen Gottes weg in das Interesse des heilsverlangenden Menschen verlegt und

Vorfrage: wie kommt man auf Christus? angeregt.

die

In dieser nicht

gestellten und dennoch beantworteten Vorfrage zeigt sich Lavater als der

erste moderne Theolog, als der Gelehrte, der bereits den „Apologeten räth, doch ja alles aus dem Puncte der menschlichen Bedürfnisse

herzuleiten und das Christenthum an diesem MaaSstabe zu prüfen*)."

Er bricht damit die Bahn für Schleiermacher, dessen Christologie sich be­

kanntlich auf den Rückschluß von den Erfahrungen deS Erlösten auf den Erlöser auferbaut und dadurch den Verdacht, dem auch Lavater nicht ent­

gehen kann, auf sich ladet, nicht sowohl den historischen, als den idealen Christus angestrebt und deduciert zu haben. Schroff lautet manche Aeußerung von Lavater, womit er seine sub-

jectivistische Christologie einleitet.

„Ich gebe alle Namen für Genuß

und Seligkeit hin, selbst Christ und Christenthum; wie viel tausendmal

eher, was ZwinglianiömuS, Calvinismus, Reformtertheit heißen mag. Ich

ehre alles, was geistigen Genuß verschafft, Leben gibt, daS kein Tod zerstören kann, Stärke gibt, wodurch die materielle Phänomenenwelt über­

wunden werden kann. mein Himmel **)."

Was am meistert' mir gibt, das ist mein Gott und

„Meine Philosophie, Religion, Schwärmerei, wenn Sie

wollen, Epikureismus ist nur Eines.

Genuß!

Ich will so sehr wie

möglich existieren, leben, genießen, mich selbst besitzen.

Waö Mir kon­

stanten, geistigen, reinen, vollen innigen, unzerstörbar scheinenden, nie gereuenden Selbstgenuß verschafft, daS ist mein Gott, mein Himmel***)". AuS solchen Kundgebungen spricht allerdings ein Eudämonismus, der den

Kantischen Purismus zur Genüge herausforderte, aber sinnlich, so daß Bequemlichkeit und Genußsucht das letzte Ziel dabei gewesen wäref), oder

rein egoistisch ist derselbe nicht gewesen.

Wenn Lavater'ir nach etwas,

was ihn „existenter, kraftreicher, seines Daseins froher

und

gewisser"

machen soll, verlangt, so darf man dabei kecklich an das Schleiermachersche Gefühl der Lebensförderung

ken: es handelt sich

hier

im Gegensatz

zu Lebenshemmungen den­

eben von einer Totalbefriedigung deS mora­

lischen, psychisch-physischen, auf seinen Gesammtzustand reflectirenden Men*) So August 1779 laut Lavater'« ausgewählten Schriften, ed. Orelli in „Fragen nnd Briefe weiser und guter Menschen". Art.: „Christus und Paulus." **) Bei Bodemann: Lavater nach seinem Leben, Lehren und Wirke» 1856. S. 361. ***) Bei GervinuS, deutsche Dichtung 5, 270 ff. t) So GervinuS a. a. O.

261

Zur Würdigung Lavater's.

scheu.

Die Egoismusfrage betreffend wird freilich

aufgestellt:

„Der

Mensch kann nie aufhören, Mensch zu sein, er ist das genußfähigfte, ge­

nußbedürftigste Wesen", wir sind der Zweck unseres Seins, wir existieren, die höchste Existenz ist die höchste Glückseligkeit".

Aber eS wird unterschieden

zwischen dem Boshaften, der allein besitzen, genießen will, und zwar auf Unkosten anderer und zwischen dem „Edlen, der auch Genuß will, auch

Selbstgenießer und Allgenießer ist, eS jedoch ist durch das entgegengesetz­ teste Medium, durch den möglichst reinen UnegoismuS, durch das reinste

Jchvergessendste Theilnehmen an den Genießungen anderer Wesen seines­ gleichen*)".

Und nicht nur,

daß „wir Ein Ziel mit einander haben,

bessere Menschen zu werden mid zu bilden, d. h. Genußfähigere und Ge­

nießbarere, wir existieren auch am existentesten, wenn wir am wenigsten

für unS, am meisten für andere existieren**).

Kurz, bestände nicht daS

landläufige Borurtheil gegen Lavater's Proselytenmacherei, die auf fremde

Frömmigkeit aus ist: man könnte ihm die Kantische „fremde Glück­ seligkeit" als ein Stück seines Motto gutschreiben.

Ueber daS, was Christus ihm ist, hat Lavater eine exoterische und

eine esoterische Auffassung, nicht, daß eine die andere ausschlösse, sondern nur, daß die eine die andere erweitert. Die esoterische gewährt dem Ein­

geweihten mehr von Christus, als die exoterische dem Uneingeweihten ge­ währen kann.

Für Lavater ist Christus kurzweg der Höhepunkt und

der Inbegriff***) der Menschennatur, zu unserer Nutznießung und zu unserem Genusse bestimmt, als Einzelperson gefaßt Beispiel und Vorbild

für unS, als Allperson gefaßt unsere Lebenssubstanz.

So fordert er im

September 1785s) seinen Gegner Campe auf, einmal das der Welt-

weisheit Ohr beleidigende Wort: Christus wegzulassen und dafür mensch­

liche Natur zu setzen.

„Ich bin ein Christ, d. h. ich glaube an die könig­

liche Würde, an die nie bestimmbare Größe der menschlichen Natur. Sie

erfindet immer neu und in ihr wird immer Neues gefunden.

Und ich

will (natürlich meint er durch daS concrete Bild des Jesus der Geschichte) dem Menschen durch Menschen zeigen, was im Menschen ist, was der

Mensch ist, hat, kann, darf, soll.

Ist ja doch der Zweck aller Geschichte,

*) S. bei Orelli in „Fragen und Briefe". Art.: „Schwäche, Schlechtigkeit, Bosheit." **) So Lavater im November 1785 laut Orelli's Sammlung hinter dem längeren Art.: „über den thierischen Magnetismus". ***) S. die schöne Stelle an Spalding: „Was in dem Menschen Christus ist, denn er war ein completer Mensch, das ist auch in uns. . Freue dich, durch das Medium eines jede» Menschen dich selbst und mehr, als durch jedes andere Medium, durch Christum dich in deiner möglichsten Größe zu erkennen, durch seine Erkenntniß­ kräfte die deinigen, durch seine LiebeSkräfte die deinige», durch seine Willenskräfte die deinigen. Das ist Christenthum, das meinige wenigstens." Bei Orelli im Art.: „über den thierischen Magnetismus". t) Bei Orelli hinter dem Art. über den thierischen Magnetismus.

262

Zur Würdigung Lavater'S.

durch Menschenbeispiele die schlummernden oder lässigen Kräfte der Mensch­

heit zu erregen, zu spannen, auf einen großen, wohlthätigen Genußzweck zu vereinigen".

Selbstverständlich kann eS der Schreiber auf dem Boden

der unbenannten Zahlen nicht lang

aushalten.

Auf religiösem Gebiet,

fährt er fort, stelle er als sein Ideal und Idol Christus auf, weil kein

größerer, besserer, kraftreicherer Mensch aufgetreten sei.

„Seine Existenz

ist mit der meinigen am Innigsten verbunden, determiniert mich mehr,

als alle andern mich allein, berührt die meisten oder vielmehr alle Theile meiner Natur, regt alle meine Kräfte auf, entwickelt, belebt*), stärkt sie,

bringt sie in Harmonie und vereinigt sie zu einem großen Zweck, dem der möglichsten Allgenußfähigkeit und Allgenießbarkeit". Weit eindringlicher noch wird von dem „Christus mir zu eigen"

im esoterischen Dortrag gesprochen.

Unleugbar, heißt es da, war ein­

mal' in der Geschichte ein Zeitpunkt, wo der Herr den Seinigen Alles

gewesen ist; es war die Zeit, wo er mit den Aposteln wandelte und wo er sein Wort: „ich bin bei euch alle Tage" bei ihnen wahr machte.

ES

liegt nur an uns, daß wir uns das, was sie an Christo hatten, auch verschaffen; es gilt, recht Ernst zu machen mit dem Bedürfniß aller kon­

sequenten Christen der Jetztzeit, mit Christo einen correspondenzähnlichen Verkehr

zu pflegen.

Der uns von Christo angeblich trennende Raum

soll unS davon nicht abhalten.

Gleichwie die Sonnenausstrahlung zwi­

schen dem sehenden Auge und der gesehenen Sonne vermittelt, so kann auch der entfernte, in irgend einem Himmel figürlich, persönlich gesehene

Christus dauernde Präsenz bei uns haben.

Noch weniger darf uns der

Abstand unserer Zeit von dem ehemaligen Urchristenthum scheu machen.

„Was?

Wir wären der Zeitentferntheit wegen verurtheilt, zwar seine

Schafe zu heißen, aber zu darben und uns blos, wie alle Welt, mit seinem geschriebenen Evangelium zu begnügen, nichts zu haben, wovon

wir gewiß wissen: es ist von ihm, dem Lebenden, unserem Hirten? Wir

sollten uns nur mit dem Dermächtnißtnstrnmente begnügen, von dem Vermächtnisse selbst, daS auch wichtige Artikel für die gegenwärtige Zeit enthält, sollten wir keinen Gebrauch machen können?

Wir müßten

den glücklich aus der Kraftquelle schöpfenden Aposteln nachstehen und nach­ sehen und unS mit Seligpreisungen ihrer begnügen und dabei nichts erweislich Göttliches, von Jesu Herrührendes besitzen oder genießen? ..

DaS glaubwürdige Zeugniß der einfältigen und kraftvollen Männer von

*) Was Lavater von Christus sagt, gilt bei ihm, wie eS ja bei Zinzendorf auch ist, auch von Gott. Da hat er den schönen Satz: „Gottes Stellvertreter sind alle guten mit Demuth und Einfalt handelnden Menschen." „GottcS Augen sind alle liebevollen Herumblicker nach Hilfsbedürftigen.'"

263

Zur Würdigung Lavater's.

ihm kann unS wohl das Selbstsehen seiner, aber nicht ihn selbst er­ setzen. Sie sind nur Führer zu ihm.

Was nützt uns ihr Zeugniß, wenn

wir nicht zu ihm kommen können, wenn die Einen Zeiten den Zutritt

haben, die, in welchen wir leben, den Zutritt verwehren? Ein unzugäng­

licher Gott ist kein Menschengott, ein unzugänglicher, ungenießbarer Hei­

land kein Heiland der hilfsbedürftigen Menschheit.

Nein, es wäre von

uns übergutmüthig, nur Pflichten und nicht auch Rechte haben zu wollen

und von der Schrift uns nur immer ihre Vorschriften auferlegen und nicht auch ihre Verheißungen uns schenken zu lassen.

Die Christen aller

Zeiten haben, wie gleiche Pflichten, so auch gleiche Rechte.

ES gilt eine

Correspondenz mit dem Herrn zu pflegen, wo einer auf den andern, der

Herr auf mich und ich auf den Herrn wirke.

ES ist bis dahin leidig

genug gewesen, daß die Meisten nur den vor Jahrhunderten Gewesenen

als gewesen anbeten, da doch der Gewesene der Allerseiendste für unS

werden soll und daß eS so wenige giebt/ die ihn als existirend anbeten,

wie er einst auf Erden wandelte,

so liebkvoll für alle Individuen sich

interessirend und für jeden sich so verwendend, wie damals.

Und doch

habe Jesus nie eine Spur von Unwillen von sich gegeben, wo eines ihn erfahren,

ihn genießen wollte;

im Gegentheil habe ihm der unwagfame

Kleinglaube mißfallen, aber der kühne Glaube gefallen.

So Lavater vornemlich in: „Jesus Christus, stets derselbe, nicht be­ schränkt durch Zeit und Raum".

Bei dieser mystisch-speculativen, ratio­

nalistisch - supranaturalen Theorie macht Hagenbach auf das Gemeinsame

bei Lavater und Zinzendorf, daß sie Christum gleichsam persönlich wollen, nur daß bei'm

ersteren das Sinnliche mehr zurück und das Geistige,

Ideale mehr hervortrete,

aufmerksam.

Eine Verinnerlichung

des

bis­

herigen religiösen Bewußtseins liegt ohnedem darin, daß dem Ersteren

der Christus der Tradition,

mit dem Zinzendorf in seiner Blut- und

Lammtheologie noch einen Compromiß geschlossen hatte, nicht genügte, er

vielmehr einen Christus aus erster Hand, dem Gläubigen neu sich erzeugend postulirte.

immer gegenwärtig, immer Schon einmal war in La-

vaterS Nähe, wenn auch nicht in praxi, so doch in thesi von der Wissen­ schaft daS: mir unmittelbar zu eigen der göttlichen Offenbarung bean­ sprucht worden.

ES war dies von Rousseau*) geschehen, an welchem

*) Daß doch Rousseau immer in der gelehrten Welt oder auf der öffentlichen Arena den Vorgänger machen muß! Nicht allein daß die Schinznacher Gesellschaft, welcher der junge Lavater angehörte, und dessen treuherzige Schweizerlieder, die wir seiner Theilnahme an dieser Gesellschaft verdanken, auf Roussean'sche Impulse zurück­ führen: Gelzer (neuere deutsche Nationalliteratnr 3, 74) weist nach, daß bereits Rousseau im Emile: (Oeuvres completes, Frankfort 1855. 6, 287) die physiognomische Frage, und zwar speciell bezüglich der erworbenen Physiognomie be­ rührt habe.

Zur Würdigung Lavater's.

264

Lavater in dem Ton kecken Trotzes, in dem

er zu seinen matt- und

schwachgläubigen Freunden und College» spricht, erinnert.

Es scheint,

daS freie Gemeinwesen macht, wie eS nachher auch bei dem Halbschweizer

Fichte der Fall war, die Leute kühner, ihre Forderungen, aber nicht blos an ihre Erdengenossen,

auch an den Himmel

decidirt zu stellen.

Der

Erzbischof von Paris, Beaumont, hatte (s. Oeuvres complStes 7, 309)

eingewendet, warum denn der Vikar in der profession de foi du Vi-

caire Savoyard sich beklage, daß man nur durch die Hand menschlicher Zeugnisse etwas von göttlichen Offenbarungen erfahre, da man doch nur

auf diesem Wege auch über Sparta, Athen, Rom etwas zu wissen be­

kommen habe.

Rousseau erwiedert:

„Ja, daS ist natürlich, daß zwischen

mir und einem andern Menschen, der weit von mir weg gelebt hat, andere

Personen in der Mitte stehen müssen.

Ist es aber selbstverständ­

lich, ist eS natürlich, daß Gott hat Mosen gesucht, um mit Jean

JacqueS Rousseau zu reden?"

Und wie stimmt daS Lavater'sche

Dringen auf daS Selbst-, auf daS direct in die Hand nehmen des Ver­

kehrs mit dem Himmel so gut zusammen mit dem Rousseau'schen Vor­

gehen (Oeuvres 6, 384 f.) gegen die apologetischen Vorwerke: barung, Wunder, Weissagung, h. Schrift,

Offen­

die eine Menge Menschen

zwischen Gott und die nach seiner unmittelbaren Ansprache verlangende

Seele in trennender Weise einschieben, überhaupt gegen jede Intervention einer gelehrten oder ungelehrten Tradition*)! Was Rousseau, der für sich bei seiner natürlichen Religion geblieben ist, nur hypothetisch gemeint hat: wenn eine außerordentliche Mittheilung

GotteS an die Menschen statthat, so muß sie der Einzelperson unmittel­ bar gelten, das hat der Mann, der das Dilemma:

aufstellt, thetisch fixirt und praktisch verwerthet.

Christ oder Atheist

Er befand sich von Kind

auf in gemüthlichen Beziehungen zu Gott und in der Folge auch zu Christo, der ihm mit der Zeit das Angesicht Gottes geworden war.

In

diesen Beziehungen schieden sich in ihm eine rein ethische und eine mit

Heteronomischen Bestandtheilen zersetzte Richtung von einander ab.

Wo

Lavater im Leben innerhalb der festen Schranken der objectiven Lebens­

kreise zu gehen hatte, da haben sich durchaus nur die edleren Seiten

seiner Natur:

unendliches Wohlwollen**), unermüdliche Gutherzigkeit,

*). Ich verweise für diesen ganzen Abschnitt auf Michelet'S Gedanken 1861. S. 218 ff.

meine Rousseau'sche Studien in

**) Und wenn mau nur das Eine nimmt, daß er für die (Korruption im menschlichen Geschlecht nichts weiter, als die schnelle Vergessenheit, in welche die im Tode Borangegangenen fallen, anzuführen wußte, so ist damit schon seine zwanglose Liebe bewiesen.

265

Zur Würdigung Lavater's.

Pflichttreue,

Gewissenhaftigkeit, selbstlose Hingebung,

schauung der Dinge*)

geltend

gemacht.

Wo

er

unbefangene An­

der Familie,

dem

Vaterland, der Landeskirche, dem Amte, den Collegen zu dienen hatte,

da war er musterhaft.

Seine asketischen, homiletischen, hhmnologischen

Erzeugnisse dürften nur wenig Ungesundes enthalten

und

sind vielfach

auch jetzt noch nicht veraltet. Aber in Lavater war von Anfang an das Bewußtsein vorhanden, daß er mit einer Extramission auf Erden betraut sei.

Und wer,

ein

moderner Dante, den Vorhang von der Ewigkeit zu ziehen wagt, wenn

auch nur, um die letzten sociRen und moralischen Ziele der Menschheit zu schauen**), wer zum proSlogischen Verkehr mit der Gottheit im Gebet***) und im Lied Luthers GlaubenSkraft und die Heilssicherheit der vorkantischen Zeit mitbringt,

wer das pectus facit theologumf)

so

wahr macht, wie Lavater, der darf und kann einem gewissen Propheten­

dünkel verfallen.

Was bei Gellert noch naiv gewesen war, das Gefühl,

der christlichen Welt etwas sein zu können und sein zu sollen, das war bei ihm in reflectirterer Weise da; er war sich seiner christokratischen Be­

fähigung bewußt.

Goethe sagt, er habe so ganz in seinen amtlichen Be­

ruf hineingepaßt, aber dieser Beruf schloß in sich Netze und Fallstricke, vor denen Gellert, weil er eben kein Geistlicher gewesen ist, bewahrt ge­

blieben ist.

Alle Sanftmuth, Demuth, ursprüngliche Lauterkeit seine-

WesenSj-s) konnten Lavater nicht davor schützen, die abschüssige Bahn des präsumtiven Kirchenfürsten zu betreten.

sonst nicht thut,

ES ist dabei etwa-, was man

in Anschlag zu bringen, da- ihm im Blut lag: der

*) Was hatte er z. B. für eine Freude au dem Gelingen eines sinnreich und kamerad­ schaftlich ausgeführten Entweichungsversuchs zweier Diebe, das ihm, weil „jeder Effort der menschlichen Natur dem Menschen gewissermaßen ehrwürdig sein sollte", den paradoxen Vorschlag auspreßt: „ich würde jedem Gefangenen ausdrücklich sagen, wenn du frei werden kannst, so sollst du frei fein 1" S. bei Orelli: Frag­ mente der unveränderten Fragmente anS dem Tagebuch eines Beobachters seiner selbst 1773.

**) Herder hat den Verfasser der „Aussichten in die Ewigkeit" für die Stellen, in denen er für den diesseitigen Menschen paranetisch wird, in denen er den morali­ schen Sinn, den künftigen Engel im Leser unmittelbar rührt, umarmt. **») Eigen: es scheint sich etwas von Lavater's Gebetseifer auf seine Zürcher Kanzeln vererbt zu haben, da der im Uebrigen speculativ angelegte Heinrich Lang auch dem GebetScultuS huldigte.

t) Vgl. „DaS eigene Ideal" von Schiller: Allen gehört, was du denkst, dein eigen ist nur, was tut fühlest. Soll er dein Eigenthum sein, fühle den Gott, den du denkst. ti) Wir möchten dieselbe gerade darin, daß man anS seinem Aeußern sein Inneres so gut wie herauslesen konnte (vgl. die frappante Schilderung seines Außenmenschen von F. W. Jung in seinen „Erinnerungen" an ihn 1812 S. 103 f. oder die Be­ merkungen über sein AeußereS von Ulrich Hegner in seinen „Beiträgen zur näheren Kenntniß Lavater'S" 1836. S. 269 ff.) prädestiniert sehen.

266

Zur Würdigung Lavater's.

Calvintst mit der Prätention, daS Reich Christi zu wahren und zu ver­

breitendem Stück Calvinus redivivus, dem auch sein, ohnedem andern­ falls fast unbegreiflicher, Biblicismus entspricht.

Lavater war eine religiös

productive Natur, die darum den Gegensatz in seiner ganzen Schärfe wahrnahm, in den sie gegen die Nüchternheit und den Unglauben der

Zeit gestellt war und bei diesem Gegensatz über das Gemeinsame zwischen ihr und dem Gegenpart, die beiderseitige gesund ethische Richtung, hin­

weg sah und bei ihrer propagandistischen Tendenz hinweg sehen wollte. So wurde ihm mehr und mehr sein Christus, den er in seinem öffent­

lichen Wirken gewiß jederzeit in geeigneter Weise, sei's als den geschicht­ lichen zum Vorbild, sei's als den dogmatischen zur Anfeuchtung der Wur­ zeln des religiösen Lebens verwendet hat, das Schiboleth, das Gläubige

und Ungläubige trennen sollte.

Calvinismus, religiöse Disposition, geist­

liches Metier trieben in einen stürmischen Bekehrungsetfer hinein, den

kein Abrathen von Freunden aus dem Kreise der Welt zu dämmen oder von ihrer eigenen Person abzuhalten vermochte.

Der Vorhalt gegen die

alten Freunde: „ihr habt mich verlassen, ich nicht euch", konnte von diesen heimgegeben werden: gerade weil du nicht von uns gelassen hast, nemlich

mit deinen Bekehrungsversuchen,

gangen.

ist eS zwischen beiden Theilen auSge-

Auf diese Weise mußte die theologische Parteistellung Lavater'S

sich immer mehr verschärfen.

Nicht als ob je von Jüngern, wenigstens

von solchen, die auSgeharrt hätten, die Rede gewesen wäre, aber bei der

Lavater'schen Zuspitzung

der Gegensätze

bis

zum:

Entweder positives

Christenthum oder Atheismus sah er sich der Natur der Sache nach zu­

letzt von Gesinnungsgenossen umgeben.

Jedenfalls hat der anscheinend

so duldsame Mann, der davon sprechen konnte, Andersgläubigen an ihren

Cultuskosten zahlen zu wollen, mit deren Ausschließung auS dem engeren Kreise der loyalen Christen dem specifischen Bruderthum in Christo ge­ hörig Vorschub geleistet. Im Bisherigen war von zwei Punkten noch nicht die Rede, nemlich

von Lavater's Glauben an Wunder in der Jetztzeit und von seiner per­ sönlichen Beziehung

zu Christus.

Den ersteren erklärt der Faustische

Drang seiner Zeit nach Magie nicht ganz, denn dieser Drang konnte ihm nicht den moralischen Muth zu dem geben, was Campe ihm vorhält,

daß er auf Alle, welche in unserer wunderarmen, aber wundergierigen Zeit mit angeblichen Wunderkünsten prahlen, hinsehe und hinhorche, daß

er rastlos sich bemühe, Wunder, wo nicht selbst zu thun, doch thun zu

lassen.

Hatte sich einmal Lavater'n mit Fug und Nichtfug der Gedanke

aufgedrungen, zum Vorkämpfer deS Glaubens gegen den Unglauben be­ rufen zu fein,- so mußte er sich gedrungen fühlen, das, was ihm mit dem

267

Zur Würdigung Lavater'«.

Unglauben gemein war, ja was er mit in dessen Interesse mit Eifer und Energie zu betreiben pflegte, das Ernstmachen mit der menschlichen An­

sicht von der Person Christi*) durch Ueberglauben gut zu machen.

La-

vater wurde darum irrational, darum anachronistisch, weil er so rational,

so zeitgemäß gerichtet war.

Der Partetchef hat in ihm den braven Geist­

lichen und den Wahrheitsfreund hinuntergebracht. Seine Richtung auf ein

praktisches Wirken, die ihm früh zu Theil gewordene Berühmtheit, daS

Machen seiner Studien vor dem Publikum ä la Schelling,

hat ihn in

die fatale Lage versetzt, mit miraculösen Belleitäten nach Kinderart und

mit männlichem bon sens abwechselnd operiren zu müssen.

Freilich wer

in jener noch gährenden Zeit für die Religion auftrat, der konnte noch

nicht, wie später Schleiermacher gegen die gebildeten Verächter der Re­ ligion es that, mit blos idealen Potenzen kommen, er mußte mitunter

zu massiv realen Potenzen greifen.

Kein Wunder, wenn dann Goethe'n

der Gedanke an Mahomet und das Herunterkommen der

sublimen Richtung des Religionsgenie's

ursprünglich

in den Diensten der stupiden

Menge kam und der ehrliche Jacobi den Zürcher Freund vor dem überall hin Schönthun warnen mußte.

Nicht als ob apriori irgendwie Berech­

nung zu Grunde gelegen wäre; sonst hätten die nächsten Freunde Lavater nicht als den lautersten, wahrhaftesten, ureigenthümlichen Menschen rühmen

können.

Aber die Einbildung von sich selber, der Jnspirirtenwahn, über

den ihn Freund Zimmermann als Prätendenten der Christuswürde nach

dem socinianischen Lehrbegriff beschreien mußte, bildete die Kehrseite des Wunderwahns.

Beide mit einander halfen dazu, daß er mitunter ein

rechtes Bild eines unglücklichen Bewußtseins in seinem Zeitalter geworden ist, weil dasselbe derlei Prätentionen nicht mehr ertragen mochte und sein

eigenes nüchternes Bewußtsein, strafte.

sein klarer Geist ihn immerfort Lügen

ES ist für seine Doppelnatur ungemein bezeichnend, wenn er in

der Correspondenz der 70er Jahre immerfort von Goethe sich muß auf­

richten und darüber bedauern lassen, daß er eben gar keine „Ständigkeit kriegen" wolle, wenn aber dann auf einmal Geber und Empfänger wech­ seln, indem 1779 Goethe mit Carl August bei dem Menschen und nicht

bei dem Propheten Lavater auf Besuch sich im Heimwesen der Liebe wie­ der auf lang hinein erfrischt.

Wie tief aber in Lavater'S Gemüth die

Sehnsucht nach einer persönlichen Bezeugung deS Heilands gegen ihn in *) Lavater hat stets, ganz anders, als es Schleiermacher that, für die natürlich mensch­ liche Entwicklung Christi gesprochen; er wehrt sich zwar, wo's darauf ankommt für das wörtlich Nehmen der Wunderberichte in der heiligen Geschichte, geht aber dabei z. E. in dem überhaupt sophistisch gerathenen „Nathanael nicht ohne Sophistik zu Werke und hatte eine Zeit (cf. Geßner in der Biographie 1, 250) wo er Jesus, den moralischen Helden, über Jesus, den Wunderthäter stellte.

268

Zur Würdigung Lavater'S.

einem Extrazeichen gewühlt und gegraben haben mag,

davon liegt ein

Beweis in einem Brief feines damaligen Adepten Häfeli vom 24. No­

vember 1784, der bei des Adressaten 44jährigem Geburtstag sich dessen „20jährigen Hoffens, Harrens, Schmachtens" unter dem Trost:

„Du

mußt noch erhört werden" entsinnt und ihm den 10. August 1785 zuruft: . „Bleibe fest bei deinem „„Dennoch""! Er kann sich doch nicht immer ent­

halten, wie lange er sich auch enthalte".

Dieses „Dennoch", bei dem

Lavater bleiben soll, ist eines seiner besten, abgerundetsten Lieder,

mit

dieser Ueberschrift, welches die Wallungen eines unter wechselnden Aspecten

um den Herrn werbenden Herzens wiedergiebt.

Starke Stellen dar­

aus sind: Dennoch will ich nicht verzagen, Schweigt auch Christus noch so lang! Dennoch SBär’ ich Dennoch Zeig' an

fortzuflehen wagen, zehnmal noch so bang! ruf ich Tag und Nacht, mir auch deine Macht!

Will auch niemand sie erfahren, Dennoch wünsch' ich Spur von ihr, Spur, wie einst vor 1000 Jahren, Wer dir glaubt, erfuhr von dir! Wenn du dich uicht offenbarst, Bist du nicht mehr, was du warst.

Nennten tausend Christusfeinde Spottend Thor und Schwärmer mich, Ja, vereinten alle Freunde Mit der Wahrheit Feinden sich; Dennoch ruf' ich bis du hörst,

Und mein Fleh'n durch Antwort ehrst. Amen, Amen! in die Höhen Deiner Himmel ruf' ich's hin! Täglich, stündlich schallt mein Flehen, Bis ich deiner sicher bin. Thränen — strömt in seinen Schooß, Bis er sagt: sein Glaub' ist groß.

Es zeugt übrigens für eine unbeirrbare Selbstlosigkeit bei Lavater,

daß er zwar dreist genug ist, den Herrn selbst bei der Ehre anzugreifen, ohnedies ihn beim Wort zu nehmen, mit. keiner Silbe aber sich seiner eigenen Verdienste um ihn rühmt.

Es heißt, den Sachverhalt in dem Processe zwischen Lavater und den alten Freunden schief auffassen, wenn Gervinus (a. a. O. S. 253 ff.) meint, er habe Anfangs Goethe und Genossen auf einem andern Glauben über

seine Person,

als sei es Spinozismus und bloße Kraftgenialität, wenn

er dem Menschen an Gottes Natur Antheil gab und analog den Genie­

gaben von Geistesgaben redete, gelassen und sie erst durch den nachträg­

lichen Einblick in die kleinlichen Seiten seines Wesens und durch den An­ blick seiner christlichen Don-Quixoterie enttäuscht. ganz, wie er war;

Lavater gab sich sogleich

er war seiner christlichen Mission viel zu sicher, als

daß er sie im mindesten hätte verbergen wollen.

Wie er Zeitlebens nicht

aus sich hinaus konnte, so bestrebt auch seine Zimmermann, Füßli, Spal-

ding, Hamann, Jacobi, selbst Fritz Stollberg waren ihn aus sich heraus

zu bringen, so wollte er vollends Anfangs, da bei ihm das nicht wähle-

Zur Würdigung Lavater'S.

269

risch sein mit den Mitteln noch nicht zutraf, nicht auS sich heraus.

Man

kannte den Propheten so zu sagen vom Kopf bis zu den Füßen und

rühmte an ihm gerade, und das mit Recht, seine Ganzheit, seine Urwüchsig­

keit. Aber man übersah noch nicht die Tragweite seines hohen Selbstgefühls und die ganze Consequenz des eigenen Standpunkts.

Man mußte sich erst

nach und nach überzeugen, daß nach Lavater d.er Gedanke, die Potenz, die Parole Christus und wohlverstanden nicht des bequemen vergangenen Christus

der Orthodoxie, sondern des immer präsenten Christus den ganzen Men­ schen ausfüllen, er der Gegenstand alles und jedes dem Gemüthe mög­

lichen Cultus sein müßte. DaS hieße wie Sinn und Ausdruck des Goetheschen Fühlens besagt, sich in Christus transsubstantiiren, die Humanität

verengen oder ihr die Christolatrie substituiren, zu Gunsten deö Paradies­

vogels anderen auch schönen Vögeln die Federn auSrupfen, dem Einreich Christi die von Gott

gesetzte Aristokratie aufopfern, der

menschlicher Phantasie-,

Kunst-, Wissensthätigkeit in

Ausbreitung

profane Sphären

wehren, die Natur, die in ihrer Weitherzigkeit jedem Ding seinen Platz läßt und für keinen Christus und keine AuSerwählte Extraplätze kennt oder Extravorgänge reservirt hat, nicht kennen oder nicht kennen wollen. Goethe hat laut Dichtung und Wahrheit auch über diese Fragen seinen

Frieden mit dem Andenken Lavater's für seine Person gemacht;

sachlich

konnte er die beiden Standpunkte, den religiösen, den Lavater und den

humanen, den er vertrat,

nicht versöhnen.

Ein Versuch dazu liegt in

Schlciermacher's Bemühung vor, die teleologische Religion des Christen­

thums in stetem Contact mit den übrigen Geistesgebieten

von Staat,

Kunst, Wissenschaft zu erhalten.

Ueber den Zusammenhang des Physiognomikers mit dem Men­ schen und Theologen Lavater ist schon viel nachgedacht worden.

Bedeut­

sam stellt Vischer die gewagten Versuche, die Physiognomik zu einer

Wissenschaft zu erheben, in ihre zeitlichen Zusammenhänge hinein, indem er Aesthetik 2, 207 bemerkt: „Auf den dunkeln Punkt zurückzugehen, in welchem die Natur mit einem Schlage das sittliche und Has sinnliche Bild

eines Menschen anlegt, war ein wesentlicher Ausdruck jener Zeit, da La­ vater auftrat, wo man sich sehnte, in die Mitte deö Lebens, in das

volle

Ganze

einzudringen".

Worin

soll

auch

sonst

das

Interesse

Goethe'S an der Sache, so lange er noch seine physiognomische Periode

hatte, bestanden haben?

Damals war er noch der Faust, den in seiner

Naturerkenntniß nur Absolutes befriedigen konnte; mit seinen Fortschritten

in der Selbstbeschränkung hörte bei ihm

Naturmysterien auf.

auch das Errathenwollen der

Bei Lavater dagegen hatten an seiner Aufstellung

270

Zur Würdigung Lavater'S.

des Physiognomiken Problems der Pfarrer und der Prophet ihren Antheil und lag eS deswegen ganz in der Ordnung der Dinge, daß der Physiker und Verstandesmensch Lichtenberg*) die hohle Unterlage der

angeblichen neuen Wissenschaft aufdeckte. So oft und so feierlich Lavater aller Orten seinen Respect vor der Singularität deS einzelnen Menschen betheuert, so sehr in seiner Theo­

logie seinen christlichen Feuereifer das Lessing'sche:

es soll nicht

allen

Bäumen nur Eine Rinde wachsen, durchkreuzt und seine Physiognomik

das: „sei, waS du bist und werde, was du kannst!"

predigt, so muß er

doch, wenn er sagt: man lernt jemand aus seiner Physiognomie erkennen,

ein Auseinanderkennen der Menschen nach

gewissen feststehenden Kate­

gorien: klug, thöricht, gut, böse statuiren, oder eS liegt seiner Physiog­ nomik, um vom intellectuellen Gebiet abzusehen, die dem Prediger ge­

läufige Rubricirung der Menschen nach ihrer moralischen Beschaffenheit

zu Grunde.

Nun hat der Prediger zu rubriciren, er hat das Subject

in der Einseitigkeit seiner sittlichen Zurechenbarkeit zu nehmen; er könnte ohne daS ewige Eindringen auf das Gewissen, den Sitz der Freiheit, daS Organ der menschlichen Jmputabilität, auf den Hörer gar nicht mo­

ralisch wirken.

Aber der Menschenbeobachter, und daS will der Physiog-

nom sein, thut nicht, was seines Amts ist, wenn

er zum Classificiren

greift; denn ihm ist alles, waS er vor sich hat, Individualität, sui generis,

wie es nach Herder Machiavelli's Fürst ist, für sich mit Beachtung der

allein bei ihm so oder so vorhandenen Constellationen zu beurtheilen. Der Menschenbeobachter kommt dabei freilich auch auf Generelles, auf

dem und jenem Subject Gemeinsames,

aber wenn er aussprechen will,

wie er jemand gefunden habe, so muß er in concreter Brette auseinander

legen, welche Factoren zu dem

So und So seines Individuum bei­

getragen haben und was das ungefähre Facit für Gegenwart und Zu­

kunft dieses Menschen ist.

Indem die Physiognomik die ganze Breite

der Menschenexistenz auf generalia zusammenzieht, den Menschen nach

der und der Rubrik, der er zuzutheilen ist, zeichnet, kurz abbrevirend zu Werke geht, so bietet sie nur AllerallgemeinsteS, giebt nicht viel Auskunft;

die Menschen werden in ihr, wie die Gegner sagen, gleich einer Heerde Schafe mit ihren wenigen Unterscheidungszeichen abgeschätzt, nicht als In­ dividualitäten geehrt.

Eine Behandlung, die, wie gesagt, wohl in der

Praxis des Kirchendieners, für den gegenüber dem Sittengesetz der Eine

im Allgemeinen so, der Andere anders aussieht, aber nicht für die Auf*) In den „vermischten Schriften", ed. seine Söhne 1844. 1,204 ff. und „Ueber Physiognomik wider die Phystognomen zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntniß" im Göttinger Taschenkalender 1778.

271

Zur Würdigung Lavater's.

gäbe der Menschenbeobachtung zulässig ist.

Lichtenberg hat das Schiefe

der Uebertragung der pastoralen Taxirung

des

Menschen

auf dessen

Taxirung vor dem Forum der Physiognomik in dem ergreifenden Aus­

ruf ausgedrückt: „Der Körper ist nichts so Einfaches, daß er nur so ohne Weiteres zu einem Abdruck und Spiegel der Seele erklärt werden könnte;

er ist auch ein Abdruck, ein Spiegel der übrigen Welt.

Er erzählt nicht

allein unsere Neigungen und Fähigkeiten, sondern auch die Peitschenschläge des Schicksals, Klima, Krankheit, Nahrung und tausend Ursachen, denen

uns nicht immer unser eigener böser Entschluß, sondern oft Zufall und oft Pflicht auSsetzen."

Die Neigung zum Wahrsagen, zum Enträthselnwollen dessen, was

der Natur der Sache nach nicht zu enträthseln ist,

zum Sehenwollen

sicherer Zeichen, wo keine sind, entspricht dem Lavater'schen Drang, Zeichen und Wunder zu thun oder geschehen zu lassen, Unmögliches zu ermöglichen.

Daß aber bei dem Urtheil des Physiognomen an sich ein Wahrsagerschlich statthabe, indem nemlich die Auskundschaftung des Mannes nach seinem

Charakter das Erste und dann die Stempelung dieses Aeußern zu dem

nothwendigen Ausdruck des Innern erst das Zweite ist, daß also zuerst „von Innen nach Außen und dann erst von Außen nach Innen judicirt

werde" — gegen diese Darstellung des MusäuS in den „physiognomischen Reisen" dürfte schwer aufzukommen sein.

Nicht genug damit: wie

heutzutag in manchen Köpfen der Plan spukt, die Physiologie zur Herrin der Rechtspflege zu machen, so ist Lavater sehr geneigt, die Physiognomik nicht blos zur Stifterin von Freundschaften, sondern auch zur Herrin der

Verwaltung und Justiz zu machen.

Er genehmigt es nicht nur, daß der

Richter, recht verstanden, nach dem Ansehen der Person richtet, der Regent seinen Minister, der Officier seinen Soldaten, Hausherr und Hausfrau den Knecht und die Magd nach dem Aeußeren wählt, er bricht in seinem

Eifer in die Worte auS:

„Furchtbar ist die Physiognomik dem Laster!

Lasset physiognomischen Sinn erwachen unter den Menschen und da stehen

sie gebrandmarkt die Kammern und Consistorien und Klöster und Kirchen

voll heuchlerischer Tyrannei, Geizhälse.., die unter der Larve der Religion ihre Schande und Vergifter der menschlichen Wohlfahrt waren.

Man

wird empfinden lernen, daß es Lästerung sei, solche bedauernswerthe Fi­

guren für Heilige, für Säulen der Kirche und des Staats, für Menschen­ freunde und Religionslehrer zu halten"*).

Und, hierin begegnend dem

Ritter v. Sonnenfels mit seinem Ersatz der Tortur durch den Blick deS *) Ja, ergänzt Lichtenberg boshaft, „wenn die Physiognomik das wird, was von ihr erwartet wird, dann gibts physiognomifche Antodafs'S; man hängt die Kinder auf, ehe sie die Thaten thun, die den Galgen verdient haben".

Zur Würdigung Lavater'S.

272

Richters, weiß er nicht blos von einem DiebSblick und Diebsgesicht beim er sieht auch in einer Gerechtigkeit ohne Phy­

zurechnungsfähigen Dieb;

siognomik etwas so Unnatürliches, als in einer Liebe mit verbundenen Augen, spricht der Unschuld und dem Laster ihre eigene Miene zu und

sieht, gewiß darüber, daß es Gesichter giebt, die gewisse Verbrechen nicht begangen haben können, mit Ungeduld der Zeit entgegen, wo Physiogno­

mik die Tortur ersparen, die Unschuld retten, daS hartnäckigste Laster er­

bleichen lassen muß.

Kein Wunder, daß MusäuS mit einem hochnoth-

peinlichen physiognomischcn Halsgericht solche Wahrsagerei ad absurdum führt.

-

Man kann nicht sagen, daß Lavater für seine Liebhaberei nicht mit Umsicht eingetreten sei.

Den naheliegenden Einwand: aber warum den

Menschen nicht nach seinen Handlungen beurtheilen? versuchte er durch die

Instanz zu entkräften: die Berichte könnten ja ungenau sein, könnten be­

sonders nichts über die Motive enthalten, und ob denn nicht ein Holbeinschcr Christus Sichreres aussprcche, als ein Peitschen der Leute mit Stricken

oder das Wort: ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern Als ob man die Einzelhandlung zum Kriterium eines

das Schwert.

Charakters zu machen gedächte!

Im Uebrigcn lohnt es sich, Lichtenberg

zuzuhören, wie er den Abstractionen des Gegners zu Leibe geht.

Zuerst

greift er den Sprung an, vom Aeußern aufs Innere zn schließen, eS sei derselbe so stark, wie der Schluß von

Kommetenschwänzen auf Krieg.

Denn hier liege eine }ie-aßaat; et; aXXo yevo; zn Grunde, es sei doch et­

was anderes, von gleichen Nasen auf gleiche Geistesanlagen zu springen und zu stolpern, als etwa vom Puls auf die Krankheit zu rathen.

Den

unbefugt zum Dienst sich anbictenden Kerl kann der Schisfscapitän wegen seiner schmalen Schultern abweisen; der einem Dritten seine Schelmen­

physiognomie trotz seines redlichen Handelns Insinuierende müßte sich eine

Ohrfeige gefallen lassen. Character und Körper um.

stößt er die Abstracta: Seele oder

Sodann

Sagt man, die Seele baue den Körper: es

mag sein, aber es gehört in einen Plan hinein, den wir nicht übersehen,

in Gotkes Plan.

Immer aber trifft'S nicht zu, daß der Körper ein Pro­

duct der Seele ist; eS kann die Hebamme sich bei der Behandlung deS Körpers von Neugeborenen versehen.

In der Seele , im Geist tritt eine

Veränderung ein, wenn eines auf den Kopf fällt und ein Narr wird.

Verändern sich damit auch Lippen und Augenknochen? Wohl mögen dem Menschen

in der

Gesellschaft untrügliche Spuren ehemaligen Getriebes

in seiner Physiognomie nachgehen.

Liederlichkeit, Geiz, Bettelei haben ihre

eigene Livree; aber darum kann man doch einem Menschen nicht sicher überhaupt einen inneren Hang am Aeußeren absehen. Eine Falte, die sich

Zur Würdigung Lavater'S.

273

bei dem Einen erst nach tausendfacher Wiederholung derselben Bewegung

bricht, zeigt sich bei dem Andern nach weniger; was bei dem Einen eine

Verzerrung, einen Auswuchs, man denke nur an physische Excesse, verur­

sacht, geht dem Andern unbezeichnet hin.

Wie der Körper nicht als etwas Fixes, worauf die Seele nachweis­ baren Einfluß übt, genommen werden darf, so darf auch nicht Seele und

Man kann nicht so ohne Weiteres mit Böse-

Charakter fixiert werden.

wichtsphysiognomieen um sich werfen,

da böse Thaten aus einer unter

andern Umstände auf's Edle sich richtenden Leidenschaft hervorgehen. Der­

selbe Mensch, der gehenkt worden ist, hätte mit all' seinen Anlagen unter

andern Verhältnissen statt

des

Stricks den Lorbeer empfangen können.

Nun — so schiebt der Phhsiognome den großen Mann und den Spitzbuben unter das Eine Prädikat der großen Anlage, die beide hatten.

Damit

aber wird factisch zugegeben, daß jeder aus sich machen kann, was er

will, und das Schwergewicht nicht auf dem Schein, sondern auf dem Thun

des Menschen liegt und das Lesen aus dem Gesicht des Nächsten mit dem Kennenlernen desselben aus seinen Früchten zu vertauschen ist.

der Phhsiognome steckt sich hinter die nach schlimmen Seite determinierbaren Anlage.

der

Oder aber

guten oder nach der

Warum dann aber nicht die

Entscheidung für Gutes oder Schlimmes gleich in die Anlage verlegen?

Warum es nicht gleich zu Sokrates' Veranlagung rechnen, daß in ihm

die Kraft lag, das Böse in seiner Anlage zu verbessern und ebenso um­

gekehrt eine Ruinierung der ursprünglichen guten Anlage der ersten Ver­ anlagung zuschreiben?

Wie

aber, ergänzen wir,

vollends bei solchen

Complicationen jemandem seine sittliche Qualität im Gesicht ansehen? Dem

Seele

Favoritgedanken, den Lavater pro

domo hegte, die schöne

bewohne den schöneren, die häßliche den häßlicheren Körper, hält

der Göttinger Physiker die ernste Instanz entgegen, ob denn das Fleisch Richter sein solle über den Geist, was denn Leibesschönheit, diese vielleicht

nur verfeinerte Lustregung im diesseitigen Dasein, mit der Schönheit der dieser Lust entgegenstrebenden, ewigen Seele zu thun habe?

Ueberhaupt

sieht er sich für berufen an, der physiognomischen Seuche, die den Men­ schen nach seiner äußeren Form beurtheilen will, wie der Viehhändler

die Ochsen, zu wehren.

So wechseln die Rollen.

in Zürich muß sich des Vergessens

Der Menschenfreund

von Menschenwerth

und Menschen­

würde beschuldigen lassen, der Menschenfeind in Göttingen bläst sich zum

Champion des Adels der Menschennatnr auf.

Die Annalen der Natur­

wissenschaft, die Regesten der Culturgeschichte werden die Namen beider Gegner mit ihren, einander ergänzenden, anthropologischen und psycholo­

gischen Forschungen in gleichen Ehren halten. Preußische Jahrbücher. Bd. XI.VI. Hefi 3.

Insbesondere aber werden

20

274

Zur Würdigung Lavater's.

sie dem freundlichen Züricher Geistlichen dafür Dank wissen, daß er über dem Tief präg' eS deinem Herzen ein, Welch Glück es sei, ein Christ zu sein

Das: Tief präg' es deinem Herzen ein, Welch Glück es sei, ein Mensch zu sein.

zu keiner Zeit seines Lebens vergessen hat. Er hat es sich sauer werden lassen, seinen „materiell gewordenen Gott" zu verherrlichen.

Emil Feuerlein.

Colberg und Gneisenau.

Die Schlachten von Jena und Auerstädt waren geschlagen.

„Preußen

ist verschwunden", hatte Napoleon in wilder Siegesfreude an den Sultan geschrieben, und „Preußen ist verschwunden", heulte jubelnd ihm nach der

rheinbündische Troß, der unversöhnliche Neider des jungen, aufblühenden Staates.

Mit der Schöpfung Friedrichs des Großen schien es auS und

vorbei für-immer.

Erfurt und Magdeburg, zwei der stärksten preußischen Bollwerke,

ergaben sich schmachvoll dem Feinde, es folgten die nicht minder schmach­ vollen Kapitulationen der einzelnen HeereStrümmer, und triumphirend zog der rachesprühende Imperator durch die Straßen Berlins.

Degen, Hut

und Schärpe des großen Königs, die ehrwürdigen Denkmale unvergäng­

lichen Ruhmes, wanderten zu den Invaliden nach Paris, die eherne Victoria ward von dem brandenburger Thor herabgerissen,

um sieben

trostlose Jahre, vergessen und verschollen, in einem Winkel der fränkischen Hauptstadt zu rosten, und in dem Herrscherschloß an der Spree wurden jene Schmähschriften dictirt, die den Ruf der edlen Königin in buben­

hafter Weise besudelten.

Und weiter trieb der Unersättliche seine siegberauschten Schaaren, denn der Gegner sollte nicht Zeit finden, auf Küstrin und Stettin sich stützend, an der Oder einen letzten Entscheidungskampf zu wagen. Stern lächelte dem Korsen auch hier.

Sein

Die Kommandanten der beiden

Oderfestungen thaten eö ihren Kameraden von Erfurt und Magdeburg

an feiger Erbärmlichkeit noch zuvor; Pommern fiel mühelos in FeindeS-

hand; jenseits der Weichsel, an den äußersten Grenzen des Vaterlandes mußten die trübseligen Reste der weiland ersten Armee Europa'» sich

sammeln. So weit das suchende Auge des Patrioten reichte, nichts als namen­ lose Schande, als ungeheure Schmach!

Und doch, gerade jetzt, in den Zeiten tiefster Entwürdigung; gerade hier, in dem preisgegebenen Pommern, sollte von einem entlegenen Fleckchen

20*

Colberg und Gneisenan.

276

Erde aus der Welt in erhebender Art bewiesen werden, daß in dem zer­

malmten und zerquetschten Volke die alte Kraft noch fröhlich weiter blühte, daß in dem mit Hohn überschütteten Heere Friedrichs noch Männer wirkten, die eS mit den Besten aller Zeiten aufnehmen durften.

In Hinterpommern, weitab von der großen Straße, da, wo die Persante in daS baltische Meer sich ergießt, liegt Stadt

Colberg.

und Festung

Im Herbst des Jahres 1806, als noch Alles in schwindelnden

Hoffnungen sich wiegte und eitel Ruhm und Siegesfreude träumte, als die Elb- und Oderfestungen von Waffen und Mannschaft starrten, wer hätte damals gedacht, daß eine feindliche Heereswelle bis in diesen fernen

Winkel spritzen und an den verfallenen Mauern der alten Küstenstadt sich brechen sollte?

Napoleons scharfes Auge jedoch hatte frühzeitig ColbergS Bedeutung erkannt.

Während er gen Osten eilte, um die letzten vernichtenden Schläge

gegen die nunmehr vereinigten Preußen und Russen zu führen, durfte er

keinen festen Platz hinter seinem äußersten linken Flügel dulden, welcher dem Lande eine Art von Schutz, den preußischen Truppen einen sichern

Anhalt gewähren und vermöge seiner Seeverbindung einen Sammelort

und Stützpunkt für neue, von England und Schweden geförderte Rüstungen bilden konnte.

Vor Allem mußte verhindert werden, daß eine feindliche

Truppenmacht unter kräftiger Führung von Königsberg

aus

an den

Küsten der Ostsee ckandete, der französischen, jenseits der Weichsel, festge­ haltenen Armee in den Rücken fiele, die aus den Niederlagen und Kapi­

tulationen entkommenen preußischen Heerestheile sammelte und die er­ bitterte Bevölkerung zwischen Oder, Elbe und Weser zu offenem Aufstande

mit sich fortrisse. Für's Erste wurde der Divisionsgeneral Teulis an der Spitze von

fünftausend Mann mit der Einschließung ColbergS betraut,

um später

dem noch entfernten General Victor, der sich hier den Marschallsstab ver­

dienen sollte, daS Obercommando abzutreten. — Colberg war eine sturm­

gewohnte Stadt.

Hinter seinen Mauern tummelte sich ein kernhafteS Ge­

schlecht, selbstbewußt, opferwillig, voll kecken Unternehmungsgeistes, im Kampf mit Wind und Welle gehärtet, gesund an Leib und Seele durch

den belebenden Hauch des ewigen Meeres.

Dreimal während des sieben­

jährigen Krieges hatte die kleine Festung alle Schrecken einer Belagerung

erfahren und dreimal dem überlegenen Feinde glorreich widerstanden. Noch lebten Viele, welche die großen Tage von Roßbach und Leuthen ge­

sehen und unter dem tapfern von der Heyde Ruffen wie Schweden die Wucht pommerscher Hiebe hatten empfinden lassen:

Beste der Bürgerrepräsentant Joachim Nettelbeck.

als der Erste und

Neunundsechzig Jahre

277

Solberg und Gneisen«».

rastloser Arbeit hatten sein Haar wohj gebleicht, den stahlharten Körper aber nicht zu beugen vermocht.

Er war eine von jenen ächten SeemannS-

naturen germanischen Stammes, wie sie uns in der Glanzperiode der Hansa entgegentreten;

ein trotziger Vertheidiger seiner Vaterstadt aus

König Friedrichs Zeiten her, ein zäher Pommer von altem Schrot und

Korn, der sich auf allen Meeren, in Westindien, wie an der Küste von

Guinea, in der Pracht und Fülle der Weltstädte,

wie unter den be­

rauschenden Wundern der Tropen sein deutsches Herz unwandelbar er­ halten hatte. Ein glückliches Ungefähr ließ ihn den Gefährten finden, wie er ihn in der gegenwärtigen Bedrängniß geeigneter sich nicht wünschen konnte.

Ferdinand von

Schill,

Unterlieutenant

regiment Anspach-Baireuth,

in dem berühmten Dragoner­

war bei Auerstädt verwundet worden, der

Verfolgung aber glücklich entronnen.

Mit zweien seiner Leute hatte er

sich auf abgetriebenen Pferden und unter mancherlei Abenteuern durch die Feinde hindurchgeschlichen, bis er in Colberg endlich eine Zuflucht fand. Kaum daß seine Wunde Halbwegs geheilt war, setzte sich dieser geborene Führer für den kleinen Krieg an die Spitze einiger dreister Gesellen und

bekämpfte aus eigener Machtvollkommenheit den glühend gehaßten Fran­ zosenkaiser.

Anfänglich nur von einem halben Dutzend Reiter gefolgt, zog

er im Angesicht des Feindes auf Kundschaft aus, überfiel mit unglaub­

licher Keckheit Gefangenentransporte,

Waffen und zahlreiches Schlachtvieh. Tage.

rettete Kassen,

erbeutete Pferde,

Sein Anhang wuchs

mit jedem

In kurzer Zeit gelang es ihm unter königlicher Genehmigung,

tüchtige Offiziere zu gewinnen und

aus Versprengten aller Truppen­

gattungen ein kleines, nothdürftig bewaffnetes, aber von heißer Kampflust beseeltes CorpS zu bilden, mit dem er dem zwar stärkeren, doch über

weite Flächen zerstreuten und schlecht unterrichteten Gegner immer schmerz­

hafteren Abbruch that.

Begegnete er einer entschiedenen Uebermacht, so

zog er sich unter die Kanonen Colbergs zurück, begierig ausspähend nach einer neuen Gelegenheit zu verwegenen Streichen.

Bald war der Name

Schill, ein Schreckensruf für die Feinde, das Losungswort aller wahren Patrioten; und wenn die Bedeutung des kühnen Freibeuters mitunter auch überschätzt wurde, was that das in diesem Augenblick? Seele des Volkes schrie nach einem Mann.

Die geängstigte

Hier war ein solcher, jung

und tapfer, dem die höchsten Kränze nicht unerreichbar schienen:

Grund

genug also, an seinem wackeren Bilde sich zu erfreuen und aufzuerbauen. Ohne Nettelbeck und Schill wäre eS trübe um Colberg bestellt ge-, wesen, denn die Vertheidigungsmittel befanden sich in einem wahrhaft

kläglichen Zustand.

Die Festungswerke waren verfallen und nicht pallisa-

278

Colberg und Gueisenau-

bitt, die Vorrichtungen zu einer Ueberschwemmung den neueren Anfor­

derungen kaum noch entsprechend.

Neunundsechzig fast unbrauchbare eiserne

Kanonen rosteten im hohen Grase der Wälle; nur drei derselben, die am

wenigsten abgenutzten, hatte man aufgestellt, aber auch diese drohten bet wiederholtem Gebrauch zu springen und der bedienenden Mannschaft ver­

derblich zu werden.

Das neue, von Berlin aus rechtzeitig abgesandte

Geschütz fiel durch die verrätherische Nachlässigkeit des stettiner Komman­

danten in die Hände der Franzosen und wurde nun von den Belagerern

gegen die Festung gerichtet.

Auch die Besatzung erwies sich als unzureichend und wenig verläßlich. Drei ungeübte Depotbataillone, meist auS Polen recrutirt, die den ersten

günstigen Augenblick erwarteten, um überzulaufen oder in die Heimath

zu entweichen, waren Alles, was man dem krieg- und sieggewohnten Feinde entgegenwerfen konnte, während für die Artillerie nur eine geringe

Anzahl noch dazu altersschwacher Leute, Reiterei aber sogut wie gar nicht

zur Verfügung ftonb. • Endlich gab der Kommandant selbst zu den schwersten Besorgnissen Anlaß.

Wohl war Oberst Loucadou ein tapferer Soldat,

der in den

schlesischen Kriegen nicht ohne Auszeichnung gedient hatte, gewissenhaft und in seiner Weise entschlossen, den ihm anvertrautey Posten pflichtgetreu

zu behaupten; aber fünfundsechzig Jahre lasteten hart auf seinen Schlittern, er war erstarrt in Beobachtung abgelebter Formen und in seiner pedanti­ schen Langsamkeit dem Oberkommando unter so außerordentlichen Um­

ständen nicht im entferntesten gewachsen. Loucadou that, was die Noth des Augenblicks erheischte.

Die schad­

haftesten Stellen in den Festungswerken wurden ausgebessert, mehrere Vorstädte niedergebrannt und die den Wällen zunächst gelegenen Wiesen

unter Wasser gesetzt; wie eS ihm auch glückte, durch Einberufung der

Beurlaubten und Herbeiziehung der noch immer zahlreich herumschwär­ menden Versprengten mehrere Bataillone verschiedenartiger Waffengattungen

zu formtreu und die Artillerie durch ein Dutzend Zwölfpfünder zu ver­ stärken, welche auf dem Seewege von Danzig und Stralsund zu gelegener Stunde noch eingetroffen waren.

Aber nur widerwillig duldete der in

unseligen Vorurtheilen Befangene die Mitwirkung der Bürgerschaft, welche in schöner Hingabe an die Sache des Vaterlandes die Bewachung des

Hauptwalles, die Schanzarbeiten und Krankenpflege übernommen hatte, und endlos waren seine Klagen über den tapfern Schill, der durch seine Ausfälle und übermüthigen Streifzüge weit in das Land hinein Napoleons

besondere Aufmerksamkeit auf die arme Küstenfestung zu ziehen drohte. Wohin war es mit Preußen gekommen, wenn Gevatter Schneider

Solberg und Gneisenaü.

279

und Handschuhmacher sich erdreisten durften, an der Seite des Berufs­

soldaten mitreden und mithandeln zu wollen; wenn sogar ein königlicher Unterlieutenant, ohne einer höheren Behörde Rechenschaft abzulegen, auf eigene Gefahr einen abenteuerlichen Guerillakrieg zu führen wagte?

Waö

frug der beschränkte Greis darnach, daß dieser Offizier vor Kurzem den zur Uebernahme seines Kommandos reisenden General Victor bei ArnSwalde aufgehoben und gefangen genommen, daß der findige Dragoner die im Nordwesten der Stadt gelegene Maikuhle, eine baumreiche An­

pflanzung, besetzt und voll kluger Voraussicht befestigt hatte?

Mochte diese

wichtige Position, die den ungehinderten Verkehr zwischen Festung und

Hafen sicherte, immerhin in feindliche Hände fallen, wenn nur die altbe­ währte Methode aufrecht erhalten wurde, jedwede Vertheidigung auf Wall und Mauer zu beschränken, um eine regelrechte Bresche abzuwarten und dann in ehrenvoller Weise zu capituliren. Bürgerschaft wie Garnison vergalten diesen Hoch- und Kleinmuth

mit tiefem Mißtrauen, sie vergaßen keinen Augenblick, daß die Kleist und

Ingersleben Loucadou's Standesgenossen waren; eine bedenkliche Gährung bemächtigte sich der ohnehin erregten Gemüther, und eS dauerte nicht lange, so machte eine neue Thorheit des alten Gamaschenknopfs daS bis zum

Rande volle Gefäß des Zornes überfließen.

Schill war am 12. April

mit seinem Corps und einem Theil der Besatzung wieder einmal ausge­ fallen, hatte die französischen Posten jenseits der Persante über den Haufen

geworfen, den Westen der Festung vom Feinde gesäubert und schickte sich eben zu nachdrücklicher Verfolgung an, als ein Machtwort Loucadou's jede

weitere Ausbeutung des Sieges verhinderte. Schill zu viel!

Das war dem feurigen

Das brave Herz voll bittern Grimms, zog er mit dem

größeren Theil der Seinen nach Stralsund, wo Blücher mit einem preu­ ßischen Heerhaufen, den schwedische und englische Hilfsvölker verstärken

sollten, eine Diversion in Napoleons Rücken vorbereitete.

Hier hoffte der

vielfach Gekränkte ein besseres Verständniß seines Werthes zu finden, ein

lohnenderes Feld für seine ritterliche Wagelust.

Unwillen der Bürgerschaft in einem Schreiben

Nettelbeck aber gab dem an den König unver­

hohlenen Ausdruck und forderte in beweglichen Worten die Sendung eines

andern, geeigneteren Kommandanten; ja, zwei Offiziere, Artilleriemajor

von Britzke und Vicekommandant, Hauptmann von Waldenfels, gingen so wett, in Gegenwart Loucadou's Pistolen zu ziehen und bei ihrem Ehren­

worte zu erklären, daß sie Jeden ohne Ausnahme niederschießen würden, der ein Wort von Eingebung spräche.

DaS waren schlimme Aussichten!

In der zweiten Hälfte des April traf Marschall Mortier, gefolgt von

Colberg und Gneisen«».

280

zahlreichen Verstärkungen, bei dem Belagerungsheere ein, um an VictorStelle den Oberbefehl zu übernehmen.

In Tramm, ostsüdöstlich von

Colberg, schlug er sein Hauptquartier auf,

während Division-general

Loison beauftragt wurde, mit herzoglich sächsischen, Württembergischen und

italienischen Truppen die eigentliche Berennung de- Platze- zu leiten.

Neuntausend Mann standen, jetzt der durch Schill- Abgang schwer

geschädigten Besatzung gegenüber; aber schon war Hilfe unterwegs.

Am

26; April zog, enthusiastisch empfangen, da- in Memel gebildete zweite

pommersche Reservebataillon unter dem Hauptmann von Steinmetz durch das Münderthor, und drei Tage später erschien, fremd und unerwartet,

der neue Kommandant selbst. Nettelbecks Bitte hatte ein geneigte- Ohr gefunden.

Mit sicherm

Soldatenblick, der niemals fehlte, wenn ihn verwirrende Rathschläge Dritter

nicht trübten, hatte Friedrich Wilhelm den Mann gefunden, der großartig, wie kein Zweiter, seine Aufgabe in ihrer ganzen Bedeutung erfaßte. Neidhardt von Gneisenau hieß der Erwählte.

unbekannt.

Ein Name sogut wie

Die Regimentskameraden hatten ihn scherzend den „ewigen

Hauptmann" geheißen und lächelten über den Sonderling,

der in der

Einsamkeit einer abgelegenen Garnison Schlesiens die Siegesflüge des jungen Bonaparte

mit beinahe eifersüchtiger Aufmerksamkeit verfolgte.

Hin und wieder flüsterten sie sich wohl in die Ohren: er habe als aufgelesenes Kind ohne Aeltern, Vaterland und Glauben in einem sächsischen Landstädtchen die Gänse gehütet — weiter jedoch wußte man nichts von

dem Mann, der bald genug der Stolz eine- ganzen Volkes werden sollte. Aber sein König hatte ihm in entscheidender Stunde tief in daS Herz ge­ blickt und erwählte jetzt den unbekannten Major für die colberger Sendung.

Glänzender, als durch Gneisenau, ist das Vertrauen eines Fürsten

niemals gerechtfertigt worden. In finsterer Nacht, auf einem elenden Fischerboot und von einem Hagel von Kugeln verfolgt, war er durch den eisernen Gürtel gebrochen,

den Lefebvre um Danzig gezogen hatte, und am 29. April auf der Rhede von Colberg an das Land gestiegen.

und

Mit ihm stieg eine helle, ruhm-

ehrenschwangere Zeit für die bedrängte Stadt aus dem Meere.

Seiner Feuerseele entströmte ein Hauch erquickender Lebenslust, der all' die schwülen Dünste des Mißtrauens, der Unentschlossenheit und kleinlichen

Eifersucht mit Eins von dannen fegte, der die trüben Augen von Neuem blitzen, die gedrückten Herzen wieder hoffnungsfreudig pochen machte. Ein zuverlässiger Zeuge, Nettelbeck selbst, schildert un'S den über­ wältigenden Eindruck, dem Jeder unterlag, der in den Zauberbann des königlichen Mannes trat.

281

Solberg und Gneisenau.

Unter den Wölbungen des Münderthores war der Alte dem Haupt­

mann von Waldenfels an der Seite eine- Unbekannten begegnet.

Er

hatte mit dem Unterkommandanten über wichtige Maßnahmen zu berath­

schlagen; nun fühlte er sich durch die Anwesenheit eines Fremden beengt und wollte mit der Sprache nicht recht heraus. Waldenfels lächelte zu dieser

Vorsicht und führte beide, Nettelbeck und den Fremden, in sein Quartier.

„Als wir dort angekommen und unter sechs Augen waren — erzählt Nettelbeck weiter — wandte sich der Hauptmann zu mir mit den Worten: „»Freuen Sie sich, alter Freund, dieser Herr hier, Major von Gneisenau,

ist der neue Kommandant, den uns der König geschickt hat!"" seinem Gaste: „„Das ist der alte Nettelbeck!""

Und zu

Ein freudiges Erschrecken

fuhr mir durch alle Glieder; mein Herz schlug mir hoch im Busen, und

die Thränen stürzten mir aus den alten Augen.

Zugleich zitterten mir

die Kniee unterm Leibe, ich fiel vor unserm Schutzgeist in hoher Rührung

auf die Kniee, umklammerte ihn und rief auS: „„Ich bitte Sie um Gottes

Willen, verlassen Sie uns nicht: wir wollen Sie auch nicht verlassen,

so lange wir noch einen warmen Blutstropfen in uns haben; sollten auch alle unsere Häuser zu Schutthaufen werden! So denke ich nicht allein, in uns allen lebt nur ein Sinn und Gedanke: die Stadt darf und soll dem

Feinde nicht übergeben werden!""

auf und tröstete mich:

Der Kommandant hob mich freundlich

„„Meine Kinder, ich werde Euch nicht verlassen,

Gott wird Euch helfen.""

Und nun wurden einige Angelegenheiten be­

sprochen, die wesentlich zur Sache gehörten, und wobei sich sofort der helle, umfassende Blick unseres neuen Befehlshabers zu Tage legte, so

daß mein Herz in Freude und Jubel schwamm." —

Und ein Nachklang dieses Entzückens — stolz dürfen wir es sagen — zittert auch durch unsere, der Enkel Seele, wenn wir vor des Helden Standbild treten, das sein dankbares Fürstenhaus

ihm gründete und

Christian Rauchs Meisterhand aus dem Erz französischer Kanonen schuf. „In Wahrheit, ein Verein und eine Bildung, auf die sein Siegel jeder

Gott, gedrückt!" Am Tag nach dieser ersten Bekanntschaft stellte sich Gneisenau auf

der Bastion Preußen den Truppen sowie den königlichen und städtischen Behörden vor.

Die Majestät seiner Gestalt, die heitre Ruhe und sonnige

Wärme, die über ter ganzen Erscheinung ausgebreitet lagen, verfehlten auch hier ihre sieghafte Wirkung nicht.

Jauchzen, Rührung, stammelnde

Schwüre der Treue und Hingebung umrauschten den Freudigbewegten, nachdem er seine begeisterte Anrede geendet, und die Kunde von der Herr­

lichkeit des neuen Kommandanten verbreitete sich schnell bis in die ent­ legensten Winkel der Stadt.

282

Tolberg und Gneisenau.

In Noth und Gefahr darf dem Menschen die Tröstung der Religion

am wenigsten genommen werden, hatte Gneisenau gesagt, und die Kirchen thaten sich auf, die Loucadou geschlossen und in Magazine verwandelt

hatte; die Glocken luden wieder ein zu Sammlung und Gebet, und die fromme Gemeinde wohnte ungestört der Confirmation ihrer Kinder bet, wie wenn draußen der tiefste Friede waltete.

„Ein neues Leben und ein

neuer Geist kam nunmehr, wie vom Himmel herab, in Alles, was um

uns und mit uns vorging!" jubelt der selbst verjüngte Nettelbeck.

Unter des Letzteren Führung untersuchte nun der Kommandant die vorhandenen Vertheidigungsmittel.

Traurig genug sah es damit immer

noch au9-; es fehlte nicht mehr wie Alles. Da gab es keine Schanzkörbe,

keine Erdsäcke, weder Faschinen, noch Faschinenpfähle.

Trotz des eifrig­

sten Forschens fand man kein Balkenholz für Brücken und spanische Reiter,

ebensowenig Bretter, geschweige denn Bohlen für Batteriebettungen. Die

Armuth an Holz war so empfindlich, daß im Verlaufe der Belagerung sogar gefallene Offiziere ohne Särge begraben werden mußten.

Die zur

Schanzarbeit erforderlichen Hacken und Schaufeln, das Handwerkszeug für die Zimmerleute wurde erst auS Königsberg verschrieben, während

die

Kommandeure der Jnfanteriebataillone vergebens um Blei, Patronenpapier und Flintensteine baten.

AIS Schmerzenskind aber erwies sich nach wie vor die Artillerie.

Von den eisernen Geschützen, die zum ernsteren Dienst schon längst nicht mehr taugten, war inzwischen eine bedeutende Anzahl gesprungen; oben­

drein fehlte es an Lafetten, und die einzige Schmiede, welche sich auf deren Beschlag verstand, mußte wegen mangelnder Kohlen feiern.

Der

geringe Pulvervorrath hatte durch Nässe, das Schleusenwerk durch grobe

Vernachlässigung gelitten — kurz, wohin er auch schweifte, nichts Tröst­ liches bot sich dem prüfenden Blicke, und jeder Andere, als Gneisenau,

Aber diesen

leuchtenden Geist vermochte

einer Sorge zu trüben.

Nach allen Seiten flogen

würde zaghaft geworden sein. nicht der Schatten

seine Boten, nach Stralsund und Königsberg, nach London und Stockholm; überall trieb der Nimmerrastende zur Eile, überall wußte er die kräftig­ sten Hebel anzusetzen, und zuletzt verließ er sich doch auf das Beste: auf

die Tapferkeit seiner Truppen und das eigene mannhafte Herz. Vor Allem war er darauf bedacht, den neuerwachten Muth der Be­

satzung nicht einschläfen zu lassen.

Der Morgen des dritten Tages seiner

Amtsführung dämmerte kaum empor, als er bereits den colberger Bür­ gern von der Zerstörung feindlicher Werke erzählen und Gefangene, Waf­ fen und zahlreiches Belagerungsmaterial als untrügliche Siegeszeichen vor­

führen konnte.

Eine schwedische Fregatte mit sechs und vierzig Kanonen,

283

Colberg und Gneisenau.

die gerade jetzt auf der Rhede Anker geworfen, hatte ihn bei diesem nächt­

lichen Unternehmen unterstützt, leider nur mit mäßigem Erfolg, da sie wegen ihres Tiefganges der Küste sich nicht genügend nähern konnte.

Recht im Gegensatz zu Loucadou sann Gneisenau

auf Mittel und

Wege, wie er den Feind möglichst lange von den Stadtmauern entfernt

halten, wie er die Uebermacht desselben zersplittern und lähmen könne. Ohne Säumen ging er an die Befestigung des Wolfsberges, eines Hügels am rechten Ufer der Persante, der, siebenhundert Schritte von

der Küste und in doppelter Entfernung von den Festungswerken gelegen, dreißig Fuß über den Meeresspiegel sich

erhebt.

Von diesem Punkte

aus vermochte er das ganze vorliegende Binnenfeld zu beherrschen und alle feindlichen Anschläge gegen seine Seeverbindung zu vereiteln. Während er mit herzlicher Freude den wiederversöhnten Schill im

Rücken der Belagerer das alte reiterlustige Wesen treiben ließ, warf er mit erbärmlichem Material in dem leichten Sandboden Wall und Brust­

wehren auf, senkte Blockhäuser in die Erde, verpallisadirte den Graben und krönte seine Verschanzung mit elf Geschützen.

er sich schon hier.

Als Meister bewährte

Nichts konnte ohne ihn geschehen, aller Orten wurde

seine Gegenwart gefordert, keine Arbeit, wo er nicht selbst mit Hand an­ legen mußte; denn nur zwei Jngenieuroffiziere waren zur Stelle, der

ältere ein unverbesserlicher Trunkenbold, der jüngere erst neunzehnjährig und ohne alle Erfahrung.

Aber das Werk gelang; und als nun noch

die Garnison durch das dritte neumärkische Reservebataillon auf sechs­

tausend Mann gestiegen war, durfte er den kommenden Ereignissen mit Ruhe entgegensehen.

General Loison war inzwischen mit Sicherung der eigenen Stellun­ gen zu sehr beschäftigt gewesen, um ein Auge für die Maßnahmen des Gegners zu haben; zu spät erkannte er sein arges Bersäumniß und suchte eS durch einen Gewaltstreich wieder gut zu machen.

Am 7. Mai ließ er

den Wolfsberg angreifen, wurde aber von WaldenfelS und dem pommerschen Reservebataillon mit blutigem Kopfe zurückgewiesen, so daß es ge­

raumer Zeit bedurfte, bevor er von Neuem auf dem Kampfplatz zu er­ scheinen wagte. Vom Cavalier der Bastion Preußen, seinem gewöhnlichen Stand­

orte auS,

bemerkte endlich Gneisenau kurz vor Pfingsten eine auffällige

Bewegung im französischen Lager.

Mit Sicherheit schloß

er auf eine

nahe bevorstehende Unternehmung und begrüßte seine Soldaten mit fol­ gendem Parolebefehl: „Es hat sich das Gerücht verbreitet, der Feind wolle morgen in der

Frühe den Wolfsberg angreifen.

Es ist mir lieb, solches der Garnison

284

Solberg und Gneise»«».

bekannt machen zu können, und freue ich Mich mit ihr, daß der Tag der Rache gekommen ist. Parole:

Friedrich Wilhelm!"

Er hatte

recht

gesehen.

Zweitausendsiebenhundert Mann

führte

General Teuliä in der Nacht des Pfingstmontags gegen die von hundertundfunfzig Pommern besetzten Verschanzungen vor.

Die Dunkelheit be­

günstigte seine Annäherung; die preußischen Vorposten wurden überrascht

und nach hartnäckigem Widerstande zum Rückzug gezwungen; noch aber hatte er sich in dem eroberten Werke nicht festgesetzt, als, auf Gneisenau's

Befehl, WaldenfelS mit fünfhundert Grenadieren zur Unterstützung herbei­

eilte, die Feinde mit unvergleichlicher Bravour in wirrer Flucht vor sich hertrieb und

in ihren Reihen ein unbarmherziges Blutbad anrichtete.

Sechshundertundfunfzig Franzosen waren die Opfer dieser mörderischen Nacht, unter ihnen dreizehn Offiziere und der Kommandeur der italienischen

Truppen.

General Teuli6 selbst entzog sich nur mit knapper Noth der

Gefangennahme. Die Niederlage war vollständig.

Marschall Mortier wüthete, denn

schon wurde der Kaiser ungeduldig und mahnte in drohenden Worten, die Wegnahme des winzigen Nestes zu beschleunigen.

Trotz eines zahlreichen

und tüchtigen Jngenieurcorps, einer weitüberlegenen und weltberühmten Artillerie, einer sieggewohnten, von glänzenden Führern geleiteten Trup­

penübermacht war es nicht gelungen, dem einen Mann, der nichts, als eine Handvoll todesmuthiger Soldaten zur Seite hatte, den kleinsten Vor­

theil abzugewinnen. Mit Betroffenheit erkannte der französische Feldherr, daß ihm hier eine geniale Kraft entgegenarbeite, die er schon längst nicht mehr

in dem preußischen Heere vermuthet hatte, die, an die stolzesten

Zeiten König

Friedrichs erinnernd, dem Feind

schon

an der Gurgel

saß, noch ehe er dem unvermutheten Anprall begegnen konnte, die bereits

vernichtende Schläge niedersandte, bevor der Gegner zum Hiebe auSzuholen vermochte.

Die Tatze des Löwen hatte der Marschall gefühlt; von

nun an war er auf seiner Hut.

Statt den Stier bei den Hörnern zu

packen, wie er es umsonst versucht, mußte er ihn nun auf Umwegen be­

schleichen, statt die Festung in einem ersten wuchtigen Ansturm niederzu­ werfen, mußte er sich selber wider den Belagerten verschanzen und Zeit

und Geduld vergeuden, um gegen ein elendes, flüchtig aufgerichtetes Erd­ werk, das der Erbauer selbst als „eine wahre Schweinerei in der Aus­

führung" verspottete, alle Künste einer regelrechten Belagerung mit Paral­

lelen und Laufgräben spielen zu lassen.

In Colberg aber herrschte Freude, die sich noch steigerte, als Nettelbeck die Ankunft eines englischen Kauffahrers mit Munition und Aus-

285

Tolberg und Gneisenau.

rüstungSgegenständen meldete.

Der Alte leuchtete vor Glück, wenn er

seinem angebeteten Kommandanten gute Kunde bringen konnte. Zeigte sich

nur ein Segel am Horizont, gleich warf er sich in das Meer und forschte,

ob es vielleicht Freunde wären, welche Waffen oder Vorräthe gen Colberg trügen.

Kein Sturm hielt ihn von dieser Gepflogenheit ab, und mehr

als einmal führte der treue Pilot gefährdete Schiffe in den bergenden Hafen, wo

bewährte

Lootsen an der

Möglichkeit

des Gelingens

ver­

zweifelten. Seine Kräfte schienen sich in den letzten Wochen verdoppelt zu

haben.

Hoch zu Roß ritt er mitten in den Kugelregen hinein, den er­

schöpften Mannschaften Erquickung zu reichen und zuverlässige Nachrichten

über den Gang des Gefechts für Gneisenau zu sammeln; die Verwundeten

schaffte er auf Wagen

in die Stadt zurück, die Todten las er vom

Schlachtfeld auf und sorgte liebevoll für ein christliches Begräbniß; da­ bei kroch er spähend über die Böden der Häuser, in die dunkelsten Winkel

der Speicherdächer und zimmerte unverdrossen an dem veralteten Schleu­

senwerk.

War doch seiner Gewissenhaftigkeit die Obhut der Lösch- und

Ueberschwemmungsanstalten anvertraut. . Wehe dem Ungehorsamen,

der

feuergefährliche oder leichtentzündliche Stoffe nicht am gesicherten Ort be­ wahrte; Wehe dem Fahrlässigen, der einen Tropfen Wassers nutzlos ver­

schwendete! Während der Wolfsberg täglich mit hundert und mehr Granaten

beworfen wurde, und Gneisenau

ununterbrochen zu flicken und auszu­

bessern hatte, gesellte sich zu allen andern Uebeln, als ob es an ihnen nicht genug gewesen wäre, schließlich auch noch die Sorge um das liebe

Geld. Die Kapitalien der wohlhabenderen Einwohner waren durch willig

gereichte Darlehen allmählich erschöpft und aus Königsberg durfte man

keine Unterstützung erwarten.

Soldaten aber und Handwerker mußten

bezahlt werden, wenn nicht alle Ordnung sich lösen sollte — so konnte

der Noth nur mit selbstverfertigtem Papiergeld gesteuert werden. Zu seinem Schrecken

erfuhr Gneisenau, daß

in der Stadt keine

Druckerei vorhanden wäre; aber rasch entschlossen berief er die Schüler des Lhceums, und nicht lange dauerte es, so waren kleine, mit verschieden­ artiger Dinte beschriebene und durch das Gouvernementssiegel beglau­

bigte Pappdeckel im Betrage von vielen Tausenden

von Thalern

im

Umlauf. Wie schwer auch die Lasten waren, die Gneisenau bedrückten, über

den heitern Gleichmuth seiner sturmfesten Seele hatten sie keine Gewalt. Schloß er doch mitten in dem Drang und Wust der jetzigen Tage einen

nach Memel gerichteten Brief mit folgenden Worten: „Seit acht Monaten

habe ich keine Nachricht von meiner Frau und ihren sechs Kindern.

Dies

286

Solberg und Gneisenau.

will mich manchmal in meinen Anordnungen stören, aber ich denke immer

bald wieder daran, daß ich eher Soldat als Ehemann war. nur nicht durch diesen heillos eingeleiteten Krieg wäre und Bettler hinterlassen müßte!

Wenn man

ein Bettler geworden

Doch ein junger Mensch muß alles

versuchen, sagte jener Onkel seinem Neveu, der sich todtzuschießen drohte,

weil jener kein Geld geben wollte." Und wie der Meister, so seine Gesellen.

fester Glaube an den Helfer

Eine freudige Hingabe, ein

und Retter erfüllte Aller Herzen, ja, das

Vertrauen auf ihn und seine schützende Nähe ging so weit, daß es für die colberger Frauenwelt bald zum guten Ton gehörte, den schönen Kom­

mandanten und seine Offiziere auf den Vorwerken zu besuchen und trotz der feindlichen Wurfgeschosse harmlos geselligen Vergnügungen nachzuleben.

Der Soldat aber begann sich wieder zu fühlen.

Eine unzerstörbare Sie­

geszuversicht durchwärmte und hob sein ganzes Wesen; wie mächtig auch die Ueberzahl der Feinde wuchs, er wußte jetzt, daß preußische Waffen­

tüchtigkeit, nach gut altfritzischer Lehre, dem Teufel selber nicht zu weichen

brauchte, und von den Wällen klangen spottend neuerfundene Schelmen­ lieder in das französische Lager hinüber.

Dort waren ja der Deutschen

genug, die die trotzigen Weisen verstanden.

IN der Nacht vom 10. auf den 11. Juni hatte der Belagerer seine Laufgräben bis auf vierzig Schritte gegen den Wolfsberg vorgeschoben, die Demontirbatterien vollendet, die eigenen Verschanzungen mit dem

schwersten Geschütz gekrönt und schüttete nun bei anbrechendem Morgen einen Regen von Kugeln und Haubitzgranaten über die schlaftrunkene

Stadt.

Die Zerstörung war groß, und verschiedene Gebäude fingen Feuer; aber kaum züngelte irgendwo die Flamme empor, so rasselte Nettelbeck

mit „seiner Artillerie", den Spritzen, herbei und bekämpfte, den Wasser­ schlauch mit nerviger Faust dirigirend, erfolgreich das entfesselte Element.

Greise, Weiber und Kinder wollten im Kampf für Ehre und Vaterland nicht zurückbleiben, mit nassen Tüchern und Rasenstücken suchten sie der verderblichen Wirkung der

Sprenggeschosse zu begegnen, indessen alle

streitbaren Männer, ohne an die Rettung ihrer Habe zu denken, Wall und Thore besetzten.

Mit nicht weniger als dreißig Kanonen und Mörsern arbeitete Loisön

gegen

den ohnehin erschütterten

Wolfsberg

und seine fünf Geschütze.

Dreitausend Kugeln machten an diesem einen Tage die Rippen des armen

Erdwerkes erbeben.

Nach zwölfstündigem Ringen waren sämmtliche Schieß­

scharten, Sturmpfähle und Pallisaden zerstört, die letzten drei Geschütze

zerschmettert, die Blockhäuser dem Einstürzen nahe, und die tapferen Ber-

287

Colberg und Gneisenau.

theidiger auf ein Drittheil ihres Bestandes zusammengeschmolzen.

Oben­

drein drohte daS Pulvermagazin, seiner Erddecke allmählich beraubt, bei der nächsten unglücklichen Granate mit Allem, was die Schanze noch barg,

in die Luft zu fliegen — dennoch wagte der französische General keinen

Sturm, sondern bot dem kommandircnden Hauptmann von Bülow freien

Abzug mit allem Geschütz und beweglichem Eigenthum an.

Gneisenau willigte ein.

Er war zufrieden, den morschen Sandhügel

fünfundzwanzig volle Tage gegen eine förmliche Belagerung gehalten und dem Feinde empfindlichen Abbruch gethan zu haben, der neben Tausenden

von Todten und Verwundeten auch den Verlust des trefflichen Generals

Teuliä beklagte.

Unter klingendem Spiel, mit allen kriegerischen Ehren verließ die kleine preußische Schaar den Schauplatz ihres Ruhmes und besetzte eine

weiter rückwärts gelegene, noch unvollendete Redoute.

Wie wenn sie an Gneisenau vermittelst seiner eigenen Schöpfung Rache nehmen wollten, mühten sich die Franzosen, das geräumte Werk so

schnell als möglich ihren Zwecken dienstbar zu machen.

Die Zahl der

vorhandenen Arbeiter schien für die wichtige Aufgabe nicht hinreichend,

Hunderte von Bauern wurden also weit aus dem Lande her zusammen­

getrieben, eine formidable Angriffsposition aufzuwerfen, welche gleichzeitig

Stadt und Hafen unter

ihr verderbliches Feuer nehmen könnte.

durfte nicht gelitten werden.

DaS

Eben hatte ein englisches Schiff neue Ge­

schütze und ausreichende Munition nach Colberg gebracht, der Muth der

Truppen war uizgebrochen und verlangte nach Gefechten, was konnte Gneisenau abhalten, dem flammenspeienden Ungeheuer, daS er selbst ge­

schaffen, das ihm aber jetzt unter dem Namen „Fort Loison" feindlich gegenüberstand, mit einem kühnen Griff den gefräßigen Rachen zu stopfen?

Und wer wäre für diese rettende That geeigneter gewesen, als der ver­

wegene Waldenfels? Der nächtliche Ueberfall gelang vollständig, noch einmal wehte die schwarz-weiße Fahne von dem blutgedüngten Hügel.

Drei zur Wiederer­

oberung des FortS unternommene Stürme endeten mit kläglicher Flucht der Franzosen, und Alles, was in der Schanze niet- und nagelfest war,

wurde dem Feuer und der Vernichtung preisgegeben. Gegen Morgen, als sie das Zerstörungswerk vollendet und Loifon's

mühselige Arbeit um mehr als eine Woche zurückgeworfen hatten, berief

Gneisenau seine Grenadiere in die Stadt.

Die Heimkehrenden empfing

diesmal kein lauter Gruß, obwohl sie neben zahlreichen Gefangenen zwei­

hundert gepreßte und nun befreite Bauern mit sich führten. der Freude hätte sich nur schlecht geschickt zu einem Traüerzuge.

Der Ruf Auf der

Solberg und Gneisen«».

288

Lafette einer eroberten Haubitze lag blutig und still der zweite Komman­

dant, die Verklärung des Todes und Sieges auf der bleichen Stirn.

Gneisenau war tief erschüttert.

Zu gut wußte er, was ihm Walden-

felS gewesen; doch die Zeit verbot, weichmüthiger Trauer nachzuhängen.

Drohender berg auf.

mit jedem Tage thürmten sich die Wetterwolken über ColWohl gelang es ihm, in einem abermaligen, nach drei ver­

schiedenen Richtungen

geleiteten Ausfälle den für das Nachtgefecht wie

immer untauglichen Feind zu werfen, aber der eigenen großen Verluste

wegen konnte er den Kampf außerhalb der Festung nicht lange mehr fort­ führen, um so weniger, als gerade jetzt aus dem eroberten Danzig sechs­

tausend Mann Verstärkung mit gewaltigem Belagerungstroß im franzö­ sischen Lager eingetroffen waren, und die durch Regengüsse augeschwollene

Persante die schadhafte Hauptschleuse wegzureißen drohte.

Versagte diese

ihren Dienst, so war eS um Nettelbecks kunstvoll aufgestaute Ueberschwem-

mung

geschehen,

und Loison konnte

über das weite Binnenfeld

her

trocknen Fußes bis an die Thore der Stadt gelangen.

Um das Maß vollzumachen, erklärte in dieser Bedrängniß der Ka­ pitän der schwedischen Fregatte, daß höhere Befehle ihn zur schleunigsten Rückkehr in die Heimath nöthigten.

Segelte er wirklich ab, so war die

Seeverbindung für Gneisenau unrettbar verloren, der Hafen lag dann schutzlos dxn Kanonen des Forts Loison preisgegeben, und die schmerzlich

erwarteten, mit Kriegs- und Mundvorräthen beladenen Handelsschiffe aus Stockholm und Riga mußten unverrichteter Sache wieder umkehren. Hier galt es eine schnelle Wahl: entweder die Fregatte

Wolfsberg!

oder

der

Der Schwede blieb taufe- gegen jegliche Bitte, so mußte denn

das „verwünschte Mordloch" noch einmal dran. Festung und Fregatte

leiteten den Kampf mit einem

anhaltenden,

aber ziemlich wirkungslosen Feuer ein, dann ließ Gneisenau das Grena­ dierbataillon unter Hauptmann von Zülich zum Sturm antreten.

Mit

glühenden Blicken verfolgte er von der Bastion Preußen seine Lieblinge,

wie sie im Strahl der Junisonne mit voller Feldmusik, einen Tritt wie den andern, dem sichern Tode entgegenschritten.

Mochten die französischen

Kugeln auch ganze Rotten niederreißen, die klaffenden Lücken schlossen sich wieder, und Schulter an Schulter, das Gewehr zur Attaque rechts, ging

eS vorwärts, dem unheilvollen Bollwerk gerade auf den Leib.

Schon

stürzten die Pallisaden, schon war der Graben durchwatet und die Brust­

wehr erklettert, schon ritten Einige auf den eroberten Kanonen, um die­

selben zu vernageln; wenn jetzt,'nach Befehl, die Füsiliere vom Strande her energisch eingrisfen, so krönte ein voller Sieg das tapfere Wagestück.

Aber ein Unstern waltete heute über den sonst tüchtigen Leuten.

Ein

289

Solberg und Gneisen««.

Namenloses, wovon sie sich keine Rechenschaft zu geben wußten, erfüllte sie mit Schrecken; trotz der Bitten und Drohungen ihrer Führer waren sie nicht an den Feind zu bringen, sie stutzten, wankten und wandten sich

endlich zur Flucht.

Unterdessen verstärkte sich der Gegner von Minute zu

Minute; immer größere Massen entstiegen den Laufgräben.

Hauptmann

von Zülich fiel, mit ihm vier seiner besten Offiziere, zwei Drittheile des

Bataillons deckten todt oder verwundet den Boden, nirgends zeigte sich eine Aussicht auf Unterstützung — da mußte der kleine Rest sich zum

Rückzug entschließen.

Er trat ihn an in ungebrochener Ordnung, dem

Sieger bis zum letzten Augenblick die Stirne weisend, und erschien vor seinem Feldherrn, zerfetzt und blutend,

aber

mit

makellos bewahrter

Fahne. Die Kämpfe um den Wolfsberg waren zu Ende. Seinen Bericht an Scharnhorst, der schon damals die Wiedergeburt

des Heeres in sinnendem Geiste plante, schloß ein sachkundiger Augenzeuge voll schöner Begeisterung: „Gneisenau ist der erste Kommandant in ganz

Europa!"

Ein beifälliges Lächeln glättete die faltenreichen Züge des

großen Denkers, und in dem Merkbuch, wo die Männer verzeichnet waren, die ihm einst bet seinem gewaltigen Werke helfen sollten, stand seit dieser

Stunde der Name Gneisenau obenan. — Während so um Colberg gerungen wurde, war im Osten der ent­

scheidende Schlag bereits gefallen.

Am 14. Juni hatte Benningsen, ohne

genügende Kenntniß der feindlichen Streitkräfte, bei Friedland einen un­ bedachten Vorstoß gewagt und eine vollständige Niederlage erlitten.

Muth-

loS überließ er das preußische Corps unter Lestocq seinem Schicksal und wich vor Napoleons Drängen über den Niemen aus.

Königsberg mit

seinen reichen Magazinen fiel in französische Gewalt, und der Welteroberer pflanzte seine Adler in der äußersten Grenzstadt Preußens auf.

Kaiser

Alexander aber trug schon am 21. Juni, mit schmählicher Nichtachtung

der bartensteiner Convention, auf einen vierwöchentlichen Waffenstillstand an.

Napoleon schlug freudig in die dargebotene Hand, und wenige Tage

später mußte der unglückliche, von seinem nächsten Freunde verrathene Friedrich Wilhelm dieser sauberen Abmachung seine Billigung ertheilen,

um nur zu bald die noch härtere Schmach von Tilsit zu erleben.

ColbergS war in dem unheilvollen Vertrage ausdrücklich Erwähnung gethan, aber der treulose Loison, der nach Mortier'S Abgang zur Haupt­

armee daS Oberkommando übernommen hatte, hütete sich wohl, die von

der Außenwelt jetzt gänzlich abgeschnittene Stadt. über die jüngste Wen­ dung der Dinge aufzuklären. Die Lorbeeren Lefebvre'S, des neuen Herzogs

von Danzig, ließen ihn nicht schlafen, um jeden Preis wollte er dem er« Preußisch« Jahrbücher. JBb. XLVI. Heft S.

21

Colberg und Gneisxnan.

290

zürnten Kaiser die trotzige Festung, und wäre eS in Gestalt eines Trüm­

merhaufens, zu Füßen legen. Damals schrieb Gneisenau seinem Freunde, dem Major von Chazot: „Leben Sie wohl; glücklich darf man nicht sagen in dieser unseligen Zeit.

Wer seine Gesundheit und Rechtschaffenheit daraus rettet, nur der ist einigermaßen zu preisen.

Am meisten der, der glorreich stirbt."

Mit düstrer Entschlossenheit blickte er der nächsten Zukunft entgegen.

Seit Wochen war er nicht aus den Kleidern gekommen, ebensowenig hatte er ein Bett gesehen.

Auf einer rohgezimmerten Holzpritsche, die in einem

armseligen Gemach über dem lauenburger Thor, einer ehemaligen Gefäng-

mßzelle, aufgeschlagen stand, gönnte er den erschöpften Gliedern eine kurze Erholung, jeden Augenblick bereit, Hilfesuchende mit Rath und That zu unterstützen.

Ihm war es nicht entgangen, wie der Feind erst in weiten,

dann immer enger werdenden Windungen der gierig begehrten Beute sich genähert hatte und nun voll unheimlicher Ruhe die günstige Gelegenheit

zum letzten tödtlichen Sprunge gefaßt.

erwartete.

Er war auf das Aeußerste

Aber selbst seine Nächsten ahnten nichts von dem, was in des

Feldherrn Busen stürmte; ihnen schien der quellende Reichthum seines

Innern unversiegbar, die Schwungkraft seiner Seele wie aus Stahl ge­ schmiedet.

Am 28. Juni hatte Loison die dritte Parallele eröffnet, zwei Tage später sein Geschütz in die aufgerichteten Batterien geführt, und am Mor­ gen des 1. Juli brach über die Stadt ein Bombardement ohne Gleichen

herein, das in ganzer Furchtbarkeit dreißig volle Stunden anhielt.

Der

Schrecken, so hoffte der General, das Entsetzen sollte sein mächtigster

Bundesgenosse werden, alle Bande der Ordnung innerhalb der Festung sprengen und Gneisenau'S starren Sinn verwirren und erschüttern.

Wie

erbarmungslos aber auch die Feuergüsse niederströmten, wie grauenhaft die Verheerung auch von Stunde zu Stunde wuchs, in ihren letzten Wir­ kungen hatte der Franzose sich dennoch getäuscht.

Die eiserne Disziplin der Truppen

wankte keinen Augenblick, die

Bürger wichen nicht von ihren Posten: Nettelbeck und dem alten pommerschen Herrgott vertrauend, ließen sie brennen, was eben brannte, und,

den Blick geradeaus gerichtet, blind und taub gegen das flammende, heulende Elend im Rücken, erwarteten sie, das Gewehr bei Fuß, den drohenden Sturm.

Endlich brauste er heran.

Von allen Seiten hetzte

Loison seine Bataillone gegen die Wälle, und in knirschender Wuth ar­

beiteten Bajonett, Kolbe und Musketenkugel.

Hoch oben auf der Bastion

Preußen, umschwirrt von sprühenden Geschossen, mit olympischer Ruhe

kurze Befehle ertheilend, wachte indeß der Kommandant, der arme, bar-

Colberg und Gneisen«».

291

füßige Gänsejunge von Schilda, jetzt der Hirt einer edleren Heerde,

einer Heerde, die entschlossen war, mit ihrem Führer zu siegen oder zu

sterben. „Preußen ist verschwunden!" hatte der übermüthige Imperator ge­

rufen — hier war es noch, in jungfräulicher Schöne, in seiner ganzen herben Herrlichkeit!

Und als die Sonne sank, und die Nacht über das weite Leichenfeld den mitleidigen Schleier breitete, hatten vierundzwanzigtausend Feinde nicht einen Stein der Festung gewonnen; nur die Maikuhle war durch die

Fassungslosigkeit eines Schill'scheu Offiziers verloren gegangen. Nettelbeck, der sich wieder als der alte bewährt hatte, giebt uns ein anschauliches Bild des Bombardements.

„Alles, was von Anbeginn der Belagerung bis jetzt vom Feinde

unternommen worden, mogte nur als ein leichtes Vorspiel von demjenigen gelten, wozu die dritte Morgenstunde des 1. Julius die Losung gab; denn

mit derselben eröffnete er auS all seinen zahlreichen Batterieen ein Feuer

gegen die Stadt, so ununterbrochen, so von allen Setten kreuzend, und so mörderisch und zerstörend, wie wir es noch niemals erlebt hatten.

Die

Erde dröhnte davon unter unseren Füßen, und man kann ohne Ueber­ treibung sagen, daß eS rings um uns war, als ob die Welt vergehen

sollte.

Sichtlich legten unsere Gegner eS darauf an, uns durch ihr Bom­

bardement zwischen dem engen Raum unserer Wälle dergestalt zu äng­

stigen, daß wir, nirgends mehr unseres Bleibens wissend, die weiße Fahne zur Ergebung aufstecken müßten.

Ich befand mich in dieser entsetzlichen

Nacht neben unserm Kommandanten auf der Bastion Preußen, als dem

höchsten Punkt, den unsere Wälle zum Umherschauen darboten.

Von hier

auS konnten wir beinahe alle feindlichen Schanzen übersehen, und ebenso

lag die Stadt vor uns.

ES ist nicht auszusprechen, wie höllenmäßig das

Aufblitzen und Donnern des Geschützes Schlag auf Schlag und Zuck auf

Zuck um uns her wüthete, während auch das Feuer unserer Festung in

seiner Antwort nicht- schuldig blieb.

In der Lust schwärmte es lichterloh

von Granaten und Bomben; wir sahen fie hie und da überall ihren lichten Bogen nach der Stadt hineinwälzen, hörten das Krachen ihres

Zerspringens, sowie das Einstürzen der Giebel und Häuser, vernahmen

den wüsten Lärm, der drinnen wogte und raste, und waren Zeuge, wie bald hier bald dort, wo eS gezündet hatte, eine Feuerflamme emporloderte. Von dem Allen war die Nacht so hell, als ob tausend Fackeln brennten,

und das gräßliche Schauspiel schien nicht ein Menschenwerk zu sein, son­ dern als ob alle Elemente gegen einander in Aufruhr gerathen wären, um sich zu zerstören.

WaS aber drinnen in der Stadt unter dem armen

21*

Colberg und Gneisen«».

292

wehrlosen Haufen vorging, ist vollends so jammervoll, daß meine Feder

nicht vermag eS zu beschreiben.

Da gab es bald nirgends ein Plätzchen

mehr, wo die zagende Menge vor dem drohenden Verderben sich hätte bergen mögen.

Ueberall die Gassen wimmelnd von rathloS umherirren­

den Flüchtlingen, die ihr Eigenthum preisgegeben hatten, und die unter dem Gezisch der feindlichen umherkreisenden Feuerbälle sich verfolgt sahen

von Tod und Verstümmlung.

Geschrei von Wehklagenden, Geschrei von

Säuglingen und Kindern, Geschrei von Verirrten, die ihre Angehörigen

in dem Gedränge und der allgemeinen Verwirrung verloren hatten, Ge­

schrei von Menschen, die mit Löschung der Flammen beschäftigt waren,

Lärm der Trommeln, Geklirr der Waffen, Rasseln der Fuhrwerke — nein, eS ist nicht möglich, das furchtbare Bild in seiner ganzen Lebendig­ keit auch nur von ferne zu schildern."--------------Die Nacht hatte den Kämpfen um die Wälle, aber nicht dem Bom­

bardement ein Ziel gesetzt.

Nettelbeck schildert die Verwüstungen in seinem

eigenen Hause, wie eine einschlagende Bombe sein ganzes Branntwein­

lager vernichtet habe, und fährt dann fort: „Solchergestalt von Schrecken umgeben, und auf noch Schrecklicheres gefaßt, sahen wir der nächsten Nacht entgegen.

DaS feindliche Geschütz

vereinigte sich zu neuen, noch höheren Anstrengungen; und die zerstörenden

Wirkungen desselben, im anhaltenden Geprassel einstürzender Häuser,

fallender Ziegel und klirrender Fensterscheiben, betäubten das Ohr derge­ stalt, daß auch der Donner des FeuerS nicht selten dabei überhört wurde.

Alle jammervollen Scenen der vorigen Nacht erneuerten sich in noch weiterem Umfange. Aber auch mitten in der ringsum drohenden Gefahr erzeugte sich allmälig eine Gleichgültigkeit bei Vielen, die nichts mehr zu

Herzen nahm. schöpft;

War auch nicht der Muth, so war doch die Natur er­

Anstrengung,

Schlaflosigkeit, immerwährende Anspannung des

Gemüths und Sorge für Weib und Kind und Eigenthum steten auf die Meisten mit solch einem Gewichte, daß sie selbst in den Trümmern ihrer Wohnungen sich ein noch irgend erhaltenes Plätzchen ersahen, um den bis

in den Tod ermatteten Gliedern einige Ruhe zu gönnen."---------------

Eine Bombe trifft gegen Mitternacht das Rathhaus und zündet. Nettelbeck

eilt hinzu, aber er findet in der allgemeinen Noth Niemanden, der helfend und rettend beispringen will.

Es bleibt ihm nichts übrig, als den Bei­

stand deS Militärs anzurufen, und so eilt er nach dem nächsten, auf dem

Wall gelegenen Wachthause.

„Wild stürme ich — so erzählt er weiter —

in daS halbdunkle Wachtzimmer hinein.

Ich sehe auf der hölzernen Pritsche

sich eine Gestalt regen» die ich zwar nicht erkenne, aber sie für den Mann

haltend, den ich suche, von ihrem Lager aufschrte, indem ich rufe: „„Bester

Lolberg und Gneisenau.

Mann, zu Hülfe!

293

Das RathhauS steht in Flammen!""

Aber weniger

meinen Schrei als mich selbst und mein Jammerbild beachtend, erhebt sich der Offizier mir gegenüber,

schlägt die Hände zusammen und spricht:

„„Ach, Du armer Nettelbeck!""

jutanten nebst einem

Jetzt erst an der Stimme erkenne ich

Er hört, er erfährt, er giebt mir einen Ad­

ihn — eö ist Gneisenau!

Tambour mit; die Lärmtrommel wird gerührt,

Soldaten erscheinen, Patrouillen durchziehen die Straßen, kräftigere Lösch­

anstalten kommen in Bewegung, die zwar den Brand nicht mehr zu unter­ drücken vermögen, aber ihm doch ein Ziel setzen, während die bereits er­

griffenen Theile noch den ganzen folgenden Tag brannten."--------------General Seifen bebte vor Zorn.

Er hatte Gneisenau eine Auffor­

derung zur Uebergabe unter den ehrenvollsten Bedingungen zukommen lassen und war abgewiesen worden.

Dabei drängte die Zeit zur Eile:

lange ließ sich das trügerische Gaukelspiel,

die tückische Verheimlichung

des Waffenstillstandes, nicht mehr aufrecht erhalten — also mußte mit ausgehender Sonne das Morden von Neuem beginnen.

In der Stadt

hatte man darauf verzichtet, den immer weiter um sich greifenden Feuers­

brünsten Einhalt zu thun; jetzt kam eS nur noch darauf an,

wundeten und Kranken in möglichste Sicherheit zu bringen. kirche war zum Lazareth

hergerichtet worden.

und

die Ver­

Die Marien­

Zwanzig Bomben zer­

unter

schmetterten

ihr

verbreitend.

Da trugen treue Bürgerhände, allen Gefahren zum Trotz,

Gewölbe,

Tod

Verderben

den Insassen

achthundert Hilflose, nach den kugelfesten Kasematten. Bis zum Nachmittag raste draußen die Schlacht mit gesteigertem

Grimm.

Endlich, gegen drei Uhr, ballte Loison seine Sturmhausen zu

einem entscheidenden Stoße zusammen und brach vom WolfSberg noch

einmal mit dem ganzen Ungestüm verzweifelnder Wuth gegen Gneisenau'S dünn und dünner gewordenen Linien vor.

Aber wiederum zerschellte die

wsende Fluth an der unerschütterten Ruhe der Grenadiere und rollte machtlos zurück zu ihrem Ausgangspunkt.

Die Sehnen der beiden Rin­

ger, des Angreifers wie des Vertheidigers, waren zum Springen über­ spannt, nur die größere Kraft der Seele konnte hier den Ausschlag geben. In dem französischen Feldherrn regte sich endlich das Gewissen.

Biele Tausende hatte er mit Hintansetzung seiner Soldatenehre dem

Götzenbild der Eitelkeit geopfert und keinen Fußbreit Bodens gewonnen; nun gab er das schlechte Spiel verloren.

Eine Wiederholung

des abgeschlagenen Sturmes

erwartend, war

Gneisenau noch mit neuen Vertheidigungsmaßregeln beschäftigt, als das

Geschützfeuer

auf feindlicher Seite plötzlich schwieg und wie auf einen

Wink von allen Schanzen weiße Fahnen wehten.

Zu gleicher Zeit ge-

Solberg und Gneise»«».

294

wahrte man einen preußischen Offizier, der, eine Parlamentärflagge über dem Haupte schwingend, durch die Ebene daherjagte.

Colberg war gerettet! Lieutenant von Holleben, der Träger der frohen Botschaft, wäre schon

längst an Ort und Stelle gewesen, hätten die Franzosen seiner Reise nicht

allerlei Hindernisse in den Weg geworfen und ihn namentlich noch eben jetzt zwei Stunden im Hauptquartier zu Tramm fast gewaltsam zurück­

gehalten.

Gneisenau kämpfte seine Erschütterung bei diesem jähen Wechsel des Geschicks gewaltsam nieder und sagte zu HolleKen, der bestürzt die grauen­

haften Verwüstungen ringsumher überschaute, mit stolzer Gelassenheit: „Meine Kanonen würden noch lange nicht geschwiegen haben"; als er

aber dann die Kabinetsordre erbrach, worin ihn Friedrich Wilhelm zum

Oberstlieutenant ernannte und dem Kommandanten

wie der Besatzung

seinen königlichen Dank in tiefempfundenen Worten verkündete, da schüttelte

es den wetterfesten Leib, die krampfhafte Spannung des Innern löste sich,

das Herz wurde ihm weit und weich, und der gewaltige Mann weinte wie ein Kind.

Seit dem 2. Juli 1807 gehört der Name Gneisenau der Weltge­ schichte an.

Der corsische Dämon sollte bald genug erfahren, daß ihm

mit diesem Tage der größte und erbarmungsloseste seiner Gegner er­

standen war. Unverweilt ging es an die Wiederherstellung der alten Ordnung. Nun mußten die friedlichen Gewerke sich tummeln.

Schutt und Trümmer­

haufen verschwanden, die verwüsteten Gärten wurden gesäubert und neu­

bepflanzt, leichte Nothhäuser stiegen aus dem Boden, wo Obdachlose eine schützende Unterkunft fanden, und nach wenig Wochen deuteten nur noch ver­

einzelte Spuren auf die Schrecken deö Festungskrieges.

Hatte die Hand

des Feldherrn zum allgemeinen Besten schwer auf der kleinen Stadt ge­ legen, jetzt mühte sie sich voll zärtlicher Sorge, die geschlagenen Wunden

zu heilen und die hart Darniedergeworfenen wieder aufzurichten.

Gegen

zweimalhunderttausend Thaler sollte Colberg zu der ungeheuern Kriegscontribution beitragen, mit welcher Napoleon den preußischen Staat zu

erdrosseln gedachte; aber großmüthig erließ der König die kaum erschwing­ bare Forderung.

Außerdem lohnten mannigfache Ehren und Auszeich­

nungen NettelbeckS wie der treuen Bürgerschaft Verdienste, und die ver­ einigten Jnfanteriebataillone der Besatzung

wurden zum Leibregiment

„Colberg" erhoben — Alles nach Gneisenau's Vorschlag und Wunsch.

Doch eine solche schöpferische Kraft durfte während des Friedens in

dem dürren $ntte eines Festungskommandanten nicht verkümmern, König

Solberg und Gneisenau.

295

und Vaterland heischten ihre Mitwirkung bei einem größeren Werke.

In

Memel trat unter Scharnhorsts Leitung die sogenannte Militär-Reorgani-

sationS-Commission zusammen, in ihr fand Gneisenau den gebührenden Platz. -

In der zweiten Hälfte des August brachte die Hamburger Zeitung folgende, offenbar aus Nettelbecks Feder stammende Bekanntmachung:

„Am 9. d. M. entrückten höhere Befehle unsern würdigen Herrn Kommandanten aus unserer Mitte, und mit dem Verluste dieses

mit

seltenen Tugenden geschmückten Mannes schwanden unsere stolzen Träume

dahin.

Gerne wären wir im Besitz des unverzagten Beschützers unserer

Wälle immer geblieben, und gerne hätten wir nach den vollbrachten verhängnißvollen Tagen die seligen Früchte des Friedens nur mit Ihm ge­

theilt; aber nicht bestimmt, diese in unsern Mauern zu genießen, hatte Ihm unser Monarch — ganz von dem Werthe dieses großen Mannes überzeugt — einen andern Kreis vorgezeichnet, in welchem sein rastloser

und thätiger Geist sich ein neues Denkmal stiften sollte. „Doch ist dieser unserem Herzen so theuer gewordene Held gleich

nicht mehr unter uns, hat

er uns gleich verlassen,

um vielleicht nie

wiederzusehen den Ort, dessen beneidenswerthes Schicksal seinen einsichts­

vollen Befehlen, in den mißlichsten Augenblicken, untergeordnet war, so

wird das Andenken an ihn — der bei den Tugenden des Kriegers nie die Pflichten der Menschheit vergaß — der von der ersten Minute seines

Erscheinens an, Vater eines jeden Einzelnen wurde, und es auch noch im Momente des Scheidens blieb — nie in unserer von Dank gegen ihn

erfüllten Seele erlöschen.

Wir haben Ihm ja Alles — die Erhaltung

unserer Ehre und Habe — die Zufriedenheit unseres Landesherrn, und die Achtung unserer ehemaligen Gegner zu verdanken. „Möge unserer spätesten Nachkommenschaft nur es erst Vorbehalten

sein, die Asche unseres Vertheidigers zu segnen! „Den Tag vor seiner Abreise wurden wir davon durch folgendes Schreiben benachrichtiget:

„„Meine Herren Repräsentanten der patriotischen Bürger von Colberg! Da ich auf unseres Monarchen Befehl mich eine Zeitlang von dem mir so lieb gewordenen Colberg trenne, so trage ich Ihnen, meine Herren

Repräsentanten,

auf,

den hiesigen Bürgern mein Lebewohl zu sagen.

Sagen Sie selbigen, daß ich Ihnen sehr dankbar bin für das Vertrauen,

das sie mir von meinem ersten Eintritt in die hiesige Festung an, geschenket haben.

Ich mußte manche harte Verfügung machen — manchen

hart anlassen; dies gehörte zu den traurigen Pflichten meines Postens.

Dennoch wurde dies Vertrauen nicht geschwächt.

Viele dieser wackern

Solberg und Gaeisenau.

296

Bürger haben unS freiwillig ihre Ersparnisse dargebracht, und ohne diese Hülfe wären wir in bedeutender Noth gewesen.

Viele haben sich durch

Unterstützung unserer Verwundeten und Kranken hochverdient gemacht.

Diese schönen Erinnerungen von Colberger Muth, Patriotismus, Wohl­ thätigkeit und Aufopferung werden mich ewig begleiten.

gerührtem Herzen von hier.

Ich scheide mit

Meine Wünsche und Bemühungen werden

immer rege für eine Stadt sein, wo Tugenden wohnen, die anderwärts seltener geworden sind.

Vererben Sie selbige auf Ihre Nachkommenschaft.

Dieses ist das schönste Vermächtniß, das Sie ihnen geben können.

Leben

Sie wohl und erinnern Sie sich mit Wohlwollen Ihres treuergebenen

Kommandanten Neidhardt von Gneisen»»."" —

— „Wir haben diesen Auftrag mit frohem Herzen erfüllet, und

zur Steuer der Wahrheit ruft die Bürgerschaft Ihnen, Herr Kommandant, öffentlich nach:

„Wir haben nie einen Zwang empfunden — uns haben keine

harte Verfügungen gedrückt, und dasjenige, was wir thaten, ge­ schah aus reiner Vaterlandsliebe.

Das höchste Wesen nehme Sie

dafür in seine besondere Obhut, lasse Sie nach Ihrem thatenvollen Leben auch bald die Früchte des Friedens im Schooße der

theuren Ihrigen genießen, und wenn uns neue Stürme und Gefahren drohen, so kehren Sie in unsere nicht überwundene Mauern unter denen Auspicien zurück, in uns noch das Völkchen

anzutreffen, von dem Sie so liebevoll schieden." — Unter strömenden Thränen und dennoch tief beglückt, las Königin Louise diese guten Worte.

Spürte die ahnungsvolle Dulderin in des

Feldherrn Rede das Wehen des Genius, der die Schwingen zu mächtigem

Siegesfluge rührte?

Hörte sie hinter NettelbeckS treuherzigem Dank das

Rauschen eines heiligen Völkerzorns? Sah sie aus der BlutSbrüderschaft,

geschlossen zwischen Soldat und Bürger, die erlösende Schöpfung der Zu­ kunft steigen, das Ideal eines Heeres, das Volk in Waffen? — Wir wissen es nicht; das aber wissen wir, daß es Gneisenau und seinen Freun­

den an Tadlern und Feinden nicht fehlte, welche den Bruch mit den alt­ geheiligten Traditionen verdammten und die Neubildung der Armee einen

Verrath an Preußens Geschichte schalten. Es waren keine schlechten Männer, die also dachten und sprachen:

dafür bürgt schon der Name Jork! Es bedurfte langer, erbitterter Kämpfe,

eines Uebermaßes an Geduld, und die Zeit mußte erst als Lehrmeisterin eintreten, die Zweifelnden zu überzeugen.

Aber Allen, auch dem Unver­

söhnlichsten kam die Stunde der Erkenntniß.

297

Solberg und Gneisen«».

DaS Gefecht von Wartenburg war geschlagen.

Aork hatte, wie im­

mer, gegen Gneisenau's Anordnungen Einspruch erhoben, er hatte gewet­ tert und geflucht über „die hirnverbrannten Köpfe deS" Hauptquartiers", über

„das unüberlegte Stückchen, das schlecht ausfallen werde"; dann

aber war er an die Arbeit gegangen, einzig, unvergleichlich, wie nur er

es vermochte.

Am Abend, als die Truppen nach ihren Lagerplätzen rückten, ließ er sein tapferes Corps an sich vorbeimarfchiren.

Für Alle, für Fußvolk wie

Reiterei, für Linie wie Landwehr, hatte er ein Wort des Lobes, der Er­ munterung.

Da plötzlich klingen die Pfeifen heller, die Trommeln schla­

gen eine raschere Gangart, und geführt von seinem Brigadier, dem küh­ nen General von Horn, naht das zweite Bataillon des pommerschen LetbregimentS, dem heute der blutigste Theil deS TageS zugefallen war.

Aller Blicke in AorkS Stabe leuchten hoch auf, in des Generals Antlitz

zuckt keine Muskel; aber die Rechte greift unwillkürlich nach der Feld­ mütze, und, entblößten Hauptes, das greise Haar dem Spiele des Oc-

wberwindeS pretSgebend, hält er auf seinem Roß, bis der letzte Mann des Bataillons vorüber ist.

Ein Wunder war geschehen:

der eiserne Jsegrimm, der glänzendste,

aber auch starrste Vertreter alter Kriegsherrlichkeit, er hatte sich geneigt

in

stummer Ehrfurcht vor dem jüngeren Geschlecht, vor Gneisenau's

Schülern, den Helden von Colberg.

Karl Koberstetn.

Reiseeindrücke aus Samogitien.

Alte Liebe rostet nicht — sagt man im bürgerlichen Leben. gilt gelegentlich auch von der Liebe der Staaten zu einander.

Das

Wie lange

hat die Freundschaft zwischen dem jungen Russenreich moderner Aera und

dem jungen preußischen Deutschland gedauert, zwischen diesen beiden Em­ porkömmlingen des neueren Europa, die ungefähr um dieselbe Zeit, zu

Anfang des vorigen Jahrhunderts sich den Grundstein legten zum Großmachtöbau und seitdem stetig unter Püffen und Placken vorwärts geschritten

sind.

Freilich im Innern durchaus verschiedener Methode folgend bei der

Entwickelung zum Großstaat.

Alte Liebe!

Aber im Grunde doch recht

wenig Herzensneigung dabei, ein Bund deS Verstandes, des nothgedrun­

genen Interesses von jeher, soweit die Völker, die Staaten gemeint sind; eine politische Ehe, wie sie unter regierenden Herren geschlossen zu werden pflegt, kühl und berechnet, auf eine besondere conventionell-politische Liebe gegründet, die nur unterstützt wurde durch die minder politischen Ehen,

welche zwischen den beiderseitigen regierenden Häusern geschlossen wurden.

Wie sollte man auch an ein innigeres Verhältniß denken können, wo selbst die nothdürftigste gegenseitige Bekanntschaft, das nothdürftigste Verständ­

niß der Völker untereinander so sehr fehlt als

hier.

Ist doch trotz der

hundertjährigen Freundschaft der Staaten für den Preußen eine Reise nach Rußland nicht minder eine Entdeckungsfahrt, als etwa eine solche in das

Gebiet der Seen Nordamerika's,

giebt es doch in ganz Europa keinen

Fetzen Landes, auf welchem sich der Deutsche und jeder Westeuropäer so

wenig zu Hause fühlt, als in den unbegrenzten Ebenen, die er betritt, so­ bald er bei Ehdtkuhnen oder Mlawa oder Granitza das alte Europa ver­ läßt! Denn drüben ist Neu-Europa oder ein anderer Welttheil, eine Welt für sich. —

Wenn man von der französischen Grenze her über Köln quer durch

Deutschland dampft, so ist eS, als ob die Kultur meßbar wäre an der Geschwindigkeit, mit der die Lokomotive dahinrollt.

Etwa 55 Kilometer

durcheilt man von Köln her in der Stunde, dann von Berlin ab nur

Reiseeindrücke ans Samogitien.

299

noch fünfundvierzig, dann von der russichen Station Wirballen etwa zwei­

unddreißig, und sobald man den Petersburger Eilzug irgend wo verläßt, hört alle Berechnung für die Geschwindigkeit des Fortkommens auf, die

Ziffer sinkt auf 25, auf 20 Kilometer und darunter, ungerechnet die vielen Möglichkeiten, daß man irgend einen Anschluß versäumt und halbe Tage lang sitzen bleibt.

Ich habe das leider gleich bei Beginn meiner Reise

erfahren müssen.

Man wird übrigens von dieser dilatorischen Behand­

lungsweise nicht unversehens überrascht, sondern — ich muß den Russen

die Gerechtigkeit widerfahren lassen — jeder Reisende wird gleich beim

ersten Schritt in das Reich auf sie gehörig vorbereitet.

Steigt man in

Eydtkuhnen aus dem Wagen, so blickt Einem die bequeme Gemächlichkeit sofort aus Allem entgegen.

Mehrstündiger Aufenthalt, eine Menge von

Gepäckträgern, die zu einem für dieses Geschäft monopolisirten Verein, Artell genannt, gehören, lungert umher, besorgt aber zuletzt in guter Ord­

nung, was zu besorgen ist, nämlich die Ausstellung der Koffer und Kisten zur Zolluntersuchung.

Ein halbes Stündchen, auch mehr wartet man vor

seinen Habseligkeiten, dann beginnt das in der Mitte des großen Rau­

mes um einen quadratischen mächtigen Tisch versammelte Tribunal der Zöllner und Genödarmen sich zu bewegen: die Pässe sind visirt, die Be­

amten suchen, die Namen ausrufend, die Paßinhaber.

Endlich höre ich

meinen Namen, dränge mich in die Nähe des ausrufenden Beamten und mache durch Rufen und Winken über den parallel den vier Wänden lau­ fenden Gepäcktisch mich bemerkbar.

Ich erhalte meinen Paß zurück, die

Zollbesichtigung der Sachen geschieht in schonendster Weise, sofern man

in mir keinen Händler mit den mitgeführten Dingen wittert, und ich darf nun meine Füße ungehindert durchs ganze russische Reich setzen.

Ich be­

eile mich beim Wechsler für je zwanzig Mark etwa zehn Papierrubel ein­ zutauschen, löse Billet und Gepäckschein und setze mich dann erschöpft von Warten und Spannung in dem Wartesaal nieder. Welch andere Welt!

Gleich zuerst das Fahrbillet.

Ueberall in

Europa dieselben Schriftzeichen, nur in Deutschland noch in einer vor

Jahrhunderten einmal corrumpirten und dann fälschlich gothisch genannten und vielfach für national deutsch gehaltenen Form: hier unbekannte Lettern,

dem klassisch Gebildeten die Erinnerung an die griechischen Zeichen weckend, aber gänzlich unlesbar für den Nichtrussen.

Auf dem Billet steht die

Monatsangabe fünf, also Mai, und doch verließ ich Berlin bereits im

Juni.

Ich blicke nach der Wanduhr und finde, daß ich etwa anderthalb

Stunden an diesem denkwürdigen Tage eingebüßt habe, da hier Peters­ burger Zeit gilt, meine Taschenuhr aber Berliner Zeit angiebt. In Ber­ lin wog mein Koffer 76 Pfund, hier ist er um etliche Pfund schwerer

300

Reiseeindrücke aus Samogitien.

geworden, oder, wie ich erfuhr, das russische Pfund leichter gegen das deutsche.

Keiner meiner mitgebrachten Maßbegriffe will mir hier mehr

aushelfen, wo man nur von Pud, Ssashen, Gärnitz, Wedro, Arschin was

wissen will.

Ich blicke hinaus in die Landschaft: wer hat jemals so et­

was gesehen bei uns im Westen, wie diese sonderbare Kirche da in dem

kleinen Orte Ehdtkuhnen, mit bunten, morgenländischen Kuppeln, ich glaube

fünfen!

Selbst das christliche Kreuz darauf ist anders, mit doppeltem

Querbalken.

Mein gepäcktragender „Artellstschik", klein, pockennarbig und

von dunkler Hautfarbe, mit flacher Nase und kleinen Messingringen in den Ohren oder nur in einem Ohr,, gekleidet wie ich eS in ganz Europa

nirgends sah: Kaftan, Gürtel, Hosen in den Stiefeln.

Das Publikum

offenbar so verschiedenartig zusammengesetzt als möglich: in europäischer Kleidung einhergehende feine Leute, die französisch, russisch, auch englisch reden, viel FescheS in Haltung und Anzug zeigen, mit großer Sicherheit

den Petersburger herauskehren; allerlei Handlungsreisende und

andere

Fremdländer, die neugierig um sich blicken, dann Beamte und Offiziere,

ferner die Juden in den langen, schwarzen, glänzenden Röcken und sonsti­ gem altmosaischen Zuschnitt, sogar mit den bekannten „Peissaken", trotz

des staatlichen Verbotes dieses HaarschmuckeS; Russen niederen Standes im Bauernrock, sehr unterschieden von den Bauern der Umgegend, diesen mageren Litthauern mit langen, weißgrauen Röcken.

Mir fällt die Menge

von Beamten und Offizieren auf, der ich überall begegne, bis ich bemerke, daß es beim Russen Sitte ist, in Civil oder Heer zu dienen und dann,

nach der Verabschiedung die Uniform, wenigstens die Militärmütze zeit­

lebens weiter zu tragen.

Daher wohl die vielen verlumpten Gestalten

mit abgeschabter Majorskleidung und noch vergangenerer Mütze, obwohl

der russische Offizier und Beamte selbst schon auffällt durch die oft starke Vernachlässigung des Aeußern.

Rohe, verlebte, fahle Gesichter mit schlecht

gepflegten Haarbüscheln zu jeder Seite der Wange und deS Halses, stets

die Cigarette im Munde, oft eine blaue Brille vor den Augen, alte ab­

getragene Kleidung mit ursprünglich stutzerhaftem Schnitt — so sieht man

sie häufig vom Collegienregistrator bis zum Staatsrath und vom Fähn­

rich bis zum General.

Alles um mich her trinkt Thee, Taffe auf Taffe oder vielmehr Glas auf Glas stürzt mein Petersburger Nachbar herunter, so daß ich mich end­

lich auch dem allgemeinen Geschmack füge und den Kellner um ein GlaS

bitte.

Er versteht meine deutsche Anrede und ich finde, daß man auf

den Bahnstationen in Rußland allgemein besseren Thee trinkt als in den

Gasthöfen ersten Ranges in Deutschland — die erste angenehme Bemer­ kung diesseits der Grenze, die ich machte.

Mit Theetrinken vergingen

301

Reiseeindrücke auS Samogitien.

dann die noch übrigen dreiviertel Stunden, und nun setzte ich mich in die Ecke eines Wagens erster Klasse, froh, daß es endlich weiter ging.

Ich wußte, daß eS nicht gerathen ist, in Rußland zweiter Klasse zu fahren, wegen der Unreinlichkeit sowohl des dort fahrenden Publikums, als auch der Bahnbeamten, welche nicht darauf halten, daß die Wagen sorgfältig gesäubert werden.

Ich mußte schon als „anständiges Publikum" in die

Etwa eine Viertelstunde nach der festgesetzten Zeit setzte sich

erste Klasse.

der Zug in Bewegung.

Kaum aber rührt sich die Wagenreihe, so erhob

sich draußen im zuschauenden Publikum allgemeines Geschrei.

Wie ich

hinauSblicke, hängt ein Mensch unter dem Tritt eines Wagens und wird

fortgeschleift: er hatte in den bereits sich bewegenden Zug hineinspringen wollen, den Tritt verfehlt und war unter denselben gefallen. Gensdarmen-

offiziere und andere Beamte hatten das ruhig geschehen lassen und liefen

nun schreiend der Lokomotive nach. der Grenze, und daS

Also kaum ein Hundert Schritte von

erste Unglück war passirt, zum Glück ohne böse

Folgen für den Bedrohten.

Dann ging es Weiler.

Die Wagen sind

schön, wenn auch schlecht unterhalten, schon die größere Breite fällt ange­

nehm auf.

Wir sind ja auf dem breitspurigen Bahnsystcm, wiederum

dem einzigen seiner Art in der Welt.

Was auch die Gründe gewesen

sein mögen, welche Kaiser Nicolaus veranlaßten, seine Bahnen um einen

Fuß breiter als die übrige Welt eS thut anzulegen, ich kann nicht leug­ nen, daß ich wünschte, die übrige Welt hätte dasselbe gethan.

Der Un­

sinn Rußlands liegt nur in der Nichtübereinstimmung des Bahngeleises

mit demjenigen Europa's; der Vortheil und die Bequemlichkeit deS brei­ teren Geleises scheint mir aber klar zu liegen:

ohne große Mehrkosten

bedeutend größere Transportfähigkeit, Bequemlichkeit für den Personen­ wagen und

Sicherheit gegen Entgleisung.

Aber

die Hauptsache ist,

daß der russische Wagen an der Grenze stehen zu bleiben gezwungen ist, daß durch die Nothwendigkeit des Umladens der Wagenverkehr bedeutend vertheucrt und erschwert wird und Rußland wieder, wie in so Vielem,

sein

national

Eigenes

hat

ohne

Nutzen,

aber

um

theuren

Preis.

Man sagt, unter Nikolaus, als die ersten Bahnen gebaut werden sollten, wurde das vierfüßige Geleise beschlossen, damit die Preußen oder Oester­

reicher nicht plötzlich mit ihren Wagen nach Rußland htneinfahren könnten: strategische Gründe der Defensive sollen dahinter stecken. zusammenhängt.

Gott weiß, wie'S

Jedenfalls hat Rußland heutzutage deshalb nun bereits

dreierlei verschiedene Geleise, nämlich fünf-, vier- und dreifüßigeS, letzte­ res auf einigen Grenzbahnen in Polen, links der Weichsel. —

Je weiter man sich von der Grenze entfernt, um so mehr unbebau­ tes Land, wilde Weiden und schlechte Wälder werden bemerkbar.

Anfangs

Reiseeindrücke aus Samogitien.

302

flach geht der Boden allmählich in ein von Natur anmuthigeS Hügelland über, das bei Kowno und besonders um Wilna reizende landschaftliche

Bilder gewährt.

Mein Weg führt mich nur bis zur Station Koschedari,

dem Kreuzungspunkt mit der Libau-Romnh Bahn.

Hier das zweite Un­

glück: der Romnyer Zug hatte nicht über eine vom Regenwasser unter­ waschene Stelle des Dammes hinwegkommen können und man erklärte auf meine Frage, wann wir denn weiter fahren würden: das könne wohl ein zehn Stunden oder länger dauern.

Dabei keinerlei Ueberrafchung im

Publikum, keinerlei Aufregung im Bahnpersonal zu bemerken, als fei das so nichts Außerordentliches.

Und als nun die zehn Stunden mit Thee­

trinken und den Versuchen das schlechte Essen zu genießen verflossen waren, begann das Bummeln von Station zu Station, kaum 20 Kilometer die

Stunde, und dazu

überall unendlicher Aufenthalt auf den Stationen.

Wahrlich der treffliche Wallace hat in seinem Buche über Rußland Recht': wenn in Rußland Zeit Geld wäre, so wären die Russen ungeheuer reich, denn Zeit haben sie stets in Menge.

Ich war froh, als ich endlich die

Bahn verlassen konnte.

Alles hier zu Lande trägt den Stempel des Gehenlassens, der Träg­ heit, der Langsamkeit, mit einem Wort der Schlaffheit, Charakterlosigkeit.

Sieht man den Bauer hinter seiner kleinen, zottigen Mähre sich her­ schleppen, die den winzigsten Hakenpflug hinter sich mit halb geschlossenen Augen herzerrt, sieht man den Beamten unsauber und gähnend in seine

Akten hineinstieren, den Offizier nachlässig durch die Straßen einer klei­

nen Stadt schlendern, so fühlt man fröstelnd die Leere dieses DahinlebenS und die Leblosigkeit dieser Gesellschaft.

Ich rede von diesen ehemals pol­

nischen Landestheilen, die staatlich unter dem Mamen „nordwestliches Ge­

biet" zusammengefaßt werden.

Freilich hat man sich hier immer dessen

zu erinnern, daß eS ein Land ist, welches bis heute den Kampfplatz der staatlichen und nationalen Gewalten darbietet, welches seit 16 Jahren die

Folgen einer thörichten Revolution zu tragen hat.

Aber trotzdem ist der

Kulturzustand des Ganzen ein höherer als er vor der Revolution war,

und der alleinige Grund hiervon ist die Befreiung des Bauernstandes, welche damals decretirt wurde.

Nichtsdestoweniger diese Barbarei, diese

armseligen Verhältnisse, dieser Mangel aller staatlichen oder volklichen

Kraft, Elasticität.

Der Staat hat 1864 seine Herrschaft wieder herge­

stellt; aber eben nur die Herrschaft der Gewalt, die fesselt, nicht belebt.

Und der bis dahin führende, wenn auch sehr wenig belebende Adel ist damals gebrochen worden, ohne daß an seine Stelle etwas Anderes ge­

treten wäre, eine andere Klaffe, welche die Massen zur Entwickelung der

bürgerlichen Thatkraft führen könnte.

303

Reiseeindrücke ans Samogitien.

Aeußerlich betrachtet, vom Gesichtspunkt welch gesegnetes Land!

der Volkswirthschaft

aus,

Weder die dürren Sandflächen, wie zwischen Dir-

schau und Berlin, noch die ununterbrochenen schlechten Wälder und Moore wie zwischen PleSkau und Petersburg.

Meist ebener, fruchtbarer Boden,

von Bächen und Flüssen durchschnitten, humusreicher Lehm mit durch­

gehendem Untergründe von Thonmergel;

Diluvial- und Alluvialboden

Was die Natur hier gab,

mit geringen Inseln jurassischer Formation.

ist gut, man könnte glückliche Zustände darauf erbauen.

elendes, im Ganzen armes Land.

Und doch ein

Denn Alles, was Menschenkraft er­

fordert, ist elend bedient, die schönen Gaben der Natur werden nichts­ würdig verwaltet. Dieses litthauische Volk, wie ist ihm die Mißwirthschaft früherer

Vor Zeiten waren es die

Zeiten noch jetzt auf die Stirn geschrieben!

Polen, welche diesen Stamm knechteten und verdarben, es war eine Heerde

von Sclaven, die für den Polen arbeiten mußten; und seit der Pole vor

fünfzehn Jahren von der Herrschaft gestoßen wurde, ist das.Volk sich selbst, seinen katholischen Pfaffen und russischen Beamten überlassen.

drei schlechte Lehrmeister.

Das sind

Sich selbst überlassen in der Gemeindeverwal­

tung und bäuerlichen Justiz, ohne Führung in dem Gewerbe, dem Acker­ bau, ohne alle Schule und sonstige Bildung, direct aus der viehischen

Sklaverei der Leibeigenschaft im Jahr 1864 hinausgestoßen in die Frei­ heit und Selbständigkeit — wo wollte das Volk da in sich die Kräfte

finden zu raschem Erwachsen?

gesegnet wie sein Land.

Der Stamm ist gut, die Natur hat ihn

Man braucht nur hinüberzublicken nach dem

litthauischen Preußen, um zu sehen was für ein kerniger, tüchtiger Acker­ bauer der Litthauer unter guter Leitung wird.

Arbeiter gesucht,

der Soldat gern gesehen

treue und fleißige Leute.

im

Dort ist der litthauische Heere,

großgewachsene,

Diese Eigenschaften findet man im Keim, in

der Anlage auch hüben bei dem russischen Litthauer wieder;

Wildling Kultur,

aber

der

ist unveredelt, kärglich und wild gewuchert, ohne Kraft und und darum mit geringer Frucht.

Und doch macht

das Leben

dieses armseligen Bauern so ziemlich die Summe der Sorge der Staats­ regierung aus,

doch liegt hier der Kern der Geschichte dieser sechszehn

Jahre umschlossen und der Keim für die Zukunft des Landes.

Sonderbar genug ist eS diesem „shamaitischen" oder Bauern in dieser Zeit ergangen.

samogitischen

Als die Revolution niedergetreten

worden war, an welcher der Bauer keinen Antheil nahm, vielmehr oft

sich gegen dieselbe erhob, da sollte er eilte Waffe der Staatsregierung

gegen das Polenthum werden.

Man erklärte die Polen für fremde Ein­

dringlinge in dieses vorgeblich alt-russische Land, sagte dem Shamaiten,

Reiseeindrücke aus Samogitien.

304

er sei ein naher Blutsverwandter des Russen und der eigentliche Eigen­ thümer deS Landes.

Der Pole müsse hinausgetrieben werden.

Was das

Eigenthum am Lande betrifft, so predigte man offenen Ohren, und als nun die Landablösung kam, forderte der Bauer mit vollem Munde nur

immer Land, mehr Land und weniger Zahlungen.

Etwas Rache am

Polen spielte ja wohl auch mit, so gut als während der Revolution so

mancher Pole die drohenden Fäuste deS Bauern sah und fühlte.

Aber

Habsucht war doch die Haupttriebfeder, ein Sporn, der das größte Mit­ gefühl bei den Vertretern des Staates fand, welche über die Dinge die Gewalt hatten.

Denn es hatte sich gleich nach der Niederwerfung des

Aufstandes ein Heer, besser eine Heerde von solchen Staatsvertretern

über'S Land ergossen, der alle Arten und Formen der Habsucht durchaus

verständlich waren.

Eine Heerde von Spitzbuben war in diese Gebiete

eingebrochen, die nur zwei Ziele kannten: den Polen durch den Litthauer

umzubringen und sich dabei zu bereichern.

Man konnte daS dem Staate

nicht einmal so sehr verargen, denn dieser Staat konnte kaum anders

handeln.

Um die Erhebung zu ersticken, die Polen zu knebeln, mußte

das polnische Beamtenthum beseitigt werden. Im Jahre 1831, nach dem damaligen Aufstande der Polen, war ein kaiserlicher Befehl erlassen worden, in welchem vorgeschrieben wurde, daß

die biöhin ganz in polnischen Händen ruhende Verwaltung dieses lit«

thauischen Landes nach Möglichkeit an Beamte russischer Herkunft und russischen Glaubens übertragen werden sollte.

Namentlich sollten folgende

Posten von Russen besetzt werden: die Gouverneure, Vicegouverneure, die Glieder der Gouvernementsbehörden, die Kreisfiskale, die Postämter. Zu­

gleich sollten die in Litthauen dienenden Polen in die großrussischen Gou­

vernements versetzt werden.

Endlich

wurde in diesem geheimen Befehl

verordnet, daß kein Pole, er sei denn russischer Confession, in Litthauen anders angestellt werden solle, als wenn er vorher zehn Jahre in groß­

russischen Gubernien gedient oder im Kriegsdienst als Officier gestanden habe.

Unbedingt aber sollten von Russen eingenommen werden die land­

schaftlichen, städtischen und domanialen Aemter.

Nun erwies sich aber

bald, daß dieser Befehl auf die Dauer nicht ausführbar war.

Denn die

eifrigen russischen Patrioten begannen bald zu klagen, daß daS russische

Beamtenthum, welches jenem Befehl gemäß gewaltsam eingeführt wurde, sich nicht halten könne und von den Polen

verdrängt werde.

Joseph,

russischer Metropolit von Litthauen, klagt in einem geheimen Schreiben vom 10. Januar 1855 dem Oberprocureur des SynodS Grafen Protassow die Noth der Ruffen in seiner Eparchie:

trotz deS kaiserlichen Befehle-

werden die Russen überall von den Polen verdrängt, das russisch-orthodoxe

Reiseeiilbrücke aus Samogitien.

305

Landvolk gerathe immer mehr in die Gewalt der „Andersgläubigen", die Aemter seien zu neun Zehnteln in den Händen der Katholiken, von 141

obersten Justizämtern seien blos zehn durch Russen besetzt u. s. f.

„lateinisch-polnische Partei" sei stets im Wachsen.

Die

Es scheint, daß be­

sonders die russische Geistlichkeit den Kampf gegen diese Partei begann; denn auch Philaret, Metropolit von Moskau, erhob seine Stimme.

Aber

offenbar vergeblich, denn die Erhebung von 1863 fand die Sachen in dem

von dem Metropoliten Joseph geschilderten Zustande: das Beamtenthum

des sogenannten „westlichen Gebiets" war ebenso polnisch, als im König­ reich Polen selbst.

Die Erhebung von 1863 gab den Anstoß zu neuen Anstrengungen

im Sinne der Befestigung der russischen Verwaltung.

Und man griff

zu demselben Mittel als vorher, man führte den Befehl von 1831 aus, nur rücksichtsloser,

entschiedener, gewaltsamer als

früher.

Die Polen

wurden in Massen von den Aemtern vertrieben, Russen traten ein. man konnte sofort die Beobachtung machen,

Aber

daß auch die rücksichtslose

Gewalt nicht im Stande war, das Gewollte zu vollbringen.

Die gesetz­

lichen und praktischen Verhältnisse des Landes waren so verschieden von den russischen, daß auch ein tüchtiger russischer Beamter außer Stande

war, ohne Weiteres seine Obliegenheiten zu leisten.

Die gebildeteren

höheren Würdenträger konnten dort, wo sie unmittelbar den entstehenden Wirrwarr sehen mußten, nicht umhin, nach Abhülfe zu suchen, und die einzige Hülfe fanden sie in den gesetzes- und landeskundigen Polen.

Sie

konnten es nicht ertragen, notorische Spitzbuben in ihren Kanzleien zu dulden, während ehrliche Polen weit eher und zahlreicher für die niederen

Kanzelleistellen zu finden waren, als Russen.

So fand man denn bald

nach dem Aufstande in den Oberbehörden folgende Zusammensetzung: die

obere Schicht der leitenden, repräsentirenden, unterzeichnenden Beamten

war russisch; die untere der Schreiber, Kanzellisten, niederen Secretäre war polnisch.

Und da die letzteren Sachkenntniß besaßen, die ersteren

Neulinge waren, so wurden die Geschäfte im Grunde doch wieder von Das war an den oberen Behörden, wo Russen von Bil­ dung und Ehrlichkeit Einfluß hatten und nothgedrungen offene Ohren für

Polen besorgt.

den Gang der Geschäfte haben mußten.

Anders war es dort, wo niedere

Beamte oder Offiziere die Verwaltungspeitsche schwangen.

Was küm­

merte sich der Kreis-Militär-Chef oder der Vorsitzende einer Kreisbehörde,

der selbst mit Bestechung und Trinkgelagen sich „ausgedient" hatte, darum,

wie es in seiner Behörde oder im Kreise zuging!

Die Hauptsache war:

dem Polen das Maul stopfen und berichten können, daß Alles ruhig sei.

Dort also wurde ohne Umstände mit dem Polenthum aufgeräumt. Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1. Heft 3.

22

Es

Reiseeindrücke ans Samogitien.

306

fehlte damals in Litthauen ohnehin nicht an Behörden und zu besetzenden

Aemtern.

Nun aber traten noch neue hinzu, indem nicht nur die Revo­

lution allerlei außerordentliche Ansprüche

an die Verwaltung

hervorge­

rufen hatte, sondern außerdem in diese Zeit auch noch die gewaltige Auf­ gabe fiel, die decretirte Befreiung und Landablösung der Bauern zu voll­

ziehen. Wo sollte nun Rußland, das für seine eigenen Provinzen weitaus nicht die nöthige Zahl guter Beamten besaß, noch welche erübrigen für die vielen tausend leer gewordenen Stellen in Litthauen?

Zudem wollte

der bessere russische Beamte nicht in diese Mördergrube gehen, wo er

verpflichtet wurde, mit kaltem Blut einen ganzen Stamm und gerade die gebildete Volksklasse zu quälen.

Also kam eS, daß der Auswurf des

russischen Beamtenthums hieher geworfen wurde, und das will waS sagen!

ES kam vor, daß ganze Wagenladungen mit hierher beorderten Beamten schon vor der Ankunft am Bestimmungsort, auf der Reise, so arg ge­

stohlen und sich sonst so schlecht aufgeführt hatten, daß sie unausgepackt zurückgesandt werden mußten an ihre heimathliche Strafbehörde.

Die

klügeren unter ihnen aber warteten ab, bis sie erst in ihren Aemtern fest

saßen. Die erste Arbeit war, den Polen und sonstigen Gutsbesitzern daS Land für die Bauern abzunehmen. Natürlich waren dabei keinerlei Nor­

men der Volks- oder Landwirthschaft maßgebend, und da vorschriftsmäßig der Pole hart behandelt werden sollte, so bereicherte man sich vorzugs­ weise dadurch, daß man vom Bauern sich für übermäßige Landzutheilung, unberechtigte Plünderungen der Gutsherrn, bezahlen ließ.

that noch das ©einige dazu,

indem er diese Beamten

Der Staat

mit confiszirten

Gütern freigebig beschenkte, in der Meinung, auf diese Weise ein Stück

russischen Grundbesitzes zu schaffen. DaS war damals eine tolle Wirthschaft.

Nicht nur, daß durch die

Entfernung aller polnischen Beamten aus den alten Behörden plötzlich

das

Bedürfniß nach

Besetzung dieser Stellen durch Russen beftiedigt

werden mußte, eS kamen noch die neuen Behörden hinzu, welche durch die Einführung der befreienden bäuerlichen Institutionen von 1861 in's

Leben traten.

Nicht nur, daß die gesammte Verwaltung plötzlich russisch

werden sollte in Gericht und Polizei, Militärwesen und Finanzwesen, im Ressort der Domänen und des Unterrichts, so wurden auch die sämmt­ lichen Schulen der unteren wie oberen Kategorien geschlossen und sollten

durch russische ersetzt werden.

Man ging so weit, nicht blos die polnischen,

sondern auch die lutherischen und reformirten Volksschulen zu vernichten, welche in litthauischer, lettischer, deutscher Sprache lehrend sich unter Füh­

rung der betreffenden Geistlichkeit und Gutsbesitzer entwickelt hatten; man

Reiseeindrücke auS Samogitien.

307

bedrängte ebenso das jüdische Schulwesen, welches in den zahlreichen jü­

dischen Ortschaften, wenn auch in dürftigster Form, bestand.

Und alles

Dies sollte nun durch russische Lehranstalten ersetzt werden in einer Zeit,

wir in Rußland selbst etwa 3 Prozent der Bevölkerung des Lesens kundig war, wo in Rußland man stolz zu sein pflegte, wenn man in seiner Ge­ meinde eine Dorfschule überhaupt hatte und dieselbe mit einem ausge­ dienten Unteroffizier als Pädagogen ausgerüstet war.

Natürlich wurde es

mit dem Ersetzen nichts und man ließ es meist bei der bloßen Aufhebung

des bisherigen Bolksunterrichts bewenden.

Den einzigen Ersatz hat man

dann später allmählich dem Lande geboten in der Errichtung

einzelner

GemeindcbezirkSschulen, die hier und da verstreut einem geringen Bruch­

theil der Bevölkerung zugänglich sind.

Der Verordnung nach soll jeder

Gcmeindcbezirk eine solche Schule haben, d. h. auf 10000 bis 30000 Seele«

eine Schule kommen.

Wo die Verordnung erfüllt wurde, da hätte also

doch der Einzelne es oft schwer, die Schule zu benutze», die auf mehrere Meilen von ihm entfernt liegt.

So ist

es natürlich, daß der Stand

der Bildung gegen früher zurückgegangcn ist, und zwar nicht blos im

Bauernvolk, sondern auch in den höheren Klassen.

Der tiefe Sturz der

katholischen Kirche mit ihren einstigen zahlreichen Lehranstalten hat auch

hier sich fühlbar gemacht:

standen diese ehemalige» polnisch-katholische»

kirchlichen Anstalten auch nicht gerade auf der Höhe der Zeit, so beher­ bergten sie doch viele Tausende von Schülern. Wie in dem Unterrichtswesen, so war in allen andern Zweigen des

öffentlichen Lebens die erste Wirkung des neuen Systems nach der Revo­ lution die tollste Verwirrung, Auflösung, Zerstörung.

Der Bauer wurde

vom Beamten gefressen und suchte sich am Edelmann schadlos zu halten, der, sofern er Pole oder Katholik war, jahrelang die Stellung eines

Proscribirten

einnahm, sich

trotz Mißwirthschaft und Schädigung still

halten mußte, wollte er nicht riskiren, vom nächsten Militärchef bei den

Ohren gekriegt und vielleicht plötzlich nach dem fernen Osten abgeführt zu werden.

Die Coalition der Beamten und der Bauern herrschte.

Und

nur sehr allmählich hat sich die Art von Anarchie, welche natürlich aus dieser Herrschaft hervorging, in einigermaßen geordnetere Zustände um­

gesetzt.

Denn die tiefe Demoralisation, welche

durch die systematische

Polenhetze herbeigefühpt worden war, wirkte lange nach.

Jahre hindurch

mußte der Pole sich drücken und winden, sobald ein Russe, ein elender

kleiner roher Unterbeamter, in der Nähe war, um nicht von ihm grob

insultirt zu werden, ohne dagegen etwas thun zu können; jahrelang durfte der Pole,

auch wenn er nichts als seine Muttersprache verstand, nicht

wagen auf der Straße oder an öffentlichen Orten polnisch zu sprechen;

22*

308

Reiseeindrücke aus Samogitien.

jahrelang gab es kaum ein Recht außer demjenigen des Beamtentums

und des litthauischen Bauern.

Die empörendsten und die lächerlichsten

Geschichten aus jener Zeit kann man sich heute überall erzählen lassen. Und dabei kam eS doch vor, daß selbst der von Petersburg aus gehät­

In

schelte Bauer zur Verzweiflung getrieben wurde.

der

Nähe der

preußischen Grenze wurde eS damals fast üblich, daß man in der äußer­ sten Noth sein Recht jenseits, in Preußen suchte:

man ging nach Tilsit

oder in einen anderen Grenzort und schickte von dort eine Bittschrift an

den König nach Berlin, später auch an den mächtigen BiSmarck.

oft mit Erfolg.

Und

So ist mir ein Fall bekannt, wo eine Bauergemeinde

von ihrem Friedensvermittler, der

sie gegen Gutsbesitzer und andere

Feinde schützen sollte und daS auch that, selbst mit Mißachtung jeglichen

privaten Rechts, so gebrandschatzt und mißhandelt wurde, daß sie endlich eine Petition an Herrn von BiSmarck schickte.

Der übersandte sie durch

den Botschafter in Petersburg dem russischen auswärtigen Minister, von

dort ging sie an die gehörigen Behörden und die Folge war, daß jener

Beamte entlassen wurde.

Er setzte sich freilich dann auf das Gut, welches

der Staat ihm so gut wie geschenkt hatte. — So wüthete in dem ver­

wüsteten Lande eine Schaar von gewissenlosen Leuten, die keinerlei In­ teresse kannten, als ihre Tasche und die Gunst der Vorgesetzten.

Erst

ganz allmählich und besonders seit die niedere Justiz in die Hände des neuen Instituts der Friedensrichter überging,

Pahlen sich besonders

angelegen sein

als der

Minister Graf

ließ, für gute Besetzung

dieser

Posten zu sorgen, begannen wieder die Anfänge rechtlichen Zustandes

sich zu gründen.

Und mit der Mehrung der Sicherheit von Recht, von

Eigenthum und Person, fing dann auch die wirthschaftliche Noth sich zu

mildern an, die natürlich während jener Anarchie geherrscht hatte. Einige Jahre guter Ernten kamen hinzu, um dem Lande den Anstoß zu dem

raschen Forlschreiten zu geben, in welchem eS sich eben befindet.

Denn

wie traurig und öde es hier auch etwa dem Rheinländer erscheinen würde,

so bemerkt der kundigere Beobachter doch leicht überall das Erwachen der Bevölkerung auS langem Schlafe. Es ist ein Grenzland der Staaten und der Nationen, und mit dem

Unfertigen, welches der alte politische Streit um dieses Gebiet ihm auf­ gedrückt hat, verbindet sich der Wirrwarr, welcher die Folge einer man­ gelnden nationalen Einheitlichkeit zu sein pflegt.

Hier haben Deutsche

(als Ordensstaat), Polen und Russen abwechselnd geherrscht, kein Stamm aber hat die nationale Energie gehabt das litthauische und jüdische niedere

Volk sich national zu unterwerfen,

zu

verschmelzen.

Wer hier wohnt

müßte mindesten- dreier Sprachen einigermaßen mächtig sein, des offiziellen

309

Reiseeindrücke aus Samogitien.

Russisch, deS bäuerlichen Litthauisch und der deutschen Handelssprache des Juden.

Da aber fast Jedermann hier mehrere Sprachen, der Jude ge­

wöhnlich alle drei und das Polnische dazu versteht, so mag man sich auch

durch Dolmetscher nöthigenfallS jahrelang ganz gut durchhelfen.

Man

braucht blos aus dem Eisenbahnwagen auf irgend einer Station hinauSzutreten um die Sprachenverwirrung zu erproben.

Ich verließ auf einer

Nebenstation die Bahn und trug einem Schaffner auf, mein Gepäck her­ beizuschaffen da ich landeinwärts zu fahren gedächte.

Diese Erklärung

war den gespitzten Ohren einer Schaar jüdischer und anderer Fuhrleute

nicht entschlüpft, worauf dann von allen Seiten Angebote von Wagen er­

schollen.

„Lieber Herr, lieber Herr! — schrieen vier bis fünf Juden —

ich hob' a schiene Por Färd"; werd' ganz billig hinführen".

„wo wollen der Herr hinfohren?

Ich

„Panie, panie!" — tönte es dorther in

polnischer, anderswoher in litthauischer Rede, bis ich mich zu einem der jüdischen Rosselenker entschloß und mein Gepäck ihm übergab.

Bald eilte

der federloseste und schmuckloseste aller Wagen mit zwei kleinen, aber wohl­

genährten Thieren davor auf der breiten Straße rasch dahin.

ES war

ein thautger FrühlingSmorgen, und welches Land erschiene in dieser Fär­ bung nicht lieblich?

Jede gesunde Bauerdirne hat mit 18 Jahren ihre

Zett deS Hübschseins, so häßlich sie ein paar Jahre später auch werden

mag, und auch die öde Haide zeigt Reize im Mai um sechs Uhr Morgens. So labte ich mich an den weiten grünen Wiesen, die oft von Bächen

durchzogen waren, an dem frischen Laub der Birken, Tannen, Eichen, Eschen, Ahorn und Erlen, an den Saaten und den Heerden, welche auf

weiten öden Buschflächen grasten.

Der Weg war zum Theil durch Kies­

schüttungen gut in Stand gehalten, zum Theil freilich auch in fast un­ fahrbarem Zustande, je nachdem — so erklärte mein Fuhrmann — ob

der Friedensrichter an wollte oder nicht.

einem Orte einmal etwas für die Wege thun

Denn der Friedensrichter ist hier wohl die gefürchtetste

und mächtigste Person im Kreisbezirk, und da es kaum einem Sterblichen

hier zu Lande widerfährt, daß

er sein Leben beschlösse ohne vor die

Schranken dieses Mächtigen zu kommen, so vermag ein derber Wink des Richters auch die Wege zu bessern, obwohl ihn das eigentlich nichts an­

geht.

Das Bäuerlein, dem diese Arbeit obliegt, ist gewöhnt den Polizei­

mann, der die Aufsicht zu führen hat, mit etwas Korn oder Heu zu ge­

winnen, daß eS von der Arbeit loskommt, und die jüdischen Stadt- und

Dorfgemeinden verstehen das erst recht; beide aber wissen, daß damit beim

Friedensrichter nicht durchzukommen ist,

und so sucht denn wenigstens

manche Bauergemeinde die Gunst deS Richters mit Wegerepariren zu ge­

winnen, so lange eS eben nicht anders geht und der Richter diesen Weg

310

Reiseeindrücke aus Samogitien.

grade benutzt.um zur.Bahn- oder sonst wohin zu gelangen. wenig Jahren war es anders.

Noch vor

Da gab es kaum einen Beamten im

Lande, der nicht mit Vergnügen ein paar Rubel dafür genommen hätte, daß er die Bauern mit Wegebau ungeschoren ließ, ittib da war es denn

dahin gekommen, daß man kaum mehr von Wegen reden konnte.

Auch

war das Land damals, Adel wie Bauer, so herabgekommen, daß selbst

diese nothwendige öffentliche Last schwer wäre empfunden worden, wenn man sie gewaltsam hätte ins Leben treten lassen.

Jetzt ist der Bauer

wohlhabend genug, um diese Last so leicht zu tragen als die anderen. Denn die Hauptlast, welche auf ihm ruht, die Bezahlung der Zinsen und

Kapitaltilgung für die Ablösung seines Grundstückes, ist nicht drückend,

weil die Ablösung zu billigen Bedingungen vor sich gegangen ist.

Aber

jenes System äußerster staatlicher Zuvorkommenheit gegen den Bauern zum Zweck seiner Gewinnung für politische Eventualitäten hindert hier wie anderwärts vielfach die Erfüllung der bäuerlichen Verpflichtung.

In etwa zwei Stunden hatte ich eines der vielen kleinen Judennester erreicht, die hier überall umherliegen, eine Sammlung von Schmuzhaufen. Alle Wohnungen stets im Verfall begriffen, ich glaube fast, sie werden

schon

in diesem Zustande

erbaut.

Einige Schenken,

eine katholische,

hölzerne, in den größeren Ortschaften auch ansehnliche steinerne Kirche, selten eine gepflasterte Straße, stets ein Marktplatz.

Ich eilte aus diesem

Unrath fort zu kommen, dieseSmal nicht mehr mit jüdischem, sondern mit

litthauischem Gefährt, dem allerursprüngltchsten aller Postkarren, den ich von der örtlichen Gemeindepost gemiethet hatte.

Die Unterhaltung mit

meinem Kutscher war jetzt schwierig da er nur wenig Worte Deutsch — von seinem jüdischen Herrn, dem Posthalter erlernt — und etwas Russisch

außer seiner Muttersprache verstand.

So war ich auf die Beobachtung

der Gegend und eigene Betrachtungen beschränkt.

Und trotz Heller Sonne,

frischem Grün und Vogelsang beschlich mich eine gewisse Niedergeschlagen­

heit, wie sie wohl in der Wüste in höherem Maße den Wanderer erfassen mag.

Diese Eintönigkeit der Landschaft bedrückte mich: wenig Elend in

der Natur, aber auch sehr wenig Ueppigkeit; kräftiger Waldtrieb, aber

nirgend guter Wald; schönes Wiesenland, aber selten gute Wiesen; reicher

Kornboden, aber mittelmäßiges, oft schlechtes Korn.

Vergebens meint

man, auf diesem reichen Boden müßten sich üppige, stolze Herrensitze er­ heben, von den einst so mächtigen polnischen Magnaten erbaut; vergebens

späht man stundenlang näch'den rothen Dächern, gepflegten Gärten, sauberen

Umzäunungen eines EdelhofeS, denn überall strecken sich die grauen Stroh­

oder Schindeldächer der Edelhöfe lang hin, oft nicht einmal von dem üb­

lichen kärglichen Gartengeviert geschmückt, dessen Seiten von Linden ringe-

Reiseeindrücke aus Samogitien.

faßt sind.

311

Man jauchzt auf wenn man nach sechsstündiger Fahrt an dem

Hofe eines polnischen Millionärs oder gar eines deutschen Edelmannes

voriiberkommt,

die etwas für das Aussehen ihres Wohnsitzes, für die

höhere Kultur ihrer Felder haben draufgehen lassen.

Dabei die endlosen

öden Flächen, mit Wacholder dünn überwuchert, ost den herrlichsten Acker­

boden bergend, aber das Bild der Unkultur darbietend: es sind die gemeinen Weidetriften der Bauern, dank dein russischen Ablösungsgesetz von 1861. Meine anfangs fröhliche Stimnumg schwand unter diesen Eindrücken mehr und mehr und ich ward nur vorübergehend aus ihr erweckt, wenn die

Schaar zottiger Hunde, welche schon lange unserer Ankunft an der Pforte

des Bauerhofes oder Herrenhofes mit Spannung entgegengelauert, mit

wüthendem Gebell hervorstürzte,

oder wenn mein schweigsamer grauer

Kutscher bei einem besonders achtunggebietenden Heiligenbilde, an dem wir vorüberfuhren, die Mütze ein wenig lüftete.

Woran er eigentlich die

besondere Heiligkeit grade dieses Bildnisses erkannte, während er Dutzende

von Kreuzen und Gebilden, die ähnlich aussahen, unbeachtet ließ, ward

mir nicht recht klar.

Ich glaubte erst, dieser hölzerne, roth angestrichene

St. Georg, der einst, als er noch seinen Speer hatte, wohl den blauen Lindwurm da durchbohrte, sei sein höchsteigener Schutzpatron; oder jenes

fast menschenähnliche Bildwerk, das rings von Symbolen des Landbaues umgeben ist, könne seinem Acker Segen bringen; bis ich sah daß ein an­ derer St. Georg ihn völlig gleichgiltig ließ und nach vielem Fragen er­

fuhr, daß er zu jener Klasse von Bauern gehöre, welche blos etwa zwölf Morgen Land erhalten haben, daher sein Brod auf andere Weise erwerben

müsse.

Zwölf Morgen Land, dachte ich, und dabei Gemeiitde-Postkerl mit

höchstens

100 Rubel jährlichen Verdienstes!

Und diese Erwägungen

konnten meine trüben Betrachtungen nur nähren, die immer wieder darauf

hinausliefen: wie schön Alles was die Natur hier schuf, und wie schlecht

Alles was der Mensch gethan! Die leitenden Autoritäten der Bauern sind hier der Beamte und der Pfaffe, nächst denen als einflußreiche Person der Jude steht.

Der Beamte steht natürlich zuoberst in der Würdenreihe.

Die

ganze Vergangenheit des Landes hat den äußern ServiliSmus gegen Staat und Beamtenthum groß gezogen, und nicht bloß beim Bauern.

Eines

Tages wohnte ich der Eröffnung einer jüdischen Schule bei, welche vor­ längst als hebräisch

talmudische Schule von der Regierung geschlossen

und nun als jüdische Schule mit russischer Unterrichtssprache auf höheren

Befehl wieder errichtet worden war.

Pflichtmäßig hatte man zum Ein­

weihungsact die Autoritäten des Städtchens, darin die Schule lag, ein­

geladen.

Der Vorsteher und die beiden Lehrer, jüdischer Herkunft und in

Reiseeindrücke aus Samogitien.

312

der blauen Uniform des Ressorts der „Volksaufklärung", erfüllten die

Pflichten der Wirthe und der sehr getreuen Unterthanen Se. Majestät

mit einer außerordentlichen Leidenschaft. Nationalhymne, in russischer

Natürlich begann man mit der

Sprache von den Schülern vorgetragen.

Nach einigen weihevollen Ceremonieen der Eröffnung schloß man wieder

mit jener Hymne.

Nun ward den Ehrengästen Champagner (elendester

Fälschung natürlich) gereicht, worauf denn dieser oder jener Würdenträger

des Ortes ein paar Worte vorbrachte, einen Toast auf den Zaren vor Allem.

Der Vorsteher hörte kaum das Wort Zar aussprechen als er

mit heftigen Gebärden nach dem Nebenzimmer hin schrie: „man gebe die Hymne!" und der Schülerchor in daö „Boshe Zarä chrani“ ausbrach. Ein anderer Toast, auf die Schule, folgte, und noch war der Redner nicht

am Schluß als der Director auch schon mit beiden Armen nach jenem staatstreuen Zimmer hin winkte und dann wieder schrie: „man gebe Boshe

Zarä chrani!" (die Anfangsworte der Hymne, welche bedeuten „Gott schütze den Zaren" und als Bezeichnung für die Hymne gebraucht werden).

Ein dritter und vierter Toast folgten, der Director aber ward nur um so leidenschaftlicher in der Gier nach dem „Boshe Zarä chrani“, welches

zur Antwort diente auf jegliche Meinungsäußerung des Polizeimannes, des

Friedensrichters, des garnisonirenden Kosakenobersten und anderer accreditirter und usurpatorischer Staatsvertreter.

Die Loyalität dieser Juden­

schule und der ganzen Judengemeinde des Ortes sollte nun einmal über

allen Zweifel erhoben werden und trat wirklich mit einer so unwidersteh­

lichen Gewalt auf, daß man vor lauter Staatstreue kaum reden konnte. Ich war froh als ich endlich unter den Klängen der Hymne zur Thür

hinauseilen durfte und wurde lange verfolgt von schrecklichen Vorstellungen

der qualvollen Stunden, in denen diese armen Judenjungen in jenem Hause künftig zur Ergebenheit gegen den Zaren erzogen werden würden.

Und sie haben im Grunde nicht so Unrecht:

ist es doch hier die vor­

nehmste aller Tugenden, die Ergebenheit gegen Staat, Zar, Büreaukratie,

fast die einzige, deren Abwesenheit durchaus gefahrvoll ist.

Wehe Dem

der den Verdacht auf sich lüde, ihrer zu entbehren: auch ohne Belagerungs­

zustand wäre er ein verlorener Mensch und es ist nur ein Glück, daß

man hier zu Lande fern von der Residenz ist; beobachtet.

so wird man weniger

Die wiederholten Revolutionen, die das Polenthum angezettelt

hat, haben ja leider dem Staate ein gewisses Recht zu solcher Gegenwehr

gegeben, ganz abgesehen von dem System, auf welchem das gesummte

Reich ruht.

Nicht blos der überall geschmeidige Jude weiß die Tugend

der Loyalität gegen Zar und Büreaukratie — darin besteht hier ja im Grunde der Staat — stets herauszukehren, sondern auch der Pole ist

Reiseeindrücke aus Samogitien.

Wenn auch

scheinen.

313

oft widerwillig beflissen als guter russischer Patriot zu er­

Wenn man ihm auch heute nicht mehr wie vor zehn und fünf­

zehn Jahren verbietet seine Muttersprache zu sprechen, so setzt ihn der

Berdacht ein staatlich „Unzuverlässiger" zu sein doch mancherlei Mißlich­ leiten aus und schneidet ihm jedenfalls die Möglichkeit ab einen öffent­

lichen Dienst zu erlangen.

In öffentlichen Dienst zu treten ist aber nach

wie vor hier wie in Rußland das Streben eines Jeden, der sich gesell­

schaftlich heraufbringen will.

Und die Staatsregierung hat zu keiner Zeit,

wie ich schon ausführte, die Dienste der Polen entbehren können.

So

dringt denn das Polenthum seit 1864 wieder schrittweise aber sicher in

den Behörden vor und wahren.

Dabei hält

ist nur stets besorgt die loyale Außenseite zn

der Pole aber an seiner Nationalität zähe fest.

Denn es ist ein hohler wenn auch schöner Wahn der Slavistcn, daß das Polenthum in absehbarer Zeit in das Russenthum aufgehen werde.

Russenthum hat national hier

in Litthauen

Boden gefunden als im eigentlichen Polen.

freilich

Das

einen günstigeren

Man hört heutzutage hier

weit häufiger russisch reden als ehedem: die allgemeine Wehrpflicht bringt eben mehr Leute als sonst nach Rußland und wieder zurück mit etwas

angelernter russischer Sprache, und einige Schuten sowie der öffentliche Verkehr in Behörden und anderen öffentlichen Anstalten tragen das Ihre zur Verbreitung der russischen Sprache bei.

Aber das trifft den Litthauer,

nicht den Polen, der im Wesen geblieben ist was er war, während der

Litthauer ohne die Stütze einer eigenen Knltur weit leichter die fremde russische annimmt.

Mit der russischen Einwanderung, die man versucht

hat, ist es nichts, denn die paar russischen Gutsbesitzer, welche seit 1864

hier angesiedelt wurden durch Schenkungen und Unterstützungen, sind bis auf sehr wenige bankerott geworden, haben sonst nicht gedeihen können,

kurz sind verschollen, und die bäuerlichen Kolonieen, die man hierher aus Rußland verpflanzte, sind zum Theil aufgegangen in wandernden Hand­

werkern, Bänkelsängern, Strolchen, Pferdedieben und dergleichen, die dann gelegentlich wieder ostwärts zurückdeportirt werden; bestenfalls leben sie ein abgeschlossenes, gegen die Landbevölkerung fremd-feindseligeS Leben.

Langt in einem der kleinen Orte, welche übers Land hin zerstreut

sind und in denen die Verwaltungs- und Justizbehörden ihre Sitze haben, ein neuer Beamter an, so ist daö natürlich ein wichtiges Ereigniß.

Pole

und Jude — die maßgebende Gesellschaft in diesen Orten — geht vorerst scheu und beobachtend um den Mann herum.

aber sehr höflich.

Der Pole ist zurückhaltend,

Wo er dem neuen Machthaber, sei eS auch ein unbe­

deutender Unterbeamter, begegnet, weicht er ihm vorsichtig auS; tritt er

zu ihm in amtliche Beziehungen, oder wird er mit ihm sonst bekannt, so

Reiseeindriicke aus Samogiüen.

314

wird das compliztrte polnische Zeremoniell sorgfältig beobachtet, mit tiefem

Bückling, ausgesuchten Schmeicheleien, schwarzem Anzuge nicht gespart.

Die Unterhaltungssprache ist russisch, die Vorgesetzten des Beamten, seine Collegen, besonders der Gouverneur der Provinz werden stark gelobt, öffent­ liche Dinge alle in dem Geiste der neuesten Nummer des „Negierungs­

anzeigers" oder der letzten Aeußerungen, die der Beamte, oder gar der

Gouverneur bei seinem letzten Empfang in der Kreisstadt that, besprochen. Beträgt sich der neue Beamte höflich, so wird er vorläufig hiefür gelobt,

ist er ein hochfahrender Grobian, so schweigt utan oder zuckt höchstens die Achseln. — DaS eigentliche Urtheil über den Ankömmling aber wird von dem Juden gefällt, der sich alsbald an den Neuangekommenen herandrängt,

Dieser hat eine Wohnung zu

mit allen ersinnlichen Diensten natürlich.

vermiethen „a Pracht!"

Jener will Pferde anbringen,

ein Dritter em­

pfiehlt sich als der Lieferant des Vorgängers im Amt für irgend welche

Waaren.

Bei wachsender Vertraulichkeit mäkelt dann wohl auch Einer

die eheliche Verbindung

Tochter

den

deS unverheiratheten StaatSdienerS mit einer

des benachbarten Gutsbesitzers.

Beamten

denn bald

kennen.

Und bei Alledem lernt man

Wirft

er

den

Juden

sofort zur

Treppe hinunter oder läßt er sich in ein Gespräch ein, ist er grob gegen

den armen, höflich gegen den reichen Juden, ist er vor 10 Uhr unsichtbar oder schon um 8 in seinem Beruf thätig, giebt er leicht Geld aus oder vergißt er fünf Pfund Zucker im Laden zu bezahlen — daS wird Alles notirt, dann zu Chaser, Dovid, Chaim umhergetragen, dort mit Dem zu­ sammengethan waS Andere hingebracht, und das Urtheil so schnell und meist scharf, richtig gefällt.

Noch vor wenig Jahren aber war eS ein

verhältnißmäßig günstiges Urtheil wenn es hieß, der neue Beamte sei für

Geld bereit etwas zu leisten.

DaS schlechte Urtheil lautete so, er lasse

sich bezahlen, thue aber nichts dafür.

Jetzt sind die unbestechlichen StaatS-

diener nicht mehr so rar aber doch noch so wenig in der Gewohnheit deS

Volkes, daß sie dann angestaunt und gepriesen werden — besonders wenn sie noch dazu arbeitsam sind.

Da sämmtliche Beamte mit Ausnahme ernannt werden, so ist

es sehr

einiger jüdischen

von der Regierung

selten daß einer

von ihnen tieferes Jntereffe für das Wohl deS Lan­

des hat.

verdienen, Carriere machen,den Vorgesetzten und dem

Etwas

Gesetze genügen, schen Beamten.

daS

ist

die

durchgängigeRichtschnur

deSlitthaui-

Und so ist denn die Verwaltung des Landes eine für

europäische Begriffe durchaus ungenügende, schlechte.

ES wäke jedoch

ungerecht wenn man diesen Zustand der Verwaltung vollkommen der Re­

gierung zur Last legen wollte.

Die Regierung ist eben außer Stande

etwas für europäische Ansprüche befriedigendes zu leisten.

Dieser Mangel

315

Retseeindrücke aus Samogitien.

ist ein in ganz Rußland allgemeiner und möge durch Folgendes erläutert werden. Auf einem Knotenpunkt der Libauer Bahn besteht seit ihrer Eröff­

nung, also seit sechs Jahren, ein dringendes Bedürfniß nach einem Unter­ kommen für Reisende, welche dort einige Stunden oder auch eine Nacht

verweilen müssen; der Bahnhof hat kein einziges Gastzimmer für längeren

Aufenthalt, einen Gasthof giebt eS nicht.

Seit sechs Jahren fleht man

die Domänenverwalmng an, sie möge Bauplätze auf dem dem FiSkuS gehörigen umliegenden Lande verkaufen oder verpachten. Sechs Jahre gehen

die Verhandlungen, ohne daß die Domänenverwaltung etwa gegen die Er­ füllung dieser Bitten abgeneigt wäre, aber auch ohne Erfolg.

Die Ver­

äußerung von domanialem Lande ist durch die gesetzlichen Formalitäten eine äußerst schwierige, langwierige Prozedur, die Verpachtung zu ErbzinS hat ebenfalls Schwierigkeiten.

Die Sache muß bis in die obersten Instanzen

gehen, und dort mögen ähnliche Gesuche zu Tausenden angehäuft liegen.

Eine Ordnung bei ihrer Erledigung muß eingehalten werden, woraus sich ergiebt, daß auch mit dem besten Willen der Domänenverwaltung zuvör­

derst die Gubernien

Gesuche

früheren Datums

erledigt werden,

aus

einigen Dutzenden

anderer

ehe der Reisende auf jener Station der

Libauer Bahn ein Nachtlager findet.

Ein anderes Beispiel:

Etwa fünf

Meilen von jener Libauer Bahn entfernt liegt eine Kreisstadt Telsch, von

7 bis 8000 Einwohnern.

Täglich gehen zwei private jüdische Diligencen

zur Bahn und ebensoviele zurück.

Giebt man einen Brief dem Conducteur

einer derselben ab, so langt er in zwei Tagen an den Adressaten in Berlin

an.

Uebergiebt man dagegen den Brief unvorsichtiger Weise der Reichs­

post, so braucht derselbe zehn Tage, um anzukommen.

Weshalb das?

Weil die Postverwaltung in Telsch gar kein Interesse an der Briefbe­

förderung hat und weil die Staatspostverwaltung in Petersburg vielleicht kaum eine Ahnung hat, daß eine Postverwaltung von Telsch existirt, viel

weniger, daß der angeführte Mißstand vorhanden ist, und weil, wenn aus Telsch private Gesuche nach Petersburg gerichtet würden, Jahre ver­ gehen würden, ehe man daran dächte, die Briefe aus Telsch von ihrem

uralten Wege per Landpost ab und auf den neuen Weg der Eisenbahn Hinüberzuletten.

So schleppt sich also der Brief weiter über Tauroggen

wie vor hundert Jahren, obwohl ein Federstrich des Directors der Post­

verwaltung genügen würde um ihn um ganze acht Tage rascher in Berlin

ankommen zu lassen. In einem so großen Reiche wie Rußland mit einer centralisirten

Verwaltung können die Interessen aller einzelnen Theile unmöglich ge­ wahrt werden. Diese Centralisation, die sich über den halben Erdball er-

316

Reiseeindrücke aus Samogitien.

streckt, ist nicht im Stande mehr zu thun, als weitgretfenden Noth­

ständen abzuhelfen, starken und im Großen austretenden Bedürfnissen ge­

recht zu werden.

Sie kann jedoch nicht die kleinen lokalen Interessen ver­

folgen, wenn diese nicht lokal vertreten werden von den Interessenten selbst, was hier nicht geschieht, weil aller lokale Gemeinsinn aus jenen politischen Rücksichten natürlich unterdrückt wird.

So geht es denn auch mit dem lokalen Beamtenthum im Allge­ meinen.

Der Staat sorgt dafür, daß die betreffenden Aemter und die

zugehörigen Beamten einigermaßen

gesetze vorhanden sind:

nach den Vorschriften der Reichs­

wie sie arbeiten, wie weit sie lokal genügen oder

etwa den besonderen Verhältnissen nicht entsprechen, das kümmert den

Staat nur sehr wenig.

Der Staat fordert, daß ihm in seinen Beamten

die allgemeine Autorität gewahrt bleibe, welcher er bedarf, um das Ge­

jammte zusammenzuhalten: wie weit die staatliche Autorität durch die persönlichen Eigenschaften des Beamten, durch die persönliche Autorität desselben gestützt wird oder geschädigt, darum kann sich ein Minister kaum

kümmern, der heute ein Dutzend Beamte an die Weichsel, morgen ein anderes Dutzend um eine Hemisphäre östlicher an den Amur zu schicken

hat.

Und das einzige Mittel, um den localen Bedürfnissen vielleicht ge­

recht zu werden, das Mittel der Errichtung einer decentralisirten Selbst­ verwaltung, wagt der Staat aus erklärlichen Gründen bisher nicht zu

ergreifen. arbeiten,

Mit welchen Mitteln der Staat gelegentlich gezwungen ist zu

davon folgendes Beispiel.

Pferdediebstahl und

Vor etlichen Jahren nahmen der

andere Verbrechen außerordentlich

stark überhand.

Um nur etwas dagegen zu versuchen, wurde angeordnet, daß jede Bauer­

gemeinde auf allen Kreuzwegen Wächter aufstellen sollte, die Jedermann,

der vorüber ging, ritt oder fuhr, anzuhalten und nach seinem Paß zu sehen hatten. Zugleich wurde befohlen, daß Jedermann jederzeit mit einem Passe versehen sein müsse. Damit meinte man der paßlosen Vaga­

bunden habhaft zu werden, deren viele entlaufene Gefangene waren.

Nun

fuhr man durchs Land und ward überall überrascht von je zwei oder drei

verlumpten Kerlen, die ob Tags ob Nachts an den Kreuzwegen in den

Weggräben lagen und besonders den Wagen der wohlhabenderen Reisen­

den auflauerten--------- denn darin konnte ja ein Beamter sitzen, dem sie ihren Pflichteifer zeigen mußten. Wer die Umstände nicht kannte, glaubte

leicht von Räubern überfallen zu werden, und so war einstmals in der Nacht, als ich durch einen großen Wald fuhr, mein Revolver auch be­

reits gespannt, ehe ich aus dem Schlaf auffahrend erkannte, daß ich es nicht mit Räubern, sondern nur mit Wächtern der Ordnung zu thun

hatte, von denen einer meinen Pferden in die Zügel gefallen war, zwei

317

Reiseeindrücke aus Samogitien.

andere zum Wagenschlage die Köpfe hereinsteckten.

Und das Lächerlichste

war immer, daß diese Kerle mm im Polizeitone nach dem Paß fragten und, wenn man ihnen denselben vorwies, so klug waren als zuvor, denn

nicht Einer von all diesen Tausenden

stand.

im Lande konnte lesen, was drin

So bin ich denn weit im Lande umhergefahren ohne Paß, das

eine mal auf einen Rigaer Börsenbankschein hin, das andere Mal mit einem Hamburger Lotteriebillet und dergleichen.

Und der Bagabund oder

Pferdedieb war damals nicht dummer als gewöhnlich, sondern ging nöthigen-

falls fünfzig Schritte um die bewachte Stelle des Weges herum. — Zu

solchen Sonderbarkeiten gelangt eine centralisirte Beamtenverwaltung, in deren Büreauacten es sich ganz weise

anläßt, den Landstreichern durch

Wachposten auf den Kreuzwegen auflauern zu lassen.

In den Acten steht

nicht geschrieben, daß diese Wachposten nicht zu lesen verstehen und daß

die Landstreicher anderswo als auf der großen Landstraße wandern können.

So ist das Hauptaugenmerk der Staatsregierung darauf gerichtet, die ganz äußere politische Ordnung aufrecht zu halten.

Die Ergebenheit,

welche dieser Art von Autorität gezollt wird, ist ihr angemessen: lich hohl.

Was die Staatsregierung

trotzdem

innerhalb

ziem­

der fünfzehn

Jahre seit der Revolution für die lokalen Bedürfnisse geleistet hat, ist keineswegs gering zu schätzen.

Wenn man jenes allgemeine Unvermögen

den provinziellen Sonderinteressen gerecht zu werden, in Erwägung zieht, so darf man der Staatsregierung das Zeugniß ausstellen, daß sie Mancherlei

in der Richtung auf die materielle Wohlfahrt des Landes angebahnt hat. In erster Linie steht natürlich die Schöpfung eines freien besitzenden Bauern­ standes.

Und wenn das Landvolk, selbst das polnische nicht ausgenommen,

noch niemals sich in solchem wirthschaftlichen Aufblühen befunden hat, als gegenwärtig, so kann man getrost hinzufügen, daß das Land noch niemals, trotz der argen Mängel der heutigen Verwaltung, eine bessere Verwaltung

oder Justiz gehabt hat.

Niemals hat man hier noch so oft unbestechliche

Richter gefunden, niemals konnte man sich eines polizeilichen Zustandes rühmen, der etwa mehr auf Ordnung und öffentlichen Nutzen gerichtet war als heute.

Das ist freilich sehr relativ: es waren eben ehedem barbarische

Zustände;

allein man darf eben nicht zu viel erwarten von einer Re­

gierung, welche überall mehr herrscht als regiert, und wo sie regiert,

meist zu viel regiert.

Und zuletzt ist auch das eine Wohlthat, daß an die

Stelle des ehemaligen polnischen Panthums eine wirkliche staatliche Auto­

rität getreten ist, so inhaltsleer sie praktisch auch sein möge. (Schluß folgt.)

E. von der Brüggen.

Die Orientalische Frage seit dem deutsch­ österreichischen Bündniß. (Politische Correspondenz.)

Berli«, 7. September 1880.

In die Jubelfeier des zehnten Jahrestages der Schlacht von Sedan wirft der erste Jahrestag der Zusammenkunft der Kaiser von Rußland

und Deutschland in Alexandrowo seine Schatten.

Von der Begegnung

der beiden Kaiser in der kleinen russischen Grenzstadt datirt die endgültige

Auflösung des Dreikaiserverhältnisses, dessen mystischer Charakter durch den Abschluß des deutsch-österreichischen Zweikaiserbündnisses erst nachträg­ lich in daS rechte Licht gesetzt worden ist.

Die neutralisirende Kraft des

Verhältnisses zu Dreien war durch den Präliminarfrieden von San Ste­

fano, der Deutschland zumuthete, die Interessen des Dritten, OesterreichUngarn'S, denjenigen Rußlands zu opfern, paralysirt worden. Die deutsche

Politik stand damals am Scheidewege.

War die Annexion der deutschen

Provinzen Oesterreichs, wie unsere Gegner Jahrelang behauptet hatten, ihr Ziel, war das Dreikaiserverhältniß nur daS Mittel, Oesterreich zu düpiren, so mußte Deutschland seinem russischen Freunde im Orient freie Hand

kaffen und die Nachtheile tragen, welche seinen eigenen Interessen daraus erwachsen konnten.

Die deutsche Politik auf und nach dem Berliner Con-

greß beruhte auf der Anerkennung der Interessengemeinschaft Deutschlands und Oesterreich-UngarnS und diese Gemeinschaft mußte sich naturgemäß,

den russischen Drohungen mit einem französischen Bündniß gegenüber, zu einem Defensivbündniß verdichten.

Je heftiger die patriotischen Beklemmungen waren, welche Deutsch­ land im August und September 1879 quälten, um so auftichtiger und lauter war der Jubel, mit dem die Nachrichten von dem Abschluß des

deutsch-österreichischeu

BündniffeS ausgenommen wurden.

Bündniß war nicht nur der

erste Allianzvertrag

Reiches, eS war auch der eklatante Sieg

DaS Wiener

des neuen Deutschen

einer vorschauenden Diplo­

matie, welche den Präliminarfrieden von NikolSburg zum Ausgangspunkt einer Politik der Versöhnung gemacht hatte.

Die Wiener

Reise

des

Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Blindniß.

319

Fürsten Bismarck aber war mehr als der letzte Schritt zur Versöhnung

der ehemaligen Rivalen vom frankfurter Bundestage; sie vollendete die Niederlage der russischen Orientpolitik; und so war es psychologisch sehr

erklärlich, daß die Enttäuschung, welche der Mißerfolg der panslavistischen Bewegung in Rußland wachgerufen hatte, in eine gegen die ohnmächtige

Regierung gerichtete revolutionäre Bewegung umschlug, deren gefährlichste Symptome,

die

von

Attentate

Europa in Schrecken setzten.

Moskau

und

St.

Petersburg,

ganz

Mit der Ernennung Loris-Melikoff's, der

mit einer in Rußland seltenen Energie an die Stelle der Willkür gere­

gelte

Gewalt zu setzen bemüht ist, schließt die Phase der nihilistischen

Attentate

vorläufig ab.

Ob die langsam,

aber wie

es

scheint,

nach

einem festen Plane sich anbahnende Reform der Staatsverwaltung einer friedlichen Entwickelung der russischen Politik günstig sein wird, entzieht sich zur Zeit uoch der Beurtheilung.

Auf alle Fälle ist die Aufmerksam­

keit der politischen Kreise in Rußland zunächst vorwiegend durch die innere

Politik und durch die, zum Theil iu Folge der schlechten Ernte, bedenkliche wirthschaftliche Lage in Anspruch genommen. Um die Befriedigung zu verstehen, mit der jenseits des Canals der

Abschluß des deutsch-österreichischen Bündnisses ausgenommen wurde, muß man

sich der Versuche der russischen Diplomatie

erinnern,

Frankreich

ihren Racheplänen gegen das treulose Deutschland geneigt zu machen und gleichzeitig sich mit Oesterreich über eine gemeinsame Orientpolitik gegen

England zu verständigen.

Gerade diese, natürlich mißlungenen, Versuche

mußten dem deutschen Reichskanzler als Hebel dienen, um den Kaiser zur Gutheißung der in Wien getroffenen Verabredung zu bestimmen.

Drei

Tage nach der Ratification des Schutzbündnisses seitens des Kaisers Wil­

helm, am 18. October hielt der englische Minister deö Auswärtigen in Manchester eine Rede über die Weltlage, die trotz der veränderten Stellung

der Regierung,

auch heute noch von Bedeutung ist.

Als Hauptaufgabe

der englischen Politik bezeichnete Marquis von Salisbury die Verhinderung

jedes Vordringens Rußlands oder russischen Einflusses in die europäische Türkei.

Wenn nur die Türkei ihre Verwaltung reformiren wolle, so

würde ihre militärische Kraft auch in Zukunft die mächtigste Schranke sein,

die dem Vorrücken Rußlands entgegengesetzt werden könnte.

„Wenn sie

fällt, fuhr Salisbury fort, so erinnern Sie sich, daß Oesterreich jetzt in NoviBazar steht und bis an das Gebiet des Balkans heran gerückt ist, und daß jetzt kein Vorrücken Rußlands über den Balkan oder über die Donau erfolgen kann, bevor der Widerstand Oesterreichs bezwungen ist. mächtig.

Oesterreich ist

Ich glaube, daß auf der Stärke und Unabhängigkeit Oesterreichs

die beste Hoffnung

der Stabilität und des Friedens Europas beruht.

Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Bündniß.

320

Was in den letzten wenigen Wochen geschehen ist, berechtigt uns zu hoffen,

daß Oesterreich, wenn angegriffen, nicht allein stehen würde.

Die Zei­

tungen berichten, daß zwischen Deutschland und Oesterreich eine Defensiv­

Ich will keine Ansicht über die Genauigkeit

allianz errichtet worden ist.

jener Nachrichten aussprechen, aber ich werde Ihnen und Allen, welche den Frieden und die Unabhängigkeit der Nationen schätzen, sagen, daß daS „good tidings of great joy“ sind."

Daß die Türkei, nachdem sie

in dieser Weise gewisser Maßen als Vormauer Englands, Oesterreichs

und Deutschlands gegen Rußland gepriesen worden, geringe Neigung bezeigte,

den auf dem Berliner Vertrag und der Cypern Convention

beruhenden Verpflichtungen bezüglich der Reform der Verwaltung nach­

zukommen, kann nicht

überraschen.

der englische

Wenn Herr Layard,

Botschafter in Constantinopel, in den letzten Monaten deS Jahres 1879 und in den

ersten Monaten dieses Jahres

durch die

klägliche Rolle,

welche er in den von dem Sultan und seinen Ministern in Scene gesetzten

Reform-Comödien spielte, das Ansehen der englischen Diplomatie

am

goldenen Horn völlig untergrub, so war das vielleicht nicht so sehr die Schuld des Diplomaten,

als die Consequenz einer unmöglichen Lage.

Herr Layard hatte nur einen Trost, den nämlich, daß seine russischen

und französischen College« nicht glücklicher waren, als sie sich bemühten, der Eine, dem Fürsten von Montenegro das ihm durch den Berliner Vertrag zugesprochene Gebiet zu verschaffen,

der Andere die Verhand­

lungen der Türkei mit Griechenland über die diesem zugesagte Grenzer­ weiterung auch nur in Gang zu bringen.

Die Furcht Englands, durch

Befürwortung der griechischen Ansprüche daS Wohlwollen der Türkei zu

verscherzen, kam der Verschleppungspolitik der letzteren sogar direkt zu Hülfe. Nicht glücklicher war das Tory-Cabinet mit seinen Versuchen, durch

Herstellung geordneter Verhältnisse in Afghanistan den Rückzug der eng­ lischen Truppen zu

Macht

ermöglichen.

in Mittelasien

Seit der Ausdehnung der russischen

auf Khiwa und Bochara war die Hauptsorge

Englands, den Russen Afghanistan zu verschließen.

Wer Afghanistan,

das Vorland Indiens, und mit ihm die Gebirgspässe nach Sindh und dem Pendjab beherrscht, bedroht die Sicherheit Indiens.

Kein Wunder,

daß England zitterte, als im Sommer 1878, ehe noch der Jubel über den AuSgang des Berliner CongresseS verrauscht war, die Nachricht ein­

traf, in der Hauptstadt deS Emirs von Afghanistan, Schir Ali, verweile eine russische Gesandtschaft.

Der Vicekönig

von Indien

beeilte sich,

Schir Ali die Entsendung einer Gesandtschaft unter General Chamberlain anzukündigen, erhielt aber keine Antwort des Emirs und als Anfang September die englische Gesandtschaft an der afghanischen Grenze vor dem

Die Orientalische Frage seit dein deutsch-österreichischen Bündniß. befestigten Passe Ali Musdschid eintraf,

ihr den Eintritt.

verweigerte der Befehlshaber

Damit war die Nothwendigkeit eines Feldzugs gegen

Afghanistan entschieden.

Truppen,

321

Ende 1878 und Anfang 1879 besetzten englische

ohne weiteren Widerstand zu finden,

die sogenannte „wissen­

schaftliche Grenze" Gundamak auf der Straße von Peschewar nach Kabul,

das Kurum-Thal bis zum Schutargadam-Passe und im Süden Kandahar. Schir Ali war entflohen, aber mit dessen Sohne Jakub Khan wurde am

26. Mai 1879 der berüchtigte Friede von Gundamak abgeschlossen,

in

welchem der neue Emir das Land östlich und südlich der „wissenschaftlichen" Grenze an England abtrat (welches damit in den Besitz der für die Ver­

theidigung Indiens wichtigsten strategischen Punkte gelangte) rind sich ver­ pflichtete, einem englischen Residenten den Aufenthalt in Kabul zu gestatten.

Die englischen Truppen

traten den Rückmarsch an.

Am 24. Juli traf

der englische Resident Major Cavagnari in Begleitung von 3 Offizieren,

50 Infanteristen und 26 Reitern in Kabul ein. von kurzer Dauer.

lich von aufständischen Truppen mordet.

mit seiner gesammten Begleitung

Somit begann der zweite Feldzug.

nug war,

Der Friede war aber

Am 3. September wurde Major Cavagnari angeb­ er­

Jakub Khan, der dreist ge­

sich im englischen Lager cinzufinden, wurde als Gefangener

nach Indien geschafft; Kabul besetzt. Unter beständigem, thcilweise blutigem

Kampfe mit afghanischen Streifcorps, welche die Verbindungen der englischen

Truppen mit Indien bedrohten, verging der Winter von 1879 auf 1880; aber noch immer war kein Nachfolger des abgesetzten Emirs in Sicht, mit

dem ein die Zukunft sichernder Vertrag hätte geschlossen werden können. Unter dem Eindruck der diplomatischen Niederlagen in Constantinopel und der militairischen Verlegenheiten in Afghanistan erfolgten im Früh­ jahr d. I. die Neuwahlen zum Unterhause, die wegen des nahen Ablaufs

der Legislaturperiode nicht länger hinausgeschoben werden konnten. Resultat

ist bekannt:

ein für die Betheiligten wie für

ligten überraschender Sieg

der Liberalen.

Das

die Unbethei-

Angesichts der unglücklichen

Lage der auswärtigen Politik Englands wird man es durchaus begreiflich finden, daß Mr. Gladstone und seine Freunde das von Lord Beacons­

field feierlichst verbürgte Ziel ver völligen Ausführung des Berliner Ver­ trags mit andern Mitteln zu erreichen versuchten.

Welches diese andern

Mittel sein sollten, hatten die „unverantwortlichen" Wahlreden des Herrn

Gladstone und seiner Freunde so deutlich verrathen, daß die Nachricht von dem Siege der Liberalen in Constantinopel panischen Schrecken und in

Wien lebhafte Besorgnisse für die Zukunft hervorriefen.

Die Stellung,

welche der Berliner Vertrag Oesterreich-Ungarn auf der Balkanhalbinsel

angewiesen, hat die handelspolitische Eifersucht Englands erregt. Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1. Heft 3.

23

Ocftet«

322

Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Bündniß.

reich hatte schon im Herbst 1878 Bosnien und die Herzegowina besetzt

und in eigne Verwaltung genommen.

Am 21. April 1879 kam die im

Artikel 25 des Berliner Vertrags vorbehaltene Verständigung zwischen

Oesterreich und

der Türkei über die Besetzung strategischer Punkte des

Distrikts von Novi Bazar, zwischen Montenegro und Serbien, zu Stande,

welche den neuen politischen Zustand und die Freiheit und Sicherheit der Verkehrswege Oesterrreich-Ungarns garantiren soll.

Unter diesen Ver­

kehrswegen ist offenbar die lang projectirte Eisenbahnlinie nach Salonkchi

zu verstehen.

Die Feindseligkeit gegen den Habsburger galt vor allem

dem handelspolitischen Rivalen, der durch die Donaustraße die Verbin­ dung mit dem Schwarzen Meere, durch die Eisenbahn nach Salonichi die Verbindung mit dem aegäischen Meere und den Verkehr nach Klein­

asien seinem eigenen Handel aus demjenigen des engverbündeten Deutsch­ lands eröffnen könnte.

Im Sinne der gemäßigten Wighs war die schleunige Ausführung der noch offenen Bestimmungen des Berliner Vertrags das Mittel, die Orientfrage zu schließen und England von den internationalen Verbind­ lichkeiten, welche ihm der Berliner Vertrag auferlegt, so bald als mög­

lich zu befreien.

Das Programm der radicalen Partei aber,

welches,

von dem Premier abgesehen, durch einflußreiche Mitglieder in der Re­

gierung vertreten ist, will den Berliner Vertrag nur als Hebel benutzen,

um, im edlen Wettstreit mit Rußland, der Unterdrückung der Balkan­ völker ein Ende zu machen und unter der Flagge einer Conföderation der Balkanvölker unter englischem Schutz dem Jnselreiche das Handelsmonopol

im Orient zu sichern.

Nicht umsonst hat Herr Gladstone dem gemäßigten

Staatssekretair deS Auswärtigen, Lord Granville den energischen Baronet Charles Dilke als Unterstaatssekretair beigegeben.

Sir Charles Dilke

war eS, der im Jahre 1871 wagte, sich an die Spitze einer Agitation für Einführung republikanischer Institutionen in England zu stellen, der

im Jahre 1873, allerdings

unter heftigem Widerspruch

des Premiers

Gladstone, durch den Antrag auf Rechnungslegung über die Civilliste

der Königin und die Ausgaben für Hofchargen einen ungeheuren Scandal

im Unterhaus« hervorrief.

In einer Anfang Mai stattgehabten Unter­

redung mit einem Mitarbeiter des Pariser „Voltaire", versicherte der neue

Unterstaatssekretair:

„Wer da glaubt, daß unsere Regierung nach außen

schwach sein wird, der irrt sich.

Wir werden für die europäische Politik

durchaus nicht gleichgültig bleiben; unsere Stimme wird sich zum Besten

der Freiheit

und des allgemeinen Wohlergehens der Völker Gehör zu

verschaffen wissen.

Im Verein mit dem republikanischen Frankreich und

dem freien Italien würden wir den gordischen Knoten der orientalischen

Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Bündniß.

323

Frage durch Errichtung einer Consöderation freier Staaten zwischen der Donau, der Adria und den griechischen Gewässern zu lösen suchen

Wir würden ebensowenig die Uebergriffe Oesterreichs, wie die Rußlands

dttlden.

Die Herzegowina und Bosnien dürfen weder den Oesterreichern,

noch den Türken,

noch den Russen gehören.

vielmehr frei sein und sich selbst regieren. unser Programm."

Diese Provinzen müssen

„Keine Bedrückung" das ist

Nach dieser Einleitung ist es nicht mehr überaschend,

wenn Sir Ch. Dilke seine Stellung zu Rußland also präcisirt: bin ebensowenig ein Rtlssenfresser als ein Russenfreund.

leichter Centralasien

gegen uns

gegen Rußland

aufstacheln,

„Ich

Wir könnten

als Rußland

Indien

Wenn die Slaven noch Barbaren sind,

aufstacheln könnte.

so trägt Niemand anders daran Schuld,

als das Auswärtige Amt in

St. Petersburg, ein Ministerium, in welchem man Deutsch spricht und die ganze äußere Politik seit zehn Jahren von zwei Preußen, den Herren

Westmann und Hamburger, und einem Schweizer, Wir hassen die russische Autocratie,

besorgt wird.

„Bourreaucratie";

wir hassen die Regierung,

dem Baron Jomini Büreaucratie und

welche Polen unterdrückt

und Ungarn wieder unter die österreichische Herrschaft gebracht hat; aber wir schätzen das junge Rußland, welches in Prag (!) und Moskau das

Selbstgefühl und den Edelmuth der slawischen Race erweckt hat."

Nichts­

destoweniger will der radicale Politiker von der Befreiung der Balkan­ slaven durch das junge Rußland nichts wissen; den slavischen Träumen

stellt er den

hellenischen Traum eines großen griechischen Staates mit

Constantinopel

als Hauptstadt

gegenüber.

Vorläufig wird

man dieses

Programm der englischen Radicalen nicht gar zu ernst nehmen dürfen; aber dasselbe bildet einen charakteristischen Hintergrund

für

die

große

diplomatische Action zur „Ausführung" des Berliner Vertrags — „Bis­

marck zum Trotz", wie der englische Unterstaatssecretair seinem französischen

Interviewer insinuirte.

Kaum hatte Mr. Gladstone den Fuß in den Steigbügel gesetzt und durch den berühmten Brief an den österreichischen Botschafter in London Ab­

bitte für die unklugen Angriffe des Candidaten Gladstone auf die Person des Kaisers von Oesterreich und die Politik des Kaiserstaates gethan, als Lord Granville

in einem Ende Mai erlassenen Rundschreiben an die

Congreßmächte gemeinsame Schritte bei der Pforte in Vorschlag brachte, um die letztere zur schleunigen Ausführung der auf Montenegro, Griechen­ land und die Reformen in Armenien bezüglichen Bestimmungen des Ber­ liner Vertrags zu veranlassen.

Der Gedanke,

diese drei Fragen zu­

sammenzufassen und dadurch das Interesse Englands an der Erledigung

der

armenischen Frage, das

Interesse Frankreichs

an

der

griechischen

324

Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Btiudniß.

Grenzfrage und daS Interesse Rußlands an der Befriedigung Montene­ gros in enge Verbindung zu setzen, war an sich kein unglücklicher; der

Erfolg dieser diplomatischen Action in Form identischer Noten ist aber bis heute noch ein problematischer.

Während in der montenegrinischen Frage, mag eS sich nun um Gu-

finje und Plawa, oder um daS Zem-Gebiet, welches die Pforte in der

Convention vom 12. April abzutreten sich verpflichtete, in Wirklichkeit aber den Albanesen auslieferte, oder um Dulcigno und die Bojana-Mün-

dung handeln, die Abneigung der albanesifchen Bevölkerung, welche in Noralbanien meist muhamedanifch ist, gegen die Herrschaft der Montene­

griner das Doppelspiel der Pforte erleichtert, tritt in Südalbanien die Rücksicht auf die meist christlichen ToSken, welche

gegen die Abtretung

Janinas an Griechenland protestiren, vor dem begreiflichen Widerstreben zurück, dem griechischen Königreich einen erheblichen Theil deS alten Epi­ rus und Thessalien, d. h. daS ganze PeneioS-Thal mit seinen Abhängen

abzutreten.

Die „interessante" albanesische Race wird freilich der Rege­

lung jener Grenzfragen nur so lange Hindernisse bereiten, als die Pforte das zuläßt.

Wie die albanesische Deputation, welche zur Zeit des Ber­

liner CongresseS die europäischen Höfe bereiste, in Wirklichkeit aus ver­

kleideten Muhamedanern bestand, so ist auch jetzt die albanesische Liga nur

der Deckmantel für den schlechten Willen der Pforte.

daß der District von Dulcigno nicht vorherrschend wohnt ist.

Ist es doch notorisch,

von Albanesen

be­

Und waS Janina betrifft, so wagt selbst die Pforte in ihrer

ablehnenden Antwort auf den Beschluß der Berliner Conferenz nur die

Behauptung, daß die Albanesen diese Stadt stets für die Hauptstadt von Unteralbanien gehalten hätten und daß sie dieselbe mit großer Hartnäckig­ keit festhielten.

Thatsächlich deckt sich die in der Conferenz beschlossene

Grenzlinie in keiner Weise mit der ethnographischrn Grenze.

Würde man

nur auf diese sehen, so müßte der Vorschlag deS russischen Bevollmäch­

tigten auf der Berliner Conferenz, nicht den Thalweg deS KalamaS, son­ dern die Wasserscheide nördlich desselben, also daS Gebiet bis zum Cap Stylo Griechenland zuzusprechen, als durchaus gerechtfertigt erscheinen. In Folge der „Mäßigung" der übrigen Conferenzmächte hatte dieser Vor­ schlag nur Has Verdienst, die Tendenz der russischen Politik, daS Einver­

nehmen der Mächte durch Ueberbieten der englisch-französischen Vorschläge

zu sprengen, hervortreten zu lassen.

England, Frankreich und Italien

aber blieben in dieser Frage wenigstens auf der gleichen Linie, und so

führten die Berathungen der Conferenz zu einem einstimmigen Beschlusse.

Je lebhafter die Befriedigung der englischen Politiker über diesen ersten diplomatischen Erfolg am grünen Tisch war, um so empfindlicher

Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Bünbniß.

325

wirkte die Wahrnehmung, daß Frankreich, welches seit dem Jahre 1878

das Verdienst in Anspruch genommen hatte, in der griechischen Frage die

führende Rolle zu spielen, jetzt, wo es sich um die Ausführung eines

Schiedsspruchs des europäischen Alreopags handelte, jeden Gedanken an

eine einseitige Intervention zu Gunsten des griechischen Schützlings peremp­ torisch zurückwies.

Gambetta, der wenige Wochen vorher Griechenland

als das französische „Schleswig" gefeiert hatte, scheint plötzlich zu der Er­ kenntniß gekommen zu sein, daß eine französische Intervention im Orient die Actionsfreiheit Frankreichs in Europa bedenklich gefährden könnte. Es

war das der erste Schatten, den das deutsch-österreichische Bündniß nach Westen und Osten warf.

Während so der „Mikado" der französischen

Republik sich mit etwas verlegener Miene hinter die Fronte zurückzog, kam zwischen Frankreich und Italien, dem dritten Verbündeten Sir Charles

Dilke's die tunesische Differenz zum Ausbruch.

Die Regentschaft Tunis, deren Theilung zwischen. Frankreich und Italien im Jahre 1870 der Preis einer französisch-italienischen Allianz

gegen Deutschland sein sollte, ist, seitdem Herr Waddington mit leeren Händen von dem Berliner Congreß zurückkehrte, das nächste Ziel der

französischen Mittelmeerpolitik geworden.

Die französische Presse, die es

liebt, den Ereignissen vorzugreifen, hat, seit das Ministerium Freyvinet

den Wiedereintritt Frankreichs in die europäische Politik proclamirte, die Entdeckung gemacht, daß Tunis „die Vorstadt von Algier" sei.

Unglück­

licher Weise ist diese Vorstadt der französischen Colonie in Afrika histo­

risch und handelspolitisch die Brücke, welche Italien mit Afrika verbindet. Als im Jahre 1871 eine

englische Gesellschaft die Concession für die

Eisenbahn erkaufte, welche Tunis mit dem Hafen Goletta

verbindet,

mußte sich der Bah verpflichten, weitere Concessionen zu Concurrenzbahnen nicht zu ertheilen.

Im Vertrauen auf diese Clausel erstand im Einver-

ständniß mit der italienischen Regierung, der die Zurücksetzung, welche

Italien von Frankreich und England in Aegypten erfahren, die Augen geöffnet halte,

battino, die

die

im vorigen vom

Gericht

Jahre ein zur

Auktion

italienischer Unternehmer,

gestellte

französische Gesellschaft Bona Guelma

auf eine fabelhafte Höhe getrieben hatte.

in

Bahnlinie,

Algier

Ru-

obgleich

den Kaufpreis

Als der Bey der französischen

Gesellschaft die Concession zum Bau einer Linie Tunis—Rades unter Be­

rufung auf jene Clausel verweigerte, erzwang Frankreich durch Absendung eines Geschwaders die Zusage von Concessionen für zwei neue Bahnen, welche

Tunis nach Nordwest mit dem Hafen von Bisesta, dem italienischen Kriegs­ hafen von La Spezzia gegenüber, nach Südost mit dem Hafen von Susa ver­

binden sollen. Die Rubattino'sche Bahn erhält dadurch eine um so gefährlichere

326

Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Bündniß.

Concurrenz, als die beiden neuen französischen Bahnen im Anschluß an die Bahn Algier—Tunis stehen.

DaS sind die Früchte der kopflosen und

mattherztgen Politik der Cairoli—Depretis, welche, dem Irrlicht der Italia irredenta folgend, die vitalen Interessen des Landes auf'S Spiel setzen. „Tunis, schrieb einst Mazzini, ist der Schlüssel für die Herrschaft im

Mtttelmeer; und es ist so mit den Seeverbindungen nach Sicilien und

Sardinien verkettet, daß sich Italien diesen Schlüssel nicht entreißen lassen darf.

Nach dem Falle von Carthago wurden in Tunis die römischen

Adler aufgepflanzt, und bis zum fünften Jahrhundert war es unser.

Heute strebt Frankreich nach dem, was unS gehört, und es wird es er­ halten, wenn wir nicht auf unserer Hut sind."

Hat Italien, nach den Er­

fahrungen, welche eS mit seinen englischen und französischen Freunden in Aegypten und Tunis gemacht, wirklich noch ein Recht, zu erwarten, daß

seine Aspirationen an der Ostküste des adriatischen Meeres, von denen Graf Corti auf. dem Berliner Congreß nicht einmal zu sprechen wagte,

bessere Berücksichtigung finden werden? Die Hoffnung Sir Charles Dilke's also, im Verein mit dem re­

publikanischen Frankreich und dem

freisinnigen Italien den gordischen

Knoten der orientalischen Frage lösen zu können, hat sich vorläufig we­

nigstens als eitel erwiesen.

Freilich befindet sich die Gladstone'sche Orient­

politik bis jetzt noch in dem vorbereitenden Stadium. Vor Allem ist die liberale Regierung bestrebt sich von dem afghani­ schen Hemmschuh zu befreien.

„Wir treten, sagte der englische Unter­

staatssekretär in der oben erwähnten Unterredung, die Erbschaft des Lord

Beaconsfield mit der Rechtswohlthat des Inventars an.

Die afghanische

Frage ist unS sehr lästig; doch hoffen wir, daß Alles aufs Beste für un­ sere Interessen ablaufen wird." kleinsten Theile erfüllt.

Diese Hoffnung hat sich bislang nur zum

Der neuen Regierung ist eS allerdings gelungen,

einen Candidaten für den Thron deS Emirs ausfindig zu machen, und

zwar in der Person Abdurrahman Khan's, eines Verwandten und Rivalen Schir Ali'S, der sich feit dem Ende der sechziger Jahre als Flüchtling auf russischem Gebiet aufgehalten hatte und jetzt die Gunst der Umstände zu

benutzen versuchte.

Sobald Abdurrahman Khan an der Spitze einer kleinen

Armee von Balkh aus die afghanische Grenze überschritten hatte,

be­

gannen die Verhandlungen wegen Anerkennung desselben zunächst nur als

Emir von Kabul, in denen sich der Nachkomme Dost Muhamed's als ge­ wandter Diplomat erwies.

sprechungen.

Die englische Regierung überbot sich in Ver­

Der neue Emir sollte auf ihre Unterstützung gegen äußere

Feinde rechnen können, wenn er sich verpflichtete, keine Beziehungen zu fremden Mächten d. h. zu Rußland ju unterhalten — ein Versprechen,

Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen BUndniß.

327

welches die Regierung, sobald sie sich sicher fühlte, auf die Zusage

jährlicher Subsidien reducirte. Die Regierung verzichtete auf das Recht, in Kabul eine beständige Vertretung zu unterhalten. Die englischen

Truppen sollten sich sofort hinter die im Frieden von Gundamak stipulirte „wissenschaftliche Grenze" zurückziehen. In Kandahar sollte zunächst eine

englische Besatzung zurückbleiben, in Rücksicht darauf, daß die Straße von Kandahar nach Kabul, welche auch im Winter Passirbar ist, die Verbin­ dung mit Herat beherrscht, dessen sich ein jüngerer Bruder Jakub Khans, Achmed Ajub Khan, der seine Feindschaft gegen England offen zur Schau

trug, bemächtigt hatte. Monate lang schleppten sich die Verhandlungen hin, bis endlich am 22. Juli die Anerkennung des neuen Prätendenten unter nahezu vollständiger Preisgebung der im Frieden von Gundaman

beanspruchten militärischen Positionen erfolgte. Jetzt wurde sogar die Räumung Kandahar's und des Peimar- und Schaturgadam-Passes zugesagt. Kaum aber war die Regierung in der Lage gewesen, diese „erfreu­ liche" Wendung dem Parlament mitzutheilen, als ein neuer Rückschlag eintrat. Ajub Khan, dessen Anmarsch von Herat her schon längst signalisirt, aber von dem nordwestlich von Kandahar mit 5000 Mann stehenden General Burrow nicht zeitig genug berücksichtigt worden war, schlug am 27. Juli die englische Streitmacht und brachte ihr so große Verluste bei, daß General Burrow sich in größter Eile auf Kandahar zurück­

ziehen mußte.

Die Hälfte des Burrow'schen Corps, auö Afghanen be­

stehend, war während der Schlacht zum Feinde übergegangen, der sich

nun anschickte, Kandahar zu belagern. Auf die Nachricht von der Nieder­ lage General Burrow's erhielt General Roberts Befehl, Kabul zu räumen und zum Entsatz des einige 60 deutsche Meilen entfernten Kandahar zu eilen. Am 28. August traf General Roberts bei Kandahar ein, dessen Belagerung Ajub Khan bei der Annäherung der englischen Truppen

aufgehoben hatte.

Am

1. September

griff General Roberts,

dessen

Armee etwa 10,000 Mann stark war, Ajub Khan an und stellte, durch den glänzenden, aber in seinen Folgen noch nicht zu übersehenden Sieg

bei Mali Baba die englische Waffenehre wieder her. Auf alle Fälle ist die Gefahr einer völligen Vernichtung der englischen Streitkräfte vor­ läufig beseitigt, wenn auch die Aussicht, die gänzliche Räumung Afghanistan's bis zum 1. Oktober in's Werk setzen zu können, erheblich getrübt ist. Für die nächste Zeit wird die englische Politik sich noch gezwungen sehen, mit der „lästigen" afghanischen Frage zu rechnen, selbst wenn Abdurrahman Khan das auf ihn gesetzte Vertrauen rechtfertigen sollte.

An

die ständige Besetzung auch nur der wichtigsten strategischen Punkte Afghanistan'S, dessen Ausdehnung diejenige Frankreichs weit überragt, kann

328

Die Orientalische Frage seit dem deutsch-österreichischen Bündnist.

England nicht denken; seine Truppen aber werden den Rückzug nach In­ dien immer nur

als Sieger antreten

dürfen,

Indiens nicht moralisch geschwächt aus dem

wenn die Beherrscher

langwierigen Unternehmen

hervorgehen sollen. Die retardirenden Momente der eigenen Politik und derjenigen der

beiden „Alliirten", welche bisher die Verwirklichung

der kühnen Con­

ceptionen Gladstone'S verhindert haben, glauben wir der bisherigen Dar­

stellung ziemlich vollständig berücksichtigt zu haben.

aber eventuell

Auf die abwartende,

zu entschiedenem Eingreifen geneigte Haltung Rußlands

und auf den Gegendruck, den die beiden Verbündeten, Oesterreich und

Deutschland, auSgeübt haben und heute noch ausüben, soll demnächst zu­

rückgekommen werden. DaS Resultat dieser Strömungen und Rückströmungen ist zunächst die Verflüchtigung des kühnen Projekts, die griechische Grenzfrage durch Ab­ sendung eines englisch-französischen Geschwaders nach dem ionischen und dem aegaeischen Meere einer raschen Lösung entgegenzuführen.

An die Stelle

deS zur Zeit der Berliner Conferenz in Aussicht genommenen englisch­ französischen Geschwaders ist nach monatelangen Verhandlungen das aus

Kriegsschiffen der sechs Großmächte gebildete combinirte Geschwader unter dem Commando des ViceadmiralS Seymour als Senior-Admirals ge­

treten, welches sich soeben in dem von österreichischer Seite zur Dispo­

sition gestellten Hafen von Ragusa bildet.

Ein Geschwader von Kriegs­

schiffen, mit dem ausdrücklichen Auftrag, jeden feindlichen Act zu ver­ meiden, ist eine der merkwürdigsten Anomalien.

Das englisch-französische

Geschwader, von dem im Juni die Rede war, hatte durchaus praktische

Zwecke.

Seine Anwesenheit an den griechischen Küsten sollte Griechen­

land, wenn es mit eigener Hand die Beschlüsse der Berliner Conferenz

zur Ausführung bringen würde, gegen die türkische Flotte schützen.

Die

Griechen aber weigerten sich, selbst unter dieser günstigen Voraussetzung, die Befreiung

ihrer unter türkischer Herrschaft stehenden StammeSge-

nossen, welche der Berliner Congreß und in aller Form die Conferenz als für die Lebensfähigkeit des griechischen Reiches unentbehrlich aner­

kannt hatte, ohne fremde Hülfe in die Hand zu nehmen.

Die Aengst-

lichkeit deS CabinetS von Athen spiegelt sich naturgemäß wieder in der „Flottendemonstration", die eine entscheidende Wirkung auf die Entschlie­

ßungen der Pforte nur auSüben kann, wenn das Ziel des friedlichen Kreuzzugs nicht die albanesische Küste, sondern die Dardanellen sind.

Notizen. M. Philippson: Geschichte des preußischen Staatswesens vom Tode Friedrichs des Großen bis zu den Freiheitskriegen.

Erster Band.

Leipzig, 1880.

Das vorstehende Werk hat sich die ebenso dankenswerthe als schwierige

Aufgabe gestellt, eine Geschichte des preußischen Staatswesens von 1786—1815 zu liefern: dankenswerth, weil wir — abgesehen von einigen durchaus ver­

alteten Werken (von Manso, K. A. Menzel, Förster) — für den benannten Zeitraum bisher fast ausschließlich auf einige kurze Abschnitte in den Werken von Hausier und Treitschke angewiesen waren, schwierig, weil das in Betracht

kommende Aktenmaterial noch unedirt im Geheimen Staatsarchive ruht, der

Berfafler also auf eigene Durcharbeitung und Sichtung deffelben angewiesen

war.

Vielleicht hätte derselbe sein Buch richtiger eine Geschichte der preußi­

schen Staatsverwaltung genannt, denn diese letztere bildet fast ausschließlich den

Gegenstand der Darstellung; die äußere Politik bleibt daneben außer Betracht

oder wird doch nur nebenbei als Erläuterung der inneren in kurzen Zügen angedeutet.

Freilich waren hier nach den

Forschungen Sybels, DunckerS,

Treiffchkes u. a. neue Gesichtspunkte und Resultate kaum mehr zu gewinnen.

Die Erschließung unbekannten bedeutenderen Quellenmaterials

zur äußeren

'Geschichte Preußens in dem Zeitraum von 1786—1815 scheint in nächster Zu­

kunft — wenn wir etwa von einigen zu erhoffenden Publikationen der dermaligen preußischen Archivverwaltung absehen - kaum bevorzustehen: durch die

Eröffnung der österreichischen Archive seit Arneths liberalem Regime und durch

eine ebenso umfassende als eindringliche Benutzung der übrigen in Betracht kommenden Archive Deutschlands und des Auslands im Laufe der letzten fünf­

undzwanzig Jahre ist die Forschung, wenn sie auch im Großen und Ganzen

die Grundlinie, welche Häuffer in seinem bekannten Geschichtswerke, fast nur

unter Benutzung der gedruckten Literatur in genialer und patriotischer Weise für die Geschichte des mehrgenannten Zeitraums gezogen, nicht hat verwischen

können, doch in zahlreichen Einzelpunkten zu völlig anderen Resultaten gelangt. Daneben blieb jedoch, abgesehen von der Darstellung der Stein-Hardenbergschen Reformen, die innere Geschichte Preußens fast ganz außerhalb des Be­

reichs der Untersuchung; erst jetzt, nachdem die Forschung für das Gebiet der

großen europäischen und deutschen Politik Preußens zu einem vorläufigen Ab­ schluß gelangt ist, wendet sie sich der Darlegung der gleichzeitigen inneren Ver­

hältnisse unseres Staates zu. Dem Verfaffer muß vorerst das günstige Zeugniß ausgestellt werden, daß er ein großes Quellenmaterial mit ausdauerndem Fleiß und sichtbarem Geschick

benutzt hat.

Das geheime Staatsarchiv bot ein Aktenmaterial von überwälti­

gender Fülle, nicht weniger bedeutend ist die gleichzeitige gedruckte Literatur, die namentlich in zahllosen Broschüren, Pamphleten, Zeitungen und Zeitschriften Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 3. 24

330

Notizen.

die gährende Bewegung der Zeit verräth.

Daß der Verfasser die mitgetheillen

Ordres, Berichte u. s. w. in ihrer originalen Form bringt, wollen wir nicht

tadeln, obschon uns diese Form doch zu wenig characteristisch für die Schreiber und deren Zeit zu sein scheint, als daß sie wie die Ausdrucksweise früherer Jahr­ hunderte ganz unverändert und unverkürzt mitgetheilt werden sollte; wohl aber

müssen wir es rügen, daß diese Quellenstellen sämmtlich im Texte, statt unter demselben abgedruckt sind, die Uebersichtlichkeit der Darstellung wird empfindlich beeinträchtigt, wenn dieselbe häufig durch solche Quellenmittheilungen unter­

brochen wird.

Auch sonst scheint uns der Verfasser in der ausführlichen Dar­

legung der innern Verwaltung Preußens des Guten häufig zu viel gethan zu

haben.

Die Vorverhandlungen zu erlassender Edicte u. a. sind meist viel zu

ausführlich mitgetheilt, Nebensächliches (wie die Angelegenheit des Predigers Schulz in Gielsdorf) mit einer ermüdenden Breite vorgetragen; der Verfasser hätte eingedenk sein müssen, daß die ganze Regierungszeit Friedrich Wilhelm II.

durchweg einen Stillstand, auf manchen Gebieten einen Rückschritt gegen das fridericianische Zeitalter bedeutet.

Keine festen Grundsätze, keine Consequenz

und Ausdauer, dafür unsicheres, von jedem Zufall des Augenblicks beeinflußtes Unlhertappen und Abspringen — das ist im Allgemeinen die Signatur der Staatsverwaltung unter Friedrich Wilhelm II.

Eine knappe, concise Darstel­

lung ist hier nicht nur am Platze, sie ist geradezu nothwendig, wenn der Leser ein klares Bild des Geschehenen gewinnen soll.

Der Verfasser gelangt mit

dieser weitschweifigen Darstellungsweise im ersten Bande nicht weit über das Jahr 1790 hinaus: das würde für einen Zeitraum von 28 Jahren sieben Bände

geben, wobei wir die für die preußische Verwaltungsgeschichte so hochwichtige Jahre 1807—1812 als einer ausführlicheren Darlegung bedürftig noch gar­

nicht in Anschlag bringen. Eine eingehende Kritik des historischen Urtheils des Verfassers kann hier

unsere Aufgabe nicht sein.

Wenn er in der Einleitung bezüglich der Aufgabe

des wahren Historikers bemerkt, daß derselbe stets auf den Gesichtspunkt der

Personen und die Lage der Verhältnisse, die er zu schildern übernimmt, zurück­

zugehen bemüht sein soll, so können wir dieser Auffassung nur aus vollem Herzen beistimmen. Nur hätte der Verfasser sich auch strenge an dieselbe halten müssen, anstatt durch häufige Abschweifungen auf das Gebiet persönlicher Be­ merkungen und durch Betonung seiner eigenen Anschauungen bei dem Leser

doch immer wieder die Ueberzeugung zu erregen, als seien jene Grundsätze eben nur schöne Worte.

Herr Philippson gehört zu jener Classe von Politikern,

denen das Laisser-aller im Staatsleben oberstes Gesetz ist. Alles soll sich frei

und ungehindert von dem Zwange und der Aufsicht des Staates entwickeln können, wenn schon dieser wieder gut genug ist, im Falle jene freie Entwicklung schief geräth, mit. seiner Hülfe beizuspringen.

Wenn diese Art Politiker Ge­

schichte schreiben, tragen sie ohne weiteres ihre Anschauungen, die noch nicht

einmal in der Gegenwart die Probe ausgehalten haben, auf entschwundene

Culturperioden über, indem sie auch bei diesen alle Mißstände als eine Folge

Notizen. des Abgehens von ihren Theoremen hinstellen.

331 Oder ist es vielleicht etwas

Anderes, wenn Herr Philippson das Fehlschlagen der wirthschaftlichen Reform­ versuche während der ersten Regierungsjahre Friedrich Wilhelm II. von deren

schutzzöllnerischem Charakter herleitet und dagegen annimmt, daß Alles sich herr­ lich gestaltet haben würde, wenn man nur von Staatswegen sich möglichst wenig

um Handel und Industrie gekümmert und namentlich die abscheulichen Schutz­ zölle beseitigt hätte?

Wir nennen dies eine unhistorische Auffassung, ja eine

Captivirung des Urtheils der Leser, weil Herr Philippson recht wohl weiß, daß staatliche Bevormundung und Unterstützung der Industrie des vorigen Jahr­ hunderts, welches Preußen noch unter der Nachwirkung der bis zur äußersten ma­

teriellen Erschöpfung geführten Kriege, in den ersten schwachen Anfängen wirth-

schaftlicher Entwicklung und in totaler Abhängigkeit von anderen wirthschaftlich weit vorgeschrittenen Staaten fand, ebenso nothwendig gewesen ist als dem Kornfeld Regen und Sonnenschein. Jenes Hineintragen moderner Parteiprin­ cipien in den zu behandelnden Geschichtsstoff hat Herrn Philippson auch in an­ dern Beziehungen ungeschickt und ungerecht urtheilen lassen: manches, was er

den reacüonären Bestrebungen einzelner Persönlichkeiten in die Schuhe schiebt,

erweist sich bei näherem Zusehen lediglich als der natürliche Rückschlag der

fridericianischen Politik.

Das mit so bewunderungswürdiger Scharfsicht und

Energie aufgeführte Staatsgebäude Friedrichs des Großen stand doch wieder insofern auf schwachem Fundamente, als alle Bausteine ihre Last schließlich auf

einen einzigen Grundstein, eben das persönliche Regiment des großen Königs,

Es war eine solche Einrichtung allerdings eine historische Nothwen­

entluden.

digkeit, sollte anders unser Preußen der Staat der Jetztzeit, der Führer und Einiger Deutschlands werden; aber mit derselben geschichtlichen Logik müssen

wir die Nothwendigkeit — nicht tadeln und kritisiren, sondern hinnehmen und zu begreifen versuchen, daß jenes Staatsgebäude ins Wanken gerathen und

schließlich zusammenstürzen mußte, nachdem jener Grund- und Eckstein aus ihm

herausgenommen war.

Wir begnügen uns für heute mit diesen kurzen Andeutungen und behalten uns ein näheres Eingehen auf den Inhalt des interessanten Buches bis zu dem Zeitpunkt vor, wenn die Darstellung die ganze Regierungszeit Friedrich Wilhelm II

abgehandelt haben wird.

CH. M.

Eine neue russische Stimme zur innerasiatischen Frage. Der russische Oberst Kostenko hat kürzlich eine militär-statistische Beschrei­

bung des Militärbezirks Turkestan herausgegeben,

an deren Schlüsse er in

Betreff der militärischen und politischen Beziehungen zu den Nachbarstaaten, speziell über die Turkmenen-Frage, folgendes sagt:

„Die Lösung der Turkmenischen Frage ist im Prinzipe leicht, da wir ja die Erfahrung bei Lösung der völlig analogen Kirghizischen Frage vor Augen haben.

Der in den Jahren 1864—1865 bewirkten Herstellung einer Berbin-

332

Notizen.

düng unserer weststbirischen und

orenburgischen Grenze

entspricht jetzt eine

Verbindung der Grenzen des Turkestanischen und des Kaukasi­ schen Militärbezirks.

Nur durch eine solche Verbindung unserer Grenz­

linie zwischen den beiden genannten Militärbezirken wird die Ruhe in der Turk-

menen-Hteppe herzustellen und der Feindschaft zwischen den verschiedenen Turkmenen-Stämmen ein Ende zu machen sein; dann wird ein geregelter Handels­ verkehr aus dem Bassin des Amu nach dem Ostufer des Kaspischen Meeres sich einrichten und eine direkte Verbindung des Europäischen Rußland mit Mittel­ asien sich eröffnen lasten, d. h. der Gedanke, den der Genius Peters

d. Gr. uns hinterlassen hat, findet seine Verwirklichung. Die Verbindung der Grenzen zwischen den Bezirken Turkestan und Kau­ kasus wird auch noch einen anderen wesentlichen Vortheil bringen. Unsere Ge­

biete grenzen dann unmittelbar an Persien und nähern sich den Gebieten Eng­

lands d. h. wir kommen in Berührung mit Mächten, welche internationale Ver­

träge zu halten wiffen, und mit denen das Eingehen regelrechter Beziehungen möglich ist.

Besonders nützlich wird für uns die Nachbarschaft eines so

starken und mächtigen Reiches wie England sein. Die Furcht der Engländer

vor unserer Annäherung an die Grenzen Indiens verschwindet allmälig, sie überzeugen sich, daß keine ehrgeizigen Gedanken und keine andern eigennützigen Berechnungen Rußland bei seiner vorschreitenden

Bewegung in Mittelasien

leiten, als nur der Wunsch dies Gebiet zu beruhigen, seinen produktiven Kräften

die Bahn frei zu machen und den kürzesten Weg für den Absatz der Produkte

Turkestans nach dem europäischen Theile Rußlands zu eröffnen."

Dem deutschen Leser sind derartige Anschauungen nicht mehr fremd. Neben einer ganzen Reihe politischer Abhandlungen ähnlichen Inhalts hat im vergan­ genen Winter ein Artikel der Preuß. Jahrbücher (Februar ff.) neben der poli­

tischen und wirtschaftlichen auch die militärische Nothwendigkeit eines solchen Vorgehens zu begründen versucht; es ist aber unseres Mistens das erste Mal,

daß ein russischer Officier und berufener Theilnehmer an den Vorgängen in Mittelasien die Herstellung einer zusammenhängenden Grenzlinie

zwischen den Militärbezirken Turkestan und Kaukasus, das Er­ reichen der Nachbarschaft mit den englischen Besitzungen und die

Verwirklichung der Gedanken Peters d. Gr. öffentlich als das Pro­ gramm des russischen Vorgehens aufstellt. Nicht minder bezeichnend ist es aber

auch, daß diese Veröffentlichung gerade zu einem Zeitpunkte erfolgt, wo Eng­ land den freilich vergeblichen Versuch macht sich von dieser Nachbarschaft mög­

lichst weit an seine indische Grenze zurückzuziehen.

Daß ferner Oberst Kostenko

für die Zukunft nicht blos an freundliche Beziehungen Rußlands zu England und Persien denkt, zeigt die Angabe in einem früheren Abschnitte des Buches, wo er ausdrücklich sagt, daß die Bassins des Serafschan und des Amu

als Berpflegungsbasis für eine beträchtliche Armee dienen können. Verantwortlicher Redacteur:

H. v. Treitschke.

Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.

Reiseeindrücke aus Sanwgitien (Schluß.)

Weit eindringender als die Autorität der Beamten ist die, welche die katholische Kirche, eigentlich die niedere Geistlichkeit auSübt. Das Volk

ist roh, die Ergebenheit gegen die Kirche entsprechend blind.

Die Pfarrgeist­

lichkeit steht auf einer niederen Bildungsstufe, ist geboren aus demselben rohen Volke, in dessen Mitte sie lebt. Jedes größere Dorf hat seine kleine armselige

hölzerne Kirche, neben welcher der Geistliche in einem Hause wohnt, das sich nicht von den umgebenden Bauerhäusern unterscheidet.

Sein Gehalt ist

sehr dürftig, der Lebensunterhalt fließt ihm hauptsächlich aus den Amts­

fahrten ein, auf welchen er, besonders im Spätherbst, von Bauerhof zu Bauerhof fahrend, sein Korn, Butter, Honig, Fleisch, Kartoffeln einheimst.

Die höhere Geistlichkeit hat zum größeren Theil ein gutes Einkommen, mancher

Propst bezieht seine 10000 und mehr Rubel im Jahr. In den Städten findet man meist stattliche große Kirchen, welche aus der Zeit der jesuitischen Gegen­ reformation zu Anfang des 17. Jahrhunderts herstammen und einstmals reich

mit Land bothet waren, bis die Staatsumwälzung von 1791 und dann die russische Regierung diesen Besitz einzog. Die zahlreichen Festtage und kirch­

lichen Feierlichkeiten bringen den höheren Geistlichen dieser Kixchen viel Geld ein. Ist ein Kalwarienfest im Lande, so sieht man die Schaaren der

Wallfahrer fünfzig und mehr Meilen weit herbeiströmen, und die Meisten bringen ihr Scherflein

dar.

Bon diesen Scherflein

veranstaltet dann

die Geistlichkeit der Kalwarienpfarre oder deS Klosters einen Markt, der

beträchtlichen Gewinn abwirft.

Der Klöster giebt eS nur noch sehr we­

nige, da sie staatlich aufgehoben worden sind: nur einzelne sind noch übrig gelassen, darin die letzten Kapuziner und Dominikaner ihr Leben beschließen dürfen; Novizen dürfen nicht ausgenommen werden, und so sterben auch

diese wenigen Klöster langsam auS. Die Kirchen sind gefüllt, der Beicht­ stuhl ist besetzt, und die Autorität dieser Führerschaft ist stärker als eine andere, weil sie die unmittelbarste, gegenwärtige und gewohnte ist.

WaS

die russische Regierung auch gethan hat, um der Reichskirche hier Stellung Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 4. 25

Reiseeindrilcke aus Samogitien.

334

zu schaffen, wie viel kostbare orthodoxe Tempel sie auch überall hat er­

bauen lassen: das Gefüge der römischen Kirche hat sich doch zu fest er­ wiesen, um so von Staatswegen gebrochen zu werden durch den absoluten

Mit der Propaganda für die griechisch-russische Staatsreligion

Willen.

ist es nichts und wird es wohl auch nichts werden.

Etwas mehr Erfolg

hat der Staat in seinem Bestreben gehabt, den örtlichen Katholicismus

von dem Polenthum zu trennen, mit dem er vordem völlig verwachsen war und dann auch sein Theil an den Aufständen für das Polenthum hatte.

Die Regierung war seit 1863 bestrebt, das Litthauerthum, das

Bauerthnm anch in der Kirche dem Polenthum entgegenzustellen. Bischöfe und Geistliche wurden vorzugsweise aus dem litthauischen Stamm gezogen und an der Hand oder durch die Hand litthauischer Bischöfe eine litthauischc Partei innerhalb der hiesigen Kirche großgezogen.

Es ist die

von der russischen Regierung überall befolgte Politik, das niedere Volk gegen die widerspenstigen oberen Klassen zu setzen, welche sie hier in der

Kirche angewandt hat.

Indessen dürfte sie sich auf dieses kirchliche Jung-

litthauen nicht allzu fest verlassen,

denn zuletzt ist die katholische Dis­

ciplin doch stärker als nationale Empfindungen.

Wie fest die katholische

Kirche hier steht, sieht man daraus, daß alle Verlockungen des Staats zum Uebertritt in seine Kirche vergeblich sind, obwohl er nicht zögert, mit

materiellen Prämien vorzugehen, beispielsweise in einem Bezirk den or­

thodoxen Landgensdarmen Schenkungen an Land macht und den anders­

gläubigen Collegen nur die Aussicht eröffnet, daß sie dasselbe sich ver­ dienen könnten durch den Glaubenswechsel,

und

dergleichen

mehr.



Materiell hat die katholische Kirche durch den Aufstand von 1863 unge­

heure Verluste erlitten, indem viele Güter confiscirt, die Klöster und viele Pfarren aufgehoben wurden.

Immateriell hat sie, wie es die Absicht

und Meinung der Regierung war, verloren durch die Vernichtung ihrer

Schulen.

Aber doch wohl nur scheinbar, denn die Beförderung der Ver­

dummung des Volkes, welche dadurch angebahnt worden ist, da keine

Staatsschulcn an die Stelle traten, hat wohl noch niemals der Macht

der Kirche geschadet, und so auch hier nicht. — Die katholische Kirche hat ihre wohlthätigen Wirkungen

auf das

Volk, sie hält es zusammen, befördert die Seßhaftigkeit, erhält die Auto­

rität.

Die Auswanderungslust,

welche in den Nachbarländern in Ost

und Nord zu Hause ist, blieb hier bisher unbekannt.

ihre Schattenseiten.

Fasten.

Aber sie hat auch

Dazu gehören in erster Reihe die Feiertage und

Es giebt schwerlich ein Land — das eigentliche Rußland aus­

genommen — in welchem das Volk so oft feiert als hier, man kann an­ nehmen, je einen Tag

wöchentlich,

meist zu kirchlichen, außerdem

zu

Reiseeindrücke ans Samogitien.

335

staatlichen Ehren, so daß nur höchstens 261 Arbeitstage übrig bleiben. Das Fasten wird

streng

geübt.

Es ist sonderbar,

daß die sonst so

praktische römische Kirche in dieser Beziehung so starr am tödtenden Princip

mag recht wohlthätig sein für Leute, welche durch

Das Fasten

hält.

vieles Essen und Trinken von dem. religiösen Bewußtsein abgezogen wer­ den, in Ländern, wo Fleisch und Fett unnütze Nahrungsmittel sind und

leicht blos die Lust des Fleisches nähren.

Aber wie kann man sich den

Nutzen der Enthaltung von diesen Speisen dort vorstellcn, wo diese Ent­

haltung eine leidige Regel der täglichen eisernen Nothwendigkeit ist, wo Fleisch und Fett eigentlich nothwendige Bedürfnisse sind und wo die re­ ligiöse Andacht durch den leeren Magen gestört wird, weil die ohnehin elende Nahrung zur Feier des Tages noch kärglicher

ausfiel?

Diese

Litthauer fasten aus Noth das runde Jahr über in Bezug auf Fleisch und Butter und alle kräftigen Dinge, und nun wird ihnen noch an zwei

Tagen der Woche und an sechs Wochen außerdem im Jahr untersagt, das bischen Fett zu genießen, welches sic auf ihr trockenes Brod legen.

Dabei fordert das rauhe Klima unbedingt eine tüchtige Menge Fettes zur Ernährung und Erwärmung des Körpers, besonders desjenigen eines

Ist es da nicht naturgemäß nothwendig, daß der Arbeiter

Landarbeiters.

das fehlende Fett und Fleisch durch ein anderes wärmeerzeugendes Mittel,

den Schnaps, ersetzt? Hat er zwei Tage gefastet, so greift er zum Brannt­ wein, sobald er Sonntags die Kirche verläßt und nicht zu den hier sehr

verbreiteten Genossen der Mäßigkcitstheorie gehört.

Wenn man trotzdem

hier so wenig Trunkenheit sieht — jedenfalls weit weniger als in Ost­ oder Wcstpreußen — so hat mir das stets eine achtungsvolle Verwunde­

rung abgenöthigt.

Denn ob der Branntwein hier auch theurer ist als

in Preußen, so fehlt es doch dem Bauern nicht an Geld ihn zu bezahlen wenn er trinken, über das Maß trinken wollte. — Nur die Feiertage und Fasttage bringen Trunkenheit zum Vorschein in größerer Menge.

ebenso

geht

es

bei

den großen

Osterfasten.

Osterfasten sind eine gefahrvolle Pest für daS Landvolk. Tage vor Beginn derselben wird

Lebewohl gesagt.

der

dem

Fleisch und

Am letzten

dem Branntwein

Das ist dann ein herzerschütternder Abschied.

überhaupt Branntwein genießt, vertilgt an diesem

Fleisch und Branntwein,

Und

Diese sechswöchentlichen

Tage so

Jeder viel

als er irgend hinunter bekommen kann, und

hält in der unbefangenen Art dieses rohen Volkes das wirklich für ein Vorausarbeiten, für eine Vorbereitung auf die karge Zukunft.

essen und trinken sich dabei krank.

Tausende

Dann kommen die sechs Fastenwochen,

und da der Körper der Leute ohnehin schlecht ernährt ist, so wird er von dem nun ganz ungenügenden Essen erst recht angegriffen.

Etwas Hanf25*

336

Reiseeindrücke aus Samogitien.

öl, etwas Fisch, Milch und schlechtes Brod aus unreinem Roggenmehl, Kartoffeln, und dabei die schwere Arbeit des Frühlings!

das Ende der Fasten.

Wochenlang schaut Alles

Nun kommt

gierig auf die vollen

Fleischtöpfe und gefüllten Schnapsbecher des ersehnten Tages hin.

End­

lich ist er da, Alles stürzt, ausgehungert und geschwächt, auf das Labsal, und es entsteht eine Schwelgerei, die, wenn man diese Körper und diese

Sinne in Betracht zieht, viehischer, ausschweifender, ärger ist, als die Gastmähler des Lucullus eS waren.

lich dieser Tag

Es ist nur natürlich, daß alljähr­

eine gute Anzahl von den armen Schwelgern mordet.

Das Osterfest wird stets zum Todestage so Mancher, und Krankheiten

und Betrunkenheit sind in seinem Gefolge.

Es ist eben immer derselbe

Unsinn, wie beispielsweise das Verbot des SchweineeffenS bei den Juden.

MoseS hatte, wie er in seinen Satzungen überhaupt weise war, so auch darin gewiß recht, das Schwein für die damaligen Wohnsitze seines Volkes zu verbieten.

Aber wenn das fette Schweinefleisch unter der Sonne

Jerusalems ungesund war, so ist eS äußerst gesund unter der Sonne Londons oder Petersburgs oder KownoS, und diese locale Gebundenheit

seiner Satzung muß der heutige Talmudjude in Litthauen und sonstwo theuer genug bezahlen.

Der dritte Herrscher neben Beamten und Pfaffen ist in diesem Lande

der Jude.

Der polnische Jude ist heutzutage in ganz Europa bekannt

und typisch geworden.

Reinheit der Rasse auf.

Unangekränkelt von Kultur tritt er hier in voller Ich glaube, daß kein Volk Europa'S so wehr­

los dem Judenthum gegenübersteht als das slavische mit seiner Energie­ losigkeit, Sinnlichkeit, Genußsucht, seiner passiven Schmiegsamkeit.

Der

russische Staat hat bisher nicht mit Unrecht sich vor der Kraft des Judenthums gescheut und daS nationale Rußland gegen dasselbe verschlossen.

In der Kunst deS Handels freilich steht der Russe dem Juden nicht zu weit nach, er ist auf diesem Gebiete rührig, gewandt, verschlagen.

Als

man einst Peter dem Großen vorschlug Rußland den Juden zu öffnen, soll der radikal-liberale Reformator seine Weigerung mit den Worten be­

gründet haben:

„Meine Russen sind selbst Juden genug".

gewiß nur auf die Befähigung zum Handel gemünzt.

Das war

Denn im Uebrigen

ist der Jude auch dem Russen ein sehr gefährlicher Nachbar, und wenn

ich kaum zweifele, daß daS Heranwachsende doktrinär-demokratische Rußland die alte Schranke brechen wird, so zweifele ich eben so wenig daran, daß

dieses von großen und üblen Folgen für die Russen sein werde. All jenen Eigenschaften deS slavischen Charakters paßt sich der Jude

so vortrefflich an, daß er ganz an den Körper deS SlaventhumS anwächst und sein parasitisches Leben in genauer Uebereinstimmung mit dem Wohl

337

Reiseeindrücke aus Samogitien.

und Wehe des Landes führt.

Neben dem traditionellen Beruf deS Han­

dels mit Waaren und Geld findet man hier auch eine erhebliche Menge von jüdischen Handwerkern, die einer wenn auch armseligen Production

obliegen.

Da das Land trotz seiner natürlichen Fruchtbarkeit doch arm

ist, so ist auch der Jude arm; und da er zahlreich ist, so daß der Handel nicht alle diese 2 7, Millionen russischer Juden ernähren kann, so ist er genöthigt, zu manchen Gewerben zu greifen — Schneider und Schuster,

Klempner und Glaser, auch Maurer und Schmied, vor allem aber Schenk-

wirth, Branntweinbrenner, Milchpächter.

werben hat

der Jude

die

and)

Und neben diesen ehrlichen Ge­

unehrlichen monopolisirt, als da sind

Hehlerei, Schmuggel, Pferdediebstahl und — Advocatur.

Ich kann den

deutschen Collegen vom Fach den Aerger nicht ersparen, des edlen Advocaten-

berufs hier in so verletzender Nachbarschaft erwähnt zu sehen.

So viel ich

sehe, ist nahezu die gesammte Advocatur hier in jüdischen Händen und

gehört zu den betrügerischsten, unsaubersten Gewerbsarten, mehr noch als

z. B. der Pfcrdediebstahl.

Um Advocat zu werden, bedarf es rechi geringer

Kenntnisse: russisch Lesen, Schreiben, Sprechen; Vertrautheit mit den Praktiken

und Kniffen der Behörden, einige Kenntniß mit den Gesetzen, das ist Alles. Der Knabe tritt erst als Laufbursche bei einem Beamten ein, wird dann

Copist, dann Schreiber und in ein paar Jahren thut er sich als Advocat auf.

Nun beginnt das Geschäft des Einfangens der Clienten.

In allen

Vorzimmern der Behörden lungert er umher und beobachtet die Ein- und

Ausgehenden.

Sobald sich eine sorgenvolle Stirn blicken läßt, ist

Jude bei der Hand und tröstet;

der

es giebt keine Sache, die so verzwei­

felt, kein Handel, der so schlimm wäre, daß sich daran nicht die lockend­

sten Aussichten, die rosigsten Hoffnungen knüpfen ließen, und da das Bäuerlein vom Gesetze eben so wenig oder noch weniger weiß als der Tröster, so läßt eS sich jederzeit überreden und überläßt seine verlorene

Sache gegen gute Vorauszahlung oder Antheil am Gewinn dem Verlocker.

In jedem Vorzimmer eines Friedensgerichts und Gattung

von

Behörde

Rechtsvertheidiger,

lauert

und die

eine

große

in

Meute

mancher anderen solcher

hungriger

lange Praxis sowie der Scharfsinn dieser

Wegelagerer bringt eö zu Wege, daß die ohnehin schwach besetzten Be­ hörden von der Last der unsinnigsten Processe und von der Wucht der

Frechheit und Sophistik meist

stark

beeinflußt werden.

Versucht nun

aber ein Richter sich von dieser Bande zu befreien, ihnen die Praxis zu

erschweren oder abzuschneiden, so vereinigt sich sofort die gesammte Juden­ schaft der Gegend zu dem Streben, den widerspenstigen Richter vom Amt

zu treiben, was denn auch oft genug gelingt. Wie mit der Verwaltung und dem Rechtsleben, so geht es mit allen

Reiseeindrücke aus Samogitien.

338

anderen Berufsarten, deren der Jude sich bemächtigt oder in welche er ein­

dringt.

Er zersetzt überall mehr, als daß er einte, er wirkt entsittlichend,

er arbeitet billig und schlecht.

Er könnte freilich in dem hiesigen Rechtsleben

nicht eine solche Rolle spielen, wenn dieses russische Recht nicht eine solche

wüste Anhäufung-systemloser Gesetze wäre, die überall der Spitzfindigkeit eine Handhabe bietet zur Verdrehung oder Umgehung des Buchstabens. Er könnte nicht so entsittlichend auf allen andern Gebieten wirken, wenn die öffentlichen

und privaten Zustände nicht auf einer so niederen, haltlosen Stufe ständen.

Allein, da es nun einmal so ist, da der Litthauer arm und geistig wenig, an Charakter noch weniger entwickelt ist, so hat daS Geld und der Ver­ stand deS Juden gewonnen Spiel. Denn während in diesem Lande Alles

Andere eine schlechte Organisation, eine nur sehr lockere Verbindung unter einander zeigt,

bildet daS Judenthum eine feste Körperschaft, eine ge­

schlossene Theokratie innerhalb der Monarchie, wodurch alle die Mittel

deS Erwerbes und der Macht in den Händen der Einzelnen gesteigert werden.

DaS Rabbinat mit seinem Talmud in der Hand beherrscht die

Masse des Judenvolkes in unvergleichlich höherem Grade

liche Gewalt eS thut.

als die staat­

Die Tradition und der Rabbiner sorgen dafür,

daß stets der Jude bei seinem Stamme Schutz findet gegen Unrecht und auch Recht des Christen, daß er stets in dem Bewußtsein seiner natio­

nalen Sonderstellung und Gegnerschaft gegen

alle Nichtjuden erhalten

werde. DaS Ergebniß meiner Erfahrungen geht dahin, daß in diesen Gegen­

den das jüdische Volk in Rücksicht auf die Intelligenz durchaus zu den obersten Klassen der Bevölkerung gehört, eine nationale Aristokratie der Intelligenz bildet; daß es aber andrerseits gerade in Verbindung mit dieser

hervorragenden Intelligenz sittlich eine unverhältntßmäßig niedere Stufe ein­ nimmt.

Ferner zeigt sich hier, daß der Jude in der äußersten Noth zwar

sich herbeiläßt zu manchen productiven Beschäftigungen zu greifen, und

zwar in der Stufenleiter der zwingenden materiellen Noth; daß er aber mit jedem Rubel, der sich in seiner Tasche mehr einfindet, sich auch wie­ der weiter von der körperlichen Arbeit zu entfernen sucht.

Man statte

jeden Juden mit tausend Rubeln aus und man wird keinen mehr finden, der den Hammer oder Hobel, geschweige denn die Schaufel führt; man

wird keinen finden, der als Werkmeister jene Instrumente führen läßt,

sondern das ganze Judenthum wird in Unternehmungen des Handels und

der Industrie aufgehen.

Von dem Pfluge läßt ohnehin auch der jüdische

Bettler stets die Hand. — Mit diesen Eigenschaften, mit einer Freiheit der Selbstverwaltung wie

sie keiner Provinz des russischen Reiches, keinem andern Volksstamm zwischen

339

Reiseeindrücke aus Samogitten.

Weichsel und Ural in solchem Maße gewährt ist, mit dem Fortwuchern einer GeisteSrtchtung, welche von keinerlei staatlicher Erziehung oder Unter­

richt in modernem Sinne gemildert wird, behauptet der Jude hier eine Stellung, die in geistiger Hinsicht stachelnd, belebend, in sittlicher aber um

so ätzender wirkt, und das eben so wohl auf die oberen Klassen wie auf den Bauer.

Materiell ist natürlich der Bauer am meisten in seiner Ge­

walt, der in bekannter Weise mit Schuldscheinen und Branntwein bear­ beitet wird.

Der jüdischen Dialektik gegenüber ist der Bauer, der zur

Zahlung einer Schuld eines Rubels bedarf, eben so wehrlos wie der, welcher mit seinem Korn zu Markte kommt oder dessen Gewissen zu einem

Diebstahl oder einem Prozeß überredet werden soll. Der Beutel des Bauern gewinnt dabei äußerst selten, und seine Moral niemals.

Moral! wo sollte

der litthauische Bauer die wohl gelernt haben unter der Zucht der drei führenden Klassen: Panthum, Pfaffenthum, Judenthum!

Und doch ist eS

damit wie mit dem Acker den der Bauer pflügt: der Acker wurde niemals gut bearbeitet, nothdürstig von oben angekratzt, trug niemals gute Ernte — aber ward auch nicht vernutzt, und sobald er gute Pflege erhält, so zeigt sich seine Dankbarkeit.

Der Bauer ward niemals gut behandelt,

geführt: aber die gute Kraft ist diesem Stamme geblieben, sie verlangt

nur guter Pflege, fester und vernünftiger Regierung und Leitung.

DaS

einzige Verdienst des hiesigen JudenthumS, welches ich zu erkennen ver­

mag, ist die Belebung in Handel und Wandel.

Niemand handelt so

leicht, schnell, billig, ist so unternehmend.' Als solches belebendes Werk­ zeug in der Hand einer festen Regierung, einer kräftigen Bevölkerung hat

der Jude seinen guten Werth. Das

polnische Element,

welches hier zu Lande großentheils

aus dem litthauischen Stamm hervorgewachsen, verpolteS Litthauerthum ist, hat nicht durchweg die üblen Eigenschaften, welche man sonst dem Polenthum nachsagt.

Ich meine hier hauptsächlich den niederen Adel, in

dem das shamaitische Blut stark überwiegt.

Das ächte Polenblut ver­

leugnet sich auch in dem hiesigen höheren und mittleren Adel nicht.

Wir

haben da die Magnaten, die mit großen Titeln und großem Grundbesitz prunken, und daneben den mittleren Grundbesitzer polnischer Abstammung,

der auf jene Magnaten schwört.

Eitelkeit ist bei beiden eine hervor­

stechende Eigenschaft, Willkür eine andere und Unbildung eine dritte. Fürst X, ein Nachbar meines Freundes, gebietet über mehre Quadrat­ meilen Landes.

Seine „Residenz", wie der Magnat seinen Wohnsitz zu

nennen pflegt, zeigt äußerlich ganz die Ansprüche eines herrschaftlichen

Schlosses.

Große Mauern umgeben den Hof, große Wappenschilder

schmücken daS Thor, durch welches wir einfahren, sowie die Thüren des

Reiseeindrücke aus Samogitien.

340

Schlosses, Säulen ragen über der Freitreppe auf, die uns ins Vorgemach führt.

Aber die

Mauern haben

nur

Mörtel be­

wenig von ihrem

halten, die Wappenschilder sind von Holz und die Farben darauf stark

vom Regen verwaschen, die Kapitale der Säulen sind dunkel von dem Unrath, den die Schwalbennester auSwerfen, am Schlosse ist manche Stelle

längst der Ausbesserung bedürftig, das Dach ist vielfach mit Brettern ge­ flickt.

ES ist Sonntag.

Vor der Freitreppe hält eine große altmodische

Kutsche mit sechs Pferden davor und zwei in blau und Gold glänzenden Livreelakaien hinten.

Auf dem Schlage und den Knöpfen der Lakaien

sowie des mit dreieckigem Hut bedeckten Kutschers breitet sich das fürstliche

Wappen aus.

Auf unsere Fragen erfahren wir, daß die Fürstin im Be­

griff sei zur Sonntagsmesse zu fahren.

Sie erscheint am Arm des

Fürsten^ gefolgt von Kammerlakai und Gesellschaftsdame, und fährt ab.

Sofort rollt eine zweite Kutsche mit vieren vor, gleichfalls mit Wappen

und betreßtem Kutscher, nur statt der Livreelakaien reiten zwei Leute in Kosakenuniform zur Seite des Wagens.

ab zur Kirche.

Der Fürst nebst Sohne fahren

Wir gehen die Freitreppe hinauf und werden von einem

mächtigen Thürner empfangen, wieder in großer Livree mit dreieckigem

Hut und hohem, goldbeknöpftem Stock.

halten die höflichste Einladung einzutreten.

Wir begehren Einlaß und er­

Dabei schlägt ein neugieriger

Windstoß den langen Schooß von der Livree des ThürnerS zurück und

wir bemerken, daß unter dieser vornehmen Hülle eine schmutzige Hose von

gröbstem Linnen und eine zerrissene Weste aus dem gewöhnlichen bäuer­

lichen Wollenzeuge sich befinden.

Da der Schloßherr nicht zu Hause ist,

so sind wir diScret genug nicht weiter vorzudringen, sondern fahren zu einem andern Nachbarn.

Unterwegs höre ich denn von meinem Freunde,

daß Fürst X. ein gefürchteter und gewaltthätiger Mann sei, der auf jede Weise seine Stellung im Lande zu erhöhen strebt.

Er bekleidet ein an­

gesehenes Amt, ist stets von Leuten belagert, die durch ihn etwas in dieser oder jener Behörde zu erringen wünschen, ist für Jedermann zu sprechen und hat für Jedermann das Benehmen herablassender Huld.

Allen öffent­

lichen Anstalten hat er Geschenke gemacht, keiner ein kostbare- oder be­ sonders werthvolles; von allen öffentlichen Anstalten hat er sich öffentlich

eine Danksagung erstatten lassen und jede einzelne hat er nachher und nach vorgängiger Anzeige mit seiner Besichtigung beehrt.

Die inneren

Verhältnisse aller dieser Anstalten sind ihm gänzlich unbekannt.

In der

Kreisstadt wird er von Jedermann ehrfurchtsvoll gegrüßt und hat für die Meisten höfliche Worte.

Dafür weiß man, daß ihm fast alle Mittel

gleich gut sind, wenn es gilt Jemanden, der ihn reizt, niederzuwerfen.

Er hat auf Leute schießen lassen, die ihrem Recht gemäß

in seinem

Reiseeindrücke aus Samogitien.

341

Walde ihr Vieh weideten, er hat Bestechung und Gewalt oft und erfolg­

reich

angewandt

um schlechte Sachen zu

günstigem Ende zu bringen.

Seine Stellung in der Provinz und in der Residenz, bei Hofe, ist eine solche, daß er noch fast immer Sieger blieb.

Es ist natürlich, daß er in

einer so demoralisirten Gesellschaft, als die hiesige ist, eines höheren An­ sehens genießt als die öffentlichen Autoritäten. —

Endlich langen wir beim andern Nachbar meines Freundes an, dem

Pan U, Eigenthümer eines Gutes von etwa 300 Hektaren. Das Wohnhaus steckt in einem ungepflegten Garten, der von einer Lindenallee nach allen Seiten

hin eingefaßt ist.

Sieben halbwilde Hunde, deren feder einer besonderen

Rasse anzugehören scheint, stürzen mit einem Gebell gegen uns vor, als

ob Wölfe in den Hof brächen.

Alle Gebäude hier sind aus Holz, mit

Stroh oder Schindeln gedeckt, einige darunter im Begriff einzustürzen, die Dächer vielfach schadhaft.

Der Eingang zum ebenerdigen Wohnhause

ist von einem sehr einfachen und alten Bretterhäuschen geschützt, Fenstern drin.

spannt.

mit

Davor steht wieder eine Kutsche, mit drei Pferden be­

Die Kutsche ist noch weit antiker als die fürstliche, die Gäule

davor schlecht gehalten

und

ebenso geschirrt.

Auf dem Bocke sitzt ein

simples altes Bäuerlein, nur ausgezeichnet durch die Reste einer silbernen Tresse an der Mütze.

Auf beut hinteren Tritte schwankt eine lange dürre

Figur mit blauer Mütze und langem blauem Rocke.

Aus Wißbegier

trete ich näher um zu untersuchen, welches Wappen auf den Metallknöpfen geführt wird, die mit Abwechselung von einigen Hornknöpfen bett blauen

Rock zieren.

Zu meinem Erstaunen sehe ich den russtschen Reichsadler

und lese um denselben die Bezeichnung „Ministerium der Volksaufklärung". Mein Freund lacht ohne mein Erstaunen zu theilen und beruhigt mich

über meine Sorge, daß ich da etwa einen würdigen Präzeptor, aus der nächsten Kreisschule vor mir habe.

Er meint, nur die Knöpfe oder auch

der Nock mögen wohl daher stammen.

Nach den Erfahrungen vor der

fürstlichen Hausthür konnte ich dem Reiz nicht widerstehen, auch bei diesem Lakaien nach der schwachen Stelle des Anzuges zu forschen, und fand,

daß die Füße dieser Kutschenverzierungett mit Lumpen umwunden waren und in Bastschuhen staken.

Auf unsere Frage erfuhren wir daß der Pait

ebenfalls sofort zur Kirche eile, weshalb wir die weiteren Besuche auf­

gaben und nach Hause zurückkehrten.

Mein Freund erzählte mir, dieser

Pan I sei an Bildmtg ein Bauer, und lebe wie ein Bauer.

Aber er

sei sehr eifersüchtig auf die Anerkennung seiner adligen Stellung und strebe darnach sich in die Sphäre des Magnatenthums möglichst zu er­

heben.

Daher versäume er nie zur Kirche zu fahren sobald der Fürst X.

die Kirche besuche, tittb sich dort im Gespräch mit einem Gliede der fürst-

342

Reiseeindrücke aus Samogitien.

lichen Familie dem Volke zu . zeigen.

Daö erhöhe seine Stellung beim

Volk, wofür wiederum das Ansehen deS Fürsten wachse durch die Ehr­

furcht, welche Pan A ihm erweise. DaS ist daS alte Polenthum.

Es giebt aber auch ein junges Polen-

thum, welches durch lebhafteren Verkehr mit Fremden jene häßlichen Cha­

rakterseiten vielfach überwunden hat, seinem Beruf lebt.

welches arbeitsam

und intelligent

Auch ist daS polnische Element schon vielfach durch­

setzt von deutschen Grundbesitzern, welche dazu beitragen, die Härten der polnischen Art zu mildern.

Und im Ganzen hat der mittlere, zwischen

Magnaten und niederer Schlacht« stehende polnische Grundbesitzer auch

heute noch, wie in früheren Jahrhunderten, am meisten Kulturkraft.

In

diesem Stande findet man am meisten Arbeit, Sparsamkeit, bürgerliche

Tüchtigkeit. — Vom hiesigen Polenthum wäre niemals eine polnische Revolution

ausgegangen, und wenn Litthauen mit dabei war, so trieb nicht sowohl jener polnische Nationalpatriotismus dazu an, als vielmehr soziale und

materielle Verhältnisse.

Der Pan, der große Grundbesitzer, wünschte sich

zu der altpolnischen Herrschaft zurück, welche ihm volle Willkür im Lande

sicherte; der polnisch-litthauische Schlachtiz aber, der kleine Edelmann, das Hauptcontingent der Revolution, war und ist mit gutem Grund zu jedem

Umsturz bereit, weil sein Adel nichts mehr gilt, seit das Polenthum zu herrschen aufhörte, und er thatsächlich wenn auch nicht förmlich zum ge­ wöhnlichen Landbauern herabgedrückt worden ist, weil er grimmig oder traurig in sein Adelsdiplom aus der Zeit König Augusts H. oder Kasimirs

schaut und täglich sieht wie sein Nachbar eS besser hat blos weil er nicht

„adlig" ist.

Er hat wenig Glück mit diesem Dokument, wenn er versucht

brauchte mein

sich damit Stellung zu schaffen.

Einst

„Buschwächter" oder Waldaufseher.

Unter Anderen erscheint ein Candidat

Freund

einen

mit litthauischem Namen, er empfängt ihn mit dem üblichen „Du" und

läßt ihn an der Thür stehen, während er auf und ab wandelnd mit ihm

verhandelt.

Alsbald zieht der Pole ein Papier hervor, sein AdelSdiplom,

das mein Freund als nicht zur Sache gehörig durchzusehen verweigert. Mein Freund steckt im Gehen eine Cigarre an, Herr „von Gentillo" be­ nutzt den Augenblick um sich auf einen Stuhl niederzulassen und eine Cigarette hervorzuholen.

Ehe er zum Rauchen kommt bedeutet ihn mein

Freund, daß er sich nicht in der Schenke befinde, etwas in barschem Tone, worauf denn von Stund an der Edelmann verschwunden war und Herr Gentillo sich betrug wie ein anderer Bauer, freilich mit der Zugabe, daß er mehr als Andere sich mit Pferdediebstahl beschäftigte. — Aber das ist es, daß das unglückliche Dokument immer in der Tasche sitzt und Gentillo

343

Reiseeindrücke aus Samogitien.

und den Tausenden Seinesgleichen, die größtentheils weder zn lesen noch

zu schreiben verstehen, den Kopf verdreht, daß sie sich berechtigt glauben sich für Beraubte zu halten und dann bereit sind den Polensäbel zu schwingen wenn ein Pan ihnen sagt, es gelte die polnische Freiheit und die polnische

Schlachta wieder aufzurichten.

Wären sie noch vollständig zu Bauern ge­

macht, auch formell ihrer Diplome beraubt oder entledigt worden, eS wäre besser für sie.

Jetzt haben sie ihre Diplome, die ihnen nicht nützen, und

haben nicht die diechte der Bauern, welche ihnen von großem Nutzen hätten

sein können.

Denn nun sind sie sämmtlich bei der Landablösung leer aus­

gegangen und haben nicht einmal das Recht, Grundeigenthum zu kaufen für ihr gutes Geld.

Das erbittert diese Leute, das treibt sie gewaltsam

in die Hand der polnischen Grundherren.

Darin besteht für die hiesige

Schlachta (den kleinen Adel) die ganze polnische Frage, und man vertilge

jene Documente, so wird sich die Schlachta schon beruhigen.

Ein polni­

sches Bürgerthum giebt es hier nicht, wie es in Eongreßpolen und Galizien

besteht.

So

ist das

ächt und unächt

polnische Element in Wahrheit

numerisch nicht groß gegenüber dem litthanischen.

Ein polnischer Aufstand

hätte fortan hier keinen Boden mehr, seit das Litthauerthum durch die

Befreiung der Bauern ans eigene Füße gestellt ist.

Und je mehr der

Litthauer erstarkt, um so mehr saugt er das riiedere Polcnthum auf, und

es wird nicht gar zu lange dauern, so

sind diese Gebiete wieder

so

litthauisch als sie vor Jagello und der Vereinigung mit Polen waren.

Dann erst beginnt wieder der Kampf um die nationale Herrschaft, und dann könnte es allerdings Rußland gelingen, den Sieg 311 erringen, das

Litthauerthum zu verschlucke«, natürlich vorallsgesetzt daß dann diese Ge­

biete noch wie heute staatlich zu Rußland gehören.

Dann wird eben der

Schutzwall gefallen sein, welchen das Polenthnm bisher der Russifizirung

auch des LitthauerS entgegenstellte.

Es ist dasselbe Verhältniß hier wie

in jenen russischen Ostseeprovinzen, wo heute das deutsche Element herrscht:

ist das Polenthum hier, das Deutschthum dort erst gebrochen, dann werden

Litthauer wie Letten weit leichter voit dem höher stehenden Russenthum überwältigt werden. —

Vorläufig blüht daS Litthauerthum auf, wenigstens materiell.

Der

litthauische oder shamaitische, auch shmudische Stamm Rußlands zählt

über eine Million Köpfe; er gehört zur indogermanischen Rasse und hat seine

nächsten Verwandten in den Letten; seine Sprache soll nach der Ansicht der Sprachforscher dem Mutteridiom unserer Rasse, dem Sanskrit am itächsten stehen unter den bekannten Sprachen Europas.

Der Name Shmude ist ur­

sprünglich wohl kein nationaler Eigenname. Im östlichen Theil des Gebietes

herrscht der Name Litthauer vor; der Bewohner des, die Küste des Meeres

Reiseeindrücke aus Samogitien.

344

berührenden Westens nennt sich selbst „Niederländer" oder Shamaite, was dem deutschen Samogitier entspricht, während er unter Shmude ganz all­

gemein das Volk, die Menge, die Leute, Viel oder Viele versteht. Daher hat

der Russe diesen Sammelbegriff in einen Eigennamen für den litthauischen

Volksstamm verwandelt.

Der Litthauer hat nie eine nationale Kultur

gehabt, auch vor seiner Verbindung mit dem Polenthum im 14. Jahr­

hundert nicht.

Seit dieser Verbindung wurde er als Nation Sklave des

höher entwickelten PolenthumS, und diese nationale

fünfhundertjährtge

Sklaverei ist in ihren Wirkungen auch heute leicht erkennbar.

Aber die

Herrschaft verschiedener Völker, die auf ihm ruhte, der Polen, der Deut­

schen, der Russen hat ihm eine gewisse Geschmeidigkeit verliehen, die ihn befähigt, unter guter Leitung und Herrschaft rasch emporzukommen.

Er

ist durchaus seßhaft und Ackerbauer, weit mehr als der Pole und der

Russe eS sind.

Dabei ist dieser schmächtige, magere, aber sehnige Shmude

intellectuell gut begabt und für seine Verhältnisse ausdauernd. kulturlich höher als der russische Bauer.

Er steht

ES ist fast wunderbar, mit wie

Wenigem der Litthauer zufrieden dahinlebt.

Er ist grade wie sein Pferd,

dieses kleine Thier mit zottigem Haar und gesunden Beinen, das neuerer Zeit zahlreich nach Preußen gebracht wird,

kennen

lernt sein Lebelang

Ein

Litthauer

ihm

ein

erscheint

Stück

wüsten

bei

in

das keinen Hafer

und doch unverwüstlich ist in der Arbeit.

meinem

Landes

Freunde

verpachten.

und Im

bittet, nächsten

er

möge

Frühjahr

thürmt er fünf bis sechs im Winter herbeigeholte Balken im Geviert

auf, deckt ein Strohdach drüber, führt einen großen Ofen innen auf, macht ein Fenster und eine Thür hinein, und die Wohnung

ist fertig.

Darin lebt er mit Frau und Kind; unter einem Abdach, das an der

Wohnung anliegt, steht das Pferd, die Kuh, drei Schafe. sieht man bis in den Winter hinein im Hemde umherlaufen.

Die Kinder Die Frau

geht oft hinter« Pfluge, hinter der Egge her, spinnt und webt für die

Kleidung, besorgt das Essen; der Mann schafft das Uebrige im Felde. Fleisch wird nie, außer höchstens zu Ostern und vor den Fasttagen ge­ gessen, unreines Brod, Milche Kartoffeln, allenfalls Fett machen die

Nahrung aus.

Dabei wird Sommers oft von früh vier bis Abends neun

Uhr, mit einer Mittagsruhe, gearbeitet. die eines schwachen Menschen.

Allerdings ist die Arbeit auch

Sonntags zur Kirche und Schenke, Frei­

tags zum Markt und zur Schenke; das sind

die Vergnügungen.

Ich

schildere hier natürlich nur die Armen; der Reiche lebt besser, sauberer,

bequemer, fährt öfter zum Markt mit zweien, auch dreien.

Mit jedem

Jahre gewinnen gegenwärtig die Höfe dieser Wohlhabenderen ein blühen­

deres Aussehen, besonders in den Landstrichen, wo der Shamaite nicht

Reiseeindrücke auS Samogitien.

345

in Dörfern, sondern in Einzelhöfen wohnt, das ist zwischen Windau und Memel, im Herzen des alten Samogitien, und es macht sich um so stärker

der Widerspruch merkbar, der zwischen diesem äußern Wohlbefinden, der

Klugheit und dem Grade der geistigen Beweglichkeit dieser Leute einerseits und der

völligen Leere ihres Wissens besteht.

Bei dem Mangel

an

Schule und dem Berbot litthauischer Drucksachen, von dem ich unten noch

reden werde, ist die geistige Entwicklung des Litthauers gänzlich auf die Erfahrungen des praktischen Lebens gegründet, so daß man oft den Eigen­

mit großer Schärfe der Auffassung

thümer eines solchen Bauernhofes über seine Rechtsverhältnisse

und auch über allgemeinere

Dinge kann

reden hören und dabei die Beobachtung machen, daß er niemals den Ver­ such gewagt habe, die Theorie der vier Spezies sich anzueignen oder sei­ nen Namen anders als durch drei Kreuze oder durch Beidrückung eines Petschaftes zu Papier zu bringen.

Die Größe des bäuerlichen Grund­

eigenthums wechselt zwischen etwa einem und vierzig Hectaren, die Ab-

lösungszahlnngen, welche dafür an den Staat gezahlt werden, der seiner­

seits die Gutsbesitzer einigermaßen entschädigt hat, beträgt 1 Rubel 20 Kopeken bis über 3 Rubel für den Hectar jährlich, eine geringe Summe,

da darin Zinsen und Kapitaltilgung eingeschlossen sind.

Der Bauer ist

fleißig wie er es versteht, aber leider versteht er nicht viel davon.

Er

liebt es, wenn sein Acker nicht zn wenig Sand enthält, weil er dann leichter

zu bearbeiten ist; sein Geräth und Haus sind leicht und billig gebaut, seine Erzeugnisse schlecht und billig.

Wo er aber ein Vorbild besserer

Wirthschaft vor Augen hat, da eifert er mit Verständniß nach. Wie man

aus dem Vorhergehenden

entnehmen

kann, ist der gute Verstand des

Litthauers mit keinerlei Schulweisheit belastet.

Seine ganze empirische

Weisheit bezieht er aus dem Kampf mit jenen drei Gewalten

WaS er

da lernt, ist denn auch nicht eben was im Katechismus für Volkserziehung

zu finden wäre.

Seine natürliche Intelligenz setzt sich in Verschlagenheit

um; seine täglichen Erfahrungen mit dem Juden machen ihn leicht zu einem

verhältnißmäßig

geriebenen

Geschäftsmanne;

die

Rechtlosigkeit

früherer Jahrhunderte und die Rechtsunsicherheit oder wenigstens die ge­

ringe Entwickelung des Rechtslebens in der Gegenwart fördern nicht das

Wachsthum feines Rechtsbewußtseins; aus einem Sumpf moralischer Ver­ kommenheit konnte der Bauer von heute nicht plötzlich in makelloser mo­ ralischer Reinheit emportauchen, vielmehr ist sein moralischer Charakter

ein recht unsauberer, er lügt, stiehlt, betrügt gern und viel, und vor

etlichen Jahren noch sagte mir

ein Kenner des

Landes

mit

gutem

Grunde: der billigste Artikel im Lande seien falsche Zeugen, da man ihrer überall und stets für 60 Kopeken den Kopf (etwas über eine Mark) be-

Reiseeindrücke aus Samogitien.

346 kommen könne.

Aber auch hierin bemerkt man leicht die rasche Wirkung

besserer heutiger Justiz und die Wirksamkeit der besseren Leitung wohlge­ sinnter Gutsbesitzer.

den.

Gute Kultur würde auch dieses Unkrauts Herr wer­

Dabei ist es ein leichtlebiges heiteres Volk,

und Liedern.

überreich an Sang

Wie tönt am Sommerabend überall Acker und Wiese von

dem Gesang der Arbeiter!

Hinterm Pfluge, mit der Sense in der Hand,

so gehen sie gern singend ihrer Arbeit nach; und kaum ist die Tages­

arbeit beendet, so sieht man im Nu die Arbeitenden zu Gruppen zusammentreten, einen Jeden mit dem Werkzeug in der Hand,

das er eben

führte, die Männer mit der Sense oder Sichel, die Weiber mit der Harke,

und der dreistimmige Gesang beginnt, mit dessen Klängen sie nach Hause ziehen.

Da giebt es traurige und lustige Weisen, Liebeslieder und Helden­

lieder in erstaunlicher Fülle.

Ein Vorsänger oder Vorsängerin beginnt

gewöhnlich die Strophe mit ein paar Versen, worauf dann wieder ein

paar Verse Chorgesang schließen, stets mit einem lang gehaltenen drei­ stimmigen Schlußaccord.

In

historischer Vorzeit, besonders

die

Balladen

mischen sich

Sagen aus

gern von dem litthauischen Jagello; die

polnische Herrschaft mit ihren stolzen und gewaltthätigen Panen, der Soldatendienst, Liebe und Tanz finden stets neue Dichter und Formen. Hier ist ein noch wenig bearbeitetes reiches Bergwerk für die Forscher

und den Freund der Volkspoesie. ES läßt sich leben in diesem Lande trotz aller Unkultur.

Denn es

läßt sich überall leben, wo die Natur mit ihren Gaben nicht allzusehr gekargt hat und wo das gemeine Wesen im Vorschreiten begriffen ist. DaS ist aber hier heute beides der Fall.

DaS Land ist ausschließlich dem

Ackerbau gewidmet. Daß der Ackerbau vorschreitet, dafür zeugt am sichersten der Gang des Bodenwerthes.

Bor zehn Jahren kaufte man den Hektar

Landes, in größeren Wirthschaften, mit Acker, Wiese, Weide und Wald,

duchschnittlich zu etwa 25 bis 40 Rubeln.

Heute wird der Hektar bezahlt

mit 60 bis 100 Rubeln, und der Preis steigt alljährlich. Holzes ist in zehn Jahren um daS vierfache gestiegen.

Der Preis des

Zwei Eisenbahnen,

welche seit sieben Jahren durchs Land gebaut worden find, die Libauer Bahn mit ihrer Zweigstrecke Kalkuhnen—Radsiwtllischek, haben wenigstens auf einen Theil dieses Guberniums von Kauen oder Kowno, darin wir unS befinden, anregend gewirkt.

Ganz allmählich dringen Ordnung und

Rechtspflege vor, und besonders das Verständniß für den Segen beider.

Thäte der Staat mehr für Bahnen und Verkehrswege, so würde das

Land sich rasch heben.

Denn an Bevölkerung mangelt es nicht: es wohnen

hier über 1500 Menschen auf der Quadratmeile, mehr als in den be­

nachbarten Ostseeprovinzen Kurland und Livland.

Die.Nähe der Hafen-

Reiseeindrücke auS Samogitien.

347

Plätze Königsberg, Memel, Libau und Riga gewähren einen bedeutenden

Vorsprung gegenüber den innerrussischen Ausfuhrgebieten.

Das Klima

ist nicht all zu rauh, wenn auch ein ausgesprochen nordisches; die Meeres­

nähe mildert und bringt häufige Niederschläge.

Die Fläche des bebauten

Landes hat sich seit zehn Jahren sehr beträchtlich ausgedehnt infolge ein­ mal der Emanzipation des Bauern und dann der Noth der polnischen Gutsbesitzer, welche finanziell gedrängt waren ihre Wälder zu Gelde zu

machen.

Ein Hinderniß deS Fortschrittes ist die falsche Politik der Re­

gierung, noch immer die Ucbergangsperiodc der Bauernbefreiung nicht abgeschlossen zu haben.

Es giebt noch immer ganze Klassen von Bauern,

welche nicht unter das allgemeine bäuerliche Recht und Verwaltung ge­

stellt sind, sondern als sogenannte „freie Leute" unter besonderer Vor­

mundschaft der Regierung stehen.

Es giebt ebenso noch ungeheure Strecken

Landes, welche entweder als bäuerliche Gemeinweiden oder als zum Groß­ grundbesitz gehörige Wälder, in welchen den Bauern die Weideberechtigung

von der Regierung verliehen worden ist, einer rationellen Kultur unzu­ gänglich

bleiben

und

sehr dazu beitragen, daß die Eigenthums-

Rechtsverhältnisse sich nicht rascher klären,

hiedurch

die

ganz abgesehen davon,

Beziehungen zwischen Gutsherren und Bauern

fort vergiftet, daß die Wälder von Jahr zu Jahr

und daß

fort und

verwüstet werden.

Die Arbeitslöhne haben sich gegenüber dem steigenden Bodenwerthe nur wenig gehoben.

Der Jahrcsknecht, der sechs Tage wöchentlich mit Aus­

nahme der Feiertage arbeitet, und dessen Weib 30 bis 40 Tage unent­ geltlich arbeiten muß, kostet in Geld, Getreide und anderm Zubehör im

Ganzen etwa 100 bis 125 Rubel jährlich.

Und das trotz der hohen Korn­

preise und der Entwerthung deS Papiergeldes, welche seit dem letzten Kriege gegen die Türkei Platz gegriffen haben.

Es ist das, nebenbei gesagt, eine

Erscheinung, welche die volkswirthschaftlichen Doctrinäre sich überlegen sollten, welche behaupten, das Sinken des Geldwerthes habe zur unmittelbaren Folge daS Steigen der Arbeitslöhne.

DaS mag wohl gelten für Länder von hoher

Kultur und starker Industrie, für Gebiete, in welchen die Raschheit deS städtischen Lebens und Verkehrs jeden Wechsel in den allgemeinen wirth-

schaftlichen Grundverhältnissen sofort in allen Gefässen des Volkskörpers

spüren läßt.

Nicht

aber in

Stoffumsatz langsam vollzieht.

einem ackerbauenden Staate,

der seinen

Der Jahresarbeiter hier in Litthauen hat

vor zehn Jahren ziemlich 100 Rubel gekostet, als der Rubel 28 Silber­ groschen und 29 Werth war, und er kostet heute fast eben so viel, wo der

Rubel 20 Silbergroschen gilt.

Und die Erklärung ist sehr einfach: die

Gegenstände des internationalen Verkehrs, welche von dem Geldkurse be­

rührt werden, liegen außerhalb der Verzehrbedürfnisse des Bauern. Der

Reisreindrücke aus Samogitien.

348

Bauer lebt von dem Korn, daS allenfalls etwas im Werthe höher steht,

ferner von den Kartoffeln und sonstigen Gartenfrüchten, die er baut, von

dem Schwein und der Gans, die er aufzieht, von dem Flachs, Hanf und der Wolle, daraus er sich Kleider, Garn, Stricke bereitet.

Diese Dinge

sind ganz dieselben geblieben, ob der Rubel 30 oder 20 oder 10 Groschen werth ist, und somit ist der Bauer damit zufrieden und thut nicht, was die Nationalökonomen von ihm verlangen: er richtet den Preis

Arbeit nicht nach dem Werth des Geldes.

seiner

Denn der Betrag des Geldes,

der durch seine Hände geht, ist sehr gering: der Geldumsatz eines hiesigen

Arbeiters ist jährlich 20 -bis 30 Rubel.

Natürlich rede ich nicht von

demjenigen Bauern, der über dem Arbeiter steht, von dem Wohlhaben­

den, dem Grundbesitzer oder Pächter, der den Kaffee theurer bezahlt und den Thee, das Eisen und Leder, der sein Korn zu hohem Preise absetzt

und dann auch bereit ist, für Grund und Boden höheren Preis zu zahlen, ohne zu merken, daß hier das Sinken des Geldwerthes mit im Spiele ist- Eine eigenthümliche Charakterlosigkeit zeichnet dieses Land der natio­

nalen Kämpfe und der dunkeln politischen Zukunft aus, auf welchem der

Fluch der Völkermischung ebenso gelastet hat und lastet, als auf all jenen

weiten Gebieten, die heute Rußland vom übrigen Welttheil trennen: Finn­ land, Ostseeprovinzen, Polen, Südlitthauen, Galizien, Bukowina, Donau­

lande.

Nirgend in dieser ganzen Kette hat sich ein Volk zu vollkommener

Leitung emporgeschwungen, hat eine eigenartige Kultur die unbestrittene Herrschaft erobert.

DaS einzige Polen ist volklich und kulturlich wenig­

stens einmal einheitlich seinen Weg gegangen, bis auch dort ein Stärkerer in den Weg trat, bis auch dort noch einmal der Streit entflammt ist zwischen dem national und kulturlich geeinten polnischen Volke und dem

russischen Ueberwinder.

Der Kampf, der dort gekämpft wird, kann nicht

mehr herübergreifen nach dem einst verschwisterten Litthauen, eS sei denn,

daß Polen als selbständiger Staat wieder erstehe, wohl aber kann der­ selbe Kampf einst hier entbrennen, wenn es sich darum handeln sollte,

ob hier daS Litthauerthum zu selbständigem Volksleben erstarken oder von einem andern Volke und seiner Kultur aufgesogen werden soll. ist ein selbständiges Litthauerthum ein Unding.

Gegenwärtig

Aber eS wird doch einige

Zeit nöthig sein, um die Russifizirung durchzuführen.

Die Entnationali-

sirung ist nur möglich durch reiche und sorgfältige Kulturmittel und Kul­ turarbeit. Die Aufgaben aber, welche in dieser Beziehung dem russischen Reiche obliegen, sind so gewaltige, erstrecken sich auf so weite und ver­

schiedene Gebiete, daß man täglich sehen kann, wie wenig die Kräfte auS-

reichen, um sie zu erfüllen.

So wird voraussichtlich der Kampf ein lang-

Reiseeindrltcke au« Samogitien.

dauernder sein.

349

Freilich ein sehr ungleicher Kampf, wo der angegriffene

Theil weder Wall noch Waffe für seine Vertheidigung hat.

Die russische

Regierung hat seit der letzten Revolution von 1863 radikale Maßregeln ergriffen.

Sie hat nicht

blos alles Schulwesen beseitigt zu Gunsten

einiger russischer Volksschulen, sondern auch schlankweg verboten, daß in

litthauischer Sprache im Lande etwas gedruckt oder Schriften in dieser Sprache in's Land eingeführt werden.

Nur auf dem Wege des Schmug­

gels ist es seibern den wenigen Litthauern, die noch aus früherer Zeit die Kunst des Lesens sich erhalten haben, möglich, aus preußisch Litthauen

sich einige Beispiele der Buchdruckerkunst zu verschaffen, ein Andachtsbuch

oder Gesangbuch.

Die Regierung

hat die nationale Entwickelung des

Litthauerthums damit nachdrücklich unterbunden.

Da aber das Litthauer-

thum gerade jetzt eben den Ansatz genommen hat zu wirthschaftlichem Vor­ schreiten, so wird ohne Zweifel sich damit das Streben verbinden nach geistiger Ausbildung, und dieses Streben wird nothgedrungen in die

Bahnen der russischen Sprache und Kultur gleiten.

Schon gegenwärtig

kann man deutlich das rasche Umsichgreifen der russischen Sprache beim

Landvolke wahrnehmen.

Das Russenthum hat in der That hier trotz allem

sich einiges Feld geschaffen und geht nicht ohne Erfolg seinem Ziele ent­

gegen, das Polenthum zu beseitigen, das Litthauerthum aufzusaugen und diesem Gebiet das nationale russische Gepräge aufzudrücken, wenigstens,

wie wir schon sahen, auf dem Gebiet der Sprache.

Es wird nicht mehr

gar lange währen, so wird Rußland hier zuerst seine sprachlich-nationale

Eroberung

bis an die Grenze des alten Europa vorgeschoben haben.

Nirgend sonst an der Westgrenze hat es so leichtes Spiel gehabt, als hier und nirgend sonst nutzt es diesen Vortheil so nachdrücklich

aus.

Die

Regierung hat die Gunst dieser Stellung sehr wohl erkannt, als sie in der westlichen Ringmauer, welche höher stehende Kulturen errichteten und

welche trotz der staatlichen Eroberung national-kulturlich Widerstand leistete,

hier den am schwächsten vertheidigten Punkt in's Auge faßte. Die Bresche ist gelegt und das nationale Rußland könnte am ehesten an dem Memel­

fluß über die deutsche Grenze schauen.

So berechtigt aber diese Politik

der Staatsregierung im Interesse des national-russischen Reiches ist, so

bleibt es doch immer ein Kampf mit all seinen Uebeln und Lasten.

das Litthauerthum wird nur durch Kampf gewonnen.

Auch

Das ist kein Segen

für das Land, denn der Gang der Kultur wird dadurch verzögert. Es bleibt noch lange ein Land der Squatter und Farmer, der Unter­ nehmungslust und der Eroberung, der Gegensätze und des eigenmächtigen

Strebens, des Entsagens und des stillen Erwerbens.

So dicht an der

Grenze Deutschlands und so fern allem Geräusch des öffentlichen Lebens, Preußisch« Jahrbücher. Bd.Xl.Vl. Heft 4.

26

Reiseeindrücke aus Samogitien.

350

der Jnteressenkämpfe Europas; so unberührt von allen socialen und poli­

tischen und wirthschastlichen Fragen unserer'Zeit;

so ungeängstigt von

allen modernen staatlichen Nörgeleien und Sorgen; aber auch so wenig gehalten und unterstützt von den festen Rippen deS kulturlichen Lebens,

von dem charakterisirenden Geiste eines herrschenden Kulturvolkes.

Mitten

zwischen den drei Nationen der Deutschen, Russen und Polen hat doch

keine

derselben

diesem

einstigen

Herzogthuip

dauerndes Gepräge aufdrücken können.

Samogitien

Farbe

und

Sagte es mir nicht die Erinne­

rung an die Geographiestunden der Kindheit und nun, da ich es verlasse,

auch der russische GenSdarm vor der preußischen Grenzstation Nimmer­ satt, daß ich in Rußland war, so hätte dieses phhsiognowielose Land der

Zukunft eS mir nicht verrathen. — E. von der Brüggen.

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

Daß die öffentliche Fürsorge sich mit ganz besonderem Eifer dem Schutze der Gesundheit der Kinder zu widmen habe, ist eine Erkenntniß,

welche Dank dem stetigen Anwachsen der hygienischen Strömung in immer weitere Kreise dringt und immer mächtiger sich geltend macht.

In der

That bedarf ja der kindliche Organismus, schon weil er viel weniger

widerstandsfähig ist, als der Erwachsene, auch in höherem Maße des Schutzes; daß diesen aber die private Fürsorge allein höchstens einer Minderzahl in ausreichendem Maße gewährt, leuchtet Jedem von selbst ein.

Nur allzu vielen Kindern wird die richtige Pflege nicht zu Theil, weil ihnen die Eltern fehlen, oder weil die Eltern zu dürftig, zu gleichgültig, zu wenig einsichtig sind.

Eine unendlich große Zahl leidet außerdem in

sehr erhöhtem Maße unter jenen schweren hygienischen Uebelständen, welche

die moderne Cultur, zumal das Leben in den Städten, notorisch mit sich

bringt und welche auch die gesammte übrige Bevölkerung gesundheitlich so sehr

beeinträchtigt.

Den gefährdeten Kindern besonderen Schutz an­

gedeihen zu lassen, ist aber um so dringender nothwendig, als es feststeht, daß die Aict und Weise, in welcher die Hygiene des Heranwachsenden Ge­

schlechtes beachtet wird, auf

die allgemeine Volksgesundheit, auf den

Wohlstand und die Wehrkraft der Nation von maßgebendem Einflüsse ist. Denn die Constitution des Erwachsenen, seine Leistungsfähigkeit, seine Widerstandskraft äußeren Schädlichkeiten gegenüber hängt in erster Linie

davon ab, ob während seiner Kindheit die gesammte körperliche Pflege eine zweckmäßige war, oder nicht.

Fehler der letzteren äußern ihre nach-

thetltgen Wirkungen ja leider so ungemein oft durch die ganze spätere

Lebenszeit hindurch und bestrafen sich nicht selten sogar noch an der Nach­ kommenschaft.

ES ist also nicht blos die Humanität, sondern in hervor­

ragendem Maße die Rücksicht auf die Gesellschaft und den Staat, welche den Schutz der Gesundheit der Kinder fordert.

Wer eine Steigerung des

allgemeinen Wohles, insbesondere der Leistungsfähigkeit des Volkes er-

26*

352

Ueber Maßnahme» und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,

strebt, der darf am allerwenigsten das Gedeihen des Heranwachsenden Ge­ schlechts außer Augen lassen.

Nun ist es zunächst gewiß, daß die Maßnahmen der nicht privaten

Fürsorge zum Schutze und zur Förderung der Gesundheit der Kinder in Bezug auf die größere Mehrzahl derselben nur indirekte sein können, da

den Eltern im Allgemeinen keine bindenden Vorschriften darüber

zu

machen sind, wie sie die hygienische Pflege der Ihrigen einzurichten haben. Aber trotzdem kann unendlich Viel geschehen.

Es gilt vor Allem durch

öffentliche und private Belehrung über die zweckmäßige Pflege der Kin­

der, über ihre Ernährung und Kleidung, über Reinhaltung, Lüftung und Heizung der Wohnräume u. s. w. auf das betheiltgte Publicum, besonders

auf die Mütter einzuwirken.

Die meisten der letzteren und die Kinder­

wärterinnen sind noch in so vielen und so verderblichen Vorurtheilen be­

fangen, sind mit den allereinfachsten Grundlehren der Gesundheitspflege so wenig bekannt, daß vor Allem nach dieser Richtung hin der Hebel an­

gesetzt werden muß, wenn man bessern will.

Zu dem Zwecke sind popu­

läre Darstellungen der Hygiene des Kindes möglichst zu verbreiten.

Sehr

empfehlenSwerth dürfte es besonders in städtischen Communen sein, der­ artige Schriften den Angehörigen bei der Anmeldung von Geburten auf

dem Standesamts

aushändigen und die hauptsächlichsten Capitel in Ka­

lendern abdrucken zu lassen.

Ebenso segensreich wird

eine öftere Be­

sprechung dieses Theils der Hygiene in den Zeitungen und öffentlicher Vortrag wirken.

Unentbehrlich ist aber auch hier die private Belehrung

neben der öffentlichen.

AuS

diesem Grunde müssen insbesondere

die

Aerzte überall, wo sich nur irgend die Gelegenheit dazu darbietet, über die Grundsätze der Kinderpflege sich aussprechen, das Verkehrte als solches

erläutern,

in seinen Gefahren schildern, das Richtige in verständlicher

Form auseinandersetzen.

Bezüglich deS allerwichtigsten Theils, nämlich

der Pflege der Säuglinge, sollten sie überall von den Hebammen unterstützt

werden.

Vor der Hand fehlt eS diesen aber noch an den nöthigen Kennt­

nissen; ja sie sind zum großen Theil diejenigen, auf welche man eine er­

hebliche Zahl übler Gewohnheiten der Mütter und des Wartepersonals

zurückführen kann.

Der Einfluß der sage» femmes ist ein sehr bedeu­

tender, und diesen Umstand muß man in Bezug auf die rationelle Pflege

der Kinder in den ersten Lebensjahren zu verwerthen bestrebt sein; eine Ansicht, die ja schon früher von anderer Seite vielfach betont worden ist

(Pfeiffer), die aber ihre richtige Würdigung durchaus noch nicht gefunden

hat.

Will man sich einen heilsamen Einfluß der Hebammen auf die Ge­

sundheit deS Heranwachsenden Geschlechts sichern, so ist eS unabweiSlich,

sie in den Elementen der Hygiene nicht blos zu unterrichten, sondern auch

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

353

zu prüfen. Diese Forderung der Reform des Hebammenunterrichts müssen

wir sesthalten und immer erneut Vorbringen.

Der vereinten Einwirkung

öffentlicher und privater Belehrung aber wird eS, so hoffen wir, gelingen,

die Kenntniß rationeller Grundsätze bezüglich der Kinderpflege zu verall­ gemeinern, die zahlreichen Vorurtheile und üblen Gewohnheiten zu besei­

tigen und, waS am meisten nöthig, den Müttern die Ueberzeugung bei­

zubringen, daß das Selbststillen eine heilige Pflicht ist, der sie sich nur

im Ausnahmesalle entziehen dürfen. Der persönlichen Einwirkung, der mündlichen Aufklärung und practischen Darlegung verdanken auch die Vereine für häusliche Gesundheits­

pflege einen sehr großen Theil ihres Erfolges speciell hinsichtlich

der

kleinen Kinder, tote wir dies vorzugsweise in England constatiren können. ES erklärt sich dies sehr leicht aus dem Umstande, daß Frauen die thäti­

gen Mitglieder dieser Vereine sind.

Vertraut mit dem, waS sie lehren

wollen, speciell mit den vielen Details der Kinderpflege, nicht blos der Theorie, sondern

auch der Praxis nach, suchen sie Fühlung mit dem

Theile deS Volkes, welcher der hygienischen Aufklärung und Unterweisung

am meisten bedarf, erläutern sie die fundamentalen Sätze der Kinder­ pflege, vor Allem der Ernährung, und geben sie die praktische Anleitung.

Kein Wunder, wenn sie thatsächlicher Erfolge sich rühmen können. Diese letzteren zu betonen, ist schon deshalb von Werth, weil Manche noch immer die Belehrung der Maffe in Bezug auf Gesundheitspflege

für wenig nutzbringend erachten.

Es ist ja leider nur allzuwahr, daß

gerade diejenigen Classen, bet welchen die hygienischen Uebelstände am

größten sind, einer Belehrung über den Nutzen der Beseitigung derselben am wenigsten sich zugänglich erweisen.

Aber auch in den niedrigsten

Schichten giebt es doch eine ganze Zahl von Individuen, bei denen die

Mahnungen nicht fruchtlos sind, wie dies ja die Erfolge der eben erwähn­ ten Vereine zeigen.

Und gerade die Belehrung über zweckmäßige Pflege

des Kindes findet selbst da noch vielfach willige Aufnahme, wo sonst schon

vollständige Gleichgültigkeit in hygienischen Dingen herrscht.

Die Liebe

der Mütter zu den Kindern, ihr Wunsch, sie gedeihen zu sehen, ist doch so mächtig, daß sie auch im Elende guten Rathschlägen ihr Ohr nicht ganz verschließen. WaS aber, der Ansicht Vieler entgegen, die Belehrung Bedeutsames

vermag, kann ich an einem schönen Beispiele deutlich zeigen.

Es ist all­

bekannt, daß Milch, wenn sie sauer geworden, bei Säuglingen sehr leicht Durchfälle und Brechdurchfälle hervorruft, Krankheiten, welche in jenem

zarten Alter so ungemein gefährlich sind und in der That die Sterblich-

keitöziffer in hohem Maße beeinflussen.

Nicht minder bekannt ist, daß

354

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

Milch, wenn aufgekocht, ungleich weniger rasch sauer wird. Hier in Rostock ist nun das Publicum seit Jahren von den Aerzten und, wie ich hervor­

heben will, auch von der Presse auf das Heilsame des Aufkochens der Milch in Bezug auf daS Verhüten von Krankheiten aufmerksam gemacht

worden.

Diese Mahnungen haben erfreulicherweise zur Folge gehabt, daß

die Milch fast in allen Familien, zumal im Sommer und wo eS um

künstlich zu ernährende Kinder sich handelt, alsbald, nachdem sie ins Haus gelangte, aufgekocht wird.

Es giebt nun in Deutschland kaum irgend

eine Stadt von der Einwohnerzahl Rostocks, in der so wenige Fälle jener

mit Recht gefürchteten Kinderkrankheiten auftreten, wie hier.

Selbst an­

haltend heiße Sommer bringen uns keine Zunahme, welche mit der an

anderen Orten beobachteten auch nur annähernd im Verhältniß stände. ES ist das eine Thatsache, für welche eine einfachere Erklärung als die

eben gegebene wohl schwerlich erbracht werden kann, welche aber, falls die letztere richtig ist, den großen Erfolg der Belehrung auf'S Glänzendste

illustrirt. Daß die Unterweisung des Publikums sich aber nicht auf die Pflege der Kinder in ihren ersten Lebensjahren beschränken darf, braucht nicht

besonders betont zu werden. So ist es von größter Wichtigkeit, daß die Eltern erfahren, was sie für die Gesundheit ihrer Söhne und Töchter

während der Schulzeit derselben thun können und müssen.

Es sei dies

hier nur angedeutet; ich werde hierauf zurückkommen, wenn ich von dem Schutze der Schulkinder zu sprechen habe.

Aber die Belehrung allein genügt nicht, auch wenn sie noch so ein­

gehend geübt wird. Es müssen noch andere Maßnahmen geschehen, wenn die Gesundheit der Kinder ausgiebig geschützt und gefördert werden soll. Da daS Publicum außer Stande ist, sich gegen Verfälschung und

Werthverminderung des HauptnahrungSmtttelS kleiner Kin­

der, der Milch, zu sichern und sich eine Gewähr zu verschaffen, daß die zahllosen Surrogate derselben ihrer Qualität nach den Anforderungen ge­

nügen, so muß die öffentliche Fürsorge eintreten.

Durch Vornahme häu­

figer unvermutheter Untersuchungen, durch Veröffentlichung der Resultate derselben, wie durch rücksichtsloses Vorgehen

gegen jede Contravention

haben die Behörden den Schutz zu erstreben, den wir im Interesse der Gesundheit fordern müssen.

Was auf solchem Wege zu

hat die jüngste Zeit gelehrt.

Aber auch die BeretnSthätigkett kann

erreichen ist,

in bedeutsamer Weise zur Erreichung des nämlichen Zieles Mitwirken,

wie wir dies erfreulicherweise in einer Reihe deutscher Städte zu constatiren vermögen.

Vorwiegend durch die Bemühungen ärztlicher Vereine

und solcher für öffentliche Gesundheitspflege sind seit einigen Jahren in

355

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

stetig zunehmender Zahl Milchwirthschaften etablirt worden, welche, sich unter sachverständige Controle stellend, den Zweck verfolgen, nur absolut

unverfälschte und unverdorbene Milch von gesunden Kühen

zu liefern.

Die Einrichtung derartiger Wirthschaften hat überall, wo sie Statt hatte, einem schwer gefühlten Bedürfnisse, wenigstens theilweise, Abhülfe

ge­

schafft und sollte in allen irgendwie bedeutenden Städten, in welchen sich

hinsichtlich

der Lieferung guter Milch Uebelstände

herausstellen,

auf'S

Ernsteste gefördert werden, und dies um so mehr, als notorisch das Vor­

handensein einer tadellosen Bezugsquelle schon für sich, durch die ConDer Segen wird, speciell für die

currenz, außerordentlich günstig wirkt. kindliche Bevölkerung, nicht ausbleiben.

Für die Gesundheit der Menschen im Allgemeinen, besonders aber

für diejenige der Kinder

in

ihrem

frühesten Alter ist

Wohnung unabweisliches Bedürfniß.

eine salubre

Allgemeine Schwäche der Con­

stitution, Blutarmuth, Scrophulose und Tuberculose sind ja in leider nur allzu zahlreichen Fällen auf den dauernden Aufenthalt in dumpfen, feuch­

ten, lichtarmen, schlecht gelüfteten und unrein gehaltenen Räumen während

der Kindheit zurückzuführen.

Nun ist eS zwar richtig, daß gerade hin­

sichtlich der Wohnungshygiene die private Fürsorge weit mehr Obliegen­ heiten hat und weit mehr vermag, als die öffentliche.

Denn daS Rein­

halten der Wohnungen, die rasche Beseitigung der fäulnißfähigen häus­

lichen Abfälle, die ausgiebige Lüftung, Alles dies kann selbstverständlich nicht anders, als durch das thätige Mitwirken des Einzelnen erreicht wer­ den.

Und dennoch sind allgemeine Maßnahmen auch auf diesem Gebiete

ebenso unentbehrlich, wie segensreich.

Es würde zu weit führen,

wenn

hier Alles erörtert werden sollte, was die öffentliche Fürsorge hinsichtlich

unserer Wohnungen zu leisten im Stande ist und bereits geleistet hat. Nur Einiges, die Hygiene deS kindlichen Alters betreffende,

möge hier

Erwähnung finden. Die größte Sterblichkeit der Kinder herrscht in den Kellerwohnungen und den Mansarden.

Der Grund dafür liegt zum Theil in dem Um­

stande, daß solche Wohnungen nur

von den Bedürftigeren bezogen zu

werden Pflegen, zum größeren Theile liegt er aber zweifellos in der Jnsalubrität der betreffenden Räume.

Die Kellerwohnungen sind ungesund

wegen ihrer permanenten Feuchtigkeit, wegen des nicht hinreichenden Luft­ wechsels, wegen des Mangels an Licht und deshalb, weil sie am meisten

den Emanationen deS BodenS ausgesetzt sind.

Die Dachstuben sind na­

mentlich im Sommer gefährlich, weil alsdann in ihnen eine sehr bedeu­

tend gesteigerte Temperatur herrscht, die schon an sich, d. h. durch directe Einwirkung auf den Organismus, dann aber dadurch nachtheilig sich er-

356

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,

weist, daß unter ihrem Einflüsse die Gährung und Zersetzung organischer Substanzen, in speeie auch das Verderben der Milch in ungleich rascherer

Weise vor sich geht. Deshalb sind allgemeine Maßnahmen bezüglich solcher

Wohnungen durchaus nothwendig.

Der Kampf gegen die Kellerwohnungen

begann in England schon vor mehreren Decennien gleich mit den ersten

sanitarischen Reformen der Städte und führte im Jahre 1875 zu dem

Erlasse eines Gesetzes, nach welchem fortan neu angelegte Souterrains

gar nicht mehr, bereits bestehende aber nur dann noch als Wohnungen vermiethet oder an Andere überlassen werden dürfen, wenn bestimmte

wichtige sanitarische Bedingungen erfüllt wurden (§§ 71—75 des engli­ schen Sanitätscodex: public health act 1876).

In keinem anderen Lande

existirt bislang ein derartiges allgemeines Verbot der Neuanlage von

Kellerwohnungen.

Dagegen wurde in einzelnen Staaten eine Norm er­

lassen darüber, wie fortan die Kellerräume zu construiren und zu er­ halten sind, wenn ihre Vermiethung zum Zwecke des Bewohnens gestattet werden soll. Eine solche Norm giebt der § 11 der vorzüglichen badischen

Verordnung der

vom

27. Juni

öffentlichen Gesundheit

1874 betreffend

die

und Reinlichkeit,

Sicherung

die

königlich

sächsische Baupolizeiordnung für Städte und für Dörfer vom 27. Februar 1869 und die neue baierische Bauordnung vom Jahre 1877. Außerdem beschäftigen sich die OrtSstatute einer Reihe von Städten

unseres Vaterlandes mit demselben Objecte.

Einzelne verbieten, dem

englischen Landessanitätsgesetze entsprechend, jede Neuanlage von Keller-

miethwohnungen, z. B. die Statute von Stuttgart, Düsseldorf, Wiesbaden; andere formuliren nur die Bedingungen, unter welchen die Einrichtung

solcher Wohnungen erlaubt ist, z. B. dasjenige von Kiel, von Dresden. Die größere Mehrzahl unserer Städte verhält sich in dieser wichtigen An­

gelegenheit aber noch völlig indifferent. Was die Dachwohnungen betrifft, so haben die eben erwähnte sächsische Baupolizeiordnung von 1869 und außerdem das neue baierische

Baugesetz

von 1877 einige Normen über ihre Construction festgestellt.

Am präcisesten ist aber diese Angelegenheit geregelt worden in dem 1877

neu aufgestellten Ortsbaustatut der Stadt Dresden, das hoffentlich jetzt schon definitiv geworden ist.

Es befaßt sich nicht blos eingehend mit der

Sicherheit der Dachwohnungen, sondern auch mit der Hygiene derselben

und verdient deshalb die besondere Beachtung der Behörden und Aller derer, welche für öffentliche Gesundheitspflege sich interessiren. In allen Städten giebt es Häuser und ganze Complexe derselben,

welche durchaus ungeeignet zum Bewohnen sind, sei eS in Folge von Feuchtigkeit, sei eS in Folge ihrer Lage in engen Gaffen, sei eS in Folge

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

357

des Umstandes, daß sie durch lange Zeiträume hindurch in einem unrein­ lichen Zustande gehalten wurden.

Solche Wohnungen sind der kindlichen

Bevölkerung am verderblichsten, weil diese weniger widerstandsfähig ist und zumal in dem frühesten Alter mehr innerhalb als außerhalb des

Hauses gehalten wird.

geschafft werden. das Recht,

Gegen die beregten Uebelstände muß nun Hülfe

In England hat die Ortsgesundheitsbehörde schon länger

wie die Pflicht, gegen Wohnungen die „unfit for human

habitation“ sind, einzuschreiten; die beiden Gesetze über die Häuser der

arbeitenden Klasse, (artisans and labourers dwellings acts 1868 und 1875) verpflichten sogar die genannte Behörde in Städten von 10,000 resp. 25,000 und mehr Einwohnern, Häuser und Häusercomplexe, die ihr von Seiten des ärztlichen Sanitätsbeamten als unbewohnbar und als der

permanente Sitz von Jnsalubritätskrankheiten gemeldet werden, zu expropriiren und entweder durch gründliche Restauration oder durch vollständige

Neuanlage zu assaniren.

Diese beiden Gesetze sind von den englischen

Hygienikern, aber auch von den größeren Städten deS Landes mit offener Freude begrüßt worden und sind in der That geeignet, schwer empfundene

Uebelstände aus dem Wege zu räumen.

Sollte nicht auch bei uns ein

gleiches Vorgehen sich empfehlen? WaS thatsächlich durch salubre Wohnungen hinsichtlich der Gesund­

heit, speciell der Kinder, gefördert wird, ersehen wir deutlich aus den

Berichten über die Resultate der gemeinnützigen Baugesellschaften, die ja

nicht blos billige und passende, sondern auch vor Allem gesunde Häuser

herzustellen sich zum Principe gemacht haben. So betrug in den 12 Jahren

von 1862 bis 1873 die Sterblichkeit in den Wohnungen der Frankfurter Baugesellschaft nur 14,6 auf 1000 Insassen; noch etwas geringer nämlich 14,0 auf 1000 war sie in den Häusern der

bekannten metropolitan

association for improving the dwellings for the industrial classes

in London, welche Mitte 1874 bereits für 26,000 Arbeiter einschließlich deren Familien Wohnung

beschafft hatte.

Gerade die Berichte dieser

Gesellschaft heben die außerordentlich verringerte Zahl der Erkrankungen und Todesfälle unter den Kindern, speciell den Säuglingen, hervor.

Es

ist dies sehr bemerkenswerth, da die Geburtsziffer in ihren Häusern keine

niedrige (36 auf 1000) genannt werden darf, und da die betreffenden Familien dem Arbeiterstande angehören, der sonst eine höhere Kinder­

mortalität aufweist. —

Von großem Belange für die Gesundheit des Heranwachsenden Ge­ schlechtes, zum Mindesten der Städte, ist das Vorhandensein einer hin­

reichenden Zahl freier Plätze, auf denen die größeren Kinder sich umher­ tummeln, die kleineren umhergefahren oder getragen werden können.

Das

358

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

Innere der Häuser und die engen Straßen geben nicht die gesunde Luft,

deren der Organismus zu seiner normalen Entwickelung bedarf.

Kinder müssen hinaus aus den dumpfigen Quartieren,

Die

so oft und so

lange die Witterung eS nur irgend zuläßt; und darum ist eS Pflicht der

städtischen Verwaltungen, dafür Sorge zu tragen, daß sich im Inneren

der Orte und an den Grenzen derselben geeignete, d. h. trockene, schattige Tummel- und Spielplätze finden.

Ihre Nothwendigkeit leuchtet so sehr

ein, daß man nur darüber erstaunt, wie wenig bislang nach dieser Rich­ tung hin bet uns geschehen ist.

In England brachte bereits das Gesetz,

towns improvement clauses act 1847, Bestimmungen über öffentliche

Erholungs- und Spielplätze.

Nach den tat Jahre 1858 und 1859 dort

erlassenen public parks acts hat in jedem Orte von mehr als 500 Ein­

wohnern die Gemeindebehörde das Recht, durch Ankauf oder im Wege der Expropriation Grundstücke zu erwerben, um Spiel- und Erholungsplätze

mit den nöthigen Einrichtungen herzustellen.

Sind derartige

„public

pleasure oder public recreation grounds“ einmal eingerichtet, so müssen

sie drainirt, rein gehalten und dazu benutzt werden, wozu sie bestimmt sind.

(Der englische Sanitätscodex von 1875 hat das eben erwähnte

Recht auf die städtischen Gesundheitsbehörden übertragen; eine zweifellos

heilsame Amendtrung der früheren Bestimmung.)

In der That mehrt

sich die Anlage solcher Plätze in englischen Städten neuerdings nicht un­ beträchtlich.

London hat jetzt auf je 1100 Einwohner 1 Acre Park; in

Glasgow, welches 6033 Acres umfaßt, sind deren 280 zu parcs einge­

richtet; in Bradford giebt es 5 parcs, deren Herstellung 187,000 Pfd. St. kostete, und ebensovtele parcs besaß 1876 die Stadt Birmingham, wäh­ rend die Anlage neuer daselbst geplant wurde.

Dies sind die wichtigsten allgemeinen Maßnahmen zum Schutze und zur Förderung der Gesundheit der Kinder.

Es giebt nun aber noch ein­

zelne Klassen derselben, welche einer speciellen Fürsorge bedürfen; nämlich die Schulkinder, die in Fabriken resp. Werkstätten beschäftigten, die armen, die verwaisten und die sogenannten Haltekinder.

Die Erkenntniß, daß eine nicht geringe Zahl von Leiden, vornemlich aber Kurzsichtigkeit, Verkrümmung der Wirbelsäule, Blutarmuth, nervöse

Reizbarkeit in zahlreichen Fällen auf die Schule zurückzuführen sind, eine

Erkenntniß, die nachgerade auch in die gebildeten Laienkreise eingedrungen ist, weist mit absoluter Nothwendigkeit darauf hin, daß die gesundheitliche

Beachtung der Schulkinder unabweiSlicheö Bedürfniß ist. Mit Recht fordern die Eltern Schutzmaßregeln, und der Staat, wie die Gemeinde dürfen dieselben nicht verweigern.

Die Kurzsichtigkeit hat in so erstaun­

lichem Grade zugenommen, die Verkrümmungen der Wirbelsäule sind bei

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

359

den jungen Mädchen so häufig geworden, die Klagen über das körperliche Herunterkommen der Kinder während der Schulzeit, über ihre Schlaffheit,

Blässe und Nervosität mehren sich in so bedenklicher Weise, daß die öffent­

liche Fürsorge alle Veranlassung hat, mit Energie einzuschreiten.

Sie

kann dies aber, weil die hauptsächlichen Ursachen jener Leiden sehr wohl bekannt sind.

In der schlechten Luft überfüllter, mangelhaft ventilirter

Räume kann der Körper seine Frische nicht behalten; er muß anfangen, zu erschlaffen und zu kränkeln.

Allzufrühe und allzustarke Anstrengungen

deS Geistes bedingen nervöse Aufgeregtheit und Schlaflosigkeit, dadurch

aber auch Bleichsucht und allgemeine Schwäche.

Dunkle Schulzimmer,

schlechter Druck der Lehrbücher, unzweckmäßig construirte Subsellien, die

das Vornüberneigen, zumal beim Schreiben, befördern, werden die Veran­

lassung zum Entstehen von Kurzsichtigkeit, und auf eben solche Subsellien

führt man auch die Verkrümmungen zurück.

Deshalb verlangt die Hygiene

zum Schutze der Kinder gesund gelegene Schulgebäude mit hellen Zimmern,

Vermeiden jeder Ueberfüllung derselben,

fleißige,

ausgiebige Lüftung,

rationelle Heizung, zweckmäßig hergestellte Schulbänke und Lehrbücher

mit großem, deutlichem Druck.

Sie fordert aber noch viel mehr, nämlich

Nichtzulassung der Kinder zum Schulbesuch vor dem vollendeten sechsten

Jahre, Vermeiden jeder Ueberhastung, jeder Ueberbürdung mit häuslichen Arbeiten, gleichmäßige Vertheilung der letzteren auf die einzelnen Wochen­

tage, Beschränkung der Unterrichtsstunden auf eine bestimmte maximale Zahl, vermehrte Berücksichtigung des Anschauungsunterrichts gegenüber

den viel beliebten starken Gedächtnißübungen, Abwechselung von solchen Stunden, in denen mehr das Denken in Anspruch genommen wird, mit

solchen, in denen dies weniger der Fall ist, Pausen von wenigstens zehn

Minuten zwischen allen Stunden und obligatorische Theilnahme aller Schüler und Schülerinnen am Turnunterricht, falls nicht ein ärztliches

Attest dies verbietet.

Nur durch strenge Berücksichtigung dieser fundamen­

talen Forderungen, von denen die den Unterricht betreffenden auch ohne

Veränderung und ohne Herabziehen der Ziele desselben durchzusetzen sind,

wird die gesundheitsschädliche Einwirkung der Schule auf ein möglichst geringes Maß eingeschränkt werden können. Daß die Regierungen

die Nothwendigkeit eines

energischen

Ein­

schreitens erkannt haben, geht aus dem Erlasse einer Reihe von Gesetzen

und Regulativen über Schulgesundheitspflege hervor.

Unter diesen er­

wähne ich die vorzügliche österreichische Verordnung vom 9. Juni 1873, die in ebenso eingehender, wie präciser Weise alle Details der Schul­

hygiene bespricht, das gleichfalls musterhafte würtembergische Regulativ

über die Einrichtung der Schulhäuser und die Gesundheitspflege in den

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

360

Schulen vom 28. December 1870, den großherzoglich hessischen Erlaß betreffend da« Volksschulwesen vom 29. Juli 1876 und die königlich sächsische Verordnung betreffend die Anlage und innere Einrichtung der

Schulgebäude in Rücksicht auf

Gesundheitspflege vom 3. April 1873.

Für das Königreich Preußen fehlt es bedauerlicherweise noch an einem

ähnlichen allgemeinen Gesetze. Die praktischen Reformen auf diesem Gebiete sind zum großen Theil

auS der Initiative der Communalbehörden hervorgegangen und finden sich vorwiegend in den größeren Städten, wie bei uns, so auch in Nord­ amerika und der Schweiz, weniger in England, welches auffallenderweise hin­

sichtlich der Schulgesundheitspflege unendlich zurückgeblieben ist.

Die neuen

städtischen Schulen unseres Vaterlandes entsprechen mit wenigen Aus­

nahmen weit mehr als die älteren den Anforderungen der Hygiene in

Bezug auf allgemeine Salubrität, auf Helligkeit der Zimmer, auf Venti­ lation und Heizung, so wie in Bezug auf zweckmäßige Construction der

Subsellien; ja eine nicht geringe Zahl derselben kann geradezu als muster­

haft bezeichnet werden.

Auch bei den meisten Schulneubauten auf dem

Lande ist das entschiedene Streben nach Verbesserung schon deutlich zu er­

kennen.

Aber wir dürfen uns nicht verhehlen, daß die Zahl der älteren,

nicht nach hygienischen Grundsätzen hergerichteten Schulen, ungemein groß ist, und daß man mit ihrer Affanirung nicht bis auf unbestimmte Zeit

hinaus warten darf.

Jede Generation von Schülern und Schülerinnen,

die in solchen Räumen ihren Unterricht empfängt, muß ihr Opfer an Gesundheit bringen, und das wiegt schwer genug, um die betheiligten

Kreise zu beschleunigtem Handeln aufzufordern. Gute SchulgesundhettSregulative und gute Schullokalitäten sicheren freilich allein noch nicht, was wir erstreben.

ES müssen auch die Lehrer

mit den Principien der Schulgesundheitspflege vertraut sein, weil es haupt­ sächlich in ihrer Hand liegt, daß die sanitarischen Vorschriften richtig auSgeführt, die vorhandenen Einrichtungen richtig gehandhabt und benutzt

werden.

Auch die besten Subsellien können nicht verhindern, daß der

Schüler eine schlechte Haltung anntmmt; der Lehrer muß mit aller Energie einschreiten und die richtige Haltung erzwingen.

Bet schlechten Subsellien

würde dies Erzwingen unmöglich sein, bei guten ist es möglich, doch eben nur unter Mitwirkung des Lehrers.

Die Herstellung von zweckmäßigen

Ventilationseinrichtungen ist, wie wir gesehen, für alle Schulen noth­ wendig.

Was nützen sie aber, wenn nicht der Lehrer sie richtig handhabt,

oder nicht ihre richtige Handhabung leitet? Es ist deshalb in vollstem Maße zu beherzigen, was das österreichische SchulgesundhettSregulativ ausspricht,

daß die Lehrer verpflichtet seien, die Grundsätze der Hygiene sich an-

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

Zgl

zueignen und stets sich zu erinnern, daß die Schule nicht bloß die geistigen, sondern auch die leiblichen Kräfte und Fähigkeiten einer harmonischen Ent­

wicklung zuzuführen habe. Aber auch die Eltern müssen, so weit in ihren Kräften ist, zu gleichem

Zwecke mitwirken.

Dies ist um so nothwendiger, als es nicht geleugnet

werden kann, daß auch das Haus einen Antheil an dem Entstehen und dem Umsichgreifen einzelner jener Leiden hat, welche man allgemein im Wesentlichen auf die Schule zurückführt.

Wird nicht die Entwickelung der

Kurzsichtigkeit dadurch gefördert, daß die Kinder, wie dies doch so außer­

ordentlich häufig und bei Vielen so regelmäßig der Fall ist, ihre häus­

lichen Arbeiten im Dämmerlicht anfertigen?

Und muß es nicht der Ent­

stehung von Verkrümmungen der Wirbelsäule Vorschub leisten, wenn die Kinder, was doch auch so ungemein häufig zu beobachten ist, zu Hause

in ganz nachlässiger Haltung und an durchaus ungeeigneten Tischen ar­ beiten?

Die wenigsten Eltern ahnen diese Gefahren; sie wissen nicht,

daß die hier geschilderten üblen Gewohnheiten einen Einfluß auf die Ge-

sundheit haben können.

Darum aber mich es ihnen gesagt und immer

wieder gesagt werden, daß die Maßnahmen der öffentlichen Gesundheitspflege zu Gunsten der Schulkinder niemals

die private Fürsorge und

Ueberwachung der Eltern überflüssig machen. Ich darf dies Capitel nicht schließen, ohne wenigstens kurz darauf aufmerksam zu machen, daß die Schule noch von einer ganz anderen Seite

her das Leben und die Gesundheit der Kinder bedroht. der Hauptheerd,

von

welchem

die

Sie ist nämlich

eigentlichen Kinderkrankheiten,

Masern, Scharlach, Keuchhusten sich verbreiten; und selbst unendlich viele Fälle der bösen Diphtheritis sind auf sie zurückzuführen.

dies ist längst bekannt und nicht blos den Aerzten.

Alles

Um so mehr aber

muß es Wunder nehmen, daß bislang kaum einmal der Versuch gemacht ist, solche Gefahren zu beseitigen.

Leicht wird dies freilich nicht sein,

weil jene Krankheiten nicht immer schon in dem Augenblicke erkannt werden können, wo sie ansteckend sind, und weil sie manchmal so wenig schwer verlaufen, daß sie ganz übersehen werden, obschon sie auch dann ansteckend

sind.

Aber trotzdem kann nach dieser Richtung hin sehr Viel geschehen,

wie dies in jüngster Zeit das Vorgehen der Gesundheitsbehörden in

einigen nordamerikanischen Großstädten gezeigt hat.

Eine nähere Erör­

terung der betreffenden Maßnahmen gehört nicht mehr hierher; ich will nur erwähnen, daß jene Behörden auf Grund von Vorschriften betreffend die obligatorische Anzeige übertragbarer Krankheiten einschreiten und mit

der Schulbehörde in Correspondenz sich halten.

Es handelt sich ja um

möglichst frühzeitige Jsolirung der Erkrankten, um Fernhaltung derselben

362

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,

bis zu einem Termine, an welchem eine Ansteckung nicht mehr möglich

ist und um Fernhaltung auch solcher Kinder, welche, obgleich nicht selbst erkrankt, aus einem inficirten Hause möglicherweise eine Krankheit über­ tragen könnten.

Die darüber in unserem Vaterlande

erlassenen Be­

stimmungen sind durchaus unzureichend und werden auch nicht mit Strenge durchgeführt.

Die besten Vorschriften enthält übrigens das holländische

Seuchengesetz vom 4. December 1872.

So viel über den Schutz der Schulkinder; ich gehe nunmehr zu dem­ jenigen der in Fabriken und Werkstätten beschäftigten Kinder über. Die Bewegung, zu Gunsten dieser letzteren Klasse allgemeine Maßregeln

zu ergreifen, ist von England ausgegangen.

Dort führte der rapide Auf­

schwung der Industrie in den ersten Decennien unseres Jahrhunderts zu

einer immer steigenden Ausnutzung der Kinderarbeit.

Aber es dauerte

gar nicht lange, bis man nicht blos eine starke Zunahme der Immoralität, sondern auch der körperlichen Entartung der Fabrikbevölkerung wahrnahm.

Wie war eS auch anders möglich?

Werden Kinder in zartem Alter mit

anhaltender und. schwerer Arbeit beschäftigt, müssen sie stundenlang in

schlecht gelüfteten, engen Räumen, bei ungesundem Gewerbebetriebe ver­ weilen, so kann eine normale Entwickelung deS Körpers nicht mehr Statt

haben, eS muß eine Depravation desselben eintreten, die sich dann «leistens über die Kindheit hinaus, ja bis anS Lebensende geltend macht.

Ganz

natürlich drängte sich mit der Erkenntniß dieser Thatsache die Nothwendig­ keit eines Schutzes auf, der im Interesse der Kinder und der Allgemein­

heit lag.

ES entstand eine starke Bewegung, um die Beschleunigung von

Schutzmaßregeln zu fördern; das Parlament beschäftigte sich mit der An­

gelegenheit,

und so kam es zu der langen Reihe von Fabrik- und

Werkstättegesetzen, die sich im Wesentlichen mit der Arbeit der Kin­ der, junger Leute und Frauen beschäftigen. Diese Gesetze sind jetzt

codificirt; nach ihnen sollen Kinder erst vom 10. Jahre an, bei bestimmten Gewerbebetrieben vom 8. an, zu industrieller Arbeit verwendet werden;

Kinder, welche dieses minimale Alter überschritten haben und jugendliche Individuen bis zum 18. Jahre dürfen nur eine fixirte Zahl von Stunden täglich arbeiten.

Außerdem ist genau normirt, wie viel Zett ihnen als

Pause zur Erholung resp, zur Mahlzeit zukommen soll.

In bestimmten

Gewerbebetrieben dürfen Kinder gar nicht, in anderen erst mit elf resp,

zwölf Jahren Beschäftigung finden.

Endlich ist für die in Fabriken

arbeitenden Kinder der Schulbesuch (15 Stunden wöchentlich) obligatorisch

gemacht, — eine Vorschrift, welche entschieden auch einen gesundheitlichen

Schutz bezweckt, da die Kinder zum Mindesten während der betreffenden

Zett nicht zu industriellen Zwecken verwendet werden können.

Die Aus-

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

363

führung dieser Bestimmungen ist eine strenge; die Controle liegt den

Fabrikinspectoren ob, welche sie in der That mit großer Gewissenhaftigkeit Zu gleichem Zwecke wirken

üben.

auch die Fabrikärzte mit; denn sie

müssen die in die Fabriken neu etntretenden Kinder untersuchen, müssen notiren, welches Aller sie nach ihrer körperlichen Entwickelung zu haben

scheinen, und den Befund mit jenen Angaben vergleichen, welche dem

Arbeitgeber gemacht und von diesem registrirt wurden. — Man sieht also, daß man in England sich ernsthaft bestrebt, die Schäden zu mindern; aber

Jeder erkennt auch, daß die ergriffenen Maßregeln nur unvollkommenen Schutz gewähren, da man ja noch die Arbeit zehnjähriger Kinder gestattet. Andere Länder sind nachgefolgt, so Frankreich mit dem Gesetze

vom Jahre 1841 und dem dasselbe amendirenden vom Jahr 1875, dessen

gute Bestimmungen freilich durch

ein Ausführungsdecret

zum

großen

Theile annullirt worden sind; ferner Belgien mit dem Rogier'schen Ge­ setze, Holland mit dem Fabrikgesetze von 1874, Schweden mit dem von

1864.

Sie alle ohne Ausnahme verbieten die Fabrikarbeit von Kindern

unter 12 Jahren.

Die österreichische Gewerbeordnung von 1859

gestattet die Beschäftigung vom 10. Jahre an; dieselbe Norm hat Däne­ mark.

Was Deutschland betrifft, so gelten hier die Bestimmungen der beziehungsweise des dieselbe amendirenden

Gewerbeordnung von 1869,

Gesetzes vom 17. Juli 1878: Kinder unter 12 Jahren dürfen in Fabriken

gar nicht, Kinder unter 14 Jahren höchstens sechs Stunden täglich, junge Leute von 14 bis 16 Jahren höchstens zehn Stunden täglich beschäftigt werden.

Die Arbeit darf nicht in die Zeit von 81/, Uhr Abends bis

572 Uhr Morgens fallen.

Regelmäßige Pausen, deren Zeit genau fixirt

ist, müssen vom Fabrtkherrn gegeben werden.

Die Aufsicht wird von den

Organen der Polizei und von besonderen durch die Regierungen ernannten

Beamten geübt.

Ein Gesetz über die Verwendung der Kinder in Werk­

stätten fehlt. Die einzig richtige Vorschrift aber hat jüngsthin die Schweiz er­ lassen; denn nach dem neuen vorzüglichen Fabrikgesetze vom 23. März 1877

dürfen dort Kinder unter 14 Jahren in Fabriken gar nicht mehr be­

schäftigt werden. Ein

sehr bemerkenSwertheö Gesetz

zum

Schutze

der Kinder

gegen ihre Verwendung in ambulanten Gewerben besitzt Italien

seit dem 18. December 1873.

Die große Ausdehnung, welche dort das

Gewerbe der vagirenden Künstler erlangt hat, und der Umstand, daß von

denselben eine außerordentlich bedeutende Zahl von Kindern, selbst über die Grenzen des Königreichs hinaus, verwendet wird, machte den Erlaß

eines derartigen Gesetzes allerdings nothwendig.

Da dasselbe Bestim-

364

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Geßundheit der Kinder,

mungen enthält, welche auch für andere Länder höchst Veherztgenswerth

erscheinen, so möge hier das Wesentliche deS Inhalts folgen: Kinder und jugendliche Individuen von weniger

als 18 Jahren

dürfen nicht in ambulanten Gewerben, insbesondere nicht von Seiltänzern,

Zauberern, Charlatans, Wahrsagern, Thierbändigern, Musikanten, Straßen­ sängern und Bettlern verwendet werden.

Falls List oder Gewalt zur

Erlangung solcher Personen gebraucht wurde, erhöht sich die Strafbarkeit, und in solchem Falle erstreckt sich das Gesetz sogar auf Individuen bis zu 21 Jahren.

Eltern und Vormünder, welche die betreffenden Personen hergeben, fallen ebenso in Strafe, wie diejenigen, welche sie verwenden. (Gefängniß

und Geldbuße.)

Erhöhung der Strafe tritt ein, wenn widerrechtlich ver­

wendete Individuen

durch schlechte Behandlung Schaden an ihrer Ge­

sundheit litten oder heimlich im Stiche gelassen wurden, und wenn die

widerrechtliche Verwendung im Auslande Statt hatte. Bestimmungen zum Schutze der in der Landwirthschaft verwen­ deten Kinder besitzt England in der Agricultural children act 1873, die es verbietet, Kinder unter acht Jahren mit ländlicher Arbeit zu be­ schäftigen und die diese für Kinder über acht Jahren nur gestattet, wenn sie nachweisen, daß sie eine bestimmte Zahl von Schulstunden bereits be­

sucht haben. ES liegt auf der Hand, daß durch alle solche Vorschriften, voraus­

gesetzt, daß sie mit Energie durchgeführt werden, die Gesundheit der be­

treffenden Kinder in erheblichem Maße geschützt wird.

Aber nicht minder

nicht hierauf be­ Bei fiscalischen Werken kann der Staat, bei privaten

einleuchtend ist es, daß die öffentliche Fürsorge sich

schränken darf.

Betrieben der Fabrikherr, im Allgemeinen aber die VereinSthätigkeit noch

unendlich Viel zur Verbesserung der Gesundheit der Arbeiter, speciell der

jugendlichen thun, und zwar besonders durch Hinwirken auf rationelle Ernährung, wie auf salubre Wohnungen.

Der Erfolg wird jeder darauf

gerichteten Bemühung auf dem Fuße folgen.

Denn je gesunder der Ar­

beiter, desto leistungsfähiger ist er, und je mehr man In seiner Jugend ihn zu kräftigen sich bestrebte, um so länger wird er seine Frische be­ wahren, um so seltener durch Krankheit in seiner Leistung beeinträchtigt werden. ES bleibt mir nach Diesem noch übrig,

über die Fürsorge für

arme und in fremde Pflege gegebene Kinder zu sprechen.

Die

armen Kinder zerfallen in diejenigen, welche dürftigen Eltern angehören

und in solche, für welche geradezu die öffentliche Unterstützung in Anspruch genommen wird.

WaS für die Gesundheit der ersteren Classe geschehen

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen znm Schutze der Gesundheit der Kinder.

365

kann, ist im Grunde genommen, zu Anfang dieser Abhandlung ausge­

sprochen.

Ein directer Zwang darf auf die Eltern nicht ausgeübt werden;

deshalb muß die indirecte Hülfe eintreten, wie sie oben erörtert ist.

Nur

einzelne besondere Schutzmaßnahmen möchten an dieser Stelle noch her­

vorzuheben sein.

Eine einfache Erwägung sagt uns, daß die Gesundheit

zahlreicher Kinder der niederen Klasse deshalb in hervorragendem Maße

weil die Mütter aus Erwerbsrücksichten denselben die

gefährdet wird,

Es ist also ganz natur­

nöthige Pflege nicht angcdeihen lassen können.

gemäß, wenn hier die Fürsorge durch Andere einzutreten sich bemüht. Dies ist in der That in fast allen civilisirten Ländern durch Errichtung von Krippen und Kleinkinderbewahranstalten geschehen.

Krippen oder Säuglingsbewahranstalten wurden zuerst (1844) in

Frankreich, und zwar durch Marbeau gegründet.

Sie fanden alsbald

großen Anklang, so daß man sie jetzt dort in den meisten irgend wie be­

deutenden Städten antrifft. Zeit 41. auf.

Im Departement der Seine giebt es

Auch unser Vaterland weist ihrer

zur

eine recht erhebliche Zahl

Sie nehmen in der Regel Kinder von einigen Wochen» bis zu zwei

Jahren an; die Statuten der Anstalten differiren aber in diesem Punkte außerordentlich.

Die Verpflegung

der

Kinder

Wärterinnen, doch nur während deö Tages.

erfolgt

durch

geschulte

Früh Morgens hat die

Mutter das Kind zu bringen, am Abend es wieder abzuholen.

In der

Regel wird ihr auch die Verpflichtung auferlegt, des Mittags einen Besuch

zu machen und eventuell das Kind zu stillen.

Wie viel durch solche Ein­

richtungen, durch zweckmäßige Ernährung, durch Reinhaltung, durch den

Aufenthalt in gesunderer Luft gewonnen wird, liegt auf der Hand.

In

der That zeigen die Berichte über die Resultate der Krippen, daß dieselben in günstigster Weise auf die Gesundheit der in ihnen verpflegten Kinder

eingewirkt haben.

Gerade in diesem Augenblicke lese ich einen solchen

Bericht über die ganz besonders bemerkenswerten Anstalten dieser Art in Mailand.

Ende 1877 Sterblichkeit,

Hier wurde die erste 1850 gegründet; von da an bis

fanden 8472 Kinder Aufnahme.

Bei diesen betrug

die

obschon sie fast alle im ersten Lebensjahre sich befanden,

nur 17—18 Procent, d. h. fast nur die Hälfte der Sterblichkeit der gleich­

alterigen Kinder in der Lombardei,

die ungefähr 33 Procent erreichte.

Ein besonderer Segen der Krippen ist aber auch der, daß durch sie die

Mütter erfahren, wie viel eine einfache, verständige Pflege in Bezug auf das Gesundbleiben und das Gedeihen des Kindes vermag.

Auch die

weniger nachdenkenden und die gleichgültigeren unter ihnen müssen eS wahrnehmen und werden eS in dankbarer Erinnerung behalten, daß ihre Kinder sich während des Aufenthalts in der Krippe wohl befanden, vor Preußische Jahrbücher. Bd.Xl.Vl. Heft i.

27

366

Ueber Maßnahmen nnd Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

Krankheit bewahrt blieben, an Frische und Kraft gewannen, während die dort nicht verpflegten Altersgenoflen vielleicht verkümmerten und dahin

starben!

Aber sie werden zugleich einsehen, daß die Beachtung einfacher

Regeln der Hygiene, der Reinlichkeit, der zweckmäßigen Ernährung dies Resultat zu Wege brachte.

Auch die Kleinkinderbewahranstalten kommen im Wesentlichen

der niederen Classe zu Gute.

Ihre Einrichtung ist bekannt; sie nehmen

Kinder auf, welche mindestens die ersten beiden Lebensjahre überschritten haben, jedoch noch nicht schulpflichtig sind.

Dieselben erhalten für eine

bestimmte Zeit des Tages Obdach, werden beaufsichtigt, angemessen be­

schäftigt, zur Reinlichkeit angehalten und, wenigstens in vielen Anstalten, auch beköstigt.

Der Nutzen der letzteren erhellt ohne Weiteres; er ist

ganz analog dem der Krippen, besteht also der Hauptsache nach im Fern­ halten der antihygienischen Einflüsse, denen die kleinen Kinder in der

elterlichen Wohnung ausgesetzt sind und im Ersatz der mütterlichen Aufsicht.

Nur ist der Nutzen nicht so direct wahrzunehmen, wie derjenige der Krippen, weil bei Kindern der beiden ersten Lebensjahre hygienische und und antihygienische Momente weit rascher und mächtiger ihre Wirkung äußern, als bei etwas älteren.

Im Uebrigen dürfen wir nicht verkennen, daß beide Arten von An­ stalten noch günstigeren Einfluß auf die Gesundheit der in ihnen gepflegten

Kinder haben würden,

wenn eine regelmäßige sachverständige Aufsicht

Statt hätte, wenn insbesondere die Salubrität der betreffenden Aufent-

haltSräume genügend überwacht würde.

Vorschriften darüber giebt eS

allerdings; aber sie stehen eigentlich nur auf dem Papier, und so kommt

eS, daß gar nicht selten ganz unpassende Lokalitäten, lichtarme, feuchte Zimmer zur Unterbringung der zarten Kleinen verwendet werden.

Sehr bemenkenSwerth ist eS, daß auch einzelne größere Fabriken ihre Krippe und Kleinkinderbewahranstalt eingerichtet haben.

im FamilistSre von Godin Lemaire zu Lille.

So ist eS z. B.

In dieser aus zwei mäch­

tigen Gebäuden bestehenden Cit6 ouvriere befindet sich auch ein P ouponnat und ein Bambinat.

In ersterem werden alle Säuglinge,

denen die mütterliche Fürsorge fehlt, von besonders dazu designirten Ar­ beiterinnen wie in einer Krippe verpflegt; das

Bambinat ist eine Art

Kindergarten, in welchem die etwas größeren Kinder beaufsichtigt, zur Reinlichkeit und Ordnung angehalten werden.

ES sind das Einrichtungen,

welche entschieden Nachahmung verdienen. Wie aber steht eS um den Schutz der thatsächlich armen Kin­ der, d. h solcher, deren Verpflegung und Erziehung ganz oder theilweise

auS öffentlichen Mitteln bestritten wird?

Hier ist ja ein direktes Ein-

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit^der Kinder.

greifen, ein Vorgehen mit Zwangsmaßregeln möglich.

367

Sehen wir uns

aber nach den factischen Leistungen um, so müssen wir sagen, daß die­ selben bei Weitem nicht dem entsprechen, was erreicht werden kann und muß. Ein Blick in unsere ländlichen Armenhäuser lehrt uns dies ohne Weiteres; und auch ein großer Theil der städtischen Armen- wie Waisen­

häuser bietet Verhältnisse dar, welche vom gesundheitlichen Standpuncte als sehr beklagenswerthe bezeichnet werden müssen. In den Armenhäusern der Dörfer, Flecken und vieler kleineren Städte leben die dort unterge­ brachten Familien fast ohne die geringste Aufsicht, in insalubren, dumpfen,

lichtarmen Räumen, umgeben von unglaublichem Schmutz, den die Gleich­ gültigkeit der Insassen sich ansammeln ließ, von Brot, Kartoffeln, schlech­ tem Kaffee und Branntwein sich nährend.

Die Kinder sind unter solchen

Einflüssen blaß, elend, scrophulöS, rhachitisch; wie könnte es anders sein?

In ihnen ziehen die Communen sich selbst die Armuth, das Elend, das Siechthum groß. Dächten sie mehr an die Zukunft, so würden sie anders handeln. Assanirung der Armenhäuser, permanente Ueberwachung der Insassen, rücksichtsloses Einschreiten gegen der Ordnung und der Reinlichkeit nicht

die, welche die Regeln beachten, das ist das

Mindeste, was gefordert und durchgesetzt werden muß, sowohl um der

Armen, als um der Communen und um des Staates willen.

Noch rich­

tiger wäre es, diese kleinen Armenhäuser ganz aufzuheben und an ihrer Stelle Kreis- oder Bezirksarmenanstalten einzurichten. Nur in größeren

Anstalten kann man eine hinreichende hygienische Ueberwachung und, was unbedingt nöthig, eine Jsolirung der Kinder von den Erwachsenen durch­ führen. Wir sehen dies ja in den Armenhäusern der bedeutenderen Städte, in welchen, obgleich auch sie vielfach der Assanirung bedürfen, die

Insassen doch der Regel nach, unzweifelhaft gesundheitlich besser gestellt sind, als in den kleinen ländlichen Armenhäusern. Eine andere Frage ist aber die, ob die armen Kinder überhaupt in geschlossenen Anstalten

untergebracht werden sollen. Die Erfahrung lehrt nämlich, daß in ihnen die jugendliche Bevölkerung nicht sonderlich gedeiht. Der kindliche Orga­

nismus verträgt noch viel weniger als der erwachsene, Mangel an Be­ wegung im Freien, Mangel an Licht und guter Luft.

Deshalb ist es

wohl erklärlich, weshalb die Klagen über die gesundheitlichen Verhältnisse der Kinder in den Armenanstalten, auch in den speciell für sie bestimmten,

den Waisenhäusern, immer auf's Neue erhoben werden. Höchst trau­ rig sind insbesondere die Berichte über die englischen Workhouses, in denen ja auch die Kinder, wenn schon von den Erwachsenen isolirt, Scrophulose, RhachitiS, schwere Augenentzündungen

untergebracht werden.

sind dort in ungemein großer Zahl verbreitet.

Allerdings liegt die Ur27*

368

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,

fache zum größten Theil in der Jnsallibrität der Anstalten, die meistens

aus alter Zeit stammen, und

eine Assanirung derselben ist dringendes

Bedürfniß, wie das gleichfalls bei dell meisten unserer Waisenhäuser der Fall ist.

Aber einen Theil der Schuld trägt zweifellos auch das die freie

Bewegung hindernde, abgeschlossene Leben, das der Entwicklung des kind­

lichen Organismus entgegen ist.

Diese Erkenntniß und die Erwägung,

daß das Zusammenleben in den Anstalten, der Mangel specieller Obhut

und individueller Berücksichtigung außer den gesundheitlichen auch ander­ weitige Gefahren mit sich bringt, hat dahin geführt, daß man in neuerer

Zeit die Unterbringung der armen Kinder, zumal der Mädchen, in Fa­

milien vorzieht.

Und in der That sprechen die Erfolge dieses Systems, so

weit sie bekannt geworden sind, entschieden für dasselbe vom sanitären, wie vom moralischen Standpuncte. Am besten beweisen dies die Berichteüber die Armenkinderpflege im Großherzogthum Baden.

Dort ist seit einiger Zeit

das ganze Armenwesen reorganisirt und zwar in einer vorzüglichen Weise. UnS interessirt es vornemlich, daß die Kreisverwaltungen sich eingehend

mit der, zunächst die Gemeinden angehenden, Armenpflege, speciell aber mit der Armenkinderpflege befaßt und für eine rationellere Handhabung der letzteren bedeutende Mittel bewilligt haben.

In einer ganzen Reihe

von Kreisen, jedoch nicht in allen, ist nun bezüglich der Kinder das System der Familienpflege angenommen worden.

Mosbach.

Den Anfang machte der Kreis

Er beschloß (1867 und 1868) mit eminenter Stimmenmehr­

heit, daß die armen Kinder der Regel nach bei sorgsam ausgewählten

Pflegeeltern und nur dann in Anstalten untergebracht

werden sollten,

wenn Familienpflege sich als unmöglich oder erfolglos herausstellen würde. Ein besonderes Regulativ wurde erlassen hinsichtlich der Auswahl der

Pflegeeltern und hinsichtlich der Pflichten derselben den Kindern gegenüber. Die Ueberwachung wieö man den Kreisabgeordneten, den Pfarrern und dem LandeScommissär zu, die directe Controls der Ausführung des mit

den Pflegepersonen vereinbarten Vertrages aber den Bezirksräthen, welche die Zahlung zu vermitteln und über den Gesundheitszustand, Kleidung,

Kost, Schulbesuch, sittliche Aufführung der Pfleglinge sich zu erkundigen haben.

Schon im Jahre 1868 brachte man von 590 angemeldeten armen

Kindern 392 in Familien unter und war mit dem Resultate sehr zu­ frieden.

Auch spätere Berichte, speciell des Sonderausschusses von 1877,

sprechen sich ungemein günstig über das System aus.

Bemerkenswerth

ist, daß selbst die unehelichen Kinder den Müttern nicht mehr gelassen

werden, wenn dieselben eine Unterstützung in Anspruch nehmen*). *) Näheres enthält die Zeitschrift für badische Verwaltung. folgende.

Jahrgang 1873 und

369

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

Gleiche Einrichtungen sind dann in anderen Kreisen, so in dem von Villingen, Waldshut, Freiburg und Lörrach getroffen worden und haben sich in allen bewährt.

Eine ganz vorzügliche Art der Armenkinderpflege

mit dem Principe der Jndividualisirung finden wir in Carlsruhe. Auch

hier werden die Waisen nur bei sorgfältig auSgewählten Familien unter­ gebracht, während man die Halbwaisen Kinder der Mutter beläßt.

Die

Controle wird von den Organen der communalen Armenpflege, die nach

dem Muster der Elberfelder

orgauisirt ist, in Verbindung mit Damen

vom badischen Frauenvcrein, Abtheilung II für Kinderpflege, ausgeübt.

Nach den über diese Controle erlassenen Vorschriften muß jede Aufsichts­

dame alle 14 Tage die ihr zugewieseuen Kinder besuchen.

Bei jedem

Besuche hat sie ein Blättchen auszufüllen und zwar mit Notizen über das

thatsächlich Wahrgeuommene.

Die Blättchen werden alle 4—6 Wochen

abgeholt, in dringlichen Fällen jedoch direct an den Geschäftsführer deS

Frauenvereins abgesandt.

Bei constatirter Nachlässigkeit der Pflegeeltern

kann die Communalbehörde beschließen, ihnen daS Kind wieder zu ent­

Auch die Halbwaisen werden, so lange die Mutter eine Unter­

ziehen.

stützung bezieht, controlirt und zwar ganz in der nämlichen Art, wie die Waisen.

Ist die Mutter nachlässig oder folgt sie nicht den Anordnungen

der Aufsichtsdamen, so kann ihr die Unterstützung entzogen werden.

Resultate dieses Systems sind außerordentlich günstig.

Die

Denn im Jahre

1875 starb von 122 in fremder Pflege befindlichen armen Kindern ein einziges; nur 3 derselben waren mittelmäßig

bis

schlecht, 33 gut bis

mittelmäßig, 86 sehr gut bis gut, 8 sehr gut verpflegt und erzogen.

So

zeigt sich auch hier wieder, ein wie wichtiger Factor in Bezug auf die

Erreichung hygienischer und socialer Ziele die Frauen sind, und wie sehr wir Ursache haben, uns ihre Mitwirkung in höherem Maße zu sichern,

als bislang geschehen ist.

Auch auderswo hat man die Vorzüge der Familienpflege schätzen ge­ lernt.

Von den im Jahre 1877 von Seiten der Commune Berlin ver­

pflegten 3186 armen, resp, von den Eltern verlassenen, Kindern wurden 2823 bei Pflegepersonen, nur 263 in Anstalten untergebracht.

Man zieht

auch dort mit Recht die ländliche Kostpflege vor und wählt die betreffenden

Familien mit Vorliebe in den nahegelegenen Pfarrdörfern aus, so daß oft in einem Orte sich eine ganze Zahl von Pfleglingen findet.

Ueber

diese führt dann ein dort ansässiger, Vertrauenswerther Mann gegen eine geringe Remuneration die Aufsicht. Für Kinder von weniger als 6 Jahren

ist außerdem fortlaufende ärztliche Ueberwachung angeordnet.

In Hamburg werden die Kinder absolut armer Eltern, oder solche, welche im Elternhause körperlich und moralisch verwahrlosen, sowie die

370

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,

unehelichen, für welche der Vater nicht sorgt, in Familienpflege, vorzugs­

weise in solche auf dem Lande gegeben.

Hier in Rostock ist diese Art

der Unterbringung armer Kinder gleichfalls Sitte, doch vermißt man eine

regelmäßige und genügende Aufsicht, ohne welche dies System gänzlich zu verwerfen ist.

In Cöln will man jetzt die bislang in Anstalten ver­

pflegten Waisenkinder bei geeigneten Pflegeelten unterbringen, in Erfurt

hat man einen gleichen Versuch mit den Kindern gemacht, für welche durch ihr Verbleiben bei den Eltern ein nachtheiliger Einfluß zu befürchten ist,

und die Stadt Leipzig hat vor Kurzem die Bedingungen bekannt ge­

macht, unter welchen sie arme Kinder in fremde Pflege geben will. ES sei an dieser Stelle kurz erwähnt, daß neuerdings in Italien und in Oesterreich

auch das Findlingswesen auf Grund der Ein­

führung einer ländlichen Einzelpflege verbessert worden ist.

Wie bekannt,

handelt eS sich nicht blos um die eigentlichen Findlinge, sondern auch um

verlastene Kinder, und um solche legitime, die die Eltern verloren haben

Diese Kinder wurden

oder deren Eltern im Gefängniße sich befinden.

früher innerhalb der Anstalten verpflegt und zwar bis zu einem bestimm­ ten Lebensjahre (in manchen bis zum fünfzehnten).

Die Resultate dieses

Systems waren aber höchst traurige, da die Mehrzahl der im ersten

Lebensjahre recipirten Kinder vor Ablauf desselben verstarb.

Jetzt hat man

in Folge dessen die Außenpflege eingeführt, d. h. man giebt die Säuglinge schon wenige Tage nach ihrer Aufnahme an sorgfältig ausgewählte Am­

men vorzugsweise auf dem Lande und läßt die betreffenden Kinder daselbst auch nach ihrer Entwöhnung, so lange die Statuten der Anstalt es be­

stimmen, bei Pflegeeltern, deren Eifer man durch häufige Visitationen und durch Prämien anzuspornen sucht.

ES ist dteS eine sehr bedeutsame

Reform, deren Segen schon jetzt klar zu Tage tritt.

Beispielsweise ver­

liert die große Mailänder Findelanstalt jetzt nur noch etwa 21 Procent aller Säuglinge bis zum vollendeten ersten Lebensjahre, d. h. nicht viel mehr als wie der allgemeine Durchschnittssatz ist.

Und dabei ist zu be­

denken, daß die Kinder, wie ich mich selbst überzeugt habe, ungemein oft

in einem außerordentlich elenden, verwahrlosten Zustande der Anstalt über­

geben werden.

Die Erkenntniß, daß die Einzelpflege fremder Kinder ohne fortlaufende Ueberwachung keine erfreulichen Resultate giebt, hat auch zu den Versuchen

einer Reform des sogenannten Zieh- oder HaltekinderwesenS Ver­

anlassung gegeben.

Daß dieselbe hochnothwendtg ist, darüber brauche ich

mich nicht deS Näheren auszusprechen.

Die ungemein große Sterblichkeit

der bei den Ziehmüttern untergebrachten Kinder ist auch den Laien längst

bekannt und oft genug hervorgehoben worden.

Sie legt den Behörden

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

371

geradezu die Verpflichtung auf, einzuschreiten und dies um so mehr, als

es nur zu offenkundig ist, daß eö sich in zahlreichen Fällen von Tod und

Siechthum der betreffenden Kinder um strafbare Unterlassungs- und Be­ gehungssünden handelt. Was ist nun bislang geschehen, um dem Uebel entgegenzutreten? Es sind Gesetze erlassen worden, deren Zweck es ist, eine Controle einzuführen. Ich erwähne zunächst des englischen Gesetzes:

act 1872.

Es bestimmt Folgendes:

Infant life protection

Niemand darf gegen Entgelt mehr

als ein Kind oder als ein Zwillingspaar von weniger als einem Jahr

länger als einen Tag verpflegen, wenn nicht zuvor Pflegeperson und deren Wohnung registrirt wurden.

Diese Registrirung wird von der Localbe­

hörde vorgenommen, und zwar unentgeltlich.

Es wird aber das Haus

nicht eher eingetragen, als Lis die Behörde sich von der Salubrität über­ zeugt hat, und die Pflegeperson nicht eher als solche registrirt, als bis sie

durch Zeugnisse nachgewiesen hat, daß sie einen guten Lebenswandel führe und in der Pflege von Kindern hinreichende Geschicklichkeit besitze.

Die

registrirte Pflegeperson soll in einem ihr zuzustellenden Buche das Datum

der Uebernahme, Namen, Alter, Geschlecht des Kindes, Namen und Adresse dessen, von welchem sie das Kind empfing, Datum der Rücknahme und Namen des Abnehmers notiren.

Jede Registrirung erfolgt nur auf ein

Jahr, kann aber schon früher gelöscht werden, wenn Verschlechterung der Wohnung oder Nachlässigkeit in der Pflege nachgewiesen wurde.

Etwaige

Todesfälle von Pflegekindern müssen binnen 24 Stunden nach dem Tode dem Leichenbeschauer angezeigt werden, wenn nicht das Zeugniß eines

qualificirten Arztes mit Angabe der Todesursache vorliegt.

Jedes Zu­

widerhandeln gegen das vorliegende Gesetz wird mit Geld- oder Gefäng­ nißstrafe geahndet. In Frankreich hatte man schon im Anfang dieses Jahrhunderts

durch Vorschriften über das Ammenwesen der ungemein großen Sterb­

lichkeit der in fremde Pflege gegebenen Kinder zu steuern versucht, aber ohne jeglichen Erfolg.

Die Uebelstände traten im

Gegentheil immer

stärker hervor, weil jene Gesetze gar nicht beachtet wurden, die Unsitte

aber, die Kinder bald nach der Geburt aus den Armen der Mutter fort in fremde Pflege zu geben, stetig zunahm.

Wir Deutsche können uns

nur schwer einen Begriff von dem Umfange des Haltekinderwesens in

jenem Lande machen.

Erscheint es uns doch kaum glaublich, daß, alljähr­

lich an 20000 Kinder allein aus Paris sortgesandt werden, und doch ver­ sichert dies Bergcron, ein französischer Arzt.

Hören wir dann aber weiter,

daß von diesen 20000 Kindern an 15000 nicht wieder zurückkehren, weil sie schon im ersten Jahre versterben, so fragen wir staunend, wie dem

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,

372

gegenüber die Eltern an der entsetzlichen Unsitte festhalten können.

Die

Regierung hat ihrerseits den Abgrund erkannt und neuerdings einen ernst­ haften Versuch gemacht, so weit eS an ihr liegt, dem Uebel entgegenzu­

treten.

Sie erließ am 23. December 1874 ein Gesetz über den Schutz

der in fremder Pflege untergebrachten Kinder, das im Wesentlichen Fol­

gendes anordnet: „Für alle gegen Entgelt bei Fremden untergebrachten Kinder unter 2 Jahren wird eine Aufsicht angeordnet, welche unter Oberleitung des

Präfecten durch Localcommissionen wahrzunehmen ist.

Diese, aus

dem Maire der betreffenden Gemeinde, einem Geistlichen und zwei Fa­ milienmüttern bestehend, hat die Aufsicht unter ihre Mitglieder zu ver-

theilen.

Eine weitere Ueberwachung wird durch besonders zu erwählende

JnspectionSärzte auSgeübt.

Diese sollen die Kinder, über welche eine

Aufsicht nach dem Gesetze erforderlich ist, innerhalb der ersten acht Tage nach geschehener Aufnahme, später allmonatlich wenigstens einmal besuchen

und allemal in ein der Amme resp. Pflegerin eingehändigtes Büchelchen den Befund eintragen, so oft sie eS für nöthig erachten, dem Maire und Präfecten Anzeige erstatten, jährlich letzterem einen Generalrapport ein­ senden, bei Erkrankungen der Pflegekinder dieselben behandeln, bei Todes­

fällen auf einem Berichtzettel die Ursache deS Todes vermerken. Ein be­ sonderes DepartementScomitö soll dem Präfecten berathend zur Seite

stehen.

Wer ein Kind in fremde Pflege geben will, muß dem Maire seines Wohnorts Anzeige machen.

Jede Person, welche ein solches Kind stillen

resp, verpflegen will, muß ein Certificat vorzeigen, welches, vom Maire

ausgestellt, außer über die Personalien, über den Lebenswandel der Be­ treffenden, über die Salubrität der Wohnung befriedigende Auskunft er­

theilt.

Sie muß fernerhin ein ärztliches Zeugniß beibringen, welches be­

scheinigt, daß sie zum Stillen tauglich ist, daß sie keine ansteckenden Krank­

heiten hat und daß sie geimpft wurde.

Eine Frauensperson darf ohne Erlaubniß des JnspectionsarzteS nicht

mehr als eilt Kind gegen Entgelt stillen und keine darf ohne Genehmi­ gung der Localcommission oder deS Maire mehr als 2 Kinder zu gleicher Zeit gegen Entgelt zur Verpflegung aufnehmen.

Das Gewerbe der Amuienvermittler ist an eine Concession gebunden,

die nicht ertheilt wird, wenn der Lebenswandel des zu Concessionirenden

zu Bedenken Veranlassung giebt, und die wieder entzogen wird, wenn nicht die Specialvorschriften genau erfüllt werden."

Zu diesem Gesetze ist dann noch am 27. Februar 1877 eine Aus­ führungsverordnung erschienen.

ES bleibt nun abzuwarten, ob mit Hülfe

lieber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

373

der neuen Bestimmungen der Schutz der Kinder sich wirksamer gestaltet, als bisher.

Gelangt das Gesetz zur thatkräftigen Durchführung, so lassen

sich allerdings manche Gefahren beseitigen, zumal

da die Aussicht auch

durch Familienmütter geübt werden soll. Eine gründliche Besserung wird aber nur dann erzielt, wenn das Volk von seiner tadelnswerthen Unsitte ab­ läßt, die Kinder außerhalb des elterlichen Hauses verpflegen zu lassen. In Deutschland fehlt ein

allgemeines

Kinderschutz-Gesetz.

Von

den Einzelstaaten hat das Großherzogthum Hessen ein solches er­

lassen und zwar mit folgenden Vorschriften: „Wenn ein Kind von weniger als 6 Jahren bei

Lebzeiten

eines

ehelichen Elterntheils oder der unehelichen Mutter außerhalb der elterlichen Wohnung gegen Entgelt in Verpflegung gegeben werden soll, so ist hierzu

die Genehmigung der Ortspolizeibehörde erforderlich.

Bei der Entschei­

dung der letzteren ist in Betracht zu ziehen, ob nach allen Umständen, nach der Persönlichkeit und den Verhältnissen des gewählten Pflegers dem

Kinde gebührende Fürsorge zu Theil werde.

Bestätigt sich diese Erwar­

tung nicht, so kann die Genehmigung zurückgezogen werden, in welchem

Falle das Kind alsbald aus der Pflege wieder zurückzunehmen ist.

Con-

travention gegen diese Bestimmungen wird mit Geldstrafe von 20—100

Mark geahndet.

Wer ein fremdes Kind unter 6 Jahren gegen Entgelt

in Pflege nimmt, muß dies der Ortspolizeibehörde anzeigen und ihr, so

wie den von dieser beauftragten Personen jederzeit Einblick in die Art der Pflege und den Zustand des betreffenden Kindes gestatten, auch jede

geforderte Auskunft ertheilen.

Im Weigerungsfälle tritt Strafe von 20

bis 150 Mark ein.

Bei Beendigung der Pflege oder zeitweiliger Unterbrechung derselben

muß eine Abmeldung Statt finden unter Angabe des Ortes, wohin das Kind verbracht wurde.

Contravention wird mit 2—30 Mark Strafe ge­

ahndet.

Wird ein Kind unter 6 Jahren in eine fremde

Gemeinde behufs

entgeltlicher Pflege weggethan, so haben die Eltern dies der Ortspolizei­

behörde binnen 24 Stunden anzuzeigen." Dies Gesetz hat den großen Vortheil vor den bisher mitgetheilten,

daß es auf Kinder der ersten sechs Jahre, nicht blos des ersten und zwei­ ten, Anwendung findet.

Im Uebrigen steht es dem englischen nach, wel­

ches den effectiven Nachweis verlangt, daß die Pflegeperson mit der Wartung von Kindern vertraut, und daß die betr. Wohnung saluber sei,

welches außerdem, was sehr wichtig ist, der Pflegeperson die Verpflichtung auserlegt, bei etwa eintretendem Tode des Kindes dem Leichenschauer un­

verzüglich Anzeige zu erstatten, und welches endlich, was nicht minder be-

374

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,

langreich ist, die Verpflegung von Kindern gegen Entgelt von einer vor­ gängigen Concession abhängig macht. 'Die deutsche Gewerbeordnung vom

Jahre 1869 hat, was sehr zu bedauern ist, das Gewerbe des Aufziehens fremder Kinder gegen Bezahlung noch nicht unter diejenigen Betriebe re-

gistrirt, welche der ConcessionSpflicht unterliegen.

Eben dies ist überhaupt

wohl der Grund, weshalb man in unserem Baterlande ein energisches

Daß aber sehr wohl die Möglichkeit gegeben

Vorgehen bis jetzt vermißt.

ist, auf ortSpolizeilichem Wege ernsthafte Maßnahmen zum Schutze

der Haltekinder zu treffen, zeigt eine am 1. December 1875 in Chemnitz erlassene Verordnung.

Dieselbe statuirt kurzweg die ConcessionSpflicht

für alle Zieheltern, resp, alle Personen, welche gegen Entgelt nicht nahe

verwandte Kinder verpflegen.

Diese Concession wird nur auf Widerruf

und nur gut beleumundeten Personen ertheilt, wenn sie in geordneten

Verhältnissen leben und eine gesunde Wohnung inne haben.

Die Zahl

der von einer Person verpflegten Kinder darf zu gleicher Zeit nicht mehr als drei betragen. — Die Controle üben die Polizei und die Armenbe­

hörde, diese durch die Armenpfleger, außerdem die Armenärzte.

Letztere

sollen die betreffenden Eltern, über welche ein Verzeichniß angestellt ist, besuchen und über den Befund der Kinder an die Polizei berichten. Den

Pflegepersonen wird eine Instruction, welche über ihre Pflichten sie auf­ klärt und eine Belehrung zugestellt, welche über die gesammte Pflege der Kinder in eingehender, aber sehr klarer Form sich ausspricht.

(Den

Wortlaut der Verordnung und der Instruction nebst Belehrung viele in Stolp'S Ortsgesetze Bd. IX.)

In anderen Städten sind polizeiliche Vorschriften über Zugang, Ab­ gang und Tod der Haltekinder erlassen worden; doch dürfte damit wenig

erreicht werden.

In den bei Weitem meisten Orten ist aber gar Nichts

geschehen, so dringlich sich auch fast überall die Angelegenheit gestaltet.

Um so nothwendiger erscheint eine gesetzliche Regelung, die sehr wohl all­ gemein für daS ganze Reich unter Abänderung der Gewerbeordnung von

1869 und unter Zugrundelegung der englischen Infant life protection

act 1872 erfolgen kann.

Da es aber vor Allem auf eine streng durch­

geführte sachkundige Aufsicht ankommt, so müssen sehr präcise Bestim­

mungen hinsichtlich derselben in daS Gesetz ausgenommen werden.

Als

Princip wird aufzustellen sein, daß die Ueberwachung regelmäßig durch die Armenärzte und die Medicinalbeamten geübt werde.

sich

Aber eS dürfte

auch, int Hinblick auf die günstigen Resultate deS Systems der

Armenkinderpflege in Carlsruhe, empfehlen, eS auszusprechen, daß da, wo Kinderschutzveretne oder Frauenvereine bestehen, diese Seitens der

mit der Ausführung des Gesetzes beauftragten Behörde zur Theilnahme

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

an der Ueberwachung aufzufordern seien.

375

Das Nähere der Ausführung

wäre dann durch Localstatut festztlstetten.

In der That kann es nur segensreich sein, wenn die Organe der öffentlichen Sicherheit und Gesundheit sich

mit den Organen der frei­

willigen Hülfe zur Erreichung des von beiden erstrebten Zieles verbinden.

Den ersteren ist dann in den mit der Kinderpflege vertrauten Frauen eine ebenso sachverständige, wie aufopferungsfähige und hingebende Mit­

wirkung gesichert,

Behörde die

erst durch die Anlehnung an die

den letzteren aber

Möglichkeit gegeben,

kräftig

und

umfassend

aufzutreten.

Darum sollte man sich nicht blos bemühen, eine gesetzliche Regelung des

Ziehkinderwesens durchzusetzen, sondern auch dahin streben, daß Kinder­ schutz- und Frauenvereine in möglichst großer Zahl erstehen. Ein sehr wesentlicher

Gewinn

würde

es

endlich

sein, wenn die

Communen aus dem Armenfonds eine angemessene Erhöhung des

Pflegegeldes, wo dies nöthig ist, und besonders eine Remuneration für gute Pflege bewilligen wollten.

Zum Schlüsse gestatte ich mir noch einige Worte über die öffentliche

Fürsorge für kranke, resp, kränkliche und schwächliche Kinder. Das erste Desiderat ist natürlich das Vorhandensein von Aerzten,

welche auch die Krankheiten des kindlichen Alters zu behandeln und zu verhüten verstehen.

Daß dies sich nicht, wie Viele und besonders viele

Studirende der Medicin glauben, ohne Weiteres aus einer Kenntniß der Krankheiten des Erwachsenen ergiebt, ist gewiß.

Denn manche Krankheiten

der Kinder kommen nur oder fast nur bei diesen vor, andere treten bei

ihnen mit ganz specifischen Symptomen auf, vor Allem aber muß die

Verhütung

und

Behandlung

Grundsätzen geübt werden.

dieser Krankheiten nach, ganz besonderen

Es ist also nöthig, das betreffende Fach als

selbstständige Disciplin zu lehren und zu lernen.

In Wahrheit ist das­

selbe aber bis auf die jüngste Zeit weit weniger beachtet worden, als es

verdient.

ES gab Hochschulen und giebt es noch, auf denen die Hygiene

und Krankheitslehre des kindlichen Alters gar nicht oder nicht regelmäßig

vorgetragen werden, auf denen Einrichtungen zur klinischen Demonstration von Kinderkrankheiten nur als Nothbehelf bestehen.

Daß in dieser Be­

ziehung eine Reform erforderlich ist, wird wohl allgemein anerkannt. Die angehenden Aerzte müssen mit einem größeren Schatz von Kenntnissen in

beiden ebengenannten Disciplinen ihre Praxis beginnen, als bisher, wo

sie zum Schaden ihrer Clienten diese Kenntnisse sich erst in der Praxis und durch dieselbe langsam erwerben konnten. Ein zweites Desiderat sind Spitäler für Kinder,

klin. Unterrichts, als

sowohl

des

auch insbesondere der Behandlung selbst wegen.

376

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

In größeren Städten sind sie absolute- Bedürfniß, weil die Kinder der

ärmeren Classen mit Erfolg in den Wohnungen derselben nicht behandelt werden können, sog. Kinderabtheilungen in den Krankenhäusern aber immer nur unvollkommen ihrem Zwecke entsprechen.

Eine Nähere Begründung

dieser Ansicht wird man an dieser Stelle nicht erwarten; ich weise nur

darauf hin,

daß die immer steigende Zahl von Kinderheilanstalten die

Thatsächlichkeit ihre- Werthe-

am besten illustrirt.

unseres Jahrhundert- wurde da-

Um den Beginn

erste selbständige Spital für Kinder

gegründet, e- war die maison de l’Enfant Jösus zu Paris.

Langsam

traten neue hinzu, von denen neben einigen poliklinischen Instituten, das

Nicolaispttal in Petersburg und das St. Annenkinderspital zu Wien die bekanntesten sind.

Dann folgte in Deutschland die Gründung von Kinder­

spitälern in Berlin, in Hamburg, Stuttgart, Frankfurt a. M., Mün­ chen u. s. w.

Jetzt finden wir sic in den meisten bedeutenden Städten

unseres Vaterlandes, zum Theil musterhaft eingerichtet, wie z. B. das neue Kinderkrankenhaus in Dresden an der Chemnitzerstraße.

Von aus­

ländischen verdienen eine rühmende Erwähnung dasjenige zu Lissabon,

das zu Manchester, das zu London in Great Ormond Street, das des Prinzen Peter von Oldenburg in Petersburg und das von St. Wladimir in Moskau, welches letztere nahe der Stadt im.Walde gelegen, aus einem

Hauptgebäude, einem kleineren Beobachtungshause, einem Jsolirhause für

Masern, einem für Scharlach, einem für Blattern, einem für Diphtheritis,

einem für Syphilis und aus Evacuirungsbaracken bestehend, alle Ver­

besserungen der modernen Spitalhygiene aufweist.

Besonders reich an

Kinderheilanstalten der verschiedensten Art ist Paris; außer dem oben er­ wähnten noch bestehenden Spitale hat es das Höpital Ste. Eugönie, das

Asyl in der Rue Lacourbe, das Institut der protestantischen Diakonissen

in der Rue Reuilly, das Höpital Rothschild für israelitische Kinder, daS Asyl für unheilbare Mädchen in Neuilly und andere mehr.

Sehr beachtenSwerth sind einzelne Special-Einrichtungen dieser Art. Ich denke dabei zunächst an die Spitäler für Scrophulöse,

von

denen dasjenige zu Turin (di Santa Filomena) durch vortreffliche Ver­ waltung bekannt ist, dann aber besonders an die sog. Ospizi marini, die Seehospize, welche für eben solche Kranke bestimmt, die glänzend­ sten Erfolge hinsichtlich der Behandlung derselben erzielt haben.

Dieser

Umstand, der angesichts der traurigen Resultate einer anderweitigen Be­ handlung von hoher allgemeiner Bedeutung ist, rechtfertigt es wohl, wenn

einige kurze Notizen über sie hinzugefügt werden.

Die älteste derartige

Anstalt ist genau genommen Royal sea-bathing infirmary and Royal hospital for scrofula in Margate.

Als eigentlichen

Schöpfer

aber

377

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder.

müssen wir den Italiener Barellai nennen, dem es durch Rede und

Schriften gelang, gegen Ende der fünfziger Jahre das Seehospiz von Viareggio, nordwestlich von Pisa, das erste an der italienischen Küste, zu

eröffnen. Es folgten die zu Voltri, Rimini, Sestri, Porto d'Anzigo, Venedig,

In ihnen finden die armen

Livorno und noch mehr als zehn andere.

Scrophulösen unentgeltliche Aufnahme und

Verpflegung;

sie genießen

6—8 Wochen die heilsame Wirkung der Seeluft, wie der See­

durch

bäder und über die Hälfte kehrt geheilt, der Rest wesentlich gebessert Bald nach der Eröffnung der Anstalt zu. Viareggio wurde in

zurück.

Frankreich die erste gleicher Art, nämlich diejenige von Berck sur mer (1861) eingerichtet, welche jetzt für nicht weniger als 600 Kinder Raum

bietet,

und deren Resultate ebenso vorzüglich sind, wie diejenigen der

italienischen Hospize.

Auch Nord-Amerika ist nicht zurückgeblieben.

Durch

Vereinsthätigkeit entstand das Beverly sea-hospital bei Boston, ein anderes

an der Küste von Pennsylvania, ein anderes bei New-Iork, allerdings nicht blos für Scrophulöse.

Auf dem Michigan-See ist ein floating hospital

eingerichtet, und von New- Jork fährt im Sommer auf Veranlassung eines Wohlthätigkeits - Vereins

ein

solches

schwimmendes Spital

mit

schwächlichen Kindern und deren Pflegerinnen jeden Morgen in See, um den Tag über auf derselben zu bleiben.

Holland hat das schöne See­

hospiz, die Sophia-Stiftung, zu Scheveningen, Dänemark dasjenige zu Refnaes eingerichtet.

In Deutschland finden wir bis jetzt nur drei bescheidene Anstalten dieser Art, zu Norderney, zu Wyk auf Föhr und zu Gr. Müritz in Meckl., besitzen aber dafür fast 20 Heilstätten für scrophulöse Kinder in den

Soolbädern,

z. B.

in Jagstfeld,

Rothenfelde,

Kreuznach,

Sülze, außerdem noch ländliche Genesungsstätten für schwächliche Kinder

in Godesberg und zu Augustusbad, alle durch milde Beiträge ge­

gründet und unterhalten.

Die Resultate, die auch in ihnen erzielt werden,

sind überaus vorzüglich und treiben uns an, mit der Förderung dieses

Liebeswerks, der Neubegründung solcher Einrichtungen zu Gunsten der

scrophulösen und schwächlichen Kinder unbemittelter Eltern weiter vor­ zugehen.

Die allerneuste Zeit hat endlich noch eine hervorragende Leistung der

freiwilligen Hülfe zu verzeichnen, welche kränklichen, schwächlichen Schul­

kindern sich zuwendet, ich meine die sogenannten Feriencolonieen.

Die

erste Anregung zu ihrer Einrichtung durch freiwillige Beiträge gab der

Prediger Bion zu Zürich im Jahre 1876.

In Deutschland hat die Stadt

Frankfurt a. M. und in derselben vor Allem der Geh. Sanitätsrath Dr.

Varrentrapp das Verdienst, das

Beispiel gegeben zu haben.

Während

378

Ueber Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Gesundheit der Kinder,

des Sommers 1878 wurde der erste Versuch mit 97 kränklichen, armen Schulknaben gemacht, die auf'S Land geführt wurden, um hier unter salubreren Verhältnissen sich zu erholen. Im folgenden Sommer hatte man

bereits die.Mittel, um 90 Knaben und 48 Mädchen nahezu vier Wochen auf'S Land zu senden.

Die Berichte über den Erfolg lauten so aus­

nehmend günstig, daß eine Nachahmung in anderen Städten dringend zu wünschen ist.

Wien und Stuttgart, Bremen, Dresden und Berlin haben

diesen Schritt bereits gethan, und auch dort ist der Erfolg ein sehr er-

muthigender gewesen. Das sind in kurzen Zügen die wesentlichen Ziele und die hauptsäch­

lichsten Leistungen der öffentlichen Fürsorge für die Kinder. Ein Vergleich dessen, waS geschehen ist und dessen, was wir erstreben, lehrt, daß überall erst der Anfang mit ernsten Maßnahmen zum Schutze des Heranwachsen­ den Geschlechtes gemacht ist, und daß unendlich Viel

werden muß.

noch nachgeholt

Was aber mit Freude erfüllt, ist der unverkennbare Eifer

zahlreicher Kreise,

an einer Besserung der bisherigen Zustände mitzu­

arbeiten und dieselben nicht allein von dem Vorgehen der Behörden zu erwarten.

In der That können ja die letzteren, zumal auf diesem Gebiet

nur den gravirendsten Uebelständen abhelfen; eine gründliche Beseitigung

der zahlreichen Uebelstände und ein durchgreifender Schutz ist nur zu er­ zielen, wenn auch die freiwillige Hülfe in zweckentsprechender Weise orga-

nisirt wird, und wenn außerdem der Einzelne selbst durch Erziehung, durch Belehrung wie durch Beispiel die Erreichung des Zieles nach Kräften zu fördern sich bemüht.

Rostock.

Prof. Dr. Julius Uffelmann.

Heinrich Luden*) „Lust und Liebe sind die Fittige zu großen Thaten."

An dieses

Goethesche Wort möchte ich erinnern in dem Augenblicke, da ich mich vor die Aufgabe gestellt sehe, daS Gedächtniß eines Mannes zu feiern, der

unserem hier versammelten Kreise nahe steht durch werthe, noch heute in

unserer Mitte lebende Glieder seiner Familie, als verdienter und beliebter langjähriger Lehrer unserer Hochschule, als Vertreter seiner Wissenschaft

und als deutscher, nicht ohne Erfolg in die Geschicke seines Vaterlandes

eingreifender Patriot.

Daß jener schöne Goethesche Spruch besonders

geeignet ist, in daS Verständniß des Gefeierten einzuführen, gleichsam daS Geheimniß seiner von so überaus reichem Erfolge gekrönten akademischen

Wirksamkeit zu enthüllen, wird ein Blick auf Leben und Streben deS

Mannes zur Genüge klar legen. Heinrich Luden wurde am 10. April 1780 zu Loxstedt im Herzogthum Bremen als der Sohn eines schlichten LandmannS geboren.

UeberauS

dürftig sind wir unterrichtet über seine Jugendzeit; ein Dunkel liegt über

ihr, das selbst seine nächsten Angehörigen jetzt nicht mehr aufzuhellen ver­ mögen.

Wenn eS in dem ihm in der Jenaischen Literaturzeitung gewid­

meten Nekrologe heißt, er sei anfangs vom Vater zum Kaufmann oder Oekonomen bestimmt gewesen, so paßt das zu der Aeußerung Johannes

von Müllers in dessen 1805 geschriebener Vorrede zu LudenS ErstlingS*) Akademische Festrede, gehalten in der Aula zu Jena am 12. Juni 1880 zur hundert­ jährigen Gedächtnißfeier LudenS von Profeffor vr. Dietrich Schäfer. — Quellen: LudenS Schriften, wie sie in der Darstellung selbst Erwähnung finden; Luden, Rückblicke in mein Leben; Eichatadii opuscula oratoria; Friedrich von Müller, Erinnerungen auS den Kriegszeiten von 1806—1813; Theodor Müllers Jugend­ leben von Karl Robert Pabst; Henke, Fries' Leben; Robert und Richard Keil, Geschichte des Jenaischen StudentenlebenS; R. Keil, das Wartburgsest von 1817 und 1867; Leo, aus meiner Jugendzeit; I. C. GenSler, Berurtheilung und Recht­ fertigung in der von Kotzebueschen Bulletin-Sache; Urtheil der Juristen-Facultät zu Würzburg 1818; Jen. Literat. Ztg. 1804 —1806; Literar. Wochenblatt, her­ ausgegeben von August von Kotzebue 1818; LektionSkataloge der Universität Jena 1806—1845. — Briefe von Johannes von Müller, Bredenkamp, Heeren, Eichstädt, Johannes Voigt an Luden, sämmtlich im Besitz des Herrn Ober-Appellations Ger. Rath« Profeffor Dr. Hr. Luden in Jena. Letzterem, dem Sohne des Gefeierte», sowie einer Reihe ehemaliger Hörer und Bekannter Heinrich LudenS ist der Berfaffer außerdem für mündliche Mittheilungen zu Dank verpflichtet.

Heinrich Luden.

380

werke, daß der Verfasser „vor kaum neun Jahren noch mit aller Wissen­ Eben 1796 wurde der

schaft und Gelehrsamkeit unbekannt gewesen fei".

16 jährige dem Bremer Domghmnasium

(Athenäum) anvertraut; drei

Jahre

zu Göttingen, Theologie

später

studiren,

bezog

er

die Universität

eine Aufgabe, die er in vierjährigem

zu

Universitätsaufenthalt

bis zur bestandenen Kandidatenprüfung durchführte.

Wiederholt hat er

die Kanzel bestiegen, mit Beifall gepredigt; eine seiner Predigten ist so­ gar im Druck erschienen.

Wenn er trotzdem daS ohne Zweifel höchste

Ideal seines Vaters, als Pastor seine Heerde zu weiden, nicht verwirk­ lichte, so hinderten ihn daran in erster Linie seine anderweitigen wissen­ schaftlichen Neigungen. Schon daß in Göttingen Planck der Hauptsührer

deS jungen Theologen wurde, läßt auf die historische Richtung in dessen Studien schließen.

Die ausgezeichnete Vertretung, deren sich damals die

Geschichte in Göttingen erfreute, konnte dieser Neigung nur förderlich sein; Schlözer, (Satterer und besonders Heeren wurden gehört, mit Letzterem

eine Verbindung geknüpft, die für'S Leben dauern sollte.

Daneben wid­

mete sich der bildungsfähige, lernbegierige junge Mann noch der Philo­

sophie und Philologie; der alte Heyne lernte ihn schätzen.

Die erste Ver­

bindung, in die Luden mit Jena trat, war eine philologische.

Als im

Jahre 1801 Eichstädts Lucrez erschienen war, sandte der Göttinger Stu­

dent dem Herausgeber eine Uebersetzung des ersten BucheS im Versmaß deS Originals; noch nach des jüngeren Kollegen Tode hat der alte Je­

nenser Philologe der wohlgelungenen, äußerst sauber geschriebenen, von ihm sorgfältig bewahrten Arbeit mit Anerkennung gedacht.

Nur vermuthen können wir, wohin Luden nach Beendigung seiner Göttinger Studien seine Schritte lenkte.

Ein Jahr lang verschwindet er

unS vollständig au« dem Gesichte; höchst wahrscheinlich verlebte er es größtentheils auf dem Lande im Hannoverschen.

Erst im September 1804

finden wir ihn wieder in Berlin und zwar als Hauslehrer beim Staats­

rath Hufeland, eine Stelle, die er bis ins Jahr 1806 inne hatte.

Sie

gab ihm mannichfache Gelegenheit zu weiterer Ausbildung, wissenschaftlich und gesellschaftlich.

Das lebhafte Wohlwollen, das der einflußreiche, edle

und feingebildete Mediciner gar bald für „seinen guten Luden" empfand

und ihm stets bewahrte, beweist deutlich genug, daß der junge Mann auch hier Zeit und Gelegenheit zu nutzen verstand, daß er in der That,

wie Johannes von Müller von ihm rühmt, „durch Rechtschaffenheit und

daS trefflichste Aufstreben sich vielen edlen Menschen lieb zu machen wußte". Eben durch Hufeland ist Luden diesem

größten Historiker seiner Zeit,

vielleicht einem der kenntnißreichsten Männer aller Zeiten, zugeführt wor­

den, durch Hufeland wurde Johannes von Müller mit LudenS Wunsch

381

Heinrich Luden.

bekannt, sein Erstlingswerk, eine Biographie des Thomasius, durch eine

Vorrede des berühmten Mannes in die wissenschaftliche Welt eingeführt

zu sehen.

Der Wunsch wurde erfüllt; Johannes von Müller schloß die

Empfehlung mit den Worten: „Der Vorredner müßte den Verfasser schlecht

kennen, wenn er nicht weit vollkommenere Arbeiten als diese erste von ihm erwarten und versprechen zu können glaubte".

Luden war auf die

günstigste nur denkbare Art der gelehrten Welt vorgestellt worden. Inzwischen hatten sich die Beziehungen zu Jena erweitert.

Eichstädt

war 1803 an die Spitze der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung ge­

treten; Luden lieferte Recensionen

für das Blatt,

die gefielen.

Sein

„Thomasius" wurde der philosophischen Fakultät zu Jena Anlaß, ihm im Juli 1804 die Doktorwürde zu verleihen.

Der ersten Schrift folgte zu

Anfang 1806 eine zweite, ähnlich, doch umfassender angelegte: die Bio­

graphie des Hugo Grotius.

Beide lassen schon deutlich die eigenthüm­

lichen Vorzüge der Ludenschen Geschichtschreibung

erkennen:

Klare und

gewandte Darstellung, kunstvolle und übersichtliche Gruppirung des Stoffes, warme Hingabe an den Gegenstand. Sie machten es Eichstädt leicht, für

die Erfüllung des von dem jungen Schriftsteller ausgesprochenen Wunsches,

in Jena Stellung zu finden, zu wirken.

Unterstützt von den warmen

Empfehlungen Johannes von Müllers und wahrscheinlich auch Hufelands

gelang es leicht, Karl August und den Geh. Rath von Voigt, den der­ zeitigen Leiter der Universitätsangelegenheiten, zu gewinnen.

Goethe er­

klärte, daß die Recension von Fichtes „Wesen des Gelehrten", die Luden der Literaturzeitung geliefert hatte, „von einem sehr vorzüglichen und ge­

bildeten Geiste zeuge", und nahm, wie Eichstädt schreibt, „den wärmsten Antheil an Ludens Herberufung."

So wurde der 26jährige junge Mann

im Mai 1806 zum Professor extraordinarius an unserer Hochschule er­

nannt, die er bis an sein Lebensende zieren sollte. Die Berufung traf Luden in Göttingen.

Dorthin hatte er sich von

Berlin auS begeben, um mit Hülfe der reichen Universitätsbibliothek seine historischen Arbeiten fortzusetzen, vielleicht auch in der Hoffnung, an der Georgia Augusta dauernd Boden zu gewinnen. zunächst ein Ende gemacht.

Diesem Gedanken war nun

Mit Hufeland, der von Pyrmont über Weimar

und Jena nach Berlin zurückkehren wollte, reiste Luden im Juli 1806 nach Thüringen.

Hufeland war es, dem er das Glück verdankte, gleich

am ersten Tage seines jenenser Aufenthaltes in Knebels Hause dem in der

besten Laune

auS Karlsbad

zurückkehrenden Goethe vorgestellt

zu

werden; auch seine Einführung in den Kreis der Professoren, aus dem ja Hufeland selbst erst vor wenigen Jahren geschieden war, wurde ihm

durch diesen

wesentlich erleichtert.

Preußische Jahrbücher. Bd, XLVl. Heft 1.

Vor allen Andern schloß sich Luden

28

Heinrich- Luden.

382

dem edlen alten Griesbach an, dem er sich schon vorher durch Zusendung

seiner Schriften empfohlen hatte, und der ihm bis an sein Lebensende eine durch Rath und That bethätigte warme Neigung bewahrte.

Bis in den

Anfang September dauerte der Aufenthalt: Luden wurde vor dem aka­ demischen Senate vereidigt, orientirte sich über den Bestand der Universi­ tätsbibliothek, förderte diese und jene Studie.

er noch eine Wohnung. heiratet;

im Laufe des

Vor der Abreise miethete

Spätestens seit dem Frühling 1804 war er ver­ Sommers waren die Ausstattungsgegenstände

nach und nach in Jena eingetroffen.

Luden hatte sie in der gemietheten

Wohnung (es war in dem jetzt dem Tischler Dreisprtng gehörigen Hause hinter der Kirche) wohl verwahrt; seine aus Ersparnissen mühsam erwor­ bene, schon recht ansehnliche Bibliothek (ihren Werth hat Luden selbst später auf mindestens 2000 Thaler angegeben) hatte er dort ebenfalls

aufgestellt.

So glaubte er alles wohl vorbereitet für die Uebersiedelung.

In den ersten Septembertagen wanderte er zu Fuß über den Harz nach Celle, Frau und Kind, ein Töchterchen von l*/2 Jahren, herüberzuholen. Nach einem Besuche in Bremen und

bei den Eltern in Loxstedt

finden wir den jungen Profeffor im Oktober 1806 auf der Fahrt von Celle nach Jena in gemiethetem Fuhrwerk, das neben der Familie den

geringen Rest der Haushaltung herüberführte. Der Krieg zwischen Preußen und Frankreich drohte; aber wer hätte geglaubt, daß er in Thüringen würde auSgefochten werden?

Noch als Luden am 12. Oktober zwischen

Halle und Naumburg durch preußische Versprengte beunruhigende Nach­

richten über eine Schlacht bei Saatfeld erhielt, tröstete ihn der Pfarrer

des nächsten Dorfes: Menschen achten?

„Wie können Sie auf das Wort eines verlaufenen

Ja, es kann zum Kriege kommen,

weit, weit von hier.

aber

gewiß nur

Die Preußen und die Sachsen sind auSmarschirt,

daS ist gewiß, aber sie sind längst über Erfurt und Gotha hinaus; sie

müssen bald in Frankfurt sein; und die Franzosen, die noch im südlichen Deutschland sind, werden Eile nöthig haben, wenn sie Paris decken wollen.

Da, am Rhein, jenseit des Rheines, da mag es zum Kriege kommen;

hier nicht.

Ja, die Preußen und die Sachsen!" — Noch am selben Tage

aber mußte Luden umkehren, im Bade Lauchstädt eine Zuflucht suchen. Dort hielt ihn der Donner der Kanonen von Auerstädt am 14. in ängst­

licher Aufregung.

Als dann die Schlacht entschieden, die Niederlage der

Preußen offenkundig war, hinderte das Heranziehen der auf Berlin marschtrenden französischen Armee daS Fortkommen.

Nur mit Mühe gelang

eS, Naumburg zu erreichen, nur dem Zufall dankte man dort ein Unter­ kommen bet freundlichen Leuten und dürftige Verpflegung. Mit Eichstädt,

der als Deputirter der Universität Jena an Napoleon zurückkehrend Raum-

Heinrich Luden.

383

bürg berührte, fuhr dann Luden auf dessen Aufforderung allein mit nach Jena, nach dem ©einigen zu sehen.

Es war Nacht, als man ankam.

Stand der Dinge erkennen zu lassen.

Wenige Minuten genügten, den Der Hauswirth, ein alter Magister

Student, nach der ausgestandenen Noth der letzten Wochen selbst in Klei­

dung, Haltung und Geberde kaum wiederzuerkennen, empfing Luden schon an der Treppe mit den Worten: „Herr Professor Luden, Herr Professor Luden, in welches Unglück kommen Sie herein! Von Allem, was Sie in

mein Haus gebracht haben, werden Sie nicht das Geringste wieder finden." Es war so.

Luden selbst schildert uns die Scene:

„Auf dem Vorsaale

lagen Koffer, Kisten, Tonnen, aufgebrochen, zerbrochen und zusammenge­

fallen, durcheinander. waren abgesprengt.

Die Thüren der Zimmer standen auf; die Schlösser Die Zimmer selbst waren ganz mit Stroh angefüllt,

das größten Theils aufgelockert dalag, wie wenn es durchwühlt worden wäre.

Es war nicht möglich, mit einem Lichte hinein zu dringen; ich

warf daher nur einen Blick auf meine Repositorien und bemerkte, daß auch meine schönen Bücher sämmtlich dahin waren.

Schweigend wandte

ich mich um und schweigend ging ich die Treppe hinab; erst in der Haus­

thür sagte ich gute Nacht und trennte mich auch von Eichstädt.

Ich ging

nach dem Griesbachschen Hause (das nahe gelegene, frühere landwirth-

schaftliche Institut), ohne recht zu wissen warum.

Zuversichtlich suchte ich

keinen tröstenden Zuspruch, wahrscheinlich ein Nachtlager."

Die Lage war schwierig genug.

Luden war ohne Gehalt berufen.

Privatvermögen besaß weder er noch seine Frau.

So galt es das tägliche

Brod in des Wortes eigentlicher Bedeutung zu erwerben.

Luden hat sich

damals zu Arbeiten bequemt, die er unter andern Umständen wohl nicht

in die Hand genommen hätte.

Dahin gehört die Uebersetzung des Ja-

copo Ortis, einer italienischen Nachahmung des Werther, die er auf den Rath Johannes von Müllers nach einem von diesem geliehenen Exem­

plare fertigte. — Dazu kam nun die bedrängte Stellung der Universität. Ueberaus schwer lastete der Krieg mit seinen Folgen auf dem weimari-

schen Lande.

Napoleon haßte den Herzog; er konnte demselben die Er­

füllung seiner militärischen Pflichten als preußischer General nicht ver­

zeihen.

Hätte nicht die Verwandtschaft mit Rußland zu politischer Rück­

sichtnahme veranlaßt, Karl August würde eben so wenig im Besitz seines Landes geblieben sein wie der Herzog von Braunschweig.

DaS Miß­

trauen und den Widerwillen aber gegen den durchaus selbständigen, kraft­

vollen Mann konnte Napoleon um so weniger überwinden, als kein

deutscher Fürst dem fremden Emporkömmling gegenüber sich weniger ver­ gab als Karl August.

Die Gesinnungen gegen den Herzog fanden ihren 28*

Heinrich Silben.

384

wahren Ausdruck, als der leidenschaftliche Mann einmal gegen einen Wei­

marischen Staatsdiener, den Kanzler von Müller, in die Worte ausbrach:

„Ihr Fürst ist der unruhigste in ganz Europa" (votre prince est le plus remuant de toute l’Europe).

Als Staps 1809 in Schönbrunn

die Ermordung des Kaisers geplant hatte, war Napoleons Meinung, daß diese That nur in Weimar oder Berlin angestiftet sein könne.

Und es

war nicht nur persönliche Abneigung und politische Erwägung, die den

Herrscher Europas so reizbar und empfindlich machten gegen den kleinen thüringischen Fürsten.

Mit dem feinen Gefühl, das Napoleon eigen war

für Alles, was ihm gefährlich werden konnte, merkte er sehr bald heraus,

daß in der reinen und klaren Luft des weimarischen Landes, in diesem

Brennpunkte deutschen Lebens, ein Geist geweckt, genährt und gepflegt werde, der, wenn er das ganze deutsche Volk durchdrang, das glänzende Gebäude der Fremdherrschaft unfehlbar in Trümmer stürzen mußte. Und die Universität war in erster Linie Pflanzstätte dieses Geistes.

der, daß Napoleon sie mit blinder Gehässigkeit verfolgte.

Kein Wun­

1806 war über

den Umfang der Fleischrequisitionen geklagt und angeführt worden, daß

selbst den Professoren der Unterhalt fehlen werde. wortet:

Napoleon hatte geant­

„Aber ich sehe durchaus nicht ein, warum diese Herren Fleisch

essen müssen".

Als am 2. April 1813 einige als Kosaken verkleidete

Studenten vom Hausberg her die in Jena einquartirten Franzosen alar-

mirt und zu schnellem Rückzug veranlaßt hatten*), befahl Napoleon, die

Nur mit Mühe wurde er bewogen, den Befehl

Stadt niederzubrennen.

zurückzunehmen,

bestand zunächst durchaus darauf, daß wenigstens die

Häuser der Professoren verbrannt werden müßten.

Er beschuldigte diese,

freche und revolutionäre Reden zu führen, den revolutionären Samen

überall unter der Jugend auszustreuen, und schloß seine Ergießungen in höchster Erregung mit den Worten:

„Aber daß man diesen Herren von

Jena eine recht scharfe Lektion giebt, damit eS ihnen klar werde, daß ich nur mit den Augen zu winken brauche, um die ganze Universität für

immer zu vernichten.

WaS wollen denn alle diese Ideologen, alle diese

albernen Schwätzer (radoteurs)?

Sie wollen die Revolution in Deutsch­

land, sie wollen sich frei machen von all den Banden, durch die sie an

Frankreich gekettet sind". Von diesen Drohungen und Beschuldigungen konnte Luden ein gut

Theil auf sich beziehen, denn er war nicht der letzte gewesen, der in dem

von Napoleon verabscheuten Sinne gewirkt hatte.

Die materielle Noth

deS Anfangs war, wenn auch nicht rasch überwunden, so doch leicht ge*) So Fr. v. Müller: nach einer mündlichen Ueberlieferung soll im Mllhlthale von Studenten auf die abziehenden Franzosen geschossen worden fein.

Heinrich Luden-

tragen worden.

385

Neben Griesbach hatte die Ludensche Familie vor Allem

an dem Landsmann und Kollegen Seidensticker und dessen ebenfalls aus Niedersachsen stammender Frau eine Stütze gefunden.

Mit Darlehen

aller Art hatten sie ausgeholfen; von den Göttinger und besonders den

Bremer Freunden waren Sendungen von Geld und Kleidungsstücken ge­

kommen.

Dazu half der Herzog vom zweiten Jahre ab durch ein festes

Gehalt.

Als eine unschätzbare Stütze erwies sich in diesen trüben Tagen

der feste Muth der nie verzagenden jungen Frau, die sich bald durch ihr

gediegenes Wesen in den Kreisen der Kollegen die allgemeinste Achtung und Liebe erwarb und dauernd behauptete. hat

und später

Luden damals

Immer und immer wieder

dankbar anerkannt,

ist

eS

von

sol­

chen, die der Familie nahe standen, rühmend hervorgehoben worden, wie wacker die Frau dem Manne zur Seite gestanden mit tröstlichem Zuspruch,

klugem Rath und nimmer ermüdender That. aller Hindernisse

So wurde eS diesem trotz

nicht schwer, seinen Sinn fest

Amtes zu richten.

auf die Pflichten des

Und wie hätte nun er, der Lehrer der Geschichte, zu

einer Zeit, da, um mit seinen eigenen Worten zu reden, „alle Menschen

klüger und besser waren, als sie früher gewesen, als sie sich später ge­

zeigt haben, weil es nur ein Gedanke war, der sie ergriffen hatte, daS Vaterland", nicht von diesem Gedanken durchdrungen sein sollen, der nach seiner Ueberzeugung

„alle Ideen

stimmung von Bedeutring sind".

einschließt, die für des Menschen Be­

Mochten andere Vertreter der Wissen­

schaften an deutschen Hochschulen sich zurückziehcn in ihre Gelehrsamkeit, mochte selbst ein Heeren, Ludens geschätzter Lehrer, erklären:

„Ich habe

mich lange in Alles resignirt, so lange man mich nur in meiner Studir-

stube in Ruhe läßt"; Luden war entschlossen, an seinem Platze zu leben und

zu sterben für die Wiederarrfrichtung des am Boden liegenden Vaterlandes. Bei jener ersten Begegnung mit Goethe im Knebelschen Hause hatte

der Dichterfürst den neuen Professor am nächsten Morgen zu sich kommen heißen, um, wie er sich ausdrückte, „mit dem neuen Freunde doch auch ein ernstes Wort zu sprechen", wozu es in der lustigen Abendgesellschaft

nicht gekommen war.

Nach einer langen Unterhaltung über den Faust,

die uns Luden in den „Rückblicken in mein Leben" ausführlich mittheilt,

hatte Goethe begonnnen, dem historicus etwas auf den Zahn zu fühlen.

„Sie wollen also — Geschichte lehren? wollen ein — Historiker werden?

oder vielmehr sind ein — Historiker", mit diesen skeptischen Worten hatte er das Gespräch auf das eigenste Gebiet des jungen Hochschullehrers hin­

übergetragen und im weiteren Verlaufe desselben lebhaftem Mißtrauen Ausdruck gegeben gegen den Werth historischer Wahrheiten, hatte das ganze Resultat historischer Forschung beschränkt auf, um mit seinen Wor-

Heinrich Luden.

386

ten zu reden, „die eine große Wahrheit, die längst entdeckt ist, und deren

Bestätigung man nicht weit zu suchen braucht, die Wahrheit nämlich, daß eS zu allen Zeiten und in allen Ländern miserabel gewesen".

ES waren

Aeußerungen nicht gerade sehr ermuthigend für den angehenden Professor, aber Luden behauptete mit Glück

seinen Standpunkt.

dem

überlegenen Manne gegenüber

Er lehnte es bescheiden ab, schon ein Historiker zu

sein, blieb aber dabei, daß es sein heißester Wunsch sei, diesen hohen Namen zu verdienen.

Er gab zu, daß historische Wahrheiten nur eine

relative Geltung beanspruchen könnten, leugnete aber, daß das ihre Be­ deutung für die Entwickelung der Menschheit verringere.

Mit Geschick

führte er Lessing für sich ins Treffen, der mit Entschiedenheit das Streben nach Erkennen als das Wesen menschlicher Geistesthätigkeit in Anspruch

nimmt, nicht daS Erkennen selbst. Er anerkannte als richtig die Worte FaustS: Was ihr den Geist der Zeiten heißt,

DaS ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten stch bespiegeln,

aber er setzte ihnen die Erklärung entgegen: „Wenn uns die Herren aber

Geist geben, und wäre eS auch der eigene, und wenn sie unS in diesem Geiste daS Spiegelbild der Zeiten zeigen, so können wir, denke ich, einiger­

maßen zufrieden sein."

Der Skepsis des Dichters begegnete er mit

jener warmen, echt menschlichen Begeisterung für seine Aufgabe, die der Urquell alles menschlichen Schaffens ist, und die ihren Eindruck nie ver­

fehlen wird, so lange eS noch unbefangene, vorurtheilSfreie Gemüther giebt. — Auch Goethe konnte sich ihrer Wirkung nicht entziehen.

Der

junge Mann, der „jedes Falles glaubte, daß derjenige, der Tüchtiges in

der Geschichte leiste. Niemandem seine Stelle zu beneiden brauche", gefiel

ihm.

Er entließ ihn mit dem Zeugniß, daß er in seinem wissenschaft­

lichen Streben auf gutem, auf dem rechten Wege sei, er gab ihm Rath­ schläge für die historische Darstellung, er sprach es als seine gewisse Hoff­

nung aus, daß LudenS Anstellung in Jena Gutes für die Universität und für ihn selbst zur Folge haben werde. £>te Hoffnung ging reichlich in Erfüllung.

Mit hingebender Treue

widmete sich Luden seiner Aufgabe, erweckte Eifer, weil er selbst von hei­ ligem Eifer durchglüht war.

Doch konnte er nur allmählich in sein eigent­

liches Fahrwasser einlenken.

Die ordentliche Professur der Geschichte war

besetzt von Heinrich; auS Rücksicht auf diesen rieth Eichstädt, von geschicht­

lichen Vorlesungen zunächst höchstens nur „allgemeine Welthistorte" anzu­

kündigen, sonst andere Sachen, besonders Aesthetik, auch Logik und Meta­

physik, und dann

„in der Ankündigung etwas von Schelltngschen und

Fichteschen Ansichten merken zu lassen".

In der That hat Luden wieder-

Heinrich Luden.

387

holt Aesthetik gelesen, 1808 auch „Grundzüge ästhetischer Vorlesungen zum akademischen Gebrauche" erscheinen lassen.

Auch Staatswissenschaft, Na­

tur- und Völkerrecht hat er in den Kreis seiner Vorlesungen hineingezogen.

Mehr und mehr aber wandte er sich denn doch bald der Geschichte und der ihr verwandten Politik zu; auch seine literarische Thätigkeit bewegte sich bald ausschließlich in diesen Bahnen.

Getragen aber wurde seine ganze Wirksamkeit von dem einen Ge­

danken, der nach seinem Ausdruck „Alle ergriffen hatte", von dem Ge­

danken

des Vaterlandes.

Nichts schien ihm

geeigneter, das gesunkene

Nationalgefühl neu zu beleben, als das Studium der vaterländischen Ge­ schichte.

Hatte er doch schon gegen Goethe die Wahrheit des Satzes ver­

fochten, daß die Geschichte eines Volkes sein Leben, nur aus ihr sein

Geist zu erkennen sei.

Im Sommer 1808 las er zum ersten Male Ge­

schichte der Deutschen; französische Posten standen an der Thür des Audi­ toriums, die gefährliche Vorlesung zu überwachen.

er vier Vorträge voraus,

Als Einleitung schickte

die er zwei Jahre später

unter dem

„Einige Worte über das Studium der vaterländischen Geschichte" Manuskript für Zuhörer und Freunde

drucken ließ.

Titel

als

Nur eine weitere

Ausführung des Schillerschen Wortes An'S Vaterland, an's theure, schließ' Dich an, Das halte fest mit Deinem ganzen Herzen; Hier sind die starken Wurzeln Deiner Kraft

sind eigentlich diese Vorträge.

Luden sieht die Wissenschaft in Gefahr,

den Zusammenhang zu verlieren mit dem nationalen Leben; er erklärt

es für ihre dringendste Aufgabe, dem zu begegnen. Theoretisch habe man das Wesen des Staats untersucht und

Grunde gehen lassen.

darüber den

In schalen Kosmopolitismus

eigenen Staat zu

habe

man seinen

Ruhm gesetzt, wahre Bürgerlichkeit als ein Zeichen von Engherzigkeit und

Unkultur betrachtet.

Unsere Geschichte überblickend, zeigt er, wie wir

„aus den ersten der Christenheit die letzten geworden, wie wir angefangen haben, unsere Nachbaren nachzuahmen, uns in französischer Zunge und

Manier geübt, in der schlechtesten aller Sprachen, der fadesten aller Weisen,

uns fast unserer deutschen Abkunft geschämt haben und aufgehört, Deutsche zu sein", wie wir uns selbst zerfleischt haben, Deutsche gegen Deutsche

kämpfend unsere Selbständigkeit verloren haben. mahnt er dann:

In schlichten Worten

„Glaube nicht, Patriotismus dadurch zu beweisen, daß

du dich laut desselben rühmst, beim Mahle, beim Becher, dessen Wirkung morgen vorüber ist; glaube ihn nicht in einzelnen Ausbrüchen gegen Ein-zelne zu zeigen, durch Handlungen oder Worte, zu welchen auch die Roh­

heit fähig wäre; auch nicht darin, daß du daS Wort: deutsch beständig

Heinrich Luden.

388

auf der Zunge führst; zeige deinen Patriotismus durch ein frommes Fest­ halten am Leben der Väter im stillen Gemüthe, durch Pflege und War­

tung

alles dessen, was

in

deutschem Sinne erzeugt und geboren ist.

Vergeude nicht deine jugendliche-Kraft leichtsinnig in Spielerei und Thor­ heit; die Zeit ist ernst und erfordert einen ernsten Sinn; verliere dich

nicht in leere Allgemeinheiten und spitzfindige Grübeleien: auf sehr ein­

fachen Grundsätzen ruht die Ehre wie die Freude des Lebens; bewahre

den freien, treuen Sinn; zeige die höchste Strenge in der Wissenschaft

wie im Leben, im Handeln wie im Urtheil,

aber lenke Alles auf das

Eine, was Noth thut, auf Volk und Vaterland.

Das und nur das ist

deine Ehre vor Welt und Nachwelt".

ES war eine für Jena neue Art die Geschichte zu behandeln.

Denn

auch nach Eichstädts Urtheil, der mit LudenS Lehrweise und Auffassung

nicht so ganz übereinstimmte, war Professor Heinrich allerdings ein sehr

gelehrter Mann, der eine unendliche Reihe von Zahlen und Namen in

einem treuen Gedächtniß bewahrte, aber doch ein überaus trockener Er­ zähler, im Grunde genommen nur ein Uebermtttler von Memorirstoff.

Seine neunbändige deutsche ReichSgeschichte war ein vielgebrauchtes Hand­ buch, wie denn an zahlreichen Universitäten deutsche Geschichte angekündigt

worden ist „duce Heinrichio“.

Aber sie behandelte die Sache nach der

im 18. Jahrhundert herrschend gewordenen Weise: habita potissimum ratione constitutionis rei publicae, jurum et worum.

Da galt eS

vor allen Dingen das ebenso verwickelte wie unfruchtbare Studium der

Reichsinstitutionen, jener unerschöpflichen Fundgrube der deutschen Histo­ riker und Staatsrechtslehrer des vorigen Jahrhunderts für die Uebung ihres gelehrten Scharfsinns und die Bethätigung

besserer Zwecke würdigen Fleißes.

ihres unermüdlichen,

ES war, wie Johannes Voigt sagt:

„Das Reich hat bei uns das Vaterland vergessen lassen, und die Geschichte deS Reiches hat die des Vaterlandes lange genug vertrieben."

LudenS

Auftreten hatte um so mehr Erfolg, als gerade in Jena durch Fichtes und Schillers Wirksamkeit Interessen über daS bloße Brodstudium hinaus

rege geworden waren, Interessen, die bei der gerade in diesen Jahren in Jena herrschenden philosophischen Dürre in erster Linie der Beschäftigung

mit der Geschichte zu Gute kommen mußten.

Dazu forderte die Zeit ge­

bieterisch, sich nicht von der Gegenwart ab-, sondern ihr zuzuwenden, for­

derte das vor Allem von der Geschichte.

Wie horchte man auf, als in

diesen Zetten der Erniedrigung einmal wieder mit Wärme vom deutschen Volke und vom deutschen Vaterlande geredet wurde!

Erstarb doch auch

in diesen Tagen der tapfere deutsche Sinn unter den jenenser Studenten-

nicht, wie das in Duellen fließende Blut französischer Officiere bezeugte.

389

Heinrich Luden.

Hielt es doch Napoleon für angezeigt, 1809 das bei den

thüringischen

Musensöhnen so beliebte Jodeln verbieten zu lassen: in modum Tiroli-

nensium ululare, wie der Prorektor Eichstädt in der betreffenden Ver­ ordnung es bezeichnete.

Bei solcher Stimmung

Vorlesungen bald eines lebhaften Zuspruchs.

erfreuten sich Südens

Gerade aus dem Beginn

seiner Thätigkeit haben wir ein schönes Zeugniß über seine Wirksamkeit von Johannes Voigt.

Der spätere preußische Historiker schreibt:

„Der

Winter von 1806/7, wo ich das erste Mal Sie hörte, bleibt in meinem

Leben meine wichtigste Periode;

ich gebe mein, obwohl schlecht nachge­

schriebenes Heft nicht um Vieles weg", und ein ander Mal: „Sie haben mich einmal vom Versinken ins Gemeine und Alltägliche gerettet".

Daß

Luden den späteren preußischen General, damals Major von Grolmann, der den Krieg von 1806/7 mit Auszeichnung mitgemacht,

1809 unter

österreichischen Fahnen, dann in Spanien gegen Napoleon gefochten hatte,

in französische Gefangenschaft gerathen und aus derselben entflohen unter

falschem Namen nach Jena gekommen war, während eines Aufenthaltes von wenigen Monaten so sehr fesselte, daß der junge Professor der intime Vertraute des drei Jahre älteren Welt- und kriegserfahrenen, in Scharn­ horsts unmittelbarer Umgebung gebildeten Soldaten wurde, dem dieser

allein sich entdeckte, beweist deutlich genug, wie tief der Eindruck war, den Lehre und Persönlichkeit des Mannes machten. — Und die Anerkennung blieb nicht auf den Kreis der Studirenden beschränkt; auch bei den Kollegen und der Regierung fand Luden die ver­

diente Werthschätzung.

1808 wurde er zum ordentlichen Honorarprofessor,

1810 an Heinrichs Stelle zum ordentlichen Professor der Geschichte er­ nannt, im Mai 1811 in amplissimum philosophorum ordinem ausge­ nommen; den Hofrathstitel erhielt er von Weimar, Gotha verlieh ihm

den Charakter eines geheimen Hofraths; sein Gehalt wurde 1816 nicht unwesentlich erhöht. — Daß es auch an Gegnern nicht fehlte, soll, ob­

gleich selbstverständlich, doch nicht ganz unerwähnt bleiben; der Briefwechsel

mit Heeren läßt erkennen, daß Anfeindungen verschiedener Art Aergerniß bereiteten.

Doch bezogen sich dieselben ganz überwiegend auf literarische

Fragen; und hier können sie nicht Wunder nehmen, da Luden ein Gebiet betreten hatte, auf dem wohl nicht so leicht Jemand seine Stimme erheben

wird ohne Widerspruch zu erregen — nämlich das politische. Was Luden im ersten Jahrzehnt seiner Anstellung in Jena schrift­ stellerisch geleistet hat, liegt überwiegend aus diesem Gebiete.

Ein Aufsatz

über Venedigs Entstehung, Blüthe und Verfall stammt noch aus der vor-

jenaischen Periode: er ist der zufällig gerettete Rest einer bei jener Plün­ derung verloren gegangenen, im Manuscript fertigen vollständigen Ge-

390

Heinrich Luden.

schichte des Freistaats; auch eine Biographie Sir William TempleS, ein

Seitenstück zum Thomasius und Hugo GrotiuS, entstand nach Plan und Anlage in jener Zeit.

1814 kam dann die aus Vorlesungen hervorge­

gangene „Allgemeine Geschichte der Völker und Staaten des Alterthums" hinzu, ein einbändiges Handbuch.

schreibung dieser Jahre.

Darauf beschränkte sich die Geschicht­

Nur zu einem geringen Theile hat daö seinen

Grund in' der schon angedeuteten anfänglichen Richtung der akademischen Thätigkeit LudenS auf die der Geschichte verwandten Disciplinen, weit

mehr in dem lebhaften Interesse deS Mannes an den Fragen der Gegen­ wart, seiner begeisterten Theilnahme an den Geschicken des Vaterlandes.

Diesen Quellen entflossen seine 1808 erschienenen „Ansichten des Rhein­ bundes", die schon im nächsten Jahre eine neue Auflage erlebten.

ES

gab der Lobredner genug in Deutschland, welche die neue Rheinbunds­ herrlichkeit priesen, Deutschland schöner als je emporblühen sahen unter „Napoleon,

aller

großen Fürsten größtem, unter Deutschlands guten,

kenntnißreichen Beherrschern".

Er zeigte, wie

Dem trat Luden entgegen.

der Rheinbund entstanden, daß er für Frankreichs,

nicht Deutschlands

Interesse errichtet, daß er jenem dienen solle und diene nicht diesem, daß in ihm für den Bestand deutscher Art, deutscher Sprache, deutschen Geistes­

lebens keinerlei Garantien gegeben seien, daß das alles

nur gedeihen

könne in einem freien Staate, was der Rheinbund nicht sei: der Freiheit eines Volkes hängt seine ganze Kultur ab.

„Denn von

Ich gestehe es,

ich habe wegen der Zukunft mit herzzerschneidendem Schmerze die Un­ abhängigkeit unseres gemeinschaftlichen Vaterlandes untergehen sehen; der

größte Theil meines Geistes und Herzens liegt begraben unter Deutsch­ lands Trümmern."

Es waren Gedanken, die in jenen Tagen auszusprechen, man deS

Muthes bedurfte;

Luden besaß ihn gepaart mit kluger Geschicklichkeit.

Die „Ansichten" erschienen anonym als „Briefe zweier Staatsmänner".

Die Anonymität wurde so gut gewahrt, daß selbst Heeren den Autor nicht errieth.

Die Fiktion zweier Korrespondenten ergab die Möglichkeit, den

einen Ansichten vertreten zu lassen, an denen auch die Gegenpartei Wohl­ gefallen haben konnte.

Die Größe und Güte Napoleons wird von beiden

Seiten rückhaltslos zugestanden; über seine Welt- und völkerbeglückenden

Absichten könne kein Zweifel aufkommen; aber von der einen Seite wird doch Gewicht darauf gelegt, daß auch Napoleon ein Mensch bleibe und

nicht ewig leben könne, daß ihn die Götter einmal unter sich aufnehmen

würden, und daß man es mit den bleibenden Interessen der betreffenden Völker und Staaten, mit ihrer innern Natur zu thun haben werde, die

ihre Leiter auch gegen ihren eigenen Wunsch in bestimmte Bahnen zwingen

Heinrich Luden.

391

werde. — Es ist derselbe Gedanke, der dann den Kernpunkt der nächsten

größer« politischen Schrift Luvens bildet, seines „Handbuchs der Staats­ weisheit oder der Politik" vom Jahre 1811, der überhaupt die Grundlage

seiner politischen Anschauungen geworden ist.

Er saßt den Staat als

eine im Wesen des Menschen begründete Institution, als eine gar nicht

hinweg zu denkende Form menschlichen Zusammenlebens.

Er sieht in ihm

je nach den natürlichen Verhältnissen und dem Gang der Entwickelung einen eigenthümlichen Geist sich bilden, einen Geist, der in der Geschichte

sich offenbart und den man nur durch das Studium dieser erkennen kann. Ueberhaupt ist sein ganzes Denken über den Staat ein durchaus histori­ sches, auf historischem Boden erwachsen, aus historischen Gesichtspunkten

urtheilend.

Die daraus, besonders für jene Zeit, resultirenden Mängel

haften auch dem Handbuch an, vor Allem denjenigen Partien, welche die verschiedenen Gebiete inneren staatlichen Lebens behandeln.

Aber die aus

jenen Grundgedanken gezogenen Konsequenzen waren doch fruchtbare Ideen,

durchaus gedacht im Geiste unserer Zeit.

Das dauernde Heil des Staates

ist nach Luden nur zu suchen in den Institutionen, nicht in den Personen.

Diese können auch bei der größten Begabung und dem edelsten Wollen die Völker nur wahrhaft fördern, wenn sie in deren Geiste handeln, Ge­

stalt geben den Gedanken, die in den Völkern lebendig geworden sind. Glücklich daher der Staat, dessen Entwickelung gesichert ist durch Insti­ tutionen, die seinem Geiste entsprechen, die stets ein Ausdruck desselben

bleiben und doch seinen Gang an bestimmte Bahnen fesseln.

Nur in der

Form ständischer Vertretungen ist es heutzutage möglich, solche Institu­

tionen zu schaffen.

Ludens Losungswort ist daher das Losungswort des

19. Jahrhunderts: Konstitutionen, verfassungsmäßige Gestaltung des innern

Staatslebens.

An der Schwelle unseres Jahrhunderts tritt er mit Ent­

schiedenheit für den Gedanken ein, der dem innern politischen Leben der Staaten unserer Zeit die Signatur geben sollte. —

Es ist ein Gedanke, der den rothen Faden bildet in der bedeutendsten

publicistischen Leistung Ludens, der Herausgabe der von-1814—1818 er­

schienenen politischen Zeitschrift „Nemesis". mus der Anlaß.

Auch hier war sein Patriotis­

Als die verbündeten Armeen nach Thüringen kamen,

zahlreiche Studenten, zum großen Theil angeregt von seinen Vorlesungen, zu den Fahnen eilten, wollte auch Luden durchaus Soldat werden.

Mit

Mühe redete ihm Major von Grolman den Gedanken aus, rieth, daheim

zu bleiben und „dem Vaterlande mit Wort und Schrift zu dienen, der deutschen Jugend die Grundsätze, die er selbst von ihm gehört habe, so

tief in ihre Herzen einzugraben, daß sie nimmer verlöschen könnten". war die Anregung, die zum Erscheinen der Nemesis führte.

Es

Sie gab da-

392

Heinrich Luden.

durch auch Anlaß zu einer zweiten nähern Berührung mit Goethe.

Der

Herausgeber, Bertuch, wünschte, daß Luden sich deS Einverständnisses der Weimarischen Behörden vergewissere.

von Voigt stimmte freudig

Herr

zu, aber Goethe war nicht ohne Bedenken.

Er sah voraus, daß die Zeit­

schrift bald in Opposition zu deutschen Fürsten gerathen werde, sah dem

Weimarischen Lande, der Universität Gefahren erwachsen; er bedauerte, nicht „Ich würde Sie aufgefordert haben, bei

eher gefragt worden zu sein.

Ihren gelehrten geschichtlichen Arbeiten zu bleiben oder vielmehr, da Sie sich schon in politica eingelassen und sogar ein Handbuch der StaatS-

weisheit geschrieben

haben, zu Ihren geschichtlichen Arbeiten zurückzu­

kehren, die Welt ihren Gang gehen zu lassen und sich nicht in die Zwiste der Könige zu mischen, in welchen doch niemals auf Ihre und meine

Stimme gehört werden wird."

Luden widersprach; und Goethe ließ sich

auf weitere Auseinandersetzungen und Begründungen ein, die zuletzt so scharf und individuell wurden, daß Luden später für besser gehalten hat, sie der Nachwelt nicht aufzubewahren.

Aber er schied von dem großen

Manne „auf das Innigste überzeugt, daß diejenigen im ärgsten Irrthum

sind, welche Goethe beschuldigen, er habe keine Vaterlandsliebe gehabt,

keine deutsche Gesinnung, keinen Glauben an unser Volk, kein Gefühl für

Deutschlands Ehre oder Schande, Glück oder Unglück.

Sein Schweigen

bei den großen Ereignissen und den wirren Verhandlungen dieser Zeit war lediglich eine schmerzliche Resignation, zu welcher er sich in seiner

Stellung und bei seiner genauen Kenntniß von den Menschen und von

den Dingen wohl entschließen mußte". Die Nemesis erschien.

Sie hat es im Laufe der vier Jahre auf

12 starke Bände gebracht, ein treues Abbild

und Bestrebungen jener bewegten Zeit.

der Hoffnungen,

Wünsche

Sie fand lebhaften Beifall bei

den Gesinnungsgenossen, und durch nicht minder lebhaften Widerspruch

haben die Gegner zu erkennen gegeben, welche Bedeutung sie ihr beilegten. Von den verschiedensten Seiten liefen Beiträge ein, Luden selbst rührte fleißig die Feder,

Anfangs nur gegen Napoleon und die Franzosen ge­

richtet mit bem ceterum censeo:

„Trauet ihnen nicht, trauet ihnen nicht,

trauet ihnen nicht", fing die Nemesis bald an, die Ereignisse in ganz

Deutschland, in der Schweiz, in Frankreich und England lobend und tadelnd, mahnend und warnend, fragend und belehrend zu begleiten, Un­

recht scharf zu rügen, für gekränktes Recht wacker etnzutreten.

Auch wirth-

schaftliche Fragen der verschiedensten Art zog sie in den Kreis ihrer Be­

sprechungen.

Der Schwerpunkt ihres Interesses aber blieb stets bei der

Entwickelung verfassungsmäßigen Lebens, in Deutschland speciell jenes

Artikels 13 der BundeSakte, der nach langen Berathungen endlich die

Heinrich Luden.

vieldeutige Fassung erhalten hatte: landständische Verfassung stattfinden."

393

„In allen Bundesstaaten wird eine Es konnte nicht ausbleiben, daß

die Nemesis, indem sie das Recht des deutschen Volkes auf verfassungs­

mäßige Gestaltung seines Staatslebens wenn auch bescheiden

und

mit

Mäßigung, so doch entschieden und ohne Schwanken vertrat, in Konflikt

kommen mußte mit jenen einflußreichen und an den entscheidenden Stellen

immer mehr Boden gewinnenden Kreisen, die unbedingt entschlossen waren,

der Ausführung jenes Artikels der Bundesakte entgegenzuwirken. Sachsen-Weimar war der erste deutsche Staat, der dem Artikel 13

Folge gab; vollständig aus freiem Antriebe, ohne dynastische Nebenzwecke

that sein Fürst Schritte zur Einführung einer Verfassung. 1816 wurde sie publicirt.

Am 5. Mai

Sie brachte dem Lande auch die Preßfreiheit.

Wohl wesentlich mit auf Grund dieser nahm dann die politische Tages­ schriftstellerei im Großherzogthum einen raschen Aufschwung.

Der Nemesis

folgten 1816 Brans Minerva und Okens Isis; gleichzeitig begann Luden selbst, der von 1815—1816 auch die bei Brockhaus in Leipzig erschei­

nenden „Deutschen Blätter" redigirt hatte, das „Allgemeine Staatsver­

fassungs-Archiv",

das allerdings schon 1817

wieder

einging;

in

eben

diesem Jahre eröffnete Kühn sein „Oppositionsblatt", Martin brachte den

„Neuen rheinischen Mercur" mit nach Jena herüber; 1818 folgte Wieland,

der Sohn des Dichters, mit dem „Volksfreund", dessen Name aber zu einer Zeit, wo man in Wien auf dem Leopoldstädter Theater die Aufführung eines Stückes verbot, weil in der Ankündigung von „altdeutscher Tracht" die Rede gewesen war,

Anstoß erregte, so daß das Blatt nach wenig

Wochen, da auch der von Wieland vorgeschlagene Titel „Fürstenfreund" nicht genehmigt war, als „Patriot" weiter erscheinen mußte.

Diese lebhafte

publicistische Thätigkeit ließ alle freisinnigen Deutschen hoffend nach den Heimstätten Schillers und Goethes, Herders und Wielands schauen, aber

sie veranlaßte auch jene Männer, die nichts gelernt und nichts vergessen

hatten, die noch

damals das höchste Ziel ihrer Bestrebungen

in

der

Wiederherstellung der durch die französische Revolution und ihre Folgen

vernichteten alten Zustände sahen, ihre Blicke, wie Luden sagt, „angstvoll auf die Höhen des schönen Thüringens zu richten".

Die Denunciationen

begannen, der „SchmalzianismuS", wie Luden es nannte, das „Schmalz-

gesellenthum", wie die Studenten sagten; Herr von Kamptz drang auf „ernsthafte Maßregeln" und „exemplarische Bestrafungen". der Studenten in Jena war diesen Männern ein Greuel.

Das Treiben

Unter Karl

Augusts eigensten Auspicien, darf man wohl sagen, war hier die Burschen­

schaft groß geworden, hatte sich zu einer einzigen, alle Studenten um­

fassenden Verbindung gestaltet.

Welcher Geist in ihr herrschte, darüber

Heinrich Luden.

394

ist bei allen unbefangenen Zeitgenossen nur eine Stimme.

Wohl nie

wieder hat eS eine Studentenschaft gegeben, in der, als Ganzes betrachtet,

ein so ernster, reiner, frommer, ein wissenschaftlich so strebsamer Sinn geherrscht hat wie in der jenenser Burschenschaft der Jahre 1815—1819.

Geh. Rath von Hendrich, der weimarische Gesandte am Bundestage, stellte ihr dort am 1. April 1819 das schöne Zeugniß aus, „die Studirenden seien in den Jahren 1816 und 1817 leichter zu regieren gewesen als je, eS habe unter ihnen ein wirklich musterhafter Fleiß geherrscht, von

Spaltungen sei gar nicht, von Zweikämpfen nur selten die Rede gewesen;

Wahrheit, Mäßigkeit, Religiösität seien als Tugenden anerkannt worden, auf welche der Studirende unter Studirenden habe stolz sein dürfen." — ES war das lebhaft erwachte Vaterlandsgefühl, aus dem dieser Geist ent­

sprungen war.

Daß aber Luden, dem der Gedanke des Vaterlandes ja

alle Ideen einschloß, die für des Menschen Bestimmung von Bedeutung sind, in erster Linie dazu betgetragen hatte, diesen Geist zu wecken, liegt

nicht nur nahe zu vermuthen, sondern wird durch zahlreiche Zeugnisse er­ wiesen.

„Alle diese Gedanken", sagt der Wartburgsfestredner, der spätere

Pastor Riemann in Meklenburg, noch aus 50jähriger Erinnerung, „haben wir einst mit Begeisterung in LudenS und Fries herrlichen Vorträgen

eingesogen und tief in unserer Brust treu gepflegt und aufgehoben."

Daß

daS deutsche Wesen sich manchmal geltend machte als Deutschthümelei, daß der frisch-frei-froh-fromme Bursch sich hin und wieder arg teutonisch recken­

haft geberdete, daran konnte doch nur Anstoß nehmen, wer die Jugend und besonders die akademische nicht verstand oder nicht verstehen wollte,

wer die kaum überwundene Zeit des RenommistenthumS schon vergessm

hatte oder sie geflissentlich ignorirte.

LudenS Meinung war:

„Die Jugend

muß brausen, wie der junge Wein; dann wird sie, wie er, mild und stark

zugleich werden". „Aber", fügt er hinzu, „wer elfer Rheinwein und dreizehner deutsche Jugend gut vertragen soll, der muß selbst nicht kraftlos sein." —

Und deren, die die dreizehner deutsche Jugend nicht vertragen konnten, fanden sich nun doch gar viele in den leitenden Kreisen. burgsfest gab den Anlaß

zum Einschreiten.

DaS Wart­

Oesterreich und Preußen

sandten Kommissäre nach Weimar, Rußland und Frankreich mischten sich

ein („vier Großmächte gegen Weimar und die Studenten", sagt GervinuS). Zum 16. December 1817 sollte der österreichische Gesandte in Dresden, Graf Zichh, nach Jena kommen, daS Treiben der Studenten in Augen­ schein zu nehmen.

ES war gerade Blüchers Geburtstag, den die Bur­

schen, deren Losung für äußere und innere deutsche Freiheit „Blücher und Weimar" war, festlich zu begehen pflegten, natürlich auf studentische Weise

d. h. nicht ohne den üblichen Lärm.

DaS hätte auf den Oesterreicher

395

Heinrich Luden.

einen üblen Eindruck machen können.

still.

Luden warnte also, und Alles blieb

Der Graf aber freute sich der Gesellschaft der Professoren auf dem

Schlosse und berichtete an seinen Hof:

und die trefflichen Gesinnungen,

„Die Ordnung, die Disciplin

welche unter den Studenten zu Jena

stattfinden, haben mich überzeugt, daß die Sache nicht so ist, wie man sie

dargestellt hat." — Von Berlin her schrieb Herr von Kamptz in Anlaß der Wartburgsfeier seine „Rechtliche Erörterung über die öffentliche Ver­

eiferte gegen

brennung von Druckschriften",

„den Haufen verwilderter

Professoren und verführter Studenten, die durch Feuer und Mistgabeln

Censur geübt hätten".

In der Nemesis diente ihm die scharfe Feder des

geistreichen Friedrich Förster.

Zwei Mal, beginnt dieser, erschien der

Teufel auf der Wartburg, als er den Zauberer KlingSor aus Ungerland

herbeiführte und als er Luther an der Uebersetzung der Bibel hindern wollte; jetzt, zum dritten Mal, ist er post festum gekommen, aber desto

ärger tobt er nun im Land umher und geifert Gift und Galle:

„Darum

nehmt das Tintefaß zur Hand als gute Waffe." — Und zum Schluß gedenkt er der Worte Luthers:

thut dreierlei Noth:

„So euch euer Werk gelingen soll, so

Gebet, Arbeit und Anfechtung!

Wir haben gebetet,

wir haben gearbeitet, nun ist auch die Anfechtung da.

Also ist kein

Zweifel, daß wir eS auch vollenden!" —

Weniger glücklich verlief für die Nemesis ein anderer Streit, in den

sie gleichzeitig verwickelt wurde.

In Weimar lebte seit einigen Jahren

der kaiserlich russische StaatSrath Herr von Kotzebue, der bekannte Lust­ spieldichter.

ES bedurfte nicht der That Sands, um ihn als den von der

deutschen Jugend bestgehaßten aller ihrer Gegner zu dokumentiren.

Ein

Mann, der sich nicht entblödete, seinen Landsleuten wieder und wieder vorzuhalten, daß „sie doch eigentlich in der Beresina die deutsche Wieder­ taufe empfangen hätten, die Blüthe ihrer Deutschheit aus russischem Eise

hervorgebrochen sei", der das ganze Verdienst seiner Volksgenossen darin fand, daß sie „nachdem die Russen ihren Kerker geöffnet, muthig herauS-

getreten seien", der nicht müde wurde, zu spotten „über das Turnen auf den Gräbern der Nibelungen", konnte in Jena keine anderen Gefühle

erregen als die des Hasses und der Verachtung.

Luden war,

so lange

er seine Schriften kannte, schlecht auf ihn zu sprechen, wegen seiner in der früheren Zeit unfläthigen, in der späteren süßlich-unmoralischen Art.

Als Kotzebue in Weimar anfing, ein „Literarisches Wochenblatt" herauS-

zugeben, konnten Federkriege zwischen Beiden nicht ausbleiben.

Hielt sich

doch Kotzebue in russischem Auftrage in Deutschland auf, wirkte hier in

russischem Sinn und sandte von Zeit zu Zeit Berichte über deutsche Ver­ hältnisse an die russische Regierung.

So kam es, daß Luden, als er auf

Heinrich Luden.

396

eine vollständig unverfängliche Weise in den Besitz von Bruchstücken auS einem solchen Berichte kam, in denen er selbst persönlich beleidigt war, die deutschen Universitäten verunglimpft, diese Bruchstücke mit erläuternden

Herr von Kotzebue bekam sofort

Bemerkungen in die Nemesis aufnahm.

Wind von der Sache und veranlaßte die Weimarische Regierung, die be­ treffenden Bogen der Nemesis zu konfiSciren.

Doch aber waren schon

eine Anzahl Abzüge versandt und in andern Blättern zum Abdruck ge­

bracht.

Auf Kotzebues Antrag

Untersuchung gegen Luden ein.

eine

leitete die Weimarische Regierung

Vergebens vindicirte die Universität den

bevorzugten Gerichtsstand des Geladenen; auf allerhöchste Anordnung mußte sich derselbe vor dem Kriminalgericht in Weimar vernehmen lassen. Die Akten wurden dann dem Leipziger Schöppenstuhl eingesandt.

Der

Spruch lautete auf 3 Monate Gefängniß oder 60 Thaler Geldstrafe, weil „Dr. Luden durch die eingeräumte öffentliche Bekanntmachung eines von einem Geschäftsträger eines

auswärtigen Souveräns an seinen hohen

Committenten erstatteten geheimen Rapports nicht nur eine an sich wider­

rechtliche Beeinträchtigung fremden Eigenthums, sondern auch und vor­

nehmlich eine öffentliche Verletzung der schuldigen Ehrerbietung gegen das Oberhaupt eines fremden Staats sich habe zu Schulden kommen lassen".

Luden erlangte aber bald Genugthuung. einer Injurienklage gegen

Er hatte Kotzebues Klage mit

diesen wegen böswilliger Verleumdung

eben jenem Bericht und im literarischen Wochenblatt beantwortet. Sache ging

in

Diese

an das Spruchkollegium der Würzburger Juristenfakultät.

Das Urtheil lautete, Herr von Kotzebue habe die Erklärung abzugeben, daß er durch seine Aeußerungen im literarischen Wochenblatt den Professor

Luden nicht habe beleidigen wollen, habe die Bemerkungen seines nach Rußland gesandten Berichts über Luden als unrichtig und falsch zurück­

zunehmen und die Kosten zu zahlen; das Urtheil sei auf gehörige Art

dem kaiserlich russischen Staatsministerium bekannt zu machen.--------Durch Monate hatten diese Processe sich htngezogen.

Sie hatten

Luden in einen unnatürlichen Gegensatz gebracht zur Regierung, die vor Allem auf Rußland Rücksicht nehmen mußte und nicht, wie Goethe schon

1813 gewarnt hatte,

„über 100000 Bahonette verfügen" konnte.

hatten ihn in seinen Arbeiten nicht wenig gehindert. kurzer Hand, die Nemesis aufzugeben.

führen.

Sie

So entschloß er sich

„Ich habe keine Zeit, Processe zu

Und wie kann ich das mit dem besten Willen vermeiden, wenn

ich der Gesinnung treu bleiben will, welche allein in der Nemesis lebt und leben soll und leben darf." — Das nächste Jahr, mit Recht „das

tolle" genannt, brachte die Karlsbader Beschlüsse, die Maßregelung der

Universitäten und die Demagogenrtecherei.

Doch war eS nicht Furcht

397

Heinrich Luden.

vor dem, was er kommen sah, das Ludens Entschluß beeinflußte. süddeutschen Staaten hatten Verfassungen erhalten.

Die

Luden glaubte zu er­

kennen, daß von jetzt an die Entscheidung der politischen Zeitfragen auf dem Gebiet deS parlamentarischen Lebens liegen, daß der TageSschrift-

stellerei nur noch eine sehr untergeordnete Bedeutung zukommen werde. Er hatte keine Neigung, „leeres Stroh zu dreschen". — So wurde er wieder rein akademischer Lehrer.

Schöne Früchte haben dann noch die letzten Jahre seiner Wirksam­ keit gezeitigt.

Seine „allgemeine Geschichte der Völker und Staaten des

Alterthums" erschien 1819 in zweiter, 1824 in dritter Auflage; eine zwei­

bändige „Geschichte der Staaten und Völker deS Mittelalters" 1821 und 1822, in zweiter Auflage 1824.

folgte

1825 begann er dann die

Publikation seiner großen „Geschichte deS deutschen Volkes", die er in 12

starken Bänden bis 1837 herabführte: ein großartig angelegtes Werk, daS

ein dauerndes Denkmal bleibt für den vaterländischen Sinn des Mannes. In allen diesen Arbeiten offenbart er eine hervorragende Gabe der Dar­

stellung.

Den im ersten Gespräche von Goethe gegebenen Rath, „eine

bequeme Entwickelung der geschraubten Kürze vorzuziehen", hat er treu

befolgt, vielleicht etwas zu treu mittelst einer allzu behaglichen Breite. Die Kunst der Gruppirung übt er mit großem Geschick.

Alle seine histori­

schen Schriften sind durchaus für einen weiten Leserkreis berechnet und geeignet und haben ihn in der That gefunden.

die Forschung.

Ihre schwache Seite ist

Nicht als ob seine Bücher nicht nach den Quellen gear­

beitet wären; wenigstens die deutsche Geschichte ist vas fast durchaus;

aber man vermißt das, was man als Kritik der Quellen zu bezeichnen pflegt.

In diesem Mangel liegt auch eine Hauptursache, daß die anfangs

so' freudig begrüßten und so viel gelesenen Bücher verhältntßmäßig rasch veraltet

sind.

Aber wer wollte daraus einen scharfen Tadel herleiten

gegenüber Versuchen, die noch bis heute nicht gemacht worden sind, ohne die größten Bedenken zu erregen.

Mit Recht setzte Luden seiner deutschen

Geschichte das Motto vor: „Wahrlich, im schwierigen Werk Allen zu ge­ nügen ist schwer". In der That hat er Vielen genügt, wenn auch nicht Allen.

DaS Unmögliche aber, Allen zu genügen, ist ihm nahezu gelungen in

seinen Vorlesungen.

Mehr und mehr hatte er dieselben auf daS rein

historische Gebiet beschränkt.

1816 fügte er ihnen zuerst daS später so

überaus beliebte Kolleg über die neueste Zeit, die französische Revolution

und Napoleons Herrschaft, ein.

Allmählich bildete sich ein gewisser, wenn

auch nicht strengbeobachteter Turnus: im Sommer wurde Mittelalter und neueste Zeit, im Winter Alterthum und neuere Zeit gelesen.

zu Zeit wurde deutsche Geschichte eingeschoben. Preußische Jahrtücher. Bd. XLVI. Heft 4.

Von Zeit

Luden entwickelte einen 29

Heimich Luden.

398

gxoßen Fleiß im Kollegienlesen; die Zahl der wöchentlichen Stunden stieg

in einem Semester bis über 20.

Zuerst 1845, nachdem er gegen Ende

des vorhergehenden Jahres von Krankheit schwer getroffen worden war, beschränkte er sich darauf, ein Kolleg anzukündigen.

Soweit einzelne An­

deutungen jetzt noch erkennen lassen, steckte in seinen Vorlesungen nicht weniger wissenschaftliche Arbeit als in seinen Schriften.

er stets bemüht, mit der allgemeinen Bildung

bleiben.

Daneben war

in Zusammenhang zu

Er hielt das für ein unerläßliches Erforderniß eines Universi-

tätslehrers, nach seinem Wahlspruch: Qui non est in omnibus aliquid, in singulis est nihil.

Die Geschichte galt ihm als das oberste univer­

sale Bildungsmittel; als solche faßte er sie in seinen Vorlesungen; Kennt­ niß der vaterländischen Geschichte schien ihm schlechterdings ganz unerläß­

lich für jeden Menschen, der auf Bildung Anspruch mache.

Und in der

That hat er eS dahin gebracht, daß, wie einer seiner Hörer eS ausdrückt, „die Geschichte wieder Bildungsmittel für den Durchschnitt der Studiren-

den geworden ist, eS nach und nach zum guten Ton gehört hat, bei ihm

mindestens ein Kolleg zu hören".

Besuchtere Vorlesungen hat eS wohl

nie in Jena gegeben als die seinigen; die Größe des Auditoriums (im jetzigen Helmkeschen Hause in der Leutragasse, daS Luden durch Jahr­

zehnte bis zu seinem Tode bewohnte) legt davon Zeugniß ab; eS war häufig, besonders bei der Geschichte der französischen Revolution, bis auf

den letzten Winkel gefüllt; ja vor den offenen Fenstern und in der Thür standen noch Hörer.

In erster Linie verdankte er diesen durchschlagenden

Erfolg seiner glänzenden Rednergabe, seinem in der That ungewöhnlichen

Erzählertalent.

DaS Wort stand ihm in überraschender Weise zu Gebote,

so daß er selbst Prorektoratsreden improvisirt hat. Klarheit der Gedanken,

Wärme der Gesinnung, Treue der Ueberzeugung, Scharfsinn und Gelehr­

samkeit kamen hinzu; eine laute und wohlklingende Stimme, Würde und Gemessenheit deS Auftretens, peinliche Sorgfalt in der äußeren Erschei­

nung (er hat nie anders als im Frack und weißer Binde das Katheder

betreten, erst in den letzten Jahren hat ihn der Einfluß der Gemahlin die weiße Binde mit einem schwarzen Halstuche vertauschen lassen) vollendeten die Wirkung.

So wird denn unter seinen Hörern auch nur eine Stimme

laut: die der Bewunderung und der Dankbarkeit.

kam, der fühlte Kopf und Herz befriedigt.

Wer aus seinem Kolleg

Erst in seinen letzten Lebens­

jahren hat eine mehr und mehr wachsende Neigung zu allerbehaglichster Breite der Erzählung und zu Scherzen, die in engeren Grenzen gehalten

in früherer Zeit als gesunder Humor zur Würze seiner Vorlesungen ge­ dient hatten, seiner Wirkung einigen Eintrag gethan.

Daß ein solcher Lehrer sich bei der akademischen Jugend nicht nur

Heinrich Luden.

der größten Achtung, sondern auch liegt in der Natur der Sache.

399

einer seltene» Beliebtheit

erfreute,

Den Studenten leicht persönlich zugäng­

lich, hat er auf zahlreiche Jünglinge den heilsamsten Einfluß geäußert,

Hunderte, die in seinem Hause verkehrten, geistig und sittlich gefördert. Er verstand es freundlich zu sein,

ohne vertraulich zu werden, in seinen

Freundlichkeiten eine gemessene Haltung zu bewahren, ohne herablassend

zu erscheinen. tur, fühlte

er

Eine in Auftreten und Führung durchaus vornehme Na­

sich

abgestoßen von allem Nachlässigen und Niedrigen;

seines Werthes sich bewußt, begegnete er der eitlen Anmaßung mit über­ legener Ironie. Seinen Berufsgenossen war er ein lieber Kollege.

Die ersten be­

drängten Jahre hatten die Familie gezwungen, geselligem Leben zu ent­

sagen.

Daraus hatte sich eine Gewöhnung entwickelt, die auch später den

Besuch von Gesellschaften als eine Last erscheinen ließ.

Die hohe Achtung,

die Luden genoß, hat dann dazu geführt, daß er wohl und nicht selten die Kollegen bei sich sah, aber selbst nicht ausging.

Die reichen, stets

präsenten Kenntnisse, die glänzende Unterhaltungs- und ErzählungSgabe, daS feine, treffende Urtheil machten seinen Umgang sehr gesucht.

Eine

tägliche Theestunde war für Familie und Hausfreunde eine reiche Quelle deS Genusses und der Belehrung.

So lebte Luden durch Jahrzehnte ein stilles und doch überaus reiches akademisches Leben.

Nur noch einmal wurde dasselbe unterbrochen von

einer politischen Beschäftigung: von 1823—1832 saß Luden im weimarischen Landtage.

Hier führte ihn seine Vertreterstellung noch einmal zu

Goethe in ein Verhältniß, das den großen Mann in einem interessanten Konflikt mit den Anforderungen modernen Verfassungslebens zeigt.

Der

„Großherzoglichen Jmmediatcommission für Wissenschaft und Kunst", an

deren Spitze Goethe stand, oder die vielmehr von Goethe allein gebildet wurde, hatte der Landtag 11787 Thaler verwilligt, über die er, wie über alle andereren Bewilligungen, Rechenschaft verlangte.

Lange vergebens.

Und als nun endlich die Rechnung kam, bestand sie aus drei Zeilen:

Einnahme: 11787 Thaler; Ausgabe: so und so viel; Kasse: so und so viel (eine Kleinigkeit).

Die Sache verursachte einige Aufregung im Land­

tage und am Hofe; LudenS Betheiligung an der Debatte, entschieden ver­ söhnlich gehalten, aber wahrscheinlich entstellt an Goethe überbracht, hat

eine gewisse Verstimmung des Alten zur Folge gehabt.

Zuletzt hat aber

doch mit ziemlich allgemeiner Zustimmung der Parlamentarismus vor dem Dichterheroen das Feld geräumt. —

Die letzten Lebensjahre wurden Luden durch Krankheit getrübt. Eine

mehr und mehr zunehmende Gehirnerweichung hinderte seine akademische 29*

Heinrich Luden.

400

Thätigkeit, machte ihr seit 1845 ganz ein Ende.

Zwei Jahre später, am

Pfingstsonntage (23 Mai) 1847 erlag er seinem Leiden; genau ein halbes

Jahr später folgte ihm seine treue Lebensgefährtin ins Jenseit.

Die

Kinder bewahrten das Andenken der Verblichenen in liebevoller Treue;

in den weitesten Kreisen konnten sie der wärmsten Theilnahme gewiß sein.

So lebte und starb Heinrich Luden. — Ein Jahrhundert ist ver­ flossen seit seiner Geburt,

vollen Klang in weiten

aber noch bewahrt sein Name

deutschen Landen.

einen guten,

In den 40 Jahren seiner

Wirksamkeit an dieser Hochschule sind Hunderte und Tausende deutscher Jünglinge und Männer hinweggezogen aus dem schönen Saalthale mit

dem Hellen Wiederklang von LudenS Worten in der Brust.

In der Zeit

schwerster Bedrängniß unseres Vaterlandes hat er muthvoll die Fahne

hochgehalten, um die allein die Hoffenden sich schaaren konnten: den Glauben

an sein Volk.

Er hat sie hochgehalten in der Ueberzeugung, dass er an

seiner Stelle, als Vertreter seiner Wissenschaft, als Inhaber seines Amts, in erster Linie berufen sei, diesen heiligen Glauben zu festigen.

Die

Geschichte schien ihm die vornehmste Lehrerin der Völker, sie, die nach

seiner Meinung „selbst von den Göttern nicht umgeworfen werden kann". „Dafür möchte ich wirken", sagt er, „daß aus ihr ein neuer Quell er­ gossen würde in das Leben der Menschen, der sie reinigte von den Flecken

deS Zeitalters, sie belebte, ihnen den Sinn erweckte für Vaterland, Gemein­ wohl, Ehre, Tugend und alles Gute, Schöne und Große".

So faßte er

seine Aufgabe im Dienste des Allgemeinen, wollte pflegen eine allgemeine menschliche Bildung, bauen helfen an einer wirklichen „Universitas lite-

rarum“.

Und wenn er nun

in diesem Streben in edler Einseitigkeit

seiner Wissenschaft eine so überaus hohe Bedeutung beilegte, wer wollte

ihn darum tadeln.

In dieser Auffassung

Wirkens, die Quelle seiner Erfolge.

liegt die Triebfeder seines

Wahrlich, wir können unserer Hoch­

schule nichts Schöneres wünschen, als daß zu allen Zeiten alle ihre Lehrer

gleich begeistert von ihrer Wissenschaft, gleich durchdrungen von ihrer Auf­ gabe sein möchten.

Lust und Liebe waren die Fittige zu seinen Thaten.

— Möchte aber Jemand Anstoß nehmen an der verhältnißmäßig kurzen

Dauer von Ludens literarischen Erfolgen, an dem Mangel einer an ihn

anknüpfenden historischen Schule, vergessend unsere rasch dahin lebende Zeit, vergessend, daß gerade auf dem Gebiete der vaterländischen Geschichte

das jüngst verflossene halbe Jahrhundert beschäftigt gewesen

ist, ganz

neue Grundlagen zu errichten, dem möchten wir entgegenhalten das Wort

des zweiten unserer großen Dichter: Denn wer den Besten seiner Zeit genug gethan,

Der hat gelebt für alle Zeiten.

Landgesetze und Landwirthschaft in England. Bon

Ludwig Freiherrn von Ompteda.

I. Die Veranlassung zur Reformbewegung gegen das geltende

Recht über Grundetgenthum. Im Jahre 1879 machte England*) eine Mißernte, wie sie seit

dem Jahre 1816 nicht erlebt worden war. Der Weizen, die hauptsächliche Brodfrucht, ergab weniger als die

Hälfte einer Mittelernte. Letztere wird angenommen zu 12 Millionen Quarter (1 Quarter — 5,3 ehemalige preußische Scheffel). Zugleich war

diese Frucht von schlechtester Qualität. Gerste, Hafer und Roggen, Heu und Futterstoffe erwiesen sich in gleichem Grade mißrathen. In den letzten 3 bis 4 Jahren (1875—78) hatte der Wetzen ebenfalls nur drei Viertel einer Mittelernte ertragen. — Der jährliche Verbrauch von Wetzen in England (und Irland) be­ trägt 24 Millionen Quarter. Bei voller Mittelernte bedarf daher das Land immer noch einen Import von 12 Millionen Quarter. Die Weizen­ ernte von 1879 betrug jedoch, nach Abzug der Einsaat, weniger als 6 Millionen Quarter. Also bedurfte England (und Irland) bis zum Mo­ nate August 1880 eine Einfuhr von 18 Millionen Quarter Wet­ zen, die bei jetzigen durchschnittlichen Marktpreisen 45 Millionen Pfd. Sterl. oder 900 Millionen Mark kosten.

*) Unter England wird im nachfolgenden Aufsatze stet- Großbritannien ohne Irland verstanden. Die politisch-agrarischen Zustände Irlands find völlig abweichender Herkunft und Art von denen in England, Schottland und Wales, so daß die irische Bewegung gegen die „Landgesetze" eine gesonderte Darstellung verlangt.

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

402

Die Durchschnittspreise der letzten Jahre waren gewesen für den

Quarter

1877.

1876.

1878.

1880.

1879.

tut Jan.

im Febr.

Weizen .

.

. Mark 44,2

52,3

51,9

39,1

45

43,50

Gerste

.

.



35,6

39,9

44,8

37,5

37

36,75

Hafer

.

.

.

25,4

24,10

24,0

20,1

20

21,10

n

Der englische Landwlrth mußte also seine Mißernte von 1879 zu Preisen verkaufen: niedriger als alle diejenigen, welche seit 1876 auf dem heimischen Markte notirt waren. —

Die verderblichen Wirkungen dieser zusammentreffenden Um­ stände zeigten sich zunächst bei den Pächtern.

Zu älteren Rückständen in

den Pachtgeldern aus den letzten schlechten Jahren kamen neue, größere. Die BetriebSkapitale und Ersparnisse waren aufgezehrt.

Erlasse von 25

bis 50 Prozenten des Pachtgeldes mußten bewilligt werden.

Trotzdem

gaben viele Pächter, um den letzten Rest ihres Vermögens zu retten, die

Pachtungen auf.

Zahlreiche Bankerotte brachen aus und die Pachthöfe,

durch Zwangsverkäufe von Vieh Schiff und Geschirr entwerthet, fielen

den Eigenthümern zur Last.

Wie tief eingreifend und erschütternd diese Bewegung auf die Land­ wirthschaft, auf daS Grundeigenthum und auf die gesammte nationale Wirthschaft in den weitesten Kreisen wirkte, daS können wir schon ermessen wenn wir erfahren, daß nach zuverlässigen Schätzungen in England (und

Irland) die Zahl der

ländlichen Grundeigenthümer (über 1

Morgen)

beträgt: 100,000 Menschen, „





Pächter

.

.

.

.•



600,000

und daS von Letzteren im Pachtgeschäfte angelegte Kapital etwa 6000 bis 7000 Millionen Mark.

Diese Katastrophe der

landwirthschaftlichen Produzenten

war also sehr danach angethan, Jedermann in demjenigen Grade von

Empfindlichkeit zu berühren, den daS eigene Interesse wachruft.

Besitzer

und Nichtbesitzer, Pächter und Nichtpächter, Handwerker und Krämer, Ar­

beiter und Hhpothekengläubtger: zogen.

alle fühlten sich in Mitleidenschaft ge­

Alle riefen nach Abhülfe gegen daS nationale Unglück.

Man

fühlte einen der Grundpfeiler der Nation wanken und bald arbeitete das allgemeine Nachdenken in jeder Richtung um die Ursachen der Erkrankung und die geeignetsten Heilmittel zu finden.

So wandte die gesammte öffentliche Meinung der „ Land frage" — Wir würden wohl sagen: der „ländlichen Frage" — ein erhöheteS Jnter-

effe zu.

403

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

Diese Frage ist indessen keineswegs neu.

Sie ist bereits seit Jahr­

zehnten vor der öffentlichen Meinung aufgeworfen und verhandelt; sie hat

auch die Gesetzgebung schon vielfach beschäftigt.

Selbst in den jüngstver­

gangenen guten Zeiten, in denen die englischen Landwirthe reich wurden, ist die Aenderung der „Landgesetze" stets eine Forderung der Liberalen

gewesen, wenn auch nicht der offiziell sogenannten „liberalen Partei". Indessen waren die Ziele dieser Reformer wesentlich politische und soziale:

insbesondere erstrebten sie die Schwächung des UebergewtchteS der regie­ renden grundbesitzenden Aristokratie durch Auflockerung und Zerbröckelung

deS befestigten Grundbesitzes. Jetzt aber ist diese politische Frage auch eine Magenfrage ge­

worden und die Volkswirthe führen den Mühlen der Politiker eine, bisher

von ihnen vermißte, ganz gewaltige Triebkraft zu. — Um der Nation die beste und sicherste Antwort aus ihre Frage nach

den Ursachen deS landwirthschaftltchen Nothstandes zu geben wurde bereit-

im Sommer

1879 auf Antrag

des Parlamentes eine

Landwirthschaftliche Kommission" eingesetzt.

weit auSgebreiteter Thätigkeit.

„Königliche

Diese ist jetzt in voller,

Sie forscht und fragt nicht allein in der

Hetmath sondern sie sieht und hört auch in den wichtigsten fremden Staaten. Zwei ihrer Mitglieder, hervorragende gebildete praktische Landwirthe, beide Mitglieder des Parlaments, wurden in die Vereinigten Staaten

geschickt.

Denn dort lag — das fühlte man — einer der Schwer­

punkte dieser ganzen Untersuchung.

Zwar wirkte der reiche Import an Cerealien von jenseit deS atlanti­ schen OzeanS für die Bedürfnisse der englischen Konsumenten beruhigend und erfreulich.

Zugleich aber waren die außerordentlich niedrigen

Preise zu denen sich die Erzeugnisse der amerikanischen Landwirthschaft auf die englischen Märkte „legten" für die englischen Produzenten in

hohem Grade drückend und beunruhigend. Nach den Mittheilungen deS offiziellen „Landwtrthschaftlichen BüreauS"

zu Washington waren aus den Bereinigten Staaten ausgeführt an: Cerealien. Weizen

Mais Erbsen Hafer

Gerste Roggen

Quarter....................... .

„ „ „ „ „ ,,

.... .... .... .... .... ....

Im Ganzen Körnerfrüchte

.

.

1879.

1878.

1,192,000

720,000

500,000

710,000

300,000

239,000

77,000

115,000

52,000

26,000

417,000

38,000

2,538,000

1,848,000

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

404 Außerdem

1879. .

Mehl in Fässern

.

1878.

1877.

. 626,600

602,200



Käse In Kisten .... 515,360

455,450

399,000

Butter in Fässern.

101,600

87,245

.

. 180,863

Noch bedeutender erscheint, nach den englischen Einfuhrlisten, die Zu­ nahme deS Importes an lebendem Vieh, aus Canada und den an­

grenzenden Theilen der Vereinigten Staaten:

1879.

1878.

’ 1877.

Hornvieh, Stück .

.

.

.

24,800

18,650

6,950

Schafe,



.

.

.

.

78,800

41,250

9,500

Schweine,



.

.

.

.

4,750

2,080

430

Die beiden englischen Kommissäre, Mr. Read und Mr. Pell trafen bereits im September 1879 in Philadelphia ein und kehrten erst zum

WeihnachtSfeste wieder in die Heimath zurück. Sie hatten inzwischen „das Gras nicht unter ihren Füßen wachsen lassen".

Sie reisten täglich im Durchschnitte 115 englische Meilen (etwa

185 Kilometer) und legten im Ganzen auf dem amerikanischen Kontinente etwa 17,000 englische Meilen (etwa 25,500 Kilometer) zurück.

Sie fanden auf diesen fliegenden Reisezügen, in den Vereinigten Staaten und in Canada (Provinz Manitoba), eine gewissermaßen unend­

liche Landfläche die sich ganz vorzüglich zur Erzeugung von Korn und Vieh Die bis jetzt erzielten Mengen dieser Produkte können durch Aus­

eignet.

dehnung

der produzirenden Fläche beliebig tn's Ungemessene vermehrt

werden.

Die Erzeugungskosten stehen nicht höher als in England.

Der

Kaufpreis für den Acre (— 1*/, preußische Morgen) guten Weizenbodens: 22 bis 25 Mark,

entspricht etwa dem einjährigen Pachtgelde für die

gleiche Fläche in England.

Die gesammten Erzeugungskosten, stehende

und umlaufende, sind berechnet auf 1 Acre:

in Amerika............................. 37 Mark in England............................. 160 Mark.

Nordamerika ist in den Jahren 1876 bis 1879 mit einer Reihefolge von vier vollen Ernten gesegnet gewesen.

Die mit Weizen bestellte Fläche

hat sich von 1877 bis 1879 um volle 28 Prozent vergrößert.

Sie beträgt

jetzt 32 Mill. Acres, das Zehnfache aller Weizenfelder in England. Im Jahre

1863 ........................... 1877 ........................... 1878 ........................... Durchschnitt dieser 16 Jahre:

waren mit Weizen

bestellt Acres: 13 Millionen 26 „

32 20,5



Ertrag in QuarterS: 21,6 Millionen 45.5 52.5 31,2

„ „ „

Durchschnittspreis für den Quarter:

47,60 Mark 36,75 „ 26,39 44,88

„ „

405

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

Nordamerika leidet im Verhältnisse zu seiner Bevölkerung, an einer kolossalen Ueberproduktion.

ES muß daher

ausführen.

Der ent­

scheidende Punkt für den Wettbewerb Nordamerikas mit England sind mithin die Transportkosten.

Dieser Frage widmeten also die engli­

schen Kommissäre ein eingehendes Studium. Es stellte sich dabei heraus, daß man in Amerika die größten Opfer

bringt um das Korn und Vieh des fernsten Westens exportfähig für den englischen und unseren kontinentalen Markt zu machen.

Die durchgehenden

Differenztalfrachten sind derartig gestellt, daß z. B. alle landwirthschaftlichen Erzeugnisse auf dem Kleinmarkte zu Philadelphia ebenso theuer sind als in London.

Die Etsenbahnfrachten sind indessen immer noch so hoch,

daß daran verdient wird. Die Seefrachten stehen ziemlich niedrig, aber man glaubt nicht daß sie steigen werden, da ein außerordentlich starkes Angebot

an Fahrzeugen vorhanden ist und zwar ein solches, welches Dauer verspricht.

Aus MineapoliS, 1200 englische Meilen westwärts vom atlantischen Ozean, wird ein Barrel Mehl nach Liverpool oder Glasgow geschafft für

7 Mark, von St. LouiS sogar für 5 Mark.

Der Quarter Wetzen wird

1500 englische Meilen auf dem amerikanischen Kontinente und 3000 eng­

lische Meilen über den Ozean geschafft für 15 bis 20 Mark. Ein Markt­ preis von 42 Mark auf dem europäischen Markte giebt genügenden Nutzen für den amerikanischen Landwirth, für die Eisenbahn und den Schiffer.

In diesem Falle erhält der englische Landwirth für seinen im Allge­ mein schwereren Weizen 44 bis 45 Mark.

Dieser Marktpreis genügt

ihm aber nur in den guten Jahren, in denen er 4 Quarter auf den Acre erntet und auch dann nur neben guten Strohpreisen.

Bon St. Louis und Chicago bis London wird Korn und Vieh nur einmal, bei der Einschiffung, umgeladen, und zwar vermittelst mächtiger

Maschinen direkt vom Waggon ins Schiff. Der Transport von lebendem*) Vieh ist eine Schöpfung der *) Im Februar 1880 löschte der australische Dampfer Strathleven in den East-Jndia Docks vor London 30 Tons australisches Fleisch von 500.Hämmeln und 70 Ochsen. Die Ladung wurde von vielen interesstrten Personen besichtigt, und in verschie­ denen Zubereitungen versucht. Der Zustand des gekälteten Fleisches Ivar in jeder Hinsicht vorzüglich und stand dem besten englischen Westendbraten völlig gleich. Viele Jahre lang hatte man in Australien Versuche angestellt um die richtige Methode des KonservirenS durch Kälte herauszufinden; ein Mr. Morton in Sydney soll dafür allein 70j000 Psd. Sterl. ausgegeben haben. Die australischen Kolonie» züchten einen Bestand von 61 Millionen Schafen und 61 Millionen Hornvieh. Das beste Fleisch wird dart zu 25 Pfennigen für das Pfund Schlachtgewicht ver­ kauft, die Transportkosten nach England sind nochmals 25 Pfennige. Man ist jetzt in London am Werke um den Detailverkauf so zu regeln, daß das Fleisch nicht in die Hände der Metzger gelangt sondern direkt an die Kon­ sumenten verkauft wird. Sobald diese Frage geordnet, wird da« allerbeste Fleisch für 75 Pfennige das Pfund verkäuflich sein.

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

406

vier letzten Jahre.

DaS Geschäft geht vom April bis zu Ende Sep­

tembers; im Winter wird geschlachtetes Fleisch in EiS tranSportirt.

Ein

lebender Ochse kann für 160 Mark von den östlichen Abhängen der Felsen­

gebirge bis nach Liverpool gebracht werden.

Dieses Geschäft rentkrt sich

bereits, wenn das beste amerikanische Fleisch aus dem englischen Markte

im Großhandel mit 50 Pfennigen für das Pfund bezahlt wird.

Dem­

gemäß reduzirt sich der Preis der durschschnittlichen englischen Markt­

waare, auf 60 bis 65 Pfennige.

Bis dahin hatte sie meistens den Preis

von 100 Pfennigen. „Unter diesen Umständen", sagt die Times am Schlüsse eines vor­

läufigen Berichtes über die Reisen der beiden Herren, dem ich die vor­ stehenden Mittheilungen entnommen habe — „leuchtet es wohl ein, daß es unseren Kommissären sehr leicht sein wird, eine Fülle interessanten

statistischen Materials beizubringen".

„Aber eben so schwer, wirksame Mittel gegen die uns von

Amerika drohende Gefahr Konkurrenz vorzuschlagen.

einer

anhaltenden

erdrückenden

Im Allgemeinen sind unsere Kommtffäre

überwältigt von Bewunderung über den ThpuS des Unermeßlichen (vastness) der ihnen in dem räumlichen Kolosse der Bereinigten Staaten in jeder

Richtung

entgegentritt; über die ungeheure

wirthschaftlichen,

Großartigkeit der dortigen

namentlich der Handelsbewegung und über die Kraft

und Geschicklichkeit der Amerikaner im internationalen Wettbewerbe." — Noch vor drei bis vier Jahren herrschte unter den landwirthschaft-

lichen Unternehmern, — Käufern und Pächtern — in England der wil­ deste Wettbewerb in der Nachfrage nach Land.

Die ausschweifendsten Kaufpreise wurden gezahlt, nicht nur von

reichgewordenen Kapitalisten für Landgüter mit schönen Wohnsitzen „Residential estates“, sondern auch von den eigentlichen Gewerbtretbenden.

Die Pächter rechneten auf fernere gute Ernten und auf ein ferneres Steigen der Preise durch das Steigen der heimischen Industrie und Be­

völkerung.

Die thätigen und intelligenten unter ihnen waren daher ge­

neigt, ihre Betriebsausgaben bis auf das Aeusterste zu vermehren.

Der ländliche Arbeitslohn war in den letzten zwanzig Jahren

gestiegen um 60 Procente. Nun ist auf jedem Landgute — wie überhaupt in jedem menschlichen Verhältnisse



stets reiche

Gelegenheit zu Verbesserungen.

Wo der

Eigenthümer hierzu irgendwie geneigt und im Stande war, übernahm

der Pächter gern zu seinem erhöhten Pachtgelde noch 5 Prozent der Aus­

gabe für Vergrößerungen der Gebäude, für Maschinen und Dratntrungen.

— Alles prospertrte — anscheinend.

Heute

sind

Tausende

von

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

Pächtern insolvent,

407

Hunderte von Eigenthümern in der be-

driingtesten Lage! Ein englischer großer Gutsbesitzer schreibt mir: „Die Lage der Land­

wirthschaft lastet schwer und drückend auf unS Grundeigenthümern. „Meine großen Nachbaren" — es folgt eine Reihe bekannter PeerS — „sind in

der ärgsten Klemme.

Die Hälfte ihrer Güter ist pachtlos."

„Dem Herzoge von N. fielen am Schluffe des vorigen Jahres 7000

Acres auf einmal aus der Pacht zurück.

Ich selbst hatte bereits für zwei

Halbjahre je 10 Prozent an der Pacht erlassen; am letzten Weihnachten

habe ich 20 Prozent erlassen

und für den 1. Juli dieses JahreS eine

fernere Remission von 20 Prozent in Aussicht gestellt." „Ein Gut von 400 Acres hatte ich kürzlich vollständig neu aufgebaut; cs kostete mich 60,000 Mark.

Vor drei Jahren bekam ich 14,000 Mark

Pacht, im letzten 10,000 Mark.

deS Kontraktes.

Jetzt drängt mein Pächter auf Lösung

Um es selbst zu bewirthschaften, würde ich ein Betriebs­

kapital von 80,000 Mark bedürfen."

„Ich ziehe eS daher vor, das Gut dem jetzigen Pächter — wenn er nur bleiben will — ohne jedes Pachtgeld für ein ganzes Jahr anzu­ bieten". —

„Welche Aenderungen", so fragt die Times in einem ihrer so vor­ züglich geschriebenen Leitartikel, vom Dezember 1879 — „sind seitdem ein­

getreten ?" „Das Spiel ist noch ganz dasselbe, nur mit dem einzigen Unter­

schiede: damals hatte der Landwirth gute Karten, jetzt hat er schlechte, und die anderen Mitspieler stehen nicht besser: es fehlen heute in unserem Spiele die Trümpfe und Bilder ganz und gar." „Gewonnen haben nur die Attorneh's, die Sachwalter

welche das

gesammte Geld- und Kreditgeschäft der Grundbesitzer und Landwirthe ver­

mitteln, und die Auktionatoren." „Diesem Zustande wird auch die „Königliche Kommission" nicht ab­

helfen, sie wird das Gesetz von Ebbe und Fluth nicht abschaffen; eS ist die alte Geschichte von den sieben fetten und den sieben mageren Kühen." „UebrigenS hat die große Steigerung der Landpreise ihre Ursache nicht allein in der falschen Spekulation der Landwirthe.

Sie entsprang

auch aus unserer nationalen Manie: Geld zu zwei Prozent in England selbst in Landkäufen anzulegen, während man mit demselben Gelde in jeder englischen Kolonie sicher ein Vermögen machen würde."

„Diese Manie wurzelt in uüserer angeerbten sentimentalen Neigung

für das Land und unserer nationalen Vorliebe für Landschaftsgärtnerei und Jagd."

408

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

„Gebt dem Pächter, der stets über Wildschaden klagt, die Jagd auf das kleine vierfüßige Wild waS wird er thun?

frei (diese Konzession ist vielfach gemacht),

Er wird alle Katzen totschießen um die Kaninchen

zu hegen."

„WaS ist die höchste Sehnsucht unseres ländlichen Arbeiters?"

„Zu

Wilddieben". — „Also kann auch keine Parlamentsakte die starren Grundsätze streng berechnender Nützlichkeit in der

englischen Landwirthschaft

durchsetzen." — Aber diese quietistischen Tröstungen und geistreich zugespitzten Be­

trachtungen decken doch nicht den jetzigen Stand der öffentlichen Meinung über die „Landfrage". Sie umgehen vielmehr den Kern dieser Frage, nämlich die Ansicht,

die sich täglich mehr und mehr geltend macht: daß die jetzige gedrückte

Lage der Pächter und Besitzer wesentlich durch das bestehende Rechtssystem über das Grundeigenthum, über dessen Veräuße­

rung, Vererbung, Verpfändung und Verpachtung

hervorge­

rufen sei. Seit den letzten Dezennien hatte diese Landfrage im Halbschlummer gelegen; schon oft war sie aufgestört worden, namentlich in Irland; sie

gehört bereits als politische Forderung zur „Plattform" der liberalen Re­ former. Jetzt aber werden die „LandlawS" auch von der volkswirthschaftlichen Seite, als „Brodfrage" geprüft. „Wir müssen", so lauten jetzt die Erwägungen, „wir müssen schon

als politische Großmacht unabhängiger von den auswärtigen Producenten

unserer nothwendigsten Nahrungsmittel werden.

Die Preise können wir,

Amerika gegenüber, nicht willkührlich erhöhen.

Wir müssen daher auf

derselben Fläche mehr produziren.

Dafür aber muß intensiver ge-

wirthschaftet werden, eS muß mehr Kapital auf den Acre Land verwendet

werden.

Wäre unsere Bevölkerung stationär, so

würde

eS allerdings

verkehrt fein wenn wir versuchen wollten durch Dratnirungen und andere

Meliorationen 5 Quarter Weizen auf dem Acre zu Quarter.

ernten statt 2'/,

Aber die Bevölkerung steigt, die Nachfrage steigt, also wird

mit dem Roherträge auch der Reinertrag steigen.

Zu dieser intensive­

ren Wirthschaft jedoch bedarf der Pächter einer freieren Stellung,

muß

er

sich in seiner Produktion stets den jeweiligen Verhältnissen deS

Marktes anschmiegen können. Um aber diese stete Bewegung dem Pächter gewähren zu können, muß der Eigenthümer selbst sich freier bewegen; er

muß ungebunden in der Benutzung seines Grundstückes sein. Also muß

der Landbesitzer von den Fesseln der jetzigen

409

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

Landgesetze befreit werden, soweit seine jetzige Gebundenheit seiner Produktionskraft hinderlich ist."

Es liegt wohl nahe, daß dieser Forderung sich vor allem die Pächter anschließen, aber auch eine große Zahl der jetzt bedrängten, namentlich der

bereits mit alten Schulden überbürdeten Grundeigenthümer unterstützt be­

reits die Bewegung.

Hierdurch hat sich diese nicht nur ausgebreitet, sondern sie hat sich auch in ihrer Wirksamkeit vertieft; man schreibt jetzt von allen Seiten

den Landgesetzen einen tief und dauernd schädlichen Antheil an der gegen­

wärtigen Lage der Landwirtschaft zu. So fehlte denn die Landfrage in keiner der unzähligen Wahlreden

die in den letzten Monaten durch ganz England als Vorbereitung für die,

inzwischen mit so höchst überraschenden Ergebnissen vollzogenen, Neuwahlen zum Parlamente gehalten wurden.

Die Liberalen verwerfen das bestehende System der „Gebundenheit"

des Grundeigenthums und wollen an dessen Stelle eine freiere — immer noch mehr

oder weniger

beschränkte



Beweglichkeit

des

„Landes"

setzen.

Die frühere konservative Regierung, im Wesentlichen die Partei

des Grundbesitzes, betrachtete diese Bewegung mit Unbehagen.

Sie sah

in dem jetzigen Rechtszustande eine der wichtigsten lind festesten Grund­ lagen der englischen Verfassung.

Jedoch hatte sie es gerathen gefunden,

in der Thronrede vom 6. Februar d. I. einige Milderungen der schrei­

endsten Uebelstände in Aussicht zu stellen. Wenn nun auch wir Deutschen von dem sozialen und volkswirthschaft-

lichen Schaden der allgemeinen Unfreiheit des Grundeigenthums längst befreit sind und im Ganzen uns einer gesunden Mischung von großen, mittleren

und kleineren — in der überwiegenden Mehrheit ungebundenen — Grund­ eigenthümern erfreuen, so dürfte eS sich dennoch rechtfertigen, eine Dar­

stellung dieser, dem größeren Theile der Leser wohl unbekannten, Ver­

hältnisse vorzuführen.

Denn diese Zustände sind

jedenfalls

sehr eigen­

thümlich und ihre Umgestaltung wird für das gesammte öffentliche Leben in dem unS benachbarten und stammverwandten England von den ein­

greifendsten Folgen begleitet sein. — ES gehört zu diesem Versuche von meiner Seite allerdings ein ge­

wisser Unternehmungsgeist, verbunden mit einer nicht unbeträchtlichen Re­ signation.

Namentlich ist diese letztere bei mir in reichlichem Maße zur

Verwendung gelangt, als ich mich den nothwendigen Vorstudien der ein­ schlagenden RechtSmaterie, nämlich der „Gesetze über das ländliche Grund­ eigenthum" unterzog.

410

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

Dieses Kapitel wird selbst in England für so verworren, abstrus

und ungenießbar gehalten, daß Jedermann sich ängstlich davon fern hält wie von der undurchdringlichen Dornhecke um das Zauberschloß.

Allgemein

wird zugegeben, daß fast Niemand in England,

außer

einigen Spezialisten, dieses „Landrecht" gründlich kennt, ferner, daß diese wenigen

Kenner regelmäßig

verschiedener -Ansicht über die

wichtigsten

Grundsätze und ihre Anwendung sind. Uebelwollende behaupten allerdings:

dieser

letztere

Umstand,

die

„glorious uncertainty“, gehöre wesentlich mit zur ganzen Institution —

und nicht am wenigsten zum Gedeihen des sachwalterischen Geschäftes. — Als ich durch einen englischen Freund dessen Attorney bitten ließ, mir für mein Studium ein geeignetes Buch vorzuschlagen, schrieb der

Rechtsgelehrte in großem Erstaunen zurück: . es sei ihm in seiner langjährigen Praxis noch nicht vorgekommen: daß Jemand dieses Rechtsgebiet freiwillig erforschen wolle.

Noch

weniger aber könne er sich vorstellen, daß gar ein Ausländer das­ selbe zu betreten wünsche.

Und „der großen Seltenheit deS

Falles wegen", bat er mich alsdann um die Erlaubniß „mir das Buch schenken zu dürfen". Das Geschenk traf ein und sein Inhalt möge meine Leser — falls sie jetzt noch den Muth haben, weiter zu lesen — auf den folgenden

Seiten beschäftigen.

II. Der bestehende Rechtszustand. Als Wilhelm der Eroberer sich zum Herrn von England gemacht

hatte erklärte er sich auch zum alleinigen unbeschränkten Eigenthümer des

gesummten Grund und Bodens in seinem neuen Reiche.

Darauf ver-

theilt er ihn unter seine Kampfgenossen, sein Lehnsgefolge.

Die großen angelsächsischen Grundherren die „Earls“ waren verjagt; die kleineren freien bäuerlichen Besitzer blieben zum größten Theile und bildeten das militärische Gefolge der normannischen LordS. „The Crown is the Lord paramount of the soll.“

Dieser ur­

alte Fundamentalsatz deS Lehnswesens bildet noch heute — in der Theorie —

die Grundlage des englischen RechtSsystems über daS „Land".

Noch heute sind alle Grundeigenthümer nur „Tenents" (Untereigen­

thümer) der Krone.

Alles Eigenthum, am „Lande" ist nur „Tenure",

abgeleiteter Besitz. Für die Krone hat dieses Verhältniß noch heute die praktische Folge

411

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

des Heimfalls; er tritt ein wenn der Besitzer eines Grundstücks ohne Testament und zugleich ohne erbberechtigte Verwandte stirbt. In der ältesten Zeit der Normannen war aller Grtlndbesitz nur auf Lebensdauer verliehen. Naturgemäß bildete sich die Sitte der Wieder­ verleihung, falls ein Mitglied der Hinterbliebenen Familie brauchbar für

die militärischen Lehndienste war; regelmäßig trat der älteste Sohn ein.

In jener rechtlosen Zeit, wo die persönliche Sicherheit der großen Vasallen häufig darin bestand: „Gewalt durch Gewalt zu begegnen", ordnete sich jede Familie gern einem schützenden Oberhaupte unter.

Aus dieser Sitte

wurde im Laufe der Zeit ein erbliches Recht. Für die Vererbung des Grundeigenthums hat dieser lehnbare Ur­ sprung zwei durchgreifende praktische Folgen gehabt, die noch heute in lebendiger Geltung sind:

1. die unbedingte Bevorzugung des Mannesstammes vor den

Weibern; 2. die Primogenitur, kraft welcher — wenn kein Testament oder keine bindende Familienstiftung (Settlement) es anders bestimmt — stets

der älteste Sohn den Grundbesitz allein erbt. Die weiblichen Erben stehen immer den männlichen nach. Sobald der Mannstamm erlischt, hört die Primogenitur auf und alle gleichbe­ rechtigten Erbinnen theilen den Grundbesitz, weil kein dienstfähiger Lehnöträger mehr in der Familie vorhanden ist. alSdann wieder in Kraft. —,

Das alte sächsische Recht tritt

Das Besitzrecht am Grundetgenthum ist ein zweifaches: 1.

„Fee simple“, einfaches Lehn; dieses ist, praktisch genommen:

volles unbeschränktes Eigenthum mit Erbgang auf alle Jntestat-

erben, nach der Ordnung die wir vorhin kennen lernten. 2. „Fee tail“ (taille) beschnittenes Lehn. Hier ist das Eigenthum

in verschiedenster Weise beschränkt: in Beziehung auf Veräußerung, Ver­ pfändung und Vererbung. Nur die Leibeserben sind Jntestaterben. Ja! nach altem strengen Rechte war sogar jede zeitweilige Verfügung, über den Tod des Besitzers hinaus, also auch jede Verpachtung „beschnitten". — Ursprünglich hatte der nur lebenslängliche Vasall „Tenant for life“

selbstverständlich nicht das Recht: das Lehngut zu veräußern. Im Anfänge des vierzehnten Jahrhunderts wurden die Lehne erb­ lich. Während einer längeren Uebergangsperiode schwankten dann die Verhältnisse, im Flusse ihrer Gestaltung zu festen staatsrechtlichen Formen, hin und her je nachdem der oberste Lehnsherr oder die großen Vasallen die Macht in Händen hatten.

Zuerst war die neue gesetzliche Erbfolge starr und unbeugsam; das

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

412

„Land" war gebunden „tied up“

und

der Verfügung deS jeweiligen

Vasallen entzogen. Im nächsten Jahrhundert, dem fünfzehnten, während der endlosen

männermordenden französischen Kriege erwarben die Vasallen daS Recht: Grundstücke in Afterlehn gegen Kriegsfolge auszugeben — zu großer

Beeinträchtigung ihrer Erben und des Oberlehnsherrn.

Bei erstarkender Macht der Krone wurde dieses Recht wieder einge­ schränkt durch eine Akte die, nach ihren Eingangsworten, unter dem Namen „Quia emptores“ sehr bekannt ist.

Es wirst ein charakteristisches Licht

auf die stabile Entwickelung englischer Verhältnisse, daß dieses Gesetz „Quia emptores“

aus dem Jahre 1325 noch heute,

ohne wesentliche

Aenderung, geltendes Recht bildet. Ebensowenig,

wie sein Land veräußern, durfte jetzt der Vasall die

Erbfolge aus der lehnsherrlichen Verleihung nach Belieben ändern.

Dadurch waren die Befugnisse deS Vasallen beschnitten (tailld); sein

Grundeigenthum war ein „Fee tail“, beschnittenes Lehn und der Besitzer war thatsächlich wieder nur ein lebenslänglicher Nutzmeister „Tenant for life“. —

Diese allgemeine und endlose Gebundenheit alles Grund­ besitzes im ganzen Königreiche äußerte im Laufe der Generationen ver­

schiedene eingreifende Wirkungen:

für die Besitzer, für die Familie, für

die Güter selbst.

So fühlten sich die ältesten Söhne in ihrer zukünftigen Stellung

vom guten Willen des Vaters zu unabhängig; sie wurden daher unter Umständen leicht unbotmäßig. —

Andererseits aber verminderte sich für die großen LordS die Gefahr deS RebellirenS, bekanntlich eine in England während mehrerer Jahr­

hunderte sehr beliebte und fleißig geübte politische Thätigkeit. höchstens ihren Kopf.

Sie wagten

Freilich verloren sie selbst ihren Besitz und ihre

Verurtheilung wegen Hochverrath und Felonie „Attainder for treason“ traf auch ihre Nachkommen weil auch deren „Blut verderbt" war, „because

they became corrupt in blood“.

Aber nach Jahr und Tag wurden

die Nachfolger des „Tenant for life“ regelmäßig begnadigt und wieder

„ehrlich" gemacht, restored in blood. In dem großen Hause der Howards, dessen Haupt der Herzog von Norfolk ist, begegnen wir dieser FamilienkrisiS mehrere Male. — Nach der Ordnung der Natur starben im Laufe der Zeiten viele

Mannstämme aus.

Die reichen Erbtöchter wurden schon damals mit

Vorliebe von ihren ritterlichen PairS zur Ehe begehrt; so entstand nach

und nach eine Anhäufung deS Landes und der Grundholden in wenigen

Landgesetze und Landwirthschast in England.

413

Händen, und die großen Lords gewannen eine Uebermacht welche den

staatsklugen Grundsätzen Wilhelms des Eroberers bei der ersten Vertheilung deS Landes widerstritt. Die Rosenkriege wurden im wesentlichen von den großen LordS und ihren Vasallen untereinander geführt; die übrige Bevölkerung nahm verhältnißmäßtg geringen Antheil. Der berühmte „Königsmacher" Neville Graf von Warwick zog mit einer eigenen Ge­ folgschaft von 40,000 Mann in's Feld. Endlich aber entwerthete diese unbedingte Beschneidung jeder Ver­

fügung den Grundbesitz selbst, namentlich als im Wechsel der wirthschaftlichen Zustände die moderne Zeitpacht sich einbürgerte. Daher erlaubte Heinrich VIII. (1541) daß der „Tenant for life“ Pachtkontrakte auf ein­

undzwanzig Jahre abschließen dürfe, mit bindender Wirksamkeit für seinen Sohn; aber noch nicht für spätere Nachfolger „remainder men“. — Die unbedingte und endlose Unveräußerlichkeit des Grundbe­ sitzes, ursprünglich den Vasallen als Zwang auferlegt, wurde im Laufe der Jahrhunderte zur Standessitte und zum Gegenstände eifrigster

Familienpolitik.

Da die großen Landeigenthümer zugleich die Gesetzgeber

in beiden Häusern des Parlamentes waren, so thaten sie natürlich ihr bestes um ihren Grundbesitz für immer und ewig ihrem Hause zu erhalten. Hiegegen schritt nun wieder die Krone ein.

Sie verbot die Bindung

des Grundbesitzes für unabsehbare Zeit, also diejenige Form die sich in unseren deutschen Familienfideikommissen ausgebildet hat. Schon früh wurde die Verleihung eines Grundstückes an den Sohn eines noch Ungeborenen untersagt, und endlich ist, zur Tudorzeit, folgende „Regel gegen Perpetuities, Verewigungen" festgestellt: Verfügungen (Settlements) über Grundbesitz, welche das

Recht der Veräußerung und Vererbung für mehrere nachfol­ gende Besitzer binden oder beschränken (entail) sollen, sind

nur zulässig gegen eine oder mehrere Personen die am Tage der Errichtung dieser Stiftung bereits leben und darüber hinaus noch auf höchstens einundzwanzig Jahre.

Nach Eintritt dieses End-

termineS wird der Besitz ungebundenes Eigenthum. Diese Einengung der Stiftungen auf die schon lebenden Nachkommen und einen noch ungeborenen Sohn des Letzten von ihnen, sagte natürlich wiederum den hochkonservativen und ehrgeizigen Landlords durchaus nicht zu. Denn diese wollten entweder eine neue Familie gründen, oder ihren

alten Namen „bis an's Ende aller Tage" verewigen; namentlich aber wollten sie nicht nur ihren Sohn sondern ihren demnächstigen ältesten Ur« und Ur-Urenkel die Stellung eines Grafschaftsmagnaten unbedingt sichern. Preussische Jahrbücher. Bd. XI.VI. Heft I. 30

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

414

Man suchte und fand daher wieder eine Reihe von neuen Ausflüchten und „Kniffen" um diese Zeitbeschränkung zu umgehen. — Wir stehen hier vor einem der Kardinalpunkte der Frage über das englische „Landrecht" und dessen angestrebte Aenderungen.

Meine Leser müssen sich also schon entschließen, mir über das Stück

juristischer „dürrer Haide" zu folgen welches sich jetzt vor uns ausbreitet. Ich werde versuchen, uns nicht „im Kreis herum" zu führen sondern auf

dem kürzesten Wege grade durch und wieder hinaus. — Es fanden sich zwei Wege, auf denen man dahin gelangen konnte, daS oben mitgetheilte Verbot der Verewigungen zu umgehen.

Zwar sind

sie einander direkt entgegen gesetzt, aber beide führen zum Ziel. Der erste Weg ist: daß der letzte, in der Stiftung des Settlements

bedachte Besitzer, in dessen Hand das Gut frei wird, dieses Ereigniß einfach ignorirt und dadurch die Gebundenheit fortdauern läßt.

Wie aber ist das möglich?

In folgender Weise: sobald der letzte Stiftungserbe Z. einundzwanzig Jahre alt geworden ist, kann er sein Gut verkaufen, es ist fee simple

geworden.

Es bedarf hiefür von Seiten des letzten Erben nur noch eines

sehr einfachen, lediglich formellen Rechtsverfahrens, welches man „Disen-

tailing“ also etwa:

„Losbinden" nennt.

Wenn und solange aber Z. diese Prozedur das „Disentailing“ nicht

vornimmt bleibt die abgelaufene Stiftung, das Settlement, in

Kraft. Stirbt Z. in dieser Lage und hat einen aus der Stiftung berechtigten Erben, den Tz. so tritt dieser ganz an die Stelle des Z. mit demselben Rechte des Losbindens.

Macht Tz. von diesem Rechte ebenfalls keinen Gebrauch und seine

Nachfolger auch nicht, so dauert der gebundene Zustand fort und fort bis alle Tz'S, alle erbberechtigten Nachkommen des Stifters, demnächst einmal

auSgestorben sind. Allerdings kann der erste Stifter diese Verewigung nicht von vorn­ herein vermittelst der Stiftung erzwingen, er bedarf dazu der passiven

Assistenz jedes einzelnen Nachfolgers. — Das ist geltendes englisches Recht! anscheinend im direktesten Wider­ sprüche mit dem oben mitgetheilten. „Gesetze gegen Verewigungen".

Die andere Umgehung dieses Gesetzes wird noch häufiger angewandt. Während durch den ersten Umweg die Dauer der Settlements ge­

wissermaßen gesetzwidrig verlängert wird, so bestehet die zweite Um­ gehung in einer verfrüheten Aufhebung des Settlements.

Gewöhnlich ereignet sich dabei Folgendes:

A., der Eigenthümer des

Gutes hat einen Sohn B. Dieser heirathet, bald nachdem er volljährig geworden. Darauf stiftet A. ein Settlement. Er behält sich selbst den lebenslänglichen Nießbrauch vor, giebt seinem Sohne B. ebenfalls nur einen nachfolgenden lebenslänglichen Nießbrauch und bestimmt, daß das beschränkte Eigenthum auf B's zukünftigen Sohn C., seinen deS Stif­ ters A. Enkel, fallen soll. Dieser Enkel C. erscheint zur herkömmlichen Zeit und wird auch, noch zu Lebzeiten seines Vaters B., einundzwanzig Jahre alt das heißt: groß­ jährig. Jetzt stirbt der alte Großvater A. und der Enkel C. möchte — nach englischer Sitte — baldigst heirathen. Nun macht der junge C. — mit Einwilligung seines Vaters des Nutznießers B. — von seinem Rechte deö „Losbindens" Gebrauch. Er löst die Stiftung auf und macht eine neue zu Gunsten seines ungeborenen Sohnes D. indem er für seinen Vater B. und für sich selbst nur den lebenslänglichen Nießbrauch vorbehält. — Regelmäßig wird der Sohn C. hiezu vom Vater B. bewogen durch Bewilligung eines sofortigen reichlichen Antheils an des Vaters lebenslänglichem Nießbrauch, einer Rente die ihn schon jetzt unabhängig stellt, auf die er aber sonst vielleicht noch 25 Jahre warten müßte. So bildet das Freiwerden des Landes in der Hand des „Letzten" das wirksamste Mittel um dasselbe stets und immer fester zu binden. Denn bei dieser Gelegenheit, in dem freien Augenblicke, sorgt der Vater B. für Frau und jüngere Kinder. Die vorübergehende Frei­ heit deö Landes wird also benutzt um dasselbe mit Renten und Hypotheken von neuem zu belasten. Vielleicht hat er auch eine schwebende Schuld, die jetzt konsolidirt wird. Diese „Wiederstiftungen, Resettlements" werden in den alten be­ sitzenden Familien durchschnittlich alle 30 Jahre wiederholt. Der oben in Aussicht gestellte Sohn D. macht nämlich demnächst dasselbe Manöver des Auflösens und Wiederstiftens und so geht es fort von Generation zu Generation----------- , wohlverstanden jedoch: es muß dabei immer für rechtzeitige und ausreichende Söhne gesorgt werden! — Die klugen Lawyers hatten int vorigen Jahrhundert noch ein drittes Auskunftsmittel erfunden. Es bestand darin: nicht das Grundeigenthum selbst zu binden, wohl aber: für Aufsammlimg und Kapitalisirung der jährlichen Ein­ nahmen übermäßig weit erstreckte Fristen vorzuschreiben. So hinterließ am Schlüsse des vorigen Jahrhunderts ein Bankier Thelusson ein schon sehr großes Vermögen mit der Bestimmung: daß 30*

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

416

dessen jährliche Auskünfte, während der Lebzeit einer ganzen Reihe von

Personen, namentlich auch der bereits geborenen Urenkel des Erblassers, zum Kapitale geschlagen werden sollten.

Erst die, beim Tode des letzten

dieser Urenkel lebenden, Deszendenten derselben sollten Eigenthum und

freien Genuß bekommen.

Wäre Mr. Thelusson's Wille zur Ausführung gekommen, so würde

sein Nachlaß auf etwa 180 Millionen Pfd. «Stert. (— 3600 Millionen Mark oder beinahe die berühmten 5 Milliarden Francs) angewachsen sein. Hier schritt jedoch die Gesetzgebung ein, da eS „gegen das gemeine Wohl" erachtet wurde, solch ungeheure Summen auf Generationen hinaus

festzulegen'

Durch ein besonderes Gesetz „The Thelusson Act“ wurde

daS Testament aufgehoben und eine solche Ansammlung auf 21 Jahre nach deS Erblassers Tode beschränkt.

So hatte der arme Mr. Thelusson

wenigstens die eine traurige Genugthuung: daß sein Name in nächster Beziehung zu der Vorstellung von unermeßlichen Geldsummen im eng­ lischen „Statute Book“ verewigt wurde. —

Eine sehr wohlthätige Fürsorge waltet für die verheiratheten Frauen ob, welche Grundeigenthum besitzen.

Will eine so bevorzugte

Dame eine Stiftung machen, durch welche sie ihre eigenen Rechte beschränkt, so muß sie sich zuvor einer strengen Prüfung — gewissermaßen tot Beicht­

stühle — vor einem Kommissär des Kanzleigerichtes unterwerfen, um zu verhüten daß sie nicht unter ungebührlicher Beeinflussung handele.

DaS

alte Statut sagt in seiner treffenden konkreten Sprache: „that they are

not kisse d or kicked out of their property“, daß sie nicht aus ihrem

Besitze heraus geküßt oder „geknufft" werde. Wir müssen uns jetzt noch, möglichst kurz, mit den rechtSgeschäft-

lichen Formen bekannt machen, in welchen diese Bindungen deS Grund­

eigenthums vollzogen werden. Entweder sind eS

„DeedS" Vertragsurkunden, mittelst derer

das Settlement gestiftet wird.

Diese „Deeds of Settlement“ werden

regelmäßig kurz vor der Hochzeit gemacht.

Der junge Ehemann überweist

sein Gut in den Besitz von Vertrauensmännern „Trustees“, behufs Ver­ wendung für bestimmte Zwecke.

Diesen Trustees wird nämlich auferlegt,

dem jungen Ehemanne selbst — und vor ihm seinem Vater — den lebenslänglichen Nießbrauch zu gewähren, seiner Frau Nadelgeld, event.

Witthum, seinen voraussichtlichen jüngeren Kindern Abfindungen, endlich

sollen die TrusteeS demnächst dem überlebenden

ältesten männlichen

Erben das beschränkte Eigenthum am Gute, beschwert mit allen jenen

Lasten und Vorbehalten, wieder überantworten. —

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

417

Ein solcher Deed ist, wenn einmal vollzogen, unwiderruflich.

ES

liegt daher in deren Vollziehung sofort bei der Vermählung eine gewisse Gefahr. Mir ist ein Fall bekannt, wo ein junger Ehemann, in etwas ver­

frühter Zuversicht, ein

Erben machte.

Settlement zu

Aus dieser Ehe

sieben Töchter — kein Sohn.

männlichen

entsprangen im Laufe der Ereignisse

Der gesetzliche männliche Erbe des armen

töchterreichen voreiligen Mannes ist jetzt

fernter Vetter.

Gunsten seiner

ein höchst uninteressanter ent­

Der beklagenswerthe Vater lebt schon seit vielen Jahren,

seinem Besitze entfremdet, im billigen Auslande, einzig damit beschäftigt, seinem Gute möglichst viel Lebenskräfte für seine sieben Töchter zu ent­

ziehen. — Diese Selbsttäuschung wird vermieden durch die andere Form des Settlements:

das Testament, da dieses bis zum Tode des Erblassers jederzeit widerruflich ist.

Jedoch

— ich wage eö nicht, meine standhaften Leser mit näherem Eindringen in dieses neue Labyrinth zu plagen! —

Warum aber alle diese verzwickten und

fingirten

Umwege

nöthig

oder zweckmäßig sind, kann ich erst im Verlaufe meiner Darstellung klar machen, — soweit diese Dinge überhaupt klar zu mach en sind. —

Nunmehr hätten wir also die „Dürre Haide" der Deeds und Settle­

ments glücklich durchwandert.

Es bleibt mir jetzt noch übrig, einige zer­

streute Mittheilungen hinzuzufügen, da deren flüchtige Erzählung zum Ver­ ständnisse späterer Darlegungen nothwendig ist.

Also jetzt noch wenige Worte

über

das Pfandrecht und Ver­

wandtes. 1.

Auch hier tritt uns die verwickelnde und verdunkelnde Fiktion,

der veraltete Ballast unnöthiger Formen in einem Grade entgegen, der bei der sonst so hohen Entwickelung des modernen englischen Geschäfts­ und Verkehrslebens unter der Herrschaft des großen Grundsatzes: „Time

is money“, für den Fremden — vielfach auch für den Eingeborenen — doppelt überraschend und unverständlich bleibt.

Ein Beispiel dürfte die Grundzüge des Pfandrechtes wohl am ein­ fachsten klar legen:

A. leiht an B. 1000 Pfd. Sterl. und bestellt dafür eine Hypothek

(mortgage) an seinem Grundbesitze.

In dem Schuld- und Verpfändungs­

briefe überträgt nun der Schuldner A. dem Gläubiger B. den

Besitz und Genuß des verpfändeten Gutes (vivum vadium).

sieht also fast dem deutschen Institute der Antichrese gleich.

vollen

Das

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

418

Nun aber bleibt heut zu Tage A. In Wirklichkeit ganz ruhig tat Be­

sitze seines verpfändeten Gutes.

B. erlangt diesen Besitz niemals, er

versucht eS auch gar nicht, denn kein Gerichtshof würde feine Klage aus

der Verpfändungsurkunde annehmen.

der Name

Daher

„mortgage-

mortuum vadium“.

Der Pfandgläubiger hat nur Anspruch auf einen „symbolischen" Besitz. ES müssen ihm nämlich sämmtliche Urkunden ausgeliefert werden welche

die Besitztitel deS Schuldners A. an dem Grundstücke enthalten, gewisser­ maßen als ein Faustpfand.

Hierin besteht des Gläubigers B. formelle

Sicherung dagegen, daß keine andere erste Hypothek hinter seinem Rücken bestellt wird. 2. Nachhypotheken genießen daher verhältnißmäßig geringe Sicher­

heit und schwachen Kredit.

Dennoch findet sich häufig zu hohen Zinsen

ein zweiter Pfandgläubiger C. und ein dritter D. Dieser letztere D. hat nun das Recht, wenn er des ersten Gläubigers B. Forderung erwirbt, seine eigene dritte Hypothek mit jener ersten

zu vereinigen;

„to tack them

together“.

Alsdann geht er dem

zweiten Gläubiger C. vor und dieser sinkt rettungslos in die dritte Stelle hinab*).

Dieselbe Ueberraschung steht selbstverständlich auch dem armen Gläu­

biger C. bevor, wenn sein Vorgänger B. sich selbst für spätere Vorschüsse eine Nachhhpothek hinter der C'schen bestellen läßt. — 3.

In der Schuldurkunde hat der Gläubiger B. versprochen, daß er,

sobald seine Forderung bezahlt ist, dem Schuldner A. den Besitz des Grundstückes — den er nie erhalten — zurück übertragen will; das

heißt also: er liefert die Besitztitel wieder aus.

Auf diese Weise sind eine

unglaubliche Menge der wichtigsten,

weil allein beweisenden, Besitz­

urkunden

Aufbewahrung

regelmäßig

der

dauernden

und Hütung bei

dritten Personen, ohne jede Kontrolle des Eigenthümers, anvertraut. 4.

In England giebt es keine Grundbücher und keine Hypo­

thekenregister. 5.

Es giebt dort, schon wegen deS wunderlichen, absolut unsicheren

Pfandrechtes, keine Pfandbriefinstitute und keine Grnndkreditbanken, daher auch keine Möglichkeit für sparsame Leute: alte Schulden dnrch Annuitäten abzutragen. 6.

Auch daS bet uns früher aushelfende, jetzt bereits veraltete, In­

stitut der Ediktalladungen und Präklusionen ist dort unbekannt. *) Für den höchst wahrscheinlichen Fall, daß meine verehrten Leser meine Mittheilung über das Rechtsinstitut des „tacking“ absolut unglaublich finden, bin ich bereit, meine Quelle in einem englischen Kompendium vorzulegen.

Landgefetze und Landwirthschaft in England.

7.

419

Der Verkäufer eines Grundstückes muß seine Besitztitel und

seine Befugniß: zu veräußern, sowie die Freiheit des Grundstückes von Hypotheken u. s. w. für die letzten 40 Jahre nachweisen.

Der Käufer hat eine erschreckende und unberechenbare Menge von Zeit, Mühe und Geld aufzuwenden um sich über die Rechtsverhältnisse

deS Kaufobjektes ausreichend aufzuklären und sicher zu stellen. Indessen gelangt er immer nur zu einer induktiven annähernden Ueberzeugung; eine formelle, offizielle, die Vergangenheit ab­

schließende Gewißheit ist unmöglich.

Wir stehen jetzt am Ziele unserer Schilderung deS englischen Lehn-, Land- und Pfandrechtes. Der bestehende Rechtszustand zeigt uns eine Mischung aus altsächsi­ schem Recht, normannischem Lehnrecht und einem korrektortschem Flickwerke von einzelnen Gesetzen, welches die älteren Bestimmungen überall

ein­

schränkt, durchlöchert, umgeht und abstumpft, ohne sie irgendwo völlig zu

beseitigen. An der korrektorischen Arbeit hat eS wahrlich nicht gefehlt, sie war und ist noch in stetig gesteigerter Thätigkeit. Das englische Statute Book

enthält über das Landrecht seit der Magna Charta (1215) bis 1837:

43 noch geltende Gesetze.

Vom Regierungsantritte der Königin Victoria

bis zum heutigen Tage sind deren etwa 50 Stück weitere erlassen.

„Aber

daS Ganze ist dennoch die fortgeexbte ewige Krankheit, die von Geschlecht zu Geschlecht schleicht und in der Vernunft — Unsinn, und Wohlthat — Plage geworden ist."

So wenigstens, vielleicht mit etwas anderen Worten,

behaupten die heutigen Reformer. ES liegt auch ein Gutachten darüber vor von einem namhaften Re­ former aus älterer Zeit.

Dieses lautet:

„The Law of England is a tortuous and ungodly jumhle“ — ein verworrener, gottverlassener Mischmasch.

So kritisirte,

vor mehr als 200 Jahren, Oliver Cromwell der

Lord Protektor, die englischen Landgesetze. (Schluß folgt.)

Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon. AIS wir vor bald einem Jahre zum ersten Male vor den frisch auS-

gepackten, nur erst nothdürftig geordneten Fragmenten der Pergamenischen

Gigantomachie standen, waren wir wohl alle geneigter, einen begeisterten Hymnus anzustimmen als eingehende Untersuchungen und Combinationen

anzustellen.

DaS erschütternde Pathos, das fast aus jeder Bewegung der

erhaltenen Glieder spricht, die bestechende Schönheit der einzelnen Figuren, die Kraft der Composttion, die Sicherheit der Technik übten auf Jeden,

der Augen dafür hatte, eine fast bezaubernde Wirkung.

Unter diesem

Eindruck, als Summe der ersten und nächstliegenden Empfindungen, schrieb

ich im December vorigen Jahres jenen Aufsatz über den Gigantenfries aus Pergamon, der sich zuvörderst nur die Aufgabe stellte, den wesentlichen Inhalt dieses Einen Werkes zu charakterisiren und feine kunstgeschichtliche

Bedeutung festzustellen. Heute nun liegt ein weit reicheres Material vor.

Durch den per­

sönlichen Verkehr mit Karl Humann selbst und zahlreiche mündliche Mit­

theilungen des wackern Forschers; durch wiederholte Prüfung und Be­ trachtung der plastischen Werke, die seitdem in noch reichlicherer Anzahl ihren

provisorischen

Aufenthaltsort

schmücken

und Dank der

emsigen

Thätigkeit der damit betrauten Künstler und Gelehrten, schon weit besser

geordnet sind; schließlich durch die eingehenden Mittheilungen der bet den Ausgrabungen thätig gewesenen Techniker und Archäologen*), sind wir

in den Stand gesetzt, uns schon ein bestimmteres Bild von der pergamenischen Akropolis zu entwerfen.

Freilich ist auch jetzt noch jede Schilderung

nur eine vorläufige, aber indem wir die schon fest gesicherten Ergeb*) Jahrbuch der Kgl. Preußischen Kuustsammluugen, Berlin 1880, Weidmannsche Buchhandlung. I. Bd. Heft II—IV. Den größten Theil dieser 3 in einem Bande erschienenen Hefte nehmen die „vorläufigen" Berichte der Herren A. Lonze, C. Humann, R. Bohn, H. Stiller, G. Lölling und O. Raschdorff ein. Diese Folge von Aufsätzen mit den entsprechenden Abbildungen ist auch als Separatausgabe erschienen.

421

Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.

Nisse von den wahrscheinlichen und hypothetischen Thatsachen in unserer Darstellung unterscheiden, wird unsere Arbeit dem Vorwurf der Voreilig­ keit ebensowenig verfallen, wie jene erste Skizze.

Ist es doch daS Wesen

der Philologie, die untergegangene Cultur der alten Völker mit den jedes­

maligen Mitteln der Forschung und Erklärung unserer gegenwärtigen An­ schauung wieder vorzuführen und anzupassen und sie so gleichsam neu zu

erzeugen.

Versuchen wir eS also nach Maßgabe der vorhandenen Mittel

unS daS Bild der Hochstadt Pergamon zu construiren!

Der KaikoS (jetzt Bakyr Tschai) ist der nördlichste der einigermaßen beachtenSwerthen, westwärts strömenden Flüsse AnatolienS; er mündet bei­

nahe in der Breite des südlichsten Punktes der Insel LeSboS in den Golf von Eläa (heute Busen von Tschandarlik).

Etwa fünf Meilen in dem

breiten und fruchtbaren Thale aufwärts lag am Fuße eines fast isolirten Bergkegels die alte Königsstadt der Attaliden, die in dem modernen Namen

Bergama noch den alten Klang gerettet hat.

Wie bei so vielen antiken

Städteanlagen ist der Berg die bewirkende Ursache der Stadt gewesen;

mit geringen Ausnahmen können wir bei jeder antiken Stadtgründung die

bekannten Merkmale entdecken, durch welche die ersten Siedler gerade an jtne Stelle gewiesen wurden: eine schickliche Entfernung vom Meere, die

Nähe eines fruchtbaren Geländes für Acker- und Gartenbau und ein Berg, der die Heiligthümer aufnahm und in KriegSläuften der bedrängten Be­ völkerung mit ihrer beweglichen Habe eine Zuflucht darbot, wohl auch als

KönigSburg diente.

Fuße

angebaute

Der Kegel aus weichem Gestein, welcher die an seinem mysisch-äolische

Stadt Pergamon

überragte,

hat ca.

1000 Fuß Höhe (Athenische Akropolis ca. 300, Akrokorinth ca. 1500

über dem Niveau der resp. Unterstadt) und hängt nur nach Norden durch einen Sattel mit dem Hauptgebirge zusammen.

Nach Süden zu fällt der

Berg ziemlich sanft ab, hier war an seinem Fuße die Stadt angebaut, sowie auch heute noch die moderne türkische Ortschaft sich dort befindet.

Nach Osten und Westen war der Abfall des Berges steil; es ergab sich

also sehr wohl die Möglichkeit, durch einige befestigende Anlagen den Berg

in eine schützende Burg umzuwandeln.

Dies mag schon früher *) in dem

Maße gelungen sein, daß PhiletäroS diesen Ort für geeignet halten konnte, hier

den

ihm

vom

LysimachoS

übergebenen

ungeheuren

Schatz

von

9000 Talenten niederzulegen, so daß also damals die pergamentsche Akro­ polis genau ein Drittel der Summe barg, wie jetzt der JuliuSthurm in

*) Positive Beweise dafür, daß der Burgberg von Pergamum um das Jahr 300 schon eine Festung war, vermag ich nicht beiznbringen; aber ich schließe es aus dem Um­ stand, daß PhiletäroS den Schatz dort deponirte. Vielleicht ergeben die fortgesetzten Grabungen des nächsten Winters ein Resultat auch in dieser Hinsicht.

422

Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.

Spandau, ca. 40 Millionen Mark.

Diese für jene Zeiten ganz enorme

Geldmasse wurde dann zusammen mit den guten bürgerlichen und echt königlichen Eigenschaften des PhiletäroS und seiner Neffen und Nachfolger daS Mittel, durch welches das pergamenische Königreich gegründet ward.

Durch die zweihundertjährige milde Herrschaft dieser Dynastie wird

Pergamon, dessen mysisch-äolische Bevölkerung bis dahin dem reich ent­ wickelten Leben der Hellenen fern gestanden hatte und dessen frühere Ge­ schichte bis jetzt lediglich den antiquarischen Botaniker interessiren konnte, auS seinem unhistorischen Dunkel mitten in daS hellste Licht der spät­

hellenischen Cultur gezogen, und hält seine Bedeutung als Metropole der Kunst und Literatur für jenen Theil deS MittelmeergebieteS auch nach dem

Tode des dritten AttaloS (133) bis in die Kaiserzeit hinein fest. Der Höhepunkt dieser lokalen hellenistischen Kultur fällt, wie eS scheint,

in die Zeit EumeneS II. (197—159), deS bekannten treuen Freundes der Römer während deren Kriege im Osten.

Unter seiner langen und milden

Regierung sind wohl die meisten der prächtigen Kunstbauten, welche einst die Akropolis schmückten, vor Allem der vielbesprochene Altarbau entstanden. Conze schließt aus dem Umstand, daß die mehrfach gefundenen auf Eu­

meneS II. bezüglichen Inschriften die gleiche Beschaffenheit der Buchstaben zeigen, wie die Götter- und Gigantennamen am Altarbau, auf die näm­ liche Entstehungszeit beider, — eine Annahme, welcher sonstige Gründe

zwingender Art nicht entgegen stehen.

Danach wären frühere Ansichten,

welche den Bau deS Altarwerkes seinem Vorgänger AttaloS I. zuschrieben,

zu berichtigen. — Etwas unterhalb des höchsten PlateauS, an dem westlichen Rande

des Burgbergs, an einer glücklich gewählten, weithin sichtbaren Stelle be­ fand sich der Altar.

Von unten kommend muß man jetzt erst eine, in

byzantinischer Zeit aufgeführte ca. 3 Meter starke Mauer passiren, deren Werkstücke sowohl, als auch der dazu verwendete Mörtel aus der Zer­ störung antiker Marmorbauten gewonnen worden waren.

Der größte

Theil deS GtgantenkampfeS ist in Gestalt großer guterhaltener Relieffplatten

aus dieser Mauer ausgebrochen worden; und nachdem die Zugehörigkeit derselben zu dem Altar einmal festgestellt war, hatte Humann sehr recht, den letzteren in nächster Nähe zu suchen; dort haben sich denn auch die

Fundamente gefunden, und allmählich sind so viele einzelne Bauthetle zu Tage gekommen, daß eine Reconstruktton dieses merkwürdigen Baues mit annähernder Sicherheit versucht werden konnte.

Der Platz für den Bau

mußte auf dem abschüssigen Terrain erst in der Weise geschaffen werden,

daß von Norden her eine Terrasse abgetragen, nach Süden zu aufgefüllt und nach Westen eine mit der nördlichen Terrasse rechtwinklig sich treffende

Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.

Futtermauer construirt wurde. dessen

So stellte man einen viereckigen Platz her,

nahezu nach Norden sich

67 Meter ergiebt.

423

erstreckende Axe etwa die

Länge von

In der Mitte desselben stand der Altar, der von der

Fläche des Platzes zunächst durch 3 Stufen von je 23 Zentimeter Höhe

isolirt war; dann folgte der Unterbau, eine Mauermasse von ca. 4 Meter Höhe; unten charakterisirt durch einen Sockel, darüber ein Stück glatte

Mauerfläche, welches durch ein kleineres Gurtgesims seinen Abschluß findet.

Ueber diesem erhebt sich dann, nach unten zu durch einen Ablauf, nach oben durch ein mächtig ausladendes Hauptgesims eingerahmt, das Pracht­

stück und Hauptergebniß der ganzen Grabungen, der 2,30 Meter hohe und ca. 135 Meter lange Hochreliefs-Fries, dessen Inhalt wir bereits be­ sprochen haben.

Ununterbrochen zog er sich auf drei Seiten des Altars

in der Weise hin, daß der am Fuße deö Baues Stehende die untere

Linie des Werkes etwas über seinem Auge hatte.

Auf der vierten Seite,

der südlichen oder östlichen, war die Continuität des Frieses durch die in den Bau eingeschnittene Freitreppe unterbrochen, doch zog sich die Dar­ stellung um die Ecken herum bis in die Winkel der so gebildeten Treppen­

wangen hinein.

Der Zufall, der uns diese beiden Eckstücke erhalten hat,

giebt uns eben dadurch einen ebenso willkommenen wie sicheren Aufschluß über die Beschaffenheit des Baues.

Von diesem Relieff-Fries haben wir

in Gestalt von 98 Platten und ca. 3000 einzelnen Brocken etwa 7a des

Sie liegen wohlgeborgen in den Räumen des

ganzen Werkes erhalten.

alten Museums; an ihrer Reinigung und Zusammensetzung wird rüstig gearbeitet.

Die beiden Hauptgruppen, deren ungewöhnliche Schönheit und

Gewalt ich schon in meinem ersten Aufsatz hervorhob, haben in der Ro­ tunde des alten Museums eine fast senkrechte, der ursprünglichen nahe­

kommende Aufstellung gefunden, und hier springen uns die ganz elemen­

tare Kraft der Composition und die staunenswerthe Technik noch mehr in die Augen als früher.

Die Holzschnitte in dem „Jahrbuch der Museen",

welche nach Zeichnungen des bekannten Historienmalers Knille angefertigt

sind, geben nur eine höchst unvollkommene Vorstellung des Originals, welches auch darin das sichere Merkmal einer ganz ächten Kunstleistung

trägt,

daß eS bei jeder neuen Besichtigung wächst und dem Beschauer

immer wieder neue Finessen und Reize offenbart.

Abgesehen von diesen

beiden Gruppen, die zweifellos in dem Tenor der ganzen Composition

eine hervorragende Stellung eingenommen haben, hat sich aus wenigen größeren und vielen kleineren Fragmenten in den letzten Monaten die

größte und interessanteste aller erhaltenen Gruppen zusammengefügt; —

vielleicht überhaupt die reichste und lebendigste Composition der gesammten uns bekannten alten Kunst.

Es ist die Artemis mit den Ihrigen, die hier,

424

Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.

in einem höchst complicirten Kampf mit verschiedenartigen Giganten ver­

wickelt, auftritt.

Von der Rechten her energisch ausschreitend, in dem uns

durch die „Diana von Versailles" bekannten leichten Jagdcostüm, mit auf­ fallend schön

gearbeiteten Jagdstiefeln, begleitet von ihren Hunden trifft

sie auf einen jugendlichen Giganten von ungewöhnlich edler Bildung — feinsinnig erinnert Conze an die Scene auö der Jungfrau zwischen Jo­ hanna und Montgomery.

Zwischen diesen Beiden ist bereits ein bärtiger

Gigant mit Schlangenbeinen im Todeskampf zusammengesunken und wehrt

nur noch instinktiv mit der Rechten den Hund der göttlichen Jägerin ab,

der ihn ins Genick faßt.

Die Schlangen aber sterben noch nicht gleich

mit ihrem Herrn, die eine von ihnen packt in vergeblicher

Wuth das

Gewand der links davon kämpfenden Hekate und stellt dadurch zugleich die Verbindung mit diesem Theil der Gruppe her.

Diese Göttin, welche die

uns sonst bekannte Kunst der Hellenen nur als ein häßliches Idol zu bilden vermochte, sehen wir hier zum ersten Male in den Bereich der hellenischen

Kunstschönheit gezogen.

Der Künstler bildete eine mächtige Frauengestalt

mit drei Paar Armen, von denen je die Rechte mit Fackel, Lanze und

Schwert kämpft.

Auf dem Rumpfe saßen vermuthlich dem entsprechend

drei Köpfe, deren zwei als Hoch- und Flachreliefs wohl erhalten sind und in ihrem Typus

an die Darstellungen des Helios erinnern; der dritte

Kopf war vermuthlich durch Farbe auf dem Relieffgrund hergestellt.

Der

Gegner der Hekate ist ein bärtiger Gigant, dessen nackter Oberkörper auffallend schön erhalten und von vorzüglichster Bildung ist.

Auf seinen

Schlangenfüßen stürmt er gegen die Göttin los und schickt sich eben an, mit beiden Händen einen mächtigen Steinblock gegen sie zu schleudern, aber der Todesstreich wird ihn früher aus unnahbarer Hand treffen.

In ohn­

mächtiger Wuth packt der eine von seinen beiden Schlangenköpfen den un­

teren Schildrand der Göttin: „man glaubt das Erz knirschen zu hören", während dieselbe Schlange von einem der großen zottigen Hunde, welche die Artemis begleiten, heftig angegriffen wird. Diese merkwürdige Gruppe, deren Wiederherstellung aus zahllosen

Bruchstücken eine glänzende Leistung des Herrn FrereS, eines italieni­

schen, mit der Zusammensetzung des Frieses betrauten Bildhauers

ist,

giebt mehr noch als die andern erhaltenen, schöne Aufschlüsse über die Oekonomie der Composition, die Art der Relieffbehandlung, den Reichthum künstlerischer Ideen und die Flottheit der Technik. nach

dem

Plane des

erfindenden und

Offenbar waren also

leitenden Künstlers die beiden

Schlachtreihen auf einander los gestürmt; dann hatte sich der Kampf in

eine Reihe einzelner Gruppen aufgelöst, die, äußerlich lose mit einander

verbunden, durch die gleiche Behandlung und das nämliche Thema ihre

425

Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.

enge Zusammengehörigkeit bekunden. Relieffs gegebene Raum

Aber der durch die Schranken des

genügte dem Künstler

nicht, er versucht, die

Reliesf-Fläche die nur für Eine Reihe von Wesen Raum zu haben scheint,

zu vertiefen.

Der Relieffhintergrund wird ihm zu einem idealen Raum,

den wir nach unsrer Phantasie ausfüllen können.

Die durch verschieden­

artige Behandlung der Relieffhöhe und vermuthlich durch entsprechende farbige Betonung hergestellte Perspektive können wir auf keiner anderen

uns erhaltenen antiken Relieffdarstellung nachweisen; die Scene ist an einigen Stellen drei Glieder tief, es gelingt ihm, an einer anderen Stelle

ein vorwärts sprengendes Viergespann und zwar in vorzüglichster Ausfüh­ rung von der Seite darzustellen. Hinsichtlich der sonst vorhandenen Möglichkeiten, die einzelnen Platten

in die Gesammterzählung einzureihen, sei auf Conze's lehrreichen und höchst interessanten Aufsatz in dem oben citirten Museumswerk verwiesen.

Derselbe giebt eine genauere, durch kleine Holzschnitt-Skizzen illustrirte Beschreibung der wichtigsten Relieffstücke und betont mit vielem Recht eine

Reihe technischer Eigenthümlichkeiten des Werkes. die ganz bestimmte Darstellung der Stoffe.

Hierzu gehört vor Allem Der

Künstler

zeigt

das

größte Bemühen, die Art der Stoffe und ihre Beschaffenheit genau auS--

zudrücken. Auffallend namentlich sind die sehr bestimmt dargestellten Quer­

falten der antiken Gewänder, welche noch kurz zuvor zusammengefaltet in

der Truhe gelegen hatten.

Sie sind zum Theil nach unserm Gefühl schon

etwas zu stark hervorgehoben.

Schwerlich wollte der Künstler damit an­

deuten, daß er sich seine Götter in ganz neuen, frisch gewaschenen Ge­

wändern dachte; vielmehr lag es überhaupt in dem realistischen Zuge der

Kunst jener Zeit, auf diese Seite der Technik größeres Gewicht zu legen, als eö zum Beispiel zur Zeit deS Phidias geschah.

Dieser Realismus,

wie er sich in der Stoffbehandlung, und in der stärkeren Betonung des

Details überhaupt, kundgiebt, hat, soviel wir bis jetzt sehen können, seine Wurzeln in der

Praxitelischen

welches wir bestimmt

als

Kunstrichtung.

Das

eine Originalarbeit dieses

einzige

Werk,

großen attischen

Meisters bezeichnen dürfen, der Hermes von Olympia, zeigt zum Unter­ schied von den Originalwerken der vorangehenden Zeit schon sehr bestimmt

diese neue Richtung, welche die Technik der Sculptur einschlägt.

Wir

glauben überhaupt neuerdings deutlicher zu erkennen, wie von jener Zeit ab das Studium der Gewandung eine der eifrigstbetriebenen Aufgaben der attischen Kunstschule und der von dieser beeinflußten Strömungen ge­ bildet hat.

Von der Niobide-Chiaramonti bis zu der höchst interessanten

Nike von Samothrake (jetzt im Louvre) liegt ein Gang der Entwickelung, der bei dem letztgenannten großartigen Originalwerk bereits die Grenze

Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.

426

des innerhalb der ächten Kunst Erlaubten berührt.

Unter den Perga­

menischen Werken finden sich eine ganze Reihe der interessantesten Belege für diese Richtung, welche die griechische Plastik in der Zeit der Diadochen

einschlug. —

Habe ich nun mit den eben gegebenen Andeutungen das früher über die Gigantomachie Gesagte einigermaßen zu ergänzen gesucht, so wird es

jetzt möglich sein, unS im Geiste an den Fuß des großen AltarbauS zu stellen und das ergreifendste aller Schlachtenbilder in der Aufeinander­

folge kühn angeordneter, wechselvoller Scenen zu verfolgen, in denen bei aller Wildheit und Furchtbarkeit auch der elegische Ton und der versöh­

nende Schlußakkord nicht fehlt.

Das ganze Kunstwerk war durch ein

mächtiges, vielfach gegliedertes Hauptgesims geschützt, da- bei 0,38 Meter Höhe und beinahe 0,80 Meter Ausladung sich deutlich genug nicht nur als Abschluß deS Unterbaus charakterisirt, — denn dazu wären mäßigere

Verhältnisse ausreichend gewesen, — sondern zugleich auch als schützende

Ueberkragung dieses Meisterwerkes.

In einer Hohlkehle dieses Gesimses

waren die Namen der Götter, sowie am Fuße des Frieses die der Gi­ ganten angebracht.

Ueber diesem Gesims endigte der Unterbau.

Hatte

man denselben auf der vorhin erwähnten Treppe erstiegen, so befand man sich auf der Plattform, in deren Mitte der vermuthlich aus der Asche der verbrannten Opfer bestehende Altar gestanden hat.

Dieser Altar war

von einer nur an der Treppe offenen Wand im Viereck umgeben; nach Außen zu lag vor dieser Wand eine jonische Säulenhalle, die mit dreifach

gegliedertem Architrav und Geison nebst Sima ohne dazwischenliegen­ den FrieS abschloß.

und

lichster Arbeit

Kleinasiens.

Die Säulen mit 24 Furchen

sind von vorzüg­

erinnern in ihrer Form an die jonischen Bauten

Ihre Kapitäle sind nicht von gleicher Form, sondern zeigen

mannigfache Bildungen; — ein Ueberwuchern der künstlerischen Phantasie,

das uns bei der gesammten Baukunst des Mittelalters ganz geläufig ist, für das ich indeffen aus der alten Zeit ein weiteres Beispiel nicht anzu­

führen vermag.

Auf der flachen Casettendecke dieser nach außen offenen Säulenhallen, die sich also von Unten als ein zweites Geschoß des Baues darstellten,

müssen Figuren gestanden haben, wie sich aus den erhaltenen Standspuren

einiger Deckplatten ergiebt;

Bohn denkt an

die

erhaltenen Fragmente

unterlebensgroßer Pferde von weniger hervorragender Arbeit, die sich ge­ funden haben.

Auch von den sonst in der Nähe auSgegrabenen Torsen

könnten einzelne hier gestanden haben.

Die letzteren, erst zum Theil auS-

gepackt und den Augen des größeren Publikums noch nicht zugänglich, bieten ein weit geringeres Jntereffe als der FrieS selbst.

Bei einzelnen

427

Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.

derselben macht die sehr eingehende Technik bisweilen den Eindruck des

Absichtlichen und übermäßig Detaillirten; man mag etwa zur Vergleichung

des in einigen von ihnen sich zeigenden Stils die Musen des Berliner Museums heranziehen, die eine gewisse Popularität genießen, und welche (resp, die diesen späteren Copien zu Grunde liegenden Originale) etwa

aus derselben Zeit stammen mögen. Der Architekt Richard Bohn, welcher den Altarbau ausgenommen hat und die betreffende Beschreibung desselben in der Museums-Zeitschrift giebt, betont ausdrücklich, daß die Flüchtigkeit und Nachlässigkeit in der

Arbeit der oberen Bauglieder neben der großen Feinheit und hohen techni­ schen Vollendung der Säulen und namentlich der Kapitäle überraschen

Wenn wir annehmen, daß kurz vor Vollendung

muß.

des gewaltigen

Baues das Interesse daran erlahmte und die Mittel knapp wurden,

so

findet diese Vermuthung noch eine andere Stütze.

ES sind nämlich noch beträchtliche Reste eines zweiten Reliefs-Frieses (35 Platten und etwa 100 Fragmente) gefunden worden von 1,58 Meter

Höhe, dessen ursprünglichen Ort wir uns an dem oberen Theile der den Altar umgebenden Wand auf der Innenseite zu denken haben.

Platten sind einige unfertig geblieben.

Von diesen

Da indessen keine Meßpunkte

sichtbar sind, wie sie wohl kein moderner Bildhauer entbehren kann, und wie wir sie auch an mehreren unvollendeten Werken des Alterthums be­

merken, so beweist dies wiederum die große Sicherheit der Technik, mit welcher die namenlosen Künstler von Pergamon arbeiteten.

Dieser zweite

Fries, der bis jetzt noch nicht gereinigt und geordnet werden konnte, bietet

der Erklärung größere Schwierigkeiten, als die Gigantenschlacht.

Bis jetzt

steht nur soviel fest, daß hier pergamenische Lokalsagen den Stoff der Darstellung bilden.

Pausanias berichtet im 8. Buche, daß Aleos, der als Nachfolger des

AiphtoS zu Tegea über Arkadien herrschte, drei Söhne und eine Tochter hatte.

Letztere, Auge (die Glänzende), gebar vom Herakles einen Sohn

den Telephos (den weithin Leuchtenden); erzürnt setzt der Vater seine Tochter mit dem Neugeborenen in einen Kasten und überläßt sie dem Meer, das sie zum Teuthras, dem Fürsten der KaikoS-Ebene bringt, der

die Auge heirathet. KaikoS

„Und jetzt noch befindet sich in PergamoS ob des

ein von einer steinernen Futtermaller zusammengehaltener Erd­

hügel; auf dem Male aber befindet sich ein nacktes Weib, ein aus Erz

verfertigtes Standbild."

Dieser Form des Heroengrabes begegnen wir

in Kleinasien mehrfach, der Ausdruck „nackte Frau" beweist aber, daß wir

es mit einem Produkt hellenischer Kunst zu thun haben; vermuthlich einem

Werk aus der Attalidenzeit, aus der auch sonst von ehernen Standbildern

428

Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.

berichtet wird.

Der Cultus der Auge und ihres SohneS, als des Ahnen

der altpergamenischen Dynasten scheint also in Pergamon gepflegt worden

zu sein, jedenfalls lassen sich auf letzteren bereits mehrere der Reliefftheile des kleineren Frieses beziehen, während für andere eine bestimmte Erklärung noch nicht gefunden ist und vielleicht bei unserer sonstigen ge­

ringen Kenntniß jener lokalen Legenden auch schwer zu finden ist.

Selbst

in dem Gigantenkampf spotten ja einige Figuren bis jetzt noch völlig un­ serer Fähigkeit, mit dem erworbenen Material an mythologischen Kennt­

nissen auszukommen. Ich erwähne aus dem TelephoSfrieS nur folgende zwei Scenen von

größter Deutlichkeit und Schönheit:

Der im Gebirge ausgesetzte Säugling

(eine andere Version der Sage, als die bei Pausanias) liegt am Euter

eines nicht genau definirbaren Thieres (nach der Legende müßte es eine Hinde sein); der suchende Vater ist herangetreten und 'blickt, auf seine

Keule gestützt, in einer an den farnesischen Herakles erinnernden Stellung ruhig und zufrieden auf sein Söhnchen.

Die Behandlung der nackten

Theile des Herakles ist von einer Feinheit, Wärme und trotz der unter­

lebensgroßen Darstellung von einer Durchbildung, wie wir sie an wenigen andern antiken Werken nachzuweisen vermögen.

Auf einer andern Platte

sehen wir den erwachsenen TelephoS, der nach Argos gekommen ist um sich durch den im Besitz des Agamemnon befindlichen Speer des Achilleus seine

von dem letzteren geschlagene Wunde heilen zu lassen.

Er hat sich in daS

Haus AgamemnonS geschlichen und mit dem kleinen Orestes auf den Haus­

altar geflüchtet. Indem er droht, den Knaben zu tödten, zwingt er den Atreiden

ihm den Rost der Lanze zur Heilung auf die Wunde zu legen.

In dem

Conze'schen Aufsatze ist ein skizzirender Holzschnitt dieses Bildes abgedruckt.

Durch diesen zweiten Fries geht eine, von dem Charakter der Gtgantomachie völlig verschiedene Stimmung; hier herrscht im Gegensatz zu

dem erschütternden tragischen Pathos ein behaglicher ErzählungSton, der wohl auf eine ganz

andere Künstler-Phantasie schließen läßt, jedenfalls

aber Zeugniß ablegt für die Vielseitigkeit, mit der im zweiten Jahrhundert die Skulptur in Pergamon gepflegt ward.

In der Nähe dieses AltarbaueS muß auch der große Tempel der

Athene zu suchen sein, den frühere Forscher vor den Ausgrabungen auf die Höhe der Burg an die Stelle des AugusteumS setzten.

Theile des

Athenetempels, Reste dorischer aus einheimischem Material gefertigter Säu­

len haben sich gefunden.

Vielleicht führen uns die Grabungen des näch­

sten Winters noch auf genauere Spur; eS wäre interessant,

hier das

erste Beispiel eines dorischen Baues aus historisch nachweisbarer Zeit auf

asiatischem Boden zu besitzen. —

429

Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.

Verfolgen wir nun schließlich von hier aus den östlich des Altar­ baus auf das höchste Plateau des Burgbergs führenden Weg, so gelangen

wir zu einem großen korinthischen, dem Augustus geweihten Tempel, der früher für das Heiligthum der Burggöttin Athene gehalten wurde.

ES

hat sich bei den Ausgrabungen mit Sicherheit ergeben, daß der Tempel der erhabenen Tochter des Zeus, welcher mit ihrem Vater zusammen der

große Altar gewidmet war, nicht hier, sondern in der Nähe des Altar­

zu suchen

baus

ist.

Der Architekt

Hermann Stiller hat den

oberen

Tempel untersucht und die Resultate seiner Forschungen in einem beson­

deren Aufsatz mit dankenswerthen Abbildungen in der citirten Schrift des

Museums niedergelegt.

Der Tempel war nach Südwesten frei, nach den

vier andern Seiten zu mit Säulenhallen umgeben und stand auf einem

Peribolus von 68,50 Meter Tiefe und 60 Meter Breite.

Dies Planum

hatte auf dem unebenen Felsboden nur durch mühsame Substruktionen

errichtet werden können, da es hart an die Westseite des Berges stößt, wo derselbe ziemlich steil abfällt.

Die den Tempel umgebenden Portiken

sind ebenfalls von korinthischer Ordnung.

Der peripterale Tempel er­

hebt sich auf dem Stereobat von drei Stufen und einem ca. zwei Meter

hohen Unterbau, der mit einem reichverzierten Sockel sich an den Ste­ reobat anschließt und mit einem haben

einen

schönen Gesims endigt.

durchschnittlichen Durchmesser

Die Säulen

von 1,10 Meter und (incl.

Kapitäl) eine Höhe von fast 10 Meter, also sehr stattliche Dimensionen!

Jede Säule hatte 24 Furchen und zeigt aufmerksame feine Bearbeitung

des

ornamentalen Details.

Der Architrav läßt sich nur vermuthungS-

weise ergänzen, da ein ganzer Architravblock sich nicht hat finden lassen; — auch hier scheint die Arbeit der türkischen Kalkbrenner von verhäng-

nißvollem Erfolg gewesen zu sein.

Sehr merkwürdig und, soviel mir be­

kannt, ohne Analogie ist der über dem Architrav sich hinztehende Fries. Derselbe ist durch emporstrebende Consolen, welche mit den balkenförmigen

Consolen des Hauptgesimses in Beziehung stehen in viereckige Felder ge­ theilt, welche durch Medusenhäupter mit Flügeln und Schlangen auSge-

füllt sind.

Die Consolen scheinen aus einer Art Blattkelch

hervorzu­

wachsen, welcher nach beiden Seiten spiralförmige Ranken entsendet, die in der Mitte der Felder sich treffen und mit den Medusenhäuptern ver­

einigen.

Wie diese nicht uninteressante ornamentale Idee beim Anschauen

des Originals wirkt, wird man erfahren, wenn die betreffenden Architek­ turtheile ausgepackt und

aufgestellt sind.

In der Cella hat man die

Trümmer colossaler Statuen des TrajanuS und HadrianuS gefunden, ein

Umstand, der die auch sonst schon gesicherte Ansicht,

daß

Reste des gesuchten AugusteumS vor uns haben, bekräftigt. Preußische Jahrbücher. $t. XLVI. Heft 4.

wir hier die Der Charakter

31

Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon.

430

der Bauformen stimmt damit überein; der Bau fällt also in die ersten

Jahre der Alleinherrschaft des Augustus.

Pergamon blieb in den ersten zwei Jahrhunderten ein durch die Gunst der Kaiser bevorzugter Ort; noch zahlreiche andre Bauanlagen ver­

danken diesem Umstand ihre Entstehung, die theils, wie z. B. des Gym­ nasiums am südlichen Fuße des Burgbergs, schon entdeckt sind, theils ihrer spezielleren Untersuchung noch entgegensehen, eine Aufgabe, die sich

die genannten verdienten Männer für den nächsten Winter gestellt haben. Natürlich hat die rege Bauthätigkett der Kaiser vermuthlich auch manches ältere Denkmal zerstören helfen.

ES ist geringe Aussicht, ein dem Altar­

bau auch nur annähernd ebenbürtiges Werk aus der Diadochenzett dort

aufzufinden, deren hohe Bedeutung für die Festhaltung resp. Fortentwick­ lung der hellenischen Kunst und deren Ueberleitung in die Römische, hier

deutlicher hervorgetreten ist, als bisher. Dies ist geschichtlich das wichtigste Resultat der pergamenischen Ent­

deckungen, daß sie, in Verbindung mit einigen andern kürzlich gemachten

Entdeckungen (z. B. der samothrakischen Nike und

einiger Bauten in

Olympia) ein helleres Licht auf die bis dahin noch wenig erkannte Zeit der Dtadochen werfen.

Der genaueren Erkenntniß des höchst interessanten

Processes, wie die spezifisch hellenische Cultur zur hellenistischen sich er­ weitert und verallgemeinert, und wie dann die letztere wieder eine Ehe

mit dem Latinismus eingeht und daraus die hellenistisch-römische Kultur erzeugt wird, dieser Erkenntniß werden wir bald genauer auf der Spur

sein.

Als großes ästhetisches Ergebniß steht aber für alle Zeiten das

gewaltige marmorne Heldengedicht da, welches mehr fein soll, als bloßeS Material für den Alterthumsforscher, nämlich Anregung und Beftuchtung

unserer eigenen künstlerischen Potenz. lose und

übertriebene;

Diese Hoffnung ist keine aussichts­

auch Ntccolo Pisano und nach ihm die großen

Quattrocentisten holten sich sehr direkten Rath aus den ihnen gerade nahe

gerückten antiken

Skulpturwerken; öS liegt im Bereich der Möglichkeit,

daß die Verbindung von echtester Poesie und gewaltiger Technik, der wir im Giganten- und TelephoS-FrieS begegnen, auch der Phantasie unserer Künstler in ähnlicher Weise zu Gute kommt. September 1880.

B. Förster.

Ost-westliche Friedensaussichten. (Politische Correspondenz.)

Berlin, 14. October 1880. Zum zweiten Male seit weniger als Jahresfrist hat die Entwickelung

der Dinge in Frankreich die Pessimisten, die gerade auf dem Gebiet der auswärtigen Politik sich einer gewissen Autorität erfreuen, vollständig desavouirt.

Als in den letzten Tagen des JahreS 1879 das Ministerium

Frehcinet die Erbschaft Waddington'S antrat, trösteten fich die Propheten,

welche den Beginn der Aera Gambetta angekündigt hatten, mit den mehr witzigen als wahren Worten: das Ministerium Frehcinet sei das Cabinet

Gambetta ohne Gambetta.

In Wirklichkeit begann in dem Augenblick,

wo der Einfluß Gambetta'S in der einen Hälfte der Vertretung deS Landes, der Deputirtenkammer unbeschränkt geworden zu sein schien, die Reaction

gegen den präsumtiven Dictator.

Vielleicht wird schon eine nahe Zukunft

die Richtigkeit der Auffassung erweisen, daß Gambetta damals, als er mit Rücksicht auf die Zusammensetzung deS Senats, in welchem die gemäßigten

Elemente noch die Oberhand haben, sich weigerte, die Zügel der Re­

gierung zu ergreifen, einen schweren politischen Fehler begangen hat.

Wer die Herrschaft, die sich ihm bietet, aus Vorsicht verschmäht, mag

den Klugen klug erscheinen; die Massen verlieren den Glauben an eine Kraft, die sich nicht bethätigt.

Auf alle Fälle ist der Einfluß Gambetta'S

seit dem 29. December v. I. nicht gewachsen.

Der Sturz Freycinet'S,

dessen nächste Ursachen noch in Aller Gedächtniß sind,

war das Werk

Gambetta'S; aber ohne die unbegreifliche Verblendung des Ministerpräsi­

denten, der im Widerspruch mit dem officiellen und von der Kammer ge­

billigten Programm in der Frage der nicht-autorisirten Genossenschaften mit der Curie zu tranSigiren begann, hätte Gambetta nicht einmal ver­

suchen dürfen, einen Minister zu Fall zu bringen, dem er keinen anderen Vorwurf machen konnte,

als den, daß er in Fragen der auswärtigen

Politik die Zustimmung deS Kammerpräsidenten nicht eingeholt habe. 31*

Ost-westliche FriedcnSauöstchten.

432

Daß Frehcinet'S durch collegialische Intriguen erzwungener Rücktritt gerade in dem Augenblick erfolgte, wo die auswärtige Politik Frankreichs sich in einer Krisis befand, läßt errathen, daß für Gambetta die Verhand­

lungen des Ministerpräsidenten mit der Curie nur Vorwand waren.

Der

Eifer, den Waddington in der griechischen Frage bewiesen hatte, konnte, solange Lord Beaconsfield die englische, wenig griechenfreundliche Politik

beherrschte, nur als diplomatische Gymnastik gelten. Gladstone aber glaubte in der griechischen Grenzfrage den Haken gefunden zu haben, mittelst

dessen er Frankreich auf den Boden seiner orientalischen Pläne hinüberziehen könne.

Gambetta oder ein Minister des Auswärtigen nach seinem Herzen

würde dieser Versuchung

erlegen

sein.

Der Sturz Frehcinet'S stellte

Gambetta von Neuem vor die Entscheidung.

Im December 1879 hatte

er die Zustimmung des Präsidenten der Republik zu der Umgestaltung deS Cabinets im Sinne der republikanischen Linken mit dem Versprechen er­

kauft, Freycinet zu unterstützen jusqu’au bout; und damit recht eigentlich daS Signal zum Abfall der Radicalen gegeben, die er auch durch die ge­

setzliche Rehabilitirung der amnestirten Communards nicht wieder versöhnen

konnte.

Die Septemberkrisis endete mit der ersten unverhüllten Nieder­

lage Gambetta'S, nicht obgleich, sondern weil er sich durch seine Rede bei

dem Punsch der Handlungsreisenden in Cherbourg (20. August) als Träger der Revanche-Politik proclamirt hatte.

Die Ernennung des Unterrichts­

ministers Ferry zum Präsidenten des Conseil und diejenige des greisen

Barthölemy-St.-Hilaire, des CabinetSsecretärS des Herrn Thiers zum

Minister der auswärtigen Angelegenheiten hat den Bruch zwischen Grävy und Gambetta vollendet.

Mit dem geflügelten Worte:

la France est

solle de la paix unterzeichnete Gambetta den vorläufigen Verzicht auf

die leitende Rolle.

Barthelemy-St.-Hilaire, der in seinem ersten Rund­

schreiben die Fahne der Thiers'schen Politik wieder aufzog, beeilte sich die

Instructionen, welche Freycinet, in Uebereinstimmung mit dem Fürsten Bismarck und Baron Haymerle, dem französischen Geschwaderchef, Admiral Lafont ertheilt hatte, keinen Antheil an einer Action der internationalen

Flotte zu nehmen, lediglich zu bestätigen. ES ist ein merkwürdiger Zufall, daß derselbe Mann, der im April

dieses Jahres an den Herausgeber der „Deutschen Revue" schrieb:

„Die

englischen Wahlen werden wohl die Verhältnisse im Innern neu gestalten, aber sie werden nichts an der äußern Politik ändern; die Liberalen werden gezwungen sein, der Politik deS Lord Beaconsfield zu folgen, welche die

richtige war" als auswärtiger Minister berufen wurde, die „richtige" Po­

litik Herrn Gladstone gegenüber aufrecht zu erhalten.

In seinem ersten

Schreiben vom 11. März, hatte Barthelemy-St.-Hilaire die Annäherung

Ost-westliche Friedensaussichten.

433

Deutschlands an Oesterreich, „dessen Interessen, Rußland gegenüber, die­ selben sind wie diejenigen Frankreichs und Englands" freudig begrüßt. Die

Verleugnung dieser gemeinsamen Interessen seitens der Gladstone'schen Regierung scheint Herrn BarthLlemy-St.-Hilaire in der Anerkennung der

„großartigen und in ihren Folgen möglicher Weise sehr wohlthätigen"

Versöhnungspolitik des Fürsten Bismarck Frankreich gegenüber nur noch mehr bestärkt zu haben.

Mag immerhin Gambetta seine Freunde damit

beruhigen, das Ministerium Ferry sei nur eine ephemere Combination, die verschwinden werde, wenn der große Tag gekommen sei — die Dienste,

welche die jetzige Regierung Frankreichs der Sache deS europäischen Frie­ dens leistet, sind so bedeutend und für die wettere Entwickelung der Orient­

politik so entscheidend, daß selbst Gambetta schwerlich im Stande sein wird, daS Geschehene ungeschehen zu machen.

Die Weigerung Frankreichs,

Herrn Gladstone zu folgen, wenn er unter dem Borgeben, für die völlige

Durchführung deS Berliner Vertrags — für den die Liberalen sich erst begeistert haben, feit sie zur Herrschaft gelangt sind — die Macht Eng­ lands etnzusetzen, den durch diesen Vertrag geschaffenen Zustand zu be­

seitigen bestrebt ist, wird sich gerade als hinreichend erweisen, England zu isoliren.

Die Türkei — daS ist das Raisonnement der englischen Po­

litiker — bedroht den Frieden im Orient oder verhindert wenigstens die

Befestigung desselben, indem sie eine Reihe von Verpflichtungen, welche der Berliner Vertrag ihr auferlegt hat, unausgeführt läßt.

ES ist dem­

nach die Pflicht und daS Recht der übrigen an dem Vertrage betheiligten

Mächte, die Erfüllung jener Verabredungen, eventuell durch Anwendung von Gewalt zu erzwingen. Unglücklicher Weise enthält der Berliner Vertrag keinerlei Stipulation

dieser Art.

Im Gegentheil liefern die Protokolle deS CongresseS von

Berlin den unumstößlichen Beweis, daß eS keineswegs die Absicht der auf demselben vertretenen Staaten, am wenigsten Englands war, eine der­

artige Pflicht zu übernehmen oder ein solches Recht zu beanspruchen. Die

Frage, ob eine bezügliche Clausel in den Vertrag aufzunehmen sei, ist in den letzten Sitzungen deS CongresseS eingehend diScutirt worden.

In der Sitzung vom 8. Juli 1878 war es Fürst Gortschakoff, der im Interesse eines dauerhaften Friedens und von dem Wunsche beseelt, eine Garantie dafür zu beschaffen, daß Rußland die Opfer, welche es gebracht, nicht vergeblich gebracht und eine Wiederholung der peinlichen Krisis, der

der Congreß ein Ende gemacht, zu verhindern, die Frage an denselben richtete,

welches die Principien und Modalitäten seien, durch welche der Congreß die Ausführung (exäcution) seiner hohen Beschlüsse zu sichern beabsichtige.

Der Vorsitzende, Fürst Bismarck partrte zunächst diesen Hieb durch den

434

Ost-westliche FriedenSauSstchten.

Antrag, die russische Mittheilung auf die Tagesordnung der nächsten

Sitzung zu setzen.

In dieser erfolgte sofort die Erklärung des ersten türki­

schen Bevollmächtigten Caratheodorh Pascha, daß eS besonderer Stipu­ lationen zu dem Zwecke gar nicht bedürfe.

Ein Theil der Abreden müsse

sofort auSgeführt werden; die Ausführung anderer habe der Congreß be­

reits durch Einsetzung von Spectalcommissionen geregelt.

„Im übrigen

sichert die Unterzeichnung eines Friedensvertrags den in demselben ent­

haltenen Stipulationen die feierlichste und verbindlichste Form".

Weitere

Bestimmungen würden nur Verwickelungen und Schwierigkeiten hervorrufen, im Gegensatz zu den Absichten des russischen Antrags.

Aufgefordert,

seinen Antrag zu formuliren, erklärte Fürst Gortschakoff, er sei bereit zu beantragen, daß die Mächte, welche an dem Congreß thetlnehmen, gemein­ schaftlich (collectivement) die Durchführung der Beschlüsse desselben ga-

ranttren möchten. Gerade mit Rücksicht auf die gegenwärtige Sachlage sind die nun

folgenden Auslassungen des Fürsten Bismarck, nicht in der Eigenschaft deS Vorsitzenden des CongresseS, sondern als Vertreter Deutschlands, über diesen Antrag von besonderem Interesse.

Fürst Bismarck betrachtet eS als

selbstverständlich, daß die Mächte, wenn sie sich über seit einem Jahr­

hundert schwebende Fragen verständigen, das Recht haben, .die Ausfüh­

rung der Verabredungen, welche ein Ganzes bilden, zu überwachen und zu controliren;

eS sei aber keineswegs seine Ansicht, daß jeder

Staat für sich verpflichtet sei,

starke Hand zur Ausführung

dieser Arrangements zu leisten und daß eine solidarische und gemeinsame Garantie extstire.

Fürst BiSmarck glaube nicht, daß

eS möglich sei, eine Formel zu finden, welche unter allen Umständen Europa gegen eine Wiederholung der Vorgänge, welche dasselbe aufgeregt

haben, sicher stelle.

Wenn die Mächte sich solidarisch verpflichteten, im

Nothfall Gewalt zu brauchen, so liefen sie Gefahr, bedenkliche Mißhellig­ keiten unter einander zu provociren.

Fürst BiSmarck ist überzeugt, Fürst

Gortschakoff werde befriedigt sein durch eine dahingehende Bestimmung,

daß die Gesammtheit der Verpflichtungen, welche in dem Vertrage über­ nommen werden, ein Ganzes bilde, dessen Ausführung die Mächte durch

ihre Botschafter in Constantinopel überwachen lassen mit dem Vorbehalt, Rath zu schaffen, im Falle die Ausführung mangelhaft sei oder verzögert

werde.

Fürst Gortschakoff habe wohl die auf den Schutz der Christen be­

züglichen Beschlüffe im Auge; man könne aber nicht von der Voraussetzung

auSgehen, daß diese feierlich durch das vereinigte Europa gefaßten Be­

schlüsse nicht auSgeführt werden würden.

Wenn eine Zuwiderhandlung

vorliege, so könnten die Mächte sich verständigen, um an neue diplo-

Ost-westliche Friedensausstchten. matische Zusammenkünfte zu appelliren.

435

In der Voraussetzung, daß

nicht nur den Botschaftern in Constantinopel, sondern den Regierungen selbst das Recht zustehen solle, Zuwiderhandlungen zu signalisiren, erklärt

sich Fürst Gortschakoff mit einer der Erklärung deS Fürsten BtSmarck ent­ sprechenden Bestimmung einverstanden.

Graf Schuwaloff nimmt seiner­

seits Veranlassung, ausdrücklich auf den Pariser Vertrag von 1856 hin­ zuweisen.

Mehrere Artikel desselben, welche Vortheile für die christliche

Bevölkerung sttpulirten, seien nicht ausgeführt worden und das hätte zu

wiederholten Reibungen und zum Krieg und endlich zum Zusammentritt des CongresseS geführt.

Die Formel deS Fürsten Bismarck entspreche

dem Sinne der russischen Erklärung; eS bleibe nun noch übrig, die Mittel ausfindig zu machen, welche geeignet seien, die Controls auszuüben. Nach diesen Präliminarien bringt dann endlich in der Sitzung vom

10. Juli Fürst Gortschakoff einen formultrten Antrag ein, der also lautete:

„Nachdem Europa den Stipulationen des Vertrags von Berlin die feier­ lichste und verbindlichste Sanction ertheilt hat, betrachten die hohen con-

trahirenden Theile die Gesammtheit der Artikel der gegenwärtigen Acte als ein Ganzes von Stipulationen, deren Jn-Krast-Setzung sie zu con-

troliren und zu überwachen sich verpflichten, indem sie auf einer vollstän­ digen, ihren Intentionen entsprechenden Ausführung bestehen. — Sie be­

halten sich vor, sich im Nothfalle über die Mittel zu verständigen, welche geeignet sind, ein Ergebniß zu sichern, dessen Gültigkeit in Frage stellen zu lassen weder die allgemeinen Interessen Europa'S noch die Würde der Großmächte ihnen gestatten."

Auf eine Anfrage Lord SaliSbury'S, ob die Ausdrücke deS ersten Satzes die Nothwendigkeit bezeichnen, tat Falle der Nichtausführung des

Vertrages eine fremde Macht (une force 6trang6re) zu Hülfe zu ziehen, constatirt Fürst Bismarck, nach seiner Auffassung könne das nicht der

Fall sein.

Nach der Ansicht deS Präsidenten verpflichten die Mächte sich

lediglich zu einer thätigen Ueberwachung, welcher im Nothfalle eine diplo­

matische Action folgen würde.

Der zweite Theil deS Antrages behalte

allerdings den Mächten die Befugniß vor, sich weiterhin über die Mittel

und Wege zu verständigen, pflichtung aufzuerlegen.

aber ohne irgend einer derselben eine Ver­ Graf Andrassy schließt sich dem Gedanken deS

Fürsten Bismarck an; er erhebt auch keinen Widerspruch gegen den „Sinn" deS ersten Theils des russischen Antrages, wünscht aber eine schonendere Redaction, während Fürst Gortschakoff seine Fassung mit der „Würde

der Stipulationen Europa'S" motivtrt.

Lord Salisbury aber sagt ge­

radezu, er würde bedauern, wenn eine Erklärung dieser Art in den Ver­

trag ausgenommen würde und verlangt zunächst die Drucklegung deS

Ost-wchliche FriedenSairSstchten.

436 russischen Antrages.

Aber auch in der Sitzung vom 11. Juli, in der

die Schlußberathung stattfindet, erklärt Lord Salisbury,

er kenne keine

„feierlichere" und „verbindlichere" Sanction als die Unterschrift seiner Re­

gierung und ziehe es vor, keine Verpflichtung zu übernehmen, von der er

annehme, daß sie nutzlos sei, weil es offenbar ist, daß Großbritannien auf die Ausführung des Vertrages Werth legt,

oder daß sie eine Be­

deutung habe, deren Tragweite zu wenig begrenzt fei.

Diese Erklärung

bezieht sich auch auf die von dem Grafen Andrassy vorgeschlagene Faffung deS

ersten Alinea:

contrahirenden Theile betrachten die

„Die hohen

Gesammtheit der Artikel deS gegenwärtigen Vertrages als ein zusammen­

hängendes Ganzes von Stipulationen, deren Jn-Kraft-Setzung zu controliren und zu überwachen sie sich verpflichten."

Graf Schuwalow endlich

schlägt eine neue Redaction vor, die sich von der österreichischen nur durch

die Hinzufügung des Vordersatzes:

„Nachdem die hohen vertragenden

Theile den Stipulationen des Berliner Vertrags ihre feierliche und bin­ dende Verpflichtung ertheilt haben", unterscheidet.

erklärt:

Caratheodory Pascha

„Die Pforte betrachtet jedenfalls die Unterzeichnung (des Ver­

trags) als bindend und erkennt sich positiv und endgültig verpflichtet, Zusagen, welche sie in gleicher Eigenschaft wie alle übrigen Mächte ge­

macht hat, zur Ausführung zu bringen. Schriftstücks

legt

Aber die Fassung des russischen

allen Vertragsmächten die

gegenseitige Verpflichtung

auf, die Ausführung der Stipulationen des Vertrags zu controliren; die Pforte würde sich also verpflichtet finden, eine Controle bei sich zuzulassen und ihrerseits über andere in gleicher Weise verpflichtete Staaten auS-

zuüben.

S. Excellenz hebt die Schwierigkeiten dieser Aufgabe hervor

und fügt hinzu, daß die Pforte bereit ist, den Vertrag, insoweit er sie betrifft, auszuführen; aber sie lehnt es ab, eine Controle auSzuüben oder

zuzulassen, in Erwägung, daß eine solche Verpflichtung neu und zu drückend ist für eine Regierung, welche weder auf die -Last noch auf das Vorrecht

Anspruch macht."

Nachdem Fürst Bismarck noch constatirt hat, daß er

seinerseits die Befürchtung, als ob der Antrag den Ausdruck deS Miß­ trauens gegen eine der Vertragsmächte enthalte, nicht theile, und Fürst

Gortschakoff seinen Antrag zu Gunsten desjenigen deS Grafen Schuwaloff zurückgezogen hat, kommt eS zur Abstimmung über den letzteren.

Die

österreichischen Bevollmächtigten haben keinen Einwand zu erheben.

Die

Bevollmächtigten von Frankreich,

sich ihr Votum vor.

abgegebenen

Großbritannien und Italien behalten

Die türkischen Bevollmächtigten haben den vorhin

hinzuzufügen.

Die Bevollmächtigten

Deutschlands nehmen den russischen Antrag an.

Derselbe ist also abge­

lehnt.

Erklärungen

Erst bei

nichts

der Beschlußfassung

über den Antrag

des

Grafen

Ost-westliche Friedensaussichten.

437

Andraffy, gegen den auch Fürst Gortschakoff stimmt, motiviren Graf Corti und Herr Waddington ihre Zurückhaltung.

Graf Corti hält die Erklä­

rung, welche Caratheodory Pascha abgegeben hat, für genügend.

Herr

Waddington weist insbesondere darauf hin, daß der Congreß, während er von der Türket große Opfer verlangte, die Absicht darauf gerichtet

habe, die Souveränität des Sultans in dem beschränkten, aber compacteri

Gebiet, welches in Zukunft sein Reich bilde, von jedem Eingriff frei zu halten.

Die vorgeschlagene Faffung aber scheine eine Art von dauernder

Vormundschaft über die türkische Regierung zu begründen; die zahlreichen

Artikel des Vertrags würden eine Reihe von Vorwänden für eine be­ ständige Einmischung in alle Handlungen der türkischen Regierung bieten.

Das Interesse und der offenbare Vortheil der türkischen Regierung sei es, alle Beschlüsse des CongresseS vollständig und ohne Hintergedanken

auszuführen." Das Resultat der Berathung war lediglich die Aufnahme in das

Protokoll des russischen Vorschlages, der Antwort der Pforte und des

Beschlusses des CongresseS,

von den Erklärungen des ersten türkischen

Bevollmächtigten Act zu nehmen. Der Berliner Vertrag

welcher die

enthält demnach keine Bestimmung,

Mächte ein Recht,

auS

geschweige denn eine Pflicht herleiten

könnten, durch eine gemeinsame Action die Türkei zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen zu zwingen.

Ja, selbst die Annahme des russischen An­

trages im Sinn der Erklärungen des Fürsten Bismarck würde immer noch jeden Schritt ausgeschlossen haben, der auf Anwendung von Gewalt hinauS-

ginge.

Wenn aber auch diese Lücke durch gemeinschaftliche Beschlüffe ex

post auSgefüllt werden könnte:

eine von einem oder mehreren Staaten

unternommene Exemtion von Vertragsbestimmungen, welche der verpflich­

tete Theil bisher aus irgend einem Grunde nicht erfüllt hat, würde voll­

ständig auS dem Rahmen des Vertrags herausfallen. Das Eingreifen der Großmächte in der montenegrinischen Angele­ genheit

ist denn auch keineswegs auf Grund eines von den Congreß-

mächten vertragsmäßig beanspruchten Rechts erfolgt.

Die Pforte hat zu

keiner Zeit den auf dem Berliner Vertrag beruhenden Anspruch Monte­ negros auf eine Gebietserweiterung in Nordalbanien bestritten.

Sie hat

thatsächlich schon im Jahre 1879 Spuz und Podgorizza an Montenegro übergeben.

Als dann die Uebergabe von Gusinje und Plawa durch die

albanesische Liga verhindert wurde, hat eine unter Zustimmung der Groß­ mächte am 12. April c. abgeschlossene Convention, die sog. Convention

Corti, Montenegro an Stelle jener Gebiete das Zam-Gebiet, südlich von

Podgorizza, zugesprochen.

Den Albanesen aber gelang eS, auch die AuS-

438 führung

Ost-westliche FriedenSauSstchten. dieser Convention zu verhindern.

Um einem Zusammenstoß

zwischen Montenegrinern und Albanesen zuvorzukommen, ließen die Groß­ mächte noch einmal ihre Vermittelung eintreten und machten zur Zeit

der Berliner Conferenz über die griechische Frage der Pforte den Vor­ schlag, den Hafen und die Stadt von Dulcigno an Montenegro abzu­

treten.

Als die Beschlüsse der

Conferenz,

welche auch das von den

Albanesen beanspruchte Gebiet von Janina Griechenland zuweisen, die

Aufregung in Albanien steigerte, trug die Pforte Bedenken, mit Gewalt gegen ihre albanesischen Unterthanen, die sich unter einheimischen Häupt­

lingen einer gewissen Unabhängigkeit erfreuen, zu Gunsten Montenegro'-

vorzugehen.

Unter diesen Umständen forderten die Mächte in einer An­

fang August in Constantinopel übergebenen Collecttvnote die Pforte auf,

binnen drei Wochen entweder die Convention Corti auszuführen oder, falls sie die Abtretung von Dulcigno vorziehe, sich mit den Mächten zur

Durchführung eine- solchen Beschlusses zu vereinigen.

Das ist

die diplomatische Form, in der, der Pforte gegenüber in schonendster Weise, die vielbelächelte „Flottendemonstratton" in Scene gesetzt wurde.

schiffe aller Congreßmächte,

scheinen

an

also auch der Pforte,

Kriegs­

sollten durch ihr Er­

der albanesischen Küste den Widerstand der albanesischen

Liga gegen die Abtretung Dulcigno'S an Montenegro brechen.

Hätte die

Pforte den Muth oder den guten Willen gehabt, auf diesen Plan rück­

haltlos einzugehen, so wäre das Gelingen desselben mindestens wahrschein­ lich gewesen.

In Constantinopel aber fürchtete man, — und nicht ganz

ohne Grund — daß unter dem treibenden Einfluß Gladstone'S, der be­ dem

Austritt

ständig

mit

drohte,

auch die Regelung

Englands der

aus

dem

europäischen

Concert

griechischen Grenzfrage nach den Be­

schlüssen der Berliner Conferenz und die Durchführung der im Berliner Vertrag

vorgesehenen

Türkei durch

Reformen

in

Flottendemonstrationen

vor Allem, daß Gladstone,

der

asiatischen

erzwungen

und

werden

europäischen

würden,

und

dessen Ziele in der Orientpolitik ja kein

Geheimniß sind (f. die Polit. Correspondenz im September-Heft) die Durchführung aller Bestimmungen des Berliner Vertrags, welche der

Pforte Pflichten auferlegen, nur als Deckmantel für eine Umgestaltung der

staatlichen Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel verfolge, welche den „un­ aussprechlichen Türken" zu dem Rückzug über den Bosporus zwingen solle.

Daß Gladstone auf den Beistand Rußlands rechnen könnte, unterliegt keinem Zweifel.

Wenn eS der englischen Abenteurerpolitik gelang, Italien,

dessen Stammesgenossen in Triest und Trient angeblich der österreichischen Unterdrückung ausgesetzt sind, in die Action hineinzuziehen, und Frankreich entweder zu thätiger Mitwirkung oder zu einer im Orient neutralen, in

430

Ost-westliche Friedensaussichten.

Europa die Gelegenheit zu einem Revanchekrieg abwartenden Haltung zu

bestimmen, so konnte die Türkei in dem alsdann unvermeidlichen Welt­ krieg auf die nothgedrungene Bundesgenossenschaft Oesterreichs, dessen

Stellung auf der Balkanhalbinsel in ihren Grundlagen gefährdet wurde, und deS mit diesem verbündeten Deutschland rechnen.

Im Falle des

Sieges der mit dem Halbmond verbündeten Mächte schien auch eine der Türkei günstige Abänderung deS Berliner Vertrags keineswegs ausge­

schlossen. Die Politiker oder Intriganten der hohen Pforte hatten nur eins

übersehen,

daß sie nämlich die eingebildeten

Gefahren

zu

wirklichen

machten, die wirklichen vergrößerten, indem sie die sofortige Regelung der

montenegrinischen Frage verweigerten.

DaS Gebiet, welches die Pforte sich

in dem Präliminärvertrag von San Stefano Rußland gegenüber ver­ pflichtet hatte, an Montenegro abzutreten, war erheblich größer als der ganze montenegrinische Staat.

Was diesem auf dem Berliner Congreß

belassen wurde, hätte die Pforte so schnell als möglich abtreten müffen,

anstatt den kleinen, auf russischen Schutz pochenden Nachbar zwei Jahre lang mit mindestens anfechtbaren Vorwänden hinzuhalten.

Nicht glück­

licher war die Tactik der Pforte in der griechischen Frage. Das Minimum

des Gebietes, welches die Pforte durch Artikel 24 des Vertrages von Berlin, beziehungsweise durch das 13. Protokoll des CongresieS „eingeladen"

wird, an Griechenland abzutreten, ist deutlich genug bezeichnet; die Aner­

bietungen aber, welche seitens der Pforte in den langwierigen diplomati­ schen Verhandlungen der griechischen Regierung gemacht wurden, waren so ungenügend, daß die türkischen Vorschläge vielmehr eine Verhöhnung

der Berliner Stipulationen, als eine Ausführung derselben gewesen wären.

Die Türkei darf nicht vergessen, daß für sie die Befestigung deS Berliner

Vertrages geradezu eine Existenzfrage ist; und daß demnach das Wort Waddington'S in der Sitzung des CongresieS vom 11. Juli 1878 „das

Interesse und der offenbare Vortheil der türkischen Regierung ist die voll­ ständige und rückhaltlose Ausführung aller Beschlüsse deS CongresieS" der Leitstern ihrer Politik sein muß.

Jeder Versuch, aus den Rivalitäten

und Gegensätzen zwischen den einzelnen Mächten, welche mit ihr den Ver­ trag von Berlin abgeschlossen haben, Nutzen zu ziehen, muß zum Nach­

theile der Türkei auSschlagen.

Nicht auS Sympathie mit ihr haben die

Congreßmächte den Vertrag von San Stefano in einer Reihe von Be­

stimmungen aufgehoben, so daß die Existenzfähigkett deS türkischen Reiches

gewahrt worden ist.

Der Vertrag von Berlin enthält einen dem jetzigen

Verhältniß der Kräfte entsprechenden Compromiß zwischen den europäischen Großmächten.

Wenn die Pforte sich durch Haß oder Liebe verleiten läßt,

440

Ost-westliche Friedensaussichten.

diesen Compromiß in Frage zu stellen, so muß sie wissen, daß in dem

neu auSbrechenden Kampfe ihr Gebiet und ihre Existenz der Einsatz sind. DaS Interesse der Türkei ist absolut solidarisch mit der Aufrechterhaltung

deS europäischen Friedens.

Daß es gerade die Botschafter Deutschlands

und Frankreichs, der beiden Staaten, auf deren Feindschaft der Plan der

Vernichtung der Türkei begründet werden sollte, gewesen sind, welche den Sultan von der Nothwendigkeit einer raschen Erledigung

zunächst der

montenegrinischen Frage überzeugt haben, möchte man als ein gutes Omen

für die Politik der Zukunft auffassen.

Vielleicht sind die Friedensworte,

welche Fürst Bismarck, als er im September v. I. zum Abschluß des

deutsch-österreichischen Bündnisses in Wien war, bei einem Besuche auf der dortigen französischen Botschaft an Herrn Teisserenc de Bort richtete,

doch nicht so ganz auf steinigten Boden gefallen, als der wenig Monate

später erfolgte Sturz des Ministeriums Waddington glauben machen mußte. „Ich ergreife bereitwillig diese Gelegenheit, sagte der Reichskanzler nach dem

seiner Zeit im „Temps“ veröffentlichten Berichte, um Ew.

Excellenz die förmlichste und bestimmteste Versicherung zu geben, daß die intimen Beziehungen Oesterreichs und Deutschlands Frankreich keineswegs beunruhigen noch seine Empfindlichkeit erregen dürfen.

Sie können die

guten, zwischen Deutschland und Frankreich bestehenden Beziehungen weder

vermindern noch ändern.

Ich glaube im Gegentheil, daß in einer nahen

Zukunft die Innigkeit unserer Beziehungen größer werden wird und daß

wir die besten Freunde von der Welt sein werden."

Aus Siebenbürgen.

Welche Bedeutung gewisse politische Schlagworte durch die Praxis der Re­ gierung in Ungarn gewinnen, und welches Vertrauen in Folge dieser Aus­

legung und Anwendung selbst die wichtigsten Acte der staatlichen Gesetzgebung verdienen, dafür bietet ein schlagendes und nicht bloß für die Bevölkerung Ungarns lehrreiches Beispiel der Begriff der staatlichen „Aufsicht" und

„Oberaufsicht", wie ihn in jüngster Zeit zwei Verfügungen der Staatsregierung zur Geltung gebracht haben.

Der eine dieser beiden Fälle ^ist folgender. Auf Grund eines Gesetzes von 1868 bestehen auch in Ungarn Handels­

und Gewerbekammern.

Eine derselben hat ihren Sitz in Kronstadt und umfaßt

beinahe den ganzen Süden und Osten Siebenbürgens. „Beförderung der Handels- und Gewerbeintereffen".

Ihre Bestimmung ist

Ihre Kosten werden durch

Umlagen auf die einzelnen Handelsleute und Gewerbetreibenden deS Kammer­ bezirkes gedeckt, deren Eiuhebung durch die k. Steuerämter erfolgt.

Die Kam­

mern verfassen selbst ihren Jahresvoranschlag, welcher der Bestätigung des Handelsministers bedarf, dem dieselben überhaupt unterstehen, dessen Verord­

nungen sie unmittelbar empfangen und vollziehen.

Beschlüsse der Kammer

werden mit Stimmenmehrheit der anwesenden Stimmberechtigten gefaßt.

Diese

Beschlüsse bedürfen einer Genehmigung des Ministers nicht; derselbe kann aber,

wenn die Kammer ihrem Berufe nicht entspricht oder ihren gesetzlichen Wirkungs­

kreis überschreitet, dieselbe auflösen.

Die Kammern sind keine Verwaltungsbe­

hörden, sondern in allem Wesentlichen nur anregende, begutachtende Hülfsorgane der Regierung einerseits, der Handels- und Gewerbetreibenden andrerseits.

Zu ihrem Berufe gehört unter andrem auch nach dem Wortlaute deS bezüg­

lichen Gesetzes „die Fachbildung und überhaupt die Entwickelung des Handels und der Gewerbe unmittelbar zu fördern". Diese Aufgabe hat nun der k. ungarische Handelsminister in folgenden Zu­ sammenhang mit der Unterordnung der Kammer unter den Minister und der

ihm über dieselbe zustehenden Aufsicht gebracht. Zum Kronstädter Kammerbezirk gehört das nach der Volkszählung von 1870 nur 4364 Seelen zählende magyarische Städtchen Sepst Szent György,

welches jedoch gegenwärtig die Ehre genießt, den Minister-Präsidenten Tisza zum Reichstagsabgeordneten gewählt zu haben, nachdem er in seinem früheren

Aus Siebenbürgen.

442

Wahlorte Debreczin durchgefallen war.

Die Versuchung lag nahe, die Prämie

für dieses Verdienst sich unter Anderm auch dadurch auszahlen zu lasten, daß die Kosten der städtischen Gewerbeschulen auf die Kronstädter Kammerkaffe ge­ legt würden.

Als die Kammer, welche keine andre Gewerbeschule im ganzen

Kamuierbezirke materiell unterstützt, und am wenigsten jene eines Ortes unter­ stützen konnte, aus dem zu den jährlichen Kammerbedürfniffen bloß 115 Gulden beigetragen werden, diese Zumuthung ablehnte und auch dem Minister gegen­

über, der sie unter Hinweisung auf sein gesetzliches Verfügungsrecht forderte, sich Gegenvorstellungen erlaubte und schließlich sich weigerte, zu der begehrten

Mehrbelastung des ganzen übrigen Bezirkes zu Gunsten eines seiner unproductivsten Glieder mitzuwirken, fand der Minister nicht nur, daß die Kron­ städter Handels- und Gewerbekammer ihrem Berufe nicht entspreche, und löste

dieselbe auf, sondern — und dazu mindestens gewährte das Gesetz ihm kein Recht — er verfügte auch die Auszahlung der fraglichen Unterstützung aus der Kammerkaffe an die Gewerbeschule von Szent György und dadurch mittelbar

eine ständige Belastung der sämmtlichen zum Kammerbezirke gehörigen Handelund Gewerbetreibenden und

exequirte durch dieses „Aufsichtsverfahren"

die

Drohung, mit welcher der Bürgermeister vou» S. Szent György die betreffende

Unterstützung von der Kammer früher zu erzwingen versucht hatte. Dem Handelsminister zur Seite trat fast gleichzeitig der Unterrichtsminister in einem andern noch merkwürdigeren Falle.

Als 1868 der ungarische Reichs­

tag die definitive Vereinigung Siebenbürgens mit Ungarn im Wege der Gesetz­ gebung ordnete, behielt er Seiner Majestät bezüglich der „sächsischen Nations-

universiät" d. i. der politischen Oberbehörde der sächsischen Kreise, deren gesetzlicher

Wirkungskreis im Uebrigen — die Ausübung der Rechtspflege ausgenommen — ausdrücklich gewährleiste: wurde, das „im Wege des verantwortlichen ungarischen

Ministeriums auszuübende oberste Beaufsichtigungsrecht" vor.

Diese

Universität besaß und besitzt als juristische Person auch ein nicht unbedeutendes gemeinschaftliches Vermögen, dessen Erträgnisse seit 1850 nahezu ausschließlich

zur Unterstützung von Schulen auf dem Sachsenboden (fundus regius, terra Saxonum) verwendet wurden.

Der magyarische Chauvinismus, seit 1868 in

mächtigem Fortschreiten begriffen, empfand die Zusicherungen, welche die Gesetz­ gebung damals der sächsischen Nationsuniversität gemacht hatte, bald als lästig,

hob 1876 durch ein neues Gesetz die Grundlage dieser politischen Körperschaft, die uralte Kreiseintheilung des fundus regius, auf und beließ die „sächsische

Universität" bloß als „eulturelle Behörde", „betreffs der Verfügung über das Universitätsvermögen" ausdrücklich aussprechend:

„das betreffs des Ver­

mögens der sächsischen Universität bestehende Eigenthumsrecht bleibt durch dieses Gesetz unberührt.

Die Fragen, welche über dieses EigenthumSrecht etwa auf­

tauchen könnten, werden durch richterliches Urtheil entschieden."

Eine weitere

Bestimmung desselben Gesetzes hält die „freie Verfügung" über die Einkünfte

dieses Vermögens der Universität zu culturellen Zwecken aufrecht.

Die Univer­

sität beschließt nach ihrer durch den Minister genehmigten Geschäftsordnung

Aus Siebenbürgen.

443

durch Stimmenmehrheit; ihre Beschlüsse bedürfen der Genehmigung des Mini­

sters.

Der Regierung ist im Allgemeinen das „Aufsichtsrecht" gewahrt. An diesem Punkte setzte der k. ungarische Unterrichtsminister in dem nach­

stehend gezeichneten Falle ein, dessen Analogie mit jenem der Kronstädter Han­

dels- und Gewerbekammer nicht zu verkennen ist; nur daß eS sich hier um weit mehr, um einen widerrechtlichen direeten Eingriff in das Vermögensrecht einer

juristischen Person handelt.

In jedem Jahre liegen der sächsischen Universität bei Gelegenheit ihrer Ge­ neralversammlung zahlreiche Unterstützungsgesuche von schulerhallenden Körper­

schaften auf dem Königsboden zur Verhandlung vor, und sie berücksichtigt die­ selben nach Maßgabe ihres BermögenSstandes seit der gesetzlichen Gleichstellung

aller Nationalitäten und Religionen (1868) auch thatsächlich „ohne Unterschied

der Religion und Sprache".

1878 hatte sie demgemäß nicht unbedeutende jähr­

liche Subventionen bewilligt: für die evangelische Oberrealschule in Hermann­

stadt (3000 Gulden), die griechisch orientalische Schule in Mühlbach (1000 Gul­ den), die griechisch orientalische Schule in Broos (1000 Gulden), die Ackerbau­

schule in Kronstadt und jene in Bistritz (je 250 Gulden). Der Generalversammlung vom Jahre 1880 lagen wieder viele ähnliche Unterstützungsgesuche vor.

Sie er­

ledigte dieselben ohne Ausnahme dahin, daß, da der Stand deS Universitätsvermögens die Systemistrung neuer, alljährlich wiederkehrender Ausgaben nicht ge­ statte, dem bez. Gesuche dermalen nicht willfahrt werden könne.

Unter den so beschiedenen und abgewiesenen Gesuchen befand sich auch

eines der römisch katholischen Kirchengemeinde in Kronstadt, welche für das dortige römisch katholische Gymnasium eine jährliche Dotation aus den Mitteln der

sächsischen Universität beanspruchte.

Diese Anstalt gehört zu jenen, welche aus

dem in der Verwaltung deS Unterrichtsministeriums stehenden großen römisch

katholischen Religionsfond erhalten werden und bezüglich ihrer Leitung unmittel­

bar dem Unterrichtsministerium unterstehen.

Dieser Umstand hatte den gegen­

wärtigen Unterrichtsminister bewogen, daS durch den römisch katholischen Bischof

Siebenbürgens eingebrachte Unterstützungsgesuch dem Vorsitzer der Universität ganz besonders zu empfehlen.

Diese selbst aber fand keinen Anlaß dasselbe an­

ders als die übrigen zu bescheiden. Bei allen erfolgte der Beschluß ohne Sonder­ meinung; bei diesem einzigen fand eS ein walachischer Abgeordneter für nützlich, eine solche einzubringen, um dem Minister die Handhabe zu bieten, seinen Willen

durchzusetzen. Wer mit den thatsächlichen Verhältnissen unbekannt ist, wird eS kaum be­ greifen, wie ein Abgeordneter romänischer Nationalität und griechisch orientalischer

Religion die außerordentliche Dotation einer Schule so weitgehend, vertteten könne, deren wesentliche Aufgabe vom herrschenden Regierungssystem thatsächlich

als Magyarisirung gefaßt wird.

Aber viele Romänen (Walachen) Siebenbür­

gens spielen seit langer Zeit ein doppeltes Spiel: während ein Theil von ihnen dem Zuge des Blutes folgend mit dem benachbarten Rumänien sympathisirt, auf dessen Schulwandkarten Siebenbürgen wohl schon als Theil des souveränen

444

Aus Siebenbürgen.

Fürstentums (? Königthums) erscheint, heftet ein andrer sich an die Sohlen der in Ungarn herrschenden Gewalt, der sie zur Vernichtung des Deutschtums gerne

angenommene und gut belohnte Schergendienste leistet.

Sie treiben dem Jäger

das Wild in den Spieß, und als ein bequemes Mittel für diese Jagd ist die

„Sondermeinung" von der gegenwärtigen Regierung erfunden und den Trei­ bern in die Hand gegeben.

Die Mehrheit mag beschließen, was sie will; der

Minister bestätigt den in einer „Sondermeinung" enthaltenen Antrag und be­

fiehlt dessen Durchführung dem ihm allein thatsächlich verantwortlichen Vorsitzer der Universität.

Auf diesem Wege ist früher bereits die Geschäftsordnung der

Generalversammlung der sächsischen Universität entstanden und für den Vorsitzer

derselben, der nach dem Wortlaute des Gesetzes bloß den Titel eines Grafen

der Sachsen führt, thatsächlich aber Obergespan des Hermanstädter Comitates und demnach Regierungsbeamter ist und als solcher sein Einkommen aus dem Staatsschätze bezieht und selbst der sächsischen Universität gegenüber nicht deren

Protokollssprache (die deutsche) sondern die „Staatssprache" gebraucht, nicht nur eine Dienstwohnung in einem Hause der sächsischen Universität sondern selbst eine Functionszulage von 2000 Gulden jährlich aus der Universitätskasse vom Mi­

nister angewiesen worden.

Auf Grund der, wie oben erwähnt worden, von einem einzigen Abgeordneten eingebrachten Sondermeinung hat jetzt der Unterrichtsminister nach dem Wortlaut

der bezüglichen Verordnung vom 23. März 1880 in Betreff der für das römischkatholische Gymnasium in Kronstadt angesuchten Dotation „den von Dr. Pacurariu

in seiner Sondermeinung gestellten Antrag anzunehmen und zu bestätigen be­

funden", unter Anerkennung aller in dieser Sondermeinung enthaltenen Motive.

Der Minister hat durch diesen Vorgang zweierlei gethan: er hat sich zum Theilnehmer der in der Sondermeinung enthaltenen unwahrhaftigen Rabulistik gemacht, worauf jetzt nicht weiter einzugehen ist, und er hat einen Eingriff sich erlaubt in das Vermögensrecht der sächsischen Universität, indem er selbst gegen

das Specialgesetz etwas bestätigte, was niemals und von Niemand beschlossen worden, dem nach dem Gesetze das Verfügungsrecht über dieses Eigenthum zu­

steht.

Der Minister kann und darf nach diesem Gesetze einem Beschlusse der

Generalversammlung der sächsischen Universität seine Genehmigung versagen und dadurch dessen Ausführung hindern, aber er darf in Betreff des Eigen­ thumes derselben nicht willkürlich seinen Willen,

hier das gerade Gegentheil

dessen, was die Eigenthümer beschlossen, zur Ausführung

bringen.

Sonst

würde das Gesetz Lüge und das so geschaffene Eigenthum Diebstahl werden.

DaS kann der ungarische Cultusminister nicht gewollt haben und nicht wollen;

aber sein Vorgang steht unter dem verhängnißvollen Irrthum, der das Recht

der Aufsicht, welche das Gesetz begründet, mit dem unbeschränkten Ver­ fügungsrechte selbst dort zu verwechseln in Gefahr steht, wo die Heiligkeit des

Eigenthums in Frage kommt. Die nächste Generalversammlung der sächsischen Universität darf nach ihrer

Pflicht dem Gesetze und dem gemeinschaftlichen Eigenthume gegenüber nicht

Aus Siebenbürgen.

445

anders, als den Minister auf diese Consequenzen seines Vorganges aufmerksam

machen und um Rücknahme seiner Verfügung ersuchen; und sie muß, wenn

diese Rücknahme nicht erfolgt, den Weg betreten, den ihr dasselbe Gesetz an­ weist, das richterliche Urtheil gegen diesen Eingriff in's Privatrecht anrufen,

will sie nicht das. ganze Vermögen der sächsischen Universität für alle Folgezeit ministeriellem Belieben preisgeben. Für alle aber, nicht bloß für die hier zunächst Betheiligten, erwächst aus

solchen Erfahrungen die Pflicht, genau zu prüfen, wo wieder einmal staatliches

Aufsichtsrecht in Beziehung auf nichtstaatliche Körperschaften und deren Ver­ mögen im Wege der Gesetzgebung festgestellt werden soll, damit keine Lücke und

keine Hinterthüre selbst für menschlichen Irrthum offen bleibe. Dieser Fall wird eintreten, wenn demnächst das staatliche Oberaufsichts­

recht in Betreff der nichtstaatlichen Gymnasien und

Realschulen nach dem

Wunsche der gegenwärtigen Regierung geregelt werden soll.

Sowohl die zehn

Punkte, welche der Cultusminister im April 1879 den von ihm zu einer En­ quete eingeladenen geistlichen und weltlichen Vorständen der protestantischen Superintendenzen zur Aeußerung vorlegte und welche von diesen fast einstimmig

abgelehnt wurden, als auch die bald darauf an den Reichstag erfolgte Vorlage

eines Gesetzentwurfes

„über den Gymnasial- und Realschulunterricht", sowie

endlich der diese Vorlage der Regierung vielfach verändernde, in den meisten Punkten verschlechternde Bericht des Unterrichtsausschusses, maSkiren für den,

der sehen will, kaum nothdürftig das letzte Ziel: die ganze und wesentliche Lei­

tung des confessionellen UnterrichtswesenS und des Vermögens dieser Schulen in die Hände der Regierung zu nehmen und den Kirchen nur das zweifelhafte Vergnügen zu belassen, die Kosten für diese Staatsschulen über die Staats­ lasten hinaus von ihren Gliedern einzutreiben.

Das Urtheil, welches unlängst

ein Reichstagsabgeordneter in öffentlicher Wählerversammlung über alle diese

Entwürfe ausgesprochen: „Europäisch in seinen Grundsätzen, astatisch in seinen

Consequenzen,

perfid in seinen letzten Zielen, tragen sie an der Stirne die

Didaktik, im Herzen die Magyarisirung und bedeuten das völlige Brechen mit

zum Theil gar wohl berechtigten und heilsamen Verhältnissen und Einrichtungen Ungarns, den allerradikalsten Doctrinarismus"; erscheint nur dem Fremdling

übertrieben. Wenn sie selbst für den in Ungarn allmächtigen römisch-katholischen Episcopat durch die Aenderungen des Unterrichtsausschusses so unannehmbar wurden,

daß in der letzten Stunde noch das Abgeordnetenhaus ihre Absetzung von der Tagesordnung, auf die sie 24 Stunden früher dnrch Beschluß desselben Hauses

gesetzt worden, annahm; — so sollte das für die Protestanten wahrlich keine

Beruhigung, sondern eine erhöhte Verpflichtung sein, durch die lockenden Aus­ sichten, welche sich auch hier dem magyarischen Chauvinismus bieten, nicht sich

verblenden zu lassen über die Gefahren, welche durch Centralisirung des Unter­ richtswesens in einem Staate drohen, dessen Bevölkerung zu % katholisch ist, dessen Episcopat einen fast unbeschränkten Einfluß besitzt, dessen Cultusminister Preußische Jahrbücher. Äd. XLVI. Heft 4.

32

Aus Siebenbürgen.

446

heute zwar ein Mann europäischer Bildung, daneben aber doch Affiliirter des

Franziskanerordens ist und schon morgen ein ganzes Mitglied jenes EpiscopateS

sein kann, der nicht nur im XVII. Jahrhundert seine Pazmany'S hervorge­ bracht, sondern auch soeben nach nicht widersprochener Angabe eine- Pester Blattes den Beschluß gefaßt hat, im stricte« Gegensatz gegen daS Staatsge­

setz bei gemischten Ehen jede active Theilnahme der Pfarrgeistlichkeit zu ver­ bieten. Rom, so scheint eS, macht jetzt auch hier mobil, und der ungarische Episcopat, den magyarische» Chauvinismus klug benützend, schickt fich an, jene

aggressiven Grundsätze zur Ausführung zu bringen, denen die letzten, leider nur von wenigen gekannten Synodalbeschlüffe von Gran und Kalocsa (1858 und

1863) den unzweideutigsten Ausdruck gaben.

ES wird abzuwarten sei», ob die

Protestanten Ungarns der Verlockung folgen oder, dem Beispiele ihrer Väter

getreu, ihre gesetzlich wohlbegründete Autonomie in diesem Lande und unter

seinen Verhältnissen auch fernerhin als das „noli me tangere“ festhalten wollen. DaS aber werden sie zu bedenken haben, daß wenn sie den AuSweg wählen

wollten, die deutsche evangelische Kirche im Lande und ihre Cultur, eben weil sie deutsch ist und bleiben will, dem geschilderten „Oberaufsichtsrechte" deS Staates auszuliefern und die Gefahren dieser Aufsicht nur von sich allem

abzulenken gedächten, dies weder edel noch klug gehandelt wäre, und jedenfalls

nicht geschehen würde, ohne daß die so Preisgegebenen ihren Nothschrei in alle

Welt hinaus zu erheben sich gezwungen fühlen würden.

Notizen. Die Herder-AuSgabe.

Die von Dr. Bernhard Suphan geleitete kritische Ausgabe der sämmt­ lichen Werke Herders (im Verlag von Weidmann in Berlin), die von allen Freunden der deutschen Literatur mit Freuden begrüßt wurde, schien eine Zeit­

lang zu stocken, hauptsächlich wegen der Ueberbürdung deS Herausgebers mit Amtsgeschäften; da nun darin einige Erleichterung eingetreten ist, schreitet ste rüstig vorwärts, ja mit einer Lebhaftigkeit, ans die man zu Anfang deS Unter­

nehmens kaum rechnen durste. Erschienen ist zunächst eine Serie, welche Herders Jugendschrifte» bis in'S

Jahr 1770 umfaßt, Bd. 1—4; eine zweite Bd. 10—12, welche die Briefe über

das Studium der Theologie und den Geist der Ebräifchen Theologie, 1780 bis 1783 enthält.

So eben erscheinen Bd. 19 und 22; vier weitere noch im Lauf

des Jahrs.

Die Kenner sind einstimmig in der Bewunderung dieses Werks gewesen, das bis jetzt, sowohl was die kritische Bearbeitung als die äußere würdige Aus­

stattung betrifft, fast einzig in unserer Literatur besteht.

Es ist billig, auch das

Verdienst der Männer hervorzuheben, die dabei mitgewirtt haben. In erster Linie steht natürlich der Herausgeber selbst.

Mit einer uneigen­

nützigen aufopfernden Hingebung, zuerst fast ganz ohne Hülfe, hat er daS un­

geheure Material — sämmtliche Handschriften sind ihm vom Preußische« CultuSministerium zur Verfügung gestellt — durchgearbeitet, er hat mehrere Jahre seines Lebens darauf verwandt.

Mit großem Scharfsinn auSgestattet, aber

ebenso gewiflenhaft in der Selbstkritik, ist er in diesem bestimmten Feld, daS aber, bei Herders Eigenart, sämmtliche Gebiete des geistigen Lebens gleich nahe berührt, unzweifelhaft der erste Kenner geworden.

Er hat sehr tüchtige Mitarbeiter gefunden, die sich ganz seine Methode angeeignet haben — Director Redlich, Professor Jmelmann, Dr. Naumann u. A.

Er hat in alle» zweifelhaften Fällen unverdrossen die durch ganz Deutschland verstreuten Gelehrten zu Rathe gezogen, und bereitwillig Auskunft erhalten.

DaS größte Verdienst hat darum Prof. Haym, dessen Herder-Biographie, was

man auch etwa gegen die Darstellung einwenden möchte, als Forschung ein Meisterstück ist.

Nicht hoch genug ist dem Herausgeber anzurechnen, daß er Maaß zu halten

weiß; er überschüttet den Leser nicht mit unnöthige» Notizen; was er giebt, ist für daS Verständniß nothwendig.

Und er hat sehr schöne Sachen gefunden.

Notizen.

448

Das Preußische Cultusministerium hat das Unternehmen richtig gewürdigt

und ihm einige Unterstützung geliehen; noch neuerdings hat es den öffentlichen

Lehranstalten die Anschaffung des Werks empfohlen. Aber ebenso großen Dank verdient der Verleger, Herr Reimer (Weid­ mann), der mit einer seltenen Liberalität und einem ebenso seltnen Blick für das Große und Würdige die äußern Geschäfte geleitet hat.

Es war doch

immer ein großes Wagniß, und ohne seine Bereitwilligkeit wäre vielleicht das Ganze gescheitert.

An dem Publicum ist es nun aber, dafür zu sorgen, daß das Vertrauen

in die Vernunft der Nation nicht getäuscht werde; und an der Presse, das

Publicum wiederholt daran zu erinnern.

Julian Schmidt.

Verantwortlicher Redacteur: H. v. T r e i t s ch k e. Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.

Landgesetze und Landwirthschaft in England. Bon

Ludwig Frecheren von Ompteda.

(Schluß.)

in. Die Wirkungen de- bestehenden Recht-zustandes. Die strenge Gebundenheit des Grundbesitzes in England, wie wir

sie kennen lernten, hat jetzt seit drei Jahrhunderten bestanden.

Wir

forschen nach den Wirkungen dieses Systems auf die heutigen Zustände

und fragen daher:

1.

Wie hat sich die Verthetlung des Landes ausgestaltet?

2.

Welche Wirkungen haben sich für die wtrthschaftliche Lage der

Grundbesitzer und ihrer Familien ergeben? 3.

Wie haben sich die Pachtverhältnisse und die Leistungen der land-

wirthschaftlichen Produktion entwickelt? 4.

Wie ist die Lage der ländlichen Arbeiter?

5.

Welche allgemeinen politischen und sozialen Erscheinungen sind

zu Tage getreten?

6.

Wie verläuft der Verkehr mit Grundstücken unter den jetzigen

Rechtsformen?

1. Die Verthetlung des Landes.

Nachdem Wilhelm der Eroberer sein neues Königreich England unter

sein Gefolge vertheilt hatte, ließ er den gesummten.Grundbesitz in dem berühmten „DomeSday Book" verzeichnen, im Jahre 1086.

Nach diesem großen ReichSgrundbuche deö damaligen England, zu

welchem Wales und die vier nördlichen Grafschaften noch nicht gehörten,

betrug: Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 5.

Lanbgesetze und Landwirthschaft in England.

450

die Zahl der großen und der rittermäßigen Vasallen . „ „ „ zu Kriegsdienst verpflichteten Freisaffen . „ rentpflichtigen Bauern............................. „ unfreien Besitzer......................................... II ff also im Ganzen

.

.

. . .

9,271 13,700 30,831 108,407

.

162,209

Rechnet man hiezu noch ein Fünftel für Wales und die nördlichen vier Grafschaften, so haben wir etwa 200,000 ländliche Grundbesitzer. Seit jener Zeit bis vor etwa fünf Jahren war diese Aufzeichnung niemals wiederholt worden.

Es fehlte demnach jede offizielle und all­

gemeine Quelle über die Bewegung des ländlichen Grundbesitzes in den verfloffenen acht Jahrhunderten.

Das sogenannte „Neue DomeSday Book" aus den Jahren 1874—75

gab daher Aufschlüsse über ein Gebiet deS öffentlichen Lebens, das bis dahin, wenn nicht völlig im Dunkel so doch im täuschenden Zwielichte der Vermuthung lag.

ES waren wirkliche Entdeckungen in einem unbekannten

Lande und sie fielen in so hohem Grade unerwartet aus, daß zunächst die volkSwirthschaftliche Literatur, dann das

allgemeine öffentliche Interesse

durch diese Neuigkeiten lebhaft ergriffen und beschäftigt wurden.

Die Be­

handlung dieser Enthüllungen ward um so eingehender als man bald er­ kannte, daß das neue DomeSday Book mangelhaft war, daß es namentlich

in Beziehung auf Genauigkeit und auf Vollständigkeit weit hinter der früheren Ausgabe von 1086 zurückstand.

Nun begaben sich die Statistiker an'S Kombiniren und Gruppiren. —

Die folgenden Mittheilungen sind also nicht direkt auS dem Neuen DomeSday Book geschöpft; jedoch dürfen wir nachstehende Daten als zu­ verlässig betrachten.

Im Vereinigten Königreiche

giebt

eS Landeigenthümer,

d. h. Eigenthümer von selbständigen Hauptnummern deS Neuen DomeSday Book etwa

davon in England und Wales etwa

„ Schottland etwa.............................................. „ Irland etwa

195,000 166,000

8,000

21,000.

Daö gefammte ländliche Areal umfaßt im Vereinigten Königreiche:

72 Mill. Acres (nicht eingerechnet die Waldungen mit 4 Mill. Acres). Von jenen 195,000 Landeigenthümern Eigenthümer. Acres. durchschnittlich Acres, besitzen. • . . 955 L Klaffe zusammen 29,750,000 — 40°/o; auf ben Kopf 30,000 „ etwa 4,000 II. „ „ 20,000,000= 30% „ „ „ 5,000 „ „ 10,000 III 10,000,000= 15% „ „„ 1,000 (500—2000 Acres) „ „ 50,000 IV 9,000,000= 12,5% (50-500 Acres) „ „ 130,000 V. „ „ 1,750,000= 2,5% ( 1- 50 „) 194,955 70,500,000 = 100%.

451

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

Die „Nobility", der hohe Adel deS Vereinigten Königreiches, der wesentlich mit den Mitgliedern deS Oberhauses zusammenfällt, besteht auS 525 Köpfen.

Ihr Besitz umfaßt 20 Prozent des

gesammten Landes.,

Nachstehende Tabelle giebt die nähere Vertheilung: Klaffe der Peer«.

~ M äa*L

Herzoge. Marquis . Earls . . Discounts. BaronS - .

Zahl der GulScomplexe.

Einschätzung*) zur Einkom­ mensteuer. auf den Kopf. L 142,571 2,357,655 47,491 1,383,671 19,908 5,007,119 15,324 644,771 14,152 3,135,852

A er e S

im Ganzen

28 33 194 52 218

158 121 634 120 560

3,991,811 1,567,227 5,862,118 796,849 3,085,160

525

1593

15,303,165

Einkommen auf den Kopf. £ 84,202 41,929 25,809 12,399 14,384

12,529,068

Hierin sind die Waldungen, die ungetheilten Gemeinheiten und die großen Bauquartiere in den Städten nicht einbegriffen. Zählt man diese Flächen hinzu, so gelangt man zu dem Ergebnisse:

daß daS Grundeigenthum der Nobility etwa ein Viertel der Fläche und ein Achtel der gesammten Rente im Königreiche auSmacht.

Wirst man den niederen angesessenen Adel, die „Landet» Gentry" mit der Nobility zusammen, so stellt eS sich heraus, daß im Bereinigten Kö­

nigreiche sich vorfinden: 7000 Besitzer von etwa 10,900 Landgütern, deren jedes über 1000 Acres enthält, mit einem Gesammtbesitze von 52 Mill.

Acres.

Also 7000 Menschen besitzen etwa vier Fünftel des gesammten

ländlichen GrundetgenthumeS. Mr. Arthur Arnold**), dem ich obige Ziffern

entnehme, bemerkt:

prüfen.

„die Richtigkeit meiner Angaben ist nicht schwer zu

Denn diese Eigenthümer von vier Fünfteln des Königreiches sind

ein so wunderbar winziges Häuflein, daß sie sämmtlich in der „Free Trabe Hall" zu Manchester gleichzeitig Platz finden würden, um dort die

Genauigkeit meiner Zahlen zu erörtern". ES bleiben also, wenn man von der gesammten

Bevölkerung deS Vereinigten Königreichs ....

diese „obersten"............................................................ abzieht, noch 20 Mill. Acres für die übrigen

.

.

31,513,000 Menschen

7,000



31,506,000 Menschen

übrig. Dieser Rest jedoch vertheilt sich wiederum auf etwa nur 304,000 Nummern im DomeSday Book, wenn man dabei die kleinsten Flächen unter 1 Acre außer Acht läßt, da diese für die Landwirthschaft nicht mehr

in Frage kommen. *) CS wird allgemein angenommen, daß daS eingeschätzte Steuerkapital 25 bis 30% unter dem wirklichen Einkommen stand. **) Free Land, by Arthur Arnold, 1880.

Landgesetze und Landwirthschaft tu England.

452

Aber auch diese „Dreihundertviertausend" fallen wiederum stark zu­ sammen, da auf je drei Nummern Grundeigenthum höchstens ein Besitzer zu rechnen ist. So ergiebt sich denn endlich das erstaunliche Resultat: daß die gesammte ländliche Grundfläche des Vereinigten Königreiches sich jetzt im Eigenthume von etwas über

einhunderttausend Menschen befindet, gegen etwa zweihunderttausend im Jahre 1086*). AuS dem „Neuen DomeSday Book" ergeben sich noch folgende be­ zeichnende Ziffern und Thatsachen:

In Schottland gehören 90 Prozent des Bodens . . . 1700 Menschen ,,

H

ff

35

,,

25



53



5 Peers. Der Herzog von Devonshire (sein ältester Sohn ist der Marquis of Hartington) besitzt in Derbyshire: 96,300 AcreS; — außerdem große n

ft

ft

Güter in anderen Theilen von England und Irland.

I. *) Frankreich enthielt ländliche Grund­ fläche im Jahre 1870 ............................... Acres 117,000,000 Ackerland u. Wiesen „ 20,000,000 Wald „ 18,200,000 Unland

50,000 Eigenthümer besaßen je 500,000 „ 5,000,000 „ „ 5,550,000 Fernere 5,000,000 „ „ „ unter

Landwirtschaftliche Betriebe: 154,000 über 100 Acres. 1,256,000 unter 100 „ 1,815,000 „ 7,5 „

3,225,000

750 Acres ----- 37,000,000 75 „ = 37,000,000 7,5 „ ---- 37,000,000 111,000,000. ...

7,5 „

In der Landwirthschaft thätig oder durch dieselbe er­ nährt, einschließlich der Familien: Eigenthümer............................... 10,500,000 Pächter........................................ 6,000,000 Spezialisten (Weinbauer) u. s. w. 2,500,000 Im Ganzen . . . 19,000,000 Seelen.

II. 1. Preußen (ohne Westphalen und Rheinprovinz). Ländliche Grundfläche . . . 100 Millionen Morgen (1 Morgen — 0,66 Acre) davon sind Ackerland und Wiese 75 „ „ „ „ Forst 25 Eigenthümer 16,000 über 600 Morgen „ 350,000 „ 50 biö 600 Morgen „ 925,000 unter 50 Morgen. Im Pächtergewerbe thätig: 30,000 Menschen (in England und Irland 600,000).

2. Westphalen und Rheinprovinz. Ländliche Grundfläche..................16 Millionen Morgen Eigenthümer................................... 1,157,000; durchschnittlich: 10 Morgen. 3. Daö gesammte Königreich. Morgen...................................... 116 Millionen Eigenthümer 2,448,000.

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

453

Der Herzog von Richmond und Gordon (Mitglied deS jetzt abge­ tretenen Ministeriums) besitzt 40,Q00 Acres in Sussex und 300,000 Acre-

in Schottland.

Die große Heerstraße durchschneidet den Grundbesitz eines anderen

Herzogs ununterbrochen 23 englische Meilen lang, (etwa 36 Kilometer). Ein Marquis kann auf seinem eigenen Grund und Boden 100 eng­ lische Meilen grade auSreiten. Halb England gehört

Halb Irland gehört

150 Menschen

....

...

75



....

35



Halb Schottland gehört

Die todte Hand besitzt in England und Wales: 1,300,000 Acres, davon gehören 500,000 Acres milden Stiftungen.

Die

Universitäten

Oxford

und Cambridge

allein

besitzen

gegen

250,000 Acres. —

Obgleich der Grundbesitz zwischen den Jahren 1086 und 1875 niemals

verzeichnet ist, so sind doch eine Reihe von Nachrichten gesammelt die dar­ auf Hinweisen: daß seit etwa zwei Jahrhunderten die Zahl der großen Landbesitzer im Wachsen, diejenige der kleinen im Abnehmen ist.

Man schätzt mit Sicherheit daß im Jahre 1650 die Klasse der „Deomen", der bäuerlichen Freisassen, immer noch etwa 160,000 Anwesen zählte. Im Jahr 1640 erschienen 6000 berittene bäuerliche Grundbesitzer,

allein aus der Grafschaft Buckinghamshire, in Westminster um ihre Be­ schwerden gegen gewisse Willkürmaßregeln König Karls I. dem Parlamente

vorzutragen.

Der bekannte Geschichtschreiber Lord Clarendon datirt von

dieser Massendemonstration den Anfang der Revolution.

Cromwell zog

aus dieser Aeomanry die besten Kräfte für sein Parlamentsheer. Im Jahre 1714 stimmten bei der Parlamentswahl in der Grafschaft

Sussex noch 4000 freie ländliche Grundbesitzer; jetzt werden dort kaum

mehr 400 zu finden sein. Nur im Norden von England, in den Grafschaften Cumberland und Westmoreland existirt heute noch eine nennenswerte Anzahl dieser alten

freien Bauern dänisch-angelsächsischen Ursprungs. barer

Weise

den

Namen

„Statesmen"

Sie führen dort sonder­

Staatsmänner;

ursprünglich:

Estatesmen, Grundbesitzer.

2. Die wirthschaftliche Lage des gebundenen Grundbesitzers und

seiner Familie. Etwa drei Viertel alles Grundeigenthumes in England stehen gegen­

wärtig in streng gebundenem „Settlement".

Der Besitzer ist nur lebens-

454

Landgesetze mld Landwirthschaft in England.

länglicher Nutznießer ohne jedes BerfügungSrecht über die Substanz.

Er

muß alle Verwendungen auf das Gut,, insbesondere alle Verbesserungen,

auS seinem persönlichen Vermögen bestreiten oder — unterlassen. ES ist einleuchtend daß ein solcher gebundener — man kann wohl

sagen: gefesselter — Grundbesitz nicht die Kraft hat sich selber aufzuhelfen;

er ist gelähmt.

Um die Ausbreitung dieses Uebels zu ermessen dürfen wir nicht etwa an einen Zustand denken, ähnlich der Bertheilung der vereinzelten großen deutschen MajoratSkontplexe zwischen der überwiegenden Menge des mittleren

und kleinen freien Eigenthums.

Derartige große „Herrschaften" haben —

wie überall so auch in England — auS den Ueberschüssen der jährlichen

Einnahmen, bet vernünftiger Eintheilung, stets die erforderlichen Mittel zu regelmäßig fortgeführten Verbesserungen, ohne daß dadurch das Privat­

vermögen des Besitzers wesentlich beeinträchtigt wird. Stellen wir unS vielmehr vor, daß drei Viertel unserer sämmtlichen

mittleren, kleineren und kleinsten Güter von 2000 bis 100 Morgen und

darunter, strenges unverrückbares und unbelastbares Fideikommiß wären und wir werden sofort, glaube ich, ein gewisses unheimliches Ge­ fühl empfinden, nicht unähnlich vielleicht der Wirkung der Zwangsjacke auf einen gesunden Menschen. WaS werden die Folgen dieser gesetzlichen Scheidung des natürlichen

Besitzers von seinem Besitzthum sein?

Der gute Wirth und sorgsame

Vater mehrerer Kinder würde „ungebunden" seine Ersparnisse zwischen Melioriren, nützlichen Abrundungen und Kapitalisiren theilen; für das

„gebundene" Gut aber thut er möglichst gar nichts, denn sein ältester Sohn bekommt ja ohne dies schon zu viel.

Er spart für seine jüngeren

Kinder und seine Wittwe nachdem er — seine eigenen älteren Schulden abgetragen hat. Der schlechte Wirth ist trotz dem Settlement immer noch in der

Lage seinen Grundbesitz, den er nur zu leicht als einen ftemden betrachten wird, irgendwie auszusaugen und herunter kommen zu lassen.

Oder er verkauft sein lebenslängliches Nutzungsrecht; die Käufer, feine Gläubiger, verwalten das Gut, ziehen jeden Tropfen Lebenskraft heraus und führen nichts hinein.

Ihr Geschäft ist ein gewagtes Lotterie­

spiel, allerdings mit wucherischen Zinsen, aber die ganze Spekulation steht auf zwei sterblichen Augen; denn der Nachfolger bezahlt sicher keinen Deut.

Und grade dieser letzte Fall soll in England sehr häufig gefunden

werden, vom kleinen Landsquire hinauf bis zum Herzoge. Vielfach kommt auch das gebundene Familiengut in den Besitz des

lebenslänglichen Nutznießers schon beladen mit Witthümern, mit frisch auf-

Landgtjetzk und Landwirthschaft in England.

gelegten Abfindungen jüngerer Geschwister und

455

mit alten ehrwürdigen

Familienhypotheken.

Kürzlich machte ein Peer der sich in dieser nicht beneidenSwerthen Lage befindet, Lord Aylesbury, hierüber in der Times seinem gepreßten

Herzen Luft.

Er ist ein Mann von mittlerem Vermögen im Verhältnisse

zu seinem Range.

Seinen Besitz erbte er mit einer Belastung zum Be­

trage von 50 Prozenten der Rente.

Jetzt ist er, wie die meisten engli­

schen Grundeigenthümer, gezwungen seinen Pächtern für 1879: 25 Prozent

an ihrer Pacht zu erlassen. einkommen.

DaS kostet ihm also sein halbes Netto­

Dagegen sind Staats- und Kirchensteuern unverändert, und

die unausweichlichen Armenlasten höher denn je.

Daneben drücken ihn

die Pflichten seiner politischen und sozialen Stellung, die Repräsentation

die dem Familtenhaupte in seinem ländlichen Kreise obliegt. Also, was bleibt ihm?

Er ist im Grunde ein armer — und ein

völlig hülfloser — Mann. —

Die besten Autoritäten nehmen an daß sämmtliches Grundeigen­

thum in England etwa bis zur Hälfte seines Werthes verschuldet ist. — „Die Primogenitur — so

fahren die Reformer fort — „das

ausschließliche Erbrecht des nächsten männlichen Erben am Grundbesitze, wenn kein Testament oder Settlement vorhanden, ist in ihrer Allge­ meinheit unvernünftig und ungerecht." „Meistens tritt dieser Erbgang bet mittleren und kleinen Besitzungen, ja bei Stadthäusern in Wirksamkeit, wo der Eigenthümer durch Zufall oder aus Nachlässigkeit keine Bestimmungen getroffen hatte.

Alsdann

erhalten Wittwe und jüngere Kinder vom Grundeigenthume nichts." „Wenn nun aber das Gesetz den

fehlenden

letzten Willen eines

Mannes ergänzen will, so soll eS das wenigstens in gerechter und ver­

nünftiger Weise thun und nicht eine Absicht unterstellen wie sie bei keinem guten Familienvater, bei keinem Menschen mit gesunden Sinnen ver­ muthet werden darf." —

Zu welch schreienden Widersinnigkeiten dieses Recht der Primogenitur,

welches ursprünglich nur für die Ritterlehne galt, in seiner Ausdehnung auf

alle Klassen und auf jedes Immobile führt, ergeben folgende zwei Fälle: Ein kleinerer, kinderloser Geschäftsmann — dieser Fall hat seiner Zeit auch im Parlamente großes Aufsehn gemacht — hatte sich^mit einem hübschen Kapitale zurückgezogen, machte sein Testament und setzte darin

seine Frau zur Erbin ihres gemeinsam erworbenen Vermögens ein.

Als­

dann beschlossen die Eheleute sich für ihr Erspartes auf^ihre alten^Tage

ein Landgut zu kaufen.

Der Mann erstand ein solches auf einer Ver­

steigerung, leistete die bedungene Anzahlung und erhielt den.Zuschlag.

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

456

Darauf starb er plötzlich bevor daS Kaufgeschäft zur völligen Aus­

führung gekommen war.

Die Wittwe, seine alleinige Erbin, mußte die

noch rückständige Zahlung für daS Landgut mit ihrem Kapitale leisten.

AlSdann wurde dieser Grundbesitz, der in dem früheren Testamente deS

Mannes selbstverständlich nicht erwähnt war, von seinem Neffen, als PrimogenituS nach dem „Law of England“ beansprucht; die Wittwe

behielt und erhielt gar nichts; sie fiel der Armenpflege der Gemeinde anheim.

Der zweite Fall ist allerneuesten Datums. Vor mehr als 20 Jahren erbte ein Arbeiter in Chelsea 800 Pfd. Stert.

Kurz vor seinem Tode, der wenige Monate darauf eintrat, schenkte er seiner Frau daS Geld um damit die Familie zu erziehen.

Er hinterließ

einen Sohn aus einer früheren Ehe und von dieser zweiten Frau

mehrere Kinder.

Die Wittwe kaufte von den 800 Pfd. Sterl. ein Stückchen

Land und bauete darauf zwei Häuschen. Testament zu machen.

Kürzlich starb sie ohne ein

Es war zweifellos der Wille beider Gatten

gewesen, daß ihre Hinterlassenschaft sämmtlichen Kindern zufallen sollte.

Konnte ihnen wohl mit einem Anscheine von Vernunft, imputirt werden: sie wollte durch Primogenitur eine „Familie gründen“?

„Law

of England“

erbte der

älteste Sohn

Aber nach dem

zweiter Ehe als

PrimogenituS seiner Mutter, die beiden Häuser allein. Sämmt­ liche übrige Kinder gingen leer aus!! —

„Kleinere ländliche Besitzungen“ — so geben die Reformer zu —

„sollen allerdings nicht zersplittert werden, aber jeder Miterbe muß ein Recht auf eine Abfindung haben.“

„Größere Besitzungen aber sollen in verschiedenen Komplexen unter die Kinder vertheilt werden.

DaS stärkt die Familie und vermehrt die

erhaltende Partei im Staate.“

„Und wie wirkt“, so fragen die Reformer weiter,

„diese testa­

mentarische Bindung auf den ältesten Sohn?“ „Der älteste Sohn, oder Enkel, fühlt sich schon im jugendlichsten Alter als sicherer Erbe des gebundenen Besitzes.

Eine solche unanfecht­

bare Aussicht lähmt bei allen minder begabten — zu leichten wie zu

schweren — Naturen den Trieb,

die eigenen Fähigkeiten anzustrengen

und zu entwickeln.“

Auch in Deutschland haben wir ja die gleichen Erfahrungen über die Wirkungen ähnlicher Ursachen gemacht; auch bei unS kannten wir früher —

neben sehr vielen respektablen Ausnahmen — den unerfreulichen Typus den man „Majoratsschlingel“ nannte.

Jetzt ist diese taube Blüthe so

ziemlich verschwunden, wesentlich unter der wohlthätigen Erziehung der

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

457

allgemeinen Wehrpflicht, durch die in alle Theile unseres Vaterlandes die Anschauung getragen ist: daß es nicht mehr „anständig" oder gar vornehm

sei, nichts zu lernen und nichts zu leisten. — „Die väterliche erziehende Gewalt ist durch das gebundene Erbrecht

eines ihrer kräftigsten Mittel beraubt.

Denn der junge Mensch weiß ja,

daß sein Vater nur lebenslänglicher Nießbraucher ist.

Der Vater steht

sogar in widernatürlicher Abhängigkeit vom ältesten Sohn: er bedarf dessen

Einwilligung wenn er wieder heirathen will."

(Wegen der Versorgung

Der Sohn wiederum ist seit seinem ersten Auftreten

der zweiten Frau.)

int öffentlichen Leben viel zu kreditfähig für sein eigenes Wohl."

„Er fällt, wie ein jagdbares Wild, allen Schlichen und Verführungen anheim; er stürzt sich in Schulden und schreibt „Post Obits". (Schuld­ scheine die nach dem Tode — post obitum — des Vorbesitzers fällig sind.)

„Er verpfändet seine Zukunft hoffnungslos, um sich vor seinen Gläubigern zu retten oder verkauft sein Erstgeburtsrecht.

Die Gläubiger versichern

das Leben deS Sohnes nach Verhältniß seiner Altersdifferenz zum Vater

und ziehen alle Prämien vom Darlehn vorab."

„Dieser Handel ist vollständig organisirt und wird auf breiter Grund­ lage betrieben.

In der Times legen fortwährend Wucherer und „Dar-

lehnS-Gesellschaften"

ihre

Fallen,

um

Anwartschaften

(reversionary

Interests) und lebenslängliche Nutznießungen (life interests) anzukaufen und zu beleihen.

Auf diesem Wege kommt ein großer Theil deS Landes

in die Hände eines bereits überschuldeten Besitzers und seiner Gläubiger." —

Oft macht sogar der gegenwärtige Besitzer daS Geschäft selbst, um Familie und Vermögen gegen den drohenden Ruin durch einen, bereits

genügend als Verschwender bewährten Anerben zu schützen.

In einer mir bekannten Familie mit gebundenem Grundvermögen, wo ein Sohn und daneben Töchter waren, hatte ersterer sich schon früh­

zeitig als ein ausgebildeter Lump erwiesen.

Er stellte „Post ObitS" in

Massen auS und verkaufte schließlich seine zukünftige lebenslängliche An­ wartschaft an Wucherer.

Der Vater kaufte nun alle Schuldscheine auf,

deS Sohnes Verzicht war gültig und die Töchter bekamen das gesammte

Vermögen. Ein in England sehr bekannter Fall dieser Art ist der deS Herzogs

von L., eines der reichsten unter den größten Peers. DeS jetzigen Herzogs Vater machte das Settlement für seine zwei Söhne, die Lords A. und B. und, nach ihnen, für den Sohn seiner

Tochter, Mr. M. jahrter Herr.

Jetzt ist der zweite Sohn B. im Besitze, schon ein be­

Der Neffe M. entwickelte sich glänzend als unverbesser­

licher Schuldenmacher im großartigsten Maßstabe.

Schließlich cedirte er

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

458

Diesen taufte der

seine demnächstige Anwartschaft an seine Gläubiger.

Oheim B., der jetzige Herzog, ihre Forderungen nebst der Cession wieder

ab — man sagt für eine Million Pfd. Sterl. — und Niemand weiß,

wer der Erbe des jetzt ungebundenen, kolossalen Besitzes der Familie sein wird. Während also im

allgemeinen die väterliche Autorität durch die

Settlements geschwächt wird, giebt es dagegen einen Moment im Leben

des SohneS, wo er seinerseits in zu großer Unfreiheit gegenüber dem Vater handelt.

Dieser Zeitpunkt tritt ein, wenn derjenige Sohn,

in dessen Händen die Gebundenheit erlöschen würde, volljährig wird.

Der um die Erhaltung der „Familie" besorgte Vater drängt alsdann

den Sohn zum „Resettlement" und so werden diesem schon jetzt für seine ganze übrige Lebenszeit wiederum die Flügel beschnitten.

Weshalb

willigt der Sohn ein? 1.

Weil sein Vater, ein noch rüstiger junger Mann unter fünfzig

Jahren, ihm dafür ein sofortiges sicheres Einkommen bewilligt, auf

welches er sonst vielleicht noch fünfundzwanzig Jahre warten müßte. 2.

Weil er dadurch einer ihm anerzogenen Familtentradition ent­ Noblesse oblige.

spricht.

Solche anerzogenen Motive sind weit stärker,

als die meisten Gesetze.

Dann wird das Gut neu belastet mit Schulden des Vaters und Ab­

findungen der Geschwister, und der Sohn erhält demnächst ein wesentlich

beschnittenes Einkommen.

Auf diese Weise werden 50 Millionen Acres immerfort „wiedertzebunden" und man darf wohl von den meisten Gütern über 1000 Acres

annehmen, daß sie stets in dieser strengen Gebundenheit verharren. Aber wie werden denn die jüngeren Brüder versorgt?

Auch das ist jetzt weit schwieriger geworden.

Früher fielen sie in

der Mehrzahl dem öffentlichen Dienste, im Civil und Militär sowie in

der Kirche, Last.

durch das Institut der käuflichen Patronatsrechte zur

Der Regierung erwuchs jedoch aus dem allzustarken Andrange nach

Versorgung eine Menge von Unannehmlichkeit und Verantwortlichkeit.

Um

sich dieser Belästigung zu erwehren, sind jetzt im Staatsdienste überall

Konkurrenz-Prüfungen eingeführt, deren Ergebnisse stets öffentlich bekannt gemacht werden.

Zugleich ist eine Menge von Sinecure-Posten einge­

gangen und dadurch die Zahl der zu vertheilenden Versorgungen stark be­

schnitten.

Daher wenden

sich in neuerer Zeit Söhne selbst

aus den

„besten Familien" der „Bar“, dem Anwalts- und Richterstande, aber auch dem Handel und der Industrie zu.

manchen jüngeren

Sohn

„mit einem

Man findet deshalb jetzt wohl

Handgriffe an

seinem Namen"

459

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

(Titel)

der

an

Spitze

von

Gründungen,

wo

er

reinlicher

nicht

stände. „Und das alles" sagt Mr. Arnold, „geschieht für den Familiengötzen: „ältester Sohn".

Unsere heutigen englischen Landherren sind nicht mehr

Basallen der Krone, sie sind Vasallen ihrer Enkel."

Kommen nun über diese gespannten Kreditverhältnisse oder richtiger über diese Kreditlosigkeit, die unausweichlichen „mageren Kühe", die keine

fetten zum Verschlingen vorfinden, was dann? Die fröhliche Jagd- und Winterzeit auf den englischen Landsitzen hat

in

diesem

Jahre ein gar trübes Aussehen.

Viele große und

größte

Häuser sind geschlossen, die sonst einen zahlreichen Kreis von Freunden

beherbergten. lassen.

Die Ställe sind leer, alle überflüssigen Dienstboten ent­

Und der Hausherr mit seiner Familie sitzt irgendwo in einem

gemietheten Häuschen an der See oder sucht die „wärmeren" Klimate des

billigeren Kontinents auf, wo man sich doch nur selbst zu erhalten hat,

wo man sich einschränken kann, ohne der „Position" zu schaden. Die Regierungen der letzten Jahrzehnte haben allerdings beabsichtigt und versucht, den oben geschilderten Zustand der starren Gebundenheit des

„Landes" durch verschiedene neueste Gesetze zu mildern.

Die bedeutendsten derselben sind:

die Improvement of Land Act, 1864 die Agricultural Holdings Act, 1875 die Settled Estates Act, 1877. Nach diesen Gesetzen (und einem älteren von 1834):

1.

Darf der Besitzer auf 21 Jahre verpachten mit Verbindlichkeit

für jeden Nachfolger.

(Der Sohn war schon — wie wir wissen —

durch ein Gesetz von Heinrich VIII. gebunden.) 2.

Auf seinen Antrag genehmigt der „Court of Chancery“, daß

Grundstücke zum Bebauen auf längere Jahre (bis zu 99) verpachtet

werden, daß Forstgrund gerodet wird, sowie daß alte Gebäude auf Kosten

des Gutes erneuert werden. 3.

Ebenso bewilligen die „Enclosure Commissionen“ (Behörden

für Theilung von Gemeinheiten,

Commons) die Belastung des Gutes

mit den Kosten für Meliorationen: Drainirungen, Wege- und Wasser­

bauten und verschiedene andere.

Aber diese Wohlthaten der neuesten Gesetzgebung unterliegen einer Menge von Formalitäten: Genehmigungen, Beaufsichtigungen und Prü­ fungen durch Behörden; Dinge, die dem Engländer bekanntlich noch weit

unsympathischer sind als uns.

Landgesetze und Landwirthschast in England.

460

Und diese Projekte werden genehmigt, nicht sowohl aus dem Gesichts­ punkte, das Wohl des Besitzers oder Pächters zu fördern, sondern vor

Allem zum Vortheile des Gutes und deS zukünftigen EigenthümerS.

DaS aufgenommene Geld muß den Gesellschaften, die für diese Zwecke darleihen, mit 71/, Prozent verzinst werden, denn eS soll in 25 Jahren abgetragen sein.

In den meisten Fällen wird daher der anleihende Be­

sitzer den größten Theil der Schuld selbst abzahlen.

Somit treibt den „Tenant for Life“ regelmäßig kein hinreichend energisches Interesse, um diese Operation zu beantragen; sie kommt daher

auf den kleineren Gütern sehr selten zur Ausführung.

Die erwähnten „Land-Verbesserungs-Gesellschaften" sind seit etwa 30

DaS gesammte, von ihnen während dieser Zeit

Jahren in Thätigkeit.

auSgeliehene Kapital soll 7 Millionen Pfd. «Stert, nicht übersteigen. Im Jahre 1873 wurde die Frage nach dem Stande der landwirth-

schaftlichen Meliorationen von einem Ausschüsse deS Oberhauses untersucht.

Hier sagte Mr. Caird auS: „daß bis dahin erst ein Fünftel

aller nothwendigen Meliorationen ausgeführt sei, daß erst ein Siebentel aller nöthigen Drainirungen hergestellt fei", daß erst „ein Fünftel der getheilten Gemeinheiten in Kultur genommen sei." Mr. Caird war früher

der landwirthschaftliche Techniker der Times, jetzt ist er einer der „Enclosure Commissioners".

Der Earl of Leicester, ein anerkannter großer Landwirth, behauptete:

„bei rationeller Vervollkommnung der Methode kann die englische Land­ wirthschaft ihre Produktion verdoppeln; in unserem Gewerbe könnten noch 500 Millionen Pfd. Sterl. mit Vortheil angelegt werden".

Lord Beaumont, ein Peer und selbst Landwirth, wurde als Zeuge

gefragt: „Kennen Sie in Ihrem Theile von Aorkshire gebundene Güter, die mit Vortheil drainirt werden könnten"?

allen meine eigenen".

Antwort: „Sehr viele, vor

Auch der Verkauf gebundener Grund­

stücke ist durch die Settled Estates Act gestattet.

Aber der Erlös ist

stets wieder im gebundenen Grundeigenthum zu verwenden.

Außerdem

enthalten allerdings jetzt fast alle neue Stiftungen gewisse Vollmachten

für die TrusteeS: verkaufen".

„mit Einwilligung des jeweiligen Nutznießers zu

Aber diese Vollmachten werden nicht benutzt.

Die „Ver­

trauensmänner", die eigentlichen Güterpfleger, scheuen sich vor der Ver­

antwortlichkeit.

So groß ist die anerzogene instinktive Meinung: daß das

Land vor allem erhalten werden müsse." So ist es denn allerdings nicht ohne Anschein, wenn diesen neuen

Gesetzen vorgeworfen wird: sie seien mehr ein Zugeständniß und eine Be­ mäntelung als eine Besserung der Mängel des alten gesetzlichen Zustandes.

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

461

Die vorstehende abfällige Beurtheilung der „Landgesetze" finden wir, mit einigen Variationen, in allen Reden und in der gesammten TageS-

literatur der Liberalen wiederkehrend.

Als bibelfeste Christen haben sie

für ihre KontroverSpredtgten auch einen geeigneten Text gefunden, den man bekanntlich dort mit Vorliebe im alten Testamente sucht. ES heißt nämlich im Propheten JefaiaS 5, 8: „Wehe denen, die ein

HauS an das andere ziehen und einen Acker zum andern bringen, bis daß kein Raum mehr da fei; daß sie allein daö Land besitzen".

Die Weltkinder drücken denselben Gedanken in einem

Bilde etwa so auS:

modernen

Wenn eine Menge aushelfender Projekte (supple-

mentary devices) nöthig sind, um der „Unzettgemäßheit" eines Gesetzes zu begegnen, so beweist dieses, daß eine entgegengesetzte Unterströmung

eines anderen Gesetzes vorhanden ist, welche diese verschiedenen Nothdetche

bald einreißen wird. — Was sagt nun die konservative Partei? ES liegt in ihrer Stellung als Vertheidiger der bestehenden Ver­ hältnisse, daß sie nicht so rührig auftritt und einen solchen Reichthum

an Argumenten entfaltet wie die Angreifer.

Ihre Aeußerungen in den

öffentlichen Redeturnieren, wie in der Presse sind daher ziemlich spärlich.

Literarische Rechtfertigungen der jetzigen Landgesetze in den Zeitschriften, — welche in England bekanntlich fortlaufende Kommentare der TageS-

fragen von jedem Parteistandpunkte aus bringen, — sind mir nicht be­ kannt geworden. Allerdings hatten verschiedene Mitglieder deS früheren Ministeriums

sich über das Thema öffentlich vernehmen fassen.

Von hervorragendster

Wichtigkeit waren jedoch die Auseinandersetzungen deS Lord Kanzlers, Earl Cairns, als er zu Anfang der diesjährigen Sitzung die in der Thronrede verheißenen Bills im Oberhause einbrachte.

Wir können diese verschiedenen

Aeußerungen etwa unter folgende Punkte zusammenfassen: 1.

Bindung des Grundbesitzes und Primogenitur gehören zu den

Grundpfeilern der englischen Verfassung und Gesellschaft; sie sind unentbehrlich und wirken wohlthätig.

Schon der Umstand, daß diese Ein­

richtungen seit dreihundert Jahren bestehen, beweist: daß sie un­

seren Verhältnissen und Bedürfnissen entsprechen!

2.

Die Bindung schützt vor Verschwendung und vor der Belastung

der Güter mit ungemessenen Hypotheken. 3.

Es ist kein Grund vorhanden, das jetzige „Law of settlement“

zu ändern, da es aus dem natürlichen Rechte des GrundeigenthümerS,

aus seiner BerfügungSfreihett, entsprungen ist. 4.

Die kontinentalen Prinzipien betrachten wir in England als jene

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

462

Freiheit beeinträchtigend.

(Diese Polemik bezieht sich wesentlich auf daS

französische Recht und dessen Zwang zur Theilung

des Grundbesitzes

unter die Miterben.) 5.

Um aber unsere englische VerfügungSfreihett aufrecht zu erhalten

und dabei zugleich das öffentliche Interesse zu wahren: zu diesem Zwecke

muß auch dem gebundenen Besitzer so viel Verfügung einge­ räumt werden, wie ein

freier Eigenthümer als sorgsamer

HauShalter zu gutem Zwecke ausüben würde. 6.

Das heißt: er selbst muß praktisch verwerthbare Befugnisse zur

Veräußerung bekommen, unter Sicherung der Rechte seiner Nachfolger an dem Aequivalente.

7.

Diese Befugniß war in der Theorie stets vorhanden, aber prak­

tisch undurchführbar.

Früher war der einzige Weg dahin eine Privat­

bill deS Parlamentes. Sterl.

Diese kostete zwischen 300 und 3000 Pfd.

Solcher Privatbills für Verkauf von gebundenem Grundeigenthum

sind daher in der ganzen ersten Hälfte dieses Jahrhunderts nur

700

erwirkt.

8.

Nach der Settled Estates Act. von 1877 trat der Court of

Chancery hier ein, aber auch dann blieb das Verfahren zu schwerfällig

und kostspielig. 9.

Auch können die geschäftlichen Formen im Verkehr mit Grund­

eigenthum vereinfacht werden.

10.

ändern. 11.

Settlement, Primogenitur und Pfandrecht wollen

wir nicht

UebrigenS sind die Landgesetze gar nicht die Ursache deS jetzigen

DarniederliegenS der Landwirthschaft.

Wäre dem also, dann müßte ja

daS freie Eigenthum in weniger schlechter Lage sein, was wohl Niemand

behaupten wird. 12.

DaS Verschwinden der kleinen bäuerlichen Güter (peasant

proprietorships) und ihr Aufgehen in die großen Komplexe ist

ein

natürlicher, wtrthschaftltcher Prozeß, den die Gesetzgebung nicht

hindern kann. Die Times begleitete diesen letzten Punkt mit einem ihrer bekannten

glänzenden — oft aber auch stark flimmernden — Leitartikel:

„Wenn

morgen dem kleinen Farmer daS Eigenthum seines PachthofeS geschenkt

würde, so wären in zehn Jahren drei Viertel dieser Güter wieder auf dem Markte und würden von reichen Leuten zu zwei Prozent Zinsen auf­

gekauft."

„Landbesitz ist nun einmal in England ein Luxus der zahl­

reichen großen Kapitalisten, wie HobbemaS und alte chinesische Vasen."

„Der kleine Landwirth verkauft stets und muß verkaufen sobald ihm ein

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

derartig überhoher Preis geboten wird.

463

So ging auch unsere vielbeklagte

Aeomanry zu Grunde." — „Auf den Gütern deS Herzogs von Suther­

land in Sutherlandshtre saßen früher mehr als eintausend kleine bäuer­

liche Erbpächter, die nominelle Renten zu entrichten hatten. Fehlernte waren sie der HungerSnoth nahe. und nach ausgekauft.

Bei jeder

Sie wurden (1849) nach

Die zu kleinen Komplexe wurden anders ein­

getheilt, bebauet und verbessert.

Jetzt giebt dieser Besitz eine Pachtrente

von 100,000 Pfd. Sterl. im Jahre." „Aber," das erkennt die Times zugleich an, „wenn wir nicht zu

einem

anderen Systeme des

landwirthschaftlichen Betriebes

gelangen, wird die Rente der rein producirenden Betriebe sinken.

Für die Pächter giebt eS dann keine andere Hülfe alS: Auswanderung in unsere Kolonien."

3.

Die Wirkungen der Gebundenheit deS Grundbesitzes auf die Pächter liegen nach dem Vorhergehenden wohl so ziemlich auf der

Hand. Zwar sind bereits seit dem Jahre 1834 unbedingt bindende Pacht­ kontrakte auf 21 Jahre eingeführt, aber drei Viertel aller Pachtungen

in England und Wales (nicht in Schottland) laufen ohne schriftlichen

Kontrakt auf sechsmonatliche Kündigung.

Und hiervon abgesehen dehnt

sich die Unfreiheit deS Besitzers in der Behandlung deS Landes, die Ver­ nachlässigung von Bauten, Meliorationen und Kulturen, der Mangel an stehendem Kapitale unausweichlich auf den Bewtrthschafter, die Höhe seines

umlaufenden Kapitals und auf seine Erfolge aus.

Wir hörten, daß die Agricultural Holdings Act von 1875 dem Pächter Ansprüche auf Vergütung für gewisse Meliorationen sowie für

Aber leider ist dieses Gesetz ein sogenanntes

Gail und Gaare giebt.

erlaubendes „permissive“, und das Recht des Pächters ein kontraktlich

verzichtbares.

Noch mehr! in allen einjährigen Pachtkontrakten kann der

Eigenthümer einseitig bestimmen: daß jenes Gesetz für das vorliegende

Pachtverhältniß nicht zur Anwendung kommen solle. AlSdann bleibt der alte Rechtssatz in Kraft: Alles was der Pächter in oder auf den Byden gebracht hat, ist dadurch Eigenthum des Ver­ pächters geworden; so fehlt dem abziehenden Pächter selbst das Recht

deS Wegräumens. Alle diese Pachtverhältnisse — at will — gehen nicht auf die Wittwe und die Erben über.

Jede Kapitalanlage ist also in solchem Falle für

den Pächter sehr gewagt.

„Daher", sagt Mr. Mecchi, eine der ersten

Landgesetze und Landwirlhschast in England.

464

landwirthschaftlichen Autoritäten, „daher kommt eS, daß durchschnittlich

jeder Pächter in England (nicht in Schottland) nur 6 Pfd. Sterl. Be­

triebskapital auf den Acre bringt, während 12 bis 18 Pfd. Sterl. mit Vortheil verwendet werden könnten, und daß in den jetzt vergangenen

guten Jahren die Pächter es vorzogen, ihre Ersparnisse in ftemden StaatS-

papieren anzulegen. Endlich existirt noch ein dem Pächter außerordentlich nachtheiltgeS

altes lehnSherrlicheS Recht des EigenthümerS: der „Distreß."

Kraft dieses

hat der Verpächter ein gesetzliches Pfändungsrecht an allem Vieh, Schiff

und Geschirr, welches der Pächter auf das Gut gebracht hat und selbst an der bereits eingescheuerten Ernte.

Dieses Pfändungsrecht kann jeder­

zeit für jede fällige Forderung geltend gemacht werden.

Dasselbe umfaßt

alle, zur Zeit aus den Pachtgrundstücken befindlichen Werthobjekte, sogar

ES liegt auf der Hand, wie durch diese Un­

daS fremde Weidevieh.

sicherheit und Durchbrechung des EtgenthumSrechteS der Kredit des Pächters

und selbst seine lausenden Geschäfte mit Dritten, z. B. Vieheigenthümern,

beeinträchtigt werden müssen. „ES ist freilich recht patriarchalisch" bemerkt Mr. Arnold, „daß auf den großen Herrschaften viele Pachtungen thatsächlich erblich sind.

Kein

Kontrakt aber niedrige Rente; und zudem hat der Pächter die Ehre, im rothen Rocke mit hinter den herrschaftlichen Fuchshunden zu reiten."

„Aber damit kann man keine amerikanische Konkurrenz bestehen."

In der bisherigen Diskussion findet sich keine direkte Anerkennung

Seitens der konservativen Partei, daß die gesetzliche Stellung der Pächter einer Besserung bedürfe.

„WaS die Pächter betrifft" heißt es, so können

sie sich jetzt, wo so viele Pachtungen frei sind und wo sich um jeden guten Pächter drei Eigenthümer bewerben, — jetzt können sie sich sehr

wohl selber helfen und ihre Bedingungen stellen."

Wie hierdurch den nicht mehr guten Pächtern (also augenblicklich der Majorität) geholfen werden soll, erfahren wir vor der Hand nicht.

Allerdings waren kürzlich — allein in einem zu Birmingham erscheinen­

den Blatte — gleichzeitig 70 von ihren bisherigen Bewtrlhschaftern auf­ gegebene Pachtungen mit einem Areale von 28,000 Morgen ausgeboten. Zugleich aber wurden Pächter gerichtlich insolvent

im Jahre 1877:

477 Pächter,





1878:

815







1879: 1430

,

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

465

Ob also durch diese Zustände die „abgewirthschafteten" Pächter ihre

Stellung wesentlich gestärkt finden? — steht dahin. Unzweifelhaft aber ist: daß bei allgemeiner Fortdauer eines solchen Angebotes von Pachtgütern die Pachtrenten sinken werden.

So kann sich

denn auch wohl Niemand, der „Augen hat zu sehen", der Einsicht ver­

schließen: daß die englische Landwirthschast bei ihrer bisherigen Produktion

mit den amerikanischen Preisen nicht konkurriren kann, daß sie stärkere Reinerträge erzielen muß; wenn nicht, daß Pächter und Verpächter

sich in einer verlorenen Stellung befinden.

Selbstverständlich fehlt es suchen zur Selbsthülfe.

auch unter den Pächtern nicht an Ver­

An den Sitzen des ToryiömuS, in den Graf­

schaften Essex, Hampshire und Devonshire hat sich unter der Führung

einiger großer Landwirthe eine Bewegung gebildet und verbreitet, die

„Farmers’ Alliance“.

Diese Verbindung lehnt jeden Parteistandpunkt

ab und strebt nur nach Verbesserung ihrer wirthschaftlichen Stellung.

Sie

droht also indirekt auch der konservativen Partei mit Entziehung der

Stimmen und sie behauptet, ihre Drohung wirksam ausgeführt zu haben,

da durch die neuesten Wahlen bereits 40 Mitglieder der Alliance in'S Unterhaus gebracht seien.

Die Farmer in mehreren westlichen Grafschaften schickten im vergan­ genen Herbste Delegirte nach Canada, um die dortigen landwirthschaftlichen

Zustände und

die Räthlichkeit einer Uebersiedelung, namentlich in die

westliche Provinz Manitoba, zu prüfen.

Die kanadische Regierung leistete

selbstverständlich diesen EntdeckungSretsenden jeden möglichen Vorschub.

Die erstatteten Berichte lauteten sehr günstig und aufmunternd.

4.

Auch der zunehmende Mangel an ländlichen Arbeitern wird der Gebundenheit des Grundeigenthums zur Last geschrieben.

Dieser Theil der arbeitenden Klasse zählt in England etwa 800,000

Familienhäupter. Haben nun die „beschränkten" Eigenthümer schon meistens kein Kapital für Meliorationen welche 5 Prozent Nutzen versprechen, so werden sie noch

weniger Ausgaben

für unrentable Anlagen leisten, die, wie Arbeiter­

wohnungen, höchstens 2 Prozente abwerfen.

Daher waren diese Zustände

so schreiend geworden, daß im Jahre 1869 eine Königliche Kommission

über die Lage der Weiber und Kinder der ländlichen Arbeiter niedergesetzt wurde.

Die Ergebniffe ihrer Untersuchungen waren höchst

erschreckend. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 5.

34

Landgesetze und Laudwirthschaft in England.

466

Ern Mitglied, der jetzige Bischof von Manchester Dr. Fraser, be­

sichtigte vier Grafschaften.

In seinem Berichte bezeichnet er die Cottages

der Arbeiter in Nr. 1 als: „elend", *tn Nr. 2t „bejammernswerth", in Nr. 3: „abscheulich", in Nr. 4 als: „eine Schande für eine christliche

Gemeinschaft." Und wo die Einrichtung zureichend, da war die Zahl der Wohnungen zu gering, denn allgemein wirkt das Bestreben, diese Schmutzflecke in der

sauberen englischen Landschaft zu beseitigen.

Bon dreihundert besichtigten

Kirchspielen war die Einrichtung der Cottages nur in zweien vorzüglich und ihre Zahl ausreichend.

Das Gesammtbild ist: feuchte, zerfallende, überfüllte Häuser; in

einem oder zwei Räumen Hausen drei Generationen und ungetrennte Ge­ schlechter; physische und moralische Infektion in jeder Richtung!

„Die

reichen, namentlich die größten Grundeigenthümer haben neuerdings sehr viel gethan *); aber die verschuldeten — die abwesenden — und gar die

Pfandgläubiger! — wenn die Hütte einfällt, so reißt man sie nur zu gern nieder." Alle Kommissäre waren darüber einig, daß diese düsteren Verhältnisse

im Ganzen den Grundeigenthümern als Klasse nicht zur Last zu legen seien. Die meisten seien nicht im Stande zu helfen, wenige von ihnen überhaupt verantwortlich für die ererbten Zustände.

UebrigenS fei eS

dort, wo das Land von Spekulanten gekauft und bebauet wurde, oft um nichts bester; diese bauten Kartenhäuser und vermietheten sie zu über­ mäßigen Preisen.

So ergab denn auch im Jahre 1861 die Volkszählung, daß während der letzten zehn Jahre in 821 englischen ländlichen Kirchspielen die Häuser­

zahl sich vermindert, die Bevölkerung sich vermehrt hatte.

England ist

das einzige Land in Europa, in dem die städtische Bevölkerung die des flachen Landes überwiegt; in Frankreich steht dieses Verhältniß wie 3:6, in Preußen etwa wie 3:7.

Als eine schwere soziale Krankheitsursache wird es empfunden, daß so unendlich viele Landbewohner nicht einen Morgen Land kaufen können, um eine Cottage darauf zu bauen mit einem Gemüsegarten.

Dadurch

fehlt in der englischen Landgemeinde die wichtige Klaffe der kleinen Grund­

besitzer; daS Eigenthum allein aber fesselt- an Ort und Stelle.

Deshalb

schläft auch in England unter dieser Klaffe allgemein der Trieb zum

Sparen.

(In

Schottland steht dieser Punkt

günstiger:)

,/Englische

*) In meiqer Schilderung von „$8o6i;rit Abbey" iw RoveMberhrste 187S ven. „Nord und Süd" habe ich über die großartigen Leistungen der Herzoge von Bedford für ihre Arbeiter einige Mittheilungen gemacht.

Landgesetze und Landwirthschast in Cngkand.

467

Reisende auf dem Kontinente", sagt I. S. Mill, „halten eö für unmög­

lich, daß ein kleiner Landbewohner nicht -seine ganze Einnahme ausgiebt; sie betrachten daher die ihnen dort entgegentretenden Zeichen der Spar­

samkeit als Zeichen der Armuth." Wo nun aber der Mensch keine Aussicht hat, jemals seine Lage gründlich zu bessern, da nützen auch die Schule und die Erziehung der

Landwirthschaft nicht.

Denn diese Hebel helfen grade den besten Elementen

zum Fortwandern in die Fremde, und — vermöge dieses Prozesses der

natürlichen Zuchtwahl — werden die Zurückbleibenden immer geringer

tat Werche. Einer der größten Grundherr«« Englands, der ganze Dörfer neu

aufbaute, klagt kürzlich in der Times: daß er trotz der starken Lohn­ steigerung ta den letzten zwanzig Jahren die guten Arbeiter nicht in der

Heimath fesseln könne.

Eisenbahnen, Fabriken und Polizeidienst nehmen

ihm stets die- brauchbarsten fort. Und wie würde sich erst diese Schwierigkeit gestaltm bei unserer drei­ jährigen Dienstzeit!?

5. Betrachten wir jetzt noch fluchtig

einige besonders hervortretende

politische und soziale Wirkungen der englischen Landgesetze.

„Die bestehenden Verhältnisse und die überwiegende öffentliche Mei­

nung beweisen, daß England ein aristrokratisches Bedürfniß nach großen

mächtigen Familien mit großem reichem

befestigtem Grundbesitze Hat.

Denn solche Familien sind einfach eine Voraussetzung unserer Verfassung

und unseres ganzen nationalen Systems." Dieses Axiom der konservativen Partei unterschreiben indessen

auch alle gemäßigten Reformer der Landgesetze.

Demi in England setzt

bekanntlich — bis jetzt noch — jeder ernsthafte Politiker eine Ehre darin

und erkennt es als eine Pflicht seiner eigenen Selbsterhaltung: praktische und realistische, fortbildende — nicht utopische, umstoßende Politik

zu treiben.

„Aber" — so sagen die Reformer — „die Ruffels (Herzog von Bedford), die Cavendish (Herzog von Devonshire — sein ältester Sohn

ist der Marquis of Hartington —), die Stanleys (Lord Derby), die Lewesvn-Gower (Herzog von Sutherland) und die Percys (Herzog von Northmnberland): diese und viele andere bedürfen keine „Versicherung" für den Bestand ihres Grundbesitzes.

Allerdings wirkt auch auf deren

Besitz die Gebundenheit nicht so schädlich, da diese Familien — mit einzelnen bekannten Ausnahmen



gut und

vernünftig wirthschaften. 34*

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

468

Diese sehr großen Herrschaftsbesitzer mit 100,000 bis 300,000, ja 600,000 Pfd. Sterl. und darüber, jährlichen Einkommens haben da­

neben anderes großes Vermögen, starke Betriebskapitale und können daher auch im Großen melioriren.

Die Herzoge von Bedford verwandelten den Fen Distrikt,

einen

Sumpf von mehr als 400,000 Acres Ausdehnung, in den fruchtbaren Bedford Level*).

Die Herzoge von Sutherland pflanzten in der ihnen

fast ausschließlich gehörigen Grafschaft Sutherlandshire (Schottland) über eine Million Bäume.

Diese Magnaten können sich sogar den Luxus der Landschaftsgärtnerei — der Traum jedes Engländers — im Großen gestalten.

Allerdings

werden dabei auch wohl meilenweite Wildparks angelegt und die kleine bäuerliche Bevölkerung wird in die nächsten geschlossenen Orte gedrängt;

eine Erleichterung zugleich an Armensteuer und an — Wilddieben.

Die diesen großen Herrschaftsbesitzern zunächst stehenden großen Gutsbesitzer mit 10,000 bis 30,000, ja bis 50,000 Pfd. Sterl. Renten sind in der Lage, mit starkem Betriebskapitale ihren Besitz hochrationell, intensiv und modern, selbst oder durch ihre Pächter zu bewirthschaften.

ES ist dies aber doch immer ein spekulativer Luxus, den sich der

kleine Gutsbesitzer und der verschuldete versagen müssen, da sie an ihrer durchschnittlichen JahreSrente keine erheblichen Ausfälle ertragen

können.

Daraus darf man jedoch nicht folgern, daß wir am besten führen, wenn ganz England sich in jene größten Gütermassen zusammenballte.

Denn dann wäre eS ja weiter

nur folgerichtig: allen Grundbesitz in

eine große Masse, das StaatSeigenthum, zu bringen; also Sozialismus — reductio ad absurdum! —

„Aber" — so fahren die Reformer fort — „auch ein Ueberwtegen solcher übergroßer Besitzmassen von mehreren Hunderttausenden jährlichen

Ertrages, eine solche Anhäufung, die wie ein Magnetberg nach und nach die ganze Umgegend an sich reißt, — die sich stets nur vergrößert,

sei eS wegen der Jagd sei eS um lästige Nachbarn zu vertreiben — das

ist ein soziales Uebel.

Es entwickeln sich daraus hypertrophische Lei­

den, die ebenso schädlich wirken als die durch Atrophie erzeugten sozialen Schäden."

„Ein solcher übermäßiger Besitz zerfällt meistens in mehrere sehr

große Komplexe in den verschiedensten Gegenden des Königreichs.

Der

überglückliche Eigenthümer kann nicht überall leben, er sieht daher nicht

*) „Woburn Abbey" im Novemberhefte 1879 von „Nord und Süd".

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

469

all daS ©einige, er wird also durchgängig niemals auf seinen entfernten Besitzungen so intensiv wirthschaften können, als der mittelgroße Gutsherr der nur mit einem ausreichenden Komplexe gesegnet ist, denn nur „das

Auge des Herrn macht die Pferde fett." — „ES ist also ein solcher Besitzer vieler Herrschaften, welcher oft die noch vorhandenen kleinen deutschen Souveraine an Territorium wie an

Einkommen weit überragt, fast immer dem Vorwurfe ausgesetzt, den man

„AbsenteeiSm" nennt."

„Ohne Zweifel sind viele der größten LdrdS auch die besten Guts­ herren, aber die kleineren residiren mehr, sie können nicht Monate lang in London oder Paris leben." „Landbesitz aber bringt die Pflicht der Anwesenheit mit sich.

Die

Landbesitzer sind die Bewahrer (holders) des Landes zum Wohle der ört­

lichen Bevölkerung; sie sind „Trustees" deS allgemeinen Nationalvermögens an Grundbesitz."

„Bei den größten Grundherren aber, die also nothwendigerweise auf

der Mehrzahl ihrer Güter abwesend sind, wird der Agent, der Generalbevollmächtigte der wirkliche regierende Herr.

Dieser aber hat

natürliche Neigung und gewissermaßen pflichtmäßigen Trieb, knauserig zu wirthschaften und die Renten mit geschäftsmäßiger Strenge einzutreiben."

„Ferner hindert ein so übermächtig vornehmer Herr die Bildung

kleinerer lokaler, politischer und sozialer Zentren in der Gegend welche er beherrscht.

Die einfachen Gutsbesitzer (Gentry), meistens der alte,

urwüchsige Kern der Landaristokratte, dieses wichtigsten Theils unseres staat­

lichen und politischen Systems, diese kommen neben jenem erdrückend großem Landherrn nicht zu ihrer völligen Geltung."

„Zudem" sagt Mr. Shaw Lefevre*), ein sehr entschiedener Liberaler

„bin ich durchaus kein Lobredner der jetzigen Rekrutirung der bekannten „955 größten Landherren" durch „frisches Blut", wie sie in den letzten

dreißig Jahren stattgehabt hat."

„Ungefähr sechSzig „homines novi“ sind in dieser Zeit in die Klasse

der 30,000 Acres eingerückt: einige durch Käufe, einige durch Heirathen. Aber fast kein einziger Name, der sich durch hervorragende öffent­

liche Dienstleistungen berühmt gemacht hätte.

Die Zeiten der CecilS,

Walpoles, Howards, Marlboroughs und Wellingtons sind vorüber." Die Liste der „SechSzig" enthält fast ausschließlich: siegreiche Kauf­ leute, hervorragende Baumwollenspinner und Brauer,

glückliche Besitzer

von Kohlengruben, Eisenhämmern u. s. w.

*) Freedom of Land by G. Shaw Lefevre M. P. London 1880.

Landgesetze und Landwirthschaft in England-

470

Aus diesen Staffen worden jetzt die „Familien gegründet". „ES darf wohl ein Zweifel gestattet fein, ob die englische Gesellschaft ein wirkliches Interesse daran hat, diesen ehrenwerthen und „verdienst­

vollen" Personen die Mittel zu gewähren, um ihre Namen» auf bet Grund­ lage eines großen „befestigten" Grundbesitzes, in unserer Geschichte zu

verewigen." —

6. Wir gelangen jetzt zur letzten Anklage der Reformer gegen den bestehenden RechtSzustand. Dieser Angriff findet wohl die ungetheilteste. und aufrichtigste Zu­

stimmung in allen betheiligten Steifen, mit Ausnahme vielleicht der Sach­ walter (Attorneys).

ES handelt sich nämlich um die „RechtSformen

deS Verkehrs mit Grundstücken, um ihre Uebertragung und

Verpfändung"; die sogenannten „Conveyances“. „Das Grundeigenthumsrecht ist ein Repertorium jeder denkbaren Ab­

surdität" ---------so beginnt ein Artikel über dieses Thema in einem ge­ mäßigt konservativen Wochenblatte, dem Pall Mall Budget. „Wer eS beseitigte" erklärt Mr. Farrer, der ständige erste Sekretär des Handels­

amtes in der Fortnightly Review, „und ein einfaches klares System an die Stelle setzte, wie eS in anderen civilisirten Ländern existirt, der würde eine Masse von Gesetzeskunde auf den Sehrichthaufen fegen, die jetzt eine

Qual und Schande für den menschlichen Verstand und eine Quelle von Hindernissen und Verlegenheiten für unser Leben ist." — „Gesetzt" sagt Mr. Arnold, „gesetzt, der alte Napoleon wäre seiner

Zeit von Boulogne auS in England gelandet, er hätte London erobert und wir hätten, statt fünf, zehn Milliarden Francs bezahlen müssen —

aber er hätte bei dieser Gelegenheit die LandlawS beseitigt:

so würde er unser größter volkSwirthschaftlicher Wohlthäter ge­ worden sein und die Reform wäre zudem noch billig gewesen." Diese Urtheile taffen an Bestimmtheit des Ausdrucks wenig zu wün­ schen übrig.

Drei Punkte sind eS hauptsächlich, die,--------------Doch „ich bin des trocknen Tons nun satt" und will lieber meinen geduldigen Lesern eine kleine Geschichte erzählen.

Einer meiner englischen Freunde hatte durch zwanzigjährige, erfolg­

reiche Arbeit in Australien sich ein ausreichendes Vermögen erworben und

kehrte in die Heimath zurück um dort den Traum seiner Jugend zu ver­ wirklichen:

„Mitglied der landed gentry" zu werden.

Er kaufte ein schönes Gut in Wiltshire und beabsichtigte, da er das

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

471

Kausgeld in der CoutS' Bank liegen hatte, rasch zu zahlen und in den ge­ sicherten Besitz feines neuen Heims zu gelangen. Sein Attorney machte hiezu ein bedenkliches Gesicht:

„Aus dem Gute," bemerkte er „steht seit etwa dreißig Jahren eine Hypothek."

„Dann zahlen wir deren Betrag an den Psandgläubiger"

erklärte

mein Freund, rasch entschlossen.

„Wohin denken Sie, lieber Herr", erwiderte der Anwalt „Sie scheinen

in Australien vergessen zu haben, daß hier zu Lande der Pfandgläubiger

fingirter Besitzer ist.

Daraus folgt die singirte Nothwendigkeit diesen

fingirten Besitz, durch ein fiktives Geschäft wieder zurück zu übertragen. Nun kennen wir ja unsere jetzigen Pfandgläubiger gar nicht.

Außerdem

wissen wir gar nicht: ob das Gut nicht von irgend einem Borbesitzer ein­ mal „gebunden" ist." „Aber" so wagte mein Freund einzuwenden, „der Verkäufer hat uns doch versichert, daß er freier Besitzer sei?"

„Dann glaubt eS der ehrenwerthe Herr ohne Zweifel selbst"

er­

widerte der Attorney wohlwollend; „aber wie? wenn er sich nun irrte?

Schon mancher hielt sich lange Jahre für einen freien Eigenthümer und plötzlich fand er in einer alten Truhe ein unbekanntes Dokument auS

dem das Gegentheil hervorging!"

Meines Freundes fröhliches, von HeimathSgefühlen geschwelltes Herz begann etwas ruhiger zu schlagen.

„Also was ist zu thun"? fragte er

geschäftsmäßig. „Zunächst" belehrte ihn sein Rechtsbeistand „muß der Verkäufer die Beweise und Belege liefern über die Geschichte deS Gutes in den letzten

40 Jahren; über Verkäufe, Verpfändungen, Vererbungen und zwar einmal in Beziehung auf ihn selbst und seine Vorfahren als wirkliche Besitzer,

sodann aber auch über die sämmtlichen fingirten Besitzer: die Pfand­ gläubiger." „Was letztere betrifft" fuhr der erfahrene Mann der Praxis fort,

„so weiß ich: daß die alte Hypothek ursprünglich zu Gunsten von vier

Schwestern eingetragen war.

Von diesen waren zwei verheirathet.

Eine

wurde von ihren Kindern beerbt, die andere war kinderlos und ihr Mann erbte, von ihm später seine Verwandten. Die Dritte machte ein Testament

für Freunde in Amerika.

Die Vierte wurde von anderthalb Dutzend

verschiedenartiger Neffen und Nichten beerbt, von denen Ihnen vermuthlich

einige in Melbourne und Umgegend begegnet sind. — DaS war vor

20 Jahren; was seitdem die Ordnung der Natur mit all diesen Kindern,

Freunden, Neffen und Nichten zu Wege gebracht hat: alles das muß an'S

472

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

Tageslicht!

Denn unser Verkäufer muß nachweisen: daß und an wen

Sie zu zahlen haben mit der sicheren Wirkung, daß das Grundstück völlig frei wird.

So verlangt es die Fürsorge unseres Pfandrechtes."

„Wie lange wird denn das wohl dauern?" fragte mein Freund, schon

wesentlich kühler. „Das weiß ich nicht" erwiderte der Anwalt mit Zuversicht; „hoffentlich nicht über ein Jahr."

„WaS wird denn das alles wohl kosten" fragte darauf mein Freund ziemlich kleinlaut, denn in seinem umnachteten australischen Begriffsver­

mögen begann eS nachgrade zu dämmern. „Das weiß ich nicht" wiederholte der Rechtsbeistand mit uner­

schütterter Sicherheit, indem er mit ernster Miene, neben seinem Klienten vorbei, aus dem Fenster starrte als ob von dort die Aufklärung herannahe. —

Nach mehreren Monaten der Unruhe, der Unbequemlichkeit und Er­ wartung rollte endlich des Verkäufers Sachwalter eines schönen Tages

einen Schubkarren voll Dokumente in das diesseitige Hauptquartier.

„Ich muß bekennen" erklärte einige Wochen später meines Freundes Rechtsschutzmann, „die Sache scheint mir durchaus noch nicht klar.

Bitte,

lesen Sie und entscheiden Sie selbst; ich kann die Verantwortlichkeit nicht

übernehmen." „Wie kann ich das Zeug lesen!" erwiderte mein Freund völlig nieder­ gebrochen, „ich verstehe die Geschäftssprache aus der Zeit Heinrichs VIII.

nicht.

Außerdem sieht jedes Aktenstück aus als ob eS sich vier bis fünf­

mal in sich selbst wiederholte!

Nein, das überlasse ich Ihnen!" —

Jetzt begann unser Attorney zu kritisiren und zu forschen.

DaS Jahr

erfüllte sich, endlich war er fertig.

„Ist nun alles sicher?" frug mein Freund hoffnungsvoll. „Ja", erwiederte der Jurist mit Vorsicht, „soweit man überhaupt

in England Eigenthumstitel feststellen kann.

Denn — Sie werden be­

greifen — es ist ja logisch völlig unmöglich, zu beweisen: daß irgend etwas weiteres sich mit dem Gute oder einem Theile desselben über­

haupt nicht zugetragen habe.

Formelle zweifelsfreie Sicherheit giebt

eS daher nicht."

„DaS begreife ich" gestand mein, jetzt endlich aufgeklärter Freund

zu,

„eS bleibt immer ein mehr oder minder dichter englischer Nebel

zurück." — „Uebrigens" fuhr der RechtSkenner beruhigend fort, „ist Ihre Situation keineswegs schlechter als die von Tausenden anderer Gutsbesitzer

in diesem Lande." — Die Rechnung des gewissenhaften Sachwalters war den Bemühungen

entsprechend — unglaublich —: über vier Prozente der Kaufsumme.

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

473

„Sie kommen mit den Kosten noch gnädig davon" bemerkte der wohl­ wollende Rechtsbeflissene, als er meines Freundes Check auf CoutS' ent­ gegennahm und quittirte, — „und zwar deshalb weil das Kaufobjekt ein

so bedeutendes ist." „Haben Sie denn keinen ad valorem Tarif in Ihrem Geschäfte?" erkundigte sich mein erleichterter Freund, — nur um sich zu unterrichten.

„Gewiß" erwiederte der Anwalt mit Würde; die „Juristische Gesell­

schaft" hat einen solchen Tarif nach Prozenten ausgearbeitet und er steht

„Aber" setzte der biedere Patriot hinzu

unseren Kunden zur Wahl frei.

„dieser ad valorem Tarif ist so hoch daß man ihn anständiger Weise

nur gegen Ausländer anwenden kann." — Als aber mein Freund endlich seine Dokumente hatte, da begannen

neue Sorgen.

Wie sollte er diese theuern Pfänder für sich und seine

Nachfolger hüten, wo diesen Schatz sicher vor Dieben, Mäusen und Feuer­

Beim Attorney niederlegen?

bewahren?

nur ein Mensch! — In der Bank?

Der ist doch schließlich auch

Beides kostet Geld. —

Mein Freund hatte in Australien erlebt wie man dort weite Strecken Landes, nach einer offiziellen Karte nebst Meßregister, bei der Register­ behörde in zehn Minuten kauft und verkauft.

Er hatte auch auf dem

Kontinente einmal von „Grundbüchern" und „Hypothekenregistern" reden hören.

Ein Hoffnungsstrahl!

Er eilte zu seinem bewährten Attorney.

„Könnte ich meine Titel nicht registriren lassen?" „Registriren?" fragte der Anwalt geringschätzig zurück.

„Haben Sie

Er war Lord Kanzler während Sie

von Lord Westbury'S Act gehört?

drüben farmten, und brachte im Jahre 1862 ein Gesetz durch, nach welchem

jeder Landtitel öffentlich registrirt werden konnte, jedoch nur nach

genauer Prüfung.

Hiezu meldete sich Niemand oder doch so wenige

Grundbesitzer, daß die Durchführung der Registrirung im Königreiche etwa

760 Jahre

gedauert haben würde.

Bei der

allgemeinen

egyptischen

Finsterniß fürchtete jeder einzelne Besitzer — die meisten natürlich ohne

Grund — grade seinen Titel zuerst beleuchten zu lassen."

„Der jetzige Lord Kanzler Earl CairnS wollte die Sache praktischer anfassen.

Durch die „Land Transfer Act“ im Jahre 1875 wurde be­

stimmt : daß jeder Uebergang des Eigenthums ohne alle Prü­ fung registrirt werden sollte.

Er rechnete so: daß auf diesem Wege

alle jene thatsächlichen Aufzeichnungen nach zwanzig Jahren praktisch unanfechtbar sein würden. — DaS war nun doch den jetzigen Eigen­ thümern wieder zu lange hinaus um dafür ihr Geld auszugeben. Außerdem wurden Hypotheken und andere Lasten nicht eingetragen!"

„Nun rathen

Sie einmal" schloß der Rechtsgelehrte seinen Bericht, „wieviel Titel heute.

Landgesetze und Landwirthschast in England.

474

„Achtundzwanzig".

zuEnpe des Jahres 1877, schon eingetragen sind?

Diese «her sind unlöschbar und werden ewig in Englands RechtSge-

schichte dqstehen, wie ebensoviel Vogelscheuchen!

Wollen Sie Nr. Neun-

undzwanzig sein?"---------

Im Jahre 1878 kaufte mein, immer noch nicht völlig gewitzigter

Freund

zwei Felder zu,, um sich

zu

er bezahlte

arrondiren;

dafür

1200 Pfd. Sterl. Wiederum endlose Titelprüfung.

Seine Kostenrechnung betrug dieses

Mal 130 Pfd. Sterl., also 11 Prozent des Kaufgeldes. „Das ist ja eine Prohibitivsteuer auf den Landhandel" bemerkte er dem getreuen Sachwalter, nachdem er bezahlt hatte.

„Sie sind ungerecht", erwiederte der Mann der historischen Schule.

„Sie sind ja offenbar noch bevorzugt dadurch daß sie beide Felder kauften. Wären dieselben in zwei verschiedene Hände von A. und von B. ge­

kommen, dann hätte A'S Attorney geprüft und B'S Attorney hätte ge­

wissenhafter Weise gleichfalls selbständig prüfen müssen. — Nun machen

Sie

gefälligst die Rechnung.

mithin

Sie bezahlten 1330 Pfd. Sterl.,

11 Prozent Zuschlag, A. hätte bezahlt: 600 -s-130 --- 730 Pfd. Sterl., l „ O1 „ B. „ „ : 600 + 130 = 730 . ,, „ | al” 21

,

_

Zusammen 1460 Pfd. Sterl.

Sie sehen: unser System ist ein Schutzzoll: für die reichen Leute." —

Im Jahre 1879 verkaufte mein Freund wegen rheumatischer Be­ schwerden sein Gut in Wiltshire wieder und erwarb ein Eigenthum im

sonnigen Rheingau.

Bor dem Amtsrichter wurde ein Kontrakt gemacht —

verlautbart, eingetragen, umgeschrieben.

Das Ganze dauerte 30 Minuten

und kostete ein Prozent des Kaufgeldes.

Als mein Freund diesen rapiden Verlauf seinem Attorney mittheilte, schüttelte dieser sein erfahrenes Haupt:

„Das wäre schlimm für uns",

sagte er dann bedenklich.

„Das letzte aber" so schloß mein viel geprüfter Freund diese wahre Geschichte, „das letzte was ich je in meinem Leben thun werde, ist: jemals

wieder Grundbesitz in England zu kaufen!

It is an ungodly

jumble indeed! IV. Die Ziele der Reform.

Alle Parteien sind darüber einverstanden, daß die „Landgesetze" sich zu einer Revision eignen.

Ueber die Art und die Ausdehnung der Aen­

derungen gehen allerdings die Ansichten der verschiedenen Standpunkte

Landgesetze und Landwirtschaft in England.

weit auseinander.

475

Fragen wir also zunächst nach dem Standpunkte

der bisherigen konservativen Regierung.

Bei der Eröffnung des Parlamentes qm ß. Februar d. I, versprach.'

die Thronrede: „Es werden Ihnen Gesetzentwürfe vorgelegt werden über die Er­

weiterung der BerfügungSrechte der Eigenihü-mer gebundenen Grundbesitzes -------- und über die Vereinfachung deb Verfahrens

bei Uebertragung von Grundstücken." Die Times gab zu diesem kurM Texte einen kurzen Kommentar:

„Ein

neues

„Landgesetz"

dürft« das Gewohnheitsrecht

über

die

intestate Vererbung von Grundeigenthum (also die Primogenitur) ändern und auch wohl einige der Hindernisse erleichtern, welche jetzt hie

und da den Verkauf gebundenen Grundeigenthums erschweren.

Aber man

darf nicht erwarten, daß das gesammte Gesetz über Settlement nmgeschmolzen werden wird, umsoweniger als hierüber noch kein einzige- festeProjekt von irgend einem verantwortlichen Politiker formulirt ist.

Wir

haben darüber viel wildes und unstäteS Gerede gehört, bis jetzt aber fehlt

uns noch j«de reifliche und sorgfältige Prüfung dieser Materie." Aber selbst die bescheidenen Erwartungen des großen „PulSfühlerS der öffentlichen Meinung" wurden durch die Vorlagen nicht erfüllt, die

bald darauf der Lord Kanzler im Oberhause einbrachte. Diese enthielten nämlich im wesentlichen nachstehende Aenderungen:

1.

Der „lebenslängliche Nutznießer" soll daS Recht erhalten, Theile

seines Grundbesitzes zu verkaufen.

Das Herrenhaus auf dem Gute nebst

Zubehör, (also daS Gut als Ganzes) darf jedoch nur mit. Einwilligung der „Trustees" verkauft werden.

2.

Der Erlös soll zunächst zur Abzahlung von Hypothekenschulden ver­

wandt werden.

Der Ueberschuß ist sicher zu belegen, durch die „TrusteeS"

oder bei Gericht.

3.

Der „Tenant for Life" darf langjährige Pachtkontrqkte selh-

ständig abschließen, jedoch nicht über daS Herrenhaus. 4.

Er darf, unter Kontrolle der „Enclofure. Commissioners", Melio­

rationen ausführen und mit deren Kosten daS Gut belasten, so daß ihm eine persönliche Forderung an dasselbe erwächst. 5.

Der Geschäftsverkehr mit Grundstücken wird in folgenden Punkten

vereinfacht: a, es werden kurze Kontraktsformulare in verständlichem Englisch

vorgeschrieben;

b, die Gebühren der Sachwalter werden nach Prozenten des WertheS

geregelt;

476

Landgesetze und Laudwirthschast in England.

c, die Untersuchung der Titel erfolgt durch die Registerbehörden; sede abgeschlossene Entscheidung der letzteren bildet einen neuen unanfecht­

baren Titel für die Vergangenheit. —

In dem begleitenden TageSartikel sagt die TimeS: „Diese Neuerungen werden unsere Theoretiker nicht befriedigen denn es wird durchaus keine

umwälzende Maßregel beantragt."

kurz:

Vergegenwärtigen wir uns hier noch

was nicht vorge­

schlagen wird. Nicht vorgeschlagen wird: Aenderung in der Dauer der Settlements,

in der Primogenitur, im Pfandrecht; Einführung von Grundbüchern, von

Zwangsverkäufen auf Antrag der Gläubiger, von Pfandbrief- und Kredit­ instituten, Verbesserung der Stellung der Pächter! — Ein weit reicheres Material an Vorschlägen brachten selbstver­

ständlich die Reformer.

Alle gemäßigten Liberalen sind darin einverstanden: daß zwar viel­

erlei zu thun sei, daß aber diese Aenderungen nur allmälig, „mit fort­

schreitender Reife der öffentlichen Meinung" Sie verlangen im Prinzipe:

ausgeführt werden sollen.

alle künstlichen Fesseln sollen beseitigt

werden, den natürlichen Kräften und Bedürfnissen der Volkswirthschaft soll möglichst freies Spiel gelassen werden.

Ein, fast bis zur Inhaltslosigkeit allgemeiner Satz!

Die hauptsächlichsten Gegenvorschläge der Reformer waren fol­ gende: 1.

Jeder Grundeigenthümer hat fortan nur die Befugniß,

seinen

Grundbesitz in der Hand seines nächsten lebenden Erben zu binden.

Dagegen sind Verleihungen an eine Reihe von Personen und an einen

Ungeborenen untersagt. 2.

Jeder Grundeigenthümer hat das Recht:

jenigen unter seinen Erben zu bestimmen,

denjenigen oder die­

an den oder die sein Grund­

besitz fallen soll.

3.

Bei Jntestaterbfolge soll vermuthet werden:

daß der Erblasser

gleiche Vertheilung seines gesammten Nachlasses unter seine Erben ge­

wollt habe. 4.

Die Güter einer Erbtochter, welche mehrere Kinder hinterläßt,

sollen niemals auf den Erben der väterlichen Güter übergehen. 5.

Ueberschuldete Güter sollen auf Antrag der Gläubiger unter ge­

richtlicher Kontrole verkauft werden. 6.

Alle veralteten Fiktionen und Formalien bei Veräußerung und

Verpfändung von Grundeigenthum sollen beseitigt werden.

Lanbgesetze und Lanbwirthschaft in England.

7.

477

Wenn demnächst auf diesem Wege die „Titel" klar und einfach

geworden sind, sollen Grundbücher und Pfandregister eingeführt werden. 8.

Die Pächter sollen

durch unverzichtbare-

Meliorationen sicher gestellt werden.

Recht wegen ihrer

Da- Pfändung-recht de- Verpächter-,

der „Distreß" soll abgeschafft werden. — Wahrscheinlich wird es meinen Lesern aufgefallen sein, daß unter

allen diesen Vorschlägen niemals ein solcher auftritt, wie er un- nach un­

serer Gesetzgebung nahe liegen würde, nämlich: Settlement- und Primo­

genitur auf Landgüter zu beschränken, deren Areal und Steuer­ kapital einen gewissen Minimalsatz übersteigen.

Die Erklärung

hiefür möchte darin zu finden sein: daß alle- wa- den Charakter von

„dass legislation“ hat, d. h. wa- einen gesetzlichen Unterschied von

„reich"

und

„ärmer"

statuirt,

der englischen

theoretischen Anschauung

grundsätzlich widerstrebt, wie sehr auch dieser Unterschied thatsächlich da­ ganze öffentliche Leben in England beherrscht. Werfen wir jetzt noch einen flüchtigen Blick auf einige Forderungen der Radikalen.

1.

Unter diesen finden wir:

Abschaffung der Gut-Herren, „wie in der Schweiz, Frankreich und

Deutschland", durch Verwandlung der Pächter in Eigenthümer. 2.

Da- englische Gesetz soll überhaupt ein irgend wie beschränkte-

Eigenthum nicht anerkennen. 3.

Da- gesammte Pfandrecht soll abgeschafft werden.

Der geldbedürftige Besitzer soll sein Gut stückweise verkaufen. 4.

Alle wüsten und schlechtbewirthschafteten Grundstücke sollen von

der Regierung ezcpropriirt und an fleißige Arbeiter gegen feste Renten verpachtet werden. Und so geht e- fort, bi- tief in den sozialistischen Unsinn hinab. Der Vorlage der konservativen Regierung ist durch die unerwartete

Auflösung de- Parlamente- und durch die noch unerwarteteren Ergebnisse der Neuwahlen ein jähes Ende bereitet.

Ohne Zweifel wird die Bill in

ihrer jetzigen beschränkten Ausdehnung nicht vor da- neue Unterhaus ge­ langen.

Welche Ausdehnung ihr da- neue liberale Ministerium jetzt geben

wird, wo die liberale Partei ihrerseits vor die feste Formulirung durch­ gearbeiteter gesetzgeberischer Vorschläge gestellt ist? — darüber heute Ver­ muthungen aufzustellen dürfte müßig sein.

Aber — „Leicht bei einander wohnen die Gedanken, „Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen."

Landgesetze und Landwirthschaft in England.

478

Das Maß des „mehr" wird wohl wesentlich davon abhangen, ob im neuen Ministerium -und Im Unterhause der rechte Flügel der „Liberalen", die alten Whigs, oder ihr sinter Flügel, die Modernen, das Uebergewicht

behaupten wird. Vermuthungen von einigem Werthe würden uns die Aeußerungen

-Lord SelborneS bei Berathung der letzten Lord CairnS'schen Bill im

Oberhause gestatten-

Lord Selborne ist einer der hervorragendsten eng­

lischen „LawyerS" und der voraussichtliche nächste Lord Kanzler. Leider jedoch -war seine Kritik der Vorlage sehr allgemein gehalten

und

in ein hypothetisches Lob gekleidet:

„Wenn diese Bestimmungen

wirklich den und den Zweck erfüllen würden — dann — u. s. w." Vielleicht sah er seine baldige Berufung zum selbstthätigen Handeln

voraus und wollte sich nicht binden.

Der Professor Blackye in Edinburgh, ein gemäßigter Reformer, schließt

einen Artikel im diesjährigen Januarhefte der Contemporary

Review mit folgenden Betrachtungen über die Schwierigkeiten einer Reform der Landgesetzer

„Ohne Zweifel"'sagt er „wird sich gegen

unsere Vorschläge ein großes Geschrei erheben." „Indessen liegen die Schwierigkeiten der Reform nicht sowohl in der Sache selbst als in dem

allgemeinen

Mangel

an

energischem

guten Willen."

„Unsere Widersacher sind zahlreich. 1.

Es sind

die Landeigenthümer selbst; wenigstens die großen und die

nicht überschuldeten, aus Familieninteresse und Tradition.

Sie glauben —

vermöge einer gewissen gegenseitigen Bewunderung — das Heil Englands

beruhe auf dem Beharren im jetzigen Zustande.

Der einzelne steht dabei

unter der Tyrannei der Sitte und seiner Stanvesgenossen. 2.

Die Sachwalter, da deren gedeihliche Thätigkeit wesentlich vom

Fortbestehen der jetzigen künstlichen Verkehrshindernisse abhangt.

3.

Die große Masse, namentlich in den Städten.

Sie hat

sich gewöhnt, dieser unverständlichen und hoffnungslosen Frage „knurrend"

dm Rücken zu kehren.

Denn die überwiegende Majorität der Nation

kommt mit Landkauf überhaupt nicht in Berührung.

Das ist ein Luxus­

handel,, den die reiche Minorität unter sich treibt. Für einen Minister bedarf es daher zur Durchführung dieser Reform

weit mehr politischen Muthes und nachhaltiger Energie als etwa für Er­ weiterungen des Wahlrechtes, oder um den Sektirern beim Einreißen der

Staatskirche behülflich zu sein. „Man-schilt uns „RadicalS"; aber ist es nicht weit konservativer

479

Landgcsetze und Landwirthschaft in England.

im Interesse der kleinen grundbesitzenden Minorität dem stei­ genden Klassenhasse vorzubeugen und ihre Partei durch zahlreiche kleine

Grundbesitzer zu verstärken, wie das im Jahre 1808 in Preußen mit so glänzendem Erfolge geschah?

Denn wer Grundbesitzer wurde,

der wird konservativ!"

„Wie können wir auf die Länge

an die Dauer eines Systems

glauben, welches die besten Arbeiter und die brauchbarsten Soldaten zur

Auswanderung drängt?" „Hüten wir uns daß nicht ein zukünftiger Plinius über England den traurigen Ausruf wiederhole:

„Latifundia perdidere Italiam.“ Die englischen Landgesetze, ihre Beziehungen zur englischen Land­

wirthschaft und ihre Reform sind für Deutschland nicht nur ein Kapitel

aus der „Länder- und Völkerkunde".

Sie haben ein hervorragendes prakti­

sches Interesse. Gelingt es der englischen Landwirthschaft auf die Dauer nicht: der

amerikanischen Konkurrenz zu begegnen, so sinkt der Werth des Grundbe­ sitzes, dadurch auch die Macht der Besitzer, und eine erschütternde, vielleicht

stürmische Umwälzung der dortigen wirthfchaftlichen politischen und sozialen

Verhältnisse steht in Aussicht.

Nicht in nächster; vielleicht auch nicht inner­

halb einer schon jetzt berechenbaren Zeit.

Denn die erhaltenden Kräfte

sind nirgends wirksamer als in England und nirgendwo durchdringt das

aristokratische Gefühl inniger alle Klassen, namentlich die ländlichen.

In

diesem Sinne spricht die Times von der „sentimentalen" Vorliebe für

das „Land" und die „alten" Landherren.

Indessen die neuesten länd­

lichen Wahlen haben gezeigt daß dort politische Faktoren erwacht sind, mit denen man früher nicht zu rechnen gehabt hatte. Wir sind so viele Jahre hindurch gewöhnt worden, auf England als

das Land der universellen volkswirthschaftlichen Erbweisheit zu blicken daß die jüngste, in unserem DolkSkörper angeregte Reaktion gegen diesen fremden

Tropfen in unserem Blute, jedweder Unterstützung bedarf.

Hiezu dürfte

wohl auch die Erkenntniß beitragen: daß unsere Zustände in Beziehung auf Land und Landgesetze unendlich vernünftiger und gesunder, fortge­

schrittener und dadurch auf die Dauer konservatiber sind als die englischen. Jedenfalls stehen wir ebensoweit über den Engländern in der wirthschaft-

lichen Gesundheit unseres immobilen Güterlebens als sie — immerhin — über uns in der Entwickelrmg ihres mobilen Verkehrs.

Wiesbaden int April 1880.

Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts. Was unserer Natur und unseren Interessen gemäß geschieht, fühlen wir als Wohl, was ihnen widerstreitet, als Wehe.

Je nachdem unsere

Interessen verschieden sind, ist das Gefühl des Wohl oder des Wehe verschieden, welches die jenen entsprechenden

drücke in unS erregen.

oder widerstreitenden Ein­

Verschieden ist daS Gefühl sinnlicher Lust von dem

Wohlgefallen ästhetischer Eindrücke, von der Befriedigung des Gewissens,

von der Beseligung religiöser Erhebung; verschieden der sinnliche Schmerz von dem peinigenden Gefühl der Reue, von der Trauer über den Tod geliebter Personen, müths.

von der Verzweiflung

eines in sich zerrissenen Ge­

ES giebt qualitative Unterschiede der Arten des Wohl und

Wehe, welche so vielfältig sind,

als die Lebensinteressen, welche unS

erfüllen.

Je mehr

andererseits ein Eindruck

einem

und

demselben Lebens­

interesse entspricht oder ihm widerstreitet, um so größer und intensiver ist

dieselbe Art des Wohl oder Wehe, welches er uns verursacht.

Es giebt

mithin auch quantitative Unterschiede derselben Arten des Wohl oder

Wehe, welche so umfassend sind,

als das Maß der Befriedigung oder

Nichtbefriedigung, deren unsere Interessen fähig sind. Aber wir selbst sind veränderlich, unsere Interessen sind wechselnd,

verschieden sind die Naturen aller Menschen unter einander,

und vielfach widerstreitend ihre Interessen.

wechselnd

Wir würden zu keiner Ver­

ständigung über bestimmte Arten von Wohl und Wehe kommen können,

wenn jene Verschiedenheiten der Naturen und LebenSinjeressen von Person zu Person ganz maßlos und unberechenbar wären, wenn wir selbst nur

dem Augenblicke lebten und nicht in der Erinnerung die früheren Erleb­ nisse festzuhalten und mit späteren und gegenwärtigen zu vergleichen ver­

möchten, wenn nicht gewisse Jntereflen konstant und geeignet wären, Maß­

stäbe der Vergleichung deS erlebten Wohl und Wehe zu liefern.

In der

That ergeben sich nicht nur aus der gleichen körperlichen Organisation

Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.

und der Ähnlichkeit der geistigen Veranlagung

konstante Neigungen und Bedürfnisse, übereinstimmen,

sondern eS

481

aller Menschen

gewisse

in denen alle mehr oder weniger

giebt bekanntlich auch bestimmte Werth -

kategorieen von allgemeiner und nothwendiger Geltung, welche geeignet sind, allgemein-gültige und allgemein-verständliche Maßstäbe der Vergleichung und Schätzung aller Arten des Wohl und Wehe abzugeben.

Allen gemeinsam und für alle von mehr oder weniger zwingender Gel­ tung ist daS Gewissen, das Gefühl deS Sollens und fein begriffs­

mäßiger Ausdruck:

der Gedanke einer Bestimmung.

Für den nor­

malen Menschen ist die Erreichung seiner Bestimmung daS höchste LebenSintereffe und das, was diesem am vollkommensten entspricht, qualitativ

und quantitativ daS höchste Gut.

Gut der Maßstab

In letzter Instanz ist dieses höchste

aller anderen Güter, denn jenem

obersten Lebens­

interesse sind alle anderen untergeordnet, ihre Befriedigung kann für den

normalen sittlichen Menschen nur insoweit als Wohl oder Wehe ge­ fühlt werden, als sie jener Bestimmung direkt oder indirekt mehr oder

weniger entspricht.

Diese kurze Erinnerung an einen, jedem unbefangenen Beobachter deS Lebens klar und offen vorliegenden Sachverhalt läßt uns die hohe Bedeutung erkennen, welche neben den Fähigkeiten des Vorstellens und

Wollens dem Vermögen deS Gefühls für die Gestaltung und Entwick­ lung des menschlichen Lebens innewohnt.

Im Gefühl erleben wir die

specifischen Werthe, welche unsere Vorstellungen

beleben

und unseren

Willen zur Thätigkeit aufregen, im Gefühl offenbart sich daS in­

haltliche Moment des Lebens, es ist der Quell des Lichts, der Far­ ben und Töne, welche unS das Bild der umgebenden Außenwelt zu einer lebendigen Wirklichkeit

gestalten,

aus ihm entspringen die ästhetischen,

sittlichen und religiösen Regungen, welche unserem Dasein erst Farbe,

Werth und Inhalt geben.

Nur eine dem Leben abgewandte Spekulation kann sich über die Bedeutung dieses wichtigsten LebensfactorS täuschen, durch dessen Elimi­ nation der Weltproceß zu einem nichtigen Schattenspiele herabgewürdtgt wird.

Wir finden den Versuch solcher Elimination am energischsten nnd

konsequentesten von dem modernen Pessimismus durchgeführt.

Eduard von Hartmann, der Urheber

dieser neuen Lehre,

statutrt

als einzige Elemente des Weltprocesses nur den Willen und die Vor­

stellung. ihm nicht

DaS Gefühl, daS Organ der Werthschätzung, wird von als ein jenen beiden Elementen

coordinirter und von ihnen

specifisch verschiedener ursprünglicher GeisteSfactor anerkannt.

An seine

Stelle wird ein bloßes Nebenprodukt des Willens, die Lust oder Un» Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1. Heft 5.

35

Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.

482

lüft eingeschoben, welche sich mit der Befriedigung oder Nicht­ befriedigung deS Willens verbinden soll.

sich leer und ohne jeden Inhalt sein soll,

Da der Wille nun an

da eS specifisch verschiedene

Arten deS Willens, deren Werth nach dem Werthe der gewollten Gefühls­ inhalte bemessen werden könnte, in dem Hartmann'schen Systeme nicht

giebt, so kann eS hier auch nur verschiedene Grade, nicht qualitativ ver­ schiedene Arten seiner Befriedigung, mithin nur quantitativ verschiedene Grade, nicht specifisch verschiedene Arten von Lust oder Unlust geben. Diese aus speculativen Erwägungen dem wirklich beobachteten, un­ mittelbar erlebten Sachverhalte substituirte und ihm total widersprechende

Aufstellung der Philosophie des Unbewußten fordert eine fundamentale Umgestaltung der gesammten Ethik. Beruht die bisherige Ethik auf dem gefühlten Werthe deS durch die sittliche Lebensarbeit zu realisirenden Zieles, so muß dieses Funda­

ment in sich zusammenfallen, wenn eS überhaupt keine anderen Werthe, keine anderen Arten von Glückseligkeit mehr geben kann als solche, welche in der Befriedigung eines an sich inhaltlosen, blinden und unersättlichen Willens bestehen.

Eine solche Glückseligkeit würde auf einem Niveau

mit der sinnlichen Lust stehen, das Ziel ihrer Befriedigung wäre nur schnöde Selbstsucht, sie könnte nur zum QuietiSmuS führen, ihre Erlan­

gung kann nicht das Ziel der menschlichen Bestimmung sein.

innerhalb

Will man

des Gesichtskreises der Philosophie deS Unbewußten, welche

die Welt der Werthe und deS lebendigen Inhalts

in Trümmer schlägt

und ihr ein aus Wille und Vorstellung zusammenconstruirtes Schatten­

bild substituirt, trotzdem nach einem

Stützpunkte der Ethik suchen,

in der Gefühlssphäre

telegenen

so kann nicht der kümmerliche Rest von

Glückseligkeit, der jenem Schattenbilds noch anhaftet, sondern nur allen­

falls das Gegentheil derselben, das Leid, einen solchen darbieten. Eduard von Hartmann hat in der That kürzlich in einem Aufsatze

der Zeitschrift „Nord und Süd" (Jahrgang 1880 Heft 1 Seite 23—55)*) über die Bedeutung des Leids den Versuch gemacht, jenen Stützpunkt

zu verwerthen. Es ist meine Absicht, die Kehrseite deS dort vor uns aufgerollten Bildes zu zeigen und die Bedeutung des Wohls und seiner vorzüg­

lichsten Arten auf die ethische und tntellectuelle Entwickelung deS Menschen­ geschlechts in kurzen Umrissen hervorzuheben.

Für das Gemeinsame der

verschiedenen Arten des Wehe hat unsere Sprache den gemeinsamen Aus­

druck des Leids geschaffen.

Für das Gemeinsame der verschiedenen Arten

*) Der Aufsatz ist seitdem wieder abgedruckt in dem Buche: Zur Geschichte und Be­ gründung de« Pessimismus von E. v. Hartmann. Berlin. C. Duncker. 1880.

Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.

des Wohls giebt es keinen gleich

unzweideutigen Ausdruck.

483 Ich habe

daher die wichtigste Art deS Wohls, das höchste Gut, d. h. denjenigen Werth, welchen wir dem Ziele unserer sittlichen Bestimmung beilegen, als

Titel dieser Abhandlung gewählt und durfte daS mit gutem Recht, da,

wie ich schon andeutete und noch näher begründen werde, alle Arten deS Wohls ihr Wesen von jener höchsten gleichsam zu Lehen tragen, jedenfalls aber ihr alle untergeordnet sind.

Nur dadurch kann dem im Gewissen sich offenbarenden Gefühle deS Sollens die verbindliche Kraft erwachsen, daß dasjenige, was durch unser

sittliches Handeln realisirt werden soll, uns als ein unbedingt WerthvolleS sich darstellt.

Werthe existiren nur im Gefühle desjenigen, der

sie erlebt, das Ziel unserer Bestimmung muß deshalb auf ein Gut ge­ richtet fein, besten Güte wir selbst zu erleben und zu fühlen vermögen, mag es um unserer selbst, oder um anderer, oder um Gottes, oder gar

im Hartmann'schen Sinne um irgendwelcher „objectiver Zwecke" willen als Gut geschätzt werden.

Jedes Ziel eines überlegten Handelns überhaupt

muß, wie es im Uebrigen auch beschaffen sein mag, jedenfalls auf Realisirung irgend eines vorgestellten, im Gefühle erlebbaren Werthes ge­ richtet sein, sonst verliert eS selbst den Charakter eines Zieles und daS

Handeln den Charakter der Ueberlegung.

Selbst wenn wir blos aus

Etiquette oder eines nichtigen Spieles wegen handeln, so thun wir es doch nur

deshalb,

weil

uns die Befolgung der Etiquettevorschriften

wünschenSwerth oder das Spiel unterhaltend ist.

Die Herstellung eines

ganz indifferenten, rein faktischen Zustandes kann nicht der Zweck eines

überlegten Handelns, sondern nur das Resultat eines mechanischen Ge­

schehens sein.

Nicht mit diesem beschäftigt sich die Ethik, sondern mit

dem überlegten verantwortlichen Handeln.

Nur solche Ziele haben da­

her ethische Bedeutung, welche einer Werthschätzung unterliegen.

Die

Frage ist nicht, ob ein Werth, sondern welche Werthe geeignet erscheinen, daS Ziel

unserer sittlichen Bestimmung

zu bilden oder zu befördern,

welches Gut als das höchste Gut zu betrachten sei? Nur der verderbliche Hang der menschlichen Speculation, die Vor­

stellungen und Begriffe von ihren lebendigen Substraten zu trennen und als Realitäten für sich zu behandeln und der triviale, von dem platten

Rationalismus des vorigen Jahrhunderts sanktionirte Sprachgebrauch, unter Glückseligkeit gemeinhin nur daS sinnliche Wohlbehagen zu ver­ stehen, konnte überhaupt die Aufwerfung der ersteren Frage veranlassen. Auch Kant wurde namentlich durch den letzteren Umstand veranlaßt, den Gedanken der Bestimmung von seinem eigentlichen Inhalte, dem höchsten

Gute loszutrennen und als formales Gebot für sich an die Spitze der

35*

484

Der Pessimismus und die Bedeutung beS höchsten Guts.

Ethik zu stellen.

Nur die Polemik

gegen das Glückseligkeitsideal deS

Rationalismus drängte ihn dazu, jenem formalen Gebote die „Glück­ seligkeit" als etwas der echten Sittlichkeit Fremdartiges oder gar Feind­

liches entgegenzustellen.

Kant meinte aber keineswegs, was Eduard von

Hartmann ihm Schuld giebt, die Glückseligkeit überhaupt, sondern nur eine bestimmte Art derselben, die gemeine Selbstsucht deS sinnlichen Wohl­

behagens.

Er fühlte sehr wohl den Werth

der sittlichen Bestimmung

dieses Gefühl des unendlichen Werths der sittlichen Bestimmung

und

allein bewog ihn zu jener Entgegensetzung, indem dieses Gefühl ihm viel zu erhaben schien, als daß er eS dem Begriffe dessen hätte unterordnen

mögen, was man damals unter Glückseligkeit verstand.

Er brachte sich,

was er tief und sicher fühlte, nur nicht scharf und klar genug zum wissen­ schaftlichen Bewußtsein,

gefühle

als dem

sonst hätte er ganz unzweifelhaft jenem Werth­

lebendigen Inhalte deS Sittengesetzes, in dessen

be­

griffsmäßiger Formulirung einen bestimmteren Ausdruck gegeben und eS ausdrücklich als dasjenige Moment hingestellt, welches jenem erst die ver­ bindliche Kraft verleiht.

Das beweist sein Versuch, den von dem Pflicht­

begriffe abgetrennten Gedanken deS höchsten Guts später auf einem Um­ wege wieder damit zu vereinigen, das beweist vor Allem die begeisternde

Wirkung, welche seine praktische Philosophie auf die Zeitgenossen und die

Nachwelt auSübte. Versuchen wir zu analysiren, was dem Gefühle deS Sollens jenen

Character

der

Allgemeinheit

und

Stimme des Gewissens innewohnt,

Nothwendigkeit

so werden

giebt,

welcher

der

wir drei unabweisliche

Voraussetzungen als in und mit ihm gegeben vorfinden, ohne welche eS

das nicht wäre, was es ist, ohne welche eS nicht das Fundament aller

Ethik sein könnte. 1.

Das Ziel unserer Bestimmung erscheint uns nicht nur im All­

gemeinen als werthvoll oder als relativ höchster Werth, sondern als ein

unbedingt werthvolleS. 2.

Unbedingt werthvoll kann unS jenes Ziel nur unter der wetteren

Voraussetzung erscheinen, daß der ganze Weltproceß ein teleologisch bestimmter und 3.

daß die Erreichung unserer individuellen sittlichen Le­

bensaufgabe den Weltproceß irgendwie zu fördern geeignet ist. Geböte unS das Gewissen nicht, jenes Ziel als ein unbedingt werth­

volleS aufzufaffen, so fehlte ihm jene Würde und Heiligkeit, welche das Wesen des Sittlichen ausmachen, eS gäbe alsdann überhaupt

keine Sittlichkeit, sondern nur Utilitarismus und Eudämonismus. Etwas unbedingt WerthvolleS kann eS aber nur geben, wenn der ganze

485

Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.

Weltproceß ein einheitlicher zweckbestimmter ist, denn wenn eS unberechen­ bare Momente des Geschehens gäbe, welche den thatsächlichen Lauf der Welt beeinflussen, seine Richtung verändern, seine Ziele zweckwidrig durch­

kreuzen könnten, so wären alle Werthe nur von relativer Geltung und

Bedeutung.

Unbedingt werthvoll kann aber auch dann, wenn diese Vor­ nur dasjenige sein,

aussetzung erfüllt ist,

was den Inhalt des

WeltzweckeS selbst ausmacht oder ihn zu fördern bestimmt ist.

Indem das Gefühl des Sollens unS gebietet, das zu sollen, was

unserer Bestimmung gemäß ist und seine Aussprüche von unS als er­ haben und heilig erfaßt werden, offenbart unS das Gewissen, daß

eS einen unbedingt werthvollen Weltzweck giebt, welcher das Wesentliche aller Wirklichkeit in sich begreift, Erreichung

unserer

und daß

sittlichen Lebensaufgabe ihn

an

die

ihrem

Theile zu fördern bestimmt ist und eS offenbart uns diese

höchste Wahrheit mit demselben zwingenden Gefühle der All­ gemeinheit und

Nothwendigkeit

welches

allen

seinen Aus­

sprüchen den Charakter der Unfehlbarkeit verleiht. Dieser ursprünglich gegebene Sachverhalt der unmittelbaren LebenS-

wtrklichkeit bildet das Fundament aller Ethik und die theoretische Be­

gründung ihres Princips kann nur darin bestehen, die von unS beobachteten Ereignisse des Weltlaufs als Momente der Zweckbewegung des gesammten

WeltprocesseS zu begreifen und auS ihnen den Inhalt des Weltzwecks und

die Art zu deuten, wie die Erreichung unserer individuellen Lebensaufgabe ihn zu fördern geeignet sei. Erwägen wir alle obigen drei Voraussetzungen, welche in dem Ge­ danken unserer Bestimmung aprioristisch gegeben sind, und suchen ihn mit dem Ganzen der unserer Beobachtung sich darbietenden Weltwirklichkeit in

Einklang zu bringen, so erhält, wie ich schon bei einer früheren Gelegen­ heit*) dargelegt habe, der Gedanke unserer Bestimmung auf dem Boden

der gegebenen Lebenswirklichkeit nur dann einen verständlichen Abschluß, wenn man sich daS Wesenhafte aller Wirklichkeit

Persönlichkeit Gottes

gegeben

denkt,

in

in

der lebendigen

dessen zweckbestimmtes Leben

der Mensch nicht blos factisch und essentiell, sondern auch gemüthlich

mit seinem ganzen LebenStnteresse in Ehrfurcht und Liebe verbun­

den ist.

Nur eine solche Weltauffassung kann begreiflich machen, wie

daS höchste Lebensinteresse, das Leben in seiner Vollendung, daS heißt

die

Erfüllung der Aufgabe,

der Idee des

Lebens

in Wahrheit die

höchste Glückseligkeit, und wie zugleich daS Ziel des WeltprocesseS ein

*) Göttinger gelehrte Anzeigen 1878 Stück 35 S. 1116 sqq.

Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.

486

unbedingt werthvolles sei, dem jene Würde und Heiligkeit innewohnt,

welche dem Streben danach den Charakter der Sittlichkeit verleihen.

Nur

eine solche Weltauffassung kann den Grund der sittlichen Verpflichtung,

ihre verbindliche Kraft, theoretisch erklären, indem sie anschaulich macht, daß dieser Grund nothwendig mit dem höchsten denkbaren Gut zusammen­

fällt und daß dieses von unbedingtem Werthe ist.

Aus der Weltansicht der Philosophie des Unbewußten läßt sich der

Grund der sittlichen

Verpflichtung

nicht

erklären.

Zwar

behauptet

Eduard von Hartmann, daß der Weltproceß ein zweckbestimmter und die individuelle Lebensaufgabe ihn zu fördern bestimmt sei, aber die metaphy­ sischen Voraussetzungen seines Systems Widerstreiten jener Behauptung

und,

was die Hauptsache ist:

Das Ziel des WeltproceffeS stellt sich in

seiner Auffassung nicht als ein unbedingt, sondern höchstens als ein

relativ werthvolles, ja als ein höchst kümmerliches, als das geringste Uebel dar.

Zwecke können nur im bewußten persönlichen Geistesleben existent werden.

Der Begriff deS Zweckes setzt ein Wesen voraus, welches nicht

nur Vorstellungen hat, sondern sich deren auch bewußt ist, welches die Werthe der vorgestellten Objecte und Ziele zu wägen, das heißt mit seinem

eigenen Lebensinteresse in Beziehung zu setzen vermag, sich also nicht nur deS letzteren, sondern auch deS Werthes der vorgestellten Objecte und Ziele

bewußt werden kann, denn die Beziehung, Vergleichung und Ab­

schätzung sind lediglich Thaten deS Bewußtseins.

Zwecke kann

daher nur ein solches Wesen haben, welches sich seiner selbst und der

Vorstellungen bewußt ist, die eS hat, welches seine eigenen LebenSmomente mit einander und mit einer vorgestellten Außenwelt in Beziehung zu setzen vermag, welches also nicht blos ein Individuum ist, dem nur die Ein­

heit des Wesens zukommt, sondern welches zugleich lebendige Per­

sönlichkeit ist,

mente

daS heißt ein Individuum, welches die Mo­

seines Lebens

durch

das

beziehende Bewußtsein

zu

einer Einheit von höherer Art zusammenschließt. DaS Unbewußte ist nicht Persönlichkeit und kann daher keine Zwecke haben. Ist der Welt­ proceß blos eine Phase im Leben deS „Unbewußten", so kann eS keinen

Weltzweck geben und giebt es keinen Weltzweck, so kann eS auch nicht ein

sittliches Lebensziel von unbedingtem Werthe geben. Eben deßhalb, weil Eduard von Hartmann den Begriff des unbe­ dingten Werthes nicht kennt, weil er überhaupt nur quantitativ unter­

schiedene Grade von Lust und Unlust,

nicht aber specifisch verschiedene

Arten derselben gelten läßt, drängt die Consequenz seiner Lehre zu dem

Pessimismus, der den Werth des Lebens überhaupt negirt.

DaS Gefühl

487

Der Pessimismus und die Bedeutung de» höchsten Gut».

deS unbedingten Werthes, welches wir mit dem Gedanken unserer Be­ stimmung verbinden, ist eben die ewige und unvergängliche Sonne, deren erwärmende Strahlen unser Leben erhellen und ihm allein erst Farbe und Inhalt geben, deren Reflexe selbst die tiefsten Schatten deS Leides ver­

scheuchen, wenn wir ihnen nur den Eingang in unser Herz nicht durch Unverstand oder bösen Willen verschließen. Ein beseligender Strahl

dieses Lichtes wird nicht durch ein Leben voll Leides ausgewogen.

Die

Bilanceziehung von Lust und Unlust ist schon dann eine unausführbare Operation, sobald man nur die qualitative Verschiedenheit und Jncommen-

surabilität der zu addirenden und subtrahirenden freudigen oder schmerz­

lichen Gefühle mit in Rechnung zieht; die HerauSrechnung einer Unter« bilance ist unmöglich, sobald man den einen Factor deS unbedingten

Werthes unserer Bestimmung mit in Rechnung zieht, vor dessen Majestät der Pessimismus in Trümmer sinkt.

Der Besitz dieses Kleinods erhebt

das Leben jedes wahrhaft sittlichen Menschen zu einem Gut von unendlich hoher Bedeutung, dessen Werth durch keine Schicksals­

schläge, durch keine Unsumme noch so bitteren LeideS ausgewogen werden kann.

Auf dem Besitze desselben allein beruht der ganze Adel der mensch­

lichen Natur; er allein ist die Quelle aller gesunden Werthschätzung deS

Lebens in allen Branchen und Beziehungen. Streichen wir jenes Gefühl des unbedingten Werthes unserer Be­

stimmung, so wird eS Nacht in unserem Innern, alle Momente des

Lebens, deren specifisches Glück nur durch die Rückbeziehung

auf jene

Lichtquelle unseres Daseins Inhalt, Kraft und Bestand erhielten, werden entwerthet, das Leben selbst eine unerträgliche Last.

Dann, aber auch

nur dann, nur nach solcher Verstümmelung der sich energisch darbietenden

Lebenswirklichkeit mag der Pessimismus eine Wahrheit, das Nichtsein dem also entwertheten Sein vorzuziehen sein.

Daß daS Nichtsein besser sei als das Sein, weil die Totalbllance der Lust und Unlust für jedes Leben nothwendig einen Ueberschuß der Unlust ergäbe, daS ist die Lehre deS Pessimismus.

Daß der Zweck des

Weltprocesses auf die Vernichtung alles Bestehenden, auf die Wiederauf­ hebung der durch den dummen unersättlichen Willen deS „Unbewußten"

entstandenen Welt gerichtet, daß die sittliche Lebensarbeit von Millionen

und aber Millionen ehrlich strebender und ringender Menschen auf die Beseitigung der Folgen eines unvernünftigen Einfalls des Absoluten gerichtet sei, der sich, wenn er endlich wieder gut gemacht, wenn die Welt

wirklich einmal vernichtet sein sollte, jeden Augenblick mit der Wahrschein­

lichkeit von '/, wiederholen kann, denn das Unbewußte kann nichts lernen und sich nicht bessern: — DaS ist der Grundgedanke, worauf die Ethik

488

Der Pessimismus und die Bedeutung de« höchsten Guts.

Eduard von Hartmann'S beruht; dies ist das höchste Gut, welches' Eduard von Hartmann uns als Ziel der sittlichen Lebensaufgabe hinzu­ stellen versucht!

Jedermann sieht ein, daß dieses Ziel nicht nur kein höchstes, sondern

gar kein Gut sei, daß ihm nicht ein Schatten jene- unbedingten

EigenwertheS, jener inneren Würde und Heiligkeit innewohnen könne, welche, wie wir gesehen haben, dem sittlichen Ziele

unserer Bestimmung thatsächlich leihen.

die verbindliche

Kraft ver­

Die Weltansicht des Pessimismus entspricht daher nicht jenen

a priori im Gewissen offenbarten Voraussetzungen über Sinn und Ziel deS Weltprocesses.

Sie ist nicht im Stande, die gegebene Thatsache

des Gewissens theoretisch zu rechtfertigen, sondern mit dieser Thatsache völlig unvereinbar.

Will man dieser Thatsache gegenüber die Wahr­

heit der Weltansicht des Pessimismus behaupten, so bleibt nichts übrig, als jene entweder ganz wegzuleugnen oder sie so zu mißdeuten, daß der

Widerspruch nicht mehr in die Augen fällt. Hartmann in der That.

Letzteres versucht Eduard von

Er erklärt daS Pflichtgefühl als einen Instinkt,

der aus der Nacht des Unbewußten stamme, den das Unbewußte in unS

gesetzt habe, um unsere sittliche Lebensarbeit zur Realisirung seiner un­ bewußten Zwecke zu gebrauchen, als eine Triebkraft von blos formalem

Charakter, welche unS über den Inhalt dessen, was wir sollen, nicht

belehre.

Eine nichtige Hypothese über die Entstehung deS.

Pflichtgefühls soll unS über dessen in unmittelbarem Geistesleben offen­

barte wahre Natur und dessen sittlichen Charakter hinweg täuschen, indem sie die Frage nach dessen Inhalt und den mit diesem a priori gegebenen

Voraussetzungen über Sinn und Bedeutung deS Weltganzen, durch Ver­ weisung auf die Nacht deS Unbewußten zu beschwichtigen sucht!

Aber

jener, der verbindlichen Kraft deS Sittengesetzes substituirte Instinkt er­

scheint seinem Erfinder selbst nicht stark genug, die viel mächtigere

Triebkraft deS Egoismus zu überwinden und dadurch erst der Ethik Raum zu schaffen.

Es

müssen als unabweisliche Voraussetzungen der Ethik

noch andere Surrogate jener verbindlichen Kraft hhpostasirt werden*).

Vor Allem gehört dazu die Erkenntniß der Werthlosigkeit alles Bestehenden.

So lange das Individuum sich noch in der Illusion bewegt, daß es durch sein Handeln irgend eine Glückseligkeit erlangen könne, so lange wird der

Trieb nach Erreichung dieser Glückseligkeit, die Selbstsucht, alle ethischen

Regungen in ihm ersticken, denn ein höheres Gut, welches von ihm als *) Ich verweise in Betreff derselben auf meinen Aufsatz über „die Ethik de- Pessimis­ mus" in den Preußischen Jahrbüchern (Bd. XLIIL Heft 4 S. 375 sqq.), wo die­ selben ausführlicher besprochen sind, als der Zweck dieser Abhandlung es erfordert.

Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.

489

werthvoller wie die Ziele des Egoismus gefühlt werden, welches eben durch das Gefühl seines höheren Werthes die verbindliche Kraft in sich tragen könnte, giebt eS ja in dieser alle Werthe nivellirenden und auf

den Gesichtskreis deS Egoismus reducirenden Philosophie nicht.

Nur erst

dadurch, daß das Individuum durch den Pessimismus zu der Einsicht

„emporgeläutert" wird, daß für es selbst in der Welt gar nichts mehr

zu machen

sei, daß Alles

eitel, und die Totalbilance aller Lust und

Unlust nothwendig einen Ueberschuß der letzteren ergäbe, „Selbstverleugnung" und zur Sittlichkeit getrieben werden.

sicht,

daß die Trauben sauer sind,

machen.

soll eS zur

Nur die Ein­

kann den Pessimisten zum Ethiker

Deßhalb soll der Pessimismus die nothwendige Voraussetzung

aller Ethik sein. Weil die eigenen ethischen Principien an sich zu dürftig und an sich nicht stark genug sind, es mit den realen Lebensmächten auf­

zunehmen,

deßhalb wird der Pessimismus als ethische Voraussetzung in

Scene gesetzt, um vor Beginn der sittlichen Lebensarbeit jene realen Lebensmächte zu entwerthen und unschädlich zu machen.

Das

„in sich völlig bankerotte" Individuum, das aller Lebenshoffnungen und

aller Versuchungen baar und dadurch „zur Selbstverläugnung emporgeläuterl" ist, wird ja nach jedem Strohhalm greisen, der ihm als sittliches

Ziel vorgehalten wird.

Es geräth in seiner pessimistischen „Selbstver­

leugnung" zunächst auf den edeln Einfall, das Wohl anderer zu fördern,

doch wiederholen sich hier dieselben Erwägungen, da eS ja kein Wohl

anderer Einzelindividuen giebt, indem sich auch für diese kein Lust­

überschuß herauswirthschaften läßt.

Die Culturentwickelung wird deß­

halb als weiteres Ziel der Ethik hingestellt.

gebrauch, welcher gestattet, Staat",

ja

Der verbreitete Sprach­

auch „die Familie, die OrtSgemeinde, den

die ganze Menschheit in corpore als Individuum zu be­

zeichnen, wird in seiner Bildlichkeit ohne Weiteres für baare Wirklichkeit genommen;

eS werden „Individuen höherer Ordnung" creirt und die

Beförderung ihres Wohls als Ziel deS „evolutionalistischen Moralprincips" hingestellt.

Doch auch dieses weitere Ziel der sittlichen Bestimmung er­

klärt noch nicht die verbindliche Kraft des Sittengesetzes.

Um diese zu

begründen, wird auf ein metaphysisches Fundament, die „Wesensidentität" aller Individuen mit einander und mit dem Absoluten zurückgegrtffen. Erst die Einsicht, daß das Individuum mit dem Absoluten wesensidentisch,

dessen Interessen also auch seine eigenen seien, verbunden mit der Ueber­

zeugung, daß das Absolute nur zur Ruhe kommen und von seinen „GotteS-

schmerzen, die eS wie ein beständig juckender Ausschlag plagen" durch die „Vernichtung des qualvollen AllseinS" erlöst werden könne, soll die ver­

bindliche Kraft unserer sittlichen Bestimmung begründen, welche darauf

Der Pessimismus und die Bedeutung deS höchsten Guts.

490

gerichtet sein soll, „an der Abkürzung dieses Leidens- und Erlösungsweges

mitzuhelfen". Dieses sind in kurzen Umrissen die metaphysischen und ethischen

Grundgedanken, auf welchen die Betrachtungen Eduard von Hartmann's über die Bedeutung deS Leids beruhen.

Aber der geistreiche Mann ver­

steht eS, die ungeheuerlichen Verkehrtheiten derselben geschickt zu verhüllen

und seine Ansichten den Lesern

mundgerecht zu machen, indem er an

zweifellose Thatsachen der Erfahrung anknüpft und deren ethische Bedeu­ tung in seinem Sinne zu verwerthen sucht, obgleich jene ethische Bedeutung

auf Voraussetzungen beruht, die den seinigen schnurstracks zuwiderlaufen.

Niemand wird bestreiten, daß „das Leid dazu anspornt, die Ursachen

zu erkennen, zu beseitigen oder ihrer Wiederkehr vorzubeugen, daß es da­ durch den Verstand übt, stärkt und zu weiterer Entfaltung führt", daß eS

insbesondere „eine der vorzüglichsten Gelegenheiten zur realen Entfaltung, zur Stärkung, Läuterung und Veredelung der sittlichen Kraft sowie zur Vertiefung deS sittlichen Bewußtseins sei", daß eS den Menschen dazu

antreibt „in die Tiefe deS eigenen Busens zu greifen und in den Idealen seines sittlichen

Bewußtseins

den wahren Maßstab finden

lehre, die

Nichtigkeit deS Nichtigen zu erkennen und zu einer ernsteren Auffassung

und Wahrnehmung der Lebenspflichten" führt.

Gewiß

„giebt es kein

Leid, fei eS groß oder klein, leicht oder schwer, vorübergehend oder dau­ ernd,

lähmend oder tödtlich,

aus dem nicht eine Quelle des reichsten

Segens abzuleiten ist, wenn die sittliche Gesinnung eS richtig an­

sängt." Fragen wir aber nach den Voraussetzungen, welche eine solche segens­

reiche Wirkung des Leides bedingen, so stellt sich alsbald heraus, daß

dieselben mit der Ethik deS Pessimismus ganz unvereinbar sind.

Worin

anders besteht denn die segensreiche ethische Wirkung des Leides als darin,

daß dieses

den in Oberflächlichkeit und Sinnlichkeit Befangenen dazu

drängt, bei sich einzukehren und in dem Bewußtsein seiner sittlichen Be­

stimmung ein Gut zu entdecken, welches unzerstörbar und un­

endlich werthvoller ist als die vergänglichen Güter, woran er bisher sein Herz gehängt hatte, daß eS in edler angelegten Naturen

jenes schon entwickelte Bewußtsein noch vertieft und läutert und sie an­ treibt, den unbedingten Werth jenes Gutes um so höher zu schätzen? Wenn es nun jenes Gut in der That gar nicht geben soll, wenn

alle Glückseligkeit nur als Befriedigung eines der rohen Naturkraft ver­

gleichbaren blinden Willens gedacht werden könnte, wenn wirklich alles eitel und die Vernichtung alles Bestehenden das höchste und letzte Ziel

deS Lebens wäre, so würde doch ganz offenbar das Leid jenes

Der Pessimismus und die Bedeutung de« höchsten Guts.

491

Trostes und jener Weihe entbehren, worin seine sittliche Be­ deutung liegt und alle Sophismen unseres Philosophen vermöchten kein

äquivalentes Surrogat dafür zu schaffen. DaS Leid, wenn wir darunter ein wirkliches ernsthaftes Leid und nicht blos ein gedachtes Schattenbild

des Leides verstehen wollen, würde dann einfach zur Verzweiflung führen, welche alle Thatkraft und sittliche Energie lähmt, anstatt sie anzuspornen. Was sollen uns alle die schönen Reden von „der Vertiefung deS sittlichen

Bewußtseins" und dessen „Idealen", wenn man doch eingestandener­ maßen einer Weltansicht huldigt, in welcher eS kein sittliches Bewußtsein und keine Ideale geben kann?! Der noch so freigebige

Gebrauch der leeren Worte kann doch die fehlenden Begriffe nicht ersetzen! Wir wiederholen eS: das pessimistische Ziel der Weltvernichtung entbehrt der inneren Würde und Heiligkeit, welche dem darauf gerichteten Streben den Charakter der Sittlichkeit geben und das Bewußtsein solchen Strebens zu einem sittlichen Bewußtsein machen könnten. Es giebt

in der Weltansicht des Pessimismus kein sittliches Bewußtsein und keine Ideale eines solchen; eS giebt in ihr nichts, was dem Leide sittliche Be­ deutung verleihen könnte.

Wenn wir deßhalb auch zugeben, daß das

Leid thatsächlich im Allgemeinen die sittliche Kraft stärke und daS sitt­ liche Bewußtsein vertiefe, so müssen wir doch bestreiten, daß der Hartmann'sche Standpunkt diese Thatsache zu erklären und zu rechtfertigen

vermöge. Die Hervorhebung dieser an sich nicht zu bezweifelnde Thatsache in dem bezeichneten Aufsatze war jedoch nur bestimmt, die weiteren Be­ hauptungen einzuletten, welche erst die fundamentale Bedeutung deS Leides für den pessimistischen Standpunkt Eduard von Hartmann'S in das rechte Licht setzen sollen. Wie eine zweifellose Folgerung aus jener Thatsache, ohne weiteren Nachweis und ohne weitere Begründung wird nämlich von Herrn von Hartmann als ganz selbstverständlich angenommen, daß nur daS Leid die sittliche Kraft zu erwecken und zu stärken vermöge, und die positive Be­

hauptung hinzugefügt, daß daS Gegentheil des Leides, die Glückseligkeit nothwendig zum Quietismus führen und die sittliche Kraft lähmen und beeinträchtigen müsse.

Ersteres ist jedoch eine ungerechtfertigte Uebertreibung und letzteres einfach nicht wahr. Die Glückseligkeit führt nur dann zum Quietismus, wenn wir darunter blos das sinnliche Wohlbehagen verstehen und davon absehen, daß eS höhere Arten der Glückseligkeit giebt, deren Eigenwerth ihre sittliche Bedeutung begründet. Wir haben gesehen, daß daS Wesen der

492

Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Gut».

Sittlichkeit grade darin besteht, daß das Ziel der menschlichen Bestimmung

a priori im Gewissen von uns als unbedingt werthvoll gefühlt wird, indem die Würde und Hoheit dieses unbedingt werthvollen Zieles allein erst dem darauf gerichteten Streben den Charakter der Sittlichkeit verleiht.

Die Erreichung seiner Bestimmung ist das höchste Lebensinteresse des sitt­ lichen Menschen, und das, was jene Bestimmung am meisten zu fördern

geeignet ist, wird von ihm als höchste Glückseligkeit empfunden. Unsere sittliche Bestimmung wird am meisten gefördert durch den kon­

sequent auf das Gute gerichteten Willen, durch die Begeisterung des Ge­ müths, welches nach dem Höchsten strebt, durch die energische Thatkraft,

welche aus jener Begeisterung

entspringt und

keine Mühe und

keine

Entbehrung scheut, das vorgesteckte Ziel zu erreichen; sie wird mehr oder

weniger gefördert durch Alles, was unser geistiges und körperliches

Leben erfrischt und stärkt und es dadurch fähiger macht, seine Aufgabe zu erfüllen durch rüstige Arbeit, Gesundheit, Familienglück, Ordnung der wirthschaftlichen und politischen Verhältnisse, durch die belebenden Anre­ gungen der Kunst, durch den Ernst des wissenschaftlichen Strebens, durch die ästhetisch

erquickenden Eindrücke unserer landschaftlichen Umgebung,

durch den Sonnenschein des Tages und die Sternenpracht des nächtlichen Himmels, durch die ganze leuchtende und klingende Welt unserer Sinn­

lichkeit, mit einem Wort durch Alles, was dem sittlichen Menschen

Glück und Befriedigung schafft.

Denken wir uns andererseits einen ganz idealen Menschen, welcher keine andere Lebensinteressen hat als solche, welche mit seiner sittlichen

Bestimmung im Einklang stehen, dessen Handeln, Dichten und Trachten

bis in alle Einzelheiten durch das Gefühl der Begeisterung für sein ideale-

Lebensziel bestimmt ist, so wird ein solcher kaum noch der Aufmunte­ rung des Leides in dem vorerwähnten Sinne bedürfen; manche Arten deS Leides werden

eher hemmend

auf die Entwickelung seiner

Geistes- rind Körperkräfte einwirken und iitsoweit die Erreichung seiner sittlichen Lebensaufgabe beeinträchtigen.

Für den wahrhaft sittlichen Menschen, dessen Verhalten doch die Regel

bilden soll,

verhalten,

dürfte

als Eduard

sich

die

Sache mithin nahezu umgekehrt

von Hartmann uns einreden möchte.

Einen

solchen führen die mannigfachen Arten der Glückseligkeit jeden­ falls nicht zum Quietismus, sie wirken vielmehr belebend und

fördernd auf die Entfaltung seiner dem höchsten Lebensideale schon geweihten Kräfte, während ihm das Leid vielfach hem­ mend entgegentritt.

Die Steigerung der sittlichen Cultur wird deß­

halb die ethische Beihülfe des Leides im Ganzen entbehrlicher machen.

493

Der Pessimismus und die Bedeutung des höchsten Guts.

Je mehr das ganze Lebensinteresse der Menschen auf die Erreichung ihrer sittlichen Lebensaufgabe gerichtet sein wird, um so mehr und ausnahms­

loser wird sich die Werthschätzung aller LebenSmomente nach diesem höchsten Gesichtspunkte gliedern, um so mehr werden dann alle anderen LebenS-

interessen jenem

höchsten sich

unterordnen und um so höher geschätzt

werden und um so wichtiger erscheinen, je intensiver und direkter sie jenes

Ziel zu fördern geeignet sind.

Alle Arten deS Wohls in ihren un­

absehbar vielfältigen Abstufungen werden, je mehr jener ideale Zustand der Menschheit erreicht wird, mit der Kraft und Frische deS Lebens auch die Erreichung des sittlichen Lebensziels fördern; die Glückseligkeit über­

haupt wird sich steigern und daS Leid im Allgemeinen sich verringern,

je mehr daS Bewußtsein deS unbedingten Werthes der sittlichen Bestim­ mung zum Gemeingute aller Menschen wird und je aufrichtiger daS

Streben danach sie alle erfüllt, je mehr und je deutlicher alle Ereignisse als Momente der Zweckbewegung deS Weltprocesses begriffen werden.

Leider sind wir von diesem

idealen Zustande noch weit entfernt.

DaS Hauptinteresse der meisten Menschen ist leider nicht oder doch nicht vorwiegend auf die Erreichung ihrer wahren Bestimmung gerichtet, sondern

auf sinnliches Wohlbehagen oder andere Arten der Glückseligkeit, welche jener wahren Bestimmung mehr oder weniger fern liegen.

Für solche

ist daS Leid unentbehrlich, indem eS sie dazu antreibt, ihr Lebensinteresse

mehr als zuvor auf die wahren, durch keine Schicksalsschläge zerstörbaren Güter des Lebens zu richten.

Nur solche führt die niedrige und

schlechte Art von Glückseligkeit, welche ihren der wahren Bestimmung abgewandten Interessen gemäß ist, zum QuietiSmuS und zum Beharren

auf der niedrigen Stufe ihrer sittlichen Ausbildung, worin sie sich mo­ mentan gefallen.

Die letztere Art der Glückseligkeit mag der ethischen Bedeutung er­ mangeln, daS Leid aber erhält seine ethische Bedeutung erst

durch die Anerkennung eines höchsten Guts von unbedingtem Werth, ohne welche eS kein sittliches Bewußtsein und keine

Ethik giebt.

Hugo Sommer.

Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zoll­ grenze an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt. Ein juristisches Votum.

I. 1.

Die St. Pauli-Frage.

Die Art. 33 und 34 der Verfassung des deutschen Reichs vom

16. April 1871 sind auS der Verfassung deS Norddeutschen Bundes über­

nommen.

In dem von der Preußischen Regierung den Staaten deS Nord­ deutschen Bundes im Jahre 1866 vorgelegten Verfassungsentwurf lauteten

die bezüglichen Bestimmungen (Art. 31, 32) folgendermaßen: „Der Bund bildet ein Zoll- und Handelsgebiet, umgeben von ge­

meinschaftlicher Zollgrenze.

Ausgeschlossen bleiben die wegen ihrer Lage

zur Einschließung in die Zollgrenze nicht geeigneten einzelnen GebietS-

thetle." — „Die Städte Lübeck, Bremen und Hamburg mit einem dem Zwecke

eutsprechenden Bezirke ihres oder des umliegenden Gebiets bleiben als

Freihäfen außerhalb der gemeinschaftlichen Zollgrenze, bis sie ihren Ein­ schluß beantragen."

Bei den Verhandlungen unter den verbündeten Regierungen wurde das Wort „Städte" durch „Hansestädte" ersetzt.

Im Uebrigen gingen

die Bestimmungen unverändert in den dem Reichstag vorgelegten Entwurf und in die Verfassung für den Norddeutschen Bund über.

AuS welchen Gründen daS Wort „Städte" In „Hansestädte" ver­

ändert worden ist, ergeben die gedruckten Aktenstücke nicht.

(Vergl. Ver­

handlungen deS constitutrenden Reichstags von 1867, Anl. S. 20.)

Der Vertrag zwischen dem Norddeutschen Bunde und den

Süd­

deutschen Staaten vom 8. Juli 1867, die Fortdauer des Zoll- und Handels­

vereins betreffend, gestattete in dem Art. 6 Befreiungen einzelner Staats­

gebiete und Districte vom Zollverein durch folgende Vorschrift: „Die Bestimmungen in den Art. 3, 4, 5, sowie in den Art. 10—20, 22 finden vorläufig keine Anwendung

495

Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze re.

1. auf die nachfolgend genannten Staaten und Gebietstheile des Norddeutschen Bundes: d) in Preußen auf die Ortschaften rc. (Altona ist darunter nicht

aufgeführt),----------------------------------------------------------------------------------------------

e) auf die Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg mit einem dem

Zwecke entsprechenden Bezirke ihres oder des umliegenden Gebiets.-------Sobald die Gründe aufgehört haben, welche die volle Anwendung

des gegenwärtigen Vertrags auf den einen oder anderen der Nr. 1 ge­

nannten Staaten und Gebietstheile zur Zeit ausschließen, wird das Prä­ sidium

deS Norddeutschen Bundes den Regierungen der übrigen ver­

tragenden Theile Nachricht geben.

Der BundeSrath des Zollvereins be­

schließt alsdann über den Zeitpunkt, an welchem die Bestimmungen der Art. 3—5 und 10—20 in diesem Staate oder Gebietstheile in Wirksam­

keit treten." In dem konstituirenden Reichstage wurden Bedenken gegen den Aus­

schluß der Hansestädte von dem Zollverbande laut; die Verhandlungen enthalten aber keine Momente, aus welchen sich für die Auslegung der

erwähnten Bestimmungen etwa« folgern ließe. Die Verfassung vom 16. April 1871 enthält die Vorschriften über

daS Zollgebiet in den Art. 33 und 34 mit folgendem Wortlaut: „Deutschland bildet ein Zoll- und Handelsgebiet umgeben von gemein­

schaftlicher Zollgrenze.

Ausgeschlossen bleiben die wegen ihrer Lage zur Ein­

schließung in die Zollgrenze nicht geeigneten einzelnen Gebietstheile."--------

„Die Hansestädte Bremen und Hamburg mit einem

dem Zwecke

entsprechenden Bezirk ihres oder des umliegenden Gebiets bleiben als

Freihäfen außerhalb der gemeinschaftlichen Zollgrenze, bis sie ihren Ein­ schluß in dieselbe beantragen."

Lübeck hatte sich im Jahre 1868 dem Zollverein angeschlossen. 2.

DaS Gebiet der Stadt Hamburg besteht bekanntlich auS mehreren

getrennten Stücken. Hiervon wurde ein Theil im November 1867 zugleich

mit Schleswig-Holstein, ein anderer Theil am 11. Februar 1868 in den Zollverband ausgenommen.

Hiernach blieb, abgesehen von einigen Elb-

inseln und dem Cuxhafener Außendeich, ein zusammenhängender, die Stadt

Hamburg selbst umfassender Bezirk außerhalb der Zollgrenze. kanntmachung des

Eine Be­

Bundeskanzlers vom 18. November 1868 führt die

zollfreien Distrikte folgendermaßen auf: ,,d) im Gebiete der freien Stadt Hamburg: die Stadt Hamburg, die Vorstadt St. Pauli, die Voigteien rc."

3.

Im Anschluß an den Hamburger zollfreien Bezirk wurden von

Preußischen Gebietstheilen die Stadt Altona sowie ein Theil des Fleckens WandSbeck und des Dorfs Marienthal außerhalb der Zollgrenze gelassen.

496

Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze

Altona war bereits unter der Dänischen Herrschaft Freihafen ge­ wesen.

Um die Entwickelung ihres Handels und ihr Gedeihen zu be­

fördern, wurden dieser Stadt von der Dänischen Regierung Zollfreiheit und manche andere Begünstigungen gewährt.

Eine Verpflichtung Hamburg

gegenüber, die Stadt Altona nicht in die Zolllinie hineinzuziehen, bestand

in keiner Weise; man wollte vielmehr diese Stadt zu einer Rivalin von Hamburg machen und und sie, soweit möglich, auf Kosten der letzteren heben.

Ebensowenig ist Preußischerseits nach der Annexion eine derartige

Verpflichtung übernommen.

Schon hierdurch wird die Ansicht, daß Hamburg berechtigt sein könnte,

gegen die Aufnahme Altona'S in den Zollverband Widerspruch zu erheben, ausgeschlossen.

Die Verfassung kann nicht beabsichtigt haben, der Stadt

Hamburg ein Recht von

solcher Bedeutung in Bezug

auf Preußische

Gebietstheile zu gewähren, daß das Schicksal einer großen Preußischen Handelsstadt von dem Belieben einer fremden, gewissermaßen rivalisiren-

den Nachbarstadt abhängig wäre.

Soweit die Stadt Hamburg nach dem

Art. 34 der Verfassung einen Anspruch darauf sollte erheben können, daß von dem umliegenden Gebiete gewiffe Distrikte außerhalb der Zolllinie

gelassen werden, können jedenfalls nur Ländereien und Oerter von unter­ geordneter Bedeutung und nicht die Stadt Altona in Frage kommen. Dieses ist auch von jeher die Ansicht der Preußischen Regierung gewesen.

Bei der Berathung deS Etats von 1868 fand im Reichstage eine Verhandlung über die Aufnahme von Altona in den Zollverein statt.

Der Präsident des Bundeskanzleramts gab dabei folgende Erklärung ab: Die Preußische Regierung habe sich mit der Frage, ob Altona in die

Zolllinie einzuschließen, gründlich und eingehend beschäftigt; sie sei bei der Erörterung dieser Frage durch keine andere Rücksicht geleitet gewesen,

als

durch diejenige, das

wohlverstandene Interesse der Stadt Altona

kennen zu lernen und nach der Erkenntniß dieses wohlverstandenen Inter­ esses ihren Entschluß zu fassen; die Preußische Regierung würde vor den Schwierigkeiten und vor den Kosten, welche mit der Ziehung einer Zoll­ linie zwischen Hamburg und Altona verbunden sein würden, nicht zurück­

geschreckt sein, wenn sie die Ueberzeugung hätte gewinnen können, daß der Anschluß an den Zollverein im wohlverstandenen Interesse der Stadt Altona liege; sie sei aber zu der Ueberzeugung gelangt, daß es für jetzt wenigstens dem Interesse der Stadt Altona mehr zusage, sie aus der

Zolllinie ausgeschlossen zu lassen; damit sei kein Einverständniß mit der

Ansicht ausgesprochen, wonach Hamburgs und Altonas Schicksal in Be­

ziehung auf den Zollverein unzertrennlich sei (vergl. ReichStagsverhaiidlungen S. 208)..

an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.

497

Ob der hier entwickelte Standpunkt der Preußischen Regierung, in­

sofern das entscheidende Gewicht auf das „wohlverstandene Interesse" der

Stadt Altona gelegt wird, mit der Verfassung vereinbar ist, erscheint in

hohem Grade zweifelhaft.

Die Ausschließung der Stadt Altona von dem

Zollverbande läßt sich nach der Verfassung nur aus zwei Gründen recht­ fertigen; entweder nach dem Art. 33, weil die Stadt ihrer Lage nach zur Einschließung in die Zollgrenze nicht geeignet ist, oder nach dem Art. 34, weil für den Zweck, den man mit der Einräumung der Frethafenstellung

an Hamburg erreichen will, eS als erforderlich angesehen werden kann, auch Altona zollfrei zu lassen. — Unzweifelhaft ergiebt eS sich aber auS

jener Erklärung, daß die Preußische Regierung damals der Ansicht ge­

wesen ist, daß von einem Widerspruch Hamburgs gegen die Aufnahme Altonas in den Zollverein nicht die Rede fein könne.

Gegen diese An­

sicht sind bei den Reichstagsverhandlungen auch von keiner Seite Bedenken erhoben.

4.

Der Art. 34 der Verfassung macht den Einschluß der Hansestadt

Hamburg in die Zollgrenze von einem Anträge derselben abhängig. Der Artikel bestimmt die Grenzen des Gebiets, welches zollfrei verbleiben soll, nicht durch eine genaue geographische Bezeichnung, sondern giebt nur einen

allgemeinen Grundsatz für die Bemessung desselben an. Zunächst

nun klar, daß in dem Artikel eine Zusicherung, daß daS

ganze zur Zett der Emanirung der Verfassung außerhalb der Zollltnte

befindliche Gebiet zollfrei gelassen werden solle, nicht enthalten ist.

ES

heißt: „Die Hansestädte Bremen und Hamburg mit einem dem Zweck

entsprechenden Bezirke ihres oder des umliegenden Gebiets" bleiben

außerhalb der Zollgrenze; nur soweit solches dem Zweck entspricht, soll

also dort ein Distrikt zollfrei gelassen werden; eine etwaige Beschränkung deS der Zeit in den Zollverein nicht aufgenommenen Gebiets ist also

vorbehalten. Bei der weiteren Auslegung erscheint eS zweifelhaft, ob unter dem

Ausdruck „Hansestädte" die Staaten oder die Stadtbezirke zu verstehen

sind.

Nach dem Sprachgebrauch ist die eine wie die andere Annahme in

gleicher Weise gerechtfertigt.

Dafür, daß die Staaten gemeint sind, läßt

sich anführen, daß der Ausdruck, wie oben erwähnt, in dem ersten Ent­

wurf „Städte" gelautet hat und bet den Verhandlungen der verbündeten Regierungen in „Hansestädte" umgeändert ist.

Wir können tndeffen auf

diesen Umstand kein Gewicht legen, da der Grund, weshalb man die

Aenderung vorgenommen hat, nicht ersichtlich ist.

Der Ausdruck „Hanse­

städte" kann nicht bloß deshalb gewählt sein, um anzudeuten, daß eS sich um die Staaten und nicht um die Städte handele; man kann auch demPreußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 5.

36

Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze

498

selben als Bezeichnung für die Städte deshalb den Vorzug gegeben haben, weit er als im amtlichen Verkehr üblich angesehen ist, und weil

er die besondere Stellung dieser Städte betont. Gehen wir nun davon aus, daß unter der Hansestadt Hamburg die

Stadt als solche zu verstehen ist, so hat der Art. 34 den Sinn, daß die Stadt Hamburg mit einem dem Zweck entsprechenden Bezirk ihres oder

des umliegenden Gebiets außerhalb der Zolllinie bleiben soll, bis ihr Einschluß in dieselbe beantragt wird.

Der Ausdruck „umliegendes Gebiet"

erhält dann eine seinem Wortsinn entsprechende Bedeutung.

Eine Un­

genauigkeit in der Fassung ist insofern vorhanden, als es heißt: „bis sie ihren Einschluß beantragen"; da sie grammatisch auf „Hansestädte", also auf die Städte bezogen werden muß, während eS nach der Verfassung des

Deutschen Reichs wohl nicht zweifelhaft sein kann, daß eintretendenfalls der Staat und nicht die Stadt als solche den Antrag auf Einziehung Hamburgs in den Zollverein bei dem Bundesrath zu stellen hat.

Nach dieser Auslegung muß mindestens die Stadt oder Hansestadt

Hamburg außerhalb der Zolllinie gelassen werden; in Betreff des um­

liegenden Gebiets entscheiden ZweckmäßigkettSrücksichten, bleibt also ein gewisier Spielraum. ES fragt sich also, was ist unter dem Ausdruck „Stadt" oder „Hanse­

stadt" Hamburg im örtlichen Sinn zu verstehen.

Um diese Frage beant­

worten zu können, müssen wir einen Blick auf die Eintheilung des

Hamburgischen Staatsgebiets werfen. Dasselbe zerfiel nach einer im Jahre 1830 beschloffenen Eintheilung in folgende Bezirke: die Stadt, die Landherrschaft der Vorstädte Ham­ burger Berg und St. Georg, die Landherrschaft der Geestlande, die Land­

herrschaft der Marschlande, das Amt Ritzebüttel und das mit Lübeck ge­ meinschaftliche beiderstädtische Amt Bergedorf.

Im Jahre 1833 wurde

der Vorstadt „Hamburger Berg" der Name „Vorstadt St. Pauli" bei­

gelegt; auch wurden in diesem Jahre die Patronate der Vorstädte St.

Pauli und St. Georg unter Aufhebung der Landherrschaft der Vorstädte eingeführt.

Die Vorstadt St. Georg wurde im Jahre 1868 mit der

Stadt vereinigt. Als die Retchsverfassung erlassen wurde, bestand mithin

das Hamburger Gebiet aus folgenden Theilen: 1) die Stadt, 2) die Vor­ stadt St. Pauli, 3) und 4) die Landherrschaften der Geest- und Marsch­

lands, 5) das im Jahre 1867 unter die alleinige Herrschaft Hamburgs

übergegangene Amt Bergedorf, 6) das Amt Ritzebüttel. wurde das Patronat von St. Pauli aufgehoben.

Im Jahre 1875

Seit dieser Zett bestehen

in Betreff des GemetndewesenS und der Verwaltung nur Unterschiede von ganz untergeordneter Bedeutung zwischen der Stadt und St. Pauli; eine

an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.

499

förmliche Vereinigung dieser Vorstadt mit der Stadt, wie bei St. Georg, hat nicht stattgefunden.

Für die Auslegung der Reichsverfassung sind die Verhältnisse be­

stimmend, welche zur Zeit der Erlassung derselben bestanden haben. Der

Sinn, welcher sich hiernach ergiebt, kann dadurch keine Aenderung erleiden, daß die Stadt Hamburg inzwischen ihre Verwaltung, Gemeinde-, Polizei­ wesen oder auch ihre DistriktSeintheilung anders organisirt hat, wenn

auch vielleicht die neuen Einrichtungen, falls sie bereits vor Emanirung der Verfassung bestanden hätten, eine andere Auslegung angezeigt haben würden.

Denn durch die Gesetze deS einzelnen Bundesstaats können die

Reichsgesetze nicht abgeändert werden. Wie sich aus dem Obigen ergiebt, ist wenigstens im Jahre 1871 noch in Hamburg zwischen der Stadt und der Vorstadt St. Pauli unter­

schieden.

Es läßt sich nicht behaupten, daß damals der Ausdruck „Stadt"

oder „Hansestadt Hamburg" (wenn letzterer im örtlichen Sinn und nicht für den Hamburger Staat gebraucht ist) die Vorstadt St. Pauli mitbe­

Wir wollen ein Beispiel anführen.

griffen habe.

Der § 1 des Ham­

burger Baupolizei-GesetzeS vom 3. Juli 1865 bestimmt: „den Vorschriften

dieses Gesetzes sind sämmtliche Bauten innerhalb der Stadt nach deren

gesetzlicher Begrenzung unterworfen." hinzugefügt:

Als transitorische Bestimmung ist

„Bis zur erfolgten Beschlußnahme über die Grenzen der

Stadt gegen das Landgebiet wird, wo in dem vorliegenden Gesetz von

der Stadt die Rede ist, darunter der Bezirk der inneren Stadt und der

Vorstädte St. Georg und St. Pauli verstanden."

Es ist also damals

als erforderlich angesehen worden, ausdrücklich zu bestimmen, daß tat Sinn

deS erwähnten Gesetzes der Ausdruck „Stadt" auch die Vorstädte mit­ umfassen solle.

später statt.

Die Vereinigung St. Georgs mit der Stadt fand erst

Die Unterscheidung zwischen der Stadt und der Vorstadt

St. Pauli ist namentlich auch im Zollwesen beachtet.

Die erwähnte Be­

kanntmachung des Bundeskanzlers führt unter den von der Zolllinie aus­

geschlossenen Distrikten auf: d) tut Gebiete der freien Stadt Hamburg: die Vorstadt St. Pauli, die Vogteien rc.

Man hat also bet dieser

Bekanntmachung nicht angenommen, daß „die Stadt Hamburg" „die Vor­

stadt St. Pauli" mitumfasse. Bei der Auslegung des Art. 34 ist außerdem zu berücksichtigen, daß

derselbe eine von dem allgemeinen Recht abweichende, eine singuläre Be­ stimmung zu Gunsten der Hansestädte enthält, und daß solche Vorschriften,

wenn deren Sinn zweifelhaft ist, nach bekannten Rechtsregeln einschränkend

zu interpretiren sind.

Sobald Mo Zweifel darüber bestehen bleiben, ob

die Vorstadt St. Pauli unter der „Hansestadt Hamburg" im Sinn deS 36*

Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze

500

Art. 34 mitbegriffen ist, muß diese Frage vom Rechtsstandpunkt aus ver­

neint werden. 5. Wir haben bisher die Auslegung deS Art. 34 von dem Gesichts­

punkt aus verfolgt, daß der Ausdruck „Hansestädte Bremen und Ham­

burg" auf die Stadtbezirke zu beziehen sei.

Diese Auslegung würde ge­

wichtige Gründe für sich haben, wenn eS sich nur um Hamburg handelte;

sie kann aber nicht aufrecht erhalten werden, weil der Artikel sich zugleich auf Bremen bezieht, aber in dem Sinn, welchen er hiernach erhalten

würde, auf die Bremischen Verhältnisse nicht paßt.

DaS Bremische

Staatsgebiet besteht aus 3 getrennten Theilen, aus der Stadt Bremen, Vegesack und Bremerhafen.

für Bremen.

Letzterer Ort ist bekanntlich der Hafenplatz

Da die Freihafen-Begünstigung den ausländischen Zwischen­

handel der Hansestädte erleichtern soll, so kann eS nicht zweifelhaft sein, daß Bremen hierauf für Bremerhafen einen Anspruch hat.

Wollte man

den Seehafen Bremens von der Zollfreiheit ausschließen, so würde für

Bremen der Zweck deS Gesetzes vereitelt werden.

Diese Folge würde

aber eintreten, wenn man unter „Hansestädte" im Art. 34 die Stadtbe­ zirke verstehen wollte.

Der Artikel würde dann nur der Stadt Bremen

mit einem umliegenden Bezirk die Freihafen-Stellung gewähren.

Da­

gegen würde eS nicht allein zulässig sein, die Stadt Bremerhafen ohne Zustimmung Bremens in die Zolllinie hineinzuziehen, sondern eS würde sogar strenggenommen nach der Verfassung Bremerhafen nicht außerhalb

der Zollgrenze verbleiben dürfen.

Da solches nicht die Meinung sein

kann, so ist man genöthigt, den Ausdruck „Hansestädte Bremen und Ham­

burg" in einem andern Sinn, nämlich als Bezeichnung für die Staaten Bremen und Hamburg zu nehmen.

Hiernach besagt der Artikel: Von

dem Bremischen und Hamburgischen Staatsgebiet sollen dem Zweck ent­ sprechende Bezirke, dem auch Theile des umliegenden Gebiet» angeschlossen werden können, als Freihäfen außerhalb der Zolllinie bleiben. Der Ausdruck „umliegendes Gebiet" ist allerdings bet dieser Aus­

legung nicht ganz zutreffend, allein diese Ungenauigkeit ist nur eine un­ bedeutende und kann erhebliche Bedenken gegen die Auslegung nicht er­

regen. Demzufolge kann der Staat Hamburg verlangen, daß von seinem

Gebiet ein solcher Bezirk außerhalb der Zollltnie bleibt, als „dem Zweck"

de» Freihafens „entspricht". der Art. 33

Berücksichtigt man, daß nach dem Geiste

und 34 der Verfassung zollfreie Distrikte innerhalb

der

Grenzen des deutschen Reichs nur in beschränkter Ausdehnung zugelassen werden sollen, und daß eS sich im Art. 34 um eine Ausnahmebestimmung

handelt, welche im Zweifel einschränkend auSzulegen ist, so kann eS nicht

an die Elbe v»m rechtlichen Standpunkt.

501

zweifelhaft sein, daß unter „dem zweckentsprechenden Bezirk" ein solcher verstanden werden muß, wie er für den Zweck des Freihafens, die Be­ förderung des ausländischen Zwischenhandels, nothwendig, erforder­

lich ist. Der Staat Hamburg hat also keinen Anspruch darauf, daß min­ destens ein gewisses, bestimmtes Gebiet außerhalb der Zolllinie ver­

bleibe; es ist nur dasjenige Areal zollfrei zu lassen, dessen er für seinen

ausländischen Zwischenhandel bedarf. Weiter gehen die Rechte Hamburg'S nicht; ja,

strenggenommen darf ihm nach der Verfassung ein größerer

Bezirk für den Freihafen nicht gewährt werden, selbstverständlich abge­

sehen davon, daß nach Art. 33 zur Herstellung einer zweckmäßigen Grenze

anstoßende Distrikte von der Zolllinie auszuschließen sind.

ES handelt

sich um ein Gebiet, dessen Grenzen nach den thatsächlichen Verhältnissen

bestimmt werden sollen.

Dasselbe umfaßt

hiernach möglicherweise die

Vorstadt St. Pauli, kann vielleicht noch auf angrenzende Preußische Di­ strikte ausgedehnt werden müssen; vielleicht ist eS aber auch statthaft, das­

selbe sogar auf einen Theil der inneren Stadt zu beschränken. Die Einschließung der Vorstadt St. Pauli in die Zolllinie ist mit­

hin ohne Zustimmung Hamburg'S zulässig, wenn eS nicht für den Zweck

des Hamburger Freihafens erforderlich ist, die Vorstadt zollfrei zu lassen; ob letzteres der Fall ist, entscheidet sich nach den thatsächlichen Verhält­

nissen.

6. Wem steht die Entscheidung darüber zu, ob die Vereinigung der

Vorstadt St. Pauli mit dem Zollverein zulässig ist?

mit der zusammen:

Diese Frage fällt

Wer hat für die Ausführung deS Art. 34 der Ver­

fassung Sorge zu tragen?

In letzterer Form wird sie von dem Art. 7

Nr. 2 der Verfassung folgendermaßen beantwortet: „Der BundeSrath be­

schließt: 2) über die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen all­

gemeinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen,

Reichsgesetz etwas Anderes bestimmt ist."

sofern nicht durch

Da entgegenstehende reichS-

gesetzliche Bestimmungen nicht vorhanden sind, so hat der BundeSrath die zur Ausführung des Art. 34 erforderlichen Anordnnngen zu treffen. diesem

Behufe hat er den Sinn desselben

Zu

festzustellen, und dement­

sprechend unter Berücksichtigung der thatsächlichen Verhältnisse über die

Abgrenzung deS Freihafengebiets nach seinem Ermessen zu befinden.

Un­

erheblich ist eS, daß der Sinn deS Artikels zu Zweifeln Anlaß geben und

daß über die Art und Weise, wie derselbe zur Durchführung zu bringen ist, Meinungsverschiedenheit entstehen kann. Die Verfassung hat für der­

artige Fälle der Vorschrift deS Art. 7 No. 2 keine Ausnahmen oder Be­

schränkungen hinzugefügt.

Ebensowenig ist ein Einverständniß der zu-

502

Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze

nächst betheiltgten Bundesstaaten, namentlich Hamburgs mit den zur Ausführung des Art. 34 von dem Bundeörath gefaßten Beschlüssen er­

forderlich. Die Verfassung verlangt weder Einstimmigkeit zu solchen Be­ schlüssen, noch giebt sie einzelnen Staaten ein Veto.

Kann der Bundeörath die zur Ausführung

deS Art. 34 gefaßten

Beschlüsse wieder abändern? So bedenklich es auch aus politischen Rück­ sichten sein mag, ohne gewichtige Gründe erhebliche Aenderungen in Be­

treff deS einmal festgestellten Freihafengebietes vorzunehmen, ein recht­ liches Hinderniß steht nicht entgegen. Theoretisch läßt sich das bei Ham­ burg zollfrei gelassene Gebiet in zwei Theile sondern. ES werden sich darunter Bezirke finden, welche auf Grund deS

Art. 33 nicht in die Zolllinie hineingezogen sind, weil zur Herstellung

zweckmäßigen

einer

Zollgrenze

deren

Ausschließung

geboten

Hierzu kann vielleicht die Stadt Altona zu rechnen sein.

auSschlüsse beruhen nur auf Zweckmäßigkeitsrücksichten.

erschien.

Solche Zoll-

Die maßgebenden

Verhältnisse können sich nun ändern, indem z. B. die Einwohnerzahl sich

in

einem früher wenig bevölkerten Distrikt

bedeutend vermehrt;

der

Bundeörath kann aber auch ohne eine solche Aenderung in den Verhält­ nissen bei einer wiederholten Prüfung der Frage zu dem Resultat ge­

langen, daß man vorher die mit der Einziehung in die Zolllinie ver­ bundenen Kosten und Schwierigkeiten überschätzt und andererseits die da­ durch für den betheiligten Distrikt oder für das Allgemeine entstehenden

Vortheile nicht genügend gewürdigt hat, und daß deshalb die erste Ent­

scheidung auf irrthümlichen Voraussetzungen beruht.

In beiden Fällen

steht der Wiederaufhebung des früheren Beschlusses und der Berichtigung

der Zolllinie ein Bedenken nicht entgegen.

Niemand ist zu einem Ein­

spruch gegen eine solche Maßnahme berechtigt. Von diesen Zollausschlüssen kann man den nach Art. 34 zollfreien

Bezirk, das eigentliche Freihafengebiet unterscheiden. bleibe, kann der Hamburger Staat beanspruchen.

Daß dieses zollfrei Auch in Bezug hier­

auf können sich die Verhältnisse durch eine andere Gestaltung des Han­

delsverkehrs ändern.

ES wäre z. B.

Handel Bremens sich in

denkbar, daß der

ausländische

der Weise in Bremerhafen concentrirte,

daß

durch eine Ausdehnung des Zollverbands auf die Stadt Bremen selbst eine wesentliche Beeinträchtigung

könnte.

desselben

nicht herbeigeführt

werden

In solchen Fällen ist die Berichtigung der Zolllinie nach den

veränderten Verhältnissen in keiner Weise untersagt.

Ebensowenig ist ein

Grund ersichtlich, aus dem es rechtlich unzulässig erscheinen könnte, ohne daß

eine solche Aenderung im Handelsverkehr

stattgefunden hat, von

Neuem an die Prüfung der Frage hinanzutreten, ob die bereits zur Aus-

503

an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.

führung gebrachte Abgrenzung des Freihafengebiets dem Zwecke und dem

Bedürfnisse wirklich entspricht.

Die Berichtigung früherer Irrthümer ent­

hält vom rechtlichen Gesichtspunkt aus eine vervollkommnete Durchführung der Verfassung, kann also mit derselben nicht im Widerspruch, stehen.

Praktisch gestaltet sich die Sache übrigerlS anders.

Die Zollgrenze

bei Hamburg ist so bestimmt, wie man eS der Zett im Allgemeinen als zweckmäßig ansah.

Darüber, ob die einzelnen Theile des zollfrei ge­

lassenen Gebiets auf Grund des Art. 33 oder deS Art. 34 von der Zoll­

linie ausgeschlossen worden sind, ist eine Entscheidung

nicht getroffen.

Die oben erwähnte Erklärung deS Präsidenten des Bundeskanzleramts läßt eS sogar als möglich erscheinen, daß bei der Festsetzung der Zoll­ grenze auf Umstände Rücksicht genommen worden ist, denen nach der Ver­

fassung eine Bedeutung nicht beigelegt werden darf.

Bisher ist also

eine Entscheidung darüber noch nicht getroffen, welches Gebiet Hamburg für seinen Freihafen beanspruchen kann.

Erst wenn die Einschließung

eines Theils des bet Hamburg zollfrei verbliebenen Territoriums in die Zolllinte angeregt wird und Hamburgischer Seit-

Widerspruch findet,

muß an die Frage hinangetreten werden, ob der betreffende Distrikt zu

dem Gebiete zu rechnen ist, dessen Freilassung Hamburg nach Art. 34 beanspruchen kann, oder ob die seitherige Ausschließung deffelben von

dem Zollverbande auf anderen Gründen beruht.

Findet man, daß letz­

teres der Fall ist, so ist die Aufnahme in den Zollverein unabhängig von

einem Anträge oder einer Zustimmung Hamburgs.

II. 1.

Die Verlegung der Zollgrenze nach der Elbmündung.

Die Elbe war früher bis Wittenberge hinauf vom Zollgebiet

ausgeschlossen.

Durch Beschluß des BundeSrathS vom 2. Juni 1869

wurde die Zollgrenze bei Hamburg näher bestimmt dergestalt, daß selbige oberhalb Hamburgs die Norder- und Süder-Elbe überschreitet.

Die Elbe

befindet sich also von der Mündung bis Hamburg außerhalb des Zollge­ biets.

Wie sich

aus einer Rede des Abgeordneten Dr. Schleiden im

Reichstage ergiebt, (f. Reichstagsverhandlungen für 1867 S. 207), war eS bereits im Jahre 1867 zur Sprache gekommen, ob eS sich nicht empfehle,

die Zolllinte an der Mündung der Elbe durch den Strom zu ziehen, wenn Altona in den Zollverein ausgenommen werde, damit der Verkehr

dieser Stadt mit den Elbufern nicht beeinträchtigt werde.

ES fragt sich:

Ist eine solche Maßregel zulässig? Die Flüffe gehören bis zu ihrer AuSmündung in das Meer zu dem Gebiete des- oder derjenigen Staaten, welche sie durchströmen.

Die Elbe

Die St. Pauli-Frag« und die Verlegung der Zollgrenze

504

bildet mithin von der Mündung bis zur österreichischen Grenze einen

Theil deS deutschen Reichsgebiets.

Unzweifelhaft ist das Reich an sich

berechtigt, die Zollgrenze innerhalb seines Territoriums beliebig zu be­ stimmen.

Die Befugniß, die Elbe in das Zollgebiet hineinzuziehen, kann

ihm also nur abgesprochen werden, wenn besondere RechtSgründe solches unzulässig erscheinen lassen.

Bedenken könnten nun in dieser Hinsicht er­

hoben werden auf Grund der Bestimmungen der Wiener Congreßakte, der ElbschiffahrtSverträge und des Artikels 34 der Verfassung, wodurch Ham­ burg daS Vorrecht eines Freihafens eingeräumt wird.

2.

Die Wiener Congreßakte enthält in den Artikeln 108—117 Be­

stimmungen über die schiffbaren Flüsse, welche die Grenze zwischen ver­ schiedenen Staaten bilden, oder welche mehrere Staaten nacheinander durch­

strömen.

Die Congreßakte behielt es einer Vereinbarung unter den Ufer­

staaten vor, die von ihr aufgestellten Grundsätze für die einzelnen Flüsse weiter zu entwickeln und näher zu bestimmen.

Auf diese Anregung wurde

von den Elbuferstaaten im Jahre 1821 die ElbschiffahrtSakte vereinbart,

welche später, namentlich im Jahre 1844, wiederholt Zusätze erhalten hat. Von jeher ist eS zweifelhaft gewesen, ob in der Congreßakte auch den An­

gehörigen anderer Staaten, als den der Uferstaaten, Rechte in Betreff der Schiffahrt auf den internationalen Flüssen haben gewährt werden sollen. Wird diese Frage verneint, so hat die Akte in Betreff der Elbe ihre for­

mell verbindliche Kraft verloren.

Denn die Beziehungen der Uferstaaten

sind durch die ElbschiffahrtSverträge geregelt; nach diesen bestimmen sich deren Rechte und Verbindlichkeiten gegen einander.

Die frühere Congreß­

akte ist ihrer formellen Gültigkeit nach für das gegenseitige Verhältniß

der Uferstaaten durch die späteren Verträge aufgehoben. — Abgesehen

hievon können Zweifel darüber obwalten, ob die Congreßakte sich nicht

bloß auf den durch die Flußschiffahrt vermittelten Transitverkehr hat beziehen soll, und daher gegenwärtig ihre Anwendbarkeit auf die Elbe

verloren hat, weil auf derselben ein solcher Verkehr, der für ein Staats­

gebiet nur als durchgehender in Betracht kömmt, nicht mehr stattfindet. Denn nach den Verhältnissen des Fahrwassers ist eine direkte Schiffsver­ bindung zwischen Oesterreich und der Nordsee nicht möglich, der Elbver-

kehr muß also, so weit er über österreichisches Territorium hinaus geht, auf deutschem Gebiet anfangen oder aufhören; hier muß wenigstens eine

Umladung stattfinden.

Wir lassen diese Zweifel dahin gestellt, da die

Congreßakte Bestimmungen, welche der Htneinziehung der Flüsse in die Zollgebiete der Uferstaaten im Wege stehen könnten, nicht enthält.

Allerdings soll nach dem Artikel 109 die Schiffahrt auf den Flüssen der erwähnten Kategorie von dem Punkte an, wo sie schiffbar werden, bis

505

an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.

zu ihrer Mündung vollständig frei sein und mit Bezug auf den Handel

Niemanden untersagt werden dürfen.

Diese Vorschrift bezieht sich aber,

wie die Schlußworte ergeben, nur auf die Zulassung zur Betreibung der

Flußschiffahrt.

Zwar beabsichtigt die Congreßaste auch, eine Erleichterung

der Flußschiffahrt und eine Befreiung derselben von Lasten und Hemm­ nissen herbeizuführen; allein hierauf beziehen sich erst die folgenden Artikel. Die Art. 110—112 behandeln insbesondere die SchiffahrtSabgaben; sie

sollen einer Erhöhung

derselben vorbeugen und eine für den Verkehr

möglichst wenig unbequeme Art der Erhebung anbahnen. und Ausfuhrzölle werden indessen hiervon nicht betroffen.

Die EingangSES heißt im

Art. 115: „Les douanes des Stats riverains n’auront rien de commun

avec les droits de navigation.

On empechera par des dispositions

röglementaires, que l’exercice des fonctions des douaniers ne mette pas d’entraves ä la navigation, mais on surveillera par une police

exacte sur la rive, tonte tentative des habitans de faire la contrebande ä l’aide des bateliers.“

In dem Memorandum von Humboldt,

wodurch diese Bestimmung angeregt wurde, war auSgeführt:

es seien

Vorkehrungen nothwendig, um zu verhindern, daß das Recht der Ufer­

staaten, Zölle aufzulegen, die Schiffahrt hemmen (entraver) könne.

Hier­

nach ist eS nicht die Absicht gewesen, die Flüsse von dem Zollgebiete der

Uferstaaten auszuschließen; der Art. 115 soll nur verhindern, daß die Zoll­ schutzmaßregeln in einer übermäßigen, der Schiffahrt Fesseln auflegenden Weise ausgedehnt werden.

In diesem Sinne ist die Congreßakte auch in den auf Grund der­ selben abgeschlossenen Staatsverträgen aufgefaßt. Die WeserschiffahrtS-Akte vom Jahre 1823 läßt jedem Staate das Recht, in Fällen, wo er solches für das Interesse seiner Landzölle nützlich

erachtet, innerhalb seines Gebiets einen Begleiter auf transitirende Schiffe zu setzen. Die RheinschiffahrtS-Akten von 1831 (Art. 39) und 1868 (Art. 9)

setzen fest, daß, wenn ein Schiffer direkt und ohne Veränderung seiner Ladung durch das Gebiet eines UferstaatS oder mehrerer zu einem Zoll­ system gehörigen Staaten durchfahren will, ihm die Fortsetzung der Reise

ohne spezielle Revision der Ladung unter der Bedingung zu gestatten ist, daß er sich der amtlichen Verschließung der Laderäume oder der amtlichen

Begleitung oder beiden Maßnahmen zugleich zu unterwerfen habe.

Der

Schiffer wird sogar verpflichtet, dem amtlichen Begleiter Beköstigung, so

wie Feuer und Licht zu gewähren. Der 1857 in Betreff der Donau-Schiffahrt unter den Uferstaaten

abgeschlossene Vertrag läßt den einzelnen Staaten unbeschränkt die Be-

506

Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze

fugniß zur Erhebung von Einfuhr- und Ausfuhrzöllen; es ist indessen dar­

auf Bedacht genommen, die Zollrevision, wenn möglich, entbehrlich zu

machen oder sie doch möglichst einfach zu gestalten.

Zu diesem Behufe

haben die Staaten sich unter Anderm verpflichtet, Anordnungen zu treffen, wie die Verschließung oder Versiegelung der Laderäume und die Zollamt­

liche Begleitung der Schiffe. 3.

Ebenso wenig wie die Congreßakte stehen die Bestimmungen der

ElbschiffahrtSakte von 1821 und deren Zusätze der Hineinztehung des Elb-

stromS in das Zollgebiet entgegen. Der Artikel 1 der ElbschiffahrtSakte lautet im Anschluß an die Con­ greßakte:

„die Schiffahrt auf dem Elbstrom soll in Bezug auf den Handel

völlig frei sein; jedoch bleibt die Schiffahrt von einem Uferstaate zum

andern (cabotage) auf dem ganzen Strom ausschließend den Unter­ thanen derselben

Vorbehalten".

. Der Artikel 2 erklärt alle ausschließ­

lichen Berechtigungen, Frachtfahrt auf der Elbe zu treiben, für auf­ gehoben. Ausdrücklich „zu den Art. I und II" der Akte enthält die Additional­

akte von 1844 in den §§ 1—4 folgende Zusätze: § 1.

„Die Bestimmun­

gen — über die Berechtigungen zur Elbschiffahrt finden auf den Trans­

port sowohl von Personen als von Gütern Anwendung.

Dampfschiffe auf

der Elbe sind — gleich andern Fahrzeugen zu behandeln."

§ 2.

„Der

Transport von Personen oder Gütern von der Nordsee nach jedem Elb-

uferplatze und von jedem Elbuferplatze nach der Nordsee steht den Schiffen aller Nationen zu. — Zum Schiffahrtsverkehr zwischen Elbuferplätzen ver­

schiedener Staaten sind die Fahrzeuge sämmtlicher Uferstaaten ohne Unter­

schied berechtigt."

§ 3.

„Die Binnenschiffahrt auf der Elbe d. h. die

Befugniß zur Beförderung von Personen und Gütern von einem Elb­ uferplatze seines Gebiets nach einem andern Elbuferplatze desselben Ge­ biets, kann jeder Staat seinen Unterthanen Vorbehalten."

Der Befugniß

zu einem solchen Vorbehalt ist eine Beschränkung für den Fall hinzuge­ fügt, daß auf solchen Fahrten das Gebiet eines andern ElbuferstaatS durch­

fahren wird. Elbverkehr.

Der § 4 betrifft die Anwendung des Postregals auf den

Nach dem Inhalt des Art. I der ElbschiffahrtSakte, insbe­

sondere nach dem Vorbehalt für die sogenannte Cabotage, nach der Stellung

dieses Artikels in der systematischen Anordnung der Akte, so wie nach dem Inhalt der Zusätze zu dem Artikel in der Additionalakte von 1844 kann eS nicht zweifelhaft sein, daß der in dem Artikel aufgestellte Grundsatz

der Freiheit der Elbschiffahrt nur die Zulassung zur Betreibung

des

Schiffergewerbes auf der Elbe betrifft und sich ebenso wenig auf die Zoll­ verhältnisse, wie auf andere Abgaben und Lasten bezieht.

an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.

507

Bestätigt wird dieses durch die Vergleichung mit andern Flußschiff­

fahrtsakten. . Die Weserschiffahrtsakte, die RheinschiffahrtSakte von 1831 und die DonauschiffahrtSakte erklären in gleicher Weise die Flußschiffahrt für völlig frei; die beiden letzteren sogar ohne den Vorbehalt in Betreff der Sabotage,

und wir haben bereits gesehen, daß hierunter die Exemtion vom Zollge­ biet der Uferstaaten und die Befreiung von Zollkontrollmaßregeln nicht

verstanden worden ist.

Die Rheinschiffahrtsakte von 1868 hat der bezüg­

lichen Bestimmung folgende deutlichere Fassung gegeben:

„Die Schiffahrt

auf dem Rheine soll — unter Beachtung der in diesem Vertrage fest­

gesetzten Bestimmungen und der zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Sicherheit erforderlichen polizeilichen Vorschriften den Fahrzeugen aller Nationen zum Transport von Waaren und Personen gestattet sein.

Abge­

sehen von diesen Vorschriften soll kein Hinderniß, welcher Art es auch sein

mag, der freien Schiffahrt entgegengesetzt werden." Die Bestimmungen, welche eine Erleichterung der Elbschiffahrt von Abgaben und Lasten bezwecken, finden sich in den folgenden Artikeln der

Akte von 1821 und haben in der spätern Vereinbarung eine Erweiterung

erfahren.

Der Artikel 7 der Akte schreibt vor, daß sämmtliche bis dahin

auf der Elbe bestandenen Zollabgaben, so wie jede, unter was für Namen bekannte Erhebung und Auflage, womit die Schiffahrt des Flusses belastet

gewesen, aufhören und in eine allgemeine Schiffahrtsabgabe verwandelt werden soll, die unter dem Namen „Elbzoll" und „RekognitionSgebühr"

von allen Fahrzeugen, Flößen und Ladungen erhoben wird.

Nachdem

die Art. 8—12 nähere Bestimmungen über die Erhebung dieser Abgabe

getroffen haben, fügt der Art. 13 hinzu, daß außer den durch die Uebereinkunfl festgesetzten Gefällen keine andere weiter auf der Elbe erhoben werden dürfen.

Wie sich schon aus dem Wortlaut ergiebt, bezieht sich

dieser Artikel, wie die vorhergehenden, nur auf die SchiffahrtSabgaben

und nicht auf die eigentlichen Zölle.

Der Art. 14 stellt dieses vollends

außer Zweifel, indem derselbe bestimmt:

„Unter den Abgaben, wovon

die Art. 7—13 handeln, sind nicht begriffen: a, die Mauthen (Land- und

Stadtzölle), Eingangs- und Verbrauchssteuern, mit welchen einem jeden

Staat das Recht verbleibt, die in sein eigenes Landesgebiet einzuführenden

Waaren, sobald selbige den Fluß verlassen haben, nach seiner Handels­ politik zu belegen."

Nur ein Transitzoll wurde ebenso,

wie in den

andern SchiffahrtSakten nicht gestattet. Von den anderen Bestimmungen der ElbschiffahrtSakte könnte etwa

nur der Art. 23 auf die vorliegende Frage bezogen werden.

Hierin ver­

zichten Sachsen, Dänemark, Hannover und Mecklenburg, abgesehen von

Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze

508

den Fällen eines dringenden Verdachts, auf das den kontrahirenden

Staaten vorbehaltene Recht der speciellen Revision der Ladungen bei ihren Elbzollämtern, falls eine solche Revision bei den Preußischen Elbzollämtern zu Wittenberge oder Mühlberg stattgefunden hat. ursprünglich

Dieser Verzicht wurde

auf 6 Jahre geleistet, ist aber später verlängert worden.

Er bezieht sich zunächst nur auf die sog. specielle Revision; die davon

ausdrücklich unterschiedene generelle Revision ist also den Staaten gestattet geblieben.

verzichtenden

Außerdem betrifft derselbe „die specielle Re­

vision" nur insoweit, als dadurch die Erhebung des Elbzolls gesichert werden soll; wie die Elbzollverträge, abgesehen von dem Transitzoll, die

allgemeinen Zollgesetze unbeschränkt bestehen lassen, so werden die ver­ zichtenden Staaten auch dadurch nicht behindert, zum Schutze ihrer Ein­

gangs- und Ausfuhrzölle geeignete Controllmaßregeln

zu

treffen. —

UebrigenS ist der Verzicht in Folge der Uebereinkunft vom 4. April 1863, wonach nur ein Elbzoll für sämmtliche Uferstaaten vermittelst zweier Zoll­

ämter in Wittenberge erhoben werden soll, weggefallen. Die Elbzollverträge enthalten also keine Bestimmung, welche der Ver­

legung der Zollgrenze an die Elbmündung durch den Stro'm entgegen­ stehen könnten.

Wie sie überhaupt auf die allgemeinen Zölle sich nicht

beziehen, so untersagen sie auch den Uferstaaten in keiner Weise, den

Strom, soweit ihnen die Landeshoheit über denselben zusteht, in ihr

Zollgebiet hineinzuziehen.

Man hat denn auch keinen Anstand genommen,

die Zolllinie durch die Oberelbe zu legen, einerseits an der Oesterreichi­

schen Grenze, andererseits 1868 oberhalb Hamburgs und bis dahin bei Wittenberge.

Von keiner Seite ist gegen die rechtliche Zulässigkeit dieser

Maßregel ein Bedenken erhoben; es ist sogar in einer Anlage zu der Uebereinkunft vom 4. April 1863 (B. § 3) beiläufig auf Zollcontroll­ maßregeln Bezug genommen, wovon der auf der Elbe nach Oesterrrich

transitirende Verkehr betroffen wird.

Man kann darin, daß die Vereini­

gung der Oberelbe mit dem Zollgebiet unbeanstandet stattgefunden hat,

ein stillschweigendes Anerkenntniß der betheiligten Staaten finden, daß dieses mit den Verträgen nicht in Widerspruch steht.

Selbst wenn also

die Elbschiffsahrtsverträge einem Zweifel in der fraglichen Beziehung

Raum laffen sollten, so würde dieser durch ein solches Anerkenntniß ge­ hoben sein.

Da eine Unterscheidung zwischen Ober- und Unterelbe in

den Verträgen nicht gemacht wird, so würde die Ansicht, daß eine andere

Beurtheilung der Frage bei der Unterelbe, als bei der Oberelbe eintreten müsse, jeder Unterlage entbehren.

4.

Der Art. 34 der Verfassung bestimmt, daß Hamburg als Frei­

hafen außerhalb der gemeinschaftlichen Zollgrenze verbleiben soll.

Eine

509

an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.

Zusicherung, daß der durch Deutsches Gebiet nach und von Hamburg gehende Verkehr durch Zollmaßregeln nicht belästigt werden dürfe, enthält

der Artikel nicht.

Selbstverständlich kann der Landverkehr durch deutsches

Gebiet nicht von der Zollcontrolle befreit bleiben; nun ist aber eine be­ sondere Bestimmung für den Elbverkehr nicht getroffen; es muß also für beide Arten deS Verkehrs rechtlich dasselbe gelten.

Ja, wir möchten

annehmen, daß Hamburg selbst dann nicht zu einem Widerspruch gegen eine Verlegung der Zollgrenze nach der Elbmündung berechtigt sei, wenn eS in Folge einer solchen Maßnahme genöthigt sein sollte, seinen Anschluß

an den Zollverband zu beantragen, der Zweck deS Art. 34 mithin hier­

durch in gewisser Weise vereitelt werden würde.

Der Artikel gewährt

den Hansestädten eine bestimmte Begünstigung im Interesse ihres aus­

ländischen Handels, nämlich die, daß eine Zollerhebung von den von ihnen

eingeführten Waaren und folgewetse auch eine Erstattung deS Zolls bei der Wiederausfuhr nicht stattfindet, daß sie dem Zollverband gegenüber als Ausland behandelt werden.

Ein Recht der Hansestädte auf andere

Erleichterungen für ihren Handelsverkehr kann aus dem Artikel ebenso wenig hergeleitet werden, wie er eine Garantie dafür enthält, daß der Handelsverkehr anderen Lasten und Beschwerden,

stehenden, künftig nicht unterworfen werden solle.

als den damals be­

Wenn also die Hanse­

städte nur in dem Verhältnisse deS Auslands zu dem Zollgebiet gelassen

werden, so ist daS Reich in der Ausübung seiner verfassungsmäßigen Ge­ setzgebung-- und Verwaltungsbefugnisse durch den Art. 34 nicht weiter

beschränkt; es ist insbesondere auch nicbt rechtlich gehindert, Maßnahmen zu treffen, die für den Verkehr der Hansestädte Belästigungen im Gefolge haben, selbst wenn solche sich grade deshalb für sie besonders fühlbar

machen sollten, weil sie sich außerhalb der Zollgrenze befinden. Wir wieder­

holen, daß der Art. 34 eine singuläre Vorschrift enthält, die im Zweifel einschränkend auszulegen ist.

Allerdings würde das Reich nicht berechtigt

fein, grade zu dem Zwecke, um die Hansestädte zum Verzicht auf ihr Frei­ hafenrecht zu nöthigen, den Handelsverkehr derselben belästigende Anord­

nungen zu treffen.

Mit dem von der Verfassung gewährleisteten Rechte

würde jede Maßregel im Widerspruch stehen, welche nichts als wenn auch mittelbaren, Angriff auf dasselbe enthielte.

einen,

Fände die Ver­

legung der Zollgrenze nach der Elbmündung nur aus einem solchen Grunde statt, so könnte sie nicht als verfassungsmäßig angesehen werden. Dagegen

enthält sie keine Kränkung der Rechte Hamburgs, wenn sie auS allge­ meinen Rücksichten oder im Interesse anderer Distrikte und deren Be­

wohner erfolgt. Wir wiederholen übrigens, daß die WeserschiffahrtSakte jedem kontra-

510

Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze

hirenden Staate in Fällen, wo er es im Interesse seiner Zölle nützlich fände, gestattete, einen Begleiter innerhalb seines Gebiets auf die tran-

sitirenden Schiffe zu setzen.

Da die Stadt Bremen diesem Vorbehalt zu­

gestimmt hat, so kann eine solche Maßregel eine erhebliche Beschwerung

deS Verkehrs kaum enthalten. 5.

Ist der Bundesrath befugt, die Zollgrenze an die Elbmündung

durch den Strom zu legen oder bedarf es hierzu eines Reichsgesetzes? In Uebereinstimmung mit dem Art. 33 der Verfassung bestimmt das

Zollgesetz vom 1. Juli 1869 § 16:

„Die Landesgrenzen gegen das Ver-

etnSauSland bilden die Zollgrenze oder Zollltnie.

Es können indessen ein­

zelne Theile eines BereinSstaatS, wo die Berhältniffe es erfordern, von

Abgesehen von den hier zugelassenen

der Zolllinie ausgeschlossen werden."

Ausnahmen und von den Theilen fremder Staaten, welche dem deutschen

Zollverbande angeschlossen sind, soll also die Zollgrenze mit der Grenze

deS Reichsgebiets gegen das Ausland zusammenfallen.

Die Ausführung

dieser Vorschrift liegt nach Art. 7 Nr. 2 der Verfassung dem BundeSrath ob, da reichsgesetzlich nichts Anderes bestimmt ist.

Man könnte vielleicht den Einwand erheben, daß die Entscheidung über die Zollausschlüsse nicht dem BundeSrath habe überlassen, sondern

der Reichsgesetzgebung habe vorbehalten werden sollen, und daß daher der Art. 33 der Verfassung und der § 16 deS Zollgesetzes zn denjenigen gesetzlichen Vorschriften gehörten, welche zu ihrer Ausführung die Er­

lassung anderer Gesetze voraussetzten. der Begründung entbehren.

Ein solcher Einwand würde aber

Der § 16 deutet in keiner Weise an, daß

die Zollausschlüsse im Wege der Gesetzgebung festgesetzt werden sollen; er

gestattet dieselben als Ausnahmen,

als eine Art Dispensation von der

allgemeinen Regel, daß die Landesgrenzen die Zollgrenze bilden.

„ES

können indessen einzelne Theile eines Vereinsstaats, wo die Verhältnisse eS erfordern, von der Zollltnie ausgeschlossen bleiben."

Derartige Dispen­

sationen erfolgen regelmäßig und am zweckmäßigsten von der Verwaltungs­

behörde. — Ferner entspricht der 8 16 seinem Inhalt nach den §§ 22 und 24 des Preußischem Zollgesetzes vom 23. Januar 1838, welches über­

haupt die Grundlage deS Vereinszollgesetzes von 1869 gebildet hat.

In

Preußen ist früher im Verwaltungswege über die Gestattung von ZollauSschlüssen entschieden und eS fehlt an einem Grunde anzunehmen, daß

das Zollgesetz von 1869 hierin habe eine Aenderung

wollen.

etntreten lassen

Außerdem spricht gegenwärtig eine mehr als zehnjährige, seither

von keiner Seite, weder von einem Bundesstaate, noch von dem Reichs­ tage beanstandete Praxis für die Ansicht, daß der BundeSrath über die

ZollauSschlüffe und die Festsetzung der Zolllinie zu beschließen hat.

Der

an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.

511

BundeSrath hat nämlich seither, und zwar in einer Anzahl von Fällen und zu ganz verschiedenen Zeiten, die Vereinigung ausgeschlossener Distrikte

mit dem Zollgebiet angeordnet, dagegen hat niemals im Wege der Reichs­ gesetzgebung die Aufnahme eines freien Bezirks in den Zollverband statt­

gefunden. ES ist anzuerkennen, daß wenigstens im Jahre 1867 nach Emanirung

der Norddeutschen Bundesverfassung eine unbeschränkte, rücksichtslose Durch­

führung der Vorschrift, daß der Bund ein Zoll- und Handelsgebiet um­

geben von gemeinschaftlicher Zollgrenze bilde, nicht hat stattfinden sollen, daß eS vielmehr die Absicht gewesen ist, bei der Ausdehnung des Zollvereins auf die nicht zu demselben gehörenden GebtetStheile die besonderen Ber-

hältnifie zu berücksichtigen und den Umständen nach eine Frist hierfür zu Hieraus folgt aber nicht, daß ein anderes Gesetz zum Behufe

gewähren.

der Anschließung der freien Bezirke an das Zollgebiet hat erlassen werden

sollen.

Vielmehr ist der Umstand, daß eine reichsgesetzliche Vorschrift nicht

sofort, sondern innerhalb eines

gewissen Zeitraums

zur

Ausführung

kommen soll, mit der Bestimmung der Verfassung, wonach der BundeS­

rath für die Vollziehung der RetchSgesetze zu sorgen hat, in keiner Weise unvereinbar.

In einem solchen Falle gehört eS zur Aufgabe des BundeS-

raths, die vorbehaltene Frist näher zu bestimmen.

Wie er dann nach dem

Gesetze eine solche gewähren muß, so dk»rf er andererseits nach Ablauf derselben die Ausführung des Gesetzes nicht weiter verschieben.

Zur Zeit

der Abschlteßung deS Zollvertrags vom 8. Juli 1867 waren z. B. die

beiden Großherzogthümer Mecklenburg durch einen mit Frankreich abge­

schlossenen Handelsvertrag behindert, sich dem Zollverbande anzuschließen. Wie der BundeSrath auf dieses Hinderniß Rücksicht nehmen mußte, so

wäre er andererseits nicht berechtigt gewesen, auch dann, nachdem dasselbe gehoben war, noch von der Aufnahme der beiden Mecklenburg in den

Zollverein abzusehen.

Die Nothwendigkeit dieser Maßregel ergab sich auS

der Verfassung, und eS war daher hierfür eine neue gesetzliche Anordnung nicht erforderlich.

Unerheblich ist eS für die Befugniß deS BundeSrathS die Zollgrenze festzusetzen, ob die seitherige Zollgrenze auf einem Landesgesetze be­ ruht hat. Die Zuständigkeit deS BundeSrathS wird durch die Reichsverfassung

bestimmt.

So weit hiernach seine Befugnisse reichen, kann er für alle

Bundesstaaten Anordnungen mit verbindlicher Kraft erlassen.

Handelt eS

sich um eine Frage, die nach der Verfassung oder der Gesetzgebung deS betheiligten

einzelnen Staats nur im Wege der Gesetzgebung geregelt

werden kann, so ist die bezügliche Vorschrift deS LandeSrechtS durch die

Die St. Pauli-Frage und die Berlegung der Zollgrenze

512

Reichsverfassung, welche die Angelegenheit auf den BundeSrath übertragen hat, aufgehoben.

Die entgegengesetzte Ansicht würde zu dem Resultate

führen, daß die Befugnisse des BundeSrathS den einzelnen Staaten gegen­ über sich ganz verschieden gestalteten, je nachdem in denselben die Gesetzge­

bung eine ausgedehntere und delaillirtere Thätigkeit entfaltet hätte oder der Verwaltung ein größerer Spielraum gelassen wäre.

Soweit es sich um die Festsetzung der Zollgrenze handelt, müssen überdies nach dem Art. 33 der Verfassung und dem § 16 des Zollgesetzes alle landesrechtlichen und landesgesetzlichen Vorschriften als

aufgehoben

angesehen werden. ES wird sich auch mit Grund wohl nicht behaupten lassen, daß die Zollgrenze an der Elbe gegenwärtig

auf einer landeSgesetzltchen Vor­

schrift beruhe. Die früheren hannöverschen und schleswig-holsteinischen Gesetze, welche sich auf die damaligen Zollgebiete bezogen, sind durch die Aufnahme SchleSwig-HolsteinS in den Zollverein und die Annexion außer Wirksam­

keit gesetzt; und die über die Elbe gehende Zolllinie ist weder in ihrer früheren Lage bei Wittenberge,

noch in ihrer gegenwärtigen Lage bei

Hamburg durch Gesetz bestimmt. Der Bundesrath hat sich auch seither durch entgegenstehende landeS-

gesetzliche Bestimmungen nicht davon abhalten lassen, ausgeschlossene Ge­

biete in den Zollverein aufzunehmen. Holsteins,

Mecklenburgs

und

So ist die Aufnahme Schleswig-

Lauenburgs

aussprechendes Reichsgesetz erfolgt; und im

ohne

ein

dieselbe speziell

Jahre 1872 ist noch der

oldenburgische Freihafen Brake zum Theil in die Zollgrenze hineingezogen,

obgleich man die „landesherrliche Verordnung" vom 28. November 1834, wodurch Brake für einen Freihafen erklärt worden ist, als ein Gesetz an­ sehen muß. AuS dem Vorstehenden ergiebt sich, daß einem Beschlusse des BundeS­

rathS, wodurch der Elbstrom bis zu seiner Mündung in das Zollgebiet

hineingezogen wird, rechtliche Bedenken nicht entgegenstehen. 6.

Würde die Frage anders zu beurtheilen sein, wenn die Elb-

schiffahrtSakten eine Bestimmung enthielten, daß über den Elbstrom keine Zolllinie gezogen werden dürfe?

Die durch eine derartige Bestimmung für die deutschen Elbuferstaaten

begründeten Rechte würden durch die Reichsverfassung beseitigt sein; denn hierdurch sind die Zollangelegenheiten in einer für alle Bundesstaaten ver­

bindlichen Weise auf das Reich übertragen.

Die in dieser Beziehung

zwischen den Bundesstaaten unter einander bestehenden Rechte und Verbind­

lichkeiten sind als hiermit unvereinbar weggefallen,

insofern nicht von

an die Elbe vom rechtlichen Standpunkt.

513

Seiten des Reichs in dieser Hinsicht eine besondere Verpflichtung über­

nommen sein sollte.

Dagegen würde man annehmen müssen, daß daS Reich in die durch jene Verträge von den Bundesstaaten Oesterreich gegenüber eingegangenen Verbindlichkeiten eingetreten sei; denn die Verträge mit fremden Staaten können durch die Gründung deS Norddeutschen Bundes und des Deutschen

Reichs nicht außer Kraft gesetzt sein.

Oesterreich würde also berechtigt

sein, auch dem Reiche gegenüber auf der Aufrechterhaltung der Vertrags­

bestimmung zu bestehen.

Wie man nun im Allgemeinen annehmen muß,

daß die Reichsgesetze mit Verpflichtungen, welche daS Reich andern Staaten

gegenüber übernommen hat, nicht in Widerspruch treten wollen, so kann auch der Bundesrath im Allgemeinen nicht als berechtigt angesehen wer­

den, sich bei der Ausführung der Gesetze hierüber hinwegzusetzen. Hieraus

folgt, daß wenn die vollständige Ausführung eines Reichsgesetzes in einem Vertrage mit einem andern Staat ein Hinderniß findet, der BundeSrath

selbiges zu beseitigen suchen muß.

Gelingt ihm solches, so steht der An­

wendung deS Gesetzes nichts entgegen.

Der BundeSrath ist dann nach

Art. 7 Nr. 2 der Verfassung ebenso berechtigt, wie verpflichtet, die erfor­

derlichen Anordnungen zu treffen, um daS Gesetz in seinem vollen Um­ fange zur Ausführung zu bringen.

Würde also Oesterreich in dem hier

unterstellten Falle Einwendungen gegen die Hineinziehung des ElbstromS in daS Zollgebiet nicht erheben, so würde auch dann die Befugniß deS

BundeSrathS zu einer solchen Maßregel einem rechtlichen Bedenken nicht unterliegen. Nur wenn Oesterreich protestirte, wäre eine andere Auf­ fassung gerechtfertigt, indem man dann einwenden könnte: eS sei bei den erwähnten Gesetzen eine Verletzung der vertragsmäßigen Rechte Oester­

reichs nicht beabsichtigt gewesen, der Bundesrath dürfe daher die Gesetze nicht in einer hiermit in Widerspruch stehenden Weise auSlegen und an­ wenden. Wir verkennen nicht,

daß,

wenn man in den Elbschiffahrtsver-

trägen eine die Zollfreiheit der Elbe gewährleistende Bestimmung finden

zu können glaubt, sich gegen die obigen Ausführungen ein Bedenken von

einem andern Gesichtspunkt aus erheben läßt. wenden:

Man könnte dann ein­

Die Bestimmung in den Verträgen, daß der Elbverkehr unbe­

lästigt von allen Zollmaßregeln bleiben solle, sei als eine RechtSregel an­ zusehen, welche nur vermittelst eines Gesetzes aufgehoben werden könne;

bei dem Art. 33 der Verfassung und dem § 16 des Zollgesetzes sei eine Regelung der Verhältnisse der Flußschiffahrt, insbesondere eine Beschrän­ kung der rechtlich begründeten Freiheit derselben von Beschwerungen nicht

beabsichtigt gewesen; jene RechtSregel sei daher als eine besondere neben Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 5.

37

514

Die St. Pauli-Frage und die Verlegung der Zollgrenze rc.

diesen allgemeinen bestehen geblieben; da selbige auch sonst nicht aufge­

hoben sei, so dürfe der BundeSrath eine damit in Widerspruch stehende Maßregel nicht treffen.

Wir würden vielleicht auch einen

solchen Einwand für erheblich

halten, wenn in den ElbschiffahrtSverträgen die Regel ausgesprochen wäre,

daß die Elbe außerhalb der Zollgrenze verbleiben solle.

Wir glauben

aber oben auSgeführt zu haben, daß eine solche Bestimmung darin nicht

gefunden werden kann, und sehen daher von einer näheren Prüfung des Einwands ab.

Goethe's erstes Jahr in Weimar, 1775-1777. Wir verstehn Goethe und seine Bedeutung für die deutsche Literatur­

geschichte nur halb, wenn wir ihn lediglich als Schriftsteller betrachten: er hat durch seine Persönlichkeit auf die Besten seiner Zeit in einer Macht gewirkt, wie nie in der Welt ein andrer Dichter.

Von diesem Eindruck

auf alle seine Umgebungen in einer bestimmten Zeit ein Bild zu geben, ist der Zweck der folgenden Zeilen; wie ich hoffe, wird auch das Be­

kannte im Zusammenhang ein neues Licht gewinnen. 7. Nov. 1775 kam Goethe in Weimar an:

er auf!"

„wie ein Stern ging

Der 26jährige Jüngling war gewaltig über die ganze deutsche

Jugend durch das, was er geleistet, durch daS was er versprach.

Er

hatte den Faust, den Egmont, den Prometheus im Pult; wären diese Stücke damals erschienen, er wäre der Unwiderstehliche geworden.

Seine äußern Mittel berechtigten ihn, sich seine Lage frei zu wählen. Er hatte den Trieb, sich in der Welt umzusehn und das bürgerliche Leben kannte er,

nun wollte er wie Wilhelm Meister die vornehmen Kreise

kennen lernen. 56 Jahre ist er in Weimar geblieben; die deutsche Literatur hat da­ durch einen künstlichen Brennpunkt erhalten.

Nun wiederholt sich die Erscheinung von 1517 und 1675: die kleinen

Höfe bemächtigen sich der geistigen Bewegung und geben ihr damit den Charakter.

Mit schmalen Mitteln, aber mit gutem Willen und einem

lebhaften Bildungstrieb, der scheinbar die Kraft ersetzte, gelang es Weimar, fast für ein Menschenalter Residenz der deutschen Literatur zu werden. „Weimar", schreibt ein damaliges Handbuch, „ist ein mittelmäßiger

Ort, dessen Gassen weder an Reinlichkeit noch an Anlage dem heitern

Jena gleichkommen.

Die Häuser sind meist dürftig gebaut, und es hat

alles das armselige Ansehn einer nahrungslosen Landstadt.

Alles lebt

vom Luxus eines eingeschränkten Hofs, dessen geringer Adel arm ist.

DaS

Pflaster ist schlecht, Beleuchtung nicht vorhanden; Zeitungen kommen in

die Bürgerkreise garnicht."

516

Goethe'S erste- Jahr in Weimar, 1775—1777.

Der regierende Herzog Karl August wie seine neuvermählte Gattin Luise zählten erst 18 Jahr.

Er, noch ein wilder unbändiger Knabe, von

den edelsten Anlagen aber an keine äußere oder innere Schranke gewöhnt:

übrigens Goethe leidenschaftlich ergeben; sie, an dem Hof von Karlsruhe an strenge Sitten gewöhnt, durch den Umgang mit Klop stock und La-

Vater religiöser gestimmt, als es damals fürstliche Art war.

Die bis­

herige Regentin, Herzogin Mutter Amalie, 32 I., eine braunschweigsche

Princeß, Wieland'S warme Gönnerin, lebenslustig, von lebhaftem Tem­ perament, nicht abgeneigt, Romane zu verfolgen und zu spielen, vollständig frei von allen höfischen oder bürgerlichen Borurtheilen.

Gelangweilt durch

die adlige Bureaukratie des kleinen Ländchens, suchte sie für ihre Hof­

chargen geistvolle und aufgeweckte Köpfe, und sah eS nicht ungern, wenn

sie den Philister hänselten. ES ist nicht bloße Neugier, wenn man sich nach den Umgebungen

unsrer „Classiker" umsieht.

Ihre Leistungen richtig zu würdigen, muß

man wissen, waS sie von ihren Zeitgenossen empfingen, waS sie ihnen gaben und waS sie ihnen waren.

Bei Griechen und Römern, bei Spaniern

und Franzosen, selbst bei Italienern und Britten ist das nicht schwer:

sociale und geistige Aristokratie, Publicum und Nation fiel zusammen, das Culturleben drängte sich in einen mächtigen Mittelpunkt, und die Dichter hatten keine andre Aufgabe, als dem Gemeinsinn den idealen Ausdruck

zu geben: sie sprachen unmittelbar zur Nation;

ihre classische Periode

war entweder Ausfluß des in voller Blüthe stehenden nationalen LebenS, oder die letzte reife Frucht einer im

Absterben

begriffenen Bildung.

Deutschlands classische Periode dagegen geht dem Aufschwung des nationalen

LebenS voraus: sie konnte die Wirklichkeit nicht idealistren, sie mußte der

Wirklichkeit Ideale entgegenbringen.

Die Dichter gaben, was sie in sich

selbst erlebt, in der Fremde geträumt oder den Sagen der Borzeit ent­

nommen:

sie brauchten ein gleichgestimmtes Medium, durch welches sie

das Volk verstanden oder dem Volk verständlich wurden.

Die Freunde

sind die kleine Welt, nach der sie Stimmungen und Pxrspectiven abmessen.

Eigentlich gethan ist in den nächsten Jahren wenig; was aber Goethe

innerlich erlebt, fliegt in den Briefen der Zeit wie ein Traum an uns

vorüber.

Aus ihnen erfährt man auch die Gewalt, die seine Persönlichkeit

auSübte.

Am leidenschaftlichsten warf sich ihm sein alter Gegner Wieland

an die Brust. — Man hatte seine Pension erhöht und er hatte sich ent«

schloffen, in Weimar zu bleiben. „O bester Bruder!"

schreibt Wieland drei Tage nach Goethe'S

Ankunft, 10. Nov., an Jacobi, „was soll ich Dir sagen! Mensch beim ersten Anblick nach meinem Herzen war!

Wie ganz der Wie verliebt ich

Goethe'S erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

517

in ihn wurde, da ich am nämlichen Tag an der Seite des herrlichen Jünglings zu Tisch saß! Alles was ich Ihnen nach mehr als einer Krisis,

die in mir diese Tage über vorging, sagen kann, ist dies: seit dem heutigen Morgen ist meine Seele so voll von Goethe, wie ein Thautropfen an der Morgensonne.

Ich bin zu voll, um schreiben zu können.

So un­

aussprechlich groß, wichtig und lieb mir Goethe geworden ist, so fühle ich

doch im Innersten, daß auch Fritz, anstatt dabei zu verlieren, mir noch

theurer geworden ist als jemals.

Wenn Sie bei uns wären!

Mir ist, ich liebe Sie nun auch in ihm.

Doch eS ist besser so, ich könnte euch beide

zugleich nicht aushalten; das Feuer von zwei Dämonen, wie ihr würde mich verzehren ...-

Zwischen Goethe und mir ist eS schon so weit ge­

kommen, daß Welt, Sünde, Tod und Hölle nichts mehr dagegen auSrichten

können." „Mit Goethe und Ihnen", erwidert Jacobi unerwartet kühl, „ist

eS genau so gegangen, wie ich es vorausgesehn hatte.

ES wird sich von

selbst nach und nach in die Richte senken, und was schadet's, wenn'S dabei auch hie und da ein wenig kracht und schüttert."

„Wieland ist gar lieb", schreibt Goethe

22. Nov.

an Johanna

Fahlmer, „wir stecken immer zusammen. — Wie eine Schlittenfahrt geht mein Leben, rasch weg und klingelnd.

Die Schule giebt meinem Leben

neuen Schwung, eS wird alles gut werden.

Wirthschaft sagen, sie ist zu verwickelt.

Ich kann nichts von Meiner

Wunderlich Aufsehn machts na­

türlich." 26. Nov. kamen die beiden Stolberg in Weimar an.

„Goethe habe

ich noch viel lieber gekriegt", berichtet der ältere Bruder an seine Schwester. — „Luise noch eben der Engel!

Der Herzog ein herrlicher Junge. —

Mit Wieland ging's uns schnackisch: wir waren zuerst gespannt, daS dauerte aber nur einen Augenblick: wir sanden, daß wir unS über so viele Dinge ganz verstanden, daß uns bald wohl zusammen ward; wir haben uns viel gesehn und schieden als Freunde. — Mit der herzoglichen Familie geht man um, als wären'S Menschen unsers Gleichen.

Einen

Abend logirten wir beim Prinzen: mit eins ging die Thür auf, und stehe, die Herzogin Amalie kam herein, mit der Oberstallmeisterin, der guten

und schönen Frau v. Stein; beide trugen zwei alte Schwerter aus dem Zeughaus, eine Elle höher als ich, und schlugen uns zu Rittern.

Nach

Tisch ward Blindekuh gespielt, da küßten wir die Oberstallmeisterin, die

neben der Herzogin stand.

Wo läßt sich das sonst bei Hofe thun?" —

Einige Tage dauerte die tolle Studentenwirthschaft;

Fritz Stollberg

nahm eine Kammerherrnstelle in Weimar an. Dann ein Ausflug nach Waldeck, „im Nebelgeriesel, im tiefen Schnee,

518

Goethe'« erstes Jahr in Weimar, 1775 — 1777.

im wilden Wald, in der Winternacht...

Ich vermisse Sie wahrlich schon"

schreibt Goethe dem Herzog 23. Dec. „ob wir gleich nicht zwölf Stunden

..

auseinander sind

Wind und Wetter hat uns hergetrieben ...

Es kam

ein Regen aus Italien, wie uns ein Alter versicherte, der mit dem Schub­ karren an uns vorbeifuhr. Wind her. . .

In Italien sei es warm, da komme der warme

Hier liegen wir recht in den Fichten drin bei natürlich

guten Menschen. . .

Wie ich so in der Nacht gegen das Fichtelgebirge

ritt, kam das Gefühl der Vergangenheit über mich. so lang all meine Lust und

all mein Sang.

Holde Lili! warst

Bist ach nun all mein

Schmerz! und doch all mein Sang bist du noch. — Gehab dich wohl bei

den hundert Lichtern, die dich umglänzen, und all den- Gesichtern, die dich Findst doch nur wahre Freud und Ruh bei Seelen grad

umschwänzen.

und treu wie du." 24. Dec. (Sonntag).

Fatales Thauwetter! . .

Die Kirche geht an,

in die wir nicht gehn werden; aber-den Pfarrer laß ich fragen, ob er die

Odyssee nicht hat; und hat er sie nicht, so schicke ich nach Jena; denn un­

möglich ist die zu entbehren in dieser homerisch

einfachen Welt. . .

Hab' indessen in der Bibel gelesen..." — „Sorglos über die Fläche weg, wo vom kühnsten Wager die Bahn

dir nicht vorgegraben du siehst, mache dir selber Bahn! — Stille, Liebchen, mein Herz!

Kracht's gleich, bricht's doch nicht!

Bricht'S gleich, bricht'S

nicht mit dir!"

31. Dec. an Lavater: „Ich lerne täglich mehr steuern auf dem Wege der Menschheit.

Bin tief in See."

„Haben Sie ein ander Beispiel", schreibt Wieland an Merck, „daß jemals ein Dichter den andern so enthusiastisch geliebt hat? ..

Für mich

ist kein Leben mehr ohne diesen wunderbaren Knaben, den ich als meinen

eingeborenen Sohn liebe, und, wie einem echten Vater zukommt, meine innige Freude

daran

habe,

daß

er

mir

so

schön

den Kopf

über

wächst!" Einer vornehmen Dame schildert er den Traum der Neujahrsnacht.

„Auf einmal stand in unsren Mitten ein Zauberer . . .

Ein schöner

Hexenmeister eS war, mit einem schwarzen Augenpaar, zaubernden Augen voll Götterblicken, gleich mächtig zu tödten und zu beglücken.

So trat

er unter uns, herrlich und hehr, ein echter Geisterkönig, daher; und Nie­

mand fragte: wer ist denn der? wir fühlten beim ersten Blick, 'S war Er! Wir fühlten'S mit allen unsern Sinnen, durch alle unsre Adern rinnen.

So hat sich nie in Gotteöwelt ein Menschensohn uns dargestellt, der alle Güte und Gewalt der Menschheit so in sich vereinigt!

So feines Gold,

ganz innrer Gehalt, von fremden Schlacken so ganz gereinigt! Der, un-

Goethe's erstes Jahr in Weimar, 1775t-1777.

519

zerdrückt von ihrer Last, so mächtig alle Natur umfaßt, so tief in jedeWesen sich gräbt und doch so innig im Ganzen lebt!" „Was macht er nicht aus unsern Seelen!

Lust in Schmerz?

Wer schmelzt wie er, die

wer kann so lieblich ängsten und quälen, in süßen

Thränen zerschmelzen das Herz? wer aus der Seelen innersten Tiefen

mit solch entzückendem Ungestüm Gefühle erwecken, die ohne ihn uns selbst

verborgen im Dunkeln schliefen?" „O welche Gefühle, welche Scenen hieß er vor unsern Augen entstehn!

Wir wähnten nicht zu hören, zu sehn: wir sahn!

Wer malt wie er? so

schön, und immer ohne zu verschönern! so wunderbarlich wahr! so neu, und dennoch Zug um Zug so treu! — Doch wie, was sag' ich malen?

Er schafft, mit wahrer mächtiger Schöpferkraft erschafft er Menschen; sie

athmen, sie streben! in ihren innersten Fasern ist Leben! . .

Ist immer

ein echter Mensch der Natur, nie Hirngespinnst, nie Caricatur, nie kahleGerippe von Schulmoral, nie überspanntes Ideal!" „Wie flogen die Stunden durch meine- Zaubrer- Kunst

vorbei!

und wenn wir dachten, wir hätten'- gefunden, und wa- e- sei, nun ganz

empfunden, wie würd' er so schnell unS wieder neu! entschlüpfte plötzlich

dem satten Blick und kam in andrer Gestalt zurück; ließ neue Reize sich uns entfalten, und jede der tausendfachen Gestalten so ungezwungen, so völlig sein, man mußte sie für die wahre halten!

Nahm unsre Herzen in

jeder ein, schien immer nicht- davon zu sehn, und, wenn er immer glän­ zend und groß ring- umher Wärme und Licht ergoß, sich nur um seine

Axe zu drehn." — „Goethe", schreibt eine Dame, auf deren Gut die Gesellschaft ein­ kehrte, „ist ein herrlich Geschöpf, groß, sonderbar und ich glaube gut.

Der

junge Herzog kann nicht ohne ihn leben, und Goethe liebt den Herzog aufrichtig um seiner selbst willen, denn er liebt seine Freiheit über alle-.

Doch heißt eS, man werde ihn sahen und halten." „Ich lebe nun", schreibt Wieland 9. Jan. 1776 an Zimmermann,

„neun Wochen mit Goethe, und lebe, seit unsre Seelenvereinigung so un­ bemerkt und ohne allen Effect nach und nach zu Stande gekommen, ganz in ihm.

E- ist in allen Betrachtungen da- größte, beste, herrlichste

menschliche Wesen, da- Gott geschaffen hat.

Möcht' ich'- der ganzen Welt

sagen dürfen! Heute war eine Stunde, wo ich ihn erst in seiner ganzen

Herrlichkeit sah.

Außer mir kniet' ich neben ihn, drückte meine Seele an

seine Brust und betete Gott an."

An Gleim:

„Ich kenne nicht- Beffere-, Edleres, Herzlichere- und

Größere- in der Menschheit als ihn, so wild und siebenseltsam der holde

Unhold auch zuweilen ist oder scheint."

Goethe'S erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

520 Auch

in

Wieland'S

damaligen

Dichtungen:

„ Wintermährchen",

„Gandalin" u. s. w. merkt man eine Art Wiedergeburt: „Der Alte wird

wieder jung!" sagte Heinse nicht mit Unrecht. Einerder jungen Hofleute, mit denen Goethe am liebsten verkehrte,

Kammerherr v. Einsiedel persifflirt 9. Jan. unter der MaSke des Me­ phistopheles die ganze Gesellschaft.

„Man denk' sich einen Fürstensohn,

der so vergißt Geburt und Thron und lebt mit solchen lockern Gesellen,

die dem lieben Gott die Zeit abprellen; die thun als wären sie seines Gleichen!. .. Dem Ausbund aller, dort von Weiten möcht' ich ein Süpplein

zubereiten,

fürcht' nur sein ungeschliffnes Reiten; denn sein verfluchter

Galgenwitz, fährt auS ihm wie Geschoß und Blitz.

'S ist ein Genie, ein

Geist und Kraft, wie eb'n unser Herrgott Kurzweil schafft; meint, er kann uns alle übersehn, thäten für ihn rum auf Vieren gehn.

Wenn der Fratz

so mit einem spricht, schaut er einem stier ins Angesicht, glaubt, er könnS fein riechen an, was wäre hinter Jedermann.

sinnsvoll macht er die halbe Welt jetzt toll . . .

Mit seinen Schriften un­

Paradirt sich drauf als

Dr. Faust, daß 'm Teufel selber vor ihm graust.."

Acht Jahre später gingen Goethe in Ilmenau, in einem dichterischen Traum, diese Scenen von Neuem auf.

„Wer kennt sich selbst? wer weiß,

was er vermag? hat nie der Muthige Verwegnes unternommen?

Und

was du thust, sagt erst der andre Tag, sei es zum Schaden oder Frommen.. Ich brachte reines Feuer vom Altar, was ich entzündet, war nicht reine

Flamme.

Der Sturm vermehrt die Glut und die Gefahr; ich schwanke

nicht, indem ich mich verdamme!"

Seine Gesellen: „unbändig schwelgt ein

Geist in ihrer Mitten, und durch die Roheit fühl' ich edle Sitten." der fürstliche Freund: „all mein Wohl und all mein Ungemach!

Endlich

Ein edles

Herz, vom Wege der Natur durch enges Schicksal abgeleitet, das ahnungs­

voll, nun auf der rechten Spur, bald mit sich selbst und bald mit Zauber­ schatten streitet, und was ihm das Geschick durch die Geburt geschenkt, mit

Müh und Schweiß erst zu erringen denkt... Gewiß, ihm geben auch die Jahre die rechte Richtung seiner Kraft.

Noch ist bei tiefer Neigung für

daS Wahre ihm Irrthum eine Leidenschaft.

Der Vorwitz lockt ihn in die

Weite .. Dann treibt die schmerzlich überspannte Regung gewaltsam ihn bald da bald dort hinaus. ..

Düster wild an heitern Tagen, unbändig

ohne froh zu sein..." „Ich treib'S hier freilich toll genug!" schreibt Goethe 5. Jan. 1776 an Merck.

„Ist mir auch sauwohl. Dich in dem Freiweg-Humor zu sehn..

Wirst hoffentlich bald vernehmen, daß ich auf dem Theatro Mundi was zu tragiren weiß, und mich in allen tragikomischen Farcen leidlich be­ trage."

Goethe'- erstes Jahr in Weimar, 1776 — 1777.

22. Jan.

521

„Ich bin nun In alle Hof- und politische Händel verwickelt

und werde fast nicht wieder weg können.

Meine Lage ist Vortheilhaft genug,

und die Herzogthümer Weimar und Eisenach immer ein Schauplatz, um

zu versuchen, wie einem die Weltrolle zu Gesicht stände.

Ich übereile

mich darum nicht, und Freiheit und Genüge werden die Hauptconditionen der neuen Einrichtung sein." Im Grund war eö die Fortsetzung deS alten Treibens; auch das

Liebhabertheater in Weimar schloß sich den dramatischen Improvisationen in

Frankfurt an.

ES war Goethe gewiß recht gesund, sich einmal tüchtig

auStoben zu können; in Frankfurt hatte sich Sturm und Drang eigentlich

nur litterarisch geltend gemacht; hier, wo Hof und Adel mit dem genialen

Jüngling wetteiferten, ging eS mehr in's Große. Die alten Freunde vergaß er darüber nicht.

Lavater schickte ihm

seine „Physiognomik", die durch Goethe herausgegeben und (Mai 1776)

der Herzogin Luise gewidmet wurde.

Am eifrigsten sorgte Goethe für

Herder; gleich nach seiner Ankunft betrieb er das Geschäft, ihn zum General-Superintendenten von Weimar zu machen.

ihn darin treulichst.

ES waren

Wieland unterstützte

viel Schwierigkeiten zu überwinden;

1. Febr. war die Sache so weit, daß Goethe dem Freunde die vorläufige Anfrage zuschicken konnte.

Schon war Herder zu dem sauren Gang

nach Göttingen, um dort ein Tentamen zu bestehn, bereit gewesen, nun

brach er sofort die Unterhandlungen mit Hannover ab. 2. Febr. 1776 erhielt Goethe einen Brief von Bürger.

„Ich bin

todt, mein lieber Junge, in kalten Wasserfluthen ersoffen, und versaufe

täglich immer mehr und sterbe täglich mehr. getrocknet oder erstarrt bis auf die Galle...

Meine Lebenssäfte sind auS-

Ich habe ein gutes Weib

und ein schönes Kind, aber was helfen die einem Herzen, in welchem Basilisken brüten!... Schreib mir doch einmal, ob du dich kennst? und

wie du's anfängst, dich kennen zu lernen? Denn ich lern' eS nimmermehr,

und kenne keinen weniger als mich selbst."

„Dein Brief", antwortet Goethe augenblicklich, „that mir weh. — Da ich jetzt in einer Lage bin, da ich mich von Tag zu Tage aufzubieten

habe, tausend Großen und Kleinen, Liebe und Haß, Hundsfötterei und Kraft, meinen Kopf und Brust entgegensetzen muß, so ist mir'S wohl.

O du lieber Einsamer! — Hätt ich ein Weib und Kind, für was alles

dünkt' ich mir zu sein! — So sind wir und so müssen wir sein. — Hier

was, süßer Junge! das soll dir Liebes- und Lebenswärme in den Schnee bringen." ES war die Stella. — Goethe hatte keine Ahnung, wie die Para­

doxien dieses Stücks auf Bürger wirken mußten: das Schauspiel für

522

Goethe'- erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

Liebende spielte in deS Dichter- HauS; er war in einer heftigen Leiden­ schaft zu seiner jungen Schwägerin Molly entbrannt. Sitte im Göttinger Landkreis

für derartige Versuche

Freilich war die minder

günstig

al- Weimar.

UebrigenS war Bürger im freudigsten Schaffen.

Das Januarheft

des „Deutschen Museum-" brachte den Anfang seiner jambischen Ueber» setzung der Ilias; es war ein förmlicher Wettkampf mit Stolberg, der es in Hexametern versuchte.

Goethe

benutzte die Gelegenheit, um

unter

seinen Freunden eine Sammlung für Bürger zu veranstalten, die sehr

ansehnlich

ausfiel.

„Deine Worte", schreibt ihm Bürger 9. März,

„haben mich wieder elastisch gemacht, den todten stechenden Sumpf um­ gerührt und die frischen Quellen wieder aufgeräumt..

der Muth gesunder Jugend . ..

Mich durchströmt

Aber ich muß mich mit allerlei juristischer

Faustarbeit placken, um Weib und Kind und mich zu ernähren."

Wa- die „Stella" auf Bürger für einen Eindruck machte, ist uns nicht überliefert. — „Ich", schreibt Nicolai an Merck, „hätte mir einen

ganz andern AuSgang vorgestellt, nämlich daß die beiden Weiber den Schurken, der sie ohne Ursache verlassen hat und gewiß nächstens wieder

verlassen wird, beide würden verlassen haben.

Aber — ich bin wohl kein

Liebender!" — Solche prosaische Erwägungen fordert das Stück mit

seiner plastischen Ausarbeitung kleinbürgerlicher Figuren und Sitten selbst heraus.

Herder ließ sich dadurch nicht irren.

„Goethe", schreibt er März

1776 an Zimmermann, „schwimmt auf den goldenen Wellen des Jahr­ hundert- zur Ewigkeit.

Beste, was er schrieb!

Welch ein paradiesisch Stück seine Stella!

DaS

Der Knote ist nicht auszuhalten, und wie gänzlich

endet er alles, daß sich die Engel Gottes freuen.

Nun hinten möcht' ich

Fernando fein, Cäcilie an einem, Stella am andern Arm, jene auSgeltttene Mutter und Freundin,

diese Paradiesesblume,

bei der ich nicht

immer sein darf, und auch zur Cäcilie und Lucie kann. — ES ist unaus­ sprechlich umfassend, tief und herrlich." —

„Ich richte mich hier in- Leben", schreibt Goethe 14.Febr. an Johanna Fahlmer, „und das Leben in mich.

Ich wollt' ich könnt' Ihnen so vom

Innersten schreiben, das geht aber nicht, eS laufen soviel Fäden durch einander ...

Ich werde wohl dableiben und meine Rolle spielen so gut

ich kann, und so lang' eS mir und dem Schicksal beliebt.

Wär'S auch

nur auf ein Paar Jahre, ist doch immer besser als das unthätige Leben

zu Hause, wo ich mit der größten Lust nichts thun kann.

Hier hab' ich

doch ein Paar Herzogthümer vor mir."

„Eine herrliche Seele ist die Frau v. Stein, an die ich so waS

Goethe'» erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

man sagen möchte geheftet und genistelt bin.

523

Luise und ich leben nur

in Blicken und Sylben zusammen, sie ist und bleibt ein Engel." Charlotte v. Stein (33 I.), die Gattin deS Oberstallmeisters, der

ihr eine angesehene Stellung in der Gesellschaft verschaffte und sie im Uebrigen frei gewähren ließ, Mutter von zehn Kindern war unzweifelhaft die geistvollste Frau in Weimar.

Noch 12 I. später schreibt Knebel von

ihr: „Sie ist unter allen diejenige, von der ich am meisten Nahrung für

mein Leben ziehe. ReineS, richtiges Gefühl bei natürlicher leidenschaftloser

Disposition haben sie durch den Umgang mit vorzüglichen Menschen, der ihrer äußerst feinen Wißbegier zu statten kam, zu einem Wesen gebildet, dessen Art in Deutschland schwerlich oft zu- Stande kommen dürfte.

Sie

ist ohne alle Prätension, natürlich, frei, nicht zu schwer und nicht zu leicht,

ohne Enthusiasmus und doch mit geistiger Wärme, ist wohlunterrichtet

und hat feinen Tact. Warm genug, das Schöne in allen Formen zu begreifen und sich an­ zueignen, besaß sie doch soviel Kälte des Herzens, sich dem Gefühl nicht unbedingt hinzugeben, und eine so freie Herrschaft ber Form, daß sie ohne

Furcht vor Anstoß wagen konnte, was keine Andre.

Daß mit Goethe

sogleich ein innige- Verhältniß entstand, war natürlich, sie waren auf einander angewiesen; daß dies Verhältniß 14 Jahre dauerte, spricht für

die unerschöpfliche Fülle ihrer Natur nicht minder als für ihre LebenS-

klugheit.

Bisher waren es junge Mädchen gewesen, die den Dichter durch ihre Anmuth fesselten; jetzt trat er einer Frau gegenüber, die ihm an Alter,

Erfahrung, Weltklugheit und gesellschaftlicher Bildung bei weitem über­ legen war.

Jede Liebhaberei deS Freundes fand bet ihr eine verwandte

Neigung, Landschaftsmalerei, Werther, Faust und SathroS.

Sie verstand

tolerant zu sein, und den dünnen Seidenfaden, an dem er hing, doch nicht aus den Händen zu lassen; die Ausbrüche seiner Leidenschaft wußte

sie in Schranken zu halten und seine Rückkehr zu erleichtern.

Das Glück

seiner Zukunft fühlte er in ihr, ihr legte er seine Erinnerungen zu Füßen.

Freilich geschah das nicht sofort.

Noch im Februar schickte er die

„Stella" an Lilli, mit der Zuschrift: „Im holden Thal, auf schneebedeckten

Höhen war stets dein Bild mir nah. wehen, im Herzen war mir's da.

Ich sah'S um mich in lichten Wolken

Empfinde hier, wie mit allmächtgem

Triebe ein Herz das andre zieht, und daß vergebens Liebe vor Liebe

flieht." „Es ist eine sehr angenehme Empfindung, wenn sich nun eine Leiden­

schaft in unS zu regen anfängt, ehe die alte noch ganz verklungen ist.

So sieht man bet untergehender Sonne gern auf der entgegengesetzten

524

Goethe'» erste» Jahr in Weimar, 1775 — 17.77.

Seite den Mond aufgehn und erfreut sich an dem Doppelglanz der beiden HtmmelSlichter."

So viele Jahre später in „Wahrheit und Dichtung".

Lilli und Cornelte waren wohl der Hauptgegenstand ihrer ersten Ge­

spräche; sie hörte seine Klagen, sie wurde seine Vertraute: eine gefährliche Beziehung. — Auch seine Vertraute über die Lage der jungen Herzogin

Luise, die nach Knebels Ausdruck wie ein verdunkelter Stern am Himmel

strahlte. „Luise", schreibt Goethe 27. Jan. an Frau v. Stein, „war ein Engel! ich hätte mich ihr etliche Male zu Füßen werfen müssen! aber ich

blieb in Fassung und kramte läppisches Zeug aus.

Sie widersprach über

eine Kleinigkeit dem Herzog heftig, doch machte ich sie nachher lachen. —

Sie haben eben beide immer Unrecht."

Tags darauf: „Luise war gestern

Großer Gott, ich begreife nur nicht, was ihr Herz so zusammenzieht!

lieb.

Ich sah ihr in die Seele, und doch, wenn ich nicht so warm für sie wäre, sie hätte mich erkältet."

„Heut Nacht brannte es mir unter die Sohlen zu Ihnen zu laufen. Endlich fing ich an zu miseln" (die Cour zu schneiden), „und da ging«

besser.

Die Liebelei ist doch das probateste Palliativ in solchen Umständen.

Ich log und trog mich bei allen hübschen Gesichtern herum, und hatte den Vortheil, immer im Augenblick zu glauben, was ich sagte..

Liebe

Frau, Du begreifst nicht, wie ich Dich lieb habe!"

29. Jan.

„ES geht mir verflucht durch Kopf und Herz, ob ich bleibe

oder gehe." 23. Tebr. — „Wie glücklich ich aufgestanden bin und die schöne Sonne

gegrüßt habe, und wie voll Danks gegen Dich, Engel des Himmels! dem

ich das schuldig bin .. . Nein, will brav sein!

Wenn ich meinem Herzen gefolgt hätte---------

Ich liege zu Deinen Füßen und küsse deine Hände!"

24. Febr. — „Du Einzige, die ich so lieben kann, ohne daß mich'S plagt. — Und doch leb' ich immer halb in Furcht. — Nun so mag's." An Lavater, 6. März. — „Ich bin nun ganz etngeschifft auf dem

Wege der Welt — voll entschlossen, zu entdecken,

gewinnen, streiten,

scheitern, oder auch mit aller Ladung in die Luft zu sprengen.." An Merck, 8. März., — Wir machen deS Teufels Zeug ..

ES geht

mit uns allen gut, denn was schlimm ist, laß' ich mich nicht anfechten. Den Hof hab' ich probtrt, nun will ich auch das Regiment Probiren, und so immer fort.

Ich streiche waS ehrlichs in Thüringen herum, und kenne

schon ein brav Fleck davon."

Er war beständig unterwegs.

„In Goethe bin ich verliebt!" schreibt Sprickmann aus Münster, einer von der Klopstock'schen Schule, an Boie.

seligkeiten meines Lebens, daß ich ihn sah!

„Eine der größten Glück­

Sehn Sie, ich liebe, wie ich

Goethe'« erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

525

gewiß weiß, daß wenige lieben, und so ganz ohne Hoffnung, daß mir wohl nie ein Augenblick wahren innigen FrohseinS in der Welt mehr

werden kann; aber wenn ich zu wählen hätte, geliebt zp werden oder Goethe'S Busenfreund zu sein — ich möchte das von keinem Sterblichen in

der ganzen Welt sagen: — ich würde mich nicht gleich zu entschließen wissen!" Bisher war die Hingebung der dichterischen Jugend und ihre Ver­

ehrung vor Goethe eine freie gewesen, sie huldigte ihm, weil er sie be­

glückte.

Nun kamen Nebengedanken: man hielt seine Stellung in Weimar

für glänzend und hoffte durch ihn gefördert zu werden.

Der Reihe nach

fanden sich die alten Gesellen ein, theils persönlich theils in Briefen;

Goethe mußte erst gelinde, dann schroff zurückweisen. 16. März erhielt Goethe einen Zettel: „Der lahme Kranich ist an­

gekommen; er sucht, wo er seinen Fuß hinsetze."

es in Straßburg nicht länger aushielt.

Er war von Lenz, der

„Mir fehlt zum Dichten", schrieb

er an Merck, „Muße und warme Lust und Glückseligkeit des Herzens, das bei mir tief auf den kalten Nesseln meines Schicksals halb im Schlamm versunken liegt, und sich nur mit Verzweiflung emporarbeiten kann."

Unterwegs war er Goethe auf Schritt und Tritt nachgegangen; er hatte CornelienS und Schlossers Gunst erworben, er hatte Lavater und

Merck aufgesucht.

In Frankfurt hatten ihn Klinger und Wagner in

der Werther-Montur feierlich eingeholt.

Mit Herder stand er in lebhaftem

Briefwechsel, er wußte nun auch Wieland zu gewinnen, den er früher so „Ein herrlicher Junge!" schreibt Wieland 13. Mai

gehässig angegriffen. an Merck.

„Freilich ist kaum ein Tag vergangen,

wo er nicht einen

dummen Streich ausgeführt, der jeden andern in die Luft gesprengt hätte!" Auch von Goethes Beziehungen zu Frau von Stein sollte er berührt werden. Diese schwankten noch immer zwischen Hoffen und Zagen.

17. März. — „Geduld, liebe Frau! ach und ein bischen Wärme! Es verschlägt Sie ja nichts — doch ich habe mich nicht zu beklagen.

Sie

sind so lieb als Sie sein dürfen."

20. März. — „Nun denn, was Sie thun, ist mir recht, denn mir ist's genug, daß ich Sie so lieb haben kann, und das Uebrige mag seinen Weg gehn...

Lassen Sie'S gut sein; weil ich doch nun einmal die

Schwachheit für die Weiber haben muß, will ich sie lieber für Sie haben als für eine andere."

Ein neuer Magnet zog ihn an, als er auf einer Fahrt nach Leipzig

29. März

bis 9. April die bildschöne

(25 I.) wiedersah.

Sängerin Corona Schröter

Die alten Neigungen — Friderike Oeser, Annette,

die sich längst verheirathet — waren verblaßt, auf Lili hatte er endgültig

Verzicht geleistet.

526

Goethe « erstes Jahr in Weimar, 1775—1777. Gleich nach seiner Rückkehr, 9. April, meldet Goethe Lenz bei Frau

v. Stxin an.

„Sie werden das kleine wunderliche Ding sehn und ihm

gut werden." 10. April, an Gustchen Stolberg.

„Ach Engel! es ist Lästerung,

wenn ich mit Dir rede! ich will lieber garnicht beten, als mit fremden

Gedanken vermischt.

Mein Herz, mein Kopf — ich weiß nicht wo ich

anfangen soll, so tausendfach sind meine Verhältnisse, und neu, und wechselnd, aber gut." 14. April gab er seiner Stimmung zu Frau von Stein einen hoch­ poetischen Ausdruck.

„Warum gabst du uns die tiefen Blicke, unsre Zukunft ahnungsvoll

zu schaun, unsrer Liebe, unserm Erdenglücke, wähnend selig nimmer hinzutraun? Warum gabst uns, Schicksal, die Gefühle, uns einander in das Herz zu sehn, um durch all die seltenen Gewühle unser wahr Verhältniß

auSzuspähn?" „Ach wie viele tausend Menschen kennen dumpf sich treibend kaum ihr eigen Herz, schweben zwecklos hin und her, und rennen hoffnungslos

in unversehnen Schmerz, jauchzen wieder, wenn der schnellen Freuden unerwarte Morgenröthe tagt! Nur uns Armen liebevollen beiden ist das wechselseit'ge Glück versagt, uns zu lieben, ohn' uns zu verstehen, in dem

Andern sehn, was er nie war, immer frisch auf Traumglück auszugehen und zu schwanken auch in Traumgefahr."

„Glücklich, den ein leerer Traum beschäftigt, glücklich, dem die Ahnung eitel wär'! Jede Gegenwart und jeder Blick bekräftigt Traum und Ahnung leider unS noch mehr.

Sag', was will das Schicksal uns bereiten? sag'

wie band es uns so rein genau?

Ach du warst in abgelebten Zeiten

meine Schwester oder meine Frau. Kanntest jeden Zug in meinem Wesen...

tröpftest Mäßigung dem heißen Blute, richtetest den wilden irren Lauf, und in deinen Engelsarmen ruhte die zerstörte Brust sich wieder auf . ..

Welche Seligkeit in jenen Wonnestunden, da er dankbar dir zu Füßen lag, fühlt sein Herz an deinem Herzen schwellen, fühlte sich in deinem Auge gut, alle seine Sinne sich erhellen und beruhigen sein brausend Blut!" „Und von allem dem schwebt ein Erinnern nur noch um das umgewisse

Herz, fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern, und der neue Zu­

stand wird ihm Schmerz.

Und wir scheinen uns nur halb beseelet, däm­

mernd ist um unS der hellste Tag.

Glücklich, daß das Schicksal, das uns

quälet, uns doch nicht verändern mag."

Unmittelbar darauf quälte sie ihn mit einem Mtßverständniß. — „Adieu liebe Schwester!" schreibt er ihr 16. April, „weil'S denn so sein soll."--------- „Warum mich betrügen und dich plagen? Wir können ein-

Goethe'- erstes Jahr in Weimar, 1775—1777. ander nichts sein und sind einander zu viel.

527

Ich sehe dich künftig wie

man Sterne sieht." 1. Mai.

„Du hast Recht, mich zum Heiligen zu machen, das heißt

Dich, so heilig Du bist, kann ich nicht

von Deinem Herzen zu entfernen.

zur Heiligen machen, und hab' nichts als mich immer zu quälen, daß ich mich nicht quälen will." — 2. Mai.--------- „Mir hielt's schwer, gestern

mein Gelübde zu halten, und so wird mir'S auch heute mit Ihrem Ver­

langen gehn.

Doch da meine Liebe eine dauernde Resignation ist, so

mag'S denn so hingehn." —

„Goethe cause ici un grand bouleversement; s’il sait y remettre ordre, taut mieux pour son g6nie. II est sur qu'il y va de bonne Intention; cependant trop de jeunesse et peu d’expörience ... Tont notre bonheur a disparu ici, notre cour n’est plus ce qu’elle ötait. Un seigneur, mScontent de soi et de tout le monde, hasardant tous les jours sa vie avec peu de santö pour la soutenir, une mere chagrine, une epouse mecontente, tous ensemble de bonnes gens, et rien qui s’accorde dans cette malheureuse famille.“ So schreibt Frau v. Stein an Zimmermann. — „Mais attendons la fin.“ Was bezweckte sie mit diesem Schreiben? — Zimmermann war der erste gewesen, der noch vor ihrer Bekanntschaft mit Goethe sie vor ihm gewarnt

hatte: vielleicht wollte sie ihn nun auf eine falsche Fährte leiten.

Zimmermann theilte das Billet nach verschiedenen Seiten mit, an Herder (10. Mai); wahrscheinlich auch an Klo pflock. Dieser betrachtete, was in Weimar geschah,

merksamkeit.

mit gespannter Auf­

In der Gruppirung der deutschen Literatur war ein ent­

schiedener Frontwechsel etngetreten.

Goethe, dem er eine anständige aber

untergeordnete Stelle im Bunde zugedacht, hatte sich mit seinem Freunde Wieland verbündet; nun sollten auch seine treuen Stolbergs hineingezogen

werden, im Bund drohte allgemeiner Abfall.

„Die Grafen", schreibt Voß

verdrießlich, „haben ihre wärmsten Freunde außer dem Bunde; o Freund­ schaft!"

ES wurde einsamer um ihn; für Claudiu- hatte Herder bei

Moser eine Stelle in Darmstadt ausgewirkt; worin sie bestand, konnte

man nicht eigentlich sagen; eS handelte sich um die Hebung des Landvolks;

Voß bewarb sich um eine ähnliche Stelle bei dem Landgrafen von Baden.

ES galt-einen Versuch, das Heft wieder in die Hand zu nehmen. Klo pflock betrachtete die Stolberg noch als seine Mündel, für deren

Moralität er verantwortlich sei.

Die Herzogin Luise hatte er in Karls­

ruhe als halbes Kind gekannt; nun kamen ihm fortwährend neue Klagen

zu Ohren, über die lärmende Geselligkeit am Hof, über die wiederholten Verletzungen der Sitte.

Klop stock glaubte etwas wagen zu dürfen.

Goethe'S erstes Jahr in Weimar, 1775 — 1777.

528 9. Mai.

„Hier einen Beweis von Freundschaft, liebster Goethe! Er

wird zwar ein wenig schwer, aber er muß gegeben werden.

Denken Sie

nicht, daß ich Ihnen, wenn eS auf Ihr Thun und Lassen ankommt, einreden würde; auch nicht, daß ich Sie, weil Sie vielleicht in diesem oder jenem andre Grundsätze haben als ich, strenge beurtheile.

Aber Grundsätze bei

Seite, was wird der Erfolg sein? Der Herzog wird, wenn er sich ferner bis zum krank werden betrinkt, nicht lange leben ... Die Deutschen haben

sich bisher mit Recht über ihre Fürsten beschwert, daß djese mit ihren

Gelehrten nichts zu schaffen haben wollen. von Weimar mit Vergnügen aus.

Sie nehmen jetzo den Herzog

Aber was werden andre Fürsten,

wenn Sie in dem alten Ton fortfahren, nicht zu ihrer Rechtfertigung an­

zuführen haben? wenn eS nun wird geschehn, waS ich fühle, daß geschehn wird! Die Herzogin wird vielleicht ihren Schmerz jetzo noch niederhalten können, denn sie denkt sehr männlich.

Aber dieser Schmerz wird Gram

werden, und läßt sich der auch niederhalten? — Luisens Gram, Goethe!

— Nein, rühmen Sie sich nur nicht, daß Sie lieben wie ich!"

Von der Antwort soll der Rath abhängen, den er Stolberg ertheilen will, nach Weimar zu gehn oder nicht.

Der Versuch war heikel, aber wenn er gelang, so hatte Klopstock

wieder sein Ansehn bekräftigt.

Und unmöglich war eS nicht.

Regte sich

doch in Weimar selbst gegen den neuen Günstling eine nicht unwichtige Opposition. Eifersucht des Adels gegen den Bürgerlichen, der älteren Beamten

gegen die jungen Hofleute, die mit ihren excentrischen Gebühren die ganze

Residenz aus den Fugen zu treiben drohten.

Der Minister v. Fritsch

(44 I.), ein tüchtiger Beamter, hatte gleich nach Goethe'S Ankunft seine

Entlassung angeboten.

„Ich finde immer mehr Eigenschaften

in mir,

welche mich zu diesem Platz untüchtig machen.

Der erste Minister sollte

viel um Ihre Person, viel an Ihrem Hof sein.

Wie könnte aber ich, der

ich zu viel Rauhes in meinen Sitten, zu viel Unbiegsamkeit und zu wenig

Nachsicht gegen das, was herrschender Geschmack ist, an mir habe, ,om Hof eine günstige Ausnahme mir versprechen?" —Nun aber sollte Goethe

wirklich inS Conseil eingeführt werden.

Seit ihm der Herzog 21. April

ein Gartenhäuschen geschenkt, hatte er sich entschlossen zu bleiben.

Fritsch,

der in ihm nur den Poeten sah, an den sich allerlei wunderliches Volk

hing, erklärte 24. April, er wolle nicht mit, Goethe zusammen dienen; alle treuen Beamten würden die Stellung

des neuen Günstlings als

Zurücksetzung empfinden.

„Ein Mann wie Goethe", antwortet der Herzog 11. Mai, „würde die

langweilige und mechanische Arbeit, in einem LandeScollegio von Unten auf zu dienen, nicht aushalten.

Einen Mann von Genie nicht an dem

Goethe'S erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

529

Ort gebrauchen, wo er seine außerordentlichen Talente gebrauchen kann, heißt dieselben mißbrauchen.

WaS das Urtheil der Welt betrifft, das

ändert garnichtS; die Welt urtheilt nach Vorurtheilen."

Fritsch in der Erwiderung gesteht „seine Schwäche": „ich habe eS

noch nicht dahin gebracht, mich über die gegründeten Urtheile der Welt Er beschwört den Herzog, „von den Arbeiten so viel

hinwegzusetzen."

wackerer Männer, die in den Collegien sitzen, sich eine günstigere Vor­

stellung zu machen, und sich davon, daß Sie solche für mechanisch und

langweilig halten, nicht- merken zu lassen, sonst würden diese erst von nun an ihren Dienst handwerksmäßig und mit Unzufriedenheit verrichten." ES ist auf beiden Seiten Wahrheit.

Außer Goethe sollte noch ein

andrer Günstling de- Hofs, Goethe- Freund v. Kalb, in'S Conseil ein­

geführt werden.

Fritsch opponirte, weil er an seiner Gewissenhaftigkeit

zweifelte; der AuSgang gab ihm nur zu sehr recht. 13. Mai legte sich die Herzogin Amalia inS Mittel; sie beschwor

ihren alten treuen Diener, seinen Vorsatz aufzugeben, und Fritsch fügte

sich endlich, da auch sein College Geh.-R. Schmidt (Klopstock'S Vetter, Fannh'S Bruder) dazu rieth. trat in'S Conseil.

v. Kalb wurde Kammerpräsident, Goethe

„Alles was wider uns war, ist vernichtet!" schreibt

Kalb an Goethe'S Eltern. „Du nimmst", schreibt Goethe 18. Mai an Gustchen Stolberg, „an

dem unsteten Menschen noch theil, der seit er Dir nichts von sich schrieb, seltsame Schicksale gehabt hat.

Ich fühle, daß ich Dir nicht alle- sagen

kann, darum mag ich Nichts sagen . ..

War bei Frau v. Stein, einem

Engel von einem Weibe, der ich so oft die Beruhigung meines Herzens und manche der reinsten Glückseligkeiten zu verdanken habe, der ich noch

nichts von Dir erzählt, heute will ich's aber thun." „Nachts in meinem Garten.

Da laß ich mir von den Vögeln was

Vorsingen, und zeichne Rasenbänke, die ich will anlegen lassen, damit Ruhe über meine Seele komme, und ich wieder von vorn möge anfangen zu

tragen und zu leiden.

Gustchen, könnt ich Dir von meiner Lage sagen.

Die erwünschteste für mich, die glücklichste — und dann wieder —

Ich

sagte immer in meiner Jugend zu mir, da soviel tausend Empfindungen

da- schwankende Ding bestürmten: was das Schicksal mit mir will, daß e- mich durch all die Schulen gehn läßt! es hat gewiß vor (mich dahin

zu stellen, wo mich die gewöhnlichen Qualen der Menschen garnicht mehr anfechten müssen.

Und jetzt noch, ich sah alles als Vorbereitung.)

Ich

hab das auSgestrichen, weil- dunkel und unbestimmt gesagt war."

20. Mai.

„Der Herzog ist ein trefflicher Junge, und wird, will'-

Gott, auch auSgähren.

Fritz wird gute Tage mit uns haben ..

Preußische Jahrtücher. Bd. XLVI. Heft 5.

38

Schreib'

Goethe'S erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

530

doch meiner Schwester!

Ihre Briefe zerreißen mir das Herz.

O daß ihr

verbunden wäret! daß in ihrer Einsamkeit ein Lichtstrahl von Dir auf sie htnleuchtete!..

Seid einander, was ich euch nicht sein kann! Was rechte

Weiber sind, sollten keine Männer lieben, wir sind'S nicht werth."

In dieser Stimmung empfing er KlopstockS Brief, der ihn wie mit einem kalten Sturzbad überschüttete. — Der Ton seiner Antwort, 21. Mai, spricht vom Groll des übermüthigen Jünglings, der an Widerspruch nicht

gewöhnt war. — „Verschonen Sie und künftig mit solchen Briefen, lieber Klopstock!

Sie helfen uns nichts und machen uns nur ein Paar böse

Stunden.

Sie fühlen selbst, daß ich darauf nichts zu antworten habe.

Entweder ich müßt' als Schulknabe ein Pater peccavi anstimmen, oder

sophistisch entschuldigen, oder als ein ehrlicher Kerl vertheidigen, und käme vielleicht in Wahrheit ein Gemisch von allen dreien heraus, — und wo­

zu? — Also kein Wort mehr zwischen uns über die Sache.

Glauben

Sie mir, daß mir kein Augenblick meiner Existenz über bliebe, wenn ich auf alle solche Anmahnungen antworten sollte. Augenblick weh, daß es ein Klopstock wäre.

mir wissen und fühlen Sie eben das.

immer kommen.

Dem Herzog that'- einen

Er liebt und ehrt Sie; von

Leben Sie wohl.

Stolberg soll

Wir sind nicht schlimmer, und, will's Gott, besser, als

er uns gesehn hat."

„Was wird's werden?" schreibt er 24. Mai an Gustchen.

„Ich hab'

eben noch viel auSzustehn, das ist's, waS ich in allen Drangsalen meiner

Jugend fühlte; aber gestählt bin ich auch, und will auSstehn bis ans Ende. — Nun hörst Du wieder eine Weile nichts von mir.

Fritz soll

kommen, wenn er gern mag; der Herzog hat ihn lieb, wünscht ihn je eher je lieber, will ihn aber nicht engen."

Denselben Tag an Frau v. Stein: „Also auch daS Verhältniß, das reinste, wahrste, schönste, daS ich außer meiner Schwester je zu einem

Weibe gehabt, auch daS gestört! — Und das alles um der Welt willen!

Die Welt, die mir nichts sein kann, will auch nicht, daß Du mir was sein sollst." — TagS darauf:

„Sie sind sich immer gleich, immer die

innerliche Lieb' und Güte! Verzethn Sie, daß ich Sie leiden mache! Ich

will's aber künftig suchen allein tragen zu lernen." In Klopstock'S Kreis erregte Goethe'S schroffe Abweisung einen un­

gemeinen Aufruhr.

„ES thut mir in der Seele weh für Goethe!" schreibt

ihm Fritz Stolberg 8. Juni, „er verdtent'S Ihre Freundschaft zu ver­ lieren, und doch weiß ich, wie er von Herzen Sie ehrt und liebt. sage ich nicht, ihn zu entschuldigen.

Das

Starrkopf ist er im allerhöchsten Grad,

und seine Unbeugsamkeit, welche er, wenn es möglich wäre, gern gegen

Gott behauptete, machte mich schon oft für ihn zittern.

Gott welch ein

Goethe'- erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

531

Gemisch! ein Titanenkopf gegen seinen Gott, und nun schwindelnd von der Gunst eines Herzogs!

Sagen Sie mein Liebster! denn Sie erkannten

früh seinen eisernen Nacken: dachten Sie nicht an ihn, wie Sie die War­ nung machten"

„Und doch

[Sine Warnung vor den Gotteslästerern!]

kann er so weich sein, so liebend,

läßt sich in guten Stunden leiten

am seidnen Faden . . . Gott erbarm sich über ihn und mach ihn gut!

Aber wenn Gott nicht Wunder an ihm thut, so wird er der Unseligsten einer.

Wie oft sah ich ihn schmelzend und wüthend in einer Viertel­

stunde . . .

Der junge Herzog hat viel Anlage zum Guten und Bösen.

Er hat natürliche Wildheit und Härte . . .

Die anderen Geschichten,

welche mir Gustchen (!) erzählt hat, sind lächerlich und schlecht . . . Und doch .. werde ich hin müssen, das hab ich versprochen."

Sein Bruder Christian, 16. Juni: „Ich wünschte so sehr, daß mein Bruder sich auf gute Weise von seiner Verbindung losmachen könnte . . .

Wie hat sich Goethe mit dem Herzog, dem wilden rohen Jungen, so

verbinden Maitresse!

können!

. . .

Der

Herzog

und

DaS habe ich Mühe zu glauben.

er

eine

gemeinschaftliche

Aber beide sind unbändig,

und beiden ist der Umgang mit einander höchst gefährlich . . .

Zustand rührt mich unbeschreiblich.

Luisens

Sie sind freilich gar nicht für ein­

ander gemacht und haben sich nie geliebt — doch wann lieben sich Fürsten!" 11. Juni erhielt Goethe seine förmliche Anstellung als Geh. LegationS-

rath, mit 1200 Thlrn. und Sitz und Stimme im Conseil. ihm volle Freiheit zu gehn, sobald er wollte. Kalb:

Dabei blieb

An seine Eltern schrieb

„Nie würde der Herzog darauf verfallen sein, Goethe einen an­

dern Charakter als den seines Freundes anzutragen: er weiß zu gut, daß

alle andern unter seinem Werth sind; wenn nicht die hergebrachten Formen solches nöthig machten.

„Ich hab' so vielerlei", schreibt Goethe an Kestner und Lotte, „daS

mich herumwirft; ehemals waren's meine eignen Gefühle, jetzt sind neben denen noch die Verworrenheiten andrer Menschen, die ich trage und zu­ rechtlegen muß.

Soviel nur: ich bleibe hier, und kann da, wo ich und

wie ich bin, meines Lebens genießen, und einem der edelsten Fürsten und

Menschen in mancherlei Zuständen förderlich und dienstlich fein.

Der

Herzog, mit dem ich nun schon an die neun Monate in der wahrsten

und innigsten Seelenverbindung stehe, hat mich endlich auch an seine Ge­ schäfte gebunden; aus unsrer Liebschaft ist eine Ehe entstanden, die Gott

segne." 13. Juni erhält Herder die Vocation nach Weimar.

Goethe hatte

schwer gegen das Borurtheil aller landeseingesessenen Geistlichen an-

38*

Goethe'- erste- Jahr in Weimar, 1775—1777.

532

kämpfen müssen, die Herder für einen Freigeist hielten; aber er hatte sein Stück durchgesetzt.

Goethe, Wieland und Herder verbündet und an einem Ort!

Die

ganze Constellation der deutschen Literatur hatte sich umgewendet. — Nun schien noch die ganze Frankfurter Sturm- und Drang-Gesellschaft sich ein­

zufinden. 24. Juni kam Klinger in Weimar an.

„Ich lag an Goethe'S Hals,

und er umfaßte mich mit inniger Liebe: närrischer Junge! und kriegte

Küfie von ihm: toller Junge! und immer mehr Liebe.

Wort von meinem Kommen.

Er wußte kein

O was ist von Goethe zu sagen! ich wollte

eher Sonne und Meer verschlingen! — Wieland ist der größte Mensch,

den ich nach Goethe gesehn. — Hier sind die Götter! hier ist der Sitz des Großen!

Glaub von allem nichts, was über das Leben hier geredet

wird, es ist kein wahres Wort daran.

Es geht alles den großen, simpeln

Gang, und Goethe ist so groß in seinem politischen Leben, daß wir's nicht

begreifen." Er wohnte mit Lenz in einem Hause.

Eben hatte er eine ganze

Reihe seiner wilden Krafttragödten veröffentlicht: „Die neue Arria", „Si­

mone Grimaldi", „Sturm und Drang". „Ich laß' all das werden vom blinden Ungefähr, und baue an mir

fort und dreist hinauf die Sonne an, Sturz oder Gipfel!" Fast alle Tage und Nächte war er mit Lenz, Goethe, Wieland und Kalb zusammen.

„Die Kerls in Weimar", schreibt der alte Freund Kayser in Frank­

furt, „treiben sich gut! mich freut ihr Leben, denn ich habe erstaunenden Glauben daran." Auch er hatte Lust, sich an diesem Leben zu betheiligen,

er konnte einen Librettodichter für seine Operetten brauchen; aber Goethe schrieb ab, der Freunde wurden ihm zu viel.

So also sehn die Genies

aus! sagten die alten Geheimräthe. „Die Gegenwart", schreibt Goethe an Frau v. Stein, die nach Pyr­ mont gereist war, „ist's allein, die wirkt, tröstet und erbaut!

Wenn sie

auch wohl manchmal plagt — das Plagen ist der Sonnenregen der Liebe.

Ich hab Sie viel lieber seit neulich, viel theurer und viel werther ist mir

Deine Gutheit zu mir.

Aber freilich auch klarer und tiefer ein Verhält­

niß, über daS man sich so gern verblendet."

2. Juli.

„Hier bildend nach der reinen stillen Natur, ist ach mein

Herz der alten Schmerzen voll.

Leb' ich doch stets um derentwillen, um

derentwillen ich nicht leben soll." — „Mit Wieland hab ich göttlich reine

Stunden, das tröstet mich viel." 5. Juli, Wieland an Merk.

„Wegen Goethe bitte ich Sie ruhig

zu sein. DaS Schicksal hat ihn in Affection genommen; er ist Cäsar und

Goethe'« erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

533

sein Glück, und ihr werdet sehn, daß er sogar in diesen Hefen der Zeit große Dinge thun wird."

9. Juli, Goethe an Frau v. Stein.

„Gestern Nachts lieg' ich im

Bett, schlafe schon halb, Philipp bringt mir einen Brief, dumpfsinnig les'

ich — daß Lilli eine Braut ist!! kehre mich um und schlafe fort.--------Wie ich das Schicksal verehre, daß es.so mit mir verfährt!

So alle-

zur rechten Zeit! — — Lieber Engel, gute Nacht!" — Jetzt ging diese Verlobung noch auseinander; der Bräutigam starb bald darauf. Die tollsten Gerüchte wurden überall herumgetragen.

„Hab mich

immer lieb!" schreibt Goethe 24. Juli aus Ilmenau an Merk, „glaub,

daß ich mir immer gleich bin.

Freilich hab' ich auözustehn gehabt, da­

durch bin ich nun ganz in mich gekehrt. denn die Welt keine Freude erlebt.

Der Herzog ist ebenso, daran

Wir halten zusammen und gehn un­

sern eignen Weg, stoßen so freilich allen Schlimmen, Mittelmäßigen und Guten sür'n Kopf, werden aber doch hindringen, denn die Götter sind sichtbar mit uns.

— Lenz wird endlich gär lieb und gut in unserm

Wesen, sitzt jetzt in Wäldern und Bergen allein, so glücklich als er sein kann.

Klinger kann nicht mit mir wandeln, er drückt mich.

Ich hab's

ihm gesagt, darüber er außer sich war und'S nicht verstand und ich'S nicht

erklären konnte noch mochte." 3. August, im Thüringer Wald, da ihm das Schicksal einen ganz

reinen Moment bereitete, dichtete er ein Lied:

„mein Karl und ich ver­

gessen hier, wie seltsam uns ein tiefes Schicksal leitet!"

Er redet das

Schicksal an: „du hast uns lieb, du gabst uns das Gefühl, daß ohne dich

wir nur vergebens sinnen, durch Ungeduld und glaubenleer Gewühl vor­

eilig dir niemals was abgewinnen.

Du hast für uns das rechte Maaß

getroffen, in reine Dumpfheit uns gehüllt, daß wir, von Lebenskraft er­ füllt, in holder Gegenwart der liebern Zukunft hoffen!"

Hier, 5. August, in einer Höhle Zusammenkunft mit Frau v. Stein: „Deine Gegenwart hat auf mein Herz eine wunderbare Wirkung gehabt; mir ist wohl und doch so träumig. — Ach wenn Du da bist, fühl' ich,

ich soll dich nicht lieben! ach wenn du fern bist, fühl' ich, ich lieb' dich so sehr! — Dein Verhältniß zu dir ist so heilig, daß ich recht fühle, eS

kann mit Worten nicht ausgedrückt werden, Menschen können's nicht sehn." Frau von Stein war keine Friderike, kein Grethchen und kein Clärchen; die Stimmung des Veilchens, durch den Fuß des Geliebten mit Freuden

zu sterben, war nicht die ihrige.

Sie fühlte sich ganz voll, als Person

gegen Person, und sie hatte den weiblichen Jnstinct, daß auch die Liebe ein Duell ist. gehn.

Sie konnte sehr zurückhalten; sie konnte darin sehr weit

Sie war weltklug, und die Art, wie sie Goethe zuerst behandelte.

534

Goethe'- erste- Jahr in Weimar, 1775 — 1777.

hätte als die weltklügste erscheinen können: nur durch ihre scharfe Ver­

theidigung konnte Goethe'- Feuer in dem Grad angefacht werden.

Aber

sie handelte nicht blos au- Weltklugheit; der Kampf spielte auch in ihrem

Innern.

Sie hätte gern ein Freundschaft-verhältniß gewollt, sie kämpfte

gegen ihre eigne Leidenschaft, und daher mit doppelter Anstrengung gegen

die seine.

Freilich diente da- nur dazu, beide- stärker anzufachen.

Sie

hatte eine starke Sehnsucht nach Idealen, die aber gedämpft war durch die Gewohnheit höfischer Sitte.

Sie wollte den unbändigen übermüthigen

Knaben erziehn, der zuweilen da- Joch abzuschütteln strebte, unmuthig wie der Bär in Lili'S Park, dann aber den Nacken wieder beugte.

Wenn sie

ihn zuweilen streng an die gesellschaftlichen Schranken erinnerte, wurde sie doch unruhig, wenn seine Leidenschaft sich gar zu bescheiden fügte; sie

wußte da- Band zu lockern, ließ sich auch wohl von seinen anderweitigen Liebschaften berichten, aber mit der stillen Absicht, ihn dafür zu strafen.

Goethe wurde durch sie in einem andern Sinn erzogen al- sie meinte: der größte Dichter der Liebe lernte durch sie die geheimsten Schlupfwinkel

der Liebe kennen und darstellen; darum ist der Briefwechsel auch für seine poetische Entwickelung so wichtig.

1. Sept. — „Wenn das so fortgeht, beste Frau! werden wir noch zu lebendigen Schatten.

Soviel Liebe, soviel treffliche Menschen, und so­

viel Herzen-druck!"

8. Sept. — „Ich war gestern sehr traurig und wußte nicht warum

... Ich bin dem Schicksal zu viel schuldig, al- daß ich klagen sollte, und doch für meine Gefühle kann ich nicht-.

Ich werde nicht nach Kochberg

kommen, denn ich verstand Wort und Blick."

10. Sept. — „Ich schicke Ihnen Lenz; endlich hab' ich'- über mich gewonnen.

O Sie haben eine Art zu peinigen wie da- Schicksal; man

kann sich nicht darüber beklagen, so weh e- thut.

Er soll Sie sehn, und

die zerstörte Seele soll in Ihrer Gegenwart die Balsamtropfen einschlürfen,

um die ich alle- beneide. — Er war ganz betroffen, ganz im Traum, da

ich ihm sein Glück ankündigte, in Kochberg mit Ihnen sein, mit Ihnen gehn, Sie lehren, für Sie zeichnen. — Und ich — zwar von mir ist die

Rede nicht — und warum sollte von mir die Rede sein? . . Von mir hören Sie nun nicht- weiter, ich verbitte mir auch alle Nachricht von Ihnen oder Lenz."

Im Tagebuch 10. Sept.: „reine Trauer de- Leben-". 9. Sept, schreibt Wieland über Lenz: „man kann den Jungen nicht

lieb genug haben.

So eine seltsame Composition von Genie und Kind­

heit! so ein zarte- Maulwurfsgefühl und so ein nebliger Blick! und der

ganze Mensch so befangen, so liebevoll!

Wir lieben ihn alle wie unser

535

Goethes erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

eigen Kind, und so lange er selbst gern bleibt, soll ihn nichts von uns scheiden."

Lenz dichtete damals fast nur kleine Schnitzel, die wegen einzelner

genialen Einfälle überschätzt wurden; eS gingen ihm fortwährend große Ent­

würfe im Kopf herum, aber nichts wurde ausgetragen.

Alle Bilder er­

schienen ihm durch das Medium seiner kranken Einbildungskraft, manche dramatische Phantasie sieht auS, wie im delirium tremens geschrieben. Alle seine Gedichte auS jener Zeit athmen die Leidenschaft zu einer

vornehmen Dame. Sie strahlt in Lichterglanz und Juwelen: „und denkest

nicht, daß hier in Nacht ein auSgeweinteS Auge wacht, das überall, wohin

eS flieht, kein Mittel, sich zu retten, sieht.. Fern und verachtet und mißkannt, wo Niemand weiß, wer mich verbannt — ach wie so glücklich ist der Mann, der Dir zu Füßen sterben kann!" — Allenfalls zerstampft wie Petrarca unter den Rädern ihres Wagens!

„Verzeih den Kranz, den eines Wilden Hand um dein geheiligt

Bildniß wand!

Hier, wo er unbekannt der Welt, in dunkeln Wäldern,

die ihn schützen, im Tempel der Natur es heimlich aufgestellt, und wenn

er davor niedersällt, die Götter selbst auf ihren Flammensitzen für eifer­ süchtig hält!"

„Der verlorne Augenblick, die verlorne Seligkeit!" — „Bon nun an die Sonne in Trauer, von nun an finster der Tag, des Himmels

Thore verschlossen!

Wer ist, der wieder eröffnen, mir wieder erschließen

sie mag? Hier auSgesperret, verloren, sitzt der Verworfne und weint, und kennt in Himmel und Erden gehässiger nichts als sich selber, und ist in Himmel und Erden sein unversöhnlichster Feind!"

„Ach er ist hin der Augenblick, und der Tod mein einzigstes Glück." „Daß er käme!

Mit bebender Seele wollt' ich ihn fassen! wollte mit

Angst ihn und mit Entzücken halten ihn, halten und ihn nicht kaffen! Und drohte die Erde nur unter mir zu brechen, und drohte der Himmel

mir die Kühnheit zu rächen: ich hielte Dich, fasse Dich, Heilige! Einzige! mit all Deiner Wonne, mit all Deinem Schmerz! preßt' an den Busen

Dich, sättigte, einmal mich, wähnte, Du wärst für mich! und in dem Wonnerausch, in den Entzückungen bräche mein Herz." — „Zwar wär' es Sünd' auf Leben lang, doch machte mir die Hölle nicht bang!" — „Armida! Armida! — Behaltet euren Himmel für euch!!" —

— „Ha unter allen Foltern des Lebens, auf die der Scharfsinn des

Menschen gesonnen haben kann, kenne ich keine größere, als zu lieben und ausgelacht zu werden!

Und die Marmorherzen machen ihrem Gewtffen

diese Peinigung so leicht, weil eS ihnen so wenig Mühe kostet, weil sie

ihrem Stolz und ihrer eingebildeten Weisheit so schmeichelt, weil sie die

Goethe- erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

536

schlechtesten Erdensöhne mit so

geringen Kosten

über

den niedrigsten

Gottessohn hinauSsetzt!" „Ein echter Liebhaber muß eigentlich nichts thun, als den Göttern

zur Farce zu dienen!"

Die Götter spotten nur des armen Tantalus, der

im Glauben, die Königin der Götter zu lieben, nur eine Wolke anbetet l — In einem „Dramölet auf dem Olymp", daö Goethe 14. Sept, las,

hat Lenz das schauerliche Bild auSgemalt. „Lenz", schreibt Goethe 16. Sept, an Lavater, „ist unter uns wie

ein krankes Kind; wir wiegen und tänzeln ihn, und geben ihm von Spiel­ zeug, was er will." In einem seiner Stücke, „die Freunde machen den Philosophen", das

in der ersten Hälfte deS JahrS gedruckt wurde, und Schröder sehr wohl

gefiel, führt Strephon oder Lenz oder Tantalus wie der spätere Roquairol

ein Stück im Stück auf, in welchem er seine eigne Herzensgeschichte er­ zählt.

Donna Serafina, seine hohe Geliebte, ist bereit, einem armen

Marquis

ihre Hand zu geben, „um so ihrer Liebe einen Beschützer zu

erkaufen!"

Da aber Strephon dagegen ist, heirathet sie Don Prado, einen

vornehmen Mann, der sie wirklich liebt; in der Hochzeitsnacht erklärt sie

ihm, sie liebe einen andern, und er erwidert: „Die Flamme, die für dich in diesem Herzen brennt, ist viel zu rein, als daß ihr ältere Verbindungen,

die du getroffen hast, nicht heilig sein sollten!-------- Ich will den Namen

eurer Heirath tragen!"--------- Worauf die Liebenden sich anbetend vor ihm niederwerfen. — „Die Freunde machen den Philosophen!"

Lenz meint, die Freunde

hätttn ihn so mißbraucht und so schlecht behandelt, daß er endlich wohl Ge­ duld lernen müssen.

Mit größerem Recht konnte daS Goethe von sich sagen.

Er konnte eine gewisse Verwandtschaft seiner Jugendversuche mit denen

seiner Freunde nicht ablengnen, aber e« war eine Verwandtschaft, vor der ihm graute.

Er war im Begriff, seine alte Schale abzuwerfen, und jene

wollten ihn noch in der alten Gestalt sehn, in der alten Gestalt zeigen, die unter ihren Händen ein Zerrbild wurde.

Er duldete sie lange und

litt viel Schaden an ihnen; zuletzt freilich riß ihm die Geduld und er machte unter ihre Existenz einen dicken Strich.

Am ausführlichsten schildert Lenz seine phantastischen HerzenSerlebnisse in einem Roman in Briefen,

WertherS Leiden".

„der Waldbruder, ein Pendant zu

Herz, deS Dichters Ebenbild, wird durch Fräulein

Schatouilleufe in feiner Leidenschaft geäfft und unglücklich gemacht.

Ihm

steht ein gewiffer Rothe gegenüber: „Ich lebe glücklich wie ein Poet, daS

will bei mir mehr sagen als glücklich wie ein König...

Ich bin überall

willkommen, weil ich mich überall hinzupassen weiß...

Selbst die hef-

537

Goethe'S erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

ttgste Leidenschaft muß der Selbstliebe untergeordnet sein, oder sie ver­ fällt in'S Abgeschmackte...

Mein EpicuretSmuS führt doch weiter, als

dein tolles Streben nach Luft- und Htrngespinnsten...

Nichts lieblicher

als die Eheknoten, die für mich geschlungen werden und an denen ich

mit solcher Artigkeit unterweg zu schleichen weiß.

Denk waS für

ein

Aufwand von Reizungen bet all den Geschichten um euch her ist, welch eine Menge Charaktere sich mir entwickeln, tote künstliche Rollen um mich angelegt und wie meisterhaft sie gespielt werden.

DaS ergötzt meinen

innern Sinn unendlich, besonders weil ich zum Voraus weiß, daß fich

die Leute alle an mir betrügen und mir hernäch doch nicht einmal ein böses Wort geben dürfen. — Kann man zweifeln, wem das gilt?

Schlimmer noch wurde Goethe durch einen andern Freund mitge­

spielt, durch Jacobi.

„Allwill's Papiere"

erschienen stückweise im

Mercur, von den meisten wurden sie Goethe zugeschrieben, der augen­

scheinlich darin protraittrt war.

Wieland war sehr warm dafür, nur

einmal, Juli 1776, wurde er wild, als Allwill einen gar zu verwegenen

Kraftbrief schrieb: er bemerkte nicht, daß Jacobi nicht mehr sein Ideal

darstellen, sondern vor einem verwegenen Menschen warnen wollte, der

zuletzt bei aller Genialität sich als Bild der vollendeten Ruchlosigkeit erwies! Nun male man sich Goethe'S Empfindungen aus, wenn er diese und

ähnliche Expectorattonen las, aus denen ihm wie aus einem Zerrspiegel

sein eigener Charakter entgegentrat! Nicht als sei eS Jacobi'S Absicht ge­ wesen, in diesem ruchlosen Menschen Goethe zu schildern: er glaubte frei

zu schaffen, da aber seine Phantasie nicht productiv war, entstand ein verzerrtes aber sehr kenntliches Portrait.

In der That muß man, um sich ein Bild von dem damaligen Goethe zu machen, die Farben von Werther und Allwtll gewiffermaßen

in einander scheinen lasten. Allwill hat sehr viel von Goethe, er hat sogar vielleicht den Grund­

zug seines Wesens.

Aber eS fehlt ihm die Pietät und das Gewissen.

Von der Tiefe deS Gemüths bei Goethe hatte Jacobi keine Ahnung. Goethe war im Kern seines Wesens ebenso wenig Allwill als er Werther

Er hat in seiner Liebe schnell gewechselt und ist demnach vielen

war.

untreu geworden, aber in höherem Sinn war er auch wieder treu: die Bilder seiner Geliebten waren ihm heilig. Goethe hatte sich selber oft genug carikirt, aber von einem Freund

in diesem Licht gesehen zu werden, war doch

etwas andres.

nicht in seiner Art, sich über so etwas üuSzusprechen;

blieb und

errieth.

Es

lag

aber der Groll

brach in einem Augenblick aus, wo Niemand

den Grund

Goethe'S erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

538

Ueber all diesen Anfechtungen verlor Goethe niemals das Selbst­

vertrauen.

„Meine Lage", schreibt er 16. September an die alte Karschin,

„ist die glücklichste, die eine menschliche Einbildungskraft sich kaum zu wünschen wagt;

dafür hab' ich nun freilich auch alle Zulagen zu ge­

nießen, die das Schicksal an jene Gaben anzuhäkeln pflegt". selben Tag schickt er an Lavater ein Gedicht:

An dem­

er hat sich eingeschifft auf

den Wellen, unter den Segenswünschen der Freunde.

„Aber gottgesandte

Wechselwtnde treiben seitwärts ihn der vorgesteckten Fahrt ab, und er scheint sich ihnen hinzugeben, strebet leise sie zu überlisten,

treu dem

Zweck auch auf dem schiefen Wege. — Aber aus der dumpfen grauen Ferne kündet leise wandelnd sich der Sturm an, drückt die Vögel nieder

aufs Gewässer, drückt der Menschen schwellend Herze nieder. — Und er

kommt. Vor seinem starren Wüthen streicht der Schiffer weis' die Segel nieder.

Mit dem angsterfüllten Balle spielen Wind und Wellen.



Und an jenem Ufer drüben stehen Freund' und Lieben, beben auf dem

Festen...

Doch er stehet männlich an dem Steuer.

Mit dem Schiffe

spielen Wind und Wellen, Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen. Herrschend blickt er in die grimme Tiefe und vertrauet, landend oder schei­

ternd, seinen Göttern." „Ueber Carl und Luise sei ruhig! Wo die Götter nicht ihr Possen­

spiel mit den Menschen treiben, sollen sie noch eins der glücklichsten Paare werden, wie sie eins der besten sind; nichts Menschliches steht da­ zwischen, nur des unbegreiflichen Schicksals verehrliche Gerichte.

Wenn

ich Dir erscheinen und erzählen könnte, was unbeschreibbar ist, Du würdest auf Dein Angesicht fallen und anbeten den der da ist, der war und sein

wird! Aber glaub' an mich, der ich an den Ewigen glaube!" Nun trat ein neuer Titane in seinen Kreis, der wunderlichste, der ihm bisher begegnet war, Chr. Kaufmann (23. I.), ein Landsmann

und

Apostel

LavaterS;

in

seinem

„Faust"

meldete

ihn

der

Maler

Müller an. „Bor einigen Tagen erhielt ich ein Schreiben, das mir die Ankunft eines wahren Wundermenschen hierher berichtet, eines Menschen, der bei unverdorbener LeibeS- und Seelenkraft, bet der reinen Simplicität des

Patriarchen, beim vollen Gefühl der Natur, bei der Eigenheit und Gradheit seines Sinns, kurz bet allem, was herrlich und groß ist, doch zu­

gleich Herablassung genug besitzt,

alle Mischungen der Charaktere und

Temperamente, vom stärksten bis zum schwachen herab, wirkend zu um­ fassen; Weltkenntniß genug, alle Modificationen verstimmter und herab­ gewürdigter Menschheit zu behandeln; der auf alle Stände ohne Unter­

schied wirkt; dem der Zerbrecher an der Stirn, der Brechbare auf der

Goethe - erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

539

Zunge sitzt; kurz dessen kleinstes Haar schon bedeutungsvoll ist; der die Menschen mit seinen tief eindrtngenden Blicken würde zittern machen,

weil alle vor seiner Sonne nackend ständen, wenn nicht Sanftmuth und Wohlwollen, wie ein leise gefalteter Flor, sich dretfach umher wölkten,

den zu mächtigen Glanz zu mildern..."

— „Wie? dies Monstrum wird hier zu sehen sein? — Wie heißt

er doch?" — „Gottesspürhund!" Kaufmann wurde so genannt, weil er auf der Gottes Spur zu sein behauptete; er machte seine apostolische Rundreise.

In Kreuznach

hatte er des Maler Müller sechzehnjährige Schwester Friederike be­

zaubert; in Darmstadt alle Welt.

„Ein Märtyrer für die Wahrheit und

daS Beste der Menschheit!" schreibt Caroline Herder.

„Ach man ent­

weiht sein ganzes Wesen, wenn man nur von ihm schwätzt und ihm nicht

nachfolgt!" In Weimar (22. September bis 9. Octöber) schloß sich Goethe aufs

Innigste ihm an, wiederholt wird im Tagebuch eine herrliche Nacht an­

gemerkt:

Goethe hatte keine Ahnung, daß eine seiner eigenen Figuren,

der SatyroS, ihm lebendig entgegentrat.

Bald nach seiner Ankunft ging

Klinger, der „Löwenblutsäufer", fort, ursprünglich mit der Absicht, als

Artillerist in Amerika für die Freiheit zu fechten; aber er ließ sich be­

stimmen, vorerst als Theaterdichter in Gotha zu bleiben. 2. Oktober kam endlich Herder in Weimar an; 16. Juni war seine

Freundin, die Gräfin Marie, gestorben.

„Gott weiß", hatte er in seiner

Abschiedspredigt 7. September gesagt, „wie eS mich von Anfang meines

Amts geschmerzt hat, daß ich hier so ganz unnütz zu sein schien, wo kaum daS Echo meiner Stimme zu mir drang, und ich auf einem Instrument

zu spielen schien, dem nichts als die Saiten fehlten ...

Da erweckte

Gott das Herz unser theuern verblichenen Landesmutter, die recht als ein

Engel zu mir trat und mir den Muth gab, den ich in mir vergeblich suchte. . .

Drei Tage vor ihrem Ende bekam ich meinen Ruf, und

jetzt, wenige Tage nach ihrer Beerdigung, halte ich hier die Leichenrede auf mein Amt ...

Ich war voraus durch Glück und Jugend verwöhnt:

wo ich hinkam, ging Achtung vor mir und Liebe folgte mir nach; ich war

hieran gewöhnt, und Gott mußte mich an einen Ort führen, wo er mir dieses versagte, wo es wüst um mich wurde, wo ich gezwungen ward an­

ders zu sein und zu denken." Goethe hatte aufS freundschaftlichste für ihn gesorgt, und ließ sich darin nicht stören, als Herder gleich zu Anfang ihm das Leben sauer

machte: die Umkehr ihrer Stellungen wurde ihm doch lästig, der frühere

540

Goethe's erstes Jahr in Weimar, 1775—1777.

Auch Wieland empfing ihn mit Begeiste­

Schüler nun sein Gönner.

rung: „Mein Herz flog ihm beim ersten Anblick mächtig entgegen.

So

oft ich ihn ansehe, möcht' ich ihn zum Statthalter Christi machen können. Aber wenn Goethe's Idee stattfindet, so

Weimar ist seiner nicht werth.

wird doch Weimar noch der Berg Ararat, wo die guten Menschen Fuß

fassen können,

während allgemeine Sündfluth die übrige Welt bedeckt.

Goethe ist immer wirksam, uns alle glücklich zu machen; ein

herrlicher, verkannter Mensch:

großer,

so wenige sind fähig, sich von ihm einen

Begriff zu machen."

In seiner Liebe schwankte Goethe noch immer zwischen Hangen und Langen. — „Sie gehn!" schreibt er 7. Oktober an Frau v. Stein, „und weiß Gott,

was werden wird!

Ich hätte dem Schicksal dankbar sein

sollen, das mich in den ersten Augenblicken, rein fühlen ließ, wie lieb ich Sie habe.

da ich Sie wiedersah, so

Ich hätte mich damit begnügen

Verzeihen Sie!

und Sie nicht weiter sehn sollen.

ich seh' nun, wie

meine Gegenwart Sie plagt; wie lieb ist mir'S daß Sie gehn! In Einer

Stadt hielt' ich's so nicht aus . . .

Sie kommen mir eine Zeit her wie

eine Madonna vor, die gen Himmel fährt; vergebens, daß ein Rückbleiben­

der feine Arme nach ihr ausstreckt, vergebens, daß fein scheidender thränenvoller Blick den ihrigen noch einmal wiederwünscht, sie ist nur in den

Glanz versunken, der sie umgiebt, nur voll Sehnsucht nach der Krone, die ihr überm Haupt schwebt". Sie schrieb auf die Rückseite deS BuchS: „Ob's unrecht ist, was ich empfinde, und ob ich büßen muß die mir so liebe Sünde, will mein Ge­

wissen mir nicht sagen — Vernicht' eS Himmel da, wenn mtch'S je könnt' anklagen!"

„Die Welt wird mir wieder lieb, ich hatte mich so los von ihr ge­

macht, wieder lieb durch Sie. — Mein Herz macht mir Vorwürfe: ich fühle, daß ich mir und Ihnen Qualen bereite.

Vor einem halben Jahr

war ich so bereit zu sterben, und ich btn'S nicht mehr." —

Dieser Brief steht in dem Lustspiel „die Geschwister" welches Goethe 26. bis 31. Oktober ausarbeitete:

in die Textur deS Stücks gehört er

garnicht; wie überhaupt Wilhelm-Fernando'S Vorgeschichte in die Atmo­ sphäre desselben nicht recht zu passen scheint. „Du liegst schwer über mir und bist gerecht, vergeltendes Schicksal! — Warum stehst Du da? zeiht mir!

Und Du?

Just in dem Augenblick! — Ver­

Hab' ich nicht gelitten darum? — Verzeiht!

es ist lange!

Ich habe unendlich gelitten. — Ich schien euch zu lieben; ich glaubte euch zu lieben; mit leichtsinnigen Gefälligkeiten schloß ich euer Herz auf und machte euch elend! — Verzeiht und laßt mich!"

541

Goethe'« erstes Jahr in Weimar, 1775 — 1777.

So konnte etwa Allwill sprechen, der Held des Lustspiels kaum.

ES

sind Selbstgeständnisse,' auch die Combination der Namen Wilhelm und

Marianne, die nämliche wie im „Meister", ist bezeichnend.

„Die Geschwister", das einzige Stück, das Goethe in dieser Zeit machte, schließt sich in seinem Ton an Clavigo, Stella, Claudine, Erwin an; es imttirt durchaus die Sprache des schlicht bürgerlichen Lebens, im starken Gegensatz zu Egmont und zu Faust.

Ein liebliches Genrebild,

von der Sehnsucht nach ehelichem Glück durchhaucht, die Goethe so voll empfinden konnte.

Die theatralische Arbeit ist musterhaft: es hat im

folgenden Jahrzehnt eine zahlreiche Nachkommenschaft gehabt, die bürger­

liche Natürlichkeit ist freilich allmälig in die Ziererei der Kammerzofen auSgeartet, Marianne ist bis zur Gurli herunter gekommen. 21. November wurden die

„Geschwister"

in Weimar

aufgeführt:

Goethe spielte den Wilhelm, Mademoiselle Kotzebue, für die er eine

Art Neigung hatte, die Marianne; ihr jüngerer Bruder hat an dem Stück

wohl seine ersten Studien gemacht.

In denselben Tagen gab man die

„Mitschuldigen": in dieser Gestalt zeigte sich nun der Dichter des „Faust" deutschen Publikum,

dem

das

nicht wußte,

was

eS daraus machen

sollte. Im Stillen hielt -man ihn trotzdem noch für eine dämonische Natur.

„Goethe's Liebkosungen", schreibt Zimmermann 20. Novbr. an Lavater,

„scheinen mir die Liebkosungen eines Tigers.

Man faßt unter seinen

Umarmungen immer nach dem Dolch in der Tasche". — Etwas klingt an diese Stimmung wohl auch ein Brief der Herzogin Luise an Lavater, 14. Novbr.

„Nur zu lange hab' ich gegen Sie geschwiegen, ohne Sie

jemals zu vergessen. trauen.

Mein Schweigen kam nicht aus Mangel an Zu­

Könnte ich alles mit Ihnen theilen, alle Ahnungen, alle glück­

lichen und leidenden Stunden!

Aber unmöglich war's mir zu schreiben,

ich war fast zur Kleinmüthigkeit gesunken, alles düster und dumpf um mich her, alle Hoffnung erloschen!

Aber stark hinauf bin ich wieder ge­

stiegen; mein Gott giebt mir Muth, alles zu ertragen.

Helfen Sie mir

meinen Geist aufrecht erhalten!"

23. November trat Corona Schröter, als Kammersängerin der Herzogin Amalie engagirt, zum ersten Mal auf.

In Goethe's Tage­

büchern finden sich wiederholt entzückte Ausrufe über ihre Schönheit; die

HerzenSconfltcte verwickelten sich.

Ein Eclat machte auch die Draußen­

stehenden aufmerksam.

26. November beging Lenz eine „Eselei", in Folge deren ihm der Rath ertheilt wurde, sich zu entfernen, mit Reisegeld; das letztere schlug er aus, und schickte durch Herder, der sich seiner angenommen,

„ein

542

Goethe s erste- Jahr in Weimar, 1775 — 1777.

Pasquill" an Goethe.

Darauf, 30. November, durch den Kammerherrn

v. Einsiedel die strenge Anweisung, sofort abzureisen. „Lenz wird reisen", schreibt Goethe an den Letztem.

„Ich habe mich

gewöhnt, bei meinen Handlungen meinem Herzen zu folgen, und weder

an Mißbilligungen noch an Folgen zu denken.

Meine Existenz ist mir

so lieb wie jedem andern, ich werde aber just am wenigsten in Rücksicht

auf sie etwas in meinem Betragen ändern."

Lenz an Herder:

„Traurig genug!

Kaum gesehen und gesprochen,

auSgestoßen aus dem Himmel als ein Landläufer, Rebell, Pasquillant..

Ich dachte nicht, daß eS so plötzlich auS fein sollte."

Wieland an Merck:

„Lenz ist ein heterokliteS Geschöpf; gut und

fromm wie ein Kind, aber zugleich voller Affenstreiche, daher er oft ein schlimmerer Kerl scheint als er ist und zu sein Vermögen hat.

Er hat

viel Imagination und keinen Verstand, viel pruritum und wenig wahre Zeugungskraft; möchte immer waS beginnen und wirken, und weiß nicht was, und richtet, wie die Kinder, manchmal Unheil an, ohne Bosheit,

blos weil er nichts Andres zu thun weiß". — WaS hatte er verbrochen? — Ohne Zweifel hatte er in seiner ge­ wöhnlichen Art sich über die Beziehungen der Frau von Stein zu Goethe

näher zu unterrichten gesucht, und was er da erfuhr oder zu erfahren

glaubte, indiScret behandelt.

Goethe hat ihm nie vergeben.

„Die ganze Sache", schreibt Goethe an Frau v. Stein, „reißt so an

meinem Innersten, daß ich erst daran spüre, daß es tüchtig ist und waS

uns halten kann"; und 1. December: „Ich sollte garnicht schreiben, ich weiß nicht, wie mir ist; die Reise muß wohl gut sein, da sie mich auS

der tiefsten Verwirrung meiner selbst herausreißt". Er begleitete 2. Decbr. mit Kaufmann den Herzog nach Wörlitz bei Deffau; auch dort wußte

Kaufmann, der in seinem Apostelgeschäft nach dem Norden ging, alles zu

bezaubern.

Lenz ging zu Goethe's Schwester, seiner alten Gönnerin, nach Emmen­

dingen.

„Wir sind hier allein", schreibt Cornelie 10. December an

Gustchen Stolberg, „auf dreißig Meilen ist kein Mensch zu finden, meines

Mannes Geschäfte erlauben ihm nur sehr wenige Zeit bei mir zuzubringen, und da schleiche ich denn ziemlich langsam durch die Welt, mit einem Kör­

per, der nirgends hin als in'S Grab taugt.

Hier macht die Natur meine

einzige Freude auS, und wenn die schläft, schläft alles." — Das Bild dieses ersten JahrS in Weimar möge hier mit einigen Fragmenten des

Tagebuchs seinen Abschluß finden.

21. Dec. 1776.

„Von Leipzig bis Weimar mit dem Herzog in acht

Stunden Courier geritten." — 24. Dec.

„Mit Kaufmann über Herder.

Goethe'« erstes Jahr in Weimar, 1775 — 1777.

Hohe Nacht, Druck, Wehmuth und Glauben." — 25. Dec.

543

„Zu Frau

von Stein. — Biel gelitten . . Tiefes, tiefes Leiden . .

Bei Herder vergnügter Abend durch Kaufmann'- navov^ysia.“ — 26. Dec. „Nachts Kaufmann." — 27. Dec. „Redoute. Corona sehr schön." — 29. Dec. „Getanzt bis Mitternacht und sehr vergnügt." — 31. Dec. „Fieberhafte Wehmuth." 5. Jan. 1777, an Merck. „Ich lebe immer in der tollen Welt, und bin sehr in mich zurückgezogen. ES ist ein wunderbar Ding um'S Re­ giment dieser Welt, so einen politisch-moralischen Grindkopf nur Halbwege

zu säubern und in Ordnung zu halten." 8. Jan., an Lavater. „ES mag so lang währen als eS will, so hab' ich doch ein Musterstückchen deS bunten Treibens der Welt recht herz­

lich mitgenossen — Verdruß, Hoffnung, Liebe, Arbeit, Noth, Abenteuer, Langeweile, Haß, Albernheiten, Thorheit, Freude, Erwartetes und Untier« seheneS, Flaches und Tiefes, wie die Würfel fallen, mit Festen, Tänzen, Schellen, Seide und Flitter auSstaffirt — es ist eine treffliche Wirthschaft! — Und bei alledem, lieber Bruder! in mir und in meinen wahren End­

zwecken ganz glücklich. Ich habe keine Wünsche, als die ich wirklich in schönem Wanderschritt mir entgegenkommen sehe." Julian Schmidt.

Politische Correspondenz. Der Landtag und der Steuererlaß.

Berlin, 8. November 1880.

In der Thronrede bei Eröffnung des Landtages hat ohne Zweifel die Ankündigung eines SteuerlaffeS von 14 Millionen am meisten Ueber« rafchung hervorgerufen.

Diese Stimmung ist auch nach den Erläuterun­

gen nicht gewichen, welche der Ftnanzminister in seiner Etatsrede über die

Bedeutung der vorgeschlagenen Maßnahme an sich und ihren Zusammen­ hang mit dem Abschluß der Steuerreform im Reich und in Preußen ge­

geben hat. Um für die Beurtheilung der Frage,

welche den politisch bedeut­

samsten Theil der Aufgaben der laufenden Landtagssession zu bilden be­

stimmt sein dürfte, den richtigen Standpunkt zu gewinnen, erscheint eö räthlich, den historischen Verlauf sich zu vergegenwärtigen, welchen die

Steuerreform bisher genommen hat.

Dem Milliardensegen folgte alsbald ein schwerer Rückschlag in den

Finanzen des Reichs sowohl als der Etnzelstaaten.

Zunächst trat der

Rückgang im Reich hervor; die dauernden Einnahmen blieben weit hinter

den gesteigerten Ausgaben zurück; nach dem Versiegen der Quelle außer­ ordentlicher Zubußen aus der Kriegskontribution wurden zunächst die Re­

servefonds zur Deckung der laufenden Bedürfniffe

verbraucht, sodann

mußte zu einer von Jahr zu Jahr zunehmenden Steigerung der Matri-

kularumlagen geschritten werden.

Inzwischen war auch in den meisten

Bundesstaaten das Gleichgewicht zwischen den Einnahmen und Ausgaben

in bedenklicher Weise verloren gegangen.

Was insbesondere Preußen an­

langt, so hatte man unter dem Eindruck der alle Erwartungen überstei­

genden Erträge, welche die Betriebsverwaltungen und unter ihnen vor allem die Berg- und Hüttenverwaltung geliefert hatten, die Ausgaben

für die Verwaltungs-Zwecke des Staats um 82 Millionen, wovon etwa 30 Millionen für Kultus und Unterricht, der Rest zumeist zur Verbesserung der

Gehälter der Beamten verwandt wurde,

vermehrt und

daneben

Politische Corresponbenz. 33 Millionen an Steuern erlassen.

545

Kein Wunder, daß nach dem Rück­

gang der Erträge jener Einnahmezweige daS Gleichgewicht im Staats­ haushalt zunächst nur unter Zuhülfenahme außerordentlicher Hülfsmittel,

insbesondere durch Einstellung von Antheilen aus der französischen KriegSkontribution, erhalten wurde und nach Erschöpfung der letzteren mit dem

Jahr 1878/79 ein beträchtliches Defizit eintrat.

Unter diesen Umständen

ward die stetig wachsende Höhe der Matrtkularumlagen zu einer nationalen Kalamität.

Die Abgabe an daS Reich erschien als eine um so drücken­

dere Last, als die Fortentrichtung derselben ohne Erhöhung der Steuern

nicht ferner möglich war.

Die in diesem Umstand liegende Gefahr für

die Durchdringung des Volkes mit der Reichsidee wär nicht zu unter­

schätzen, weil inzwischen die natürliche Reaction gegen die Hochfluth na­

tionaler Regungen, welche die Wiederherstellung deS Reichs begleitet hatte, eingetreten und der dem deutschen Volk von

alterSher eigenthümliche,

freilich nicht zu seinen berechtigten Eigenthümlichkeiten zählende Partiku-

lariSmuS allwärtS wiedererwacht war.

Der Plan der ReichSregterung,

durch Steigerung der eigenen Einnahmen deS Reichs das letztere von den Zuschüssen der Einzelstaaten unabhängig, eS in seinen Finanzen selbst­

ständig zu machen,

konnte daher vom nationalen Standpunkt aus nur

gebilligt werden.

Zur Erreichung dieses Zieles erwies sich als der natürlichste Weg derjenige der Ausbildung der Steuerarten, welche der Gesetzgebung des Reiches ohnehin unterstellt waren, der Zölle und Verbrauchssteuern.

Die

direkten Steuern waren für Staats- und namentlich für Gemetndezwecke bereits so angespannt, daß eine weitere Steigerung sich nicht empfahl;

das Beispiel Englands, Frankreichs und Amerikas bewies dagegen, daß die Einnahmen aus den indirekten Abgaben recht wohl einer Erhöhung

fähig waren.

War so der Uebergang zu einem System wesentlich in­

direkter Besteuerung angezeigt, so konnte auch die direkte Steuer nicht un­

berührt bleiben.

Bisher hatten beide Arten der Abgaben ziemlich plan­

los und ohne systematischen Zusammenhang neben einander bestanden; jetzt wies die Erwägung, daß die Verbrauchsabgaben, um rentabel zu

sein, die breiteren Schichten der Bevölkerung treffen müssen und demzu­ folge eine Ergänzung in dem Sinne einer angemessenen Heranziehung

der wohlhabenden Minorität bedingen, mit Nothwendigkeit darauf hin,

den direkten Steuern in dem gesammten Abgabensystem die Stelle eines derartigen Regulators planmäßig zuzuweisen.

Kommunalsteuernoth hinzu.

Für Preußen

kam die

Die starke Heranziehung des Grundbesitzes

zu den Staatssteuern hatte mehr und mehr dazu geführt, die Deckung für die gesteigerten Communalbedürfniffe durch Zuschläge zu den PersonalPreußische Jahrbücher. Bd.

XLVI. Heft 5.

39

Politische Korrespondenz.

646 abgaben zu suchen.

200, 300 % Zuschläge zur Staatseinkommen- und

Klassensteuer kamen häufig, am Niederrhein und in Westphalen selbst

solche bis 600 % vor.

Der Verzicht des Staates auf einen Theil der

Realabgaben zu Gunsten der Gemeinden erschien sonach als die unerläß­

liche Voraussetzung für die Herstellung gesunder Kommunalsteuerverhält­ nisse.

Durch die Ermäßigung solcher Abgaben, deren Erhebungsart sie für

den Armen.besonders drückend erscheinen läßt, wird zugleich ein Aequivalent für die durch die Finanzlage erforderte stärkere Anspannung der Steuerkraft geboten. Sollte die Steuerreform im Reich daher ihren Zweck vollständig

erfüllen, so mußte sie die Mittel bieten, neben der Beseitigung der Ma-

trikularumlagen die Neugestaltung der directen Steuern in diesem Sinne, für Preußen also die Erniedrigung der Klassensteuer und die theilweise

Ueberweisung der Grund- und Gebäudesteuer an die Kommunen zu er­

möglichen. Die Durchführung des GesammtplanS bot die eigenthümliche Schwie­ rigkeit, daß die in Aussicht genommene Steigerung der eignen Einnahmen

des Reichs weniger im Haushalt des letzteren,

als in demjenigen der

Einzelstaaten durch Ermäßigung der Matrikularumlagen und Ueberweisung

von Ueberschüsien sich fühlbar macht; die beiden Seiten der Reform, Be­ schaffung der erforderlichen Mittel, und Umwandlung der directen Steuern

im Sinne einer Ergänzungsabgabe, also in verschiedenen gesetzgeberischen Körperschaften zu verhandeln waren.

Für Preußen speziell gesellte sich noch

das staatsrechtliche Bedenken hinzu, daß die Forterhebung der bestehenden

Steuern der Einwirkung der Landesvertretung durch die Verfassung ent­ zogen ist, eine entscheidende Mitwirkung derselben bezüglich des Erlasses

von Abgaben mithin nicht gesichert war.

Minister Hobrecht erwarb sich

das Verdienst, diesen Stein des Anstoßes durch Erwirkung eines König­ lichen Versprechens zu beseitigen, inhaltS dessen die Krone sich verpflichtete,

der Verwendung der jeweiligen Ueberschüsse aus den Reichssteuern, soweit darüber mit Zustimmung des Landtages nicht anderweit disponirt wird,

zur Ermäßigung der Klassen- und Einkommensteuer zuzustimmen.

Dem­

nächst erfolgte der erste große Schritt zur Stärkung der eignen Einnahmen

des Reichs durch die Aenderung des Zoll-Tarifs und die Erhöhung der Tabakssteuer; er vollzog sich in untrennbarer Verbindung mit der durch

die Erklärung der 204 angebahnten veränderten Wirthschaftspolitik, konnte

jedoch nur durch die materiell bedeutungslose, immerhin aber sehr uner­ freuliche Konzession der Klausel Frankenstein an die föderalistischen Ten­

denzen des Centrums durchgesetzt werden. Die späteren Anläufe zum Ab­

schluß der geplanten Maßregeln mißlangen nicht zum mindesten deshalb,

Politische Torrespondenz.

547

weil ein fester, Ziele und Mittel zahlenmäßig klarlegender Plan fehlte.

Mitgewirkt hat ohne Zweifel die Verstimmung auf nationalliberaler Seite über den AuSgang der ReichStagSsesston von 1879 und die nach der Land­

tagssession

1879/80 kaum

verständliche Schönthuerei der konservativen

Fraktion deS Reichstages mit

dem Centrum.

In Preußen hatte in­

zwischen die Königliche Zusage zur Vereinbarung deS Verwendungsgesetzes geführt, inhaltS dessen die verfügbaren Mittel auS den Reichssteuern zu

der durch den Etat zu bewirkenden gleichmäßigen Herabsetzung der Steuer von dem Einkommen unter 6000 Mark verwendet werden sollen.

Daß

dieses Gesetz in naher Zeit praktisch werden würde, erwartete bei Bera­ thung desselben Niemand; bot doch der Staatshaushalt für 1880/81 selbst

bei Einstellung der Mehrerträge aus den Reichssteuern knapp die Mittel, die laufenden Ausgaben zu decken, für die einmaligen und außerordent­

lichen Ausgaben mußte dagegen wiederum durch Anleihen Deckung ge­ sucht werden.

Unter solchen Umständen wirkte die Ankündigung eines Steuererlasses von 14 Millionen Mark, oder einer Vierteljahrsrate der Klaffensteuer und

der fünf untersten Stufen der Einkommensteuer in der Thronrede besonders überraschend.

Nachdem inzwischen aber verlautet war, daß auch diesmal

ein großer Theil der einmaligen Ausgaben durch Inanspruchnahme deS Staatskredits bestritten werden solle, wurde der Begründung deS Steuer­

erlasses durch den Finanzminister mit lebhafter Spannung entgegengesehen. Die Ausführungen desselben in der EtatSrede vom 2. d. M. bestätigten jene Nachrichten.

Bon den etwa 39 Millionen, welche an einmaligen

Ausgaben in dem Etat figuriren, sollen über 30 Millionen durch Anleihen und nur der Rest auS den laufenden Einnahmen Deckung finden. Soweit sich

aus den Aeußerungen in Abgeordnetenkreisen und in der Presse schließen läßt, hat die Thatsache, daß der Etat ein Defizit in solcher Höhe aufweist,

zunächst alle andern Erwägungen in den Hintergrund gedrängt und den Eindruck der wetteren Ausführungen deS Finanzministers wesentlich beein­

trächtigt.

Erwägt man, daß nach der preußischen VerwaltungSpraxtS in

das Extraordinarium auch solche Ausgaben eingestellt werden, welche wenn

auch nicht wiederkehrend, so doch zur Fortführung der laufenden Verwaltung erforderlich sind, mithin bet solider Finanzgebahrung auS den laufenden

Einnahmen bestritten werden sollten, so hat allerdings der Gedanke eines Steuererlasses

bei

einem Defizit von solcher Höhe,

die an strenge Finanzgrundsätze befremdendes.

Hätte • man

es

gewöhnten Preußen,

insbesondere für etwas durchaus

in Wirklichkeit mit einem Defizit von

30 Millionen zu thun und folgte das Ergebniß des Etats auS ständigen

Faktoren, so würde man allerdings den vorgeschlagenen Steuererlaß als

Politische Torrespondenz.

548

einen äußerst bedenklichen Einbruch in die altpreußische Finanzpraxis be­

zeichnen müssen.

Allein bei näherer-Betrachtung stellt sich die Sachlage

doch anders.

Wenn in dem Extraordinarium zahlreiche Posten stehen, welche Aus­ gaben der laufenden Verwaltung darstellen, so trifft dies, wie in dem

Generalbericht der Budgetkommission von 1879 und in den Verhandlungen deS Landtages wiederholt anerkannt ist, für das ganze Extraordinarium doch keineswegs zu.

Insbesondere herrscht darüber kein Zweifel, daß die

Durchführung der planmäßigen Regulirung der Wasserstraßen, der Ausbau

des Kanalnetzes und der Seehäfen nicht aus laufenden Mitteln zu be­ streiten fei.

Dasselbe gilt von den Bauten, welche zur Durchführung der

Justizreorganisation erforderlich sind.

Durchsicht

deS

Etats

noch

Ohne Zweifel werden bei genauer

wettere Posten

ähnlicher Art

sich

finden.

Aber auch abgesehen davon belaufen sich jene Positionen auf mehr als 14 7a Millionen Mark.

Wendet man diejenigen Grundsätze,

welche bei Genehmigung der

vorjährigen Vorlagen wegen Verstaatlichung der großen Privatbahnen zwischen den Faktoren der Gesetzgebung bezüglich der finanziellen Dispo­

sitionen über die Erträge der Eisenbahnverwaltung vereinbart sind und

welche demnächst gesetzlich fixirt werden sollen, auf den vorliegenden Etat an, so scheidet ferner das gesammte Extraordinarium der Eisenbahnver­

waltung auS dem durch laufende Einnahmen zu deckenden Betrage aus, denn nach jener Vereinbarung enthält das Extraordinarium der Eisenbahnen

nur solche Ausgaben, durch welche der Capitalwerth des Bahnbesitzes ver­ mehrt wird, deren Betrag demzufolge der auS dem Ertrage desselben zu verzinsenden Eisenbahnschuld

zuwächst.

Bringt

man diese Posten von

14 7g und 97, Millionen von dem Gesammtbetrage des ExtraordinariumS in Abzug, so verbleibt als aus der laufenden Einnahme zu deckender Rest die , Summe von 157, Millionen Mark oder etwa soviel, als vor der

Milliardenzeit, von welcher ab erst die rite auS außerordentlichen Mitteln zu bestreitenden Ausgaben in den Etat eingestellt sind, daS Extraordinarium

im Ganzen zu betragen pflegte. Diesem Soll steht an Deckungsmitteln aus den laufenden Einnahmen

zunächst der Ueberfchuß im Ordinarium zur Verfügung.

Derselbe beläuft

sich nach Abzug von 14 Millionen Mark Steuererlaß auf 8 7, Millionen, von denen bei Anwendung der Grundsätze der „finanziellen Garantien"

der Eisenbahnverwaltung etwa 2 Millionen behufs Rücklegung in den Reservefonds abgehen würden, so daß hier in Rechnung zu stellen sind

67, Millionen. Unter den Ausgaben,

welche im Ordinarium eingestellt sind, be-

Politische Torrespondenz.

549

findet sich ferner der Betrag von 12 Millionen Mark zur Tilgung von

solchen Anlehen, bezüglich deren die Consolidation nicht durchgeführt ist. Dieser

Posten kann

nach dem

erwähnten Generalbericht der Budget-

Commission und den Darlegungen namhafter Finanzpolitiker in den Bud­

getdebatten, — gemäß dem Geiste des Consolidationsgesetzes, welches da­ von ausgeht, daß die Schuldentilgung zu unterbleiben hat, solange auf

der andern Seite der Staatskredit in Anspruch genommen werden müsse, — nur

die

als

durchlaufender Posten

Einstellung

der

gleichen

insofern

aus

Summe

in Betracht kommen, als erfolgen

Anleihen

ohne daß das Gleichgewicht des Haushalts gestört wird.

kann,

Von diesem,

früher auch auf liberaler Seite mit Nachdruck vertretenem Standpunkt aus besteht mithin scbst unter Voraussetzung des Steuererlasses ein Defizit in Wirklichkeit nicht, vielmehr übersteigen die laufenden Einnahmen die

aus

ihnen

bei

richtiger

Finanzpolitik

zu

bestreitenden

Ausgaben um

3 Millionen Mark. Inzwischen unterliegt diese Auffassung erheblichen Bedenken. 12 Millionen zur Schuldentilgung sind zur Erfüllung

Jene

einer rechtlichen

Verpflichtung des preußischen Staats bestimmt; auch werden in die laufen­ den Einnahmen nicht unerhebliche Summen eingestellt, welche wie der Er­ lös aus veräußerten Domänen und andern Staatsgrundstücken, die Natur

außerordentlicher Beihülfen haben.

Aber auch für diejenigen, welche jener

laxeren Auffassung sich nicht anschließen, bestehen gute Gründe, das nach ihrer Auffassung vorhandene Deficit von 9 Millionen mit einem Steuer­ erlaß vereinbar zu erachten.

In dieser Beziehung kommt in erster Linie

in Betracht, daß die 1879 bewilligten Zölle noch lange nicht die normalen Erträge abwerfen. Mark eingestellt.

In den Etat für 1881/82 sind etwa 34 Millionen Dieser Betrag entspricht für Deutschland einem Auf­

kommen von 55 Millionen, sodaß nach Zurechnung derjenigen 25 Millionen, welche von den Erträgen der neuen fließen, der Gesammtbetrag

wird.

Steuern vorweg zur Reichskasse

der letztem auf 80 Millionen veranschlagt

Ueber den normalen Belauf desselben gehen die Schätzungen aller­

dings auseinander.

Die Subkommission des Budgetausschusses des Reichs­

tages unter Delbrücks Vorsitz hat denselben auf etwa 110 Millionen Mark

ausgerechnet.

Sie ist dabei von dem Bestreben geleitet gewesen, daS

jedenfalls zu gewärtigende Mindesteinkommen anzugeben.

Andre Sach­

verständige erachten deshalb deren Ergebnisse für zu niedrig; sie schätzen

den Normalertrag

der 1879 bewilligten

Abgaben

auf

Mark und die öffentliche Meinung giebt ihnen Recht. auch sein möge, jedenfalls hat Preußen

130 Millionen

Wie dem aber

in der allernächsten Zeit eine

Steigerung seines Antheils an dem Ertrage der Reichssteuern mit Sicher-

Politische Torrespondenz.

550

Helt zu erwarten, welche mit 18 bezw. 31 Millionen Mark das actuelle Defizit von 9 Millionen soweit übersteigt, daß a conto desselben ohne Gefährdung der Sicherheit der Finanzen ein Steuererlaß eintreten kann. Dazu kommt die, wenn auch langsame, so doch stetige Besserung, welche die

preußischen Staatseinnahmen auch abgesehen von den Erträgen der Reichs­

steuern aufweisen.

Das Jahr 1879/80 ergab im Ordinarium ein anschlag­

mäßiges Defizit von 9 Millionen, welches nach dem Ergebniß der Rech­

nung auf 14 Millionen steigt; 1880/81 reichen die ordentlichen Einnahmen grade zur Deckung der laufenden Ausgaben, die rechnungsmäßigen Ergebniffe des ersten Halbjahres bleiben hinter dem Anschläge nicht zurück;

1881/82 weist einen Ueberschuß von 22'/ Millionen

im Ordinarium

auf, an welchem die Mehrerträge der Reichssteuern nur mit nicht voll

10 Millionen betheiligt sind.

Bei dem Ueberrest entfällt der Hauptan­

theil auf diejenigen Betriebsverwaltungen, bei denen die Schwankungen

im Wirthschaftsleben der Nation am frühesten sich geltend machen.

Die

Eisenbahnen und namentlich die Bergwerke und Hütten zeigen eine an­

sehnliche Besserung der Erträge.

Man darf hier die Voraussetzung des

Finanzministers, daß es auch abgesehen von den Erträgen der Reichs­

steuern in naher Zeit gelingen werde, den den Bedürfnissen der laufen­ den Verwaltung dienenden Theil des ExtraordinäriumS auS den ordent­

lichen Einnahmen zu decken, schwerlich als zu kühn ansehen.

Jedenfalls

beruht sonach der für 1881/82 zunächst formell vorübergehend, aber mit

der Absicht dauernder Bewilligung in Aussicht genommene Steuererlaß auf nicht unsoliderer Grundlage, als die Steuerermäßigungen der Jahre 1873/74, welche lediglich auf Grund außerordentlicher, die Gewähr der Dauer in keiner Weise in sich tragender Erträge der Betriebsverwaltungen

bewilligt wurden.

Stehen so dem von der Regierung vorgeschlagenen Steuererlasse aus Rücksichten einer gesicherten Finanzgebahrung entscheidende Bedenken nicht

entgegen, so sprechen andererseits die gewichtigsten Gründe für die Ge­ nehmigung deS Vorschlages.

Die Zölle äußern, wenn ihre Erträge auch

noch nicht die volle Höhe erreicht haben, ihre Wirkung auf die Preise der besteuerten Verbrauchsartikel

in vollem Maße; es erscheint mithin

gradezu als eine Pflicht deS Staats, mit der Ermäßigung der directen

Abgaben der minder wohlhabenden Klassen so rasch und so weit vorzu­ gehen, als dieses die Finanzlage irgend gestattet, und den thatsächlichen Anfang mit den in Aussicht gestellten Erleichterungen sobald als möglich

zu machen.

Nach den Erklärungen deS Finanzministers kann kein Zweifel

darüber obwalten, daß der Erlaß der Vierteljahrsrate der Klassensteuer dauernd und als integrirender Theil der Steuerreform gedacht ist.

Die

Politische Correspondevz.

551

Grundzüge der letzteren gehen bei einiger Unklarheit im Einzelnen nach

den Ausführungen des Finanzministers im Großen und Ganzen dahin, daß die Erträge der von dem Reichstage noch zu bewilligenden Steuern

unverkürzt zu ’/3 zur Ueberweifung von Realsteuern, bis zur Hälfte der Grund- und Gebäudesteuer, zu '/, zur weiteren Ermäßigung der Klassen­

steuer für die ein Einkommen bis 1200 M. umfassenden 4 unteren Steuer­ klassen bis zu ihrer gänzlichen Freilassung verwendet werden sollen.

neben soll die Ermäßigung

Da­

auf Grund des Verwendungsgesetzes fort­

laufen und so ohne Anwendung des störenden Wortes „Quotisirung" in

Wirklichkeit ein beweglicher Factor in das System der direkten Besteuerung

eingeführt werden.

Bestätigt eS sich, daß nach dem zuerst in diesen

Blättern gemachten Vorschläge zugleich die Mittel zur Befreiung deS

kleinen Gewerbebetriebes von der Gewerbesteuer durch Reform derselben nach dem in Baden und Württemberg geltenden Systeme gewonnen wer­

den sollen, so wird man diese Tendenzen billigen können.

Nicht minder

erscheint eS richtig, daß der Versuch unternommen wird, auS dem eingangs­

gedachten circulus vitiosus durch Feststellung der Zwecke, welchen die im Reiche zu bewilligenden Mittel dienen sollen, herauSzukommen. Der Vor­

gang auS dem Jahre 1879, dessen Früchte das Verwendungsgesetz und

der jetzt vorgeschlagene Steuererlaß sind, spricht entschieden für diese Art

deS Verfahrens.

—z.

Verantwortlicher Redacteur:

H. v. Treitschke.

Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.

Altösterreichische Culturbilder. I.

AuS dem Zeitalter der Reformation.

Zu denjenigen Partieen unserer deutschen Geschichte, welche bisher eine

mehr oder weniger stiefmütterliche Behandlung erfahren haben, gehört in erster Linie die dem Ausbruch deS dreißigjährigen Krieges vorausgehende Periode. Krieg

Während das Zeitalter der Reformation einerseits, der große

andererseits alsbald

nach dem Wiederaufleben der historischen

Wissenschaft die Aufmerksamkeit und den Forschungseifer der Gelehrten

auf sich gezogen hatten, blieb die zwischen dem Augsburger Religions­

frieden vom Jahr 1555 und dem Beginn des dreißigjährigen Krieges inneliegende Periode als unbebautes Feld liegen.

Die dieser Erscheinung

zu Grunde liegenden Ursachen lassen sich, wie mir scheint, auf zwei Punkte

zurückführen.

Einmal konnte eS für den Forscher wenig verlockende-

haben, sich durch daS Labyrinth der Parteikämpfe und der fast durchaus resultatlos verlaufenden Verhandlungen jener Jahre hindurch zu arbeiten; sodann lag auch bis in die neueste Zeit daS Quellenmaterial zur Geschichte

jener Bewegungen in den verschiedensten Archiven zerstreut und versteckt. Das Verdienst, dasselbe an daS Licht gezogen zu haben, gebührt der

Münchener historischen Commission.

Ich rechne hierher namentlich die

von Moriz Ritter ausgegangenen Publikationen, die Briefe und Akten

zur Geschichte der deutschen Union und die Geschichte der deutschen Union. In einem größeren Abschnitt deS letztgenannten Werkes verbreitet sich der

Verfasser über die Gegenreformation in Oesterreich.

In neuester Zeit

hat dieser Gegenstand einen den österreichischen Gelehrtenkreisen ange­ hörigen Bearbeiter gefunden, der, was seinem Buche*) etwa an streng

wisienschaftlichem Charakter abgeht, vollauf durch die frische, lebendige An­

schaulichkeit der Darstellung, den liebevollen Fleiß, mit dem er bisher un­ bekannten oder doch wenig benützten gleichzeitigen Aufzeichnungen nachgeht, *) Adam Wolf: Geschichtliche Bilder aus Oesterreich. Reformation (1526—1648). Wien, Braumüller.

Preußische Jahrbücher. iBb. XLVI. Heft 6.

Bd. I. Aus dem Zeitalter der

40

554

Altösterreichische Tulturbilder.

den warmen, überzeugenden Ton der Erzählung ersetzt.

Ein so mann­

haftes Bekennen und Betonen des deutschen Grundcharakters der öster­ reichischen Monarchie und ihrer Geschichte, eine so vorurtheilSfreie An­

schauung über den Protestantismus und seine Aufgabe und Verbreitung in den österreichischen Landen bei einem katholischen österreichischen Ge­

schichtsforscher verdient gerade in unseren Tagen unsere volle Anerkennung.

Wir glauben, dieselbe dem trefflichen Manne nicht besser ausdrücken zu können, als indem wir die Resultate seiner neuesten Untersuchungen in diesen Blättern dem größeren deutschen Publikum mitzutheilen versuchen.

Daß dieselben ein hohes Interesse für sich in Anspruch nehmen dürfen, brauche ich wohl kaum noch näher darzulegen. Wir setzen hier die Grundlagen, auf welchen sich die österreichische Geschichte des ausgehenden sechzehnten und deS beginnenden siebzehnten

Jahrhunderts aufbaut, als bekannt voraus.

Auch das verbittertste und

engherzigste Gemüth wird sich heutzutage kaum mehr der Wahrheit der

Thatsache verschließen können, daß die gesammte Cultur Oesterreichs — und zwar nicht bloß der Erblande, sondern auch Böhmen- und Ungarns — deutschen Wurzeln entsprossen ist, von Deutschland her immer wieder neue

Anregung und Nahrung empfangen hat.

DaS Bild, daS uns die öffent­

lichen Zustände der österreichischen Monarchie um die Wende deS sech­ zehnten und siebzehnten Jahrhunderts darbieten, weicht daher auch in den

Hauptpunkten nur wenig von denjenigen der übrigen deutschen Territorien ab.

Aeußerlich freilich hatte sich Oesterreich schon seit Jahrhunderten von

dem deutschen Staatskörper losgetrennt, wenn auch diese Trennung mehr eine sactische als rechtliche war.

DaS deutsche Staatswesen mit seinen

Gerichten und Gesetzen, mit seiner ReichSpolttik und seinen Reichskriegen

übte auf die Selbständigkeit der Lande Rudolfs II. einen so geringen Einfluß, daß eS nicht ihm zuzuschreiben war, daß sich dieselben nicht mit

Ungarn zu einem beinahe souveränen Staate zusammenschlossen. Hinderniß kam vielmehr von den Ländern selbst.

DaS

Wie diese nämlich von

dem österreichischen Hause zu verschiedenen Zeiten erworben waren, so be­ wahrten sie auch eifersüchtig ihre eigene Berfassung und ihre eigene Re­

gierung.

Nur der Krieg und die Vertretung der Lande gegenüber aus­

wärtigen Mächten war eine gemeinsame Angelegenheit:

im übrigen war

die Verwaltung der einzelnen Lande eine getrennte und zwar so, daß bei

derselben der Landesherr und die vier Stände der Prälaten, Herren, Ritter und Städte concurrirten.

Wie diese auf ihren Besitzungen walteten,

unter hörigen Bauern, mit eigener Verwaltung und eigenem Gericht, so erschien der Landesherr mit seinen Kammergütern fast nur als ein be­ sonders reicher Stand neben den anderen.

Wohl erhob sich dann über

Altösterreichische Tulturbilder.

555

diesen zahlreichen Dynasten und Republiken eine höhere Regierung, aber nicht so daß sie einfach vom Landesherrn mit seinen Behörden gebildet

wordm wäre, sondern getheilt zwischen dem Fürsten und den Ständen.

Bei einer solchen Verfassung waren geordnete Zustände im österreichischen

Staate nur denkbar, wenn Fürst und Landstände in einem Geiste zu­ sammenwirkten.

So schwer nun aber eine solche Harmonie war, so na­

türlich war es andererseits, wenn die neben einander gestellten Gewalten

unter sich selber in Streit geriethen, indem jede auf Kosten der anderen sich zu verstärken suchte.

Ein Anlaß zu solchen Streitigkeiten, wie er kaum

wirksamer gedacht werden kann, war aber geboten durch die Reformation.

Denn sie stellte bei dem wahrhaft stürmischen Lauf ihrer Erfolge in allen Landen dem katholischen Fürstenhaus eine protestantische Mehrheit der

Stände gegenüber.

Die Bedingungen für die Verbreitung des Pro­

testantismus in Oesterreich waren dieselben wie in Deutschland.

Wie

überall erschien die Kirche verweltlicht, die Priesterschaft als ein abge­

schlossener Stand, die Religion als eine äußerliche Pflichtübung.

Den

Ständen von Nieder- und Oberösterreich war das Abendmahl in beiderlei

Gestalt bereits 1555, jenen von Jnnerösterreich 1556 zugestanden.

„Die

Adeligen sind abgefallen, das gemeine Volk weiß nicht mehr, was es glauben soll, die Katholiken schreien:

Gott errette uns, wir gehen zu

Grunde", schreibt ein Anhänger der allen Kirche im Jahre 1567.

In

Steiermark waren nur mehr fünf, in Kärnten vier, in Kratn drei Land­ herrn katholisch, die zehn Städte und acht Märkte waren durchaus pro­

testantisch.

Zehn Jahre später befand sich in Oberösterreich unter dem

eingesessenen Adel nur noch ein einziger Katholik; ebenso bekannten sich die sieben landtagsfähigen Städte zur neuen Lehre.

Die größere Zahl

der Klöster hatte gar keine Prälaten, die noch vorhandenen Aebte sowie fast sämmtliche Pfarrer waren wenigstens so weit von der alten Kirche

abgewichen, als sie durchgängig mit Weibern versehen waren.

Auch das

Trienter Concil konnte diesem Verfall des Katholizismus nicht Vorbeugen.

Aehnliche Zustände fanden sich in Ungarn, Böhmen und Mähren vor.

Diese Länder waren zum weitaus größten Theil der Reformation betgetretm; in den beiden letzteren hatte diese eine mächtige Stütze in dem

Fortdauern der hussitischen Bewegung gefunden.

Es war nur die recht­

liche Bekräftigung eines unabhängig von der kaiserlichen Gewalt heran­ gebildeten faktischen Zustandes, als Maximilian II. im Jahre 1571 den

protestantischen Herren und Rittern von Ober- und Unterösterreich die Befugniß einräumte, „in allen ihren Schlössern, Häusern und Gütern für

sich selbst, ihr Gesinde und ihre Zugehörigen, auf dem Land aber und

bei ihren zugehörigen Kirchen zugleich

auch für ihre Unterthanen die

40*

Altösterreichische Tulturbilder.

556

Zu ähnlichen Concessionen kam eS vier

protestantische Religion zu üben". Jahre später in Böhmen.

DteS war der Stand der Dinge, als im Jahre 1576 Rudolf II. seinem Vater in der Regierung nachfolgte. Vorgängern durchaus unähnlich.

Rudolf war seinen beiden

Seine Jugend fiel in die Jahre, da die

katholische Kirche ihre Lehren klar gefaßt hatte und nunmehr auf keinen

Ausgleich, sondern allein auf Unterwerfung ihrer Widersacher auSging.

Wie daher Maximilian im Geiste deS Zweifels aufgewachsen war, so wurde sein Sohn im Dienste der neuen und bestimmten Richtung erzogen, und zwar zunächst von einer eifrig katholischen Muller, später am Hofe

Als er nun nach Deutschland zurück­

König PhilipPS II. von Spanien.

kehrte und einige Jahre später als 24 jähriger Mann seinem Vater in der Regierung nachfolgte, erschien er als ernst und wohlwollend, aber auch scheu und leicht verwirrt, im Denken langsam und im Entschließen zau­ Er mied den lebendigen persönlichen Verkehr, sowohl in der Ge­

dernd.

sellschaft als in den Geschäften.

seiner künstlerischen

Was ihn ergötzte war die Betrachtung

und wissenschaftlichen Sammlungen, was ihn am

meisten beschäftigte war die Erkenntniß der Natur und ihrer Gesetze. Ein Sinn für das Geheimnißvolle führte ihn zu alchymistischen und astrologi­

schen Forschungen, in welchen er nach den dunkeln Gründen suchte, aus

denen alle Gestalten und Geschicke des Natur- und Menschenlebens sich gemeinschaftlich emporringen sollten.

Bei all seinem Wohlwollen gehörte

er doch zu den reizbaren und unnachgiebigen Naturen, die nur dann mit der Welt in Frieden zu leben bereit sind, wenn sie den Wegen folgt, die

sie in ihrem engen Geist ihr nun einmal vorgezeichnet haben.

Da war

eS nun sein doppeltes Unglück, daß er als Fürst geboren war und daß er ein Reich überkam, besten Völker seiner Sinnesart aufs tiefste wider­ strebten.

Denn was verlangte die Lehre, die er in Spanien

nommen hatte?

ausge­

Geduldigen Gehorsam der Völker unter der Führung

einer kirchlichen und einer weltlichen Obrigkeit, starre Herrschaft der her­ gebrachten Grundsätze auf dem Gebiete der Religion und Politik.

aber bewegte die Lande, die er zu beherrschen kam?

WaS

Der Streit des

katholischen und protestantischen Bekenntnisses um die alleinige Geltung,

das Ringen der Landstände und deS Landesherrn um die höchste Ge­

walt.

Die Unterthanen waren erfüllt vom Haß gegen einander, vom

trotzigen Selbstgefühl gegenüber dem Herrscher.

War eS da ein Wunder,

wenn der zugleich despotische und ängstliche Fürst in diesem anarchischen Treiben irre wurde?

Schon die ersten Verhandlungen, die er mit den ungarischen und deü deutschen Reichsständen über die Gewährung

einer Türkenhilfe führte,

557

Altösterreichische Lulturbilder.

scheiterte an dem energischen Widerspruch der Stände, die vor allem ihre vorgebrachten

erledigt wissen wollten.

Klagen

Der Kaiser drohe

in

Melancholie zu verfallen — erklärten seine Räthe — wenn die Parteien sich nicht verglichen.

Er zog sich jetzt nach Prag zurück und entsagte nun­

mehr allen öffentlichen Regierungshandlungen.

Aber auch in seine Re­

sidenz verfolgte ihn die Furcht vor Menschen und Geschäften.

Nicht fähig,

sich zur Vermählung zu entschließen, lebhafter Geselligkeit und unruhiger

Umgebung

abhold, zu scheu vor Menschen und Geschäften,

um den

Sitzungen seiner Räthe beizuwohnen, brachte er ein Leben ohne Wechsel

und Freude hin, wagte sich nicht hinaus äuS seinen Gärten und Ge­

mächern und ließ nur wenige Gelehrte und begünstigte Räthe zu ge­

messenem Verkehre zu.

Die liebste Beschäftigung seiner Einsamkeit waren

nicht die Sorgen der Regierung, sondern Studien und Grübeleien, Be­

trachtung von Gemälden und Alterthümern, endlich eine abstumpfende Sinnlichkeit.

Allein wenn eS die Sehnsucht nach Ruhe war, die ihn auS

dem öffentlichen Leben in diese Verlassenheit geführt hatte, so bewahrte er doch wieder eine Leidenschaft, die ihm seinen Herzenswunsch überall

vereiteln mußte: das war die Sucht zu herrschen ohne den Drang zur That, der allein zur Herrschaft führen kann.

Diese- ohnmächtige Be­

gehren hatte ihm die Opposition der protestantischen Stände unerträglich gemacht, eS bereitete ihm nunmehr Feindschaft mit seinen Räthen und den

Fürsten seines Hauses und trug ihm endlich den Zwiespalt in die eigene

Brust. An die Eigenart dieses Fürsten knüpften nun diejenigen Elemente an,

denen eS um die Vertilgung des Protestantismus und zugleich der ständi­ schen Freiheiten zu thun war.

ES waren dies zum größten Theil in der

Schule des Jesuitismus erzogene Geistliche, aber auch Weltliche, welche

auf der einen Seite von Rom, auf der andern vom spanischen Hofe, der

zudem für seine Politik in zahlreich in Oesterreich eingewanderten spani­ schen Adelsgeschlechtern eine bedeutende Stütze gewonnen hatte, ihre Di-

rectiven erhielten.

Zwei salzburger Erzbischöfe sind eS namentlich, die sich in der Ge­

genreformation der österreichischen Lande einen Namen gemacht haben. Der eine, Wolf Dietrich von Reitenau, begann das Werk an der Stadt Salzburg, indem er den Bürgern anheimgab, sich entweder zu bekehren

oder auszuwandern.

Die meisten von ihnen wählten das letztere; die sich

unterwarfen, mußten in der Pfarrkirche mit brennenden Kerzen in der Hand Buße thun.

Gleichen Schritt mit dieser gewaltsamen Zurückführung

zum alten Glauben hielt die von dem Erzbischof geübte Vernichtung der alten städtebürgerlichen Freiheit seiner Residenzstadt.

Insbesondere war

558

Mösterreichische Culturbilder.

eS die Gerichtsherrlichkeit derselben — bekanntlich der Ausgangs-

und

Mittelpunkt unseres mittelalterlichen Städtewesens —, welche den Neid des ehrgeizigen, nach unumschränkter Gewalt strebenden Fürsten erweckte. Der Stadthauptmann, früher oberster Richter, behielt nur die Polizei, der Stadtrichter wurde von jetzt ab vom Erzbischof eingesetzt, der große Rath hörte ganz auf, der kleine Rath stellte künftig die Gemeinde vor.

Aber

auch in anderen Beziehungen vertauschte jetzt Salzburg seinen alten ge­

schichtlichen Charakter einer deutschen Stadt mit dem einer Hauptstätte romanischer Cultur.

Wie die Reformation eine That des germanischen

Bürgerthums gewesen ist, das durch jene nur seine letzte vollkommenste

Ausbildung erhalten hat, so ist die kirchliche Restauration von den beiden

Hauptstützen der neueren romanischen Weltanschauung,

von Rom und

Spanien, ausgegangen, um ihren Einfluß nicht blos auf das kirchliche Gebiet zu beschränken, sondern so ziemlich alle Seiten menschlicher Cultur in ihre Kreise zu ziehen, sie mit ihrem Leben zu erfüllen.

Bis zum Ende

des sechzehnten Jahrhunderts war Salzburg eine bürgerliche Stadt voll

regen gewerblichen Lebens gewesen: jetzt begann eS mehr und mehr diesen entwicklungsfähigen Charakter

gesunden,

bischöfliche Hofstadt umzuwandeln.

abzustreifen und

sich

in

eine

Die hochgiebligen Häuser, die abge­

grenzten Höfe, die Kirchen und öffentlichen Gebäude altdeutscher Bauart machten neurömischen Bauten und Anlagen Platz. Trotz einem Napoleon III.

und seinem Adlatus HauSmann ließ Erzbischof Wolf Dietrich ganze Straßen und Quartiere der Stadt niederreißen, damit an ihrer Stelle breitester Spielraum für die Entfaltung romanischer Kunstweise gewonnen wurde.

Das heutige Salzburg, das den Beschauer so fremdartig berührt und ihn mitten hinein nach Italien versetzt, ist zum größten Theil das Werk jenes

bauliebenden Kirchenfürsten.

Auch sonst gemahnte sein Wandel mehr an

den eines italienischen Principe als an den eines Nachfolgers des heiligen Rupert.

Schon als Domherr hatte er intime Beziehungen zu der schönen

BürgerStochter Salome Alt unterhalten: jetzt stattete er sie prächtig aus, gab

ihr und ihrer Mutter den Namen von Altenau und baute ihnen

jenseits der Salzach das Schloß gleichen Namens (jetzt Mirabella genannt).

Zwei Söhne und drei Töchter entsprossen der Verbindung. Minder glücklich war er mit seinen Restaurationsbestrebungen bei dem Landvolke des Erzstifts.

„Befindet sich", berichtet der von ihm hin­

ausgesandte Commissär, „das Landvolk

der Orten so trutzig und zum

Aufruhr so geneigt, daß sie sammt und sonders erklärten, eher das Leben als ihre vereinte Religion zu lassen; unter vierhundert sein nit dreißig

katholisch." abstehen.

Der Erzbischof mußte für jetzt von jedem weiteren Versuche

559

Altösterreichische Culturbilder.

Erst seinem Nachfolger, Marx Sittich von HohenembS, gelang das

Werk der Gegenreformation vollständig.

ES hat sich über diese der äußerst

merkwürdige, nmfassende Bericht eines Zeitgenossen, des erzbischöflichen

Sekretärs Johann Stainhauser, — also gewiß Zeugen — erhalten.

eines bestunterrichteten

Seine Schilderungen der dabei durch die erzbischöf­

lichen Glaubensmissionen geübten Praxis wird sicherlich auch dem eifrigsten Katholiken keinen Verdacht, als seien die Farben zu stark aufgetragen, erregen.

DaS Hauptcontingent der zur Zurückführung

der verirrten

Schafe in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche entsandten Armada bildeten die Kapuziner;

wo ihren frommen,

eindringlichen Reden das

ketzerische Ohr sich hartnäckig verschloß, da halfen die bischöflichen MuSquetiere etwas weniger sanft nach, indem sie, dem Bauer und Arbeiter ins Quartier gelegt, denselben nach allen Regeln eines wohlausgedachten

Systems so lange marterten, bis er, physisch und moralisch gebrochen,

überhaupt keiner Zumuthung mehr einen Widerstand entgegenzusetzen ver­

mochte.

Daß trotzdem eine nicht geringe Zahl standhaft an der Lehre der

Väter festhielt, das ist unseres Erachtens einer der schönsten Triumphe,

den die Geschichte der evangelischen Kirche aufzuweisen hat, wie es an­

dererseits dem Menschenfreund, der über daö bloße materielle zeitbegrenzte Dasein hinausgehende Lebensgüter und Aufgaben anerkennt, eine seltene Genugthuung gewähren muß, daß jene geistig einfachsten Menschen ihrem

Gewissen mehr Gehör schenkten als ihren Trieben.

Das erste, was die

Kapuziner bei ihren Bekehrungswerken thaten, war die Zusammenberufung

ganzer protestantischer Gemeinden, um ihnen den Befehl des Landesfürsten

zu verkündigen, entweder katholisch zu werden oder auSzuwandern.

Bedenk­

zeit wurde nicht gewährt, nur daß sich die Missionare den Schwankenden zur Information, d. h. zum Unterricht im katholischen Glauben erboten.

Wer sich fügte, löste einen Freizettel, wer sich nicht fügte, mußte sein Gut

verkaufen und in einer bestimmten Frist daS Land verlassen.

Wurden

die Versammlungen — wie dies zumeist geschah — nicht oder nur schwach

besucht oder hatte die Ansprache der Kapuziner nur geringen Erfolg ge­ habt, dann begaben sie sich in die einzelnen evangelischen Haushaltungen.

Die geistliche und weltliche Obrigkeit des betreffenden Bezirks war ihnen dabei zu jeder geforderten Unterstützung verpflichtet.

Alle nur denkbaren

Mittel der Ueberredung, der List, der Gewalt und des frommen Betrugs

kamen namentlich im Innern der einzelnen Familien zur Anwendung.

Neubekehrte hatten den Himmel offen gesehen und die Jungfrau Maria

segnend

ihre Hände

gegen die Reuigen

auSstreckend

erblickt.

Hals­

starrige erzählten später, nachdem sie endlich ihr Widerstreben aufgegeben,

wie Satan sie immer wieder durch fürchterliche Drohungen von der Be-

Altösterreichische Tulturbilder.

560 kehrung abgehalten habe.

die Eltern aufgereizt.

Kinder wurden bei Seite genommen und gegen

Den bäuerlichen Dienstboten, die mit am zähesten

an ihrem angeerbten Glauben festhielten, wurde vorgehalten, daß in keinem andern Lande, wohin sie flüchtig ihren Fuß setzen würden, die Schmalz­

nudeln in so vorzüglicher Güte gebacken würden, wie gerade im Erzstift Salzburg.

Kurz, was nur irgendwie Aussicht auf Erfolg versprach, wurde

zu Hilfe genommen.

Die Ausdauer und Unverdrossenheit, welche die Be­

kehrer dabei an den Tag legten, ist wahrhaft bewundernSwerth. die entlegensten Alpenhütten stiegen sie den

Bis in

protestantischen Bergleuten

nach und legten sich, wenn ihnen nicht geöffnet wurde, oft Tage lang auf

die Lauer, damit ihnen die verirrte Seele nicht entwische.

Wo sich eine

größere Zahl zur Rückkehr hatte bewegen lassen, wurden pomphafte Pro-

cessionen und Betfahrten in Scene gesetzt, neue Kirchen und Kapellen ge­ baut und aufs reichste auSgestattet.

Blieben aber alle Bemühungen er­

folglos, dann wurde gegen die Störrischen mit grausamer Härte vorge­

gangen.

„Ist also" — so schließt der denkwürdige Bericht— „durch die

gnädigste Hilf und den Beistand Gottes das ganze Gebirg von der Ketzerei

gereinigt und das Erzstift, so viel mir bewußt, ganz und gar (außer den

reisenden Handwcrksburschen) in dem 1616. Jahr zu dem katholischen, allein selig machenden Glauben gebracht worden.

Dem allerhöchsten Gott

sei Dank, Lob, Ehr und Preis gesprochen von nun an bis in alle Ewig­ keit."

Nur im Verborgenen lebte da und dort das evangelische Bekenntniß

fort.

Unter dem Erzbischof Max Gandolf (1668—1687) entdeckte man

eine große evangelische Gemeinde im Tefereggcr Thal, und abermals be­ gann die gewaltsame Verfolgung und Vertreibung der Protestanten. Unter den Auswanderern befand sich damals auch der bekannte Joseph Schaitberger, ein Bergmann vom Dürrenberg bei Hallein, der in Nürnberg eine Zuflucht fand.

Von ihm ist das „Trostlied eines Exulanten":

„Ein

Pilgrim bin ich auch nunmehr, muß reisen fremde Straßen; drum bitt

ich dich, mein Gott und Herr, du wollst mich nit verlassen". Die folgenden Erzbischöfe ließen die Protestanten öffentlich in Ruhe, aber sie blieben bürgerlich rechtlos, wurden zu keinem Handwerk und zu

keinem Grundbesitz zugelassen.

Nur insgeheim pflegten sie ihren Glau­

ben, hielten in Wäldern und Höhlen ihren Gottesdienst.

In denselben

Orten, wo die Capuziner 1613—1615 aufgeräumt hatten, in Radstadt,

Bischofshofen, S. Johann, S. Veit, Wagrain, Taxenbach, Saalfelden, in der Gastein und RauriS, im Prinz- und Pongau wurden 1731 mehr

als 20000 Protestanten gezählt.

Als der Erzbischof Leopold Anton von

Firmian und sein harter Kanzler Christian von Röll die Gegenreformation

aufnahmen, schlossen die Bauernführer zu gegenseitiger Treue den „Salz-

561

Altösterreichische Culturbilder.

bund".

Wieder erschien der Befehl zur Auswanderung, 6000 Mann

Von vierzehn zu vierzehn Tagen

kaiserlicher Truppen rückten ins Land.

bewegten sich Züge von Bauern, Bürgern, Knechten, Bergleuten nach Salzburg und von hier in die Fremde: in die deutschen Städte, nach

In den Jahren 1731 und 1732

Preußen, Holland und Nordamerika.

sind aus dem Erzstift 30000 ehrbare, fleißige Menschen ausgewandert. Der Erzbischof Firmian hatte erklärt,

„er wolle keine Ketzer mehr im

Lande haben, lind wenil Dornen und Disteln auf den Aeckern wachsen

sollten".

In der That wuchsen auf manchem Acker Dornen und Disteln,

der Bergbau und das Handwerk kamen in Verfall, das Volk nahm ab ail Zahl und Wohlstand. vom Ende des

„Die Hofkammer" — berichtet ein Salzburger

achtzehnten Jahrhunderts — „empfindet noch heute die

Folgen dieser starken Aderlässe, worauf nothwendiger Weise Wasser in die

Adern des Staates treten mußte". Gleichwie im Salzburgischen hatte auch in Tirol der Protestantismus

früh Eingang

und Verbreitung

gefunden.

Hier wie dort waren na­

mentlich die Bergleute die Träger des neuen Bekenntnisses, ohne eS jedoch, wie in anderen österreichischen Landen, zu organisirten Gemeinden zu

bringen.

Die Rolle des Restaurators fiel hier dem zweiten Sohn Kaiser

Ferdinailds I., Erzherzog Ferdinand, dem Gemahl der Philippine Welfer, zu.

Auch hier griff man zur Ausrottung der Ketzerlehre zu denselben

Mitteln wie im Erzstift Salzburg: hier wie dort bedeutet die katholische

Restauration das Zurückweichen des Deutschthums vor dem mächtig an­ dringenden Romanismus.

Bis dahin hatte deutsche Sprache und deutsche

Sitte bis tief hinab zu den südlichen Abhängen der Alpen geherrscht: jetzt

ergoß sich

ein ganzes Heer von Jefiiiten,

Kapuzinern,

Mönchen und

Nonnen aller Art über das Land, um mit der evangelischen Lehre zugleich

die deutsche Cultur zu verdrängen.

Seit dem fünfzehnten Jahrhundert

war Tirol ein Land des reichsten Bergsegens gewesen.

Ein Reihe Augs­

burger und Tiroler Geschlechter hatte sich an den Gewerken und Schmelz­ hütten betheiligt.

Mehr als 30000 Bergknappen, meist Deutsche, arbei­

teten im Lande; nachdem die Gegenreformation die meisten aus dem Lande getrieben hatte, verödeten die Bergwerke.

dem Schmied,

Die alten Sagen vom Wieland

von Dietrich von Bern, der an der Etsch den Riesen

Wietich erschlagen, vom König Laurin und seinem Rosengarten verschollen,

die Minnelieder geriethen in Vergessenheit und der Meistergesang wurde verboten;

an ihre Stelle trat eine Fülle von Legenden,

Teufelssagen.

Wunder- und

Mehr und mehr wurde von jetzt ab das Land von italieni­

schen Einwanderern überfluthet, das deutsche Element romanisirt.

heutzutage ist dieser Prozeß nicht zum Stillstand gekommen.

Noch

Tirol gilt

Altösterreichische Culturbilder.

562

als eine der festesten Säulen der katholischen Glaubenseinheit, und erst

in unseren Tagen ist eS möglich geworden, dort eine einzige protestantische Kirche zu errichten.

Kein deutsches Land ist so tief von Protestantenhaß

erfüllt, keines — das darf füglich unbeschadet der warmen Anerkennung, die man dem allzeit opfermuthtgen Patriotismus seiner Bewohner gerne

gewährt, ausgesprochen werden — hat aber auch einen gleich hohen Grad von Verdummung, mangelhafter Schulbildung, Roheit und Absperrung gegen alle auswärtige Cultureinflüsse aufzuweisen.

Die reiche Kunstblüthe,

die hier, wie in Salzburg, eine Zeit lang eine luxuriöse, verschwenderische

Hofhaltung im Gefolge gehabt hat, ist wie dort ohne allen Einfluß auf

das Volksleben geblieben:

eine fremdartige unverstandene Schmarotzer­

pflanze, die in sich selbst erstickt ist. Hatte im Erzstift Salzburg und in Tirol der Protestantismus zu­ meist lediglich bei den untern Volksschichten Eingang gefunden, so war er dagegen in Jnnerösterreich Gemeingut sämmtlicher Ständeklassen gewor­

den ; ja hier war gerade der Adel der vornehmste Träger der neuen Lehre.

Eine Kirchenordnung und eine feste äußere Organisation sicherte ihren Bestand.

Durch windische und kroatische Druckwerke wurde auf die Süd­

slaven eingewirkt, in Graz gründeten die protestantischen Stände adelige

Schulen und Convicte und beriefen dazu die Lehrer meist aus Deutschland. Kepler wirkte hier in den Jahren 1594—1600.

Beim Grazer Pro­

testantentag von 1663 waren 237 protestantische Herren und Ritter gegen­ wärtig; in mehr als zweihundert Kirchen wurde protestantischer Gottes­ dienst gefeiert.

Der Landesherr, Erzherzog Karl, zeigte dem gegenüber

Erst seitdem die Jesuiten in Graz waren und

eine schwankende Haltung.

nach dem Tode Maximilians II. am Kaiserhofe wieder eine schärfere Luft

wehte, begann auch in Jnnerösterreich die Landesregierung strenger gegen die Protestanten aufzutreten.

Zuerst wurden die evangelischen Geistlichen

und Lehrer entfernt, dann schritt man zur Errichtung einer katholischen Universität in Graz. wurde die Abschaffung

In den landesfürstlichen Städten und Märkten,

des protestantischen Gottesdienstes anbefohlen.

Nachdem so ein Bürger- und Bauernstand des Ketzerthums gründlich auSgerottet war, gieng der Sohn und Nachfolger Karls, Erzherzog Ferdinand

(der spätere Kaiser Ferdinand II.), an die weit schwierigere Aufgabe, auch den durch starke ständische Freiheiten geschützten Adel zur alten Kirche zu­ rückzubringen.

An dem kleinen Grazer Hof spielte sich schon damals das

Doppelspiel des Kampfes einerseits gegen das mittelalterliche Stände­

wesen, andererseits gegen den damit eng verknüpften Protestantismus ab: auf der einen Seite ein nach absoluter Herrschaft strebender Fürst, um­ geben und geleitet von Jesuiten und wälschen Diplomaten, auf der an-

563

Altösterreichische Culturbilder.

der« die in Stände getheilten, mit Sonderrechten begabten Unterthanen,

ohne daß damals Jemand ahnte, daß wenige Jahrzehnte später ganz der gleiche Streit durch die nämlichen Parteien auf einer weit größeren Schau­ bühne entbrennen und der Ausgangspunkt nicht nur für den universellsten und verheerendsten Krieg, den die neuere Geschichte aufweist, sondern auch

für unsere gesammte moderne Staatsentwicklung werden sollte.

Zahlreiche

Commissionen zogen im Namen des jungen Landesfürsten von Stadt zu

Stadt, von Dorf zu Dorf und verkündeten den Einwohnern das furcht­ bare Entweder, Oder: entweder zu schwören, daß sie katholisch würden,

oder auSzuwandern.

Hie und da fand ein Widerstand statt, aber im

Ganzen fügte sich das Bürgerthum und die Bauernschaft, und zuletzt auch Graz, „welches daS größte und ärgste Prädicantennest gewesen".

Ohne

Schonung, nach einer kurzen Predigt und Unterweisung mußten die Bürger

katholisch werden, der protestantische

Stadtrath wurde verdrängt, die

Bürgermeister abgesetzt, die protestantischen Kirchen, Friedhöfe und Schul­

häuser zerstört, die evangelischen Bücher und Schriften verbrannt. weniger als 210 Städte,

formirt worden.

Nicht

Märkte und Dörfer sind in dieser Weise re-

Nur der Adel blieb fest.

Da alle Geistlichen vertrieben

waren, versahen die Hauslehrer und Beamten die Stelle der Prediger.

In den benachbarten evangelischen Gemeinden Ungarns und Oberöster­ reichs ließen sich die adeligen Herren trauen, ihre Kinder taufen, sich auch

manchmal dort begraben.

Bald wurden auch die Beamten und Diener

des Adels gezwungen katholisch zu werden, ein weiterer Befehl verbot die auswärtigen Trauungen und Taufen und den Besuch deutscher protestanti­ scher Universitäten.

1628 wurde dann auch durch kaiserliches General­

mandat dem Adel aufgegeben, • entweder sich zu bekehren oder auSzuwandern.

Der größte Theil desselben entschloß sich zu letzterem.

Ein Emigranten-

verzeichniß von 1629 nennt 754 adelige Personen, welche wegen der Re­

ligion das Land verlassen hatten.

Die meisten wanderten in' die ober­

deutschen protestantischen Städte: Regensburg, Ulm, Nürnberg und sind dort in den Wirren des dreißigjährigen Krieges meist spurlos verschollen. Wer jedoch — bemerkt Wolf treffend — den Spuren dieser Auswanderer

in der Heimath und Fremde nachgeht, kann sich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß damit für Deutschösterreich eine Summe von geistigen und

materiellen Kräften verloren gegangen ist. um politische Dinge nie bekümmert.

Biele von ihnen hatten sich

Wie der steirische Herr HanS Adam

Praunfalk konnten sich auch andere rühmen:

„sich gegen Se. Majestät

weder in Gedanken noch Worten, viel weniger in Werken vergangen zu

haben".

Die Männer dieser Familien ragten durch Geist, Gemüth und

Sitte hervor, die Frauen waren durchaus ehrbar, keusch und fromm.

Ihr

Altösterreichische Culturbilder.

564

Besitz war großartig, der Werth der Güter gierig in die Millionen.

Was

haben diese Exulanten an beweglichem Vermögen, an Kunst- und Schmuck­ sachen mitgenommen!

Einzelne Inventare sind aufbewahrt und enthalten

einen Reichthum an'Baargeld, Silber und Goldgeschmeide und so viele

andere Gegenstände, denen noch heute Stil und Ueberlieferung einen be­

sonderen Reiz verleihen.

Die angeborne unverwüstliche Kraft hat dem

deutschen Volke von Jnnerösterreich über diese Zeit des Leidens hinaus­

geholfen und ihm neue Lebensbahnen eröffnet, aber der Adel hat sich nie

Nur wenige blieben auf dem ererbten Eigenthum seßhaft,

wieder erholt.

die Auswanderer hatten ihre Güter verkauft, aber die Nachfolger ver­

mochten den Besitz nicht zu behaupten.

Die Burgen und Schlösser sind

Ruinen, der Grund und Boden wieder Bauerngut geworden, und noch

heute ist in keinem anderen Lande der Grundbesitz einem so raschen Wechsel unterworfen als in Jnnerösterreich. Aehnlich wie in Jnnerösterreich waren die Verhältnisse in den öster­

reichischen Stammlanden

an der Donau gelagert.

Adel der vornehmste Träger der Reformation.

Auch hier war der

In Oberöstcrreich besaß

der protestantische Adel 217 Schlösser und Edelsitze, 5 unterthänige Städte und 81 Märkte.

In Niederösterreich wurden im Jahre 1580 156 pro­

testantische Edelleute und 321 protestantische Ortschaften gezählt.

Katholisch

waren in Oberösterreich nur die Familien Meggau, Sprinzenstein, Sala-

burg und später die Khevenhüller, in Niederösterreich dagegen 30 Familien

vom Herren- und 32 vom Ritterstand.

Da der Adel das gewichtigste

Glied der Standschaft war und dieser in der Landesverwaltung und Ge­

setzgebung eine bedeutsame Mitwirkung, ja vielfach die ausschließliche Herr­ schaft eingeräumt war, so begreift es sich, daß unter so wenig energischen

Naturen, wie Ferdinand I. und Maximilian II. waren, Seitens der Re­ gierung so gut wie nichts gegen das Vordringen des Protestantismus ge­

schah.

Erst

unter Rudolf II. begann sich

die katholische Restauration

fühlbar zu machen, ohne daß jedoch bei den häufigen inneren Unruhen,

namentlich den Bauernaufständen in Ober- und Niederösterreich

(1595

und 1597), und den tiefgehenden Zwistigkeiten im Schooße der kaiserlichen Familie, an ein kräftigeres Vorgehen hätte gedacht werden können.

Noch

schwächer und nachgiebiger erwies sich Mathias, dem die protestantischen

Stände die berühmte Resolution von 1609 abzwangen, welche die pro­ testantische Kirche nahezu zur Landeskirche zu machen drohte.

Es ist ein

charakteristisches Kennzeichen schwacher Herrscher, daß sie von ihnen feige zugestandene weitgehende Concessionen hinterher wieder dadurch als nicht

gegeben betrachten,

daß

sie gegen ihre Jnkrafttretung

die

kleinlichsten

Chikanen ins Feld führen; zum Vorwurfe haltloser Schwäche fügen sie

Altösterreichische Culturbilber.

dadurch noch den des Treubruchs hinzu.

565

Trotzdem würden die Stände,

denen neben ihrem guten Recht die sittliche Kraft der Ueberzeugung und die reichsten materiellen Hilfsquellen zur Seite standen, den Winkelzügen

ihres kaiserlichen Gegners nachhaltigst begegnet sein, wäre nicht zum Glück

für den schwer bedrohten Katholizismus eben jetzt nach dem frühzeitigen

Tode Mathias' aus Jnnerösterreich der Retter gekommen, welcher bereits in seinen Stammlanden den Protestantismus

siegreich

bekämpft hatte.

Der neue Herrscher verlangte vor Allem die Huldigung der Stände.

Die

Protestanten widerstrebten, indem sie vorher die Erledigung ihrer Be­ schwerden und die Aufrechthaltung ihrer religiösen und ständischen Rechte

gesichert wissen wollte; namentlich verlangten sie, in Gemäßheit der Re­ solution von 1609, die Gleichstellung in den Aemtern und Gerichten, die

Union mit Böhmen und den Frieden mit diesem Lande, denn der böhmische Krieg sei ohne ihre Einwilligung begonnen

drängten zu einer Entscheidung.

worden.

Die Verhältnisse

Mit Mühe und Noth hatte die Regie­

rung eine kleine Armee zusammengebracht, nach einigen Erfolgen

war

jedoch dieselbe in den Südwesten von Böhmen gedrängt und die böhmische

Armee in Oesterreich eingerückt. Thurn zog bei Schwechat über die Donau und erschien am 5. Juni 1619 vor Wien, um die Oesterreicher zu einem

Anschluß zu drängen.

Der protestantische Theil der Stände war zu einem

solchen entschlossen, wenn nicht der neue Landesherr ihrem Begehren nach­

Am genannten Tage fand jene berühmte Audienz bei Ferdinand II.

kam.

statt, die freilich späterhin vielfach ausgeschmückt dargestellt worden ist.

Es ist nicht richtig, daß Andreas Thonradl den König bei einem Rock­

knopfe gefaßt und ihn mit rohen Worten zu einer Unterschrift genöthigt Die Reiter, welche gegen 11 Uhr Vormittags im Burghofe auf­

habe.

ritten, waren keineswegs vom Könige befohlen, um die Gemüther der

Protestanten in Schrecken und Verwirrung zu setzen.

Die Protestanten

sind nicht aus der Hofburg entflohen, sondern ruhig von der Audienz ge­ schieden; mit Vorwissen des Königs giengen sie zu Thurn ins böhmische Lager.

Fünf Tage später erfolgte dann die Einigung der Stände mit

Böhmen, gegen Ende des Monats wurde die Versammlung derselben nach Horn verlegt.

Auch in Oberösterreich hatten die Stände alsbald nach dem Tode des Kaisers Mathias die gesammte Landesverwaltung übernommen und weigerten Ferdinand die Huldigung.

Am 19. August traten sie dem

Bündniß bei, das die Niederösterreicher drei Tage vorher zu Prag mit den Böhmen abgeschlossen hatten.

König Ferdinand war nach Frankfurt

zur Kaiserwahl gereist und halte die einstweilige Regierung seiner Lande

seinem Bruder Leopold übertragen.

Derselbe

befahl den Wienern so-

Altösterreichische Culturbilder.

566

gleich — waS Ferdinand noch nicht gewagt hatte — die Ablieferung der Waffen, erhob von den Kaufleuten ein Zwangsanlehen und verbot den

Die Einzelheiten des Kampfes, der sich jetzt

protestantischen Gottesdienst.

zwischen dem katholischen Herrscherhause und den protestantischen Ständen

abspielte, können hier nicht berührt werden: desselben hängen aufs

engste mit dem

Entwicklung und Ausgaitg

böhmischen

Kriege

zusammen.

Während die Niederösterreicher sich schließlich doch zur Huldigung herbei­

ließen,

verweigerten

die

Oberösterreicher

dieselbe

entschiedenste.

aufS

Ferdinand rief seinen bairischen Vetter und Sinnesnossen zu Hilfe, nach kurzer Gegenwehr sah sich das Land zu den Füßen desselben, mußte dem böhmischen Bündniß entsagen und die Huldigung leisten.

Religions- und

Landesfreiheit waren fortan in den beiden Landen historische Namen, mit der ständischen Entwicklung, wie in England oder den Niederlanden, war

eS in Oesterreich für immer vorbei.

Die Regierung betrat den Beden

der Alleinherrschaft in Staat und Kirche.

Kein Protestant erhielt mehr

ein öffentliches Amt, kein evangelischer Edelmann einen Hofbienst. Religionsfreiheit des Adels blieb vorerst noch unangetastet,

aber

Die im

Bürgerthum wurde mit dem Protestantismus aufgeräumt, namentlich in den landesfürstlichen Städten und Märkten.

In Wien wurde seit 1623

kein Protestant mehr in den Rath oder in ein Gemeindeamt ausgenommen,

der Besuch des protestantischen Gottesdienstes in Hernals und Enzersdorf verboten.

1624 und 1627 wurden die protestantischen Prediger, die Lehrer

und Bediensteten des Adels ausgewiesen.

DaS Klagelied, welches die

auS Hernals scheidenden Protestanten gesungen haben, ist gedruckt: „behüt

dich Gott in Frieden" — heißt es in der letzten Strophe — „du liebes Oesterreich, es muß doch sein geschieden in Sorg und Trauer reich; laßt uns das Elend bannen mit Christo hier eine Zeit, so werden wir ihn

schauen doch in der ewgen Freud". Wir kennen die Namen von 115 protestantischen Predigern, welche

im October 1624 aus Oberösterreich vertrieben wurden.

Sie wanderten

nach Deutschland, demüthig baten sie den Pfalzgrafen von Sulzbach, sich

im Markte Vohenstrauß eine Weile aufhalten zu dürfen.

Die Reforma-

tionScommission visitirte die Häuser, confiscirte die Bücher.

Zu Anfang

blieb der Adel noch verschont: erst 1627 wurde den protestantischen Edel­

leuten aufgetragen, sich binnen drei Monaten zu entscheiden, ob sie ka­ tholisch werden oder auswandern wollten; ihre Güter sollten in Jahres­

frist verkauft werden.

Viele griffen zum Wanderstabe, Andere nahmen

nothgedrungen die katholische Religion an.

richtet 1630:

Der Venetianer Denier be­

„die Leute werden mit Soldaten in die Kirche zur Messe,

zur Communion getrieben".

In Niederösterreich wurde den Edelleuten

567

Altösterreichische Cultnrbilder.

weder der öffentliche Gottesdienst noch die HauSandacht gestattet.

Ferdinand III. setzte die katholische Restauration ihre Wege fort.

Unter

Die

Protestanten bemühten sich noch auf dem westfälischen Friedenscongreß um die freie Religionsübung und die Rückstellung der eingezogenen Güter,

aber die kaiserlichen Gesandten erklärten 1646, daß der Kaiser niemals

in seinen Landen die Autonomie der Protestanten und ihren Gottesdienst zugestehen werde.

Eine letzte Verfügung von 1647 bestimmte, daß die

Protestanten noch bis 1655 im Lande geduldet werden und dann auS-

wandern müßten.

Der Artikel V. des Osnabrücker Friedens kam ihnen

wenigstens insofern zu gute, daß die Emigranten, wenn sie sich dem Ge­

setze fügen wollten, zurückkehren und ihre seit 1630 eingezogenen Güter ansprechen durften.

Den Protestanten wurde da« freie AbzugSrecht ge­

stattet und sie konnten ihre Güter verkaufen oder verwalten lassen.

Die größte Machtentfaltung hatte der Protestantismus in Böhmen gefunden, und hier hat auch die kirchliche Restauration am kräftigsten ein­

gesetzt, weil sie instinctartig fühlte, daß mit dem Fall dieser Position der Untergang deS Protestantismus in allen übrigen österreichischen Ländern

von selbst gegeben sei.

Die hieher gehörigen Vorgänge in Böhmen sind

daher für die Geschichte der katholischen Restauration in Oesterreich von

der größten Wichtigkeit und verdienen deshalb eine nähere Betrachtung. Ueberblicken wir vorerst die äußere Machtstellung des Protestantismus in Böhmen und seinen Nebenländern um die Wende des 16. und 17. Jahr­

hunderts !

In Böhmen war damals die Zahl der protestantischen hohen

Adeligen gegen die der katholischen bedeutend

in der Mehrzahl.

Die

einzigen Städte, welche entschieden zur katholischen Religion hielten, waren

Pilsen und BudweiS. ein Katholik.

Im mährischen Herrenstande fand sich nur noch

Unter den schlesischen Ständen waren der Fürstbischof von

Breslau und der Kaiser selber als Inhaber der Fürstenthümer dauer,

Schweidnitz, Glogau, Oppeln und Ratibor die einzigen Stützen des Ka­ tholizismus; aber sie hatten es nicht hindern können, daß unter ihrer unmittelbaren Hoheit die meisten Grundherren und Städte dennoch reformirt hatten.

Noch unter Rudolf II. begannen auch hier die Wirkungen des kirch­ lichen Rcstaurationsgeists sich fühlbar zu machen.

In Böhmen war eS

namentlich der Kanzler Adalbert Popel von Lobkowitz, welcher mit Ent­

schiedenheit gegen die alten Privilegien deS Landes vorgieng.

Da der

Adel noch zu mächtig war, so begnügte man sich vorerst gegen die böhmi­ schen Brüder und die Städte Front zu machen.

Gegen die ersteren wurde

ein alteS Gesetz deS Königs WladiSlauS hervorgesucht, welches dieselben mit dem Tode bedrohte.

Gegen die Städte ergieng der Befehl,

daß

Altösterreichische Culturbilder.

568

fortan nur Katholiken und Altutraquisten in die Stadträthe aufzunehmen In Mähren stand an der Spitze der gegen den Protestantismus

seien.

und die ständischen Freiheiten gerichteten Bewegung der Cardinalbischof

von Olmütz, Franz von Dietrichstein, einer jener eifernden Kirchenfürsten, wie sie aus der neugestalteten katholischen Kirche Hervorgiengen.

Er war

in Madrid, wo sein Vater sich als kaiserlicher Gesandter aufhielt, ge­

boren,

zu Rom in dem Collegium Germanicum der Jesuiten erzogen

und mit 29 Jahren bereits zur Würde eines Cardinals erhöht.

Obgleich

in der doppelten Gunst des Kaisers und des Papstes stehend, verdankte

er seine glänzende Beförderung wohl vor allem den Hoffnungen, welche seine geistigen Gaben für die katholische Sache erweckten.

Denn was den

Vorkämpfer des katholischen Glaubens damals groß machte, die volle Ein­

genommenheit des Geistes von der Lehre der Kirche und die unbedingte Abschließung desselben gegen die fremden Propheten, die Strenge, welche

alles Thun nach und für diesen Glauben regelt, und die Härte, welche

dem Andersgläubigen Unterwerfung oder Verdammung bietet — dies Alles hatte der jugendliche Priester in der Schule der Jesuiten in sich ausge­ nommen.

Sein Gemüth war feurig, sein Verstand eindringend; mit ge­

nügenden Kenntnissen und kräftiger Beredtsamkeit ausgerüstet trachtete er die Geister seinem Werthe zu unterwerfen.

Als er daher die geistliche

Regierung von Mähren übernahm, war es die Absicht, die katholische Re­

ligion in diesem Lande wiederherzustellen, die ihn und wahrscheinlich auch

seine Gönner beseelte.

Auch hier, wie in Böhmen, gieng man zunächst

gegen die meist protestantischen Städte vor.

1661 ergieng an sie ein

kaiserlicher Befehl, dahin lautend, daß fortan nur Katholiken zu Bürgern ausgenommen werden sollten.

Erlaß

Im folgenden Jahre verbot ein weiterer

den protestantischen Predigern den Aufenthalt in den Städten.

Sodann wurde das adliche „Landrecht", die höchste gerichtliche und ver­

waltende Behörde in Mähren, den Protestanten verschlossen. kämpfer

der

Landesfreiheiten

und

der

evangelischen

Der Vor­

Religion,

Karl

von Zierotin, ein der Brüderunität angehöriger Edelmann, mußte seinem

verwandten Gegner

weichen.

Die

geschlossene

Macht der

katholischen

Partei, der Hader unter den Protestanten, die zwiespältigen Interessen der Stände ermöglichten diese Gewaltacte.

Noch einmal gelang es den böhmischen Protestanten, unter kluger Benutzung des zwischen dem Kaiser und seinem Bruder Mathias ausge­

brochenen Haders, in dem Majestätsbrief von 1609 das Uebergewicht zu erlangen.

Aber das Zugeständniß war ein widerwillig im Zwang der

augenblicklichen Nothlage ertheiltes: sobald daher die drohendste Gefahr beseitigt war, trachtete auch Rudolf schon wieder, daö lästige Joch abzu-

569

Altösterreichische Culturbilder.

schütteln.

Doch begnügte man sich vorerst noch mit verdeckten Angriffen

gegen den rechtlichen Bestand der protestantischen Kirche; vorsichtig wich

der allmächtige Minister des Kaisers Mathias, der Cardinal Melchior Klesl, jedem heftigeren Zusammenstoß mit den böhmischen Protestanten

aus.

Hatte er früher im Erzherzogthum Oesterreich sich um die Ver-

drängtlng der neuen Lehre die größten Verdienste erworben, indem er per­ sönlich von Stadt zu Stadt gezogen war und

überall durch mächtig

wirkende Predigten das Bolk zu sich herübergezogen hatte, so glaubte er jetzt die Protestanten überall schonender behandeln zu müssen, es wenig­

stens zu keinem offenen Bruch mit ihnen kommen lassen zu dürfen, damit dieselben nicht seinen heftigsten Gegnern, den Erzherzogen von der steiri­ schen Linie, in die Arme getrieben würden.

Erst der Sturz dieses ein­

flußreichen Mannes und das Emporkommen der genannten Linie in der Person deö Erzherzogs Ferdinand hat dann auch in Böhmen, wie in den

österreichischen Stammlanden an der Donau, deu religiösen Bürgerkrieg und die Vernichtung des Protestantismus hervorgerufen.

Nicht nur für die Entwicklung des böhmischen Aufstandes, sondern auch für die ganze Geschichte des dreißigjährigen Krieges ist der bekannte

Sturz der kaiserlichen Statthalter aus den Fenstern des Praßer Schlosses

von der verhängnißvollsten Bedeutung geworden.

Der eine der beiden

Herausgcstürzten, Graf Wilhelm Slavata, hat uns eine eingehende Auf­ zeichnung über die Einzelheiten des böhmischen Aufstandes, namentlich des

Fenstersturzes und seiner unmittelbaren Folgen hinterlassen, die Wolf mit-

theilt rind die auch wir ihrem hauptsächlichsten Inhalt nach wiederzugeben versuchen wollen.

Die dem weltberühmt gewordenen Ereigniß vorausgehenden Umstände

sind bekannt.

Der Hauptanstifter des wohl vorbedachten Gewaltacts war

Graf Thurn, der langjährige Vorkämpfer der protestantischen Opposition

im Lande, dessen entschiedenes Auftreten besonders dem Kaiser Rudolf den Majestätsbrief abgerungen hatte.

Er wußte die übrigen Häupter der

Opposition, Colonna von Fels, Wenzel von Rupga, Albrecht Smirickh, Wenzel Budowec, Gras Schlick, Wilhelm von Lobkowitz u. a., von dem

Schuldantheil der verhaßten Statthalter an dem letzten kaiserlichen Be­ scheide, durch den den Protestanten in schroffster Form die Abhaltung einer Tagfahrt unter Androhung gerichtlicher Inhaftnahme der Anführer ver­

boten worden war, zu überzeugen und für seinen wilden Plan zu ge­

winnen.

Am frühen Morgen des 23. Mai zogen die versammelten Stände

in das Prager Schloß, um die Antwort auf die kaiserliche Forderung der Auflösung der Versammlung zu überbringen.

Sie trafen nur vier der

Statthalter an: Sternberg, Lobkowitz, unsern Gewährsmann Slavata und Preußische Zahrducher. Bd. XLV1. Heft 0.

41

Altösterreichische Culturbilder.

570 Martinitz.

Die beiden ersten galten für gemäßigte

und wohlwollende

Männer, dagegen richtete sich alsbald nach den ersten Zwischenreden gegen die letztgenannten der ganze Sturm der Entrüstung.

Zuerst — so erzählt

nun Slavata selbst — wurde Martinitz von vier Herren und einem Ritter gewaltsam angepackt, bei den Händen stark gehalten und zu dem schon

offenen Fenster geführt, unter dem wilden Ruf der Versammlung: „nun

wollen wir unö wider unsere Religionsfeinde rechtschaffen verhalten". „Die beiden Grafen meinten, man werde sie aus der Kanzlei in einen Arrest führen; als jedoch Martinitz die Weise seines bevorstehenden Todes

erkannte, rief er mit lauter Stimme: weil ich nun für Gott, seinen heiligen katholischen Glauben und I. K. Majestät sterben muß, so will ich alles

gerne dulden, nur vergönnt mir bald meinen Beichtvater, damit ich ihm meine Sünden beichten kann.

Allein die anwesenden Herren gaben ihm

zum Bescheid: jetzt werden wir dir noch einen schelmischen Jesuiten ZU? führen.

Indem sich Graf Martinitz darüber höchst betrübet und seine

Sünden herzlich bereuend zu beten anfing: Jesu, Du Sohn deö lebendigen

Gottes, erbarme Dich meiner, Mutter GotteS gedenke mein, hoben ihn

die genannten Personen von der Erde und stürzten ihn sammt Rapier und

Dolch, doch ohne Hut, welchen ihm einer auS der Hand gerissen, mit dem Kopf voraus aus dem Fenster in die Tiefe deS Schloßgrabens.

Aber er

ist, nachdem er im Herabfliegen unaufhörlich den Namen JesuS, Maria gerufen, so leise auf die Erde gesunken, als wenn er sich setzen thäte, so

daß ihm durch die Fürbitt der Jungfrau Maria und den Schutz GotteS der schreckliche Fall an seiner Gesundheit trotz seines schweren Leibes nichts

geschadet hat.

Etliche fromme, glaubwürdige Leute haben auch ausgesagt,

daß sie damals, während sie über die große Brücke mit der Prozession

auf die Kleinseiten giengen, die allerseligste Jungfrau Maria gesehen, wie sie den Herrn mit ihrem Mantel in den Lüften erhalten und auf die Erde getragen hat.

Graf Martinitz hat dies nicht selbst gesehen, aber eS

kam ihm während des Falles vor die Augen, als wenn sich der Himmel

öffnete und ihn Gott zu ewigen Freuden aufnehmen wollte.

Ein Ritter,

nämlich Ulrich Kinsky, hatte ihm beim Htnauswerfen die Spottworte ge­

sagt:

„Wir wollen sehen, ob ihm seine Maria helfen wird"; und dann

wie er auS dem Fenster den Grafen Martinitz frisch und gesund auf der Erde sitzen sah, auSgerufen:

„Ich schwöre zu Gott, daß ihm seine Maria

geholfen hat." Als nun der Graf Slavata gesehen, wie man mit dem Grafen

Marttnitz, seinem getreuen Freund und lieben Gespann, verfahren ist, hat er leicht schließen können, daß ihm das Gleiche begegnen wird.

Mit zum

Himmel erhobenen Händen, um Gott und seiner Barmherzigkeit willen

571

Altösterreichische Culturbilder.

hat er gebeten, ihn vorher seine Sünden beichten zu lassen; hernach mögen

sie ihm einen Tod anthun, welchen sie wollen; aber viele schrieen:

„Wir

wollen jetzt nicht den Schelm Jesuiter herführen, hast ihnen schon genug gebeichtet."

gesagt:

Und als ihnen Graf Thurn die Worte in deutscher Sprache

„Edle Herren, da habt ihr den andern", haben sie den Grafen

Slavata ergriffen, von der Erde emporgehoben und ihn sammt Mantel und Rapier den Kopf zuvor aus demselben Fenster herabgestürzt.

Noch

in dem Fenster hat er das Zeichen des heiligen Kreuzes auf die Brust

geschlagen und mit zerknirschtem Herzen gesagt:

„Deus propitius esto

mihi peccatori, Herr sei mir Sünder gnädig!"

Als er mit der rechten

Hand das Fenster ergriffen und sich ein wenig angehalten, hat ihm noch einer mit dem Knopf des Dolches auf die Finger geschlagen, so daß er

Sein Hut, an welchem eine schöne mit

dennoch hinabgestürzt worden.

goldenen Rosen und Diamanten besetzte Schnur war, blieb in der Kanzlei.

Die goldene Kette mit dem Kreuz und schwarzem Schmelz haben sie ihm bei dem AuSwerfen zerrissen und so in ihren Händen

behalten.

Graf

Slavata hat sich an dem steinernen GesimmS des untersten Fensters an­

gestoßen und ist auf der Erde mit dem Kopf noch auf einen Stein ge­

fallen, aber er hat sich dennoch bis in die Tiefe des Grabens herunter gekaulet; und weil ihm das Blut in den Mund geronnen, hat er wie ein

Erstickender zu rasseln

angefangen und

ist halb

todt

gelegen.

Graf

Martinitz hat sich entschlossen, ihm auf alle mögliche Weise zu Hilfe zu kommen, und weil er fürchten mußte, daß die Leute vom Fenster auf ihn schießen möchten, hat er sich schwächer gestellt als er gewesen und sich zu Graf Slavata herunter gewälzt.

Obwohl er sich dabei mit Rapier und

Dolch auf der linken Seite verletzt, hat er seinem alten Herrn Oheim

und Schwager das Haupt aus dem Mantel gewickelt und ihm mit seinem Tüchel das Blut, das aus den Wunden in den Mund geflossen, fleißig abgewischt.

AuS einem kleinen silbernen Büchsel, das an das Tüchel ge­

bunden war, hat er stracks den Schlagbalsam herausgenommen, dem in Ohnmacht liegenden Herrn unter der Nasen und auf den Schläfen ein­

geschmiert und ihn also mit Gottes Hilf wieder zurecht gebracht." Slavata erzählt nun weiter, daß auf Befehl der im Saale Zurück­

gebliebenen Jäger und Haiducken des Grafen Thurn auf den großen Wall hinabliefen und auf die beiden wie leblos Daliegenden mehrere Schüffe abgaben.

Einer der Schüsse gieng dem Grafen Martinitz durch den HalS-

kragen, ein zweiter durch den Mantel und Rock, ohne jedoch den Träger

im geringsten zu verletzen.

Inzwischen waren etliche Diener der Miß­

handelten durch daS untere, unter dem Oberstburggrasamt gelegene Schloß­

thor ihren Herren zu Hilfe geeilt, wurden aber durch Schüsse wieder

41*

572

Altösterreichische Culturbilder.

Jeden Augenblick

zurückgetrieben.

tödtlichen Schuß.

erwarteten die

beiden

Grafen

den

Auch die Aufzeichnung Slavata's klärt die höchst auf­

fallende Thatsache nicht auf, wie es möglich war, daß Beide bei dem fortwährenden Schießen von den Fenstern des Schlosses herab unversehrt

Slavata erzählt, daß ihnen, nachdem die erste Kunde

entkommen konnten.

von der wilden Gewaltthat sich in der Burg und den nächstanliegenden Stadttheilen verbreitet habe,

viele Freunde und Bürger zu Hilfe ge­

kommen seien, auf welche aber gleichfalls ein heftiges Feuer von oben

herab eröffnet worden sei.

Jedenfalls muß dieses Schießen bald nachge­

lassen haben, da sonst schwerlich Jemand aus den engen Gräben heil da­

vongekommen wäre.

Wahrscheinlich wird bei den Attentätern, nachdem

die erste Leidenschaft abgekühlt war, eine ruhigere Erwägung Platz ge­

griffen haben, die sie veranlaßte,

von weiterer Verfolgung abzustehen.

Es würde sich dann am ungezwungensten der Umstand erklären, daß die

beiden Statthalter noch längere Zeit unbehelligt in Prag bleiben und dann ohne größere Fährlichkeiten von da entschlüpfen konnten.

Graf Marttnitz

vermochte nach einiger Zett sich selbst zu erheben und, nur auf einen Diener gestützt, wegzugehen.

Die erste Zuflucht fand er in dem nahe­

liegenden Hause der Fürstin Polyxene Lobkowitz; eine große Leiter war auf Anordnung derselben vom Fenster auf die Straße herabgelassen; auf ihr rettete sich Martinitz in das Haus, auf das während dessen von den

Wällen her starkes Feuer gegeben wurde.

Auf einem Gesindebett htnge-

streckt gab er sich den Anschein eines Schwerverwundeten, seinem Ende Ent­

gegensetzenden, traf aber daneben insgeheim alle Vorkehrungen zu baldigster Flucht aus Prag.

Er ließ sich den Bart kurz abscheeren und das Gesicht

mit feuchtem Schießpulver schwärzen und legte alte abgeschabte Diener­ Noch am Abende desselben Tages schlich er sich in dieser Ver­

kleider an.

mummung aus dem Haus und kam unbehelligt durch alle Schloßthore bis an sein Haus, wo er noch einmal seine Frau sehen und ihr lebewohl

sagen wollte.

Man denke sich das Entzücken derselben, als sie den Ge­

mahl frisch und gesund vor sich sah. oculos zu demonstriren,

Kapriolen".

Bei dem

„sprang

Um ihr seine Unversehrtheit ad

er vor ihr auf und machte einige

Kapuziner-Kloster

vorbei

eilte

er

durch

daS

Strahöver Thor nach dem weißen Berg und stieg dort in eine alte, mit zwei Pferden bespannte Kalesche.

Anfänglich hatte er die Absicht gehabt, direct

nach Wien zu reisen: aber die Erwägung, daß seine Feinde ihn gerade

auf dieser Route zunächst aufsuchen könnten, ließ ihn seinen Reiseplan ändern und seinen Fluchtweg westlich nach

Bayern über Regensburg

nehmen.

Am kurfürstlichen Hofe zu München fand er freundliche Auf­

nahme.

Vom Kaiser zum Gesandten am bayerischen Kreistag ernannt,

Mtösterreichische Culturbilder.

573

blieb er hier ein volles Jahr und übersiedelte erst im Herbste 1619 nach Passau, wo ihm auf den Wunsch Ferdinands II. der Erzherzog Leopold ein Asyl angeboten hatte.

Jedenfalls war es Martinitz bei und nach dem Fenstersturze besser ergangen als Slavata, der noch lange in Prag krank lag, dann nach

Sachsen und Franken flüchtete, bis er 1619 ebenfalls nach Passau kam. Der Prager Fenstersturz ist für das schöne und blühende Böhmer­ land der Ausgangspunkt unsäglichen Elends geworden.

Nach der Schlacht

am weißen Berge zerriß Ferdinand eigenhändig den Majestätsbrief von 1609. Die religiöse und ständische Freiheit des Landes war für alle Zeiten verloren.

Die Köpfe von

siebenundzwanzig

vornehmen protestantischen

Edelleuten und Bürgern fielen unter dem Beile des Henkers; 480 Edel­

leute büßten ihre Schuld mit dem Verluste ihres Vermögens; sechzehn Städte verloren ihren Grundbesitz an Höfen und Dörfern; im Ganzen wurden in Böhmen 500, in Mähren 146 Güter confiscirt, verkauft und verschenkt.

Der Werth der in Beschlag genommenen Güter, Capitalien

und fahrenden Habe belief sich in Böhmen auf 30 Millionen, in Mähren auf nahezu 5 Millionen Gulden.

Einquartierungen und Contributionen

lasteten schwer auf dem Lande; abgedankte Soldatenhaufen durchzogen daS Reich und raubten, was die obrigkeitliche Erpressung übrig ließ.

Mit

den Gütern der Hingerichteten oder sonst Verurtheilten bereicherte sich die Kasse des Kaisers und seiner Anhänger; alles evangelische Vermögen war

verwirkt; es begann ein schandloser Handel mit „Rebellengütern", der in wenigen Monaten den ganzen Besitzstand in Böhmen veränderte, unter

Formen, die ein Hohn auf jeden gerichtlichen Prozeß waren.

Und als

die Rache an Leben und Habe der Besiegten gestillt war, begann daS

Werk der gewaltsamsten Unterdrückung des Protestantismus.

Mit den

kaiserlichen Soldaten waren auch die Jesuiten wieder eingezogen und be­ trieben die katholische Restauration mit allen Mitteln der Verführung, der List und Gewalt.

Die Kirchen der Protestanten wurden geschlossen oder

den Katholiken eingeräumt, ihre Geistlichen und Lehrer vertrieben, ge­ peinigt, ermordet, ihre Bücher und heiligen Gegenstände verbrannt und

zerstört; Commissarien der Regierung durchzogen mit Soldaten das Land und wütheten gegen die Bekenner des Evangeliums;

die altberühmte

Prager Universität ward den Jesuiten ausgeliefert. Wenn das protestantische

Volk den Verführungskünsten katholischer Priester widerstand, so begannen

die Liechtensteiner Dragoner ihr Bekehrungswerk; Tausende trieben diese

gespornten „Seligmacher" Messe und Beichte.

mußte auswandern.

unter den entsetzlichsten Mißhandlungen zur

Viele beugten sich dem Zwange; wer sich nicht beugte,

Bis 1623 hatten 12000 Personen das Land ver-

Altösterreichische Lulturbilder.

574

lassen, bis 1630 mehr als 30000 Familien, unter ihnen 185 adelige Ge­

schlechter.

Der ganze Organismus des Volkes, sein Besitz, sein Vermögen

waren verändert.

Die einst so blühenden deutschen Städte verloren ihre

betriebsame Bevölkerung.

Nach Verlauf eines Jahrzehnts war das König­

reich in ein durchweg katholisches Land umgewandelt; in größter Heim­ lichkeit nur rettete sich ein Ueberrest des böhmischen Protestantismus in

bessere Zeiten hinüber. Und ebenso verfuhr man in Mähren und Schlesien; in allen Theilen der österreichischen Monarchie riß der kirchliche Absolutis­ mus die letzten Schutzwehren der Duldung nieder.

Hand in Hand mit

der Vernichtung der religiösen und ständischen Freiheit gieng daS Zurück­

drängen deS DeutschthumS.

Wie in den übrigen Kronländern erkannten

auch in Böhmen die Jesuiten daffelbe als ihren gefährlichsten und zähesten Gegner: das Vordringen der katholischen Restauration bedeutet auch hier

daS Zurückwetchen der deutschen Colonisation.

Noch heute krankt daS von

der Natur verschwenderisch beschenkte Land an den Nachwehen jener ge­

waltsamen, von oben her ausgegangenen Revolution.

Während dasselbe

bis zum Beginn des dreißigjährigen Krieges vielleicht daS blühendste unter

allen deutschen Gebieten war, ist eS seitdem, je weiter die Jesuiten und die mit ihnen eng verbündeten Czechen vordrangen, mehr und mehr von

seiner alten Culturhöhe herabgekommen, und nur einem kräftigen Wieder­ eintreten des deutschen Elements in die historische Rolle einer culturver-

breitenden Macht wird eS gelingen, ein zweites Blüthealter hervorzurufen. Posen.

Christian Meyer.

Aus Türkisch-Asien.

Kurz bevor im Westen der Islam, das Maurische Fürstenthum von

Granada, aufhörte die Europäische Karte zu zieren, waren im Osten an­

dere Moslernen eingedrungen und hatten sich auf den Trümmern des Ost­ römischen Reiches wohnlich eingerichtet, ein Geschlecht auS härterem Stoff, vom Schicksal bestimmt den Donauvölkern, Ostösterreich und. Südrußland

über Islam und Türkenthum eindringliche Lektionen zu ertheilen.

Wo

damals die Mauren Spanien'- waren, sind jetzt die Türken angelangt:

am letzten Abschnitt ihrer Europäischen Laufbahn.

Wenn erst die durch

ihr bevorstehendes Ende hervorgerufenen Erbstreitigkeiten beigelegt und

geordnet sind, was allerdings noch manches Jahr in Anspruch nehmen

kann, werden sie über den HelleSpont und Bosporus wieder abziehen und

die Segnungen ihrer früheren christlichen Unterthanen werden sie schwerlich

begleiten. Zwei Uebel sind eS, denen das Türkenthum erliegt: absolute, in­

kurable Talentlosigkeit der Nation, und das Unvermögen des Moslemi­ schen Staates, innerhalb seines Rahmens andersgläubigen Unterthanen eine menschenwürdige Existenz zu gewähren, am besten illustrirt durch die Thatsache, daß noch in diesem Augenblick an allen Muhamedanischen Ge­

richtshöfen der Türkei die Zeugenaussage eines Christen gegenüber einem

Moslem nicht gültig ist, nicht angenommen wird.

Der Christ ist eben

für den Moslem — sit venia verbo! — Kelb, ein Hund.

Wenn ein

Moslem einen Christen prügelt, so wird er von jedem Türkischen Tribunal sreigesprochen; wenn aber der Christ den Moslem wieder schlägt, so wird er ebenso sicher verurtheilt, auch von denjenigen verurtheilt, die eS sich sonst zur Ehre anrechnen, an seiner Tafel zu speisen.

Die Person deS

Moslem ist sacrosanct, aber die Europäer sind Barbaren und Christenthum ist gut genug, eS mit Füßen zu treten.

das

Jeder Europäer, der

lange oder längere Zeit im Türkischen Reich, besonders in den Provinzen

zu leben genöthigt ist, erlebt zahlreiche Scenen, welche diese meine harten

Worte in ihrem ganzen Umfange bestätigen.

Hochmuth ist eine hervor-

Aus Türkisch-Asi-n.

576

ragende Eigenschaft aller Türken, ein für das gebildete Europa schwer zu beschreibender Hochmuth, wie er nur auf dem Boden crassester Unwissen­ heit wachsen kann.

Mit demselben Hochmuth wie früher foppen die Stambuler Paschas,

auf die Uneinigkeit der Mächte bauend, das ganze Europa in ihren Noten voll unrealisirbarer Versprechungen.

Im Uebrigen aber haben die harten

Schicksalsschläge der letzten Jahre mancherlei in der Wirthschaft der Türken

geändert.

Im Jahre 1873, als ich zum ersten Mal den Bosporus kennen

lernte, wunderte sich zwar der Großherr bereits, daß so viele Millionen Sklaven nicht im Stande seien, einen einzigen Herrn zu ernähren, aber man hatte noch Millionen für Prachtbauten und Panzerschiffe, und in den

Kreisen der Ulemas in Stambul, mit denen ich täglich zu verkehren hatte, herrschte noch der Geist Muhamedanischcr Unfehlbarkeit.

Anders fand ich die Verhältnisse am Bosporus im vorigen Herbst. Man glaubte von den Konaks ablesen zu können, daß ganze Provinzen ver­

loren gegangen waren, mit ihnen die Quellen des Reichthums der Paschas und Steuerpächter, und man erhielt einen Vorgeschmack von der allge­

meinen Verarmung, welche weiter ostwärts im Innern des Reiches überall grell zu Tage tritt. worden,

Auch die Ulemas in Stambul waren andere ge­

wenn auch kaum gebessert.

Verloren das Vertrauen auf die

Armee, auf die Hülfsmittel des Landes, und der Fremdenhaß durch das

Auf der elenden Holzbrücke,

nationale Unglück in's unendliche gesteigert.

welche Stambul mit Galata verbindet, hatte man täglich Scenen aus der

Rückwanderung des Türkischen Volkes nach Asien vor Augen.

die

MuhLdjirln,

Männer,

Weiber und

Kinder,

in

großen

Da lagen Haufen,

Muhammedanische Flüchtlinge aus den abgetretenen Provinzen, welche

auf ein Dampfschiff warteten, das sie nach Kleinasien hinüberbringen sollte. Kleinasien ist das Vaterland der Türken.

Ans Kleinasien sind sie

gekommen, und nach Kleinasien werden sie zurückkehren.

Aber was dann?

Seit dem Frieden von S. Stephane hatte die Türkei, und speciell bte- Asiatische Türkei mächtige Freunde in dem Torh-Cabinet, in Beacons­ field, Salisbury und Lahard, und als ich den letzteren vor einem Jahr

in Therapia besuchte, war sein ganzes Sinnen und Trachten auf Klein­ asien und Syrien gerichtet.

Er hatte grade eine Anzahl von Officieren

als Consuln in jene Länder (nach Dijürbekr, Siwas, Erzerum, Van und

anderen Orten) geschickt und war vollkommen berechtigt sich von dieser Maßregel heilsame Wirkungen zu versprechen.

Die Englische Regierung

verfolgte den richtigen Plan, nachdem an dem Osmanenreich in Europa

nichts mehr zu retten, nur wenig noch zu verlieren ist,

in Asien die

Türkische Herrschaft zu befestigen und zu reorganisiren, sie zu einem wider-

577

Aus Türkisch-Asien.

standsfähigen Bollwerk gegen das Vordringen der Russen von Armenien her umzugestalten.

Das Alpenland Armenien's sollte Russischen Expan­

sionsgelüsten eine Schranke setzen und zugleich die Englische Mittelmeer­

linie decken.

Cypern war zum Observatorium bestimmt, und eS hatte

den Anschein, als würde England sein in dem Separat-Vertrage mit dem

Sultan gegebenes Versprechen, die Asiatische Türkei gegen die Russen vertheidigen zu wollen, erforderlichen Falls zur That werden lassen. Es hat seitdem den Englischen Wählern gefallen, jene Regierung zu

stürzen.

Für das Verständniß der parlamentarischen Vorgänge in Eng­

land ist ganz wesentlich der Umstand, daß seine Politiker seit einem De-

cennium nicht mehr im Stande gewesen sind, eine legislative Frage von tief eingreifender Wichtigkeit dem Volke zur DiScussion vorzulegen.

letzte große Parteiruf war die Irish church question.

Der

Seitdem fehlt es

an einem packenden party-cry und dasjenige, was auf dem Gebiet der

inneren Gesetzgebung geleistet ist (ich erinnere z. B. an die langen Ver­ handlungen über die Beschränkung der Stunden, in denen Spirituosen verkauft werden dürfen) ist von geringer Bedeutung.

An der Armuth

an legislatorischen Ideen war das vorige Cabinet Gladstone hingesiecht, aber auch sein Nachfolger Beaconsfield war in diesem Punkt nicht besser

situirt.

Auch er wußte kein großes legislatorisches Werk seiner Nation

vorzulegen.

An eine radicale Lösung der nächsten brennenden Frage der

inneren Politik England's, an die Irländische Grund- und Bodenfrage,

eine Frage, die wir in den meisten Provinzen des Deutschen Reiches im Zusammenhang mit der Befreiung der Leibeigenen durchgekämpft haben,

wird sich vorläufig weder Whig noch Tory wagen; sie schneidet zu tief in die materiellen Interessen der gesetzgebenden Gesellschaftsklassen ein, und

nach dem Irischen Farmer kommt der Englische. daher Beaconsfield die Gelegenheit,

Mit Begier ergriff

die Aufmerksamkeit seiner Lands­

leute an die Beschäftigung mit äußerer Politik,

deren sie seit langer

Zeit vollkommen entwöhnt waren, zu fesseln; die Umstände secundirten

gut und sicherten ihm ein längeres Verbleiben im Amt.

Seine Orient­

politik nahm die eben angedeutete Richtung; ihre Spitze zeigte gegen Rußland. In der letzten Wahl-Campagne überschwemmte nun Gladstone, da­

mals vom Punch a colossus of words genannt, das Englische Volk mit einer Sündfluth von Redensarten, für welche HorazenS sesquipedalia verba eine schamhafte Litotes sind, und durch eine auch für die meisten Engländer unerwartete Anlehnung an die äußerste Linke gelang eS ihm, das Zünglein in der Wage der Abstimmung zu seinen Gunsten zu senken.

In Folge dessen hat sich England'- äußere Politik wieder einmal über

578

Aus Türkisch-Asien.

Nacht von Schwarz zu Weiß verkehrt, und gegenwärtig liegen Englische Feuerschlünde friedlich neben Russischen.

Daß auf diese Action bald eine Reaction folgen wird, daß die Eng­ lischen Wähler bald zu der Einsicht gelangen werden, die Englische Streit­ macht könne unmöglich auf dem richtigen Wege sein, wenn sie auf demselben Wege ist wie die Russische, sehen wir für zweifellos an und hoffen für

diesen Fall, daß das Tory-Cabinet zu seiner früheren Orientpolitik zurück­ Ihr Wesen besteht darin, daß sie der Asiatischen Türket eine

kehren wird.

zeitgemäße, den richtig verstandenen Interessen des Hauses Osman för­

derliche Aufmerksamkeit widmet, und ihr Verdienst ist es, daß sie, indem

sie an Stelle des unhaltbaren Türkenreiches in Europa in der Asiatischen Türkei einen widerstandskräftigen Gegner Rußlands zu schaffen bestrebt ist, dadurch den Interessen des übrigen Europa'- auf halbem Wege ent­

gegenkommt. Jedoch kehren wir in den Orient zurück.

Am 12. September 1879 fuhr ich auf einem Llohdschiff an der Küste der TroaS vorbei gegen Süden, zwischen TenedoS und Mttylene.

In

einiger Entfernung sahen wir ein Englisches, einen mehr westlichen CurS

steuerndes Kanonenboot, das Sir Henry La Yard am Bord hatte und nach Syrien tragen sollte.

Er wollte das von Midhat Pascha, einem Prologs

der Englischen Regierung, gleichsam als Versuchsstation verwaltete Syrien in Augenschein nehmen.

Midhat sollte mit den Reformen auf Asiatischem

Boden vorangehen, von Layard in Constantinopel mit seinem ganzen Ein­

fluß unterstützt. Anfang October wurde ich von Midhat in seinem Konak in DamaScuS empfangen und fand ihn höchst erfreut über eine neue — GenSdarmerie-

Uniform.

Die Uniform war passabel.

Mehr kann ich nicht sagen.

Der Wandel in der Englischen Politik hat auch ihn hinweggefegt

und bedeutsame Spuren in der Verwaltung der Provinz hat er nicht

hinterlassen.

Der beste Provinzial-Gouverneur der Türket ist machtlos,

weil die wichtigsten Verwaltungszweige nicht von ihm abhängen, sondern

direkt unter die betreffenden Ministerien in Stambul ressortiren.

Am 8. October verließ ich DamaScuS, begleitet von einigen GenSdarmen in der neuen Uniform, und was ich seitdem an politischen Ver-

hältniffen in Stadt, Dorf und Wüste gesehen, ist an und für sich höchst

merkwürdig, würde aber natürlich ein erhöhtes Interesse gewinnen von dem Augenblick an, wo die Türkenmacht ihre Fußung in Europa verliert und

der Europa-müde Sultan sein Lager in Bruffa oder Aleppo oder Dijärbekr aufschlägt.

Die Ländermasse seines Astatischen Reiches ist von einer

gewaltigen Ausdehnung, groß genug, um die Steuern und die Mann-

579

Aus Türkisch-Afien.

schäft für eine achtunggebietende Macht aufzubringen.

Aber man laste

Viele Länder, welche dort inner­

sich durch die Landkarte nicht täuschen.

halb der Reichsgrenze verzeichnet sind, haben nie einen Türken gesehen, sind nie von Türken erobert worden, und in denjenigen Gebieten, welche

wirklich der Türkischen Regierung unterstehen, sind bereit- wieder ähnliche Elemente vorhanden und in voller Thätigkeit wie diejenigen, welche in

Europa die Zersetzung deS OSmanenreichS bewirkt habm.

Die Bevölke­

rung-verhältnisse in Kleinasien, mir nur zum kleinsten Theil au- eigener Anschauung bekannt, sind nach den vorhandenen Reiseberichten noch nicht

genau zu übersehen.

ES scheint, daß zwischen Brussa und Mälatia,

Sinope und Adana die Türken eine große Majorität bilden; sie sind aber

überall mit Griechen, Armeniern, Kurden, Turkmanischen Nomaden und

anderen Völkern vermischt, und über da- Mischung-verhältniß ist einst­ weilen ein Urtheil noch nicht möglich.

Klarer liegen die Verhältnisse in

Syrien, in den Euphrat- und TigriS-Ländern und in Kurdistan.

Dort

sind es drei Völker, mit denen da- Haus OSman'S zu rechnen haben

wird; von der Politik, welche seine Staatsmänner ihnen gegenüber be­

folgen werden, wird eS abhängen, ob sie nicht etwa dieselbe Rolle über­ nehmen werden, welche für daS Europäische Reich die Griechen, Serben, Rumänen und Bulgaren gespielt haben.

Ich meine die Arabischen Be­

duinen, die Kurden und die Armenier.

Meine

erste Bekanntschaft

mit der ungewaschenen

Majestät des

BeduinenthumS machte ich auf der Rückkehr von Palmyra in Chawarin, einem von Muhammedanern bewohnten Dorf mit der imposanten Ruine einer auS mächtigen Quadern erbauten, altchristlichen Basilica.

Zurück­

kehrend von einer Expedition nach einer Dampfquelle in der Wüste sand

ich mitten im Dorf in der Nähe meine- Zelte- eine fremde Gestalt vor. Er saß mit untergeschlagenen Beinen auf der Erde, machte ein finstere-

Gesicht und sah weder recht- noch link-; neben ihm stak seine lange Lanze

im Boden und, angebunden daran, sein magere-, au- wenig mehr als Haut und Knochen bestehende- Roß.

Er trug die Tracht der Beduinen-:

ein bi- auf die Füße hinab reichende-, bauschige-, schmutzig weiße- Ober­ hemd, da- vorne die wie eine Ziegenhaut behaarte Brust sehen ließ; ein schwarze- Tuch, um den Kopf geschlungen und befestigt mit einem vier

Finger dicken, au- Ziegenhaaren geflochtenen, zweimal umgewundenen Strick.

und

Mehrere Bauern standen in einiger Entfernung um ihn herum,

meine eigenen Leute schienen seine Nähe geflissentlich zu meiden.

Auf meine Frage, wer der Mann sei und was er wolle, erhielt ich die Antwort, er sei gekommen die Chllwe zu holen.

580

Aus Türkisch-Asien.

Im Beduinenreich gibt es keine Grundsteuer, Kopfsteuer, Miethsteuer, keinen Zehnten oder dergleichen mehr;

Vorzug großer Einfachheit.

seine Steuerverfassung hat den

Es kennt nur eine Steuer, die Chüwe d. h.

wörtlich übersetzt: Brüderschaft.

Also sagen wir:

Brüderschafts­

Steuer.

Ganz so harmlos wie der Name ist nun die Sache keineswegs. allen,

den Ueberfällen der Beduinen

ausgesetzten Ortschaften

In

erscheint

plötzlich eines Tags ein solches Individuum; er kommt aus dem Nichts

d. h. aus der Wüste, ohne irgendwelches Zeichen einer Auctorität.

Vor

der größten Hütte läßt er sich nieder und erklärt den Dorfbewohnern: „Ich brauche für meinen Schaich so und so viele Ghüzis d. h. Medjldijje

oder Fünf-Francs-Stücke, Kleider, Stiefel, Kaffe, Zucker, Weizen, Reis,

Durra" und mehr dergleichen, was zu den Bedürfnissen des Lebens in der Wüste gehört.

Nun beginnt ein im fürchterlichsten Schreien geführtes

Markten und Handeln; die Bauern versichern, daß sie nichts von alledem besitzen, sie bieten ein Drittel, die Hälfte.

Alles vergebens.

Der Steuer­

einnehmer der Wüste hört stumm ihrem Reden zu; er bekommt schließlich

alles, was er verlangt, und verschwindet sofort wieder in das Nichts, auS

dem er gekommen. Wenn nun die Bauern sich weigerten die Chüwe zu zahlen, was dann? — Dann würden sie eines Tages finden, daß ihr Vieh von der

Weide verschwunden ist d. h. geraubt von den Beduinen; oder haben sie gar die Beduinen-Majestät schwer beleidigt, so finden sie bald einen der

ihrigen auf ihrer Feldmark liegen — mit abgeschnittener Kehle, oder eS erscheinen die Söhne der Wüste in großer Zahl und stecken das Dorf in Brand.

Also der Bauer zahlt; er muß zahlen, denn wer sollte ihn schützen?

— Der Nutzen, den ihm das Einhalten dieser Verpflichtung gewährt, be­ steht darin, daß er in Ruhe seine Aecker bestellen und sein Vieh weiden lassen kann.

Dabei ist es immerhin noch möglich, daß die Beduinen,

wenn die Weide in der Wüste abgeweidet ist, gelegentlich ihre Kameele

auf seine Feldmark treiben.

Zu solchem Spiel muß er gute Miene

machen.

In dieser Weise äußert sich die Macht deS Reiches der Wüste und zwar mit einer — ich möchte fast sagen: an Organisation streifenden —

Regelmäßigkeit trotz aller Spaltungen in der Wüste selbst.

Es würde

hier zu weit in geographisches Detail führen, wollte ich die Grenzen ihrer Machtsphäre bezeichnen; dieselbe reicht überall bis in die Nähe der großen Städte, Damascus, Aleppo, Ursa, Mardin und Mosul.

In der Gegend,

wo ich zuerst mit jenem Steuerbeamten der Wüste Bekanntschaft machte,

581

Aus Türkisch-Asien.

erstreckt sie sich bis an den Antilibanon.

An manchen Stellen existirt

sogar das politische Curiosum, daß eine Ortschaft zwei Potentaten Steuern zahlt, sowohl Sr. Majestät dem Sultan wie Sr. Majestät dem Beduinen.

Man denke sich vergleichsweise einen Ort, der zugleich dem Kaiser von Deutschland und dem Kaiser von Rußland steuerpflichtig wäre.

In diese

Categorie fallen, um nur einige zu nennen, die meisten Dörfer zwischen

Palmyra und dem Antilibanon, und neben vielen anderen Orten auch Nisibis und Harran. Wer sind nun die Fürsten der Wüste, denen diese Steuern zuge­

tragen werden?

Die Beduinen sind, wie etwa die Deutschen zu Tacitus' Zeit, in zahlreiche Stämme, die sich durch kleine Nüancen im Dialect unterscheiden,

gespalten.

Indeß die Hegemonie über

alle wird mit fester Hand von

zwei Stämmen, den größten und reichsten von allen, geführt:

von den

Annese in der Syrisch-Arabischen, von den Schemmar in der Mesopotami­

schen Wüste.

Sie weiden im Sommer in den nördlichsten Theilen ihres

Gebietes, im Winter in den südlichsten.

Ihr Besitz sind Kameele und

Pferde, ihre Waffen die Lanze und das Schwert.

im Gebrauch.

Schußwaffen sind nicht

Die Lanze ist sehr lang, um die Hälfte länger als die

unserer Uhlanen; der Schaft ist ein sehr starkes und leichtes Rohr, das

in der Nähe von Basra wächst.

Wenn der Beduine unterwegs ist, trägt

er die Lanze über der rechten Schulter und reitet sein Pferd ohne Zaum,

Sattel und Steigbügel, mit einem Halfter, mehr aber noch mit der Lanze

eS dirigircnd.

Das Arabische Pferd, selbst wenn von edelster Race durch­

gehends von einer nach unseren Begriffen häßlichen Magerkeit, gleicht in

allem seinem Herrn;

Gliedmaaßen und

es ist von mittlerer Größe,

hat feine, zierliche

eine staunenSwerthe Widerstandskraft gegen Hunger

und Durst und Anstrengungen aller Art.

Zärtliche Liebe und intimes

Einvernehmen besteht zwischen Roß und Reiter.

Das Pferd weidet in

der Entfernung einer halben Stunde vom Zelt, da ertönt ein Ruf. Pferd richtet den Kopf in die Höhe.

Ein zweiter Ruf.

DaS

Es fetzt sich in

Bewegung, geht gemessenen Schrittes grade auf das Zelt zu, stellt sich

zu seinem Herrn, reibt sich an ihm und sieht ihn an, als fragte eS:

„Was gibt's?" — Der Beduine schlägt gelegentlich seine Frau, aber sein Pferd schlägt er nie.

Ein Pferd

edler Abstammung und ohne Fehler

wird nie verkauft. Viele Dinge, ohne die man sich in Europa kaum ein Leben denken kann, gibt es in der Wüste nicht, z. B. Religion gibt eS nicht. Beduinen sind ein Volk ohne Religion.

Die

Aber eine Regierung, wenn sie

auch an äußeren Zeichen wenig zu erkennen ist, gibt eS allerdings.

In

582

Aus Türkisch-Asien.

der Regel hat derjenige den größten Einfluß im Stamm, der den größten Besitz hat, aber maaßgebend ist der Besitz allein keineswegs.

Die Be­

duinen sind sehr feudal gesinnt und halten beim Menschen wie beim Pferde viel auf Blut, auf Abstammung.

Die SchaichS gehören alle Fa­

milien an, deren Stammbaum wohl, wenn es eine geschriebene Tradition

gäbe, viele Generationen zurückgeführt werden könnte, und selbst ohne eine solche besteht eine sehr genaue Werthschätzung von dem geringeren Alter der einzelnen Familien.

größeren oder

Die SchaichS der Schemmar

sind gradezu eine erbliche Dynastie. Der Schaich führt den Vorsitz im Rath und ist in der Regel der Anführer bei Krieg- und Raub-Zügen, aber nicht immer; oft wird, wenn

der Schaich sich dazu nicht eignet, ein Anführer frei gewählt. wird wenig regiert.

Im Uebrigen

Ministerien, Gerichtshöfe, Polizei und Kerker gibt

Blut wird mit Blut gerochen, und über Streitigkeiten sucht

eS nicht.

man sich vor dem Schaich und den angesehensten Stammesmitgliedern zu

vergleichen.

Jeder Mann ist freier Herr über sein Zelt, seine Familie

und seinen Besitz.

Der Schaich darf nicht einmal einen Beduinen schlagen;

er hat überhaupt weniger Rechte als Pflichten, vor allen Dingen die Pflicht jeden Abend in seinem Zelt ein Feuer zu unterhalten, über dem ein großer Kaffetopf brodelt, und fleißig unter den Stammesgenossen, welche zahl­

reich um das Feuer kauern und die Ereignisse deS Tags besprechen, die Kaffetasse umherkreisen zu lassen, denn daS Zelt des SchaichS ist da»

Forum dieser Römer, ihr täglicher Versammlungsort.

Außerdem hat er

die Pflicht Gäste zu empfangen.

Die bedeutendsten Ereignisse im Leben der Wüste sind die unaufhör­ lichen Krieg- und Raub-Züge, die Ghäzu.

Auf einem solchen zu fallen

ist der schönste Tod, und für ein Mädchen, daS auf Ehre hält, kann der­ jenige, der sie heimführen will, den Kaufpreis nur in solchen Kameelen

bezahlen, welche auf einem Kriegszuge erbeutet sind. Dank der Politik der Türkischen Paschas sind die Annese in zwei Heerlager gespalten, ein westliches und ein östliches, die seit einer Reihe

von Jahren mit einander Krieg führen und sich gegenseitig schwächen, so­ viel eS bei der Beduinen-Art der Kriegführung möglich ist.

lassung

dazu war ein Streit um

gewisse Weideländereien

Die Veran­ östlich von

HLmL; die Türkische Regierung mischte sich ein, so brutal wie nur mög­

lich; eS floß Beduinenblut und damit war der Krieg gegeben.

Seitdem

sind sie bemüht sich gegenseitig ihre Heerden zu rauben und alljährlich liefern sie sich eine Reihe von Kämpfen, in denen wohl keine Tausende,

oft nicht einmal Hunderte fallen und verwundet werden, die aber doch

allemal ein für jene Verhältnisse bedeutendes Opfer an Menschenleben

Aus Wrkisch-Asien.

583

Die Ruwala oder westlichen Sinnese werden vom Pascha von

erfordern.

Damascus aufgehetzt, und sie sind einfältig genug, ohne einen nennenswerthen Vortheil von der Freundschaft der Türken zu haben, ihnen zu

Liebe die fruchtlosen Kämpfe mit ihren Brüdern, den Sbaa, fortzusetzen.

Der Krieg wird von beiden Seiten ohne besondere Auszeichnung ge­ Der bekannteste Mann der Syrisch-Arabischen Wüste ist Djed-an,

führt.

der Anführer, nicht der Schaich der Sbaa.

Er ist ein berühmter Reiter

und ein erfahrener, verschlagener und unerschrockener KriegSmann, aber

er ist ein Parvenu; ihm fehlt daS Prestige der Abstammung nicht allein, sondern

auch daS Benehmen eines gentleman der Wüste, und was

schlimmer ist als alles: seit einiger Zeit scheint ihm daS Kriegsglück bei seinen Expeditionen untreu geworden zu sein.

Aber auch die Rüwala

sind nicht viel besser daran; da ihr Schaich zum Anführer untauglich ist, kämpfen sie unter einem gewählten Anführer, ebenfalls ohne besonderes Glück.

Aehnlich sind die Verhältnisse unter den Schemmar in Mesopotamien.

Auch sie sind durch Türkische Intrigue in zwei feindliche Lager getrennt,

während sie bis etwa vor 20 Jahren friedlich und einig unter der Füh­ rung der Familie Djerba lebten.

Das Oberhaupt derselben,

Schaich

Sfük wurde in der Nähe von Bagdad hinterlistig von den Türken er­

mordet, sein Sohn und Nachfolger Abdulkerim ihnen verrathen und auSgeliefert, und auf der Brücke von Mosul gehängt.

Jetzt liegt die Füh­

rung des Stammes in den Händen von zwei Brüdern des Abdulkerim: Ferhan und Faris. Der erstere, der beschuldigt wird, an dem schmachvollen Untergang seines Bruders nicht unbetheiltgt gewesen zu sein, trägt den Pascha-Titel

und bezieht als JudaS-Lohn monatlich 240 Türkische Pfund

von der

Türkischen Regierung.

Zu ihm halten die östlichen Schemmar-Stämme

zwischen

Mosul.

Bagdad und

Er selbst ist wenig

geachtet, ist ein

Kedisch d. h. wie ein Pferd gemeiner Abstammung, denn seine Mutter war nicht von Familie; er gilt für einen entarteten Sohn der Wüste,

aber seine Söhne (besonders Schech Ast) sind kühne Reiter und tadellose Wüstensöhne, stets raub- und rauf-lustig, die mit ihrem Onkel Faris um die Hegemonie in der Wüste kämpfen.

FLriS, ein jüngerer Bruder des Ferhan, von edelster Abstammung, ist daS beliebte Oberhaupt aller Schemmar zwischen Ana und Ursa.

Er

ist vielleicht 37 Jahre alt, von mittlerer, schlanker Statur, hager wie alle Beduinen,

mit feinen, wohl proportionirten Gliedmaaßen und schönen,

distinguirten GestchtSzügen; Bartwuchs spärlich, die Nase sanft gebogen

und die Augen sehr groß und hell leuchtend.

Im Allgemeinen halte ich

584

Aus Tilrkisch-Aflen-

ihn für mehr gutmüthig als intelligent, jedenfalls nicht für klug und listig genug, um schadlos mit Türkischen Paschas verkehren zu können.

Er ist

ein vorzüglicher Reiter und unerschrockener Kriegsmann, überhaupt der edelste Typus von einem Wüstensohn.

ihm unbekannt

Oekonomie und Sparsamkeit sind

Wenn die Brüderschafts-Steuer ihm abgeliefert

d. h. vor ihm auf der Erde niedergelegt wird, ordnet er das Geld mit seinem MihdjLn d. h. einem Stock mit krumm gebogenem Handgriff, in

kleine Häuflein und vertheilt eö, je nachdem er angemessen findet, unter die Stammesgenossen.

Für sich

selbst behält er nichts; hat er doch

Kameele und Pferde in Menge, und wenn er sonst etwas braucht, so gibt

ihm jeder Schemmar alles, was er hat.

Dieser Mann, in Tracht und Lebensweise von allen anderen Wüsten­

söhnen nicht zu unterscheiden, ist der König des größten Theils von ganz Mesopotamien. Der Krieg mit seinen Neffen wird mit geringerer Er­ bitterung geführt als derjenige in Syrien, und ich vermuthe, daß die

Schemmar früher zu einem gütlichen Einvernehmen kommen werden als

die Rüwala und Sbäa.

Wie die Verhältnisse gegenwärtig liegen, ist das ganze Gebiet zwischen dem Syrischen Wüstenlande, der Linie DamaScus, Höms, Hamü, Aleppo

einerseits und dem Tigris und Babylonien andrerseits in den Händen

der Beduinen.

Nach dem Recht der Wüste ist jedes fremde Gut vogel­

frei, wenn es nicht als unter dem besonderen Schutz irgendeines Beduinen

stehend nachgewiesen werden kann.

Die Karavanen können nicht auf dem

directen Wege von Bagdad nach Syrien ziehen, sondern schleichen auf

enormen Umwegen am Fuß der Gebirge, welche die Mesopotamische Steppe

im Norden einsäumen, einher und bemühen sich von den Kurden des GebirgS und den Beduinen der Wüste gleich weit entfernt zu bleiben. Aller­

dings ziehen gelegentlich Karavanen durch die Wüste, dann aber müssen sie schwereren Durchgangszoll entrichten.

Auch der größte Theil vom

Lauf des Euphrat und Tigris ist in der Gewalt der Beduinen; um auf

den KellekS (Flößen, die von aufgeblasenen Ziegenbälgen getragen wer­

den) vom Ufer auS nicht angeschossen zu werden, zahlt man bei KalatShirgLt den Beduinen einen Passage-Zoll.

Abgesehen davon, daß die Beduinen die nächsten und natürlichsten Handelswege verstopfen, sind sie die Ursache beständiger Unsicherheit des

Besitzes in den der Wüste angrenzenden Landschaften mit bebautem Boden. Wie kann der Bauer existiren, wenn er zugleich vom Türkischen und vom Beduinischen Steuereinnehmer auSgeplündert wird? wo bleibt der Lohn seiner Arbeit, wenn er zusehen muß, wie die Beduinen ihr Vieh auf

seinen in schönster Blüthe stehenden Aeckern weiden lassen, oder wenn sie

585

Aus Türkisch-Asien.

zur Erntezeit dasjenige, was er gemäht hat, fortschleppen ohne ihn eine-

Wortes zu würdigen?

Die Folge ist natürlich, daß ein Dorf nach dem

anderen verlassen wird und verödet.

An der unglaublichen Verödung von

Syrien und Mesopotamien tragen neben der Türkischen Verwaltung die

Beduinen die größere Hälfte der Schuld. Dies ist das Ergebniß der Türkischen Herrschaft über die Euphratund Tigris-Länder, das Resultat der Politik Türkischer Paschas mit den

Fürsten der Wüste.

Wenn die Beduinen einig und ökonomisch wären,

was sie beides nicht sind, wenn sie einen Führer mit organisatorischem

Talent, der die politische Zeitlage und die Ohnmacht des Sultan's über­ schaute, hätten, den sie nicht haben, so könnten sie leicht das klägliche Maaß Osmanischer Herrschaft, was in jenen Ländern noch übrig ist, vom

Erdboden wegfegen urib eine neue Dynastie in DamaScus, Bagdad und

Urfa etabliren. Eine bessere Regierung der Zukunft wird zunächst

die primärsten

Pflichten einer jeden Regierung, denen die gegenwärtige nicht gewachsen ist, zu erfüllen haben d. h. ihre Unterthanen beschützen und die Verkehrs­ wege sichern. Und diese Aufgabe würde einer Europäischen Regierung nicht schwer fallen. Eine Eroberung der Wüste ist kaum möglich, auch

nicht erforderlich, aber durch Errichtung kleiner Forts am Euphrat und Tigris, durch eine Transvcrsal-Linie von Forts zwischen DamaScuS, Dör und Moful, und andrerseits durch ein contractmäßiges Uebereinkommen

mit den Schaichs der Wüste würde jedes nur wünschenSwerthe Resultat

zu erreichen fein.

Im Gegensatz zu der bisherigen Praxis müßte strenges

Worthalten und strenge Ahndung jedes Wortbruchs die unerbittliche Grund­

regel für den Verkehr mit den Beduinen sein. Eine andere Frage ist es, ob und wie weit es noch einmal gelingen wird, solche Landschaften, welche fruchtbaren Boden und genügende Wasser­ menge haben, die auch schon im Alterthum angebaut gewesen sind, wieder

unter die Cultur einer seßhaften Bevölkerung zu bringen; ich rechne hier­

her die Stromgebiete des Euphrat und Tigris, des Chaboras und Bellch. Diese Territorien müßten den Beduinen abgenommen werden und die

erste Sorge für ihren Anbau müßte der Anlage von großen Waldungen

gewidmet sein.

Generation auf Generation hat Bäume gefällt, aber nie­

mand hat Bäume gepflanzt, sodaß gegenwärtig im ganzen Euphrat-Thal kaum ein einziger Baum zu finden ist.

Nichts ist übrig geblieben, als

elendes Tamarisken-Gestrüpp, in dem Wildschweine und Wölfe Hausen.

Viel zahlreicher als die Beduinen sind die Kurden, von ihnen in

Gefichtsbildniig, Kleidung, Bewaffnung, Wohn- und Lebensweise durchaus Preußisch- 3-chrbucher. Bd. XLV1. Heft 6.

42

586

Aus Türkisch-Asien.

verschieden.

Als ich im Januar dieses Jahres, auS wer schneebedeckten

Wüste fliehend, am Westende deS im Centrum Mesopotamien'S gelegenen SindjLr-GebirgeS, zum ersten Mal auf Kurdischem Gebiet anlangte, war

ich frappirt von dem grellen Unterschied, und im Gegensatz zu den un­ heimlichen Teufelsanbetern

(denn das sind

kamen mir meine Beduinen wie traute,

die Kurden von SindjLr) liebe Menschen

vor.

Die

Gesichter, Verbrecherphysiognomien der schlimmsten Art, berührten mich

höchst unangenehm — ich

möchte sagen — durch ihren Europäischen

Schnitt; die Kurden sind bekanntlich Jndogermanen.

Während die Be­

duinen einen nur dünnen, spärlichen Bartwuchs haben, tragen die Kurden kräftige, schwarze Schnurrbärte und Vollbärte.

Ihre Kleidung besteht auS

einem Hemd, einer Hose wie der unsrigen, aber bauschiger und über den

Knöcheln zusammengebunden; ferner tragen sie Bundschuhe und über dem

Hemd eine kurze, bis zur Hüfte reichende Jacke mit Aermeln, meist aus Ziegenfell gemacht, vorne offen und daselbst mit grünem Stoff und Gold­

litzen geschmückt.

Die Kopfbedeckung ist eine runde Filzkappe, die in eine

hohe Spitze ausläuft; in der Regel wird um den unteren Theil derselben ein Tuch gewunden.

Während der Beduine außerhalb seines Zeltes stets

mit der Lanze erscheint, trägt der Kurde seine lange Luntenflinte auf

der Schulter,

außerdem ein krumm gebogenes Messer und eine lange

Pistole im Gürtel.

Sie wohnen im SindjLr-Gebirge in Steinhütten,

dagegen die Kurdischen Nomaden wohnen in Zelten, beren Construction

von derjenigen der Beduinen-Zelte verschieden ist.

Sie bauen im läng­

lichen Viereck eine Mauer aus Feldsteinen bis zur Höhe von 3—4 Fuß, und über dieser Mauer schlagen sie das schwarze, auS Ziegenhaaren ge­ flochtene Zelt auf, während das Beduinenzelt direct über der Erde auf­

geschlagen wird.

Die Kurden sind theils Nomaden theils ansäßige Ackerbauer;

sie

wohnen zum weitaus größten Theil in Gebirgen, gedeihen aber auch in

der Ebene.

Ihre geographische Verbreitung ist eine außerordentlich große;

sie wohnen in Syrien und Kleinasien, in Armenien und Mesopotamien,

in den westlichen Gebirgsländern Persien's bis weit gegen Süden hinab.

Ihre ungezählte Zahl mag sich auf mehrere Millionen belaufen. Der Religionen gibt es unter den Kurden so viele, daß man eine

bunte Musterkarte davon zusammenstellen könnte.

Ein großer Theil der­

selben gehört innerhalb des Rahmens des Islam, denn viele Stämme sind Muslims vom Sunnitischen Ritus wie die Türken, mehr aber noch ge­ hören höchst wunderlichen, wenig bekannten, absichtlich geheim gehaltenen

Religionssystemen an, welche alle dem gemeinsamen Boden der Schia

entsprossen zu sein scheinen.

Hunderttausende von Kurden gehören aber

Au« Türkisch-Asien.

587

weder zum Islam noch zu einer sonst bekannten Religionsform, sondern

sind Teufelsanbeter, Ieziden genannt, Leute, die allen Ernstes den Teufel anbeten, damit er ihnen nichts böses anthue, und die ihn verehren unter

dem Shmbol eines Vogels aus Messing, Melik TLüS genannt.

Die

anderen Confessionen wissen wenig mehr von den Ieziden, als daß sie

sehr unangenehm werden, wenn man in ihrer Gegenwort daS Wort Satan

oder andere Wörter, die mit Recht oder Unrecht auf den Satan bezogen werden können, ausspricht; sie selbst wagen es nicht, ihren Gott und

Herrn bei Namen zu nennen.

Andersgläubigen gegenüber halten sie ihre

Lehre geheim, und man versicherte mich allgemein, daß ich möglicher Weise,

wenn ich sie um Mittheilungen über ihren Glauben und ihre Geschichte ersuchte, ein Bünde! von Lügen, aber sicher keine wahrheitsgemäßen Aus­

sagen bekommen würde (— natürlich nur für schweres Geld). Eine Religion des Friedens kann diejenige der Ieziden nicht sein,

denn ärgere Raufbolde und Banditen sind taiitn zu denken.

Während

der Beduine nur im äußersten Nothfall Menschenblut vergießt, steht bei

den Ieziden Menschenleben sehr niedrig im Eurs, und fast möchte man glauben, daß ihre Religion den Mord eines Nicht-Ieziden als etwas ver­

dienstliches preist.

Aber auch in ihren Beziehungen unter einander ist

Friede wohl nur ein AusnahmSfall.

Sämmtliche Dörfer des Sindjar-

Gebirges sind mit einander verfeindet; in Folge dessen kann kein Bauer sich über die Feldmark seines Dorfes hinauswagen und auch innerhalb derselben darf er sich nur mit Vorsicht bewegen, denn vielleicht liegt ein

Landsmann vom nächsten Dorf mit seiner langen Flinte hinter einem Stein und schießt ihn an.

Es war ein recht unheimliches Reisen unter

diesen wilden Gesellen, umsomehr als sie am Hunger litten und bereits auf

ihr

letztes Surrogat für Brod, auf die Eicheln ihrer Eichbäume

(Quercus vallonea) angewiesen waren.

Jeziden-Gegenden sind weithin

kenntlich durch kleine, weiß angestrichene, konische, etwa 6—8 Fuß hohe

und 3—4 Fuß starke Thürmchen auf niedrigem Sockel.

Dies sind die

Gräber ihrer als heilig verehrten Schaichs. Die Kurden sind noch niemals vollständig unterworfen worden. Ihre Botmäßigkeit gegen die Türkei und Persien ist eitel Schein; nicht allein

in ihren schwer zugänglichen Gebirgen, sondern sogar in den Ebenen

haben sie zum größten Theil ihre Unabhängigkeit sich zu erhalten gewußt. Ein wenig zahlreicher Stamm, die Hamdan- Kurden, hatten ihre Be­ theiligung an dem letzten Türkisch-Russischen Kriege dazu benutzt, auf den

Schlachtfeldern gute Gewehre und Munition zu sammeln, auch sonst als die Raben der Schlachtfelder zu rauben, was eö zu rauben gab, unvertheidigte Dörfer zu überfallen und dann siegreich heimzukehren in ihre 42*

588

Ans Türkisch-Asien.

Wohnsitze in der Gegend von Kerkük (zwischen Mosul und Bagdad).

Sie

rebellirten im Herbst 1879 gegen die Türkische Regierung und jagten

ihre Steuereinnehmer und Gensdarmen davon.

gierung Infanterie und Artillerie.

Darauf schickte die Re­

Es kam zu einem regelmäßigen Ge­

fecht, die HamdLn schlugen die Truppen in die Flucht und eroberten die

Kanonen.

Da nun aber dies Gesindel die Straße zwischen Mosul und

Bagdad beherrscht und, falls diese Straße versperrt würde, in Europa

ein unangenehmer Lärm geschlagen werden könnte, so hat der Sultan die Hamdün-Kurden, welche ganze 800 Mann in das Feld stellen sollen, auf andere Weise bezwungen: er gibt ihren Anführern bedeutende Geldsummen,

damit sie sich ruhig Verhalten.

Die politischen Zustände unter den Kurden erinnern sehr an das in der neueren Geschichte der Türkei bekannte Treiben der Derebegs in Klein­

asien, dem von Sultan Mahmud, dem Großvater des jetzt regierenden,

ein gewaltsames Ende bereitet wurde.

ES gibt in Kurdischen Ländern

Tausende von kleinen Feudalherren, die über größere und kleinere Land­ striche, oft nur über ein Dorf gebieten, und alle insgesammt, groß und klein, leben unter demselben Recht: dem Recht des Stärkeren.

Mitten in einem großen Dorf erhebt sich ein stattliches, burgartigeS Gebäude aus mehreren Abtheilungen bestehend, mit kleinen Löchern in den Mauern,

die eventuell als Schießscharten dienen.

Das Parterre

ist der Raum für die Thiere und Dienerschaft, eine Treppe hoch ein

großer Empfangssaal für Versammlungen und Gäste, außerdem die Räum­

lichkeiten für die Familie.

Hier wohnt der Agha mit seinen Frauen,

seinen Kindern und Kindeskindern, mit ihren Familien und ihrem Troß. Seine Macht und sein einziger Rechtstitel für dieselbe besteht darin, daß

er über eine große Anzahl von schlagkräftigen Armen gebietet.

Der Agha

regiert das Dorf, vielleicht auch noch einige Dörfer der Umgegend

zur Machtsphäre des nächsten Aghas.

bis

Er und seine Söhne reißen alles

an sich, dessen sie habhaft werden können; während sie gegen die eigenen

Stammesgenossen immerhin gewisse Rücksichten zu beobachten haben, fällt dies weg gegenüber den Christen, die das Unglück haben unter ihnen zu

wohnen.

Dies sind Syrer in zwei Abtheilungen: Jacobiten und Nesto­

rianer, und Armenier.

Den Christen gegenüber haben die Kurden den

Vortheil, das Soldaten- und Räuber-Handwerk besser zu verstehen,

im

Allgemeinen reicher zu sein und die Osmanischen Staatsbehörden, wo es solche gibt, iit jedem Fall auf ihrer Seite zu haben.

Die Beamten stehen

natürlich in jeder Streitsache von Moslems gegen Christen auf Seite der

ersteren, und werden dafür von den Kurden mit einem Antheil an der

Beute bedacht.

In manchen Gegenden können sie sich nur dadurch aufj

Aus Tiirkisch-Lsien.

589

ihren Posten erhalten, daß sie sich gänzlich den Kurden in die Arme werfen,

denn wenn sie etwas gegen dieselben unternehmen wollten, würden sie fortgejagt.

Schließlich kommt auch noch der Fall vor, daß die Regierung

Kurdische Aghas selbst 511 ihren Beamten ernennt.

Unter diesen Um­

ständen sind die Christen einer brutalen Majorität von Kurden aussichts­

los überantwortet, und sie wären vermuthlich schon längst von der Karte verschwunden, wenn nicht glücklicher Weise die Kurden unter sich selbst bis

zu dem Grade uneinig wären, daß in der Regel der eine Agha der Feind des anderen ist. Die Kurden haben Christenblut in solchen Strömen vergossen,

daß man Mühlen damit treiben könnte, und nicht zum letzten Mal! — Es gibt nur eine Agha-Familie, deren Name unter allen Kurden­

stämmen einen so mächtigen Klang hat, daß es einem unternehmenden Mitgliede derselben leicht gelingen könnte, eine bedeutende Rolle zu spielen:

die Familie des Bedr Khan, der in den dreißiger und vierziger Jahren unseres Jahrhunderts als Fürst von BuhtLn in Djezire am Tigris sein

Unwesen trieb.

Er war neben einem Kurden ein fanatischer Muselmann,

und hatte es auf die Bekehrung, oder Vernichttmg der Christen jener

Gegenden abgesehen.

Der jämmerliche Zustand, in dem sie jetzt leben,

ist größtenthcilö sein Werk.

'Nach endloseit Christenschlächtereien ließ die

Türkei in Folge Europäischer Pression gegen ihn marschiren; er gerieth

in die Hände der Türken und wurde nach Kreta exilirt, wo

Wissens gestorben ist.

er meines

Es existirt aber eine zahlreiche Nachkommenschaft

von ihm; einen seiner Neffen lernte ich

als Oberst

eines Türkischen

Infanterie-Regiments in Urfa kennen, und wenn irgendeine Familie im

Orient der Familie Osman's gefährliche Concurrenz machen könnte, so

ist es die Familie Bedr-Khrin's. ein blinder,

Thaten.

Ein alter Waffenbruder von

vielleicht neunzigjähriger Greis

ihm,

erzählte mir von seinen

Es wäre wohl unvorsichtig gewesen, im Hause dieses Mannes

abzusteigen, wenn nicht kurz vorher die Türkische Regierung neun Mit­

glieder seiner Familie gepackt und in dem weit entfernten Aleppo hinter

Schloß und Riegel gesetzt hätte.

Ich erfreute mich der gastlichsten Auf­

nahme, weil man mich für einen Commissär der Türkischen Regierung hielt. Bon der Betheiligung der Kurdenstämme an dem letzten TürkischRussischen Kriege ist bereits oben die Rede gewesen.

Dieser Umstand

liefert die Erklärung dafür, daß man in dm letzten Jahren die Kurden vielfach im Besitz von ausgezeichneten Gewehren neuester Construction

(z. B. von Henrh-Martini Gewehren) gefunden hat — zum Schrecken der Umwohnenden und der Türkischen Regierung.

Auch in den Berichten

über den neuesten Aufstand der Kurden gegen die Persische Regierung wird diese Thatsache erwähnt.

590

Aus Türkisch-Asien.

Für Europäische Leser ist noch auf eine andre Rolle hinzuweisen,

welche den Kurden je nach den Wandlungen der Politik Europa'S zufällt.

Wenn die Mächte der Pforte eine Niederlage bereiten, wenn die Staats­ männer der Türkei durch die Regierungen Europa'S besonders contre-

carrirt oder verletzt worden sind,

dann lassen sie die Kurden auf die

Christen loS, und die Christen im Orient kühlen das Bad für die christ­ lichen Mächte Europa'S.

Die Beamten

der Türkei sind größtentheils

fanatische Moslems, um so mehr je mehr sie von der Uebermacht Europa'S ein Verständniß haben und in ohnmächtigem Grimme zusehen müssen, daß die Dinge der großen Politik den Verlauf nehmen, den Europa bestimmt.

Die Türkischen Beamten in Kurdischen Ländern

haben in der Regel

wenig Macht, aber dadurch sind sie bedeutsam, daß sie die Kurden auf­

hetzen und ihnen für jedes Unrecht von vornherein Ungestraftheit sichern. Was die Wirthschaft Kurdischer AghaS für Blüthen zu treiben vermag, ist neuer­

dings wieder durch die officiellen Berichte des Englischen ConsulatS in Di-

jarbekr bekannt geworden.

Musterberichte der Art finden sich im Englischen

Blaubuch, Türkei Nr. 10, 1879, S. 110.115. Ich selbst war nicht weit ent­

fernt, als die Kurden ein christliches Dorf- niederbrannten.

Sie über­

fallen ein Dorf, rauben eö complet aus und stecken es in Brand; die

männliche Bevölkerung wird niedergemacht, die Weiber und Kinder wer­

den mitgenommen.

Die Sache kommt zur Kenntniß des nächsten, viele

Meilen weit entfernten Englischen Consuls. stantinopel.

Er telegraphirt nach Kon­

Der Gesandte schickt seinen Dragoman in das Ministerium

und läßt Beschwerde führen.

Der Minister ist entrüstet wie der Drago­

man, er verspricht Berge: strenge Untersuchung und Ahndung.

Dann

Fortsetzung hinter den Coulissen: Ist der Dragoman fort, so zündet sich

der Minister eine neue Cigarrette an und freut sich, daß wenigstens die

Giaurs in Asien die Behandlung erfahren, die ihnen von Rechts- und von Gottes Wegen gebührt, eine ausgleichende Gerechtigkeit des Schicksals dafür, daß es den GiaurS in Europa so schmählich gut geht.

Mittler­

weile ist an Ort und Stelle das Geschäft erledigt: die Kurden haben die

Aecker in Besitz genommen, die Weiber unter ihre Harems vertheilt

und die Kinder zu Moslems gemacht.

Vielleicht schreibt der KLimmakum

des DistrictS noch einen schön stilisirten Bericht an den Provincial-Gouverneur über bedauerliche Raufereien unter den Bauern jener Gegend, jedoch die Christen hätten angefangen, hätten einen Moslem geschlagen!! Nun, wenn die Christen die sacrosancte Person eines Moslem geschlagen

haben, so waren natürlich die Kurden im Recht sie zu bestrafen u. s. w. Die Sache ist längst abgethan, eö wächst schon Kurdischer Weizen auf christ­

lichen Aeckern, aber die Schreiberei dauert vielleicht noch eine Zeit lang fort.

591

Au« Türkisch-Asien.

Trübe ist daS Bild, das diese Zeilen zu

trüber ist noch die Wirklichkeit.

entwerfen suchen, aber

Die Kurden sind herrenlos, gehorchen

nur der brutalen Gewalt und würden auch einer stärkeren Regierung als der Türkischen große Schwierigkeiten machen.

Vor allen Dingen müßte

schlagfertiges Militär in Erzerum, Wan, DijLrbekr, Bidlis, Mardin, Djezire und Amedia stationirt, und unter dem Befehl eines Europäischen

OfficierS ein drakonisches Regiment eingeführt werden: Dinge, zu denen die jetzige Regierung einerseits nicht den Willen, andrerseits nicht die

Mittel hat.

Mit den Armeniern

gelangen wir auf bekannteres

Gebiet;

der

Berliner Congreß hat sich mit ihnen beschäftigt, unsere Zeitungen sprechen

von einer Armenischen Frage und auch in den diplomatischen Noten der

Türkei wird sie erwähnt d. h. als bestehend anerkannt.

Die Armenier

sind daS neueste Schmerzenskind der Türkei. Während die Beduinen und Kurden, rohe Hirten und Bauern, keiner­

lei geschriebene Literatur besitzen, haben die Armenier eine umfangreiche

Literatur, deren Anfänge bis in das vierte christliche Jahrhundert zurück­ reichen.

Sie zählen außerdem zu den ältesten Völkern der Christenheit,

denn ihre Bekehrung durch Gregorius Illuminator fand schon zu Anfang desselben Jahrhunderts Statt.

Ihre Kirche, die sich selbstständig d. h. un­

abhängig von Konstantinopel und von Rom entwickelt hat, war zu allen

Zeiten das Banner, um das die ganze Nation sich schaarte; die Kirche hat die Armenische Nationalität vor dem Untergang bewahrt und aufrecht

erhalten in all der Trübsal und Knechtung, aus der die Armenische Ge­ schichte seit dem Aufhören des nationalen Königthums im Jahr 428 in

der Hauptsache besteht.

Die geographische Lage ihres Vaterlandes brachte

es mit sich, daß sie meistens zwischen zwei streitenden, größeren Mächten in der Mitte standen, zuerst zwischen Römern und Parthern, dann zwischen Römern und Persern, Griechen und Arabern, Türken und Persern, und

neuerdings zwischen Russen und Türken.

Die Armenische Kirche hat sich vor den Spaltungen bewahrt, welche

das Syrische Volk in zwei einander vollkommen entfremdete Nationen ge­ trennt hat; sie ist bis auf den heutigen Tag ungetheilt, autokephal, und hat

ihr höchstes Oberhaupt in dem Patriarchen von Etschmiadzin, einer kleinen

Ortschaft in Russisch-Armenien.

Bedeutsamer als der Patriarch, dem auf

Russischem Gebiet vielfach die Hände gebunden sind, ist sein Vertreter,

der Erzbischof in Constantinopel,

in Wirklichkeit das

ganzen Armenischen Nation in der Türkei.

Oberhaupt der

Einige Armenier haben sich

der Römisch-katholischen Kirche, andere dem Protestantismus angeschlossen,

592

Aus Türkisch-Asien.

aber ihre Zahlen sind gering im Verhältniß zu denen der nationalen

Kirche. Die Armenier haben vor den Jacobiten und Nestorianern den Vor­

theil voraus, daß sie im eigentlichen Armenien und in Cilicien in com­

Außerhalb dieser beiden Länder sind

pacten Massen zusammen wohnen.

sie weit zerstreut, ja man kann sagen, daß sie nächst den Juden die zer­ streuteste und verbreitetste aller Nationen des Orients sind.

Sie wohnen

in Rußland, Kleinasien, Constantinopel, Polen, Galizien, Ungarn (die für

die letztgenannten drei Länder erforderliche Geistlichkeit

wird in einem

Kloster in Wien ausgebildet), in Syrien, Mesopotamien, Persien und

Indien; vereinzelte Colonien finden sich

Venedig, London und anderswo.

auch in Alexandrien,

Triest,

Die Armenische Frage bezieht sich nicht

auf die Armenier der Diaspora; diese scheinen überall in den besten Ver­

hältnissen zu leben. Verkehr weltbekannt.

Ist doch das Talent der Armenier für Handel und Die meisten Colonien sind wohlhabend und durch

ihre Mittel in den Stand gesetzt, ihren Landsleuten im eigentlichen Ar­

menien zu helfen.

Dorthin führt uns die Armenische Frage,

an den

Ararat, nach Erzerüm, an den Wan-See. Zwei Dinge sind das Unglück Armeniens, zunächst die Kurden, die

fast überall neben und unter den Armeniern wohnen und sich von Jahr zu Jahr weiter ausbreiten.

Das

oben geschilderte Treiben Kurdischer

AghaS steht dort in vollster Blüthe und ist neuerdings besonders durch die Berichte Englischer Consuln bekannt geworden.

Alle Lasten, welche eine

Ortschaft zu tragen hat, z. B. an Steuern und Kriegsleistungen, werden

den Armeniern aufgezwungen.

Besonders

arg

ist die Wirthschaft der

AghaS in solchen Gegenden, wo die Türkei sie quasi als Districtsbeamte

z. B. für die Erhebung der Steuern behandelt, was ihnen eine Handhabe gibt, das Doppelte und Dreifache oft unter unglaublichen Mißhandlungen

den Armenischen Bauern zu entreißen.

Es ist eine constatirte Thatsache,

daß sie an vielen Orten die Armenier zu Frohndiensten auf ihren Feldern

und zu ihren Bauten zwingen.

Vor den Kurden ist weder Kirche noch

Haus sicher, weder Leben noch Besitz, weder Weib noch Kind.

Zu dem

nächsten KLimmakam zu gehen und Beschwerde zu führen ist für den Ar­ menischen Bauer in einer entlegenen Gebirgsgegend gänzlich ausgeschlossen;

er würde nicht hingelangen, sondern auf dem Wege ausgeraubt, ver­ wundet, vielleicht erschlagen, und wenn er wirklich hingelangte, würde ihm

seine Beschwerde im besten Fall nichts nützen. Ob und wo in dem eigentlichen Armenien Tscherkessen-Colonien an­

gesiedelt sind, ist mir nicht bekannt; eS muß aber wohl der Fall sein,

denn in dem Artikel 61 der Berliner Congreß-Acte ist auch von der

593

AuS Türkisch-Asien.

Sicherung der Armenier gegen die Tschcrkessen die Rede.

Ueber Tscher-

kessen-Colonien könnte ich aus eigener Erfahrung wunderliche Dinge be­

richten; ich will hier nur bemerken, daß sie ebenso gemeinschädlich sind Ihr Treiben hat aber nicht den feudalen Anstrich des­

wie die Kurden.

jenigen der Kurdischen AghaS, sondern sie sind zum größten Theil gemeine Wegelagerer und Banditen.

Die zweite Ursache des Elends im eigentlichen Armenien, das selbst­

verständlich durch den letzten Krieg gewaltig gelitten hat, ist dieselbe wie

überall im Türkischen Reich:

die Türkischen Behörden.

In jenen Ge­

genden, wo ihre Macht nur scheinbar ist, dagegen alle wirkliche Macht in den Händen der Kurden liegt, dienen sie nur dazu, die Gewaltacte der Kurden zu legalisiren, während sie in jenen Districten, die als thatsächlich

dem Sultan Unterthan angesehen werden können, das Volk auf

eigene

Türkische Beamte sind in der Regel nicht im Stande

Rechnung plündern.

auch nur das mindeste von demjenigen zu leisten, was in Europa als die Pflicht eines Beamten gilt, da der Türkische Staat eine bestimmte, aka­ demische oder technische Vorbildung für den Civildienst ebenso wenig kennt

wie

Staats-Examina.

jobbery oder Kauf,

Jede Anstellung

im

Staatsdienst beruht

auf

und daß aus einem Pfeifen-Anzünder ein Pascha

werden konnte, ist noch gar nicht lange her.

Es liegt sehr nahe, daß die Armenier diesseits und

jenseits der

Russischen Grenze ihre beiderseitigen Zustände vergleichen: auf Russischem Gebiet Sicherheit des Lebens und Besitzes, eine geordnete Administration, Sicherheit der Wege, des Handels und Verkehrs u. s. w., lauter Dinge,

die der Türkische Armenier schmerzlich vermißt.

Trotzdem — und dies

ist eine Thatsache, welche die Türkischen Staatsmänner wohl beherzigen sollten — gibt es keinen Armenier, welcher die Annexion an Rußland dem Verbleiben bei der Türkei vorzieht.

Die Armenier wünschen die

Unterthanen des Sultans zu bleiben und perhorresciren die Idee, unter das Scepter des Czaren zu gerathen.

sicht in den Kreisen der übrigen Europa.

Dies ist auch die herrschende An­

gebildeten Armenier

am Bosporus

und im

Der Grund hiervon ist die Befürchtung, daß

die

Russische Regierung, wie sie in Polen die Römisch-Katholische Kirche ver­ folgt und langsam vernichtet, so auch die nationale Kirche der Armenier

durch die Russische Staatskirche verdrängen werde.

Die Religion ist so

sehr das höchste Palladium der Armenier, daß sie Angesichts dieser Ge­

fahr alle materiellen Vortheile der Zugehörigkeit zu Rußland aus den Augen setzen.

Der Russische Staat will nur eine Religion innerhalb

seiner Grenzen, wenigstens nur eine christliche.

Die Armenische Kirche ist

während anderthalb Jahrtausend und mehr in der Unterdrückung durch

594

Aus Türkisch-Afien.

barbarische Völker nicht zu Grunde gegangen; noch ruft trotz Türken und Kurden in allen Thälern des Armenischen AlpenlandeS daS Glöcklein be­

scheidener Kapellen zu dem Gottesdienst herbei, den der große Gregor eingesetzt, zu den Gebeten und Gesängen, welche die Heiligen ihres Volkes gedichtet haben.

Wird aber dies uralte Christenthum den systematischen

Verfolgungen einer Europäischen Großmacht widerstehen? — Daß abge­

sehen von diesem religiösen Interesse wenigstens bei den leitenden Kreisen

in Constantinopel noch ein anderes, ein ganz weltliches im Spiel ist, darf nicht verschwiegen werden.

Die dortigen Armenier sind Bankiers, die

zwischen den drei Geldkursen der Türkei vermitteln, auch Geld borgen zu beliebig hohen Zinsen.

Es ist

einleuchtend, daß das Geschäft dieser

Menschen, die am Bosporus vor Mißhandlungen und Bedrückungen voll­ kommen gesichert sind, in einer bankerotten StaatSwirthschaft wie der

Türkischen mehr florirt, als es in irgend einem anderen Europäischen

Reiche, selbst in Rußland, möglich wäre.

Die Türkische Regierung hilft

sich durch Borgen aus einer Geldverlegenheit in die andere; sie borgt be­

ständig, und zwar bei den Armenischen Bankiers am Bosporus.

Die Armenier sind ein hochbegabtes Volk; sie sind tüchtige Land­ leute, — von allen Dörfern, die ich kennen gelernt, waren die von Ar­

menischen Bauern bewohnten die blühendsten —, sie sind ausgezeichnete

Geschäftsleute und würden sich, ich zweifle nicht, an jedem Zweige des

öffentlichen Lebens in Europa mit Auszeichnung betheiligen können.

Sich

ihrer Bestrebungen zur Gewinnung eines menschenwürdigen Daseins speciell

im eigentlichen Armenien anzunehmen ist eine Pflicht der Humanität, und waS sie begehren, ist durchaus loyal und berechtigt.

Sie wollen als die

Unterthanen seiner Majestät des Sultans alle Lasten des Staates willig

tragen, sie wollen treu zu ihm halten, ohne nach der Russischen Grenze hinüber zu schielen, aber sie verlangen dafür als Gegengabe ungestörte Ausübung ihrer christlichen Religion, Sicherheit der Ehre ihres Hauses, ihres Lebens und Besitzes.

Es liegt auf der Hand für jeden, dem es

nicht gleichgültig erscheint, daß die Russen in wenigen Decennien die

ganzen Südufer des Schwarzen Meeres occupiren, ein wie bedeutsamer Factor in der nächsten Geschichte des OSmanenreichs die Armenische Frage

ist.

Bleiben die Zustände in Armenien, wie sie sind, so fällt eS heute

oder morgen Rußland anheim.

Gelingt es aber den Türkischen Staats­

männern, die Frage befriedigend zu lösen, so werden sie dadurch für die

Sicherung ihrer Grenzen, der Grenzen des Kernlandes ihres Reiches:

Kleinasien's, außerordentlich viel gewinnen.

Das in dem Artikel 61 der

Berliner Congreßacte von der Pforte gegebene Versprechen, für Armenien

sorgen zu wollen,

hat bisher nur die eine Folge gehabt,

daß Baker

Aus Türkisch-Asien.

595

Pascha zu Ende des vorigen und zu Anfang dieses JahreS eine Reise durch Armenien und KLrdistan gemacht hat,

eine jener vielen, durch

Europäischen Druck veranlaßten, gänzlich fruchtlosen CommissionS-Reisen, an denen die neueste Geschichte der Türkei reich ist.

Von den Beziehungen deS Hauses Osman's zu diesen drei Völkern, den Beduinen, Kurden und Armeniern, wird das Schicksal seines Asiati­ schen Reiches in Zukunft abhängen.

Wenn der Sultan überredet werden

könnte, nicht mehr die Europäischen Provinzen als den Kerntheil seines

Reiches anzusehen, in Europa mit den Mächten und Nationen, z. B. auch mit den freundlosen Griechen, ein ehrliches, befriedigendes Abkommen zu treffen, statt dessen seine ganze Aufmerksamkeit Asien zuzuwenden und dort

die Verhältnisse zu organisiren, so würden neue Zeiten der Blüthe, des

Wohlstandes und

der Macht für sein Haus möglich werden.

Sein

Asiatisches Reich ist, ich wiederhole es, unendlich groß und reich an Re-

sourcen, und um Stambul braucht er nicht besorgt zu sein; der Wider­

streit der Mächte wird es ihm ohne sein Zuthun erhalten.

Dazu ist aber

eine vollkommene Umkehr in der Verwaltung erforderlich.

Ohne

eine

solche geht der Stern Osman's sicher und unaufhaltsam dem Untergang

entgegen, und es ist mit Bestimmtheit vorauszusagen, daß Kleinasien und Shrien- Mesopotamien unter irgend eine Form

eines Protectoratö be­

ziehungsweise von Rußland und England gerathen werden.

In dem Pariser Frieden, im Berliner Congreß und noch in unseren Tagen in allen Noten, welche die augenblickliche Verlegenheit der Pforte

erpreßt, hat sie Himmel und Erde an Reformen versprochen.

Sie hat

auch seit 1856 einiges geändert, aber gebessert nichts, nichts was ihr nicht

durch die Europäischen Cabinette abgezwungen wäre.

Ihre Versprechen

leiden an dem Capitalgebrechen: sie sind unausführbar, und nur dazu be­ stimmt,

der öffentlichen Meinung in Europa Sand in die Augen zu

streuen.

Wenn die Europäischen Regierungen, die durch die Berichte ihrer

Consuln und Consular-Agenten vollkommen unterrichtet sind, auf solche

Spiegelfechtereien eingehen, so geschieht es, weil ihnen schließlich jeder Modus recht ist, um die dornenreiche Orientfrage wenigstens für eine Zeit

lang wieder bei Seite zu schieben, und weil sie sich nicht verpflichtet

fühlen, die Interessen der Christen im Türkischen Reich zu wahren und ihretwegen sich Unannehmlichkeiten auszusetzen.

ES ist nicht meine Absicht, auf die Gebrechen der Türkischen Ver­ waltung näher einzugehen; nur zwei Punkte möchte ich berühren, die auch

schon vielfach in der Europäischen Presse behandelt worden sind.

Zunächst

596

Aus Türkisch-Asien.

das, was man tm Orient das Essen der Beamten nennt, sagen wir:

ihre Bestechlichkeit. Das Orientalische Staatsrccht hat nie verlangt, daß der Beamte vom Staat besoldet werde, sondern die Kosten der Beamten waren von den Untergebenen zu bestreiten.

Dies war der officiell anerkannte Zustand

bis zum Jahre 1838, wo Sultan Mahmud den Europäischen Grundsatz

„Der Beamte sei von der Regierung zu unterhalten,

aufstellte:

nicht

von seinen Untergebenen", und mit der Durchführung dieses Grundsatzes

sofort einen Anfang machte.

Was also jetzt als Verbrechen gilt, war vor

50 Jahren noch ein allgemein anerkannter Satz des öffentlichen Rechts.

Es wird Niemand Wunder nehmen, daß der Uebergang von der ein­

heimischen, altorientalischen Praxis zu der fremden, Europäischen inner­ halb eines halben Jahrhunderts nicht vollständig

durchgeführt

konnte, und so liegt in dieser Genesis eine Art Entschuldigung.

werden Auch

dürfen wir Europäer uns nicht zu sehr überheben und nicht vergessen,

daß wir die Blüthe des Sportelwesens noch gar nicht so weit hinter uns haben. Eine andere Entschuldigung ist die,

Staat seine Beamten nicht bezahlt.

daß thätsächlich der Türkische

Ich war eines Tages

bei

einem

Pascha in einer Gouvernements-Stadt, als daö Geld zur Besoldung deS Militärs und der Beamten eben angekommen war.

Der Secretär trat

ein und meldete, es sei nur die Hälfte der erwarteten Summe einge­

troffen, und bat um Verhaltungsmaaßregeln.

Da befahl der Pascha:

„Das Geld, was da ist, bekommen die Soldaten; die anderen können

Der Pascha hatte Recht, aber auch die Beamten hatten Recht,

gehen."

wenn sie nun die Existenz-Mittel, die ihnen der Staat versagte, aus den Unterthanen erpreßten.

Es war eben das Ende deS Staates, der Anfang

des Räuberhandwerks. Derselbe Pascha sagte mir:

„Wenn ich z. B. einen notorischen Ver­

brecher zur Rechenschaft ziehen will, so schicke ich einen GenSdarmen in

sein Haus, ihn holen zu lassen. Meldung:

Der GenSdarm kommt zurück mit der

„Herr, der N. N. ist nicht da".

Der betreffende hat dem

GenSdarm einige Piaster gegeben und sitzt ganz vergnügt in seinem Hause.

WaS soll ich machen? ich kann doch nicht selbst gehen und jeden

Lumpen beim Kragen nehmen."

Dies führt mich auf den zweiten Gegen­

stand, auf die vollständige Vernachlässigung der Gensdarmerie (Zaptijje genannt)

von

Seiten

der

Regierung.

Ihre

Besoldung

bestand

im

Februar 1879 nach dem Buchstaben der Verordnung in 70 Piaster KAme

(— 3 Englischen Schilling) und einer Brodration: auch nicht annähernd ausreichend für die Bedürfnisse des Mannes.

Aber selbst dies wenige

Au« Türkisch-Asien.

wurde ihnen nicht bezahlt.

597

Im Frühling dieses Jahres hatten die GenS-

darmen in Kurdistan seit l'/2 Jahren keinen Sold mehr bekommen. fand sie in Dörfern an der Landstraße

kleinen Trupps

Ich

in gewissen Entfernungen

in

wo sie die Obliegenheit

von 4—6 Mann stationirt,

hatten, das Postfelleisen bis zur nächsten Station weiter zu befördern. Da die Regierung ihnen nichts gab,

so mußte das Dorf, in dem sie

lagen, sie ernähren; durch Diebstahl oder Prügel verschafften sie sich daS nöthige von den Bauern, und da zu jener Zeit die Bauern selbst hun­ gerten, so hungerten die Gensdarmen mit ihnen.

Der größte Theil ihrer

Pferde war verendet, so daß sie das Postfelleisen auf ihren Schultern be­ fördern mußten.

Flehend baten sie mich dem nächsten Pascha oder Küim-

makum ihre Lage vorzustellen, was ich auch zuweilen gethan habe, aber

was half es?

Pascha und K-rimmakrim hatten selbst nichts.

Die Ver­

armung war so groß, daß man z. B. in der Provinzialhauptstadt DijLr-

bekr nicht im Stande gewesen wäre, auch nur einige hundert Soldaten

marschiren zu lassen, und daß die Infanteristen in Djezire mich nicht be­ gleiten konnten, weil sie kein Fußzeug hatten.

In Djezire verfügte der KüimmakLm über 6 Gensdarmen.

Zwei

saßen im Kerker, und vier erschienen in der Frühe mich zu begleiten und

gegen die Jezidischen Banditen zu beschützen. Wegsstunden stürzten die Pferde von

Stelle — am Hungertod;

nehmen und zurückwandern.

Innerhalb der ersten zwei

zweien und verendeten auf der

die Reiter mußten ihnen das Sattelzeug ab­ Die beiden anderen brachten es fertig, bis

Mittag sich mühsam hinter meiner kleinen Karavane herznschleppen. Man kann sich vorstellen, wie wirksam diese beiden verhungerien Reiter auf

ihren verhungerten Gäulen mich vertheidigt haben würden, wenn es den Jeziden beliebt hätte, mich anzugreifen.

In Dijurbekr bestand eine Diebsbande aus christlichen Strolchen und Moslemischen Gensdarmen; die ersteren drangen in die Häuser ein und

räumten aus, während die letzteren vor der Thür Wache hielten.

Das

Geschäft war gut organisirt, denn auch die Richter der nächsten Gerichts­

höfe waren Theilhaber an demselben (Englisches Blaubuch). Die Beschreibung, welche diese Zeilen von dem Zustande der Polizei

geben, paßt in gleicher Weise auf alle Instanzen der Justiz und Verwal­ tung, seien es einzelne Personen oder Collegien (Medjlis).

Daß seit 1856

an vielen Orten den städtischen Collegien christliche Mitglieder einverleibt

sind, hat an den bestehenden Zuständen nichts geändert; die Christlichen Mitglieder dürfen nichts wagen und wagen nichts als dasjenige zu be­ stätigen, was die Muhammedanische Majorität beschließt.

Für eine Reform deS Türkischen Staates in Asien, für seine Er-

598

Aus Türkisch-Asien.

Haltung und Regeneration sind — abgesehen vom guten Willen — zwei Dinge erforderlich: Geld und Beamte, und beides hat der Sultan nicht. Soll etwas geschehen, um die Gegenwart zu heben und die Zukunft zu

sichern, so muß man sich zu folgenden Dingen entschließen:

1.

Zu bedingungslosem Staatsbankrott.

Das Odium dieser

Maaßregel würde dadurch gemildert, daß die Gläubiger der Türkei ihre Darlehen meistens unter so Vortheilhaften Bedingungen gemacht haben,

daß sie durch die bisherigen Zinszahlungen ihre Capitalien zum Theil schon zurückerhalten haben.

2.

Zur Anstellung von Europäern für alle wichtigsten Stellen

des Civil- und Militär-Dienstes d. h. solcher Europäer, welche einen guten Namen für Rechtlichkeit, Kenntnisse und Talente zu verlieren haben. 3.

Zur Heranbildung von Beamten aus den einheimischen

Bevölkerungen unter Leitung dieser Europäer.

In den Medresen von

Stambul kann sich ein junger Türke wohl zum Fanatiker, aber sicher nicht

zum brauchbaren Beamten ausbilden. Es wäre Phantasterei zu glauben,

männer sich freiwillig zur Ausführung

daß jemals Türkische Staats­ dieser drakonischen Mittel ent­

schließen werden, aber vielleicht wird die Pflicht der Selbsterhaltung sie

eines Tags nöthigen, sich mehr oder weniger nach der Richtung hin zu bemühen, welche diese Sätze angeben.

Daß freilich die Anstellung von

Europäern in Türkischen Diensten ganz besondere Schwierigkeiten bietet,

hat sich wiederholt gezeigt.

Es wurde im vorigen Jahr, ich meine, von

der Englischen Regierung, der Plan angeregt, Europäische Inspektoren an­ zustellen und zur Ueberwachung der Verwaltung

schicken.

in die Provinzen zu

Die Pforte erklärte sich bereit, aber sie stellte das Verlangen,

daß man ihr solche Europäer zu Inspektoren gebe, welche der Türkischen Sprache mächtig sind. Dies Verlangen war berechtigt, aber dadurch wurde die Sache unmöglich, denn solche Europäer, die sich zu Inspektoren eignen

und zugleich die nöthigen Kenntnisse in Orientalischen Sprachen haben, gibt eS nicht.

Ueber das Capitel der Türkischen Sprache ließe sich außer­

ordentlich viel sagen, im Besonderen ließe sich ohne Schwierigkeit nach­

weisen, daß eS grade die Sprache ist, welche dem Fortschritt des Volkes

große Schwierigkeiten in den Weg legt. Zum Schluß noch ein Wort über die Christen des Orients im All­

gemeinen. Statistische Angaben über orientalische Dinge sind bekanntlich mit

großer Vorsicht aufzunehmen.

Selbst mit Hülfe der Türkischen Steuer­

listen ist eS nicht möglich, auch nur annähernd richtige Bevölkerungszahlen zu finden, da in diesen nur die erwachsenen Individuen männlichen Ge-

599

AuS Türkisch-Asien.

schlechts angeführt

werden.

Fragt man in einer orientalischen Stadt

nach der Einwohner-Zahl, so meint der eine 20,000, der andere 70,000

u. s. w. ad libitum.

Unter den jetzigen Verhältnissen ist eS das richtigste,

sich nach der leichter zu controlirenden Häuserzahl zu erkundigen; man

rechnet im Orient selbst fünf Seelen als die Durchschnittszahl der Be­

wohner eines Hauses. Es ist demnach unmöglich, über das Mischungsverhältniß von Christen

und Moslemen ein Urtheil abzugeben.

Beide wohnen neben und unter

einander von Scutari bis an die Persische Grenze.

Für das Land ist es

eine Ausnahme, wenn beide Konfessionen in demselben Dorf vereinigt

Das

sind; in der Regel wohnen sie getrennt in besonderen Ortschaften. eine Dorf ist christlich, das andere muhammedanisch.

Dagegen in den

Städten wohnen sie neben einander, zum Theil in gesonderten Quartieren wie in Aleppo und Mosul, zum Theil ohne jede räumliche Scheidung wie

in Mardin.

Jedenfalls ist das Christenthum so zahlreich vertreten, daß

mir nicht eine einzige Stadt im vorderen Orient bekannt ist,

in der

nicht neben den Moslems auch Christen wohnen.

Der weitaus größte Theil des Großhandels, z. B. der Export von Galläpfeln, Rohseide, Baumwolle, Wolle und Getreide, ist in den Händen

der Christen, dagegen im Kleinhandel in den Bazars sind auch

die

Muhammedaner in bedeutenden Zahlen vertreten.

Die Gewerbe sind Schmiede,

fast

überall christlich.

Maurer, Zimmerleute,

Weber, Färber, Schneider, Schuster u. s. w. sind Christen.

Auch der Frachtentransport durch Maulthiere ist größtentheils in

den

Händen von Christen, der sogenannten Mukßrijje, Mucker, Französisch moucres.

Die agrarischen Besitzverhältnisse sind so complicirt, daß eine Be­

sprechung

derselben mich nöthigen würde,

Orientalischen Rechtes einzugehen.

auf gewisse Materien des

Der größte Theil des Grundbesitzes

dürfte den Moslemen gehören, aber es gibt auch Landschaften, in denen

der christliche Grundbesitz, allerdings unter eigenthümlichen Rechtstiteln,

vorwiegt. Wenn man diese Thatsachen erwägt und dazu bedenkt, daß die Christen im Allgemeinen ökonomischer und vorsichtiger sind als die Moslems, daß sie

die Haushaltstugend des Flickens und Reparirens

üben, die den

Türken bekanntlich vollkommen fehlt, so wird man es erklärlich finden,

daß sie durchgehends viel wohlhabender sind Bei den

WuthauSbrüchen des

als die Muhammedaner.

Muhammedanischen Pöbels

gegen die

Christen hat der Neid auf den christlichen Nachbar und die Hoffnung,

ihn berauben zn können, stets eine große Rolle gespielt.

Aus Türkisch-Asien.

600

AuS dieser Ungleichheit erklären sich viele der merkwürdigsten Er­

scheinungen.

Man pflegt z. B. in Europa sich zu wundern, warum die

Pforte den Wegebau in ihrem Reiche so gänzlich vernachlässigt, und mit

Recht.

Aleppo, eine der größten Emporien des Orients, ist mit seinem

Hafenort Alexandrette durch eine unwegsame Straße verbunden, die jeder Beschreibung spottet, noch dazu in einer Gegend, wo das vorzüglichste

Material für den Wegebau überall zur Hand liegt.

Es hat damit fol­

gende Bewandtniß: die Orientalen, besonders die Moslems reisen wenig

und sehen eine Reise stets als ein Unglück an, in das man sich mit

Resignation fügen muß.

Während also das große Publicum sich gegen

den Wegebau sehr indifferent verhält, sind die Türkischen Beamten von oben bis unten dagegen eingenommen — aus dem richtigen Grunde,

daß eine Förderung des Verkehrs nur noch ein schnelleres Wachsen deS Reichthum'S ihrer christlichen Unterthanen zur Folge haben würde.

Es

gibt wohl einige Paschas, die von dieser Regel eine Ausnahme gemacht

haben, aber gewiß nicht mehr als einen unter hundert. Reichthum ist das höchste Streben des orientalischen Christen.

Reich­

thum ersetzt ihm alles, was den Moslems Amt und Würden, von denen der Christ in der Regel ausgeschlossen ist, bringen.

Ist er reich, sehr

reich, so ist er Herr der Situation und kann sich Kadi und Pascha kaufen.

Durch die Europäer, welche alljährlich Konstantinopel, allenfalls auch die Küsten von Kleinasien und Syrien zu ihrem Vergnügen bereisen, ist

in weiten Kreisen die Redensart, um nicht zu sagen: die Ansicht ver­

breitet worden, in jenen Ländern seien die Türken das anständige, solide Element, die Christen dagegen moralisch versunken, nichtsnutzig, mit einem

Wort: Gesindel, und dieser Unsinn wird in Zeitungen und Büchern weiter colportirt. ES fällt mir nicht ein zu behaupten, daß die Christen des Orients

in sittlicher Beziehung eine sehr hohe Stellung einnehmen, dagegen be­ haupte ich: eS wäre unbegreiflich, wenn dies der Fall wäre, und stände

in einem unlösbaren Widerspruch zu einer 1300 Jahre langen Geschichte unbeschreiblicher Mißhandlung und Knechtung.

Dem reichen Mann, der

priveligirten, regierenden Kaste kommen Tugenden aller Art billig zu stehen, aber in dem rechtlosen Paria, dessen Besitz, Leben und Ehre von

den Launen einer rohen Erobererkaste abhing, der noch jetzt nicht gegen den gemeinsten Türken seine Hand zur Abwehr erheben darf, konnte sich kaum etwas von den Eigenschaften entwickeln, die wir als die moralischen

Zierden eines Mannes Preisen.

Noch vor 30 Jahren war eS in Aleppo

möglich, daß ein Christ, wenn er einflußreichen Muhammedanern mißliebig war, auf der Straße oder in seinem Hause gepackt und ohne Verhör, ja

601

Aus Türkisch-Asien.

ohne Anzeige an irgendeine Behörde,

an den nächsten Baum geknüpft

wurde. Trotzdem ist eS ebenso grundlos wie ungerecht zu behaupten, daß die

Christen in moralischer Beziehung unter den Türken ständen.

Ich möchte

in diesen Dingen zwischen beiden Confessionen nicht viel Unterschied machen. Männer, welche den Orient aus eigener Erfahrung kennen, dürften mit mir

übereinstimmen, wenn ich die Ansicht ausspreche, daß im Einhalten ge­ schäftlicher Verpflichtungen, z. B. Zahlung von Rechnungen, die Türken (so

werden in Syrien von den Christen alle Muhammedaner genannt) meistens zuverlässiger sind, daß aber die unnennbaren sexuellen Vergehen, welche unter den Muhammedanern an der Tagesordnung sind, unter den Christen

sich kaum nachweisen lassen.

Ich bin in Zeiten der Noth und Gefahr

von Leuten beider Confessionen begleitet gewesen, aber ich würde mich in kritischen Momenten keinen Augenblick besonnen haben, meine letzte Hoff­ nung auf die Christen zu setzen, und nicht auf die Muhammedaner. Im

Allgemeinen liegen die Verhältnisse so, daß in sittlicher Beziehung der christliche Durchschnitts-Bauer und Bürger im Orient nicht viel höher, aber auch nicht viel niedriger steht als derjenige — sagen wir — in

Italien oder Spanien. Talente aller Art, Fleiß und Sparsamkeit haben die Christen vor

den Türken voraus.

Der Türkische BolkSstamm hat die Zeit und die

günstigste Gelegenheit gehabt, Talente zu zeigen, wenn ihm solche inne­ wohnten, aber ihre geistige Impotenz ist auf allen Gebieten so grell wie nur möglich zu Tage getreten.

Ihre Architectur ist Griechischen Ur­

sprungs, ihre umfangreiche Literatur besteht auS geistlosen Copien Arabi­

scher und Persischer Originale, und die juridischen und administrativen Grundlagen ihres Staates rühren nicht von ihnen her, sondern von den

Stiftern des Islam, also von Arabern. Weltgeschichte

Sie betraten die Bühne der

als zusammenhangslose Horden raubgieriger Condottieri,

und sie haben ihre Bestimmung verfehlt, seitdem sie aufgehört haben, Condottieri im Dienste fremder Fürsten zu sein.

Der Mangel an Talenten

jeder Art befähigt sie wohl zu einer brauchbaren, dienenden Race; wenn sie 'aber

als Herrscher auftreten, setzen sie solche Farcen in die Welt,

deren gleichen ein jedes Türkische Regierungsbureau,

groß oder klein,

z. B. das Archiv einev Provincial-Regierung, darstellt. Der Gegensatz zwischen Christen und Muslims ist ein Hauptfactor für die künftige Geschichte des Orients.

Diejenige Europäische Regierung,

die einmal berufen sein wird, die Geschicke jener Länder zu lenken oder bestimmend auf dieselben einzuwirken, wird sich zunächst auf die Christen stützen müssen.

Die Christen im Orient denken

Preußische Jahrbücher. Bb. XLVI. Heft 6.

und leben wie wir 43

602

Aus Türkisch-Asien.

Europäer, während von der Denk- und LebenS-Weise der Muslims eine ganze Welt uns trennt. Die Christen können und wollen arbeiten, während

der Türke im besten Fall ein mäßiger Ackerbauer und ein guter Soldat ist.

Wenn aber die Christen wirklich so verworfen wären, wie sie ver­

schrieen sind, und wie sie nicht sind, nun, so bemerke ich: gegen Ver­ worfenheit gibt eS Gesetze, aber eS gibt kein Gesetz und keine Staatskunst,

welche der Talentlosigkeit aufzuhelfen im Stande wäre. Bevor ich diese Zeilen, in denen so manches harte Wort gesprochen

ist, schließe, will ich noch hinzufügen, daß im Orient wie im Occident die Sonne aufgeht über Gerechte und Ungerechte, und daß meine Kritik

nicht den Personen, sondern den Sachen gilt.

* **

Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der

Trunksucht.

In neuerer Zeit wird auch in Deutschland die Nothwendigkeit an­ erkannt der

Trunksucht

durch

gesetzliche Maßnahmen

entgegenzutreten.

Der Verzehr der alkoholischen Getränke hat in bedenklicher Weise zuge­

nommen und wenn in den bessergestellten Gesellschaftskreisen der Genuß von Bier und Wein den des Branntweins verdrängt hat, so wirkt der

Consum dieses Getränks um

völkerungsklassen.

so verderblicher in den arbeitenden Be­

Eine erhebliche Zahl der Insassen unserer Kranken-

und Irrenhäuser, der Gefangen- und Strafanstalten, der Armen- und

Arbeitshäuser hat ihr elendes Dasein dem übermäßigen Genuß von Brannt­ wein zuzuschreiben. Mehr als jedes andere Laster ist die Trunksucht geeignet, das körper­ liche und geistige Wohl deS Einzelnen wie der Gesammtheit zu schädigen, daS sittliche Leben und die gedeihliche Entwickelung in der Familie, in der

Gemeinde und im Staate zu verderben.

Die Trunksucht wirkt zerstörend

auf die Gesundheit und die Lebensdauer des Menschengeschlechts, und ver­ schlechtert in gleich schädlicher Weise die Organisation der Nachkommen­ schaft.

Hat der Staat nicht schon aus dem Grunde der Selbsterhaltung die Pflicht, dieses Laster in seiner Entstehung und Verbreitung durch die ihm zu Gebote stehenden Mittel zu bekämpfen?

So zahlreich die Uebel und

die Schäden sind, welche die Unmäßigkeit dem körperlichen, geistigen und

sittlichen Leben des Volkes zufügen, so zahlreich sind nun allerdings auch die Maßnahmen, welche Verwaltung und Gesetz in fast allen Staaten

und Ländern gegen dieses Laster in Anwendung gebracht haben.

Als eine

der wirksamsten prophylaktischen Maßregeln gegen die Verbreitung der

Trunksucht gilt mit vollem Recht die Verminderung der Zahl der Schank­ stellen.

Man hört zwar behaupten, die Verminderung nütze nichts, weil

der wirkliche Trinker auch die wenigen Branntweinverkaufsstellen zu finden

wissen, oder weil das Schließen der öffentlichen Verkaufsstellen nur die

43*

604

Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht.

heimliche und häusliche Trunksucht Hervorrufen werde.

Indessen wird

dabei übersehen, daß die Maßnahme nicht darauf abzielt, den bereits

perfekten Trinker vom unmäßigen Genuß abzuhalten, sondern vielmehr

darauf, den einzelnen Personen aus den verschiedensten Volksklassen nicht überall die

Gelegenheit

Genusse berauschender Getränke

zum

zu ge­

währen, und so die Zahl der Gelegenheitstrinker, aus denen sich die Ge­ Jede Verkaufsstelle ist eine

wohnheitstrinker herausbilden, zu vermindern.

Versuchung, eine Einladung zum Genusse, je häufiger die Schankstellen sich in jeder Straße der Bevölkerung darbieten, desto zahlreicher wird die Menge der gelegentlichen und später auch der gewohnheitsmäßigen Trinker.

WaS bei der Verminderung der Zahl der Verkaufsstellen, also der Schank-

wirthe noch besonders in Betracht kommt, ist der Umstand, daß diese auS einem natürlichen Interesse den Alkoholconsum begünstigen, und vielfach

in böswilligem Eigennutz der Unmäßigkeit Vorschub leisten.

Und so wird

denn überall, wo die staatliche Fürsorge rege ist, vornehmlich der Klein­

handel mit spirituösen Getränken überwacht und ein besonderes Augen­ merk auf die Zahl der Verkaufsstellen gerichtet.

Zur Verminderung der Zahl dieser Stellen hat man verschiedene Systeme in Anwendung gebracht.

Man hat den Handel mit berauschenden

Getränken theils nur gegen eine besondere Concession, Licenz, unter be­

stimmten Voraussetzungen und Garantien hauptsächlich sittlicher Art er­ laubt, theils einen erheblichen Steuersatz auf den Handel gelegt, theils

auch ihn ganz zu unterdrücken gesucht.

Es ist bekannt, mit welchem er­

staunlichen Aufwand von geistigen und materiellen Mitteln die großen

Temperen;-Gesellschaften in den Vereinigten Staaten von Nordamerika und noch mehr in dem Vereinigten Königreich von Großbritannien seit Jahrzehnten bestrebt sind, Prohibitivmaßnahmen in Anwendung zu brin­

gen.

In radikalster Weise ging die Gesetzgebung im Staate Maine

vor, wo schon im Jahre 1851 der Verkauf

von spirituösen Getränken

unter schweren Strafen gänzlich verboten und nur in eigens bezeichneten Agenturen der Verkauf von Spiritus zu medicinellen und industriellen

Zwecken zugelassen wurde.

Dieser Maßnahme (Liquor Maine Law)

folgten in den nächsten Jahren andere Staaten, aber ihre Unausführbar­ keit ward bald mehr und mehr erkannt und so wurde das radikale Prohibitivgesetz meist wieder aufgegeben. noch heute eine Scheinexistenz.

Nur in wenigen Staaten führt es

Mit je mehr Strenge die Partei der Ent­

haltsamkeitsfreunde das Gesetz durchzuführen suchte, mit desto stärkerer Opposition ward eö von den anderen Parteien bekämpft und desto er­

findungsreicher war man in den Mitteln eS zu umgehen.

Unter der

Herrschaft des Gesetzes soll, abgesehen von einzelnen ländlichen Districten,

Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpsung der Trunksucht.

605

in welchen ein unverkennbarer Erfolg sich constatiren ließ, die Trunksucht

in den Städten, in den Mittelpunkten des Handels und der Industrie

mehr zu- als abgenommen haben.

In den meisten Staaten Nordamerika'-

wird neben anderen Maßnahmen das Princip der Concessionirung der Schankstellen in verschiedenen Modificationen angewandt und zwar in der

eigenthümlichen Form, daß die Ertheilung der Schanklicenz

als eine

lediglich municipale Frage angesehen wird, die Steuerzahler einer Ge­

meinde also allein darüber zu entscheiden haben, ob sie den Ausschank von

spirituösen Getränken überhaupt gestatten wollen oder nicht.

Motivirt

wird dieses Verfahren dadurch, daß die Gemeinden oder die Steuerzahler

es sind, die die Lasten zu tragen haben, welche durch die Verarmung der Trinker und deren Familien, durch die Nothwendigkeit sie in KrankenJrren- und Strafanstalten unterzubringen verursacht werden.

Eine von

der Gemeinde gewählte Commission (Licensing Board) oder die Mehr­ heit der steuerzahlenden Einwohner selbst entscheidet über die Gewährung

oder die Verwerfung der Schankerlaubniß.

Dieses Lokal-Option-Princtp,

so berechtigt es an sich zu sein scheint,

hat wenig gute Früchte ge­

tragen, und zwar meist auS dem Grunde, weil in dem beständigen Kampf

der MäßigkeitS- oder Enthaltsamkeitsfreunde mit der sogenannten Rum­

partei der Sieg der einen oder der andern Partei bei den politischen und municipalen Wahlen auch über die Anwendung des Princips entscheidet.

Da, wo die Rumpartei obsiegt, wird die Schankconcession verschwenderisch

ertheilt und auf unberechenbare Zeit verdorben, waS die Prohibisten gut

zu machen suchten.

Das Princip der Lokal-Option wird auch von den

mächtigen und großen Enthaltsamkeitsgesellschaften in England und unter diesen von der bedeutendsten und einflußreichsten, der „Ünited-Kingdom-

Alliance“, mit bewundernSwerther Beharrlichkeit erstrebt. Die Forderung,

daß die Majorität oder 7, der Steuerzahler einer Gemeinde darüber be­

schließen solle, ob sie den Kleinhandel mit berauschenden Getränken inner­

halb ihrer territorialen Ausdehnung zulassen will, ist die Grundlage jener Bill (Permissive prohibitiory Liquor Bill), welche die nicht geringe An­ zahl der Temperenzanhänger im Parlament unter der Führerschaft deS

bekannten Liberalen Sir Wilfrid Lawson unverdrossen bereits seit 1864

inS Unterhaus einbringt und welche erst jetzt nach der Niederlage des Ministeriums Beaconsfield und seiner treuen Anhängerschaft, der Vier­

und Schankwirthe,

Aussicht auf einigen Erfolg hat.

DaS Princip ist

jedoch nur der erste Schritt, den diese Partei der Nephalisten, wie sie sich

auch nennen, durchsetzen will; das eigentliche Ziel liegt für sie in der

vollen Prohibition deS Getränkehandels, ganz so wie eS im Staate Maine versucht worden ist.

„Weil der Handel mit berauschenden Getränken den

Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht.

606

Interessen des Individuums, dem Wohlergehen und der Sittlichkeit der

Gesellschaft verderblich ist, muß er gesetzlich verboten und gänzlich unter­ drückt werden."

Dies ist der Grundsatz der Partei der Abstainer. Indeß

die von dem Hause der LordS 1876 niedergesetzte Commission, die eine

ausgedehnte Enquete über die Wirksamkeit der Gesetzgebung in Bezug auf die Trunksucht vornahm, und in einem, nach allen Richtungen aus­

gezeichneten Berichte (1878) die gemachten Ermittelungen niederlegte, ver­ mochte dieses Prohibitiv-Princip aus gewichtigen Gründen nicht zu billigen.

Sie erklärte es für unrecht und unbillig, der Majorität einer Gemeinde die Macht' einzuräumen, die Neigungen und Sitten, der Mitbürger zu

controliren und vielen von diesen den mäßigen Genuß von berauschenden Getränken zu verbieten, weil andere Mitbürger diese in unmäßiger Weise

Ein solches Verbot sei am allerwenigsten mit Erfolg in solchen

genießen.

Bezirken durchzuführen, wo Gemeinden mit verschiedenen gesetzgeberischen

Principien sich nachbarlich bei einander befänden, weil dort sofort der ge­

heime Handel mit den verbotenen Getränken entstehen würde und durch kein Mittel unterdrückt werden könnte.

Auch würden in ein und derselben

Gemeinde die Majoritäten wechseln und so mit dem Wechsel der Prin­ cipien die materiellen und moralischen Interessen der Gemeindemitglieder in ein wenig förderliches Schwanken gerathen.

Zudem werde sich

der

Grundsatz praktisch in den großen Städten niemals durchführen lassen, höchstens nur in mehr ländlichen Distrikten, wo eö wieder nicht in dem

Grade nöthig

sein möchte.

Endlich sei

eS gefährlich,

eine Art von

Plebiscit einer unverantwortlichen Majorität der Steuerzahler in das constitutionelle Leben einzuführen.

Der Gegensatz zu dieser radikalen Prohibition ist der völlige Frei­

handel mit Getränken.

Die Anhänger dieses Systems meinen, daß der

Handel mit berauschenden Getränken, wie der mit jeder andern Waare,

sich lediglich nach dem Gesetz der Nachfrage und des Angebotes regeln müsse.

Wenigstens dürfe keinem Bürger, gegen dessen Moralität sich

nichts

einwenden lasse, die Concession versagt werden, höchstens dürfe

der Preis der Licenz erhöht und der Handel selbst strengeren Polizei-Auf-

sichtSmaßnahmen unterworfen werden, ohne daß auf die Anzahl der Ver­ Dieses Princip ist

kaufsstellen durch daS Gesetz sonst eingewirkt werde. aber selbst

in Ländern mit liberalster politischer und kommunaler Ver­

waltung theils nicht zur Ausführung gekommen, theils hat eS, wo eS auS-

geführt wurde, die verderblichsten Wirkungen geübt.

ES ist keineswegs

so gekommen wie Biele meinten, daß die freie Concurrenz nur so viele

Schankstellen schaffen werde, als wirklich nothwendig seien, und daß die überflüssigen Verkaufsstellen eingehen würden, vielmehr hat die Freiheit

Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht.

607

nur dazu geführt, die Zahl der Schankstellen progressiv zu vermehren,

und den Consum der berauschenden Getränke, die Trunksucht und ihre üblen Folgen immer mehr zu steigern.

In England war durch ein Ge­

setz von 1830 unter Wilhelm IV. der Kleinhandel mit Bier und Eider ganz freigegeben worden, so daß zur Anlegung eines derartigen Ausschanks

nur ein Steuergewerbeschein (Excise Licence) nothwendig war, zum

Detailverkauf von

wozu

anderen Spirituosen noch ein Polizeigewerbe­

schein (Magistrate Licence) kam.

Diese Bierhäuser, denen gegenüber

der Friedensrichter gar keine Gewalt hatte, wenn nicht Spirituosen in ihnen verkauft wurden oder Unordnungen nachzuweisen waren, haben sich

in enormer Zahl vermehrt.

Ihre Anzahl ist in fünf Jahren nach Ein­

führung dieses Gesetzes von 49975 auf 88276 gestiegen und in ihnen

war, da bei dem Betriebe dieser Schankwirthschaft kein Nachweis über die Sittlichkeit des Schankwirthes zu erbringen war, von den Wirthen jede Art von Unsittlichkeit und Verführung in Scene gesetzt worden.

Die

neuere Schankgesetzgebung (Wine and beerbouse Acts) von 1869 und 1870, die dem definitiven Schankgesetz (Licensing Act) von 1872 und

1876 voraufgingen, haben diesem Unfug ein Ende gemacht, so daß auch

der Bier- wie der Branntweinausschank der Polizeicontrole und einer

sehr strengen

Ueberwachung

unterworfen ist.

Seit 1869

haben

die

Friedensrichter die Zahl dieser Bierhäuser und selbstverständlich nur die

der schlechtesten Art um 6000 vermindert,

wiewohl die

Unterdrückung

der Schankstellen wegen der ihnen zustehenden Civilansprüche nur schwer

zu ermöglichen war.

Während der Zeit von 1869 bis 1878 sind von

dxn Friedensrichtern nur 900 Schankwirthschaften neu licenzirt worden bei einer Zunahme der Bevölkerung von 1,500,000 Seelen. — Unter den

kontinentalen Staaten Europas haben neben den Ländern im Süden wie Spanien, Griechenland und auch Rumänien nur noch Holland und Belgien

den Handel mit alkoholischen Getränken freigegeben.

In den beiden letztern

Staaten sind die Folgen des Alkoholismus im hohen Grade evident, so

daß man in Holland in neuester Zeit damit umgeht, die Trunkenheit an sich als Gegenstand der. Strafwürdigkeit in das neue Strafgesetz aufzu­

nehmen — und in Belgien hat das Freihandelsshstem eS dahin gebracht,

daß man auf 12 Personen über 21 Jahre, in den Jndustriecentren so­ gar auf 6 oder 7 Individuen eine Schaukstelle zählt, und daß der Alkoholconsum in Belgien seit 1840 von 18 Millionen auf 43 Millionen LitreS gestiegen ist.

„Wenn man daran denkt, heißt eS in unserer Quelle, daß wenigstens

73 dieser Menge von Arbeitern consumirt wird, die auf diese Weise jähr­ lich 50 — 60 Mill. FrcS. von ihrem Lohnerwerb verausgaben, so wird

608

Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht.

man alles Leiden und alles Elend, die mehr oder weniger directen Folgen

dieser Excesse, ermessen."

In Deutschland haben sich Erscheinungen derselben Art in neuerer Zeit gezeigt.

In der freien Reichsstadt Bremen war 1863 das Schank­

gewerbe freigegeben und die Zahl der vorhandenen Verkaufsstellen stieg trotz der höher fixirten Getränkesteuer sofort von 512 auf 728, und war

1867 bis auf 829 gewachsen, so daß der Senat wieder die Einführung

der ConcessionSpflicht beantragte.

Als die neue Gewerbeordnung für das

Deutsche Reich von 1869 den Nachweis des Bedürfnisses für die Anlage

einer neuen Schankwirthschaft aufhob, vermehrte sich die Zahl der Brannt­

weinverkaufsstellen vom 1. October 1869 bis zum 1. Januar 1872 also innerhalb 2'/4 Jahren in Preußen allein von 116,811 auf 129,072 d. h. um 12,261.

Vom 1. October 1869 bis 1. Januar 1877 stiegen die Gast­

wirthschaften von 42,612 auf 69,305 (— 44 Prozent) und die Schankwirthschaften von 62,612 auf 69,305 (— 11 Prozent).

Im Jahre 1869 kamen

in Preußen 45,75 Gast- und Schankwirthschaften. auf 100000 Einwohner,

1877 dagegen 55,88.

Dieselbe abnorme Steigerung fand auch im übrigen

Deutschland statt, so daß der Reichstag in seiner letzten Sitzung (1879 am 23. Juli) in Ortschaften von weniger als 15000 Einwohner die Er­

laubniß zum Betriebe der Gastwirthschaft und zum Ausschank von Wein,

Bier oder anderen spirituösen Getränken wieder vom Nachweise deS Be­ dürfnisses abhängig machte.

Vor der Ertheilung einer derartigen Er­

laubniß wird nunmehr in Preußen nach einem neuern Erlaß des Mini­ sters des Innern die Ortspolizei und die Gemeindebehörde gutachtlich be­

fragt, nicht nur

in

Fällen, wo die Bedürfnißfrage zu Erörterungen

Veranlassung giebt, sondern auch da, wo eS sich um Bedenken gegen die

Person des die Concession Nachsuchenden oder über die Angemessenheit deS Lokals handelt.

Ein weiteres Mittel, die Zahl der Schankstellen zu vermindern, ist die hohe Besteuerung der Schankconcessionen.

Diese kann vorzugsweise

in der Absicht unternommen werden, um die Unmäßigkeit im Volke zu be­

kämpfen.

Denn, so meint man, eine hohe Schanksteuer wird eine gewisse

Anzahl kleiner Verkaufsstellen unterdrücken, weil solche Wirthschaften die

hohe Steuer nicht abwerfen, sie wird indirect das Getränk selbst vertheuern und seine Konsumtion vermindern. Die hohe ConcessionSsteuer kann aber auch

als eine finanzielle Maßnahme eingeführt werden, um dem Staats- oder dem

Gemeindesäckel Einnahmen zu verschaffen. Im letztem Falle ist der Ertrag der Steuer die Hauptsache und die Verminderung der Schankstellen vielleicht

eine unerwünschte Nebenwirkung.

Ist die Steuer nicht hoch, so wird weder

das fiskalische, noch das sittliche Interesse gefördert, — und ist sie sehr hoch,

Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht.

609

so wird der sittliche Zweck dadurch in Frage gestellt, daß sich alsdann eine

um so größere Defraude, eine um so größere Anzahl unerlaubter, heim­ licher Verkaufsstellen etablirt.

In beiden Fällen wird der concessionirte

Schankwirth suchen das Getränk selbst so wenig als möglich zu vertheuern, um die Kundschaft nicht zu verlieren, und er wird sich selbst schadlos

halten, indem er zu Verfälschungen des Getränkes greift, weniger gerei­ nigten und rectificirten Spiritus zu seinen Branntweinen oder andere be­

täubende und berauschende Substanzen

als Surrogat benutzt, die den

Consum von Spiritus vielleicht wirklich vermindern, aber nicht die Trunk­ sucht, und noch weniger die üblen Folgen derselben.

Die hohe Besteuerung der Schankwirthschaften kann also nur in Ge­ meinschaft mit noch andern Maßnahmen, sich als ein wirksames Mittel

erweisen.

Für sich allein ist sie unwirksam, deshalb hat man in denjenigen

Einzelstaaten der Nordamerikanischen-Union, in welcher der Getränke-Klein-

handel nicht radikal verboten wurde, neben der hohen Besteuerung der

Schanklicenz noch eine Reihe strenger Bestimmungen, besonders gegen den Schankwirth vorgesehen.

Im Staate Massachusetts ist nach dem Gesetz

von 1875 der Gemeindeverwaltung Vorbehalten die Schanklicenzen zu be­ willigen.

Diese zerfallen in 5 Kategorien, je nachdem alle Arten von

Getränken oder nur Bier, Eider und leichte Weine zum Verzehr an Ort und Stelle oder außerhalb der Schankstelle feilgeboten werden.

Die

Kosten dieser Licenzen sind in Abstufungen, die der Gemeindebehörde zu bestimmen überlassen sind, verschieden normirt, von 100 bis 1000 Dollars für die erste, von 50 bis 500 für die anderen Kategorien.

Daneben sind

beträchtliche Strafen von 50 bis 500 Dollars oder von 1 bis 6 Monate

Gefängniß festgesetzt bei Uebertretungen gegen die gesetzlich festgestellte Verkaufszeit, bei Verfälschungen der Getränke, beim Verkauf von Ge­ tränken an minorenne oder an betrunkene Personen oder an

bekannte

Trunkenbolde, beim Gestatten von Spiel, von Prostitution, von Unord­ nung rc.

Das Gesetz bestimmt auch, daß wenn eine Person im betrun­

kenen Zustande ein Verbrechen gegen das Eigenthum

oder gegen die

Person begangen, der Schankwirth, der die Getränke geliefert, wie der

Verbrecher selbst verfolgt und bestraft werden kann.

Auch können die

Eltern, die Ehegatten, die Kinder oder der Vormund jeden Schankwirth schriftlich auffordern, einem Individuum, das dem Trünke ergeben ist,

keine Getränke zu verkaufen oder zu schenken, und wenn jener innerhalb 12 Monate überführt wird dieser Aufforderung zuwider gehandelt zu

haben, so kann der Betreffende den Schankwirth zur Zahlung

Schadenersatzes in der Höhe von 100 bis 500 Dollars belangen.

eines In

anderen Staaten muß der Schankwirth auch den Trinker selbst und desien

Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht.

610

Familie erhalten, sowie jener im trunkenen Zustande verunglückt oder ar­

beitsunfähig wird.

Was dieses Gesetz leisten wird, ist noch abzuwarten.

So viel steht jedoch schon jetzt fest, daß die bedeutenden Kosten für die Schanklicenz den Gemeinden, in deren Kassen diese Summen fließen, eine

sehr beträchtliche Einnahme gewähren und daß bereits die Besorgniß aus­

gesprochen wird, daß manche Gemeinden mi6 diesem Grunde zu freigiebig

mit den Concessionen sein würden. In einer anderen Weise ist man in Schweden vorgegangen.

In

diesem nordischen Lande wird seit Jahrzehnten von Seiten der Verwaltung und Gesetzgebung, sowie von dem einsichtigsten Theile des Volkes ein

ernster Kampf gegen das von Alters her verbreitete Laster der Trunksucht geführt. Durch hohe Besteuerung des producirten und importirten Spiritus, sowie der Concession für den Branntwein-Kleinhandel will das Gesetz dieses Getränk möglichst vertheuern und außerdem die Zahl der Schankstellen ein­

schränken. Die Zahl der Kleinhandlungen mit Branntwein, von */2 Kanne ab­ wärts, wird hier alljährlich von der Gemeinde festgesetzt und von der Statt­

halterei bestätigt.

geben wird,

Die Schankgerechtigkeit, welche nur auf ein Jahr ver­

wird öffentlich versteigert und dem Meistbietenden, wenn

seine persönliche Moralität und die Beschaffenheit des Lokals genügende

Gewähr bietet, zugeschlagen.

Diese Maßregel, die Zahl der Schankstellen

von der Gemeinde- und der Landesbehörde gemeinschaftlich festzustellen, hatte in den ländlichen Bezirken einen so großen Erfolg, daß in Schweden für eine ländliche Bevölkerung von 3‘/2 Millionen Menschen nur die geringe Zahl von 324 Schankwirthschaften und

mit Branntwein übrig blieb.

136 Kleinhandlungen

Um so mehr concentrirte sich der Brannt­

weinkleinhandel in den Städten, theils in heimlich betriebenen, und noch

mehr in den auf legale Weise concessionirten Schankstellen. diesem Uebelstallde zu begegnen,

Um auch

bildete sich in neuester Zeit in fast

allen Städten Schwedens und Norwegens ein System aus, das, weil es zuerst in Stadt Gothenburg eingeführt ward, das Gothenburg'sche ge­

nannt wird.

In dieser Stadt war im Jahre 1865 eine Commission niedergesetzt worden, welche die Ursachen des dort in erschreckender Weise zunehmenden

Pauperismus vorzugsweise in dem Alkoholgenuß fand.

Die Commission

war der Ansicht, daß so lange der Schankwirth das Interesse habe, so viel

Branntwein als möglich zu verkaufen, alle Bestrebungen gegen die Aus­

breitung der Trunksucht ohnmächtig bleiben würden.

Sie rieth daher,

den Kleinhandel mit Spirituosen nach folgenden Grundsätzen einzurichten:

1) der Verkäufer darf an der Menge des verkauften Branntweins keinen Nutzen haben; 2) Spirituosa dürfen nicht auf Borg oder Pfand verabreicht

611

Gesetzliche Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht. '

werden; 3) die Schanklokale müssen reinliche und gesunde Räume sein und

4) in ihnen gleichzeitig Speisen, Eßwaaren feilgeboten werden.

Um diese

Grundsätze durchzuführen, bildete sich in Gothenburg eine Aktiengesellschaft (Bolag) aus den angesehensten Mitgliedern der Stadt mit dem Haupt­

zweck die einzelnen Schankstellen nach und nach zu erwerben, den Brannt­

weinhandel auf eigene Kosten zu betreiben und zwar so, daß jeder erzielte Gewinn der Stadtkasse zufließen, und der entstehende Verlust von jedem GesellschaftSmitgliede aus eigener Tasche gedeckt werden solle.

Bon den

61 Schankstellen, die bei 60,000 Einwohnern 1865 in Gothenburg licen-

cirt waren, hat diese Gesellschaft bei der nächsten Jahresversteigerung 40 und 1868 die Gesammtzahl an sich gebracht; von diesen hat sie sofort 21

gänzlich eingehen, die andern in dem angeführten Sinne bewirthschaften lassen. — Ueber den Nutzen dieses Gothenburg'schen Systems sind die

Meinungen verschieden.

So viel steht jedoch fest, daß dasselbe nach und

nach in fast allen Städten Schwedens und Norwegens eingeführt ist, und daß

diese AuSschank-Actiengesellschaften mit den angedeuteten Grundsätzen von der Regierung sanctionirt und gern gesehen werden.

Thatsache ist ferner,

daß Mr. Chamberlain, das bekannte Parlamentsmitglied in London, der die Handhabung der Wirkung dieses Systems selbst beobachtet hat, schon seit Jahren die Nachahmung desselben im Unterhause eindringlich empfiehlt. — Daß in Schweden in den letzten Jahren der Alkoholconsum trotz dieser

und anderer präventiver und repressiver Maßregeln dennoch wieder zuge­

nommen hat, zeigt, mit welchen fast unüberwindlichen Schwierigkeiten der

Kampf gegen ein in den Lebensgewohnheiten des Volkes eingewurzeltes Laster verbunden ist.

Jeder noch so geringe Erfolg in der Verminderung

des Uebels ist daher als eine Errungenschaft anzusehen — und jedenfalls ist eS den unausgesetzten Anstrengungen der Gesetzgebung im Verein mit

den bewunderungSwerthen Bemühungen jener privater Gesellschaften in

jenem Lande gelungen, die unbändige Trunksucht früherer Zeit zu mäßigen und im Ganzen eine erhebliche Abnahme dieses Lasters herbeizuführen. —

Die Schlüsse aus den obigen Darlegungen ergeben sich von selbst.

Sie gehen jedenfalls dahin, daß der Kleinhandel mit Spiritussen nicht

hohe Schanksteuer

schrankenlos freigegeben werden darf, und daß eine

allein nicht wirksam ist, sondern gleichzeitig bei der Concession die Be­ dürfnißfrage berücksichtigt werden, und der Schankwirth für alle Aus­

schreitungen streng verantwortlich gemacht werden muß. Dr. A. Baer.

Julius Wolff. Ueber die beiden ersten Dichtungen Wolffs, „Eulenspiegel" und der

„Rattenfänger von Hameln" habe ich mich schon in den „Portraits aus dem neunzehnten Jahrhundert" (Berlin, W. Herz) ausgesprochen; waS

seitdem von ihm erschienen ist, „der wilde Jäger" und „Tannhäuser" (Berlin, Grotesche Verlagshandlung) bestätigt aufS Erfreulichste meine

gute Meinung; der Dichter ist im Vorschreiten.

Man hört wiederholt die Klage, unsere Litteratur sei im Zurückgehn.

Wer in der unbequemen Lage ist, vierzig Jahre und länger zurück denken zu können, wird dem nicht beipflichten:

schrieben als damals.

eS wird im Ganzen besser ge­

Freilich treten auch mehr häßliche und widerwärtige

Erscheinungen hervor, aber das ist bei der Massenproduction, die man

heut einmal verlangt, nicht zu vermeiden, und die ausgezeichnetern Schrift­

steller werden davon nicht berührt.

umfassendere Bildung,

Unsere Prosa verräth mehr Studium,

sorgfältigere Sichtung dessen was

sich

schickt,

Streben nach eigenem unabhängigen Denken; und unsere Dichter sind,

wenigstens in der Kunstübung oder wenn man will im Handwerk, weiter

gekommen.

Ich möchte z. B. wissen, wer auch in den begünstigtsten Zeiten

unserer Litteratur bessere Verse gemacht hätte als Paul Heyse!

Platen ist

ja gar nicht mit ihm zu vergleichen. Das ist nicht Alles, aber es ist doch viel! Das Virtuosenthum wirkt

mitunter schädlich, aber ohne daß Virtuosen auftreten, giebt es auch keine

echte Kunstübung.

Der wahre Dichter muß mehr können als er wirklich

giebt, dann muß er zu wählen verstehn, zwischen dem was sich für die Oeffentlichkeit eignet und dem was er als bloße Vorübung zur Seite zu

legen hat.

Julius Wolff ist ein Virtuos, aber er kann nicht blos viel, son­ dern er hat auch einen gebildeten Geschmack, und ist ein echter Dichter. Er kann jedes Instrument spielen, aber er hat mit richtigem Tact das­

jenige gewählt, das in unserm Gemüth immer die meist sympathischen Seiten findet: er spielt die echt deutsche Weise, dieselbe Weise, die wir

Julius Wolff.

613

bei unsern Volksliedern finden, zu der unsere Lyriker immer wieder greifen wenn sie daS Herz mächtiger erregen wollten. Diese Weise hat nur ein Bedenken: sie verfällt ihrer einfachen be­

stimmten Form wegen leicht in Monotonie.

Vor dieser Monotonie ist

Wolff bewahrt durch den ungemein reichen Sprachschatz, über den er ver­

Auch in der geläufigsten Form weiß er neu zu sein; jedes seiner

fügt.

Gedichte hebt sich eigenartig vor den andern ab. schon früher gesagt.

Ich wiederhole, was ich

Seine Lyrik zeichnet sich durch eine reiche und ge­

schmackvolle Modulation aus; eS klingt alles wie Gesang, ohne daß erst

der Componist in Arbeit gesetzt würde.

Ein glückliches Ohr für den

Tonfall, ein großer Schatz von bezeichnenden Worten, deren jedes einzelne

in der Melodie die paffende Stelle findet, ein volles gesättigtes Natur­ gefühl und eine höchst ansprechende jugendliche Frische.

Gleichwohl hat Wolff eingesehn, daß bei einem lebhaft sprudelnden Schöpferdrang die Form der Lyrik nicht ausschließlich cultivirt werden

darf: daß Rückert das nicht einsah, hat trotz seiner ungemeinen dichteri­ schen Kraft ihn nicht so populair gemacht als er zu werden verdiente.

Mit glücklichem Griff hat Wolff die Gattung gefunden, die sich für sein Talent eignet: die Form des romantischen Epos, wie es zuerst von

W. Scott in CourS gesetzt wurde.

Das „Lied vom letzten Minstrel"

und das „Fräulein am See" sind noch immer Muster in ihrer Art, und viele namhafte Dichter, selbst Lord Byron, sind dadurch angeregt worden. In der letzten Zeit ist diese Form mehr in den Hintergrund getreten. Der

Roman, der sociale wie der historische, hat das Publikum ganz in An­

spruch genommen und eS läßt sich auch nichts dagegen einwenden, da er

sich am bequemsten eignet, verwickelte ethische Probleme mit einiger Voll­

ständigkeit zu behandeln.

Aber die Poesie soll doch nicht blos ethische

Probleme ergründen, sie soll auch ein heiteres anmuthigeS Spiel sein,

und darin bietet das romantische Epos eine willkommene Ergänzung

zum Roman. Namentlich wenn der Dichter den Ton so glücklich trifft wie Julius Wolff. Auch die epischen Theile seiner Gedichte, die sich in seiner früheren freilich dem Umfang und dem Accent nach zu den lyrischen etwa so ver­ halten wie in der Oper die Recitative zu den Arien, sind ungewöhnlich ge­

lungen.

Man vergleiche z. B. seinen „Rattenfänger" mit dem „Trompeter

von Säckingen": das Maaß in beiden ist verwandt,

aber in der poeti­

schen Ausführung, ich meine namentlich im sinnlichen Theil, ist der „Ratten­

fänger" so überlegen, daß man sie kaum neben einander nennen kann. Auch darin hat Wolff einen glücklichen Griff gethan, daß er zu seinem Gegenstand die deutsche Sagenwelt nimmt, wie sie sich mit der

Julius Wolff.

614 Geschichte berührt.

Er hat das nicht leichtfertig gethan, er hat ernstliche

Studien gemacht; und bet seinem lebhaften Gefühl für die Eigenthüm­ lichkeit der Landschaft und der Natur überhaupt,

bei seinem virtuosen

Können, was das Auge wahrgenommen, dem Ohr mitzutheilen, gelingt es ihm, Bilder und Stimmungen zu schaffen, die den Leser im schönsten

Seine Dichtungen sind echt deut­

Sinn des Worts heimathlich berühren. scher Art.

Nun freilich liegt in der Verquickung der Sage mit der Geschichte

ein großes Bedenken. saische Welt.

Jene führt in eine poetische, diese in eine pro­

Den einheitlichen Leitton zu finden, gelingt dem Jnstinct

nicht immer, der Verstand hat ein Wort mitzusprechen.

Insofern kann

die Kritik wohl versucht sein, sich mit dem Dichter auöeinanderzusetzen, der

bis jetzt auch in dem letzten Versuch den rechten Weg noch nicht gefun­

den hat. Ueber den „Rattenfänger" habe ich mich bereits ausgesprochen

„wilden Jäger" Schönheit.

Im

ist der poetische Theil von einer großen, seltenen

Zu Anfang die Schilderung des Frühlingssturms, der die

ganze Natur in eine wilde Bewegung setzt, und ihr gerade dadurch erst

Dem entsprechend zum Schluß

das rechte sympathische Leben verleiht.

der wilde phantastische Geisterritt in den Höhen des Waldes; und als verbindendes Glied

die rasende Leidenschaft der Parforcejagd und ihre

Begegnung mit dem seltsamen Zuge des Götterfürsten Wuotan.

DaS

-Alles ist schön gedacht, schön empfunden, und mit vollendeter Kunst aus­ geführt.

Dazu kommt noch das tiefe Gefühl für die Stille des Waldes,

das durch das ganze Gedicht weht, für die Pflanzen, Thiere, für jene eigene Art Menschen, die noch unter dem Bann des Waldes stehn.

Dieser hochpoetischen Sagenwelt hat nun der Dichter eine historische prosaische Basis gegeben.

Er hat dieselbe nicht willkürlich erfunden: wie

ich glaube in Westphalen, besteht

eine Sage von einem Forstmeister

Hackelberend aus den Zeiten der Reformation, der wegen seiner grau­

samen Jagdlust nach seinem Tode in daS wilde Heer gerissen wurde. I. Grimm schließt auS dem Namen,

daß möglicher Weise hinter dem

Forstmeister deS 16. Jahrhunderts der Wie dem

alte Heidengott Wuotan steckt.

auch sei, eine poetische Verschmelzung des Mythischen und

Historischen ließ sich in diesem Fall denken, wenn äuch immer die Gefahr nahe lag,

mit Bürger aufs moralische d. h. prosaische Gebiet zu ge­

rathen, und daS wilde Heer nach Grundsätzen der Abschreckungstheorie zu

beschreiben.

ES war von Wolff richtig gedacht, daß er auS dem Refor­

mationszeitalter dasjenige Moment auswählte, welches dem Thema am verwandtesten ist, den Bauernkrieg: er macht aus dem Forstmeister einen

615

Julius Wolff. '

Junker, einen hochmüthigen grausamen Verächter des Volks, und stellt ihm in dem Führer der Bauern einen Köhler und Wilddieb, einen ent­

schlossenen und unbarmherzigen Widersacher entgegen. Aber hier bleibt die Ausführung weit hinter der Intention zurück.

Der Dichter sucht psychologisch dies und jenes Auffallende zu erklären, es

will ihm nicht gelingen; ja es gelingt ihm nicht einmal, in dem Leser

.Interesse für dies Psychologische zu erregen: seine Menschen sehn gegen seine Geister sehr fadenscheinig aus.

Manches ist noch dazu ganz episodisch

behandelt, wie z. B. die Schmauserei der Vasallen, die an sich vortrefflich erzählt, an jedem andern Platz Beifall finden würde, hier aber den Zu­

sammenhang stört; auch die Liebenden gewinnen durch das, was sie thun, keine rechte Theilnahme, so trefflich sie als Genrebilder herauskommen. — Der „Tannhäuser" ist das beste, was Wolff bis jetzt geschrieben

und dies Lob soll durch die folgenden Einwendungen nicht im mindesten verkümmert werden.

DaS ganze Gedicht liest sich vortrefflich; man muß

eS sich vorlesen, um den vollen, schönen Wohlklang in sich aufzunehmen.

Auch daS Einzelne verdient meist Lob, ganz leer ist keine Episode.

DaS

Fest der Spielleute im Walde ist meisterhaft dargestellt, die Schilderung

Wie weise von dem

deS BenuSberges von hoher Poesie eingegeben.

Dichter, daß er den Bericht trennt, daß er unS zunächst nur in den schauerlichen Vorhof führt, und die eigentliche Begegnung mit Frau Venus Tannhäuser erst in seinem Berichte dem Papst erzählen läßt!

Wenn

Wolff nichts weiter geschrieben hätte als diese beiven Fragmente, so würde

man ihn schon als echten Dichter begrüßen müssen.

Nun aber die Composition, der innere ethische Zusammenhang. Die beiden Sagen, Tannhäuser im Venusberg und Ofterdingen im

Sängerkrieg auf der Wartburg, hat Richard Wagner zuerst combinirt, und wenigstens in der Anlage glücklich genug.

Diese Combination hat

Wolff übernommen und noch ein drittes Moment hinzugefügt, den Ein­

fall Schlegels, das Nibelungenlied könne etwa von Heinrich von Ofter­ dingen sein, weil das Kind doch einen Vater haben müsse.

Der Einfall

kam in einer Zeit, wo Ofterdingen als Ideal dichterischer Anlage und Ausbildung durch Novalis eine populaire Figur geworden war.

Sehn

wir nun, wie der Dichter diese verschiedenen Momente der Sage und Geschichte in einander verwebt. Der Grundgedanke ist klar und einheitlich.

In einer Zeit, wo alle

Welt von nichts weiter zu singen und zu sagen weiß, als von Minne,

setzt sich der Tannhäuser, ein vollkräftiger Jüngling, das Ideal, diesen Begriff zu ergründen.

Sein Trieb nach dieser Richtung wird noch ver.

schärft durch den vorübergehenden Aufenthalt in einem Kloster, durch die

616

Juliu» Wolff.

glücklicherweise bald aufgegebene Absicht, zur Buße einer nicht gerade er­

heblichen Schuld Mönch zu werden.

Er macht nun Erfahrungen nach

allen Seiten, schließt eine Reihe der anmuthigsten und edelsten Frauen

in die Arme, wird aber von keiner recht befriedigt, weil sie ihm Alle ein

Geheimniß verbergen, hinter das er gerade am liebsten kommen möchte: das Geheimniß der Scham deS Weibes auch in der Liebe.

Endlich glaubt

er, die rechte gefunden zu haben, aber diese versagt sich ihm, weil sie aus

seiner wilden Leidenschaft etwas Unreines anweht.

Im wilden Groll,

halb wahnsinnig, sucht er Frau VenuS auf, entsagt, um sie zu besitzen,

Golt und der heiligen Jungfrau, und genießt die höchste Lust.

Als er

aber den Bund dauernd machen will, lacht die Teufelinne ihn aus, er­ klärt, so einen Sterblichen könne sie nur zum Nachtisch verspeisen! und

wirft ihn auf die Oberwelt zurück.

Hier nun, von aller Welt mit Entsetzen angesehn, pilgert er nach Rom, um seine Seele zu retten, und beichtet dem Papst. Dieser setzt ihm vollkommen richtig

auseinander,. worin die

ganze Verkehrtheit seines

donjuanistischen Strebens liegt, und erklärt ihn der Hölle verfallen.

Der

Papst wird, wie schon in der Sage, später durch das bekannte Grünen eines Stabes beschämt.

Soweit die Tannhäuser-Sage.

Die Sage von Ofterdingen ist sinn­

voll hinein gewebt, obgleich die Stelle, die R. Wagner dem Sängerkrieg giebt, mir besser gewählt scheint als bei Wolff.

Der Sängerkrieg mußte

auf den Venusberg folgen; Ofterdingen mußte die rein sinnliche Liebe aus Erfahrung beschreiben, und gerade das ausgesprochene Wort mußte ihm zu Gemüth führen, in welchen Abgrund er sich verirrt hat.

Gerade der

voraufgegangene Aufenthalt im Venusberg konnte ihm jenen tollen Ueber-

muth einflössen, im Sängerstreit, wie Novalis sich ausdrückt „in bacchischer Begeisterung um den Tod zu wetten".

Indeß Wolff hatte einen andern Plan.

Er wollte den Sängerkrieg

aus dem Gebiet der Sage in das Gebiet der Geschichte, bestimmter gesagt in die Literaturgeschichte überspielen.

In den ritterlichen Geschichten der

Hohenstaufenzeit werden die beiden entgegengesetzten Auffassungen in der

Liebe mit gleicher Kraft vertreten, die irdische im Tristan, die himmlische

im Parcival.

Nach der Absicht des Dichters sollte Ofterdingen, zuerst der

leidenschaftlichste Vertreter der irdischen Liebe, nicht gerade bekehrt aber

erzogen werden; der Gegensatz sollte nicht bleiben, sondern eine höhere Versöhnung finden.

Wolff hat die große Kühnheit, die Lieder, mit denen

um den Preis gerungen wird, dem Publikum wirklich vorzulegen, und eS

ist bewundernswerth, wie weit es ihm gelungen ist, wenigstens eine Art

Steigerung hervorzubringen.

Julius Wolff.

617

Nicht aber ist eS ihm gelungen, die Uebertragung aus dem Sagen­

haften in'S Geschichtliche dem Leser glaublich zu machen.

Der Wettkampf

der Sänger um den Tod ist ein sagenhafter Zug; sobald man ihn im

Licht der Geschichte betrachtet — und dazu verführt Wolf den Leser durch weitläufige, moralische Betrachtung des Falls — hört aller Sinn und aller

Glaube auf.

Zu dem hat, historisch betrachtet, der AuSgang des Kampfs

in dem Gedicht gar keine Folge. Noch bedenklicher aber stellt sich die Einmischung der Geschichte bei

der Bußfahrt heraus.

Als Tannhäuser nach Rom kommt, geht er erst

spazieren und besieht sich

die Alterthümer; diese werden sehr geistvoll,

sehr anschaulich beschrieben, aber wer, um der ewigen Verdammniß zu ent­

gehen, nach Rom pilgert, hat Eile; er hat keine Zeit, die Alterthümer sich anzusehen.

Als nun der Papst sein Urtheil spricht, wird Tannhäuser

zwar sehr verstimmt; eS ist ihm unangenehm, der Hölle zu verfallen, aber weder sein Verhältniß zu andern guten Menschen noch seine dichterische

Thätigkeit wird dadurch wesentlich beeinflußt; im Gegentheil arbeitet er

jetzt erst recht eifrig an dem Lied der Nibelungen, zu dem er seit lange Material gesammelt; und als nun der Papst, durch ein Wunder überführt,

ihn frei spricht unter der Bedingung, daß er seinen Namen nicht mehr

nenne, fügt er sich diesem Urtheil, vollendet aber sein Werk gerade wie er'S angefangen hatte. Vielleicht hätte die Stimmung des Ganzen gewonnen,

wenn der

Dichter die Sache umgekehrt hätte: das poetische Schaffen mußte Sühne

für die maßlose wilde Leidenschaft sein, erst nachdem die Nibelungen

fertig, mußte der Himmel mit einem Wunder sich einmischen, und er­

klären, der Dichter habe durch sein edles Kunstwerk die unreinen Mächte seiner Natur bezwungen.

Wie eS jetzt steht, sieht man zwischen dem

absoluten Cult der Minne, der doch in Tannhäusers Leben der Grundton ist, und den Figuren des grimmen Hagen und der unerbittlichen Kriem-

hilde keinen Zusammenhang: eS sieht wie eine Reminiscenz aus Scheffels

„Ekkehard" aus.

Freilich würde meine Version nur unser modernes Gefühl befriedigen, nicht das des Mittelalters.

Und in dieses versetzt uns doch der Dichter

in seinem historischen Theil, er nöthigt unS, eine Sage historisch zu be­

trachten,

wie wir mit unserer Bildung historische Dinge zu betrachten

gewöhnt sind.

Und da müssen wir fragen: was ist eigentlich der Venusberg?

haust wirklich darin die Hölle? ist eS ein verdammungswürdiges Verbrechen,

in den thüringischen Hörselberg herabzusteigen? — Oder hat sich Ofter­

dingen die ganze Sache blos eingebildet? sie blos geträumt? wie selbst der Papst einmal vermuthet.

Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 6.

44

Julius Wolff.

618

Auch diese Ungewißheit kann poetisch verarbeitet werden. Tieck hat eS in seinem „Tannhäuser" meisterhaft gethan.

Ich kenne keine Dichtung,

die in der Seele ein solches Frösteln, ein so tiefes Grauen erregte.

DaS

wollte aber Wolf nicht, und so macht diese Unsicherheit, in der er unS

läßt, lediglich den Eindruck, als ob er selbst in seinen Absichten unsicher

gewesen sei. Alle diese Einwendungen sind wie ich vorauSschickte, Einwendungen des Verstandes; sie heben den poetischen Werth deS Tannhäusers nicht

auf.

Aber wenn der Dichter, wozu er die Anlage und wohl auch den

Willen hat, ein völlig befriedigendes Kunstwerk schaffen will, so müssen sie gehört werden, und ich kann dem Dichter nur den Rath geben, bei seinem nächsten Versuch die Sage zur Herrin zu erheben, und die Geschichte in

eine dienende Stellung herab zu drücken.

Julian Schmidt.

Zur Fortsetzung von Gneisenau's Biographie. DaSLeben des Feldmars challS Grafen Reit Hardt v. Gneisenau.

IV. Band.

1814 und 1815.

Von Hans Delbrück.

deS gleichnamigen Werkes von G. H. Pertz. Verlag von G. Reimer.

Berlin.

Fortsetzung

Druck lind

1880.

Die drei ersten Bände des Lebens Gneisenau's erschienen in den Jahren 1864—1869; sie führen bis zu den letzten Tagen des December

1813,

rüstete.

als die Blüchersche Armee sich zum Uebergang über den Rhein Bis zum Erscheinen des jetzt vorliegenden vierten Bandes sind

dann leider mehr als 10 Jahre verflossen.

Hohes Alter und zunehmende

Kränklichkeit hinderte den Dr. Pertz seine Arbeit abzuschließen, und doch mochte er ihre Vollendung nicht aufgeben.

Nach seinem Tode hat Dr. H.

Delbrück auf den Wunsch der Gneisenauschen Familie und des Verlegers die Fortsetzung übernommen.

Der zu Anfang d. I. erschienene vierte Band

umfaßt die Jahre 1814 und 1815.

Ihm wird noch ein fünfter zugleich

letzter Band folgen, der für die nächsten Wochen angekündigt ist. Dr. Delbrück hat die überaus reichen Briefschätze, die auch dieser

Band wie die früheren darbietet, nicht wie Pertz dies mit einem guten

Theil zu thun pflegte, in die Erzählung eingeflochten, sondern sie geson­ dert folgen lassen, wodurch sowohl die überhaupt sehr klare und präcise Darstellung an Einheit gewinnt, als auch der Genuß der Briefe erhöht

wird.

Sehr dankenswerth sind die dem Text eingefügten einfachen Karten­

zeichnungen, durch welche die Bewegungen und Stellungen der kämpfenden

Heere an entscheidenden Tagen veranschaulicht werden.

Für die Dar­

stellung des Winterfeldzugs von 1814 und seiner für die schlesische Armee

so herben Wechselfälle bezieht sich Delbrück insbesondere aus eine neue, nach den Acten des Kriegsarchivs erfolgte, nicht publicirte Bearbeitung

deö Feldzugs von Major Bote, die ihn in wichtigen Punkten zu einer,

von dem Hergebrachten abweichenden Auffassung geführt hat.

Gneisenau's Plan, den Krieg unbekümmert um

die französischen

Festungen durch den raschen Vormarsch auf Paris zu beendigen, stieß be-

44*

620

Zur Fortsetzung von Gneisenau'S Biographie.

kanlltlich längere Zeit auf allgemeinen Widerspruch.

Sein beständiger Hin­

weis darauf, daß Paris in weit höherem Maße das bestimmende Centrum Frankreichs fei, als die Hauptstadt irgend eines andern Landes, wurde nicht verstanden.

Da in den Kriegen, welche Preußen, Oesterreich, Ruß­

land geführt hatten, die Besitznahme Berlins, Wiens, MoSkau'S keine

Entscheidung gebracht hatte, sollte auch die Besitznahme von Paris nicht entscheiden.

Die Erinnerung an die unglückliche Wendung deS Einmar­

sches von 1792, eine vage Scheu vor der allgemeinen Erhebung, deren

daS französische Volk zur Vertheidigung seiner Hauptstadt fähig sein werde, und die Furcht vor dem

militärischen Genie Napoleons

kamen hinzu.

Bei den Oesterreichern wirkte militärische Unfähigkeit und politische Berech­ nung in dem Widerstand gegen die Idee der Führer der schlesischen Armee zusammen.

Jedoch auch König Friedrich Wilhelm scheute sich anfangs, daS

nach schweren Geschicken endlich Wiedererrungene durch gewagte Unter­

nehmungen auf das Spiel zu setzen, und wurde durch einzelne Personen seiner militärischen Umgebung, die in dem Rufe tiefsinniger Strategen

standen, in seiner Besorgniß bestärkt.

Erst allmählich gelang es, den

Kaiser Alexander, welchem Stein die Briefe Gneisenau'S vorlegte, für den Vormarsch zu gewinnen.

Aber da die Führung der großen Armee unter

Schwarzenberg durch politische Nebenabsichten bestimmt und militärisch um

ein halbes Jahrhundert anttquirt war, so blieb auch jetzt die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß die überlegenen Heeresmassen der Verbündeten

zurückweichen würden, und ein schimpflicher Ausgleich so vielen Anstrengungen

folgte.

Waren doch die Unfälle Blüchers an der Marne wesentlich die

Schuld der großen Armee, die ohne alle Noth sich zurückziehend die Lücke geöffnet hatte, in welche Napoleon eindringen konnte, um die CorpS der

schlesischen Armee auf ihrem Marsche vereinzelt zu schlagen.

Der zuver­

lässigste Helfer deS Gneisenauschen, auf den Sturz Napoleons gerichteten KriegSplaneS war Napoleon selbst.

Er konnte, als die Verbündeten Ende

1813 in Frankfurt tagten, noch die Rheingrenze und

als sie wenige

Märsche vor Paris standen, noch die Grenzen der alten bourbonischen Mon­ archie erlangen.

Aber die Erfolge, welche sein Genie noch einmal errang,

wurden, indem sie ihn in der Unbeugsamkeit bestärkten, sein Verderben.

AIS er die schlesische Armee vernichtet glaubte, hatte sie sich mit unver­

gleichlicher moralischer Kraft nördlich der Marne wieder gesammelt, und stand nach Bereinigung mit den zwei, von der Maas herangerückten Corps

von Bülow und Winzingerode schlachtgerüstet da.

Freilich gab auch sie daS

kühne Wagen auf, das bisher den Charakter ihrer Kriegsführung bestimmt

hatte.

Auf Grund deS Gneisenau-Bohenschen Briefwechsels sucht Delbrück

nachzuweisen, daß die mehr defensive Haltung, welche die Armee mit der

Zur Fortsetzung von Gneisenau'« Biographie.

621

Schlacht bei Laon beobachtete und wobei allerdings die Gelegenheit, den

in seinen Kräften weit überschätzten Feind durch einen Hauptschlag zu

vernichten, versäumt wurde, nicht in äußern Umständen, z. B. der Krank­

heit Blüchers, sondern in der bewußten Aenderung des Kriegssystems seinen Grund gehabt habe. Bemerkenswerth sind

allerdings die

in dieser Beziehung

Briefe

Boyen's vom 3. und 6. März nebst beigefügtem Memoire, worin ausge­ führt wird, daß wenn die große Armee ihren Rückzug fortsetze, man eine

Schlacht vorläufig vermeiden müsse.

schlesische Armee ge­

„Wird die

schlagen und zersprengt, heißt es darin, was möglich wäre, so ist der

Rhein verloren und ein schimpflicher Frieden gewiß.

Bei der schlesischen

Armee sind alle preußischen Truppen und wir müssen diese dem Vater­ lande erhalten."

Die trostlosen Zustände der Truppenverpflegung, welche

die Kräfte der Soldaten erschöpft und die Bande der Disciplin bedenk­ lich gelöst hatten, werden außerdem für ein Einhalten in der Offensive

„Selbst die lockendsten Aussichten auf einzelne GefechtS-

geltend gemacht.

vortheile, meint Doyen, müssen uns nicht hinreißen, vorzugehen, ehe wir unS die Verpflegung etwas gesichert haben, wenn wir dem Urtheil der

unpartheiischen Nachwelt

hinzu:

„Alles

gesagte

ruhig sind

entgegensehen

wollen."

auch meine Ansichten. . .

Bülow

fügt

Die preußische

Armee muß nicht vernichtet werden, wenn Preußen eine Rolle unter ver­ bündeten Mächten spielen soll".

Und Gneisenau antwortet Doyen von

Laon auS am 15. März: „Laon halten, daselbst eine Defensivschlacht an­ nehmen, sonst weiter jetzt für'S Erste nichts wagen, das ist die Substanz Ihrer Rathschläge.

Ich bin hierin vollkommen mit Ihnen einverstanden."

Wir heben noch einige besonders interessante Stellen aus dem Brief­

wechsel dieser Periode heraus.

Ueber die Niederlage an der Marne

schreibt Gneisenau am 10. März an Hardenberg:

„Sie meinten,

liebe

Excellenz, daß ich nach der Schlacht von Brienne unstreitig den Feind zu gering geschätzt habe.

DaS habe ich nicht gethan, aber wohl will ich mich

zu der Schuld bekennen, die damaligen Unfälle der schlesischen Armee durch meine Nachgiebigkeit gegen eine fremde Meinung herbei­

geführt zu haben.

Sobald ich den Feind in der Nähe unserer Kantoni-

rungen bemerkte, wollte ich die schlesische Armee auf dem rechten Ufer der

Marne vereinigt wissen.

Man stellte mir die Dispositionen

aus dem

großen Hauptquartier und dann das Aufgeben unserer KommunicationS-

linie entgegen.

Ich war schwach und gab nach.

So wurden wir en

detail geschlagen, woran die Uneinigkeit der Generale und Nichtbefolgung

der Dispositionen ebenfalls ihren Antheil hatte.

Die Art, womit mich

der König in Trohes empfing, hat mir wehe gethan, da ich mir des

Zur Fortsetzung von Gneisenau'S Biographie.

622

Vesten Willens, ihm treu, redlich und mit Anstrengung zu dienen bewußt bin.

Die etngetretmen Unfälle sollten einem General nicht so streng an­

gerechnet werden.

Meine damalige Schwäche habe ich durch Festhalten

hei meiner Meinung seitdem wieder gut gemacht, da ich auf dem Uebergang über die Aube und Marne bestand, eine Operation, die seitdem so

gute Resultate gegeben hat"...

„Es ist mir außer allem Zweifel, daß

wir Napoleon vom Thron stürzen können, wenn wir wollen.

Unsere

Armee ist mit den detachirten Corps über 130,000 Mann stark.

allein könnten dem Krieg ein Ende machen." des

Wir

Und als endlich das Ziel

militärischen Strebens erreicht, Paris genommen ist, schreibt er

20. April an Eichhorn:

„Wir waren eben im Begriff den Montmartre

zu stürmen, als die Nachricht officiell uns zukam, eS sei Waffenstillstand. Ich wollte den Sturm verhindern, allein die Truppen waren schon im

Gefecht und nicht mehr zu halten. So wurde also mit Sturm genommen, was wir auf unblutigem Wege hätten erhalten können.

Franzose und Russe fand dabei sein Grab.

Noch so mancher

Des anderen Tages zogen

wir in Paris ein. Ich kehrte mich nicht an diplomatische Rücksichten und rief dem Volke stets zu: L bas le Tyran!

Regsam, wie es ist, hallte

eS bald ebenso wieder. — Ich bin bis zur Eroberung von Paris der Ge­ genstand der Lästerungen und Verwünschungen gewesen.

Man gab mir

die Verlängerung des Kriegs und den Entwurf des für unsinnig ge­ haltenen Marsches auf Paris und zwar nicht mit Unrecht Schuld.

Russen

und viele Preußen sahen mich für einen politischen Mordbrenner an.

Unbefangene nur beurtheilten die Dinge richtig. Der Congreß in Chatiüon küßte Caulaincourt die Hände, um Frieden zu erhalten.

Ich hatte zwei

Mächtige Verbündete, den Kaiser Alexander und Napoleon.

Jener gab

endlich der Meinung der Friedliebenden gezwungen nach; dieser verwei­

gerte hartnäckig jede Ausgleichung, obgleich man sich zu den schimpflichsten

Bedingungen verstand.

Ihm haben wir unsere Erfolge zu verdanken.

Wenn solche eingetreten sind, will Jeder dazu mitgewirkt haben."

Und

endlich in einem Brief an Clausewitz vom 28. April saßt Gneisenau in ehrlichster Selbstkritik die Geschichte des ganzen Feldzugs zusammen und schließt dann mit der Demuth und dem Stolz des Mannes, der sich

nach so großen Dingen als Werkzeug in der Hand einer höheren Macht

fühlt: „Sie sehen hier, mein Freund, die Hand eines allgewaltigen Schick­

sals,

das unsere Fehler dem Tyrannen zum Verderben gereichen ließ.

Man bat, man bettelte endlich um den Frieden; vergeblich.

ihm Belgien lassen und das linke Rheinufer.

Man wollte

Nur Mainz erbat man sich

mit einem Radius; vergeblich. Comment! Ferais-je la paixavec mes

prisonniers? sagte er.

Er meinte, er sei nun näher an München, als

Zur Fortsetzung von Gneisenau'- Biographie.

623

wir an Paris. — Knesebeck und Schöler bewiesen sehr pedantisch, man müsse eine verständigere Art Krieg zu führen anfangen; man sollte an

den Rhein zurückgehen, um dort die Festungen zu belagern und uns eine Basis zu erobern.

Die russischen Generale wollten heim.

gaben diesen Meinungen größeres Gewicht.

gespottet.

und

Von der Promenade

hinter meinem Rücken, versteht sich.

weissagt.

Und

Die Unfälle

Ueber mich ward geflucht

nach Paris redete Jork höhnisch,

Das schrecklichste Unglück ward ge-

wirklich, hätte nicht das allgemeine Schicksal meine Be­

hauptungen gerechtfertigt, indem eS unsere Fehler dem Feinde zum Ver­ derben gereichen ließ und die Menschen wider ihren Willen zu den ent­

scheidenden Schritten fortriß, ich weiß nicht, wie es mir ergangen sein

würde.

Ich waffnete mich mit Trotz gegen das Urtheil der Menschen

und ging mit Zuversicht — denn ich war nie kleinmüthig — den Er­

eignissen entgegen.

DaS Einzige, was ich fürchtete, war, daß man zur

Unzeit Frieden machen möchte.

Ich schrieb dem Staatskanzler nach unsern

Unfällen, daß ich nicht einen Augenblick zweifele, daß man Napoleon jetzt vom Throne stürzen könne, wenn man wolle.

Wenn aber der Klein-

muth, die Unentschlossenheit und die Zwietracht im großen Hauptquartier

noch so herrsche, wie in den letzten vier Wochen, so solle man Frieden meinethalben machen, aber nur unter der Bedingung, daß Belgien, das

linke Rheinufer nebst Lothringen und Elsaß uns überlassen werde. Dann

allein könne man hoffen, daß Napoleon seiner Nation verächtlich werde und er späterhin vom Throne gestürzt werden könne.

Aber wie wett waren diese

meine Entwürfe von dem, waS unsere Diplomaten bereits bewilligt hatten!" Als der erste Pariser Friede abgeschlossen war, hatte Gneisenau die Absicht, sich vom politischen Leben zurückzuziehen, die Uebernahme deS

Kriegsministeriums, daS der König ihm anbot, lehnte er ab.

Allein die

gefährliche Wendung, welche die Verhandlungen des Wiener CongreffeS

in der sächsischen und polnischen Frage nahmen, ließ ihn nicht lange an seinem häuslichen Heerd in Schlesien.

Delbrück bemerkt, wie er aus der

Ferne über die Ursachen deS drohenden Conflicts und die Stellung der

Personen richtiger urtheilte, als Hardenberg am Ort der Verhandlung selbst.

Hardenberg ließ sich bis zuletzt' durch daS Doppelspiel Metternichs

täuschen, Gneisenau durchschaute von vornherein dessen Arglist und Feind­ seligkeit.

„Ich habe mich, schreibt er 26. November 1814 an Bohm,

überzeugt, daß seine Absicht ist, Preußen nicht mehr zur Höhe seines vorigen Einflusses und verhältnißmäßiger Macht gelangen zu lassen und daß er für diesen Zweck ebenso eifrig arbeitet, als für die Vergrößerung

Oesterreichs.

Er thut hierin als österreichischer Minister im Allgemeinen

nicht so sehr Unrecht, aber eS kommt darauf an, diese seine Absicht klar

Zur Fortsetzung von Gneisenau'S Biographie.

624

zu erkennen und folglich seine Schritte hiernach zu beurtheilen."

Der

Mann deS entschlossen auf das Ziel gerichteten Handelns hatte schon in Paris daran gedacht, der diplomatischen Action Preußens durch eine rnilu tärische Action Respect zu verschaffen.

„Als ich in Paris Metternichs

Ränke entdeckte (An Clausewitz 30. December 1814), rieth ich, sogleich

150,000 Mann am Mittelrhein zu sammeln und hierdurch allen Wider­

sprechern Achtung zu gebieten.

Die Bourbons kannten damals ihren

Haushalt noch nicht und hätten sich um unS nicht bekümmert.

Metter­

nich wollte Truppen nach Italien und Galizien senden und hätte sich nicht gern in dieser Maßregel stören lassen.

Baiern wäre geschreckt worden;

die übrigen deutschen Fürsten hätten einen Widerspruch nicht gewagt; die

Intrigue konnte sich nicht entwickeln. gewaltsam.

Mein Rath erschien damals

Man wollte ihn nicht befolgen.

als

Jetzt wird man, fürchte ich,

etwas bei weitem Gefährlicheres thun müssen, nämlich die wahre Existenz deS Staats auf das Spiel setzen und um die Früchte unserer Siege noch­ mal streiten.

In Hinsicht auf Oesterreich erscheint der Kampf mir nicht

als gefährlich, aber wohl der mit Frankreich.

Auf England dürfen wir

bevor uns daö Messer an der Kehle sitzt nicht rechnen, auf den Fürsten der Niederlande noch weniger.

Wir sind also auf der westlichen Grenze

unseren eigenen Kräften, unserer Entschlossenheit überlassen, wie sehr letz­

tere uns oft erschwert wird, wissen Sie." Rücksichtslos und kühn sind die Pläne des wagenden Helden in dieser

kritischen Zeit.

Wenn Oesterreich das System des preußisch-österreichischen

ZusammenhaltenS verwarf, so war er bereit, den Kampf mit ihm aufzu­ nehmen und für Preußen allein die Hegemonie in Deutschland zu erobern;

zu diesem Zweck scheute er sich nicht, den Krieg mit Oesterreich und Frank­ reich zugleich zu führen.

Er warf sogar den verwegenen Gedanken hin,

Napoleon zur Rückkehr von Elba selbst zu verhelfen und durch ihn Frank­ reich, wie er meinte, in einen langwierigen Bürgerkrieg zu verwickeln.

Oesterreich sollte durch Aufstände in Italien und Ungarn gelähmt werden. Als die Nachricht kam, daß Napoleon von Elba aus den französischen

Boden betreten habe, hoffte er, daß nun der innere Krieg in Frankreich

beginnen werde, und der Augenblick schien ihm gekommen, Oesterreich aus Deutschland zu entfernen. „Wird man Verstand und Entschlossenheit haben,

schreibt

er an

Bohen, ,die neue Begebenheit, wenn sie noch Folgen haben sollte, zu

unserem Vortheil zu benutzen? neue Unternehmung,

Italien entzündet ...

Glückt Napoleon nur einigermaßen seine

so ist der bürgerliche Krieg in Frankreich und Ich meine, daß wir nun, wenn Alexander ein­

willigt, in Deutschland die Herren sind." —

Zur Fortsetzung von Gneisenau'S Biographie.

625

Allein es kam in Frankreich zu keinem Bürgerkrieg, vielmehr zeigte

der sofortige Zusammenbruch des bourbonischen Regiments die Haltlosig­ keit der Grundlage, auf welcher jene Combinationen beruhten.

Jetzt gab

eS nur noch das eine Ziel, den gefährlichsten Feind so schnell als mög­

lich nieder zu werfen; zu verhüten, daß er die Kräfte zu neuen Heeres­

zügen nach Deutschland sammelte.

Gneisenau'S Vorschläge waren auf

eine Action gerichtet, die dem Gegner nicht drei Monat Zeit zur HeereS-

rüstung und der Ergreifung der Offensive gelassen haben würde.

dessen als Napoleon die belgische Grenze erreichte,

In­

erwartete ihn eine

preußische Armee von 120,000 Mann, welche Fühlung hatte mit dem

englisch-batavischen Heere unter Wellington in der Stärke von 96,000 Mann.

DaS Schicksal deS Feldzuges hing davon ab, ob eS Napoleon

gelingen würde, beide Armeen vereinzelt mit Uebermacht anzugreifen und

so zu schlagen. ES gelang ihm bei Lignh durch die Schuld Wellington'S.

Blücher

würde die Schlacht nicht angenommen haben, wenn ihm nicht Wellington persönlich und unmittelbar vor dem Beginn deS Gefechts die Versicherung

ertheilt hatte, daß er 60,000 Mann zu seiner Unterstützung bei Quatrebras bereit halte.

Statt dessen hatte er dort thatsächlich nur 7000 M.,

die sammt den allmählich nachrückenden Verstärkungen von dem Ney'schen

CorpS ins Gefecht verwickelt und festgehalten wurden. Delbrück stellt unge­ schminkt die Unwahrhaftigkeit des englischen Feldherrn und die Motive dar, die ihn in dieses wenig würdige Verhalten dem vertrauenden Bundesgenossen

gegenüber wahrscheinlich gebracht hatten.

Trotz dieser schweren Erfahrung

ertheilte Gneisenau am Abend der unglücklichen Schlacht den Befehl, die

Rückzugslinie nicht nach Osten zur Sicherung der natürlichen Verbindungs­ linien, sondern nach Norden (Wavre) zur Erhaltung des Zusammenhangs mit der englisch-batavischen Armee zu nehmen. Dieser großartige Entschluß

rettete

Wellington von dem Untergang und

Napoleons.

entschied die Vernichtung

Denn nun konnte Blücher dem Brittischen Feldherrn ver­

sprechen, daß er am 18. Juni mit seiner ganzen Armee ihm zu Hülfe eilen werde.

Und er hielt, zuverlässiger als jener, sein Wort; die moralische

Kraft der Führer und der Truppen reichte hin, um anderthalb Tage nach

der erlittenen Niederlage unter Ueberwindung der unsäglichsten Schwierig­

keiten in eine zweite Schlacht zu ziehen und sie zu entscheiden.

Mit Recht,

wie uns scheint, hebt Delbrück hervor, daß die Einwirkung der Preußen

auf den Gang der Schlacht nicht erst mit ihrem activen Eingreifen in der Flanke und dem Rücken des Feindes um 5 Uhr Nachmittags, sondern

schon mit ihrem Erscheinen im Gesichtskreis Napoleons um 1 Uhr Mittags

begann.

Denn von diesem Augenblick an mußte Napoleon seine Reserve

626

Zur Fortsetzung von Gneisenau'S Biographie.

schonen, einen Theil der Garden zurückhalten, die bedrohte Flanke decken

— er mußte seinen Sturmkolonnen die Kräfte entziehen, die zur Durch­ brechung der englischen Linien nöthig gewesen wären.

Wenn diese Linien,

als die Preußen ihnen Kampf und Verfolgung abnahmen, noch wider­

standsfähig waren, so beweist dies nichts gegen die kaum bestreitbare Annahme,

daß sie ohne Blüchers Erscheinen zermalmt worden wären.

Daß Napoleon's Regiment nach der Rückkehr von Elba nur 100 Tage dauerte, hatte Europa der Energie zu verdanken, die im preußischen Heerlager waltete. Schlacht

ES

ist bekannt,

persönlich die Verfolgung

wie Gneisenau am Abend

des fliehenden Feindes

bis

der

zum

letzten Hauch von Mann und Roß leitete, fast feine ganze Artillerie

nahm und die noch festen Formationen zur Auflösung brachte.

Vier

Tage später war Napoleon genöthigt die Krone niederzulegen, und am

7. Juli zog Blücher, dem Wellington langsamer und widerwillig folgte,

in Paris ein. Der Gegensatz zwischen dem brittischen Feldherrn, der den Bourbon wieder einsetzen und Frankreich behandeln wollte als ob eS an dem Krieg

nicht mitbetheiligt fei, und zwischen den preußischen, die endlich nach so namenlosen Opfern an Gut und Blut an der gewaltthätigen Nation Ge­

rechtigkeit üben und durch Verminderung ihres Ländergebiets dem Vater­

land dauernden Frieden sichern wollten, mußte alsbald heraustreten.

Im

Einzelnen mochte der Ingrimm über die ungeheure Mißhandlung, die Krone und Volk durch Bonaparte erlitten, sie vielleicht zu weit führen;

es ist am Ende doch besser, daß Napoleon nicht, wie Blücher und Gnei­ senau wollten, auf dem Platze erschossen ward wo der Herzog von Enghien fiel, und daß die Sprengung der Brücke von Jena zuletzt verhindert

wurde.

In der Hauptsache aber, daß Frankreich die finanziellen Auf­

wendungen deS Kriegs voll bezahlen solle und daß die Sicherung vor ihm

nur in einer realen Verminderung seines Territoriums liege, hatten sie

Recht.

Auf seinem Zuge nach Paris schreibt Gneisenau 22. Juni an

Hardenberg: „Es erregt in der Armee die höchste Indignation zu erfahren, daß die verbündeten Mächte mit den BourbonS einen Traktat geschlossen

haben, worin ihnen sogleich die Verwaltung der eroberten Länder über­

geben wird.

Man sagt sogar, es sei ihnen die Integrität Frankreichs

garantirt! Sie, mein verehrter Fürst, stehen in der Meinung der Welt

hoch; was ich also zu sagen im Begriff bin, kann ich mir erlauben, da

eS keinen Schatten auf Sie wirft.

Aber die übrige diplomatische Sipp­

schaft ist durch ihre Mißgriffe und Schlechtigkeiten so sehr in der Meinung

der Welt gesunken und so sehr mit Verachtung belastet, daß ich meinen Sohn enterben würde, wenn er in diese Laufbahn eintreten wollte.

Es

Zur Fortsetzung von Gneisenau'S Biographie.

627

ist Zeit, daß Sie, edler Fürst, dieses Geschmeiß abstreifen und in ihrem Glanze allein dastehn."

„Die Welt fordert, daß sie in Sicherheit gesetzt werde gegen den unruhigen Geist eines schlechten, aber fähigen und tapfern Volks, und for­

dert dies mit Recht.

Wehe denen und Schande ihnen, wenn diese einzige

Gelegenheit nicht ergriffen wird, um Belgien, Preußen, Deutschland zu sichern auf ewige Zeiten."

„Die französischen Festungslinien gegen Belgien müßten diesem gegeben werden, dagegen muß Luxemburg nebst dem deutschen Gebiet dieses Na­

mens uns verbleiben nebst Mainz.

Das französische Luxemburg kann dem

Hause Nassau gegeben werden und uns dagegen die Länder dieses Hauses

Anspach und Baireuth muß uns erworben werden

am rechten Rheinufer.

und wir dagegen BaiernS Entschädigung im Elsaß erobern. Die Festungen

der Mosel und des Rheins müssen von Frankreich abgerissen werden nebst Lothringen und alles Land, dessen Flüsse sich in die Maaß ergießen."

„Geringeres als dieses darf nicht geschehen oder die Verachtung der Pölker gegen ihre Regierungen wird gesteigert." In der That waren diesmal die militärischen und politischen Autori­ täten Preußens in ihren Forderungen einig.

Um Oesterreich zu gewinnen

und den Widerstand Rußlands und Englands zu beseitigen, verzichtete

Preußen ausdrücklich darauf, aus den abzutrennenden Ländern sich selbst zu verstärken; sie sollten den Staaten zweiten Ranges zu Theil werden.

Memoire,

in welchem

Das

Gneifenau die schalen Gründe des Minister-

Castlereagh gegen eine Landabtretung Frankreichs abwies, könnte sammt

der Note des Engländer- auch im Jahre 1870 geschrieben sein. Allein wer hatte an dieser Zurückführung Frankreichs auf weniger

bedrohliche Grenzen

ein wirkliches Lebensinteresse außer Deutschland?

Und wer fühlte sich damals deutsch und vertrat Deutschland außer Preußen? Preußen aber war damals zwar mit kriegerischem Ruhm bedeckt, allein ein

erschöpftes, armes Land von kaum 10 Millionen Seelen.

In der Politik

aber entscheiden die Kräfte, und wenn eine hohe militärische und politische Energie auch ein Mindermaß materieller Kraft ergänzen kann, so vermag sie doch nicht Mißverhältnisse auszugleichen, wie sie damals vorhanden

waren.

So schrieb denn Gneisenau am 17. August 1815 an Arndt:

„Wir sind in Gefahr einen neuen Utrechter Frieden zu schließen und die hauptsächlichste Gefahr kommt abermals aus denselben Gegenden wie

damals.

England ist in unbegreiflich schlechten Gesinnungen und mit

seinem Willen soll Frankreich kein Leid geschehen.

Nicht Land, höchstens

etwas Contribution soll man von ihm nehmen.

Wenn Rußland eine

solche Sprache führt, so begreift sich das aus seiner selbstsüchtigen Politik,

628

Zur Fortsetzung von Gneisenau'» Biographie.

die nicht will, daß Preußen und Oesterreich gefahrlos in ihren westlichen

Grenzen dastehen, und an Frankreich einen immer bereiten Bundesgenossen sich zu erhalten gedenkt; wenn aber England auf der Integrität deS fran­ zösischen Gebietes besteht, so kann man in einer solchen Verkehrtheit nicht-

als das Bestreben erblicken, den Krieg auf dem Kontinent zu nähren und

Deutschland von sich abhängig zu machen." Reimer:

Und am 18. September an

„Was Frankreich wird abgenommen und wozu es wird ver­

pflichtet werden, ist mehr als genug, um es zu erbittern und zu reizen, aber Nichts ist geschehen, um uns andere zu schützen.

Hierin der Keim

zu neuen Kriegen, waS England und Rußland wollen und das furchtsame

Oesterreich mit seinem doppelsinnigen Metternich gestattet." Voller Entrüstung hatte Gneisenau zwei Tage früher an Bohen „Gestern habe ich erfahren,

geschrieben:

an mehrere seiner Generale gesagt hat:

möglich,

daß

wir

dereinst

dem

daß

der Kaiser Alexander

Meine Herren,

König von

Preußen

eS ist sehr gegen

seine

Armee zu Hülfe kommen müssen. — Welche schändliche Verläumdung!" ES war freilich eine schändliche Verläumdung eines so treuen, so der

Dynastie ergebenen, so unbedingt gehorchenden Heeres.

Und doch ist es

verständlich, daß der Herrscher des slavischen Ostreichs von Abneigung und Furcht ergriffen wurde vor den nationalen Ideen, die jetzt in den

besten Köpfen der preußischen Armee erwacht waren. Vater deS Feldmarschall v. Steinmetz,

Gneisenau:

Damals schrieb der

deS Siegers von Nachod,

an

„ES ist keine Rettung für Deutschland und für Preußen

selbst, als dadurch, daß diesem Hause die Oberherrschaft übertragen wird,

und dazu sollte ich doch meinen, daß alle oder doch die Mehrheit der deutschen Stimmen zu gewinnen sein mögen.

Wirklich ist eS jetzt Pflicht,

daß Preußen sich darum bemühe, obwohl die alte Meinung seiner Herrsch­

sucht dadurch aufs neue geweckt wird.

Oesterreich ist kein deutsches Hau­

mehr, Italiener, Ungarn, Polen, Böhmen und die Slavonier sind */»

gegen die Deutschen diese- Staats; wie wollen ihre Fürsten und Herren gleiche Meinung, gleiches Interesse mit uns haben können...

Ernstlich

möchte ich jetzt einen Bund entstehen sehen, der der preußisch-deutsche hieße, denn ohnedem war alles Streben und Treiben nicht deS Mühens

werth, wie sollen wir zur Ruhe kommen und Freiheit behalten, zu denken und zu thun, wenn in Deutschland nicht Einheit und eine kräftige Ein­

heit durch Preußen ist." DaS alles klingt wie ein Programm zu den Kämpfen, die wir nach

vielen Fehlern und Irrungen, 1866 und 1870 endlich glorreich durchge­ führt haben.

Gneisenau insbesondere ist eine Heldengestalt, die ganz htn-

einragt in unsere neue Zeit; die Beweglichkeit und Fruchtbarkeit' seiner

Zur Fortsetzung von Gneisenau'S Biographie.

629

Phantasie, der Realismus, mit dem er für den nationalen. Zweck die Mittel sucht, wo er sie finden kann, die gradeauS auf das Ziel gerichtete Thatkraft erinnern uns oft an die großen Züge der Politik, der eS ge­ lang, die Auseinandersetzung mit Oesterreich

zu vollziehen und unsere

Grenzen nach Metz und den Vogesen vorzurücken.

Wie eine Weissagung

auf die Zukunft lauten seine Briefe. Und wenn seine Ideen und Forde­

rungen der realen Macht Preußens voraus eilten, so gehörte er doch zu

den schöpferischen Geistern, die jene Macht so Herstellen, geistig beleben

und stärken halfen, daß sie in natürlicher Entwickelung groß genug ward, um endlich auch die höchsten, von ihm erstrebten und vorauSgeschauten

Ziele zu erreichen.

Parlamentarisches und konstitutionelles System. (Zu Dr. Jollh's Schrift: Berlin 1880.

Der Reichstag und die Parteien. —

Druck und Verlag von G. Reimer.)

Unter den Männern, welche sich um unser Vaterland in der großen

Zeit seiner nationalen Neugestaltung dauernde Verdienste erworben, nimmt Dr. Jolly eine der hervorragendsten Stellen ein.

Unvergessen wird die

Energie des Charakters bleiben, mit welcher er in der Krisis von 1866 bei dem Ausbruch des böhmischen Kriegs feststand, als Regierung und Volk in Baden von der antipreußischen Strömung fortgerissen wurden; unver­

gessen auch die Kraft und Besonnenheit, womit er dann die Verwaltung

des Großherzogthums im treuen nationalen Sinn leitete und die Ver­ schmelzung des Einzelstaats mit dem Reich in den wichtigsten, besonders

den militärischen Beziehungen durchführte.

Die Urtheile eines solchen

Mannes haben, auch wo sie sich in das unscheinbare Gewand eines ob­

jectiven Rückblicks auf die Thätigkeit deS Reichstags und der Parteien

kleiden, allen Anspruch auf unsere Beachtung. Im Grunde hat aber die umfangreiche Schrift Jollh's keinen historisch­

theoretischen, sondern einen praktisch-politischen Zweck; sie will den Leser

zu der Einsicht führen, daß das Unbehagen, welches in Deutschland trotz der großartigen Entwicklung unseres nationalen Staatswesens verbreitet sei, vorzugsweise darin liege, daß man unsere politischen Zustände nach dem Maßstabe deS parlamentarischen RegierungSsystemS messe und dann

allerdings sich unbefriedigt fühlen müsse.

Es mag sein, daß der Ver­

fasser dieses Element der Unzufriedenheit etwas zu hoch veranschlagt.

Einen größeren Antheil an den Verstimmungen tragen doch wohl die

wirthschaftlichen Krisen, die maßlose Erweiterung der industriellen Pro­ duction nach dem französischen Krieg, das Gründungsunwesen, die Rück­ schläge und Verluste die dann folgten, die socialistische Agitation unter

der arbeitenden und die ultramontane unter der katholischen Bevölkerung, dazu eine Reihe mittelmäßiger und schlechter Ernten bei steigender Concurrenz fremder getreideproducirender Länder und Welttheile. Denken wir

Parlamentarisches und konstitutionelles System.

631

UNS diese Elemente hinweg, so würde auch von dem Mißbehagen in weiten

Kreisen der größere Theil geschwunden sein.

Aber richtig ist wohl, daß

die düsterste Ansicht über den Gang unserer öffentlichen Angelegenheiten heute weniger im Volk als bei den, an der Politik activ betheiligten Par­

teien und besonders bei den Parlamentariern der liberalen Parteien sich findet, und hier mag das aus unsere thatsächlichen Verhältnisse nicht an­

wendbare

Ideal,

daS ihnen vorschwebt,

nicht

ohne Einfluß

auf die

hypochondrische Auffassung der Dinge sein. Unsere Schrift schafft sich den Boden für ihre späteren Schlüsse durch

eine Schilderung der Leistungen des Reichstags und eine Charakteristik des Wesens der Parteien.

Die Klage ist ja weit verbreitet, daß der

Reichstag gegenüber der alles überragenden Macht des Kanzlers bedeu­

tungslos sei, und doch läßt sich nachweisen, daß der erstere neben dem letzteren, dessen eigene Intentionen fördernd, hemmend oder umgestaltend, eine reiche Wirksamkeit entfaltet hat.

Er hat nicht blos auf allen Gebieten

der Gesetzgebung theils eine einflußreiche Mitwirkung geübt, theils den Impuls und die Richtung gegeben, — die Verfassung selbst, die dem Reich

gegeben wurde, ward durch den constituirenden Reichstag fundamental um­

gestaltet und erhielt im Vergleich zu dem ursprünglichen Entwurf anderes Gepräge.

ein

Erst durch die Compromisse, welche mit dem Reichstag

in den Bestimmungen über das Militärwesen, das Budget und die Ver­ antwortlichkeit des Bundeskanzlers geschlossen werden mußten, trat an die

Stelle eines an Preußen angelehnten Bundes das Reich als eine wirkliche Staatseinheit.

Diese zum

Theil selbsterworbenen verfassungsmäßigen

Rechte hat der Reichstag mit Erfolg gehandhabt und weitergebildet.

Es

gilt das insbesondere auch von seinem Recht in Finanzfragen, wo seine

entscheidende Stimme von der Reichsregierung stets vorbehaltlos anerkannt wurde.

Auch in dem bekannten Frankensteinschen Antrag, wonach

die

Einkünfte der Zölle und Steuern über den Betrag von 130 Millionen hinaus den Einzelstaaten znfallen sollen, sieht mit Recht unsere Schrift

keine nachtheilige Veränderung der Lage.

Denn nunmehr würden die

Matricularbeiträge bleiben und der Genehmigung des Reichstags unter­

liegen, es gäbe aber keine solidere weil williger getragene Abhängigkeit

der Einzelstaaten vom Reich, als wenn sie aus den Kassen deS letzteren im wachsenden Maße Zuschüsse erhielten. — Dagegen ist es dem Reichstag allerdings nicht gelungen, auf den Gang der Regierung — abgesehen von

Gesetzgebung und Budget — Einfluß auszuüben. Die obersten Reichsämter sind ohne ihn besetzt, wie die preußischen Ministerien ohne den Landtag besetzt werden.

Auf die Leitung der auswärtigen Politik hat er keine Einwirkung

gehabt, und wo er, wie bei der Frage der Aufnahme Badens in den

Parlamentarisches und konstitutionelles System.

632

Bund eine solche ohne Verständigung mit dem Kanzler versuchte, ist er scharf abgewiesen.

Rothbücher oder Blaubücher sind bei uns bekanntlich

nicht eingeführt, und vorläufig wenigstens wird man im deutschen Volke

auch kaum ein Bedürfniß nach solcher Controle unserer von Meisterhand

geleiteten auswärtigen Angelegenheiten fühlen.

Abgesehen von Gesetzge­

bung und Budget steht die Regierung dem Parlament frei und unab­

hängig gegenüber.

Wir sind also von dem parlamentarischen Regierungs­

system sehr wett entfernt geblieben und mußten eS bleiben, weil die that­

sächlichen Vorbedingungen für dasselbe bei uns fehlen.

Wo dieselben

vorhanden sind, wird das System sich ohne eine geschriebene Verfassung

einbürgern, wo sie fehlen, wird das Streben danach nur dazu führen, daß wir Verkehrtes fordern und die Ursachen der eintretenden Mißerfolge an

falscher Stelle suchen. Zunächst ist also zu fragen, ob das Wesen unserer Parteien, aus

denen das Parlament hervorgeht, mit jenem RegierungSsystem verträglich ist.

Bon diesem Gesichtspunkt aus versucht unsere Schrift die Parteien nach

ihrer historischen Entwicklung und ihrer Stellung den staatlichen Aufgaben

gegenüber zu schildern.

Die Schilderung ist so ruhig und objectiv ge­

halten, wie der Einzelne, der selbst eine feste politische Anschauung hat, dies zu leisten vermag.

Das Resultat ist, daß diejenige Form des Con-

stitutionalismuS, nach welcher die Regierung, wenn nicht formell so doch

thatsächlich mehr oder weniger der geschäftsleitende Ausschuß der parlamen­ tarischen Mehrheit ist, nach der Beschaffenheit unserer Parteien eine Un­

möglichkeit sei.

Zunächst kommt schon der äußerliche Umstand in Betracht,

daß wir viel zu viel Parteien haben und daß keine einzige die Aussicht

hat, in absehbarer Zeit zu einer Majorität zu gelangen.

Das größte

Hinderniß wirft hier das Centrum in den Weg; auf einer außerstaat­

lichen Basis beruhend, wird es stets feinem Hauptzweck, der Begründung der absoluten Souveränität der Kirche, die staatlichen Zwecke unterordnen

und daher jeder anderen Partei, welcher diese Zwecke am Herzen liegen, eine Coalition unmöglich machen.

Die Liberalen oder die Conservativen

müßten also, dem vom Centrum beherrschten Drittheil der Stimmen gegen­ über, fast den ganzen Rest der Wahlsitze für sich allein gewinnen, um eine

sichere Majorität herzustellen. Dies ist schwer zu erreichen, und wenn eS gelänge, würde einer solchen Mehrheit die Stabilität fehlen um eine Regierung zu stützen. Jolly scheut

sich nicht vor dem offenen Ausspruch, daß wir überhaupt keine Partei haben, welche nach ihrer innern Natur den Aufgaben genügen könne, die

das parlamentarische System an sie stelle.

Auch die nationalliberale

Partei, obwohl sie neben ihren theoretischen Ueberzeugungen und Idealen

633

Parlamentarisches und canstitntionelleS System.

grundsätzlich auf die gegebenen Thatsachen Rücksicht nehme, werde, weil sie wesentlich durch theoretische Meinungen zusammengehalten werde, nicht

stark genug sein, die schwere und kostbare Last der Regierung zu tragen. „Man denke sich ein nationalliberales Parteimintsterium; dasselbe würde bestrebt sein, nach den Grundsätzen des Liberalismus die Regierung zu

führen, es würde aber begreiflicher Weife der harten Wirklichkeit mehr und größere Concessionen machen müssen, als das Parteiprogramm mit

sich bringt; umgekehrt würde der Parteianhang in jedem Schritt, durch welchen irgend ein Theil deS Programms verwirklicht wird, eine Be­

stätigung seiner Richtigkeit und Ausführbarkeit und darin die Aufforderung

finden, auf dem betretenen Wege weiter voranzuschreiten.

Die Partei

vertritt Ideale, wenn sie dieselben auch mit Rücksicht auf daS praktisch

Erreichbare zu mäßigen weiß und sie nicht abstract, sondern unter Beachtung der gegebenen Verhältnisse entwirft und auszuführen sucht.

DaS Ideal

kann aber nie vollständig verwirklicht werden, eS verliert bei der Ueber-

führung in die Realität unvermeidlich vieles von der Vollkommenheit, mit welcher es in der Gedankenwelt prangte.

Die Mitglieder der Partei

können als Einzelne diesen Tribut an die menschliche Schwäche, welche

daS aus ihrer Mitte hervorgegangene Ministerium abzutragen hat, dem­

selben zugut halten; die Partei als solche muß auf dem Standpunkt be­ harren, daß, nachdem man mit einem ersten Schritt dem Ideal bis zu

einem gewissen Punkte nahe gekommen, in rastloser Arbeit nach voll­

ständigerer Verwirklichung desselben gestrebt werden müsse.

So unmöglich

die absolute Erreichung des Zieles ist, so unabweisbar ist für denjenigen,

der überhaupt einen idealen Standpunkt einnimmt, die Forderung, we­ nigstens nach immer weiterer Annäherung an dasselbe zu ringen.

So

führt der allgemeine Standpunkt der nationalliberalen Partei mit einer gewissen Nothwendigkeit dahin, daß

sie auch einem aus ihrer eigenen

Mitte hervorgegangenen Ministerium, selbst soweit dasselbe streng die Parteigrundsätze zu befolgen bestrebt ist, nicht unbedingt sich unterordnet,

sondern ihm kritisch und treibend gegenüber tritt. Selbst der Retz, die herrschende Partei zu sein, würde sie kaum davon abhalten. Die Herr­ schaft einer Partei, welche durch gemeinsame Interessen, durch ständische

oder andere persönliche Beziehungen zusammengehalten wird, ist für alle Parteigenossen, auch für die an der Herrschaft direct nicht betheiligten,

von erheblichem Werth, indem sie daS allen gemeinsame Interesse schützt, und alle werden deshalb tot Zweifel geneigt sein, zur Erhaltung dieser Herrschaft um ihrer selbst willen beizutragen.

Die Regierung einer Partei,

welche wesentlich nur in der Gemeinsamkeit ihrer theoretischen Ueber­

zeugungen ihren Zusammenhalt findet, bringt den Anhängern derselben Preußische Jahrtücher. Bd. XLVI. Heft 6.

45

634

Parlamentarisches und constitutionelleS System.

keinen andern Gewinn, als daß nach den für richtig gehaltenen Grund­

sätzen regiert wird; der Bersuch, der Herrschaft einer solchen Partei da­ durch einen reelleren Rückhalt zu verschaffen, daß ihr die Vergebung von Aemtern und Würden, von einflußreichen und einträglichen Stellen lediglich nach Parteirücksichten gestattet würde, ist unter unsern Verhältnissen, zum

Glück für uns, unmöglich.

Die Folge ist, daß die Partei sich viel weniger

darum bemüht, die Regierung in der Hand einzelner ihrer Mitglieder zu erhalten, als darum, daß ihre Grundsätze möglichst rein

durchgeführt

werden, und sie ist deshalb wenig geneigt, diesen etwas zu vergeben, um

den Ihrigen die Behauptung der Herrschaft zu erleichtern.

grundsätze,

Die Partei­

welche höher stehen als die Partei und sie beherrschen, be­

wahren unter allen Umständen ihre Anziehungskraft auf die Parteigenossen und werden gerade die entschiedensten Anhänger und Vertreter der Partei­

lehren immer wieder um sich sammeln und leicht in eine Art Oppositions­

stellung selbst gegen ein ganz aufrichtiges Parteiministerium drängen, welches durch die Verhältnisse sich genöthigt sieht oder glaubt, die Schärfe

der Principien etwas ermäßigen zu müssen.

Man schenkt dem Führer,

welcher die ihm mit seinen Anhängern gemeinsamen Interessen vertheidigt, sehr leicht das Vertrauen, er werde von denselben nicht mehr aufgeben, als nothwendig und rathsam ist; dagegen verfällt der Vorkämpfer einer

Meinung, wenn er bei seinem praktischen Handeln auf die Umstände Rücksicht nehmen muß, sehr leicht dem Mißtrauen, er habe sei es aus

Ungeschick sei es aus Schwäche zu große Concessionen gemacht, und läuft

Gefahr, daß seine Anhänger um des Princips willen ihn verlassen.

In

einer Partei, welche wesentlich durch die Gemeinsamkeit ihrer theoretischen

Ueberzeugungen, das freieste und flüssigste, was es gibt, zusammengehalten

wird, ist die strenge Parteidisciplin ziemlich undenkbar, ohne welche das parlamentarische Regierungssystem nicht

bestehen kann.

Für dasselbe

taugen nur solche Parteien, welche gewohnt sind, den erkorenen Führern, so lange ihre Führerschaft anerkannt ist, sich unterzuordnen, statt in jedem

einzelnen Fall sich die Prüfung und Entscheidung vorzubehalten, ob die Führer den richtigen Weg verfolgen.

Eine derartige Disciplin liegt den

Nationalliberalen ferner, als allen andern Parteien; es ist bekannt, eine wie weit gehende Toleranz sie unter einander üben müssen, wie die Fälle

gar nicht selten sind, in welchen die Partei bei der Abstimmung, mitunter in fast gleiche Hälften, , sich spaltet oder in welchen einzelne Führer von

dem Gros der Partei sich trennen, ohne darum die Führerschaft zu ver­ lieren oder aufzugeben, und doch war all diese Toleranz nicht im Stande, die Partei vor der Secession einer Anzahl ihrer hervorragendsten Mit­

glieder zu bewahren.

Ist es schon jetzt unmöglich, innerhalb der national-

Parlamentarisches und konstitutionelles System.

635

liberalen Partei eine festgeschlossene Einheit und strenge Unterordnung

unter den oder die erkorenen Führer aufrecht zu erhalten, so würde es unter den Versuchungen des parlamentarischen Systems noch weniger ge­

lingen.

Indem dasselbe auf die Erlangung der Mehrheit im Parlament

die Prämie setzt, die Regierung bilden zu dürfen, fordert es neben allen guten auch alle schlimmen Kräfte zum äußersten Wagen heraus.

Wir

würden, wenn wir mit unsern lose verbundenen Parteien auf das System

unö einlassen wollten, die gleiche Erfahrung wie andere Völker vor uns zu machen haben, daß,

je größere Bedeutung der Majorität beigelegt

wird, mit um so geringerem Bedenken Leidenschaft, Ehrgeiz, Eifersucht auf die Erlangung

einer Majorität um jeden Preis hinarbeiten würden.

Hüten wir uns in die Rolle des Pharisäers zu verfallen, wenn wir bei

verschiedenen romanischen Völkern das parlamentarische Negierungssystem

unter der Last persönlicher Intriguen zu einem allerdings sehr unerquick­ lichen Zerrbild entartet sehen.

Der Grund liegt schwerlich in der Unzu­

länglichkeit der Personen, sondern in der Unbrauchbarkeit jenes Systems

ohne eine entsprechende Parteibildung, namentlich ohne eine ganz rigorose Parteidisciplin, welche durch die Volkssitte geheiligt den ausschweifenden

Gelüsten der Einzelnen einen wirksamen Zügel anzulegen im Stande ist. Selbst die parlamentarische Geschichte Englands ist trotz der strammsten

Partcidisciplin, welche eher ein der Abhängigkeit unserer Beamten als

der losen Verbindung unserer Parteien vergleichbares Verhältniß hervor­ ruft, nicht arm an Ränken und Intriguen aller Art, unter welchen mehr als einmal das Interesse nicht weniger des Staates wie der Partei hinter

die Befriedigung persönlicher Leidenschaft zurücktreten mußte.

nicht schlechter, aber auch nicht besser als andere Nationen.

Wir sind Setzen wir,

ohne vorher für schützende Dämme gesorgt zu haben, auf die reine Aeußerlichkeit, in einer sogenannten Hauptfrage eine Majorität für oder gegen

zusammenzubringen, den höchsten im politischen Leben überhaupt möglichen Preis, die Erlangung der Herrschaft, so wird um denselben bei uns ganz

mit derselben Rücksichtslosigkeit und in schlimmen Fällen mit derselben Gewissenlosigkeit wie bei andern Völkern gekämpft werden. die Regierung

Das Wagniß,

der jeweiligen parlamentarischen Majorität zu überant­

worten, kann nur gelingen, wenn die Bildung dieser Majorität nicht dem blinden Zufall, der schrankenlosen individuellen Willkür und Laune der

Einzelnen überlassen wird, sondern nach heilig gehaltenen, politisch-morali­ schen Gesetzen sich vollzieht.

Soll der Gang der Regierung von der par­

lamentarischen Mehrheit abhängig gemacht werden, so müssen die parla­ mentarischen Parteien unter

einer nur in der Volkssitte zu findenden

zwingenden Gewalt stehen, welche den Eigenwillen der Einzelnen bändigt

45*

636

Parlamentarisches und constitutionelleS System.

und sie der planmäßigen Leitung des einmal erkorenen Führers für die

Dauer seiner Führerschaft unterordnet.

Unsere deutschen Verhältnisse

bieten daS gerade entgegengesetzte Bild dar; innerhalb der Parteien und zu allermeist der liberalen besteht nach der Natur und der Geschichte der­

selben die denkbar freieste Bewegung und die loseste Disciplin, und ein

Parteizwang, wie das parlamentarische RegierungSshstem ihn vorauSsetzt, würde, weit entfernt in den volkSthümlichen Anschauungen die ihm noth­ wendige Stütze zu finden, im Gegentheil den politisch-moralischen Begriffen unseres Volkes geradezu widerstreben."

Bei den Deutschconservativen ist der Zusammenhalt durch altüber­ lieferte persönliche und Standesbeziehungen erleichtert, aber auch diese

Partei zerfällt bei principiellen Fragen in eine gemäßigte Mitte und einen äußersten rechten Flügel, der zumal in kirchlichen und Unterrichtssachen

sich nicht leicht fügt.

Die Partei ist an sich Gegnerin des parlamentari­

schen Systems und zieht eine selbständige und stetige Regierungsgewalt, auf welche sie Einfluß hat, dem Wechsel zwischen der eigenen und der

gegnerischen Partei vor. Und würde ein solcher Wechsel denn möglich und

für den Staat zu ertragen sein?

In England ist es eine und dieselbe

Aristokratie, welche unter der Firma der Tortes und der Whigs regiert;

beide Parteien sind nicht principiell von einander verschieden, wenn in den Wahlkämpfen die Differenzen groß erscheinen, so mindern sie sich sofort,

sobald die oppositionelle Partei an daS Ruder kommt.

Bei unS sind die

Gegensätze von Liberal und Conservativ zwar nicht mehr so schroff, als

bei Einführung der preußischen Verfassungsurkunde, wo kaum ein persön­ licher Verkehr zwischen den Vertretern der beiden Richtungen bestand, aber doch noch groß genug, daß der Wechsel zwischen der rein konservativen

und der rein liberalen Parteiregierung gradezu die Continuität des Staats­

wesens bedrohen würde.

Was die eine Regierung während einiger Jahre

geschaffen, würde die andere in den nächst folgenden Jahren wieder auf­

zuheben suchen.

In der theoretischen Schärfe und Zuspitzung dieser Ge­

gensätze liegt auch die Unmöglichkeit einer Combination von Conservativ und Liberal, sobald die Parteien als solche mit ihren Führern dieselbe

Herstellen sollen, während die Krone aus ihrer freien Wahl gemäßigt kon­

servative und gemäßigt liberale Personen in ihren Rath mit der Hoff­

nung berufen kann, daß ein solches, gegen keine Partei engagirtes Mini­ sterium die Unterstützung bei der parlamentarischen Mehrheit finden wird. DaS parlamentarische RegierungSshstem hat seine Heimath und seine glänzendsten Erfolge in England, und eS ist begreiflich, daß daS Vorbild

Englands unsere Ideen zu einer Zeit bestimmte, wo wir selbst auf dem

Felde der Politik praktisch noch nicht gearbeitet hatten, folglich uns auch

Parlamentarisches und konstitutionelles System.

637

des Unterschieds unserer thatsächlichen Verhältnisse von denen des englischen Volks noch nicht bewußt waren.

Inzwischen haben wir erlebt, daß die

englische Schablone, wenn sie auf Serbien, Rumänien und Griechenland nicht blos, sondern auch wenn sie auf Frankreich, Italien u. s. w. an­

gewandt wird, ihre segensvolle Wirkung verliert und Zersetzung und Auf­

lösung zur Folge hat.

Daö Bild des heutigen Europa, und wir dürfen

auch die neue Welt hinzu rechnen, ist nicht darnach angethan, um uns

die unabhängige Stellung und Macht unsrer preußischen und deutschen

Krone und die Festigkeit der Stützen, die in einem,

der Politik fern­

stehenden Heere und einem integren Beamtenthum liegen, bedauern zu lassen.

Die Grundbedingung des englischen Systems ist das Vorhanden­

sein einer mächtigen Aristokratie, in welcher seit Jahrhunderten mehr als in der Krone der Schwerpunkt des staatlichen Wesens lag, welche Herrin

des größten Theils des Grund und Bodens ist, die aufsteigenden Kräfte aus dem Volk mit sich zu verschmelzen weiß, und in der Theilnahme an den öffentlichen Geschäften traditionell ihren Lebensberuf sieht.

Wo diese

Grundbedingung fehlt, hat das System bisher nur zu Verzerrungen ge­ führt. und

Aber es ist auch keineswegs die einzige Form politischer Freiheit constitutionellen Lebens.

Auch

wo die Stellung

der Krone dem

Parlament gegenüber eine unabhängige und selbständige ist, und die von

ihr sreigewählten Räthe Diener der Krone sind, sind doch die Garantien einer Regierung nach Gesetz und Recht und einer dem dauernden Willen

und den dauernden Bedürfnissen der Nation Rechnung tragenden Regierung zu gewinnen.

Das konstitutionelle System, wie es bei uns allein durch­

führbar und in den letzten Jahrzehnten thatsächlich mehr und mehr ent­

wickelt ist, beruht auf dem sachlichen Ausgleich zwischen Regierung und Volksvertretung.

Diesem Ausgleich können starke Reibungen vorausgehen,

und der Sieg kann der einen und der anderen Seite zu Theil werden,

je nachdem die eine oder die andere Seite die Idee und den historischen

Beruf des Staats mit klarerer Erkenntniß vertritt.

Hätten wir in den

Jahren 1860 bis 1866 die parlamentarische Regierung gehabt, so würde die Armeereform nicht durchgesetzt und der Krieg

geführt worden sein.

mit Oesterreich nicht

Wir hätten heute kein Reich, und kein vergrößertes

Preußen als das feste Rückgrat des Reichsorganismus.

Das Bewußtsein

von der Aufgabe des Staats oder wenigstens von den für Lösung dieser Aufgabe nothwendigen Mitteln und Wegen, war lebendiger bei der Krone und ihren,

sogar im Gegensatz zu den parlamentarischen Parteien ge­

wählten Rathgebern, als bei den Parteien selbst.

Wohl aber waren die­

selben Rathgeber unmittelbar nach den größten äußeren Erfolgen genöthigt, nun die Verständigung mit der Volksvertretung zu suchen, wenn sie ihr

638 Werk

Parlamentarisches und constitutionelleS System.

abschließen und dauernd sichern wollten.

Noch weniger werden

spätere Regierungen, denen nicht der Glanz gleich hoher Erfolge zur Seite steht,

die Gegnerschaft der parlamentarischen Mehrheit dauernd ertragen

können.

Sie werden auch bei sonst legalem Verhalten zurücktreten müssen,

wenn sie die parlamentarische Unterstützung nicht finden, aber die Zu­

sammensetzung jedes neuen Ministeriums wird für absehbare Zeit nur

aus dem Willen der Krone und nicht aus den Berathungen der Partei­ führer hervorgehen können.

Es ist kein geringes Verdienst unserer Schrift,

diese Gedanken einmal schlicht und klar und ohne Rücksicht auf die Un­

popularität derselben in manchen liberalen Kreisen dargelegt zu haben. „Dieses (constitutionelle) System, so schließt Dr. Jolly seine Betrachtungen,

ist freilich noch weit entfernt von der Vollendung seines inneren Ausbaus,

welche erst aus der Arbeit und den Ueberlieferungen vieler Generationen Hervorgeyen wird.

Wir sind aber doch seit der Gründung des Reichs ent­

schieden und mit Erfolg in seinen Bahnen gewandelt, und wenn mau nach seinem Maaßstab und ohne beirrende Seitenblicke auf das parlamentarische

Regierungssystem mißt, wird ein großer Theil des, wie sich nicht läugnen läßt, jetzt vorhandenen Misbehagens und der Klagen, für die Zukunft sei

nichts vorbereitet, als unbegründet erscheinen.

Eine Vorbereitung des

parlamentarischen Regierungssystems ist unmöglich, und es ist unter allen Umständen unvermeidlich, daß wir eine ungeheure Lücke empfinden werden,

wenn wir einmal die Kraft des Reichskanzlers entbehren müssen.

Er hat

uns aber doch auf den richtigen Weg gewiesen, und er hat, indem er den Reichstag zum Pfleger und Vertreter des nationalen Gedankens machte,

demselben ein politisches Machtmittel ersten Ranges in die Hand gegeben, das für unsre Zeit von weit größerer und jedenfalls für unser Volk glück­ licherer Wirksamkeit ist als die heute nicht mehr anwendbare mittelalterliche Subsidienbewilligung."

Zur inneren Lage am Jahresschlüsse. Wenn dereinst ein Historiker mit wissenschaftlicher Ruhe auf das erste Jahrzehnt unserer neuen Reichsgeschichte zurückschaut, so wird er ver­

muthlich nicht ohne Verwunderung bemerken, wie schnell diese Zeit den Lärm und die Entrüstung ihrer innerer Kämpfe immer wieder vergessen

und überwunden hat.

Schon heute bedürfen wir einiger Anstrengung um

uns in die fieberische Erregung zurückzuversetzen, welche einst das Pausch­ quantum, das militärische Septennat und die Annahme der Justizgesetze

in der liberalen Welt hervorriefen.

Ueber jenen unheimlichen Franken-

steinschen Antrag, der im Sommer des vorigen Jahres mit einem Auf­

schrei patriotischen Zornes empfangen ward, urtheilen gegenwärtig alle Besonnenen, daß er zwar unser Reichsrechnungswesen unnöthigerweise er­ schwert, aber ernste politische Nachtheile nicht hcrbeigeführt hat.

minder

leidenschaftlich

begrüßte

kirchenpolitische Vorlage

des

Die nicht

jüngsten

Sommers hat im Abgeordnetenhaus eine nach allen Seiten hin unbe­

denkliche Umgestaltung erhalten. Noch schneller sogar ist der Lärm verstummt, den vor einigen Monaten

die Secession mehrerer namhafter Mitglieder der nationalliberalen Partei erregte.

Die Theilnahme deö Volks an diesen häuslichen Händeln der

parlamentarischen Fractionen hat ohnehin niemals einen mäßigen Wärme­ grad überschritten; sie schien nur eine Zeit lang stärker als sie war, weil

die Secessionisten in den Kreisen der Presse einen unverhältnißmäßig zahl­

reichen Anhang besitzen.

Inzwischen hat sich die Aufregung längst gelegt.

Jedermann fühlt, daß die Secession zu spät erfolgt ist und darum politisch ebenso unfruchtbar bleiben wird wie alle die anderen rettenden Thaten des neuen Oberbürgermeisters von Berlin, wie die Erhebung des deut­ schen Bürgerthums im Zoologischen Garten, die Notabeln-Erklärung zu

Gunsten der Juden u. s. w.

Wären die der Fortschrittspartei verwandten

Elemente der nationalliberalen Partei schon vor zwei Jahren aus der

Fraction ausgeschieden, so

hätte ihr Austritt sehr segensreiche Folgen

haben können; er konnte damals vielleicht bewirken, daß der neue Zoll­ tarif unter Mitwirkung der Nationalliberalen, also ohne allzu starke Zu-

Zur inneren Lage am Jahresschlüsse.

640

geständnisse an die strengen Schutzzöllner, zu Stande kam und der Bruch

zwischen dem Reichskanzler und den gemäßigten Liberalen ganz vermieden wurde.

Heute hat uns die Secession nur mit einer neuen kleinen Fraktion,

die nicht leben und nicht sterben kann, beschenkt.

Diese neue Gruppe mag

vielleicht mit Hilfe der Fortschrittspartei in den Seestädten und überall

dort wo augenblicklich eine unbestimmte Verdrießlichkeit vorherrscht einige

Wahlsitze gewinnen, aber einen Umschwung des Parteilebens kann sie nicht

herbeiführen.

Schon darum nicht, weil unterdessen ein neues Geschlecht

herangewachsen ist, dessen politische Gesinnung einem großen Theile un­

serer Berufspolitiker ganz unbekannt geblieben scheint. Unsere jungen Männer denken zum Theil radikaler, zum anderen

Theile konservativer als der Durchschnitt der Vierzig- und Fünfzigjährigen.

Sie kennen kaum noch jenen verstimmten Doktrinarismus, der uns Aelteren einst daS Dasein verdüsterte.

In die entscheidenden Jahre ihres Lebens

fiel der Anbruch der deutschen Einheit.

An dieser mächtigen Erfahrung

messen sie, bewußt oder unbewußt, alle Erscheinungen der Gegenwart.

Wer unter ihnen daS neue deutsche Reich als ein Gebilde der rohen Ge­

walt betrachtet, verfällt unvermeidlich einem handfesten Radikalismus und verachtet die „elende Mäßigung" der Secefsionisten wie der FortfchrittSmänner.

Wer aber hoffnungsvoll auf dem Boden der neuen Ordnung

steht — und diese Gesinnung ist Gott sei Dank unter unserer Jugend

weit verbreiteter als der radikale Pessimismus — der wird auch die Noth­ wendigkeit einer starken Reichsgewalt lebhaft empfinden; er wird, gleich-

giltig gegen den Streit der alten Fraktionen, vor Allem an die neuen Aufgaben denken, welche der Ausbau unserer unfertigen Einheit an die deutsche Staatskunst stellt.

Unter diesen Aufgaben ist augenblicklich keine so dringend wie die Vollendung der Reform des Reichsfinanzwesens.

Wer sich diesem Werke

versagt handelt als ein Reaktionär, mag er sich immerhin mit liberalen Schlagworten brüsten.

Ueberall, an den Höfen wie im Volke, erhebt der

PartikulariSmuS wieder sein Haupt.

Die Aussicht auf Erleichterung der

direkten Steuern, wie erfreulich sie auch den Wählern scheinen mag, be­

deutet wenig neben der politischen Nothwendigkeit den Einzelstaaten eine wohlthätige, willig ertragene Abhängigkeit aufzuerlegen, sie mit ihrem

ganzen Haushalt unzertrennlich an den Bestand des Reichs anzuschließen. Der nächste Reichstag kann sich der Bewilligung neuer indirekter Steuern nicht entziehen, wenn der BundeSrath nur mit einiger Klugheit das un­ berechenbare Durcheinander des heutigen FractionStreibenS berücksichtigt und nicht durch das Einbringen unannehmbarer Vorschläge die Stimmung

des Hauses von vornherein verdirbt.

Zur inneren Lage am Jahresschlüsse.

641

Da die Ausgaben des Reichs, der Einzelstaaten und der Gemeinden beständig und unaufhaltsam wachsen, so muß sich jeder ehrliche Patriot

selbst sagen, daß die Steuerreform nicht eine Ermäßigung der Abgaben, sondern nur eine gerechtere Vertheilung der Steuerlasten, und dadurch

mittelbar eine Erleichterung für die Pflichtigen herbeiführen kann.

Weder

die Börsensteuer noch die Bier- und Branntweinsteuer wird bei der be­ sonnenen Mehrheit des Reichstags einem grundsätzlichen Widerspruche be­

gegnen, falls die Entwürfe der Regierung technisch brauchbar sind.

Dagegen erscheint der Plan einer Wehrsteuer, der in halbamtlichen

Blättern vielfach besprochen worden ist, als gänzlich unannehmbar.

Daß

ähnliche Einrichtungen in anderen Staaten bestehen, beweist für uns gar

nichts.

Der Gedanke der Wehrsteuer ist durch und durch unpreußisch, er

widerspricht dem Charakter unseres Staates, der niemals, so lange er be­

steht, eine Abkaufung der allgemeinen Bürgerpflichten geduldet hat.

Unser

Wehrgesetz geht von dem Grundsätze aus, daß der Dienst im Heere ebenso

sehr eine Ehre als eine Pflicht ist.

Mag dieser idealistische Grundsatz

auch von Tausenden der Pflichtigen nicht anerkannt werden, der Staat

kann und darf ihn nicht aufgeben.

Erklärt die Staatsgewalt erst: „wer

nicht dient, der zahlt", so zieht das Volk über lang oder kurz den Schluß:

„wer zahlt, der dient nicht".

Der Staat selber fordert dann alle Leicht­

sinnigen und Gewissenlosen zur Umgehung des Gesetzes heraus, da Jeder sich beruhigen kann bet dem bequemen Troste: ich zahle ja meine Wehr­

steuer.

Diese Gefahr liegt sehr nahe, namentlich in den kleinen deutschen

Staaten, wo das alte System der Stellvertretung noch nicht vergessen ist.

Die heutige Ordnung beruht ferner auf der Ansicht, daß der völlig ge­ sunde Mann im Durchschnitt glücklicher ist und sich leichter durch das

Leben schlägt als der gebrechliche und schwache.

Diese Ansicht trifft, wie

Jedermann weiß, in unzähligen einzelnen Fällen nicht zu, aber als allge­ meine Regel ist sie unbestreitbar richtig.

Die entgegengesetzte Meinung,

die einen Unterschied des LebenSglückS zwischen Gesunden und Gebrech­

lichen nicht anerkennen will, gehört einfach in die verkehrte Welt. Hunderte junger Männer würden mit Freuden ihrer Dienstpflicht genügen , wenn sie sich nur des unschätzbaren Glückes vollkommener Gesundheit erfreuten.

Darf der Staat diese Jünglinge nebst ihren Eltern mit einer Geldstrafe belegen, weil sie beim besten Willen ihre Bürgerpflicht nicht zu erfüllen vermögen?

Und wo ist die Grenze zwischen den Körpergebrechen, welche

den bürgerlichen Erwerb erschweren, und jenen, die nur als kleine Be­

lästigungen empfunden werden?

Wenn der Staat heute nicht im Stande

ist alle Wehrfähigen unter die Fahne zu rufen, so weicht er nur vor einer

physischen Unmöglichkeit zurück und verzichtet nicht auf die Hoffnung, den

642

Zur inneren Lage am Jahresschluffe.

Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht im Laufe der Jahre vollständiger

als bisher zu verwirklichen.

Besteuert er aber Alle die nicht dienen, so

durchlöchert er selber die Grundlagen unseres Heerwesens.

Die Wehr­

steuer ist nichts anders als eine unbillig hohe und musterhaft ungerecht vertheilte Einkommensteuer.

Sie würde grade unter den besten Deutschen,

die eS ernst nehmen mit der Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten, einen tiefen, wohlberechtigten Unmuth Hervorrufen, der schwerer in's Ge­ wicht fiele als die Vermehrung der Einnahmen des Reichs.

Reichsregierung diesen

Wenn die

durchaus ungesunden Gedanken fallen

darf sie mit einiger Sicherheit

auf

die

läßt, so

stetige Weiterentwicklung des

Steuerreformwerks rechnen.

Auch der Plan des Reichskanzlers, die Socialdemokratie durch die Befriedigung der gerechten Wünsche des Arbeiterstandes zu entwaffnen, darf auf die Zustimmung aller Unbefangenen zählen.

Wir besitzen ein

Beamtenthum, das an Ehrlichkeit und Sachkenntniß keinem auf der Welt

nachsteht.

Darum scheint selbst die gleichmäßige Regelung des Arbeiter-

Versicherungswesens, die in den meisten anderen Ländern als eine Utopie

belächelt wird, in Deutschland nicht unausführbar. Je länger wir uns des Segens der nationalen Einheit erfreuen, um so schmerzlicher wird empfunden, wie weit unser sociales Leben hinter der politischen Machtstellung des neuen Reichs zurückgeblieben ist.

Sogar die

vielgerühmte Blüthe des deutschen Handels erscheint in anderem Lichte,

sobald wir wahrnehmen, daß

nur etwa ein Drittel

(39 Procent des

Werthes) der außereuropäischen Produkte, welche Deutschland verzehrt, uns in direktem Verkehre zugeführt wird.

Fast zwei Drittel vom Werthe dieser

Waaren empfangen wir durch die Vermitelung des Auslands, namentlich

Hollands und Belgiens.

Jahraus jahrein senden wir nach den belgischen

und holländischen Plätzen eine Schaar unserer tüchtigsten Kaufleute, die dann in der zweiten Generation allesammt zu Ausländern werden. solcher Zustand ist schimpflich für ein großes Volk.

Ein

Er wird, unter den

heutigen Verkehrsverhältnissen, lediglich noch durch die Macht einer alten schlechten Gewohnheit aufrecht erhalten. Er kann, da der Mehrzahl unserer

Kaufleute ein starker Nationalstolz gänzlich fehlt, schlechterdings nur be­ seitigt werden durch den Zwang des Staates.

Wir brauchen, nach dem

Vorbilde vieler anderer Staaten, einen Unterscheidungszoll auf die indi­ rekte Einfuhr außereuropäischer Waaren, damit unsere großen binnenlän­

dischen Handelsplätze gezwungen werden, mit der transatlantischen Welt in unmittelbaren Verkehr zu treten und auf die Vermittlung des Aus­

lands, die den Handel nur unnöthig vertheuert,

endlich zu verzichten.

Eine nationale Handelspolitik großen Stiles ist aber unmöglich, so lange

Zur inneren Lage am Jahresschluffe.

das Reich über seine beiden größten Häfen noch nicht gebietet.

643 Möge sich

die Bürgerschaft von Bremen und Hamburg endlich ihrer Pflichten gegen das Reich und — der alten Fabel von den sibyllinischen Büchern erinnern.

Noch ist es Zeit, durch freien Entschluß eine unnatürliche Ausnahme­

stellung aufzuheben,

die von der ungeheuren Mehrheit der Nation mit

täglich wachsendem Unwillen betrachtet wird.

Will man durchaus den

Buchstaben der Reichsverfassung gegen ihren Geist in's Feld führen, so wird zwar daS Reich keine widerrechtliche Gewaltthat versuchen, aber die

steigende wirthschaftliche Bedrängniß wird in einigen Jahren erzwingen,

was heute unter günstigeren Bedingungen zu erlangen ist. Eine lehrreiche Schrift von Hübbe-Schleiden*) hat soeben den be­

schämenden Nachweis geführt, daß wir Deutschen zwar die besten Kauf­ leute der Welt in alle Häfen des Erdballs auSschicken, aber als Nation

an der großen gemeinsamen Aufgabe der modernen Culturvölker, an der

Arbeit der expansiven Civilisation noch gar keinen Antheil genommen haben und darum Gefahr laufen bei der Theilung der Erde gänzlich leer aus­

zugehen.

Deutschland wird immer wesentlich eine europäische Macht und

eine Landmacht bleiben.

Darum scheint eS doch keineswegs nothwendig,

daß unsere unaufhaltsame massenhafte Auswanderung auch in Zukunft, wie

bisher, dem Vaterlande schlechthin verloren gehe.

Es muß möglich sein,

die beklagenswerthen Versäumnisse dreier Jahrhunderte theilweis wieder

einzubringen und den überschüssigen Kräften unseres Volkes eine Stätte anzuweisen, wo sie der deutschen Sprache und Sitte und vielleicht auch

dem deutschen Staate erhalten bleiben.

Daran schließt sich die andere

Aufgabe, der deutschen Flagge ein reiches Pflanzungsland in den Tropen zu gewinnen und es durch unser Capital für den Weltverkehr nutzbar zu

machen.

Ganz ohne überseeischen Besitz wird Deutschland seiner Armuth

nie entwachsen. Neben solchen großen Problemen deutscher Zukunftspolitik erscheint der neu auflodemde Judenstreit nur als daS traurige Vermächtniß einer

langen Epoche erschlafften Nationalstolzes und unsicherer religiöser Em­ pfindung.

ES ist unsere Schuld, daß daS Judenthum in Deutschland sein

Stammesbewußtsein so herausfordernd zur Schau trägt wie in keinem an­

deren großen Staate.

Was wir über den leidigen Streit zu sagen wußten

ist in diesen Blättern schon vor einem Jahre ausgesprochen worden. Heute genügt es die Thatsache zu constatiren, daß die „Judenfrage" in der That

vorhanden ist.

Eine so leidenschaftliche Aufregung, wie sie in den jüngsten

Wochen die deutsche Hauptstadt durchzitterte, kann kein Agitator künstlich *) Dr. Hübbe-Schleiden, Hamburg 1881.

Ueberseeische Politik,

eine

cultnrwissenschaftliche Studie.

644

Zur inneren Lage am Jahresschluffe.

Hervorrufen.

Die zweitägige Debatte des Abgeordnetenhauses, welche der

blinde philosemitische Eifer der Fortschrittspartei veranlaßte, hat die gegen­

seitige Erbitterung nur gesteigert; die beiden gemäßigten Mittelparteien

bewahrten dabei ein beredtes Stillschweigen, weil sie kein Oel in'S Feuer gießen wollten und doch fühlten, daß viele der Anklagen gegen die an­

maßende Haltung des deutschen JudenthumS wohlbegründet sind.

Die

Regierung hat sich bisher weder mittelbar noch unmittelbar über diese Bewegung ausgesprochen; an den Irrfahrten jenes Kometen, der in den

Grenzboten zuweilen von der geraden Straße des einfachen Menschenver­ standes abzuschweifen liebt, ist der Reichskanzler gänzlich unschuldig, wie jeder

Halbwegs Kundige weiß.

Der Minister deS Innern begnügte sich mit der

selbstverständlichen Versicherung, daß die Regierung nicht beabsichtige die bestehenden staatsbürgerlichen Rechte aufzuheben; und er that recht daran, denn die Staatsgewalt soll nur reden wenn die Zeit des Handelns gekommen

ist, und noch ist nicht abzusehen, wie der Staat irgend etwas zur Aus­

gleichung der unverkennbar vorhandenen Mißstände thun soll.

An die Zu­

rücknahme der Emancipation denkt, wie die Landtagsverhandlung gezeigt hat, kein irgend einflußreicher Politiker.

Die Beschränkung der jüdischen

Einwanderung wäre nur ein wenig wirksames Palliativ.

Noch unglück­

licher erscheint der Vorschlag, den Gerichten, wie den OffizterScorps, daS Recht der Cooptation zu verleihen, damit die Ueberzahl der jüdischen Re­ ferendare vermindert werde.

Unseren Gerichten fehlt die strenge militärische

MannSzucht und Verschwiegenheit; auch ist daS CooptationSrecht für Be­ hörden, welche eine obrigkeitliche Gewalt ausüben, aus naheliegenden poli­

tischen Gründen hochbedenklich. ES liegt allein in den Händen der bürgerlichen Gesellschaft, und na­ mentlich der Juden selbst, die vorhandene, nicht mehr abzuleugnende Ver­

stimmung allmählich zu beseitigen.

Die Erlebnisse der jüngsten Monate

berechtigen aber leider keineswegs zu der Vermuthung, daß die deutschen Juden bereit seien sich mit ihren christlichen Mitbürgern ehrlich zu ver­

söhnen.

Viele von ihnen haben jedes noch so maßvolle mahnende Wort,

daS ihnen zugerufen ward, mit wüthenden Schmähreden beantwortet; sie

haben daS Judenlhum der ausländischen Presse gegen ihre deutschen Lands­ leute in'S Feld gerufen; sie haben offenbaren Terrorismus geübt — denn wie anders sollen wir es nennen, wenn man versuchte, einen ehrenwerthen

Breslauer Gymnasiallehrer seines Amte- zu entsetzen, lediglich weil er eine

den Juden unbequeme, aber durchaus gesetzliche Petition unterschrieben hatte?

Sie haben sogar in mehreren

Städten,

in Breslau, Halle,

Eisenach sich gradezu verschworen zur Schädigung christlicher Mitbürger, die ihnen mißliebig waren.

Und eben jetzt veröffentlicht ein deutscher Jude,

645

Zur inneren Lage am Jahresschluffe.

der offenbar

zu den sogenannten Gebildeten gehört, die nichtswürdige

Schrift Ben Sirah Militans, ein Machwerk, das von gemeinen Lästerungen gegen die „drei Götter" de» Christenthums trieft!

Ordnung,

wenn das Vaterland Luthers und

Journalisten als wird?!

Oder ist es in der

Goethes von jüdischen

„die Heimath RodenbergS und Auerbachs" angeredet

Sieht man denn nicht, daß man auf diesem abschüssigen Wege

endlich dahin gelangen muß, die längst vollzogene Emancipation wieder in Frage zu stellen?

DaS stärkste Argument der Gegner der Emanci­

pation war doch immer dieses: „die Juden sind und bleiben eine Nation

für sich; gewähren wir ihnen alle staatsbürgerlichen Rechte, so werden sie einen Staat im Staate bilden".

Schreitet das Judenthum weiter auf

der neuerdings betretenen Bahn, dann werden wir diesen jüdischen Staat

im Staate noch erleben, und dann müßte sich unter den Christen unfehlbar der Ruf erheben: hinweg mit der Emancipation! Wer unter unseren jüdi­ schen Mitbürgern sich schlechtweg als ein guter Deutscher fühlt, sollte heute

allen seinen Einfluß aufbieten um seine Glaubensgenossen vor einer ge­ fährlichen Ueberhebung und Absonderung zu warnen.

Sonst kann unser

Boden vielleicht noch rohe Ausbrüche unheimlichen Hasses sehen, die den

Deutschen, den Christen wie den Juden, nicht zur Ehre gereichen würden. —

10. December.

Heinrich von Treitschke.

Von Dulcigno nach Athen. (Politische Correspondenz.)

Berlin, 4. December 1880. Nachdem in der Nacht vom 25. auf den

Dulcigno ist übergeben.

26. November zwischen dem türkischen und montenegrinischen Bevollmächtigten die auf die militärischen Maßnahmen bezügliche Convention unterzeichnet worden, haben die

montenegrinischen Truppen Stadt und Gebiet von

Dulcigno in Besitz genommen.

Der Sultan hat somit das am 10. Oc­

tober den Großmächten gegebene feierliche Bersprechen, Dulcigno bedin­

gungslos zu übergeben, in loyaler Weise erfüllt.

Die Probe, auf welche

seit jenem Tage die Geduld der europäischen Diplomatie gestellt worden

ist, mag als eine nicht ganz unverdiente Buße für die zweckwidrigen Dro­ hungen betrachtet werden, mit denen die Mächte seit der Berliner Conferenz

die Türkei gedrängt haben.

Nachdem der Sultan sein Wort eingelöst hat,

kann Niemand daran zweifeln, daß die Mächte der in der Note vom 10. October ausgedrücktcn Hoffnung des Sultans entsprechen und von

weiteren Flottendemonstrationen Abstand nehmen.

In der That,

das

internationale Geschwader ist im Begriff, seine von Tag zu Tag uner­ träglicher werdende Observationsstellung in der Bucht von Cattaro auf­ zugeben.

Die äußerliche Entwickelung der Dulcigno-Angelegenheit in den letzten Monaten war wesentlich bestimmt durch die Haltung der drei zunächst betheiligten Faktoren, Montenegro's, der Türkei und der Albanesen.

Von

dem Augenblick an, wo die Türkei sich verpflichtete, Stadt und Gebiet nicht zu räumen, sondern an Montenegro auszuliefern, bedurfte es einer

directen Verständigung der beiderseitigen Behörden über die Modalitäten der Uebergabe und der Uebernahme; die Regelung dieser an sich so ein­ fachen Verhältnisse complicirte sich in Folge der räthselhaften Haltung der

muhamedanischen Albanesen, die seit zwei Jahren bald in offener, bald in

geheimer Uebereinstimmung mit der Pforte die Erledigung der montene­ grinischen Greuzfrage verhindert haben.

Werden die Albanesen, fragte

647

Bon Dulcigno nach Athen.

man in Cettinje, gutwillig und endgültig auf das von ihnen mit Recht

oder mit Unrecht beanspruchte Gebiet Verzicht leisten oder nur mit dem Vorbehalt, nach dem Abzug der türkischen Truppen den verhaßten Montene­

grinern den neuen Besitz streitig zu machen? Wird die Pforte oder, wenn

diese sich weigert, werden die Großmächte eine Garantie dafür übernehmen,

daß die neue Grenze von den Albanesen respectirt wird? Begreiflicher

Weise hatte Montenegro wenig Neigung, mit Dulcigno die Last der

unversöhnlichen Feindschaft der an Tapferkeit oder wenigstens Raublust hinter den Söhnen der schwarzen Berge mindestens nicht zurückstehenden

Albanesen zu übernehmen. Diese

in der Sache selbst liegenden Schwierigkeiten lassen eS be­

greiflich erscheinen, wenn die Großmächte angesichts der bestimmten Zusage

der Pforte temporisirten.

Die Passivität der Mächte beruhte aber nicht

ausschließlich auf Erwägungen der Opportunität; sie war die natürliche Folge des Widerstreites zwischen den Interessen der Großmächte selbst. Nicht

die Erklärung des Sultans, daß er gewillt sei, Dulcigno nebst Gebiet

bedingungslos an Montenegro zu übergeben, hat das viclgerühmte „euro­ päische Concert" gesprengt, sondern die Weigerung Frankreichs, über die

Demonstrationspolitik hinauszugehen und die Gladstone'schen Phantasien von der Blockirung Smhrna'S sich anzueignen.

Da aber war eS das

eigenste Interesse der Pforte, durch schleuniges Entgegenkommen in der

Dulcigno-Angelegenheit die Höfe von Berlin und Wien in dem Wider­ stände gegen die englischen Zumuthungen zu bestärken.

Mit der Ueber-

gabe Dulcigno's wird die Flottendemonstration gegenstandslos.

Für die­

jenigen Mächte also, welche die Flottendemonstration anläßlich der Mon­ tenegrinischen. Grenzfrage nicht als Selbstzweck,

sondern als Einleitung

zu einer Action in großem Styl in Scene gesetzt hatten, bestand ein sehr klares Interesse, der Pforte die Erfüllung ihrer Zusage zu erschweren und, wenn thunlich, unmöglich zu machen.

Selbstverständlich mußte sich die­

jenige Macht, deren Einfluß auf den Gang der Dinge der unmittelbarste war, aus taktischen Rücksichten die größte Reserve auferlegen.

Aber alle

äußerliche Zurückhaltung kann die Thatsache nicht vergessen lassen, daß

der Fürst von Montenegro trotz der ihm von Europa im Berliner Ver­ trag garantirten Selbstständigkeit und Unabhängigkeit nichts anderes ist,

als ein Vasall Rußlands und daß die russischen Rathschläge in Cettinje

die Wirkung von Befehlen haben.

In der That gefiel sich Montenegro

bei den Verhandlungen mit der Pforte über die Uebergabe - Convention

in der seltsamen Rolle eines Staates, der sich mit allen erlaubten und, wenn es nicht anders geht, auch mit unerlaubten Mitteln gegen eine ihm

aufgedrungene lästige Gebietserweiterung

zu schützen sucht.

Seit zwei

Bon Dulcigno nach Athen.

648

Jahren droht Montenegro den Mächten,

nicht der Pforte,

mit einem

Kriege gegen die Türkei; in dem Augenblick aber, wo eS Halbwegs Aus­

sicht hatte, Dulcigno auf friedlichem Wege zu erlangen, verlangt es eine

Garantie der Congreßmächte für den ruhigen Besitz des neuen Gebietes. Und während Montenegro kein Mittel scheute, die Verhandlungen mit

dem türkischen Oberbefehlshaber in die Länge zu ziehen, war es die ita­ lienische Diplomatie, die in Constantinopel einen neuen Versuch machte,

die Action der Großmächte wieder in Gang zu bringen, indem sie der Botschafter-Conferenz vorschlug, der Pforte einen letzten Termin für die

Uebergabe Dulcigno's zu stellen.

Begreiflicher Weise weigerten sich Deutsch­

land, Oesterreich und Frankreich, in diese Falle zu

gehen und so

be­

gnügten sich die Mächte mit einer Ermahnung an die Pforte, endlich ihre

Zusage zu erfüllen.

Montenegro

indessen setzte seine Verschleppungs­

politik, zu der ihm bald die Haltung der Türkei, bald diejenige der Alba­

nesen die Vorwände lieferten, unbeirrt fort, selbst dann noch, als Mr. Gladstone, die Frucht dieses Mangels an Loyalität fürchtend, zur An­

nahme der Vorschläge der Pforte rieth.

Rußland wollte aber die Hoff­

nung noch nicht aufgeben, wenn nicht die Großmächte, so doch wenigstens England auf den Pfaden der Jnterventionspolitik festzuhalten.

Mit einer

etwas drastischen Wendung könnte man sagen: nicht „Europa" wartete auf

die Erfüllung der Versprechungen der Pforte, sondern die Pforte wartete,

daß Montenegro und die Mächte ihr die Uebergabe Dulcigno's möglich machten.

DaS ist ja eben das Charakteristische des ganzen Zwischenfalls, daß die Pforte erst in dem Augenblicke sich ihrer moralischen Verantwortlich­

keit für die Erledigung der Dulcignofrage bewußt wurde, in dem das

auf eine gemeinsame Action berechnete

Brüche ging.

„europäische Concert"

in

die

Den identischen Noten der Großmächte und der Flotten­

demonstration hat die Pforte Monate lang bald in milderer, bald in schrofferer Form ihr non possumus entgegengesetzt, bis sie endlich in

dem Rundschreiben vom 4. October die kategorische Erklärung abgab, sie würde Dulcigno nur unter der Bedingung ausliefern, daß die Groß­ mächte ausdrücklich und für alle Zukunft auf die Androhung von Gewalt­ maßregeln Verzicht leisteten. Der englische Staatssekretär deS Auswärtigen,

Lord Granville, hat vor einigen Tagen in einer liberalen Versammlung

in Hanley eine Rede zur Vertheidigung der Gladstone'schen Politik der

letzten sechs Monate gehalten, die, wenn man sich nicht mit dem Nach­ sagen von Schlagworten begnügt, trotz aller Entstellungen der Thatsachen,

die entschiedenste Verurtheilung jener Politik enthält.

Das türkische Rund­

schreiben vom 4. October nennt Lord Granville eine Herausforderung,

Bon Dulcigno nach Athen-

649

eine Beleidigung Europa'S und fährt dann fort: „Jetzt erging an uns die

Aufforderung (von wem?), die Initiative zu ergreifen, und so schlugen

wir vor, eine materielle Garantie zu nehmen (d. h. die Zolleinnahmen

von Smyrna mit Beschlag zu belegen), welche durch maritime Operationen zu erlangen war, einen großen Druck auf die Türkei auSüben mußte und nicht im Geringsten mit türkischem oder europäischem Handel collidirt haben würde.

Rußland, Frankreich und Oesterreich billigten den Plan; letzteres

schlug sogar die zu ergreifenden Mittel vor und bot seine Consularunter-

stützung an, weigerte sich aber an der Flottendemonstration Theil zu nehmen.

Als dies bekannt wurde, erklärte Frankreich, daß das Fern­

bleiben Oesterreichs die Umstände gänzlich verändere und eS deshalb zurücktrete. Deutschland that das Gleiche.

Noch standen uns andere Aus­

wege offen, als der Sultan plötzlich das kategorische Versprechen ertheilte, daß die Dulcignofrage unverzüglich gelöst werden solle."

Wie diese plötz­

liche Sinnesänderung des Sultans zu erklären ist, verschweigt Lord Gran­ ville, aber jeder Zeitungsleser weiß, daß sie das Resultat einer Audienz

war, welche der Sultan den Botschaftern Deutschlands und Frankreichs ertheilt hatte.

Nicht den Drohungen

des unter der Aegide Englands

wirkenden „europäischen Concerts", sondern den Zureden der entschiedenen Widersacher der Gladstone'schen Einmischungspolitik gelang es, den Sultan

zur Nachgiebigkeit zu bestimmen.

Die gerühmte Flottendemonstration,

durch welche Europa der Türkei seine Solidarität beweisen sollte, war

eben von vornherein nichts als eine offenbare Lüge.

Deutschland und

Oesterreich haben sich, wie Freiherr von Haymerle in der letzten Session

der Delegationen eingestand, an dieser Spiegelfechterei nur betheiligt, um

in ihrem Sinne das „europäische Concert" aufrecht zu erhalten, d. h. um die Schritte Gladstone'S zu controliren.

Und darüber war man in Con-

stantinopel natürlich nicht schlechter unterrichtet als anderswo.

Ueber die eigentlichen Beweggründe, welche die liberale Regierung gedrängt haben, auf dem Gebiete der Orientpolitik mit Lord Beaconsfield

zu wetteifern, hat Lord Granville in der oben erwähnten Rede eine An­ deutung gegeben, die wenigstens den Vortheil der Verständlichkeit hat.

„Bei unserem Amtsantritt", sagte Lord Granville, „absorbirte die orienta­

lische Frage alle übrigen Fragen.

Man sagte uns, daß Rußland durch

seine große Armee (!) den Weg nach Constanttnopel zu einem kurzen machen könne, daß Oesterreich, mit fester Sprache und gestützt auf seine ungeheure Militärstärke, für diejenigen Theile des Berliner Vertrages ein­

trete, welche sein besonderes Interesse besonders berührten, daß die mon­

tenegrinische, griechische und armenische Reformfrage seit zwei Jahren nicht wieder berührt worden seien.

Man versicherte uns, daß die alte türkische

Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLVI. Heft 6.

46

650

Sen Dulcigno nach Athen.

Beamtenwirthschaft fortdauere, in einigen Theilen der Türkei Christ und Muselmann im Zustande der Anarchie lebten,

die ottomanische Macht

nicht zu erhalten sei und eS sich einfach um Ruin oder Reform handle. Man sagte uns ferner, daß Englands Einfluß gänzlich erschöpft

sei und unsere energischsten Vorstellungen bei der Pforte gar nichts

Dieses

gefruchtet hätten.

war die officielle Information, welche man

uns bot." ES ist nicht ohne Interesse festzustellen, daß diese „officielle Infor­

mation" in einer seiner Zeit dem Parlament vorgelegten Depesche des englischen Botschafters in Constantinopel, Mr. Layard niedergelegt war,

der unter dem 27. April ausführlich über die Beziehungen Englands zur

Pforte und über die zeitweilige Lage der Türkei berichtete.

Mr. Layard,

der sich nebenbei rühmte, dem Sultan gegenüber eine Sprache geführt zu

haben, welche selten, wenn überhaupt jemals „an einen Souverain" ge­ richtet worden sei, kommt in seinem Bericht zu dem Schluß:

„Wenn wir

wirklich den Wunsch haben, dieses Land zu retten, aber gleichzeitig seine Verwaltung zu reformiren, so daß die Bevölkerung desselben gerecht und un­

parteiisch regiert wird, so müssen wir vorbereitet sein, über Drohungen

hinauszugehen."

Eine schärfere Kritik der Politik, welche Lord Beacons­

field in seinem Größenwahn der Türkei gegenüber befolgt hatte, ist aller­ dings nicht denkbar und man muß sagen, dieser große Staatsmann ist sehr zur rechten Zeit, für seinen Ruf nämlich, gestürzt worden.

Er war

in der glücklichen Lage, der liberalen Regierung das Geständniß zu über­ lassen, daß die pomphaft

verkündete Weltherrschaft Englands — die

Imperial ascendancy Englands — nichts sei als eine lächerliche und obendrein gefährliche Fiction.

Für diejenige Macht, welche nach der Ver­

sicherung der Beaconsfield, Salisbury rc. als Sieger den europäischen Congreß verlassen hatte,

war das Geständniß Layards, daß Englands

Einfluß in Constantinopel gleich Null sei und daß nichts mehr übrig bleibe,

als die Anwendung von

Gewalt, das denkbar beschämendste.

Mr. Layard freilich erklärte die Abwendung des Sultans von England in seiner Weise.

Die alttürkische Partei habe nach dem Kriege die Ober­

hand gewonnen und wolle nun die Türkei in ihrer Weise reformiren

Ob, da England einflußlos, eine andere Macht in Constantinopel ein­ flußreich sei, verschwieg Layard.

Der Hinweis Granville's auf Rußland

und Oesterreich ist nicht überzeugend, da diese beiden Mächte Rivalen sind.

helfen.

Der Gedächtnißschwäche Lord Granville's können wir leicht nach­ Der Staatssekretair des Auswärtigen hat seiner Zeit — es war

am 20. Juli d. I. — im Oberhause auf die Anfrage, ob die Gerüchte von

der Berufung deutscher Beamten und Offiziere nach Constantinopel be-

Bon Dulcigno nach Athen.

„das Gesuch um Ueberlassung deut­

gründet seien, die Antwort ertheilt:

scher Finanzbeamten scheine vom

651

Sultan vor etwa 5 Monaten (also

schon im Februar) an die deutsche Regierung gerichtet worden zu sein.

Gleichzeitig sei auch ein Gesuch wegen Ueberlassung deutscher Offiziere an die deutsche Regierung ergangen.

Dem Gesuch sei willfahrt worden,

weil es schon seit langer Zeit (!) Gebrauch der deutschen Regierung fei, Offiziere nach Constantinopel zu senden, indem der dortige Dienst als

eine gute Uebung für dieselben angesehen werde(!?). Welche Bewandtniß es mit diesen Gesuchen hatte, kann heute für Nie­ mand mehr zweifelhaft sein.

Während Lord Beaconsfield mit steigender

Heftigkeit die türkische Regierung bedrängte, während Mr. Lahard sich er­

dreistete, gegen den Sultan eine nach seinem eigenen Geständniß unerhörte Sprache zu führen,

hatte die Türkei wieder einmal,

wie so oft schon

seit 1870, ihre Blicke auf Deutschland, die jüngste aber nicht die kleinste

Militairmacht Europa's gerichtet und war dieses Mal nicht zurückgewiesen

worden.

Mit dem Sommer des Jahres 1879 waren die Rücksichten auf

Rußland weggefallen, welche den Fürsten Bismarck gehindert hatten, selbst­ ständig in die türkischen Dinge einzugreifen; der Abschluß deS deutsch­ österreichischen Bündnisses hatte die deutsche Politik auf der Balkanhalb­

insel direkt engagirt. Mit dem

Abschluß des deutsch-österreichischen Bündnisses ist die

Orientpolitik des deutschen Reichskanzlers in eine neue Phase getreten.

Die Voraussetzungen, von denen dieselbe bis zum Ausbruch des russisch­ türkischen Krieges geleitet wurde, hat Fürst Bismarck selbst seiner Zeit im Reichstage bezeichnet,

als er Rußland warnte,

das Dreikaiserbündniß

durch die Zumuthung an Deutschland zu sprengen, seine Freundschaft für

den russischen Nachbar durch die Hintansetzung des österreichischen Nach­ bars zu bethätigen. Im Grunde lag freilich schon in dieser Fragestellung

der Ausdruck deS Zweifels, ob eS möglich sein werde, die Prätentionen Rußlands mit den Interessen des österreichischen Kaiserstaates in Einklang zu setzen;

zugleich aber ein deutlicher Hinweis auf den Weg, den der

deutsche Reichskanzler gegebenen Falls zu gehen entschlossen war.

Im

Frühjahr 1878 betrachteten die russischen Politiker eS als selbstverständlich;,

daß

die deutsche Diplomatie vorbehaltlos für das Werk des General

Jgnatieff, den Präliminarvertrag von San Stefano eintrete; im Sommer

1879 bemächtigten sich der St. Petersburger Kreise eine fast zu Kriegs­

drohungen treibende Entrüstung, weil Deutschland sich weigerte, Oester­ reich in der Ausführung der auf Grund des Art. 25 des Berliner Ver­

trags geschlossenen Convention bezüglich der Occupation von Novtbazar zu hindern.

Wenn Fürst Bismarck der ersten Zumuthung den intorna-

46*

Don Dnlcigno nach Athen.

652

tionalen Charakter der russisch-türkischen Abreden, welche zahlreiche ein­

seitige Abänderungen der Bestimmungen des Pariser Vertrages enthielten,

gegenübersetzen konnte, so stand der zweiten Zumuthung die ausdrückliche Stipulation des unter dem Vorsitz des deutschen Reichskanzlers auf dem Berliner Congreß vereinbarten Vertrages entgegen, zu dessen Unterzeichnern nicht nur Oesterreich und die Türkei, sondern auch Rußland selbst gehört.

Die Schranke, welche der Berliner Vertrag der deutschen Politik Rußland gegenüber zieht, muß aber auch der Türkei gegenüber inne gehalten werden,

und diese Erkenntniß ist allem Anschein nach in Constantinopel erst allmählig und nach manchen bitteren Erfahrungen zum Durchbruch gelangt.

Allerdings war die Politik, für welche daS Ministerium Gladstone in erster Linie die Verantwortlichkeit trägt, keineswegs dazu angethan, diese

Erkenntniß zu beschleunigen.

Unter Berufung auf das Interesse Europa'S wandte sich Lord Gran­

ville in dem Rundschreiben vom 4. Mai an die Cabinette von Paris, Berlin, St. Petersburg, Wien lind Rom mit dem Vorschläge zu gemein­ samen Bemühungen behufs Ausführung einiger Bestimmungen des Ber­ liner Vertrags und bezeichnete als die zunächst in Betracht kommenden die griechische Grenzfrage, zu deren Erledigung bereits sein Vorgänger,

Lord Salisbury mit Zustimmung der übrigen Regierungen die Einsetzung einer internationalen Commission in Vorschlag gebracht hatte, welche an Ort

und Stelle die im Art. 24 des Berliner Vertrags in Aussicht genommene Grenzlinie festsetzen sollte, ferner mit Rücksicht auf den von Tag zu Tag zu

befürchtenden Zusammenstoß zwischen den Albanesen und Montenegrinern die montenegrinische Grenzfrage und endlich die armenische Reformfrage, unter

Berufung auf den Art. 61 des Berliner Vertrages, der die Pforte verpflichtete, die Reform der Verwaltung in den von den Armeniern bewohnten Pro­

vinzen sofort in die Hand zu nehmen, die Armenier gegen die Angriffe der Cirkassier und Kurden sicher zu stellen und der der Pforte die Pflicht aufer­ legte, von Zeit zu Zeit den Mächten Kenntniß von den zu diesem Zweck

ergriffenen Maßregeln zu geben.

fortige Erledigung

durch

Die Auswahl dieser Punkte, deren so­

eine gemeinschaftliche Pression der Vertrags­

mächte erzwungen werden sollte, war insofern sehr glücklich, als in den

beiden ersteren die Mächte sich schon bisher durch gemeinsame Schritte gebunden hatten und in der armenischen Frage die Mißachtung der ver­ tragsmäßigen Verpflichtungen seitens der Pforte eine geradezu eklatante

war.

Die Mächte waren also, so geringes Vertrauen sie in die Auf­

richtigkeit der englischen Diplomaten haben mochten, in die moralische Un­

möglichkeit versetzt, die Einladung Granville'S abzulehnen.

Nachträglich

hat ja auch der österreichische Minister deS Auswärtigen, Freiherr von

Von Dulcigno nach Athen.

653

Hahmerle vor den Delegationen das offene Gestiindniß abgelegt, Oester­ reich-Ungarn habe den englischen Vorschlag angenommen, weil keine Macht außer Acht lassen durfte, daß ihre Weigerung die Zustimmung der anderen

Mächte nicht verhindert haben würde.

Deutschland und Oesterreich-Ungarn

wählten das kleinere Uebel, indem sie sich der Action Gladstone's anschlossen mit dem stillschweigenden Vorbehalt, der englischen Diplomatie in den Arm zu fallen, wenn sie Miene machen sollte, nach dem Rathe Layard's „über bloße Drohungen hinauSzugehen". Gerade die Entwicklung der montenegrischen Grenzfrage hat bewiesen,

welche Bewandtniß eS mit

der plötzlichen Begeisterung Englands und

Rußlands für die sofortige und vollständige Ausführung der Stipulationen des Berliner CongreffeS hatte. Was die zärtliche Sorge Rußlands für

das Wohl der christlichen oder vielmehr der slavischen Völkerschaften der Balkan-Halbinsel bedeutet, haben wir erst neuerdings aus der Klage der

russischen Denkschrift über den letzten Krieg erfahren, „daß die Mächte im Jahre 1878 Rußland, die siegreiche Macht, welche allein einen Krieg christ­ licher Humanität mit allen Lasten und einer beispiellosen Selbstverleug­ nung unternommen hatte, nöthigten, als Angeklagter vor dem in Berlin

versammelten Congreß des europ äischen Uebelwollens zu erscheinen

und sein Werk der Aufopferung — den Vertrag von San Stefano — zerstücken und entstellen zu sehen." Damals hielten in der That die Groß­ mächte, England voran, eine Consolidirung der Verhältnisse auf der

Balkan-Halbinsel nur unter der Bedingung für möglich, daß der Einfluß

Rußlands auf die autonomen Balkanstaaten möglichst beschränkt oder wo

das nicht möglich, unter europäische Controle gestellt werde. Anderer­ seits sollte durch die Stärkung des Königreichs Griechenland ein Gegen­ gewicht gegen das Slaventhum geschaffen und eine Art Interessengemein­ schaft zwischen Griechenland und der Türkei angebahnt werden. Wenn Rußland sich trotzdem bereit finden ließ, auf der Berliner Conferenz für die Kräftigung Griechenlands einzutreten und durch einen Schiedsspruch

des europäischen Areopags die Grenzlinie festzustellen, deren Annahme der Türkei und Griechenland empfohlen werden sollte, so war das zu­ nächst eine Gegenleistung für die guten Dienste, welche England dem russischen Schützling in Cettinje und in der armenischen Reformfrage zu

leisten versprochen hatte. Eine weitere Erwägung war selbstverständlich die, daß die Türkei durch die Abtretung der fruchtbaren Gebiete von

Janina und Larissa eine erhebliche Schwächung erfahren werde. Aber diese Rücksicht reicht allein nicht aus, um die überraschende Thatsache zu erklären, daß der russische Bevollmächtigte auf der Berliner Conferenz

dem Protokoll des CongreffeS vom 13. Juli 1878, demzufolge die neue

654

Bon Dolcigno nach Athen.

Grenzlinie dem Thal des KalamaS und des Salamyryas folgen sollte, eine für Griechenland günstigere Auslegung zu geben beantragte.

Nach

diesem Vorschläge sollte im Nordwesten nicht der Flußweg des KalamaS bis zu der Quelle desselben die Grenze bilden, sondern die nördliche Wasserscheide d. h. eine Linie vom Cap Stylo bis zu den Quellen des

KalamaS.

Daß dieser Vorschlag über den Beschluß des Congresses von

Berlin hinauSgehe, konnte auch der russische Bevollmächtigte nicht in Ab­

rede stellen; aber nach der Ansicht der russischen Regierung sollte gerade ein Beschluß der Conferenz in diesem Sinne klar stellen, daß die Ent­ scheidungen deS Berliner CongresseS Europa nicht im Wege stehen dürften,

wenn eS sich darum handele, den Aspirationen der Bevölkerungen Rech­

Mit andern Worten: Rußland ging darauf aus, ein

nung zu tragen.

PräcedenS zu schaffen, auf welches es sich berufen könnte, um im geeig­

neten Momente Ostrumelien und Macedonien für den großbulgarischen Nach der Ablehnung seines Vorschlages tröstete

Staat zu reclamiren.

sich Rußland mit der Zuversicht, daß, wenn nicht schon die montenegrinische

Grenzfrage die Aera der Complicationen auf der Balkan-Halbinsel wieder eröffnen sollte, die Action der Großmächte in der griechischen Frage das

erwünschte Resultat um so sicherer herbeiführen werde.

Die Dulcigno-Angelegenheit verlief durchaus günstig im Sinne der englischen und russischen Politik bis zu dem Augenblick, in dem die Türkei mit seltener Entschlossenheit die Mächte vor die Entscheidung stellte, ob

sie von Worten zu Handlungen überzugehen gewillt seien. wußte,

Die Türkei

daß das europäische Concert an diesem Punkte in die Brüche

gehen werde.

Wer will eS ihr verdenken, daß sie immer lavirend es

vermied ihr Schiffletn der vollen Strömung der feindlichen Politik auS-

zusetzen; daß sie selbst in ganz nebensächlichen Punkten erst in dem letzten

gefährlich scheinenden Moment nachgab; immer aber besorgt, den Schein der Loyalität zu wahren und selbst den Gegner, der das Spiel durch-,

schaute, in die Unmöglichkeit zu versetzen, den Beweis dafür zu führen,

daß die Erfüllung der gemachten Zusagen nicht durch unüberwindliche Hindernisse

vereitelt,

zögert wurde.

sondern durch

Endlich,

Mangel

an gutem Willen

ver­

der drohenden Flottendemonstration gegenüber,

zog die Pforte sich hinter die widerspenstigen Albanesen zurück, die ent­

schlossen schienen, den Untergang dem schmachvollen Verzicht auf das seit Jahrhunderten ihrem Stamm gehörige Gebiet vorzuziehen.

So lange

Europa drohte, betheuerte die Pforte, daß sie doch unmöglich ihren Truppen

zumuthen könne,

zu Gunsten der ketzerischen Montenegriner Glaubens­

genossen Gewalt anzuthun.

Das war natürlich das beste Mittel, den

Uebermuth der Albanesen zu steigern, die gleichzeitig mit ihrer Unabhän-

655

Bon Dulcigno nach Athen.

gtgkeit

von der Pforte und

prahlten.

ihrer Ergebenheit dem Sultan gegenüber

Erst als die Jnterventtonöpolitik im Schlepptau Gladstone's in

Paris den letzten Halt verloren hatte, als die französische Regierung sich

nur mit Mühe dem Verlangen der öffentlichen Meinung, daS französische Geschwader aus dem adriatischen Meere zurückzurufen, Widerstand leisten konnte, erst da warf der Sultan die MaSke ab, und erklärte, er werde

Dulcigno überhaupt nicht übergeben, solange die Großmächte ihm jedes Entgegenkommen durch ihre Drohungen moralisch

unmöglich

machten.

Unter anderen Umständen wäre diese Provokation Europas ein Act des

Wahnsinns gewesen; von dem Augenblick an, wo Frankreich an der Seite Deutschlands und Oesterreich-Ungarns Stellung nahm, war sie das Signal

zu einer, vollständigen Niederlage der Gladstone'schen Orientpolitik.

Von

dem Augenblick ab, wo die Cabinette von Paris, Berlin und Wien die Vorschläge Englands zu einer feindlichen Blokade von Smyrna ablehnten, trat in der Haltung der Pforte ein totaler Umschwung ein.

Das euro­

päische Concert war gesprengt, und die Pforte konnte mit Sicherheit darauf

rechnen, daß die Uebergabe von Dulcigno, wenn sie freiwillig erfolgte, der Abschluß und nicht

der erste Act der

JnterventionSpolitik sein werde.

Nun war die Aufgabe, die Albanesen, deren Selbstgefühl und Widerstands­

kraft man bis dahin künstlich gestärkt hatte, wieder zu gehorsamen Unter­

thanen der Pforte zu machen, nicht von heute

auf morgen zu lösen.

Riza Pascha begann zunächst mit Zureden und Drohen und wo auch das nichts nutzte, mußte der plötzliche, angeblich durch Gift herbeigeführte Tod von vier der unbändigsten Albanesenchefs der Autorität des Sultans zu Hülfe kommen.

Endlich wurde Riza Pascha durch einen weniger compro-

mittirten General, Derwisch Pascha, ersetzt, der den Auftrag, sich Dulcigno'S

eventuell mit Gewalt zu bemächtigen, in wenigen Wochen ausführte. Und dieselben Notabeln von Dulcigno, welche wenige Monate vorher

geschworen hatten, sich eher unter den Trümmern der Stadt begraben zu lassen, als die Herrschaft Montenegro's anzuerkennen, beeilten sich den an

der Spitze der Truppen einziehenden montenegrinischen Obercommandanten Bozo Petrovics durch eine Deputation zu begrüßen.

Das war am 27. No­

vember und heute, acht Tage später verkündet der Telegraph die Auflösung

des europäischen Geschwaders und die Heimkehr der Schiffe, die der Heimath die Rettung des europäischen Friedens und die klägliche Niederlage

einer friedenstörerischen Diplomatie verkünden.

„Die Flottendemonstration,

sagte Lord Granville in seiner Rede in Hanley mit sicherlich nicht beab­ sichtigter Ironie, hat einige gute Früchte getragen; sie hat unsere Marine-

officiere mit ihren europäischen Waffenbrüdern bekannt gemacht und den Beweis geliefert, daß eine starke Marine bei politischen Bewegungen großen

Bon Dulcigno nach Athen.

656 Einfluß sichert;

auch hat sie in 3 oder 4 Monaten einen Zweck erreicht,

der in zwei Jahren nicht erreicht worden war." sich und seine Zuhörer mit der Versicherung: besteht noch heute."

Der Unterschied ist nur, daß im Juni Gladstone in

diesem Concert den Ton angab, während

secundiren.

Lord Granville tröstet

„Das europäische Concert er heute verurtheilt ist zu

Gladstone hat nichts erreicht als die Befestigung des Ber­

liner Vertrags, den er zu erschüttern auSzog und die völlige Vernichtung

des englischen Einflusses in der Türkei. Leider trifft der Schlag, der die stolzen Hoffnungen deS englischen Premiers zu nichte machte, neben den Schuldigen auch einen Unschuldigen.

Der Berliner Congreß hatte sich der Erörterung der

griechischen

Frage, d. h. der Ansprüche Griechenlands auf das vorwiegend von griechi­ schen Nationalen bewohnte Gebiet von EpiruS und Thessalien nicht ent­

ziehen können.

Während deS russisch-türkischen Krieges, als die Theilung

der Türkei in Frage zu stehen schien, wollten natürlich auch die Griechen nicht zurückbleiben, die sich als die prädestinirten Nachfolger der Türken in

Constantinopel betrachten.

Es kam sogar dahin, daß eines TageS griechische

Truppen trotz aller Abmahnungen Englands die türkische Grenze überschritten

unter dem Vorwande, daß das Räuberunwesen in den Grenzgebieten die Sicherheit deS Staates bedrohe. England sowohl wie Rußland, das eine im

Interesse der Türkei, daS andere aus Abneigung gegen den griechischen Con­

currenten, erzwangen die Zurückziehung der Truppen und vertrösteten die Griechen auf die Zukunft.

ES wird sich schwer feststellen lassen, ob Lord

Beaconsfield oder Waddington

in Athen bindende Versprechungen im

Sinne einer Erweiterung der Grenzen Griechenlands gemacht haben oder

nicht; auf alle Fälle waren die Mächte, als der Berliner Congreß zu­ sammentrat, moralisch gezwungen, die Gesandten des Königreichs

Sachwalter der griechischen Ansprüche zu hören. hellenenthumS

ist

längst

verflogen; aber

als

Der Rausch deS Phil-

einer nüchternen Erwägung

gegenüber hält auch der Ausspruch der „Times" „die Griechen verdienten nichts Besseres als an die Raen ihrer Schiffe aufgeknüpft zu werden" nicht Stand.

Wer gerecht sein will, darf die heutigen Griechen nicht mit

den Bewohnern des alten Griechenlands in Parallele stellen, sondern mit den Völkerschaften der Balkan-Halbinsel und vor diesen haben sie vor

Allem die Kraft der Assimilirung fremder Elemente voraus und gerade

daS fällt am schwersten in'S Gewicht, wenn es sich darum handelt, ein Bollwerk gegen daS Slaventhum zu schaffen. Beschränkung deS griechischen Staats

auf

Ob eS wahr ist, daß die seine jetzigen

Grenzen den

Herzog Leopold von Sachsen-Coburg-Gotha, den nachmaligen König der

Belgier, im Jahre 1829 zu dem Entschlüsse bestimmte, die griechische

Bon Dukigrw nach Athen.

657

Krone abzulehnen, tote auf dem Berliner Congreß behauptet wurde, mag dahin gestellt bleiben.

Immerhin ist eS

eine unbestreitbare Thatsache,

daß in Griechenland selbst die Misöre der heutigen Zustände der Enge

deS Staatsgebietes zur Last gelegt wird, dessen außerordentlich reiche Küstenentwickelung deS Hinterhaltes deS für die Entwickelung von In­

dustrie und Landwirthschaft erforderlichen Binnenlandes entbehrt. Niemand wird in Abrede stellen, daß die wirlhschaftliche Entwickelung der Nation

außerordentlich erschwert ist durch eine streng constitutionelle Verfassung, welche der Rivalität politisch ungeschulter Parteien freien Spielraum ge­

währt, der Initiative eines energischen Regenten aber unübersteigliche

Schranken entgegenstellt.

Unglücklicher Weise hat Griechenland an den

europäischen Höfen wohl Könige, aber keine der großen

wachsene Herrscher gefunden.

Aufgabe ge­

König Georg, dem guter Wille nicht ab­

zusprechen ist, fand sich sehr bald vor der Alternative, eine Aenderung

der verfassungsmäßigen Zustände herbeizuführen, oder sich in die Rolle eines rein konstitutionellen Königs zu resigniren und, wie Fama sagt, sich mit der Lektüre Paul de Coq'scher Romane zu begnügen.

Immerhin aber

bleibt die Möglichkeit, daß eine Arrondirung des Staatsgebiets, welche der Nation frische Kräfte zuführt, auch der Ausgangspunkt für eine Um­ gestaltung der innerstaatlichen Verhältnisse wird.

Das vorausgesetzt frei­

lich, würde das zweite Argument, welches die Fürsprecher Griechenlands auf dem Congreß zur Geltung brachten, daß nämlich die Vergrößerung

Griechenlands das Land zur Ruhe bringen und ein freundschaftliches Ver­

hältniß zur Pforte anbahnen werde, sich als durchaus unzutreffend be­ währen.

Auch die neue Grenze, welche der Congreß Griechenland in

Aussicht stellte, würde bei Weitem nicht das ganze Gebiet einschließen, auf welches die Griechen vom ethnographischen Standpunkt aus Anspruch erheben können, geschweige denn das Gebiet, auf welches sie als Nach­

kommen der alten Griechen Anspruch zu erheben sich als berechtigt er­ achten.

Hat doch Griechenland nach der berüchtigten „ethnokratischen"

Karte der Balkanhalbinsel, welche dem Congreß vorgelegt wurde, unter der erschlichenen Autorität unseres berühmten Landsmanns, Heinrich Kiepert,

Anspruch auf daS gefammte Gebiet südlich des Balkans! Solchen Phan­ tasien, die der griechischen Jugend auf den Schulbänken als Resultat wissen­

schaftlicher Forschungen vorgetragen werden — ganz nach dem System der Italia irredenta — ist mit Gründen natürlich nicht beizukommen.

Auf

der andern Seite aber kann der krankhafte Expansionstrieb, wenn nicht er­ stickt, so doch abgeschwächt werden dadurch, daß demselben innerhalb der

Grenzen der Berechtigung und Möglichkeit Befriedigung gewährt wird. Auf Grund dieser Erwägungen hatte der Berliner Congreß zunächst

Von Dulcigno nach Athen.

658

in das Protokoll der 13. Sitzung auf Antrag Frankreichs und Italiens den Beschluß ausgenommen: der Congreß ladet die Pforte ein, sich mit Griechenland über eine Grenzberichtigung in Thessalien und Epirus zu verständigen und er ist der Ansicht,

daß diese Berichtigung dem Thale

des SalamyriaS (der alte PenäuS) auf der Seite des ägeischen und dem­ jenigen des KalamaS auf der Seite des jonischen Meeres folgen könnte. Der Congreß hat das Vertrauen, daß es den interessirten Theilen ge­

lingen wird, sich zu einigen.

Um indessen den Erfolg der Verhandlungen

zu erleichtern, sind die Mächte bereit ihre direkte Vermittelung den bei­ den Theilen anzubieten.

Erst bei der definitiven Redaction des Vertrages

wurde dieses zweite Alinea als Art. 24 in den Text des Vertrags und zwar in folgender Fassung

ausgenommen:

Falls die hohe Pforte und

Griechenland nicht zu einer Verständigung über die im 13. Protokolle deS

CongresseS von Berlin bezeichnete Grenzberichtigung gelangen sollten, be­ halten sich Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien,

Italien und Rußland vor, ihre Vermittelung den beiden betheiligten

Theilen anzubieten, um die Verhandlungen zu erleichtern." Nach jahrelangen vergeblichen Verhandlungen trat am 16. Juni d. I. die Berliner Conferenz zusammen, um nach dem Vorschläge Englands

„mit Stimmenmehrheit und unter Mitwirkung technischer Officiere die Grenzlinie festzustellen,

welche

anzunehmen passend

erscheint."

Diese

Grenzlinie aber sollte, wie der Vorsitzende, Fürst Hohenlohe in der letzten Sitzung der Conferenz ausdrücklich constatirte, nur die Basis der Ver­

mittelung bilden, welche die Mächte auf Grund deS Art. 24 des Berliner

Vertrags nunmehr zwischen der Türkei und Griechenland anzubahnen ent­ schlossen war.

Fürst Hohenlohe wies allerdings darauf hin, daß „diese

feierliche Kundgebung deS Willens Europa'S auf die Dauer einem ernst­

lichen Widerstand nicht begegnen könne"; die auf der Conferenz verein­

barte identische Note an die beiden Mächte beschränkt sich aber darauf, die Türkei und Griechenland „einzuladen", die von der Conferenz fest­ gesetzte Grenzlinie als den Beschlüssen be8. Berliner CongresseS ent­

sprechend anzunehmen.

Griechenland nahm natürlich die Einladung an;

die Türkei verweigerte mit größter Entschiedenheit die Abtretung Janina's,

mit Rücksicht auf die Albanesen, die doch eine ebenso interessante Völkerschaft seien, wie so manche andere, und diejenige Larissa's mit Rücksicht auf die mohammedanische Bevölkerung.

Leider trat in der Presse wenigstens —

ob auch in den diplomatischen Verhandlungen, muß dahin gestellt bleiben — der Charakter dieser Action als ein vermittelnder in den Hintergrund.

Selbst die preußische „Provinzial-Correspondenz" ließ sich in der Nummer

vom 30. Juni also Vernehmen:

„die Conferenz war nur berufen, eine

659

Bon Dulcigno nach Athen.

moralische Einwirkung auf die beiden beteiligten Staaten zu üben, deren Interessen in der vorliegenden Frage auszugleichen sind.

Es ist aber

wohl nicht zu erwarten, daß einer dieser beiden Staaten die Bedeutung des Beschlusses eines so gewichtigen Schiedsgerichts, wie es die Ber­ einigung der europäischen Großmächte darstellt, verkennen wird." —

Unter diesen Umständen und angesichts der Versprechungen, welche Frankreich oder wenigstens Gambetta und die englischen Minister dem

Könige Georg bei seiner Rundreise durch Europa gemacht haben, konnte eS nicht überraschen, daß Griechenland die Grenzfrage als durch den Schieds­

spruch Europa'S gelöst

betrachtete und

seine freilich wenig

gefährliche

Armee mobilisirte, um trotz deS Widerspruchs der Pforte das neue Ge­ biet in Besitz zu nehmen.

Der damalige französische Minister deS Aus­

wärtigen, Herr von Frehcinet hat ja kürzlich öffentlich erklärt, die famose

Flottendemonstration sei bestimmt gewesen, nicht nur bei der Lösung der montenegrinischen Frage,

sondern auch

bei

derjenigen der

griechischen

mitzuwirken.

Frankreich

Grenzfrage und der armenischen Reformfrage

hatte die Absendung des Generals Thomassin mit 60 Officieren nach

Athen behufs Reorganisation der griechischen Armee in Aussicht gestellt. Die Mächte, welche anfangs der Mobilisiruug der Armee widersprochen hatten, zogen nach und nach ihren Widerspruch zurück.

Aber wie bald sollte der Jubel der Griechen über die Großmuth Europa'S tiefer Enttäuschung Platz machen.

Klang es doch in nichtgriechi­

schen Ohren wie Hohn, als König Georg, wie zu neuem Leben erwacht, am 20. October die Kammer mit einer Thronrede eröffnete, in der eS

hieß:

„Mit der Mittheilung, daß meine Beziehungen zu den auswärtigen

Mächten freundschaftlicher Natur sind, verbinde ich ebenso den Ausdruck deS Dankes den Staaten gegenüber, welche ich auf meiner Reise besuchte,

und deren schiedsrichterlicher Ausspruch dem Lande eine neue

Grenze erwirkte, durch die das Königreich besser arrondirt und unsere nationale Machtstellung auf die sich für die Unabhängigkeit Griechenlands

opfernden (!) Stammesgenossen der hellenischen Völkerfamilie ausgedehnt ward. Die Staaten, welche als Schiedsrichter ihren Spruch gefällt, wirken auch für dessen Durchführung.

Da die letztere gesichert erscheint, so sind

wir alle vor eine Action gestellt, deren Entwickelung und Regelung Ge­ genstand Ihrer Berathungen sein wird."

Seitdem bemühen sich die Diplomaten, die die Vertrauensseligkeit

der Griechen in der schnödesten Weise mißbraucht haben, vergeblich, in Athen Mäßigung und Frieden zu predigen.

Vor dem Tribunal der öffent­

lichen Meinung aber, und nicht am wenigsten in der deutschen Presse, wird dasselbe Volk, über dessen Mangel an Muth man im Juli spöttelte, weil

Bon Dulcigno nach Athen.

660

es an die Hülfe der Großmächte appellirte, mit Hohn überhäuft, wo es sich, obgleich von den Großmächten verlassen, in kriegerischer Begeisterung

anschickt, allein und selbst für seine Ansprüche daS Schwert zu ziehen. Der König Georg aber steht vor der Alternative, einen vielleicht aussichts­

losen Krieg gegen die Türkei zu wagen oder den Ausbruch einer Revo­

lution zu provociren, die seinen Thron bedroht.

Die Abwendung Frank­

reichs von der Gladstone'schen Actionspolitik, welche den Frieden im Orient — und im Occident sicherte, hat Griechenland vor die Existenzfrage gestellt. Wir aber halten eS weder für wohlanständig, noch für politisch, daß Griechenland als das Opfer der Sünden Gladstone'S und des Leichtsinns

Gambetta'S, der in Griechenland das wollte, seinem Schicksal überlassen wird.

„Schleswig" Frankreichs

suchen

Nicht für wohlanständig, weil

alle Mächte dazu beigetragen haben, Griechenland über das Maß des Bei­

standes, den es von Europa zu erwarten hatte, zu täuschen: nicht für poli­ tisch, weil die Stärkung, riicht die Schwächung Griechenlands im Interesse

der Mächte liegt, welche das Slaventhum in Schranken halten wollen; vor allem aber deshalb nicht, weil im äustersten Falle, wenn die griechische Armee, wie zweifellos, der türkischen unterliegt, England und Rußland

— die Königin von Griechenland ist bekanntlich die Tochter des Groß­ fürsten Constantin — gezwungen sein werden, die Retterrolle zu über­ nehmen und so die Sympathien der Griechen wieder zu gewinnen.

Deutschland, Oesterreich und Frankreich können das Verdienst in An­ spruch nehmen, die Dulcigno-Frage gelöst zu haben, als England vor der kategorischen Weigerung der Pforte zurückwich.

Ob sie bei den Vasallen

Rußlands auf Dank rechnen können, wird die Zukunft lehren.

Sie haben

eS jetzt in ihrer Hand, auch in Athen als Retter, nicht als Rächer auf­

zutreten und indem

sie

ihren Einfluß in

ständigen Zuspruch geltend

Constantinopel

durch

ver­

machen, das bildungsfähigste und politisch

vorgeschrittenste Volk der Balkanhalbinsel an ihre Politik, nicht der Er­ haltung deS auf die Dauer doch unerträglichen Status quo, sondern der

Entwickelung der lebensfähigen Organisationen zu knüpfen.

Die Türkei

muß wissen, daß sie in den „conservativen" Mächten Beschützer gegen die

abenteuerlichen Pläne Gladstone'S und die panslavistische Begehrlichkeit Ruß­ lands auf die Dauer nur dann findet, wenn sie sich vollends ganz, ohne

Rückhalt auf den Boden des Berliner Vertrags stellt.

ES ist oft und

mit Recht gesagt worden, der Orient ist die Wand, an der die Schatten­

bilder der europäischen Machtverhältnisse zur Erscheinung kommen.

Lassen

wir nicht zu, daß das nutzlos vergossene Blut der Griechen einen dunkeln

Schatten auf den Ehrenschild der deutschen Nation wirft. —

ir.

Erwiderung an Herrn Th. Mommsen.

In dem Augenblicke da dies Heft bereits geschlossen ist, erhalle ich die

Schrift von Th. Mommsen „Auch ein Wort über unser Judenthum".

Es gereicht mir zur Freude, daß ein Mann wie Mommsen sich nicht dabei beruhigt hat, eine „Erklärung" zu unterzeichnen, deren hohle Schlagwörter an

die schlimmsten Tage des Jahres 1848 erinnerten, sondern nunmehr endlich seine Ansicht mit Gründen vertheidigt.

Ich erkenne auch dankbar an, daß er heute

nicht mehr, wie in jener „Erklärung", alle Schuld allein auf Seiten der Christen sucht, sondern auch für die Fehler der Juden einige Worte wohlberechtigten

Tadels findet.

Gleichwohl bleibt eine starke Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und mir bestehen.

Ich fasse sie kurz in folgenden fünf Punkten zusammen.

Mommsen glaubt, das Judenthum bilde in Deutschland „ein Element der Decomposition der deutschen Stämme" und sei darum in der deutschen Haupt­ stadt so mächtig geworden.

Ich bin der entgegengesetzten Ansicht.

Blätter wie

der Börsencourier, die Frankfurter Zeitung u. s. w. befördern durchaus nicht

die Versöhnung zwischen den Sachsen, den Schwaben, den Franken, sondern lediglich ein heimathloses Weltbürgerthum; sie thuen was in ihren Kräften steht um unserem Volke den nationalen Stolz, die Freude am Vaterlande zu zer­

stören.

Diese Elemente des Judenthums sind allem deutschen Wesen feindlich.

Mommsen geht mit einigen gleichgiltigen Worten über den religiösen Ge­ gensatz hinweg.

Ich stehe anders als er zu dem positiven Christenthum.

Ich

glaube, daß unser tief religiöses Volk durch die reifende Cultur zu einem reineren und kräftigeren kirchlichen Leben zurückgeführt werden wird, und kann daher die

Schmähungen der jüdischen Presse gegen das Christenthum nicht mit Still­ schweigen übergehen, sondern ich betrachte sie als Angriffe auf die Grundlagen unserer Gesittung, als Störungen des Landfriedens.

Mommsen tadelt den unedlen Kampf der Mehrheit gegen die schwache

Minderheit.

Ich meine, daß dieser Tadel einer Begriffsverwirrung entspringt.

Die schwache Minderheit beherrscht mittelbar oder unmittelbar weitaus die meisten Organe der öffentlichen Meinung.

Wer heute in der Preffe die Ueberhebung

des Judenthums bekämpft, der mißbraucht nicht die Macht des Stärkeren, sondern er steht Einer gegen Hundert.

Ich habe anerkannt, daß viele unserer jüdischen Mitbürger langst zu guten

662

Erwiderung an Herrn Th. Mommsen.

Deutschen geworden sind, und nur bedauert, daß andere sich unserem nationalen

Leben grundsätzlich fern halten.

Mommsen erwidert mir:

„die Juden sind

Deutsche so gut wie er und ich"; nachher führt er jedoch sehr nachdrücklich aus,

daß ein Theil dieser „Deutschen" sich in einem national-jüdischen Sonderleben wohl gefalle.

Er sagt also mit anderen Worten genau dasselbe wie ich.

Ich

glaube aber, meine Ausdrucksweise war die correctere.

Mommsen findet endlich mein Auftreten in der Judenfrage inopportun;

und hierin liegt, wie mir scheint, der Kern seiner Ausführungen.

Ich frage

dawider: ist es patriotischer, einen vorhandenen, von aller Welt empfundenen socialen Uebelstand in der Stille fortwuchern zu lassen, oder ihn nach der Weise

freier Völker offen zur Sprache zu bringen?

gehalten.

Ich habe das Letztere für richtiger

Meine ausgesprochene Absicht war, die gut deutschgesinnten Juden

daran zu erinnern, daß die Haltung eines Theiles ihrer Glaubensgenossen den

Anforderungen nicht entspricht, welche jede große Nation an ihre Bürger stellen muß. — Dieser sachlichen Erörterung muß ich, ungern genug, zwei persönliche Be­

merkungen folgen lassen.

Herr Mommsen wirft mir vor, daß ich meine Behauptungen über die

jüdische Einwanderung nicht zurückgenommen habe.

Ich erwidere einfach, daß

ich das von ihm empfohlene Neumann'sche Buch nicht kenne.

Da er die Schrift

empfiehlt, so werde ich sie lesen; und sollte ich ihre Beweisführung stichhaltig finden, so werden diese Jahrbücher nicht anstehen, eine Behauptung, die mit dem

Kerne der Streitfrage wenig zu thun hat, zu berichtigen.

Herr Mommsen fordert ferner meine Erklärung über einen Satz eines ver­

traulichen akademischen Circularschreibens, der möglicherweise so gedeutet werden kann, als ob ich der moralische Urheber der Antisemiten-Petiton der Leipziger Studenten wäre.

heimniß.

Der Sachverhalt ist für meine Collegen durchaus kein Ge­

Hätte Herr Mommsen mich selbst oder unseren Rector oder viele

andere Collegen einer vertraulichen Frage gewürdigt, so würde er wissen, daß

ich die von ihm gewünschte Erklärung schon längst gehörigen Orts abgegeben habe; er würde ferner wissen, daß der mit meinem Namen getriebene Mißbrauch schon längst zurückgenommen worden ist.

Da er jedoch eine öffentliche Anfrage

für collegialisch hält, so stehe hier meine Antwort. Elf Monate lang hatte ich mit Studenten niemals über die Judenfrage

gesprochen; ich wußte auch gar nicht, daß sich die akademische Jugend mit der Angelegenheit beschäftigte.

Da empfing ich am 22. October von einem mir

bisher unbekannten Leipziger Studenten, der sich damals hier aufhielt, einen

Brief des Inhalts: er und seine Freunde beabsichtigten sich der Försterschen Petition anzuschließen; sie bäten mich um Rath.

Als der Briefsteller bald nach­

her persönlich bei mir erschien, sagte ich ihm etwa Folgendes:

1) ich sei, wie er aus meinen Jahrbücher-Artikeln wissen müsse, mit der Petition nicht einverstanden und hätte daher trotz wiederholter Aufforderung mich

geweigert, dieselbe zu unterzeichen;

663

Erwiderung an Herrn Th. Mommsen.

2) ich sei akademischer Lehrer und könne daher an keiner Kundgebung der

Studirenden mich irgendwie betheiligen; 3) wenn er und seine Freunde ihre Sympathie für die Petition äußern

wollten, so könnte ich ihm selbstverständlich nicht abrathen, da ich kein Recht hätte Anderen meine Gesinnung aufzuerlegen; doch hielte ich mich verpflichtet

ihn auf zwei Bedenken aufmerksam zu machen.

Ein Versuch der Studenten,

auf die Beschlüsse der gesetzgebenden Gewalt einzuwirken, sei m. E. ganz un­

gehörig; sie

müßten also

ihrer Kundgebung

mindestens

eine

andere ange-

meffenere Form geben; sie müßten ferner darauf hallen, daß der akademische Friede ungestört bliebe.

Nach dieser Unterredung hörte ich wochenlang nichts mehr von der Sache,

bis ich plötzlich zu meinem äußersten Erstaunen, in Folge einer Zeitungsnotiz jenen Satz des Leipziger Studenten-Circulars kennen lernte.

Ich schrieb sogleich

an jenen Studenten, erinnerte ihn an den wirklichen Inhalt unseres Gesprächs

und verlangte, daß jene Stelle sofort gestrichen würde.

Er antwortete mir sehr

reumüthig, bat mich um Verzeihung, betheuerte, er habe sich während der Unter­ redung in großer Aufregung befunden und mich daher gänzlich mißverstanden;

er versprach sodann jene Stelle sogleich streichen zu lasten, was in der That ge­ schehen ist.

Nachher habe ich einem Mitgliede unseres Academischen Senats den Her­ gang brieflich dargestellt, mit der Bitte um weitere Mittheilung an den Rector

und die Senatoren. erklärte:

Das Ende war, daß der Herr Rector mir unaufgefordert

er sei jetzt vollkommen zufriedengestellt und die ganze Angelegenheit

abgethan.

Zu einer öffentlichen Berichtigung konnte ich mich nicht entschließen.

Alle

meine Freunde stimmten mit mir darin überein, daß es mir nicht gezieme, auf Zeitungsredereien dieses Schlages zu antworten.

Wenn aber der kleine Klatsch

unter der glänzenden Flagge Theodor Mommsens dahinsegelt, dann freilich muß ich reden.

Heinrich von Treitschke.

Verantwortlicher Redacteur:

H. v. Treitschke.

Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.