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German Pages 292 [294] Year 2015
Hanna Klessinger Postdramatik
Studien zur deutschen Literatur
Herausgegeben von Wilfried Barner †, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf
Band 209
Hanna Klessinger
Postdramatik
Transformationen des epischen Theaters bei Peter Handke, Heiner Müller, Elfriede Jelinek und Rainald Goetz
DE GRUYTER
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.
ISBN 978-3-11-037002-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036567-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038590-8 ISSN 0081-7236 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Einleitung
1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.1.6 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3
2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2
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Mutter und Väter der Postdramatik 37 37 Bertolt Brecht: Wiederentdeckung und Transformation Die postdramatische Brecht-Rezeption: Forschungslage und offene Fragen 38 Selektive Rezeption des Theoretikers und Theaterpraktikers 40 Der ‚reimportierte‘ Brecht 42 Abgrenzungen und Bekenntnisse 45 Die Straßenszene (1938): Episches und postdramatisches Modell 51 Wirkung des Modells: Postdramatische Projektionen und Transformationen 53 Gertrude Stein: Die berühmte Unbekannte 61 Die Theorie des Landscape-Play 64 Formalistisches Bewusstseinstheater: Four Saints in Three Acts (1927/1934) 68 Wirkung: Postdramatische Textlandschaften 72 Samuel Beckett: Vorbild und Zeitgenosse 80 Reines Spiel: Der Theaterpraktiker Beckett als Postdramatiker avant la lettre 85 Wirkung von Becketts ‚Zustandstheater‘ am Beispiel von En attendant Godot 88 Die späten minimalistisch-abstrakten Shorter Plays 96
Politische oder ästhetische Revolution? Die Gründungsphase der Postdramatik (1965–1984) 101 Anregungen/Tendenzen: Theater im Zeichen der Studentenrevolte 101 Intermediale Prägungen: Die internationale HappeningBewegung 105 Happening – Fluxus – Pop Art: Neue Notationsformen 106 Wolf Vostell und Bazon Brock zwischen Performance und Theater 109
VI 2.2.3 2.2.3.1 2.2.3.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.4 2.4.1 2.4.1.1 2.4.1.2 2.4.1.3 2.4.1.4 2.4.2 2.4.2.1 2.4.2.2 2.4.2.3 2.4.3 2.4.3.1 2.4.3.2 2.4.3.3 3 3.1
3.1.1 3.1.2
Inhalt
Die österreichische Neoavantgarde: Wiener Gruppe und Wiener Aktionismus 113 Pioniere der Postdramatik: Die literarischen Cabarets der Wiener Gruppe 114 Aktion und Text: Hermann Nitschs Partituren 119 Theateravantgarde der USA: Eine vernachlässigte Traditionslinie 122 der Postdramatik 122 Kreativer Protest und ‚Theater der Erfahrung‘ 124 Vorreiter: Das ekstatische Living Theatre Politisches Straßentheater im Stil der Commedia dell’Arte: Die 127 San Francisco Mime Troupe 129 Das auratische Bread and Puppet Theatre Richard Foreman und Robert Wilson als Klassiker der 132 internationalen postdramatischen Avantgarde Zwischen Politik und Pop: Postdramatische 140 Gründungstexte Peter Handkes Publikumsbeschimpfung (1965): Provokation aus 140 dem Elfenbeinturm 144 Metatheater 147 Camp-Theater 152 Einbruch des Politischen 154 Inszenierung des reinen Spiels Heiner Müllers Hamletmaschine (1977): Umsturz der 159 Textinstanzen 165 Wiederholungen: Die intertextuelle Struktur 168 Die ‚Warhol-Maschine‘ 171 Warhol trifft Brecht Elfriede Jelineks Burgtheater (1982): Metadramatisches Trash177 Theater 181 Ein Schauspielerstück 184 Trash-Elemente 187 Diskurstheater – Keimzelle von Jelineks Sprachflächen Der Kopf als Bühne. Subjektives Erzähltheater (1985–1994) Beschreiben: Heiner Müllers Bildbeschreibung (1985) im Vergleich mit Peter Handkes Die Stunde da wir nichts 195 voneinander wußten (1992) 196 Zuschauerdramen und Präsenserzählungen Unzuverlässiges Erzählen in Heiner Müllers 198 Bildbeschreibung
195
Inhalt
3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3
4 4.1 4.2
4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4
Das ‚Drama des Erzählens‘ bei Handke 204 Subjektivierung: Traum-Spiele auf der ‚inneren Bühne‘ 208 213 Der Erzähler auf der Bühne: Inszenierungsbeispiele 215 Zitieren: Elfriede Jelineks Wolken.Heim. (1988) 220 Eine Heiner-Müller-Hommage 222 Dialoge und Konflikte 227 Subjektivierung: Eine „Reise durch Jelineks Kopf“ 231 Jelinek inszenieren 234 Agieren: Rainald Goetz’ Krieg (1986) 235 Neue Aktionskunst: Rainald Goetz als Punk-Autor 236 Transformationen postdramatischer Mittel Aporien des politischen Theaters: Rainald Goetz und Heiner 245 Müller Transformationen des epischen Theaters nach der 249 Jahrtausendwende 249 Das Postdrama zitiert sich selbst Rückkehr zu Brecht in ‚jungen Stücken‘: Ewald Palmetshofers faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete 251 (2009) 253 Ein postdramatisches Coverdrama 256 Sprachflächen 259 Intermedialität Multiperspektivische Rollenspiele als neues Modell epischen 260 Theaters Literatur 265 265 Quellen Forschungsliteratur Personenregister Dank
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Einleitung Eine Prosaskizze als „Spielmodell“ 1 (Heiner Müller, Bildbeschreibung), ein ausgedehnter chorischer Monolog ohne Rollenzuschreibungen (Elfriede Jelinek, Wolken.Heim.) oder ein gänzlich stummes Stück (Peter Handke, Die Stunde da wir nichts voneinander wußten): Viele postmoderne Theatertexte brechen mit traditionellen dramatischen Strukturmerkmalen zugunsten von intertextuellen Verweisen, Selbstreflexion der theatralen Mittel und intermedialen Bezügen zu Film, Musik und Bildender Kunst. Mit einem aus der Theaterwissenschaft entlehnten Begriff werden diese Stücke häufig als ‚postdramatisch‘ bezeichnet. Ihre experimentelle Form versperrt sich dem analytischen Werkzeug der herkömmlichen Dramenanalyse. Dies mögen zwei aktuelle Beispiele verdeutlichen: Peter Handkes Spuren der Verirrten (2007) und Elfriede Jelineks Die Kontrakte des Kaufmanns (2009). Handkes Stück hat die Form einer Prosaerzählung für die Bühne. Im Wechsel von Erzählertext und direkter Figurenrede wird eine Theateraufführung beschrieben: Und wieder die auf der einen Seite Auftretenden, auf der anderen Seite Abgehenden und, nach einer kleinen Pause, in geänderter Aufmachung und Gestalt, neu Auftretenden. […] Schließlich stockt einer und läßt sich hören: „Dort – ein Licht!“ 2
Angesichts dieser Gattungsmischung muss die philologische Analyse auch narrative Mittel berücksichtigen. Gleichzeitig ist der pragmatische Kontext, die besondere Bühnensituation eines Zuschauerstückes zu beachten. Sie prägt auch die narrative Vermittlung: Die Aufführungsbeschreibung aus der Perspektive eines Ich-Erzählers („Und wieder habe auch ich meinen Platz eingenommen, als Zuschauer“ 3) spiegelt Unsicherheiten in Wahrnehmung und Deutung des Gesehenen: „Zunächst sehe ich zwei, die ihren Weg markieren, mit Brotbrocken? […] Ist es für den Rückweg?“ 4 Eine derart offene, subjektive Erzählung lässt einer Bühnenrealisation viel Spielraum. Gattungsmischung und Subjektivierung bestimmen auch Elfriede Jelineks Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie (2009): Mitten im einleitenden Regietext meldet sich plötzlich eine Ich-Erzählerin zu Wort: „Ganz vorn ein Podium, die Tische darauf mit schwarzen Tüchern verhängt. Wo bin ich? Beim Jahrestreffen der Gruftie-Gruppe?“ 5 Der Haupttext besteht aus einem 1 2 3 4 5
Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1992, S. 343. Peter Handke, Spuren der Verirrten, Frankfurt a. M. 2006, S. 7 f. Peter Handke, Spuren der Verirrten, S. 7. Peter Handke, Spuren der Verirrten, S. 7. Elfriede Jelinek, Drei Theaterstücke, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 209.
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Einleitung
mehr als 100 Seiten umfassenden Prosatext, der nicht auf Sprecher verteilt ist und im typischen ‚Jelinek-Sound‘ heterogene Zitatsplitter, mit kalauernden Sprachspielen durchsetzt, aneinanderreiht. Der immer wieder aufscheinende Bezug zur aktuellen Finanz- und Bankenkrise wird hier buchstäblich zerredet. Die szenische Realisierung dieses Textblockes, der, so die Regieanweisung, „an jeder beliebigen Stelle anfangen und aufhören“ 6 kann, ist auch bei diesem Beispiel völlig offen. Als Theaterstück gelesen ist Jelineks Text zunächst nichts weiter als eine scheinbar endlose Ansprache an das Publikum. Obwohl postdramatische Stücke auch in jüngster Zeit wiederholt mit dem wichtigsten Preis für deutschsprachige Gegenwartsdramatik, dem Mülheimer Dramatikerpreis, ausgezeichnet wurden – 2011 ging er an Elfriede Jelineks Winterreise, 2012 erhielt ihn Peter Handke für Immer noch Sturm –, ist die Postdramatik inzwischen häufig totgesagt worden: Eine Bilanz der Fachzeitschrift Theater heute gipfelte 2008 in einem Essay, in dem der Dramaturg Bernd Stegemann eine Ära Nach der Postdramatik verkündete;7 der französische Theaterwissenschaftler Patrice Pavis qualifizierte einige auf dem Avantgarde-Theaterfestival von Avignon gezeigte Stücke gar als „Post-Postdramatic-Theatre“.8 Birgit Haas formulierte, die Ebenen deskriptiver und präskriptiver Poetik vermengend, ein Plädoyer für ein dramatisches Theater9 und reflektierte damit eine Tendenz jüngerer Dramatik seit der Jahrtausendwende, die häufig mit Zuschreibungen wie „neuer Realismus“ 10 und „Rückkehr der Mimesis“ (Stegemann) bedacht wird. Der Regisseur Nicolas Stemann, selbst ein Protagonist der postdramatischen Theaterästhetik, baute in seine Faust-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen 2011 einen selbstironisch nostalgischen Rückblick ein auf die einst so glorreiche, inzwischen etwas ‚angestaubte‘ Postdramatik. Er lässt einen alternden Theatermann auf Wienerisch schwadronieren: Es war a wichtige, intensive Zeit, i sprech von der Postdramatik, Sie können sich des gar net vorstelln, echtes Video auf der Bühne! Und da ganze Text nur in Monologen gschprochn! Dös hats ja vorher no gar net gebm. Dös ham ja mir erfundn! Dös war a schöne Zeit, glaums mia des.11
6 Elfriede Jelinek, Drei Theaterstücke, S. 209. 7 Bernd Stegemann, Nach der Postdramatik. In: Theater heute, 2008, H. 10, S. 14–21. 8 Patrice Pavis, Writing at Avignon: Dramatic, Postdramatic, or Post-Postdramatic. In: Theatre Forum 37, 2010, S. 92–100. 9 Birgit Haas, Das Theater von Dea Loher. Brecht und (k)ein Ende, Bielefeld 2006. 10 Vgl. stellvertretend Birgit Haas, Dea Loher: Vorstellung. In: Monatshefte 99, 2007, S. 269– 279, hier S. 272. 11 Zitiert nach der Theaterkritik von Peter Kümmel in: Die Zeit, 4. August 2011, S. 52.
Einleitung
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Neben der Entstehungsgeschichte postdramatischer Ästhetik, die wesentliche Impulse aus den österreichischen Neo-Avantgarden empfing und in Elfriede Jelinek ihre prominenteste Vertreterin hat, reflektiert Stemanns „Postdramatischer Rat“ 12 auch den aktuellen Hang der Postdramatik zur Selbstbespiegelung – und setzt ihn selbstironisch um, denn, so beschreibt der Theaterkritiker Peter Kümmel die Inszenierung: „Die mehr als 200 Rollen des Faust werden zu Monologen zusammengefasst und von nur einer Hand voll Schauspielern verwaltet, und anstelle von opulenten Bauten sehen wir: echtes Video.“ 13 Ob die Postdramatik nun überwunden ist oder in selbstironischer Beharrlichkeit fortlebt – sie ist in ihrer mehrere Jahrzehnte dauernden Entwicklung an einem Punkt angelangt, von dem aus eine Historisierung des Phänomens versucht werden kann.
1 Forschungsstand Inzwischen hat es sich in der Forschung durchgesetzt, experimentelle Theaterstücke seit den 1970er Jahren von Autoren wie Heiner Müller, Elfriede Jelinek und Rainald Goetz als „postdramatisch“ zu bezeichnen.14 Allerdings wurde 12 Die Zeit, 4. August 2011, S. 52. 13 Die Zeit, 4. August 2011, S. 52. 14 Als Postdramatiker par excellence gilt Heiner Müller: Davon zeugen etwa die literarhistorische Darstellung von Jürgen Schröder, „Postdramatisches Theater“ oder „neuer Realismus“? Drama und Theater der neunziger Jahre. In: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, hg. von Wildfried Barner, 2., erw. Aufl., München 2006, (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 12) S. 1080–1120, bes. S. 1103 f.; und die Müller-Interpretationen von Hans-Thies Lehmann, Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002, (Theater der Zeit. Recherchen 12); Hans-Thies Lehmann, Just a word on a page and there’s a drama. Anmerkungen zum Text im postdramatischen Theater. In: Theater fürs 21. Jahrhundert, hg. von Heinz Ludwig Arnold, München 2004, (Text und Kritik. Sonderband XI/04) S. 26–33, und die entsprechenden Werkinterpretationen im von Lehmann und Patrick Primavesi herausgegebenen Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart und Weimar 2003 (= Heiner Müller Handbuch). Müller ist auch zentraler Referenzautor von Lehmanns theaterwissenschaftlichem Standardwerk Postdramatisches Theater (Frankfurt a. M. 1999). Eine Fülle von Einzelstudien und vergleichenden Untersuchungen widmet sich explizit den ‚postdramatischen‘ oder ‚nicht mehr dramatischen‘ Mitteln und Formen dieser Autoren: Vgl. stellvertretend Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997 (Einzelinterpretationen zu Jelinek und Goetz); Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, Paderborn 2005 (Jelinek); Dagmar Jaeger, Theater im Medienzeitalter. Das postdramatische Theater von Elfriede Jelinek und Heiner Müller, Bielefeld 2007 (Müller und Jelinek); Achim Stricker, TextRaum. Strategien nicht-dramatischer Theatertexte. Gertrude Stein, Heiner Müller, Werner Schwab, Rainald Goetz, Heidelberg 2007 (Müller, Goetz); sowie den Aufsatz von Dieter Heim-
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Einleitung
dieser Lehnbegriff aus der Theaterwissenschaft bisher nicht im Hinblick auf die spezifischen literarischen Phänomene modifiziert. Ursprünglich bezeichnet postdramatisches Theater eine Tendenz der Theaterpraxis, in der sich die theatrale Aufführung und ihre spezifischen Zeichen (wie Körper, Bewegung, Stimme) von der dramatischen Textvorlage emanzipieren. Die wissenschaftliche Wirkungsgeschichte des postdramatischen Paradigmas ist aufs Engste verbunden mit Hans-Thies Lehmanns umfassender essayistischer Studie Das postdramatische Theater15 (1999). Lehmann bezieht sich hier in erster Linie auf Regisseure und Theaterkünstler wie Robert Wilson, Tadeusz Kantor, Jan Fabre und die Gruppe Forced Entertainment. Die formalen Merkmale des postdramatischen Theaters werden von Lehmann umfassend, ohne systematischen Anspruch beschrieben, um ein möglichst breites Panorama dieser Theaterpraxis zu bieten: Präzise werden an einer Fülle von Beispielen die starke Visualität, Rhythmik und Körperlichkeit postdramatischer Inszenierungen dargestellt, ihre Experimente mit räumlichen und zeitlichen Strukturen durch Simultaneität, Wiederholung und Zeitdehnung, die Einbindung des Zuschauers und die Fülle intermedialer Bezüge (auf Musik, bildende Kunst, Fotografie und Film). Alle diese Mittel dienen dazu, die Aufführung von der szenischen Darstellung einer Handlung zu befreien und statt dessen die Präsenz und das Erlebnis der Theatersituation selbst zu markieren.
böckel, Subversionen der Erinnerung im postdramatischen Theater: Heiner Müller – Elfriede Jelinek – Rainald Goetz. In: Der Deutschunterricht 57, 2005, H. 6, S. 46–53 (Müller, Jelinek, Goetz). Auch Peter Handke wird zu postdramatischen Autoren gezählt – etwa von Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 25; Hans-Thies Lehmann, Peter Handkes postdramatische Poetiken. In: Die Arbeit des Zuschauers. Peter Handke und das Theater, hg. von Klaus Kastberger und Katharina Pektor, Wien 2012, S. 67–74; vgl. auch Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 308. Handkes wesentlicher Beitrag zur postdramatischen Ästhetik ist von der Forschung allerdings bisher nicht gewürdigt worden. 15 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. Lehmann benutzt den Begriff „postdramatisch“ bereits in der Einleitung seiner Studie zu Theater und Mythos (Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 2), auf die sich auch die literaturwissenschaftliche Studie von Gerda Poschmann stützt (Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 5). Andrzej Wirth benutzte den Begriff bereits 1987 in einem Aufsatz in den Gießener Universitätsblättern (vgl. Christel Weiler, Postdramatisches Theater. In: Metzler-Lexikon Theater-Theorie, hg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat, Stuttgart und Weimar 2005, S. 245–248, hier S. 245). Übersetzungen von Lehmanns Studie ins Französische (2002) und Englische (2006) haben dazu geführt, dass der Begriff des Postdramatischen mittlerweile international etabliert ist, sowohl in der theaterwissenschaftlichen als auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung. Vgl. etwa das Editorial von Christopher Balme in: Theatre Research International 29, 2004, H. 1, S. 1–3; sowie David Barnett, When is a Play not a Drama? In: New Theatre Quarterly 24, 2008, H. 1, S. 14–23, der Stücke von Sarah Kane und Martin Crimp als postdramatische Theatertexte ausweist.
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Auf eine Besonderheit der Forschungslage sei an dieser Stelle hingewiesen: Ein Gegenstand wie das postdramatische Theater bringt es mit sich, dass sich Quellen und Darstellungen, feuilletonistische Texte, Proklamationen und wissenschaftliche Beschreibungen vermengen. Mit Blick auf die sogenannte Gießener Schule, in deren Umfeld die Theorie des postdramatischen Theaters entstanden ist, wird häufig eine regelrechte Ideologie des Postdramatischen Theaters beobachtet und kritisiert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass aus dem Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft auch Theaterpraktiker wie René Pollesch und die Gruppe Rimini Protokoll hervorgegangen sind, welche die postdramatische Ästhetik wesentlich prägten und noch prägen.16 Aus dieser Gemengelage erklären sich die teilweise polemisch geführten Debatten um eine Zeit Nach der Postdramatik. Lehmanns Theoriebildung wird flankiert von weiteren grundlegenden Forschungspositionen zum Gegenwartstheater: Mit Blick auf dieselben Tendenzen der 1980er Jahre und ihre prägenden Künstler wie Robert Wilson und Richard Foreman wählt die amerikanische Theaterwissenschaftlerin Elinor Fuchs einen anderen systematischen Zugang. Während Lehmann vor allem an der Form dieser neuen Theaterpraxis interessiert ist, sucht Fuchs deren Funktion zu beschreiben. Unter dem Titel The Death of Character deutet sie postmoderne Dramaturgien, etwa bei Richard Foreman, Robert Wilson und auch bei Peter Handke, als Kritik an überkommenen Konzepten der Subjektivität, die im Zeichen von Poststrukturalismus und Dekonstruktion stehen.17 Damit hat sie einen dominanten Deutungsstrang postdramatischer Ästhetik eröffnet, der auch die literaturwissenschaftliche Forschung, insbesondere zu Heiner Müller und Elfriede Jelinek, bestimmt.18 Die vorliegende Studie knüpft an die formalen Analysen von Lehmann an und möchte vor allem die bisher vernachlässigte historische Kontextualisierung des Phänomens profilieren. Um die spezifische Formsemantik postdramatischer Mittel zu rekonstruieren, kann sich die Arbeit noch auf weitere theaterwissenschaftliche Analysen stützen: Bereits 1977 hat die amerikanische Theaterwissenschaftlerin Bonnie Marranca mit Blick auf die zeitgenössische
16 Wie die Theorie des postdramatischen Theaters im Umkreis des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft entstanden ist, dokumentiert die Festschrift zu Lehmanns 60. Geburtstag: Patrick Primavesi und Olaf A. Schmitt (Hg.), AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation, Berlin 2004. Die Sammlung verbindet wissenschaftliche Analyse, Erfahrungsberichte von Zeitzeugen und Wegbegleitern sowie künstlerische Beiträge. Sie festigt nicht zuletzt einen Kanon postdramatischer Ästhetik. 17 Vgl. Elinor Fuchs, The Death of Character. Perspectives on Theatre after Modernism, Bloomington and Indianapolis 1996. 18 Zur Wirkung von Fuchs’ Ansatz vgl. Christopher Balme, Editorial.
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amerikanische Avantgarde ein Theatre of Images konstatiert und, ohne den Begriff zu verwenden, eine spezifisch postdramatische Bühnensituation beschrieben: The absence of dialogue leads to the predominance of the stage picture in the Theatre of Images. This voids all considerations of theatre as it is conventionally understood in terms of plot, character, setting, language and movement. Actors do not create ‚roles‘. They function instead as media through which the playwright expresses his ideas; they serve as icons and images. Text is merely a pretext – a scenario.19
Als wichtigster Vorläufer postdramatischer Theoriebildung kann Andrzej Wirth gelten: Am Beispiel von Peter Handkes und Heiner Müllers Stücken seit den späten sechziger Jahren und im Vergleich mit Robert Wilson und Richard Foreman beschreibt Wirth 1980 die „nachbrechtschen Theaterkonzepte“ in ihrer Dynamik „vom Dialog zum Diskurs“.20 Sein knapper Aufsatz, der in der Postdramatik-Diskussion zu Unrecht an den Rand gedrängt ist, fokussiert mit dem erzählenden, kommentierenden und stark subjektiven Diskurs von der Bühne ins Publikum die entscheidende Spielsituation des postdramatischen Modells. Sie bestimmt nicht nur die Inszenierungen, sondern auch die Kommunikationsstrukturen der Theaterstücke. Wirths Aufsatz, der die Abwendung vom Dialog bereits bei Bertolt Brecht und im absurden Theater Becketts angelegt sieht, bietet außerdem einen ersten Ansatz zur historischen Kontextualisierung des Postdramas. Gerade die dominante Rückbindung des Diskurstheaters an das epische Modell, für die Wirth von der Postdramatik-Forschung kritisiert wurde,21 eröffnen meiner Ansicht nach, wenn man die spezifischen Transformationen des Musters angemessen bestimmt, die notwendige Historisierung des postdramatischen Theaters. Als problematisch hat sich die Übertragung des theaterwissenschaftlichen Konzepts auf die Literatur erwiesen: Die Übersetzung von postdramatisch mit „nach dem Drama“ oder „nach der Handlung“ 22 hat von Seiten der Literaturwissenschaft dazu geführt, einen Bruch mit dramatischen Strukturmerkmalen 19 Bonnie Marranca, Introduction. In: The Theatre of Images. Richard Foreman: Pandering to the Masses. A Misinterpretation. Robert Wilson: A Letter for Queen Victoria. Lee Breuer: The Red Horse Animation, hg. von Bonnie Marranca, New York 1977, S. IX–XV, hier S. X–XI. 20 Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs. Versuch einer Synthese der nachbrechtschen Theaterkonzepte. In: Theater heute 1, 1980, S. 16–19. 21 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 41–47, hier bes. S. 44–47. 22 Ein aktueller, von Artur Pelka und Stefan Tigges herausgegebener Sammelband bündelt Analysen zum zeitgenössischen Theater unter der Formel vom „Drama nach dem Drama“ (Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945, Bielefeld 2011). Als entscheidendes postdramatisches Strukturmerkmal bestimmt Hans-Thies Lehmann die Absage an die Handlung und sieht darin den Bruch mit Brechts Fabel-Theater (Postdramatisches Theater,
Einleitung
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zu konstruieren und vom „nicht mehr dramatischen Theatertext“ 23 zu sprechen. Diese Sichtweise hat den Blick auf die produktive Transformation spezifischer dramatischer Traditionslinien verstellt. Außerdem ist das weite und heterogene Feld der Postdramen bisher noch unzureichend vermessen: Gerade die Kontinuität des Musters, die durch die autorspezifischen Besonderheiten hindurch die verschiedenen Ausprägungen verbindet, ist bisher nicht genügend gesehen worden. Ebenso wenig geriet die Dynamik innerhalb des Musters, die Herausbildung einzelner Phasen der postdramatischen Theaterpraxis, in den Blick. So wurde vor allem die Gründungsphase der 1960er Jahre im Kontext von Politisierung und Studentenbewegung bisher nicht gewürdigt. Die Konzentration der Forschung auf Texte der 1980er und 1990er Jahre erklärt auch, weshalb Handkes Publikumsbeschimpfung als Gründungstext des Postdramas vernachlässigt wurde.
2 Definition Als Postdramen bezeichne ich experimentelle Theaterstücke seit den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, die für ein Diskurstheater geschrieben sind und sich metatheatral auf diese spezifische Bühnensituation beziehen. Performativität und Metatheatralität des Postdramas werden erzeugt durch ein Set an dramaturgischen Mitteln, die sich als episch qualifizieren lassen. Das wichtigste pragmatische Kriterium der Arbeitsdefinition, das den Status postdramatischer Stücke im Kontext der zeitgenössischen Theaterpraxis definiert, ist Brechts Theatertheorie entlehnt: Der als „Material“ 24 verstandene Text bes. S. 113–138). Bernd Stegemann folgt in seinem Resümee der postdramatischen ‚Mode‘ dieser Bestimmung (Nach der Postdramatik, S. 149). 23 Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext. Ihre Formulierung wurde vielfach aufgenommen, etwa von Achim Stricker, Text-Raum, und Stefan Krammer, „Ich will ein anderes Theater“ – Jelineks Theatertexte zwischen Tradition und Innovation. In: Elfriede Jelinek. Tradition, Politik und Zitat, hg. von Sabine Müller und Cathrine Theodorsen, Wien 2008, S. 109–122. Die Wirkungsgeschichte ist dabei radikaler als Poschmanns Ansatz selbst, der die Abwendung vom Drama eher als grundlegende Tendenz diagnostiziert und Skalierungen im Umgang mit dem dramatischen Muster definiert: Sie reichen von einer (kreativen beziehungsweise „kritischen“) „Nutzung der dramatischen Form“, z. B. in Spielarten des ‚Metatheaters‘, bis zur „Überwindung der dramatischen Form“ (vgl. die systematische Gliederung der Studie von Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext). Stellvertretend für die englischsprachige Forschung vgl. Christopher Balme, Editorial, und David Barnett, When is a Play not a Drama? 24 Zu Brechts Materialbegriff, den er seit den 1920er Jahren insbesondere im Verhältnis zu ‚Klassikern‘ der Dramenliteratur verwendet, vgl. Werner Frick, „Die mythische Methode“. Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen
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zeichnet sich durch seine Offenheit mit Blick auf die Umsetzung aus. Als Material für eine Aufführung kann ein postdramatischer Text zum Beispiel umgestellt, (um weitere Texte) ergänzt, gekürzt, kommentiert und vielfältig verfremdet werden. So können Textpassagen gesprochen oder in Bild, Spiel oder Tanz übersetzt werden. In der Postdramatik kann durch entsprechende Bearbeitung und Realisierung prinzipiell jeder Text diesen Materialstatus erhalten – etwa auch ein ‚klassisches‘ Drama oder ein Roman. Die genuinen Postdramen, die Gegenstand meiner Arbeit sind, reflektieren jedoch von sich aus bereits ihren Materialcharakter. Dies kann implizit erfolgen, etwa durch die Enthierarchisierung von Textinstanzen, von Haupt- und Nebentext beziehungsweise Sprech- und Regietext in Heiner Müllers Hamletmaschine, oder explizit: „Der Text kann an jeder beliebigen Stelle anfangen und aufhören. Es ist egal, wie man ihn realisiert“ 25 (Regieanweisung aus Elfriede Jelineks Die Kontrakte des Kaufmanns). Die Definition knüpft an das theaterwissenschaftliche Konzept des postdramatischen Theaters an und reflektiert die zentrale Bedeutung, die der Aufführung und den genuin theatralen Elementen (wie Körper, Bewegung, Stimme) in den Stücken selbst zukommt. Allerdings wird das Konzept aus literaturwissenschaftlicher Perspektive modifiziert, um meinem Untersuchungsgegenstand – dem literarischen Beitrag zur postdramatischen Theaterpraxis – gerecht zu werden. Denn gerade die Bedeutung textueller und sprachlicher Elemente – der spannungsvolle Dialog zwischen Text und Aufführung – ist in der Forschung zum postdramatischen Theater bisher nicht systematisch bestimmt worden:26 Die materialen, also klanglichen und rhythmischen Qualitäten der Sprache, die in Postdramen betont werden, dienen zwar der postdramatischen Bühnensituation. Zugleich wird die Unmittelbarkeit der Aufführung jedoch durch den indirekten, reflexiven Charakter der Stücke spannungsvoll unterlaufen. Die vorgeschlagene offene Definition ist in ihrem spezifischen Bezug auf die neue Bühnensituation des postdramatischen Theaters eng genug, um das Phänomen Postdrama gegen andere Tendenzen des Gegenwartsdramas abzu-
Moderne, Tübingen 1998, S. 495 ff. Anknüpfend an Brecht verwendet den Begriff auch Heiner Müller, etwa in einem Stücktitel wie Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (1982). 25 Elfriede Jelinek, Drei Theaterstücke, S. 209. 26 Einzig Hans-Thies Lehmann hat in einem knappen Aufsatz die Frage nach dem postdramatischen Text im Kontext der Inszenierung aufgeworfen, betont jedoch einseitig die materiale Qualität der Sprache (die er damit den Gesetzen postdramatischer Inszenierung unterwirft) und fordert eine „Phänomenologie der Spracherfahrung im Theater“ (Just a word on a page and there’s a drama, S. 33).
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grenzen. Gleichzeitig ist sie mit den Merkmalen des experimentellen Umgangs mit dramatischen Strukturmerkmalen und dem metatheatralen Selbstbezug weit genug gefasst, um verschiedene Ausprägungen des heterogenen Gegenstandes zu erfassen: Der metatheatrale Selbstbezug äußert sich in verschiedenen Mitteln, die in variierender Intensität und Kombination für die Familienähnlichkeit zwischen den Postdramen sorgen. Zu ihnen zählen intertextuelle Verweise, narrative Vermittlungsinstanzen, Kommentarstrukturen und intermediale Bezüge zu Film, Musik und bildender Kunst. Experimentell ist der Umgang mit traditionellen dramatischen Strukturmerkmalen: Fragmentierte Handlungen, Gattungsmischungen und enthierarchisierte Textinstanzen sind typische Merkmale des Postdramas. Grundlegend ist die Dynamik „vom Dialog zum Diskurs“ (Andrzej Wirth), vom inneren ins äußere Kommunikationssystem, auch wenn das dialogische Moment meiner Meinung nach nicht überwunden, sondern lediglich verschoben wird: in die Theatersituation, also in die Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauer, Text und Spieler, Erzählinstanz und Regisseur. Wenig plausibel erscheint mir die gängige Auffassung des Postdramatischen als Negation von Handlung (s. o.). Auch wenn der Bezug zur Handlung etymologisch (‚Drama‘ als ‚Handlung‘) plausibel ist, wird er dem Gegenstand nicht gerecht. Die Darstellung einer Handlung ist nicht das entscheidende Differenzkriterium zu anderen Gattungen, wie Holger Korthals in seiner Studie zu „geschehensdarstellenden“ Gattungen (Drama, Epik) gezeigt hat.27 Als zentrales dramatisches Strukturmerkmal erscheint vielmehr der Dialog ohne erzählerische Vermittlung. Um die Entwicklungslinie des Postdramas nachzuzeichnen, lässt sich an Peter Szondi und Andrzej Wirth anknüpfen: Szondis Theorie des modernen Dramas diagnostiziert eine „Krise des Dramas“ 28 seit dem späten neunzehnten Jahrhundert, die er bereits mit Bezug zum Dialog erläutert. Diese Linie schreibt Wirth fort mit Beispielen aus den 1960er und 1970er Jahren. Im nachbrechtschen „Diskurstheater“, das Wirth analysiert,29 hat sich die Krise des Dramas endgültig zur Krise des Dialogs zugespitzt. Durch die skizzierte Verlagerung des Dialogischen vom innerdramatischen Dialog in die theatrale Situation entsteht eine Kommunikationsstruktur, die
27 Holger Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur, Berlin 2003. Systematische Analysen zu Gattungsmischungen und „erzähl-analogen“ Passagen im Drama führen ihn zu dem Vorschlag, dramatische und narrative Texte unter dem Oberbegriff der „Geschehensdarstellung“ zu fassen. 28 Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas (1880–1950), Frankfurt a. M. 1963, Kap. II, S. 20–73. 29 Vgl. Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs.
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der Epik – der Kommunikation zwischen Erzähler und implizitem Leser – entspricht. Aus dieser Grundsituation des Postdramas, die sich ausgehend von der Publikumsbeschimpfung immer weiter differenziert und vor allem subjektiviert, erklärt sich die Verwendung des Begriffs ‚episches Theater‘, wie er der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegt:30 Episierung meint hier Narrativierung, wobei das Erbe des epischen Theaters, insbesondere Bertolt Brechts, wie die folgende literarhistorische Kontextualisierung zeigen soll, als prägendes Muster erscheint, das weiterentwickelt wird. Indem Dialog und dramatischer Konflikt (zwischen den Instanzen des Textes und der Aufführung) ein grundlegendes Merkmal auch der behandelten Postdramen darstellt, markieren sie keinen Bruch mit der Gattung Drama, sondern eine Transformation dramatischer Formen innerhalb einer veränderten Bühnensituation. Den Beginn des deutschsprachigen Postdramas datiert die vorliegende Studie auf die 1960er Jahre, genauer auf das Uraufführungsjahr der Publikumsbeschimpfung 1966: Dieses Stück initiiert die für das postdramatische Theater entscheidende Situation der Ansprache ans Publikum; sein Gestus der Revolte reflektiert die Entstehungsbedingungen des Postdramas im Zeichen der beginnenden Studentenbewegung. Deutlich wird die Transformation von Impulsen aus der Happening- und Aktionskunst-Bewegung, die Handke direkt mit der Institution des bürgerlichen Theaters konfrontiert. In diesem postdramatischen Gründungstext liegt die Keimzelle spezifischer Mittel und Formen, deren Traditionslinien hier greifbar werden.
3 Beweisziel Das Phänomen des Postdramas soll in meiner Studie als Transformation des epischen Theaters ausgewiesen werden. Die bisher dominierenden negativen Kennzeichnungen, die den „nicht mehr dramatischen Theatertext“ (Gerda Poschmann) als Absage an Handlung, Figur und Dialog bestimmen, sollen überführt werden in eine positive und differenzierte, literarhistorisch perspektivierte Bestimmung des heterogenen Gegenstandes; Ziel ist es, das Typische,
30 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, bes. S. 41–48, kritisiert eine einseitige Orientierung der Theoriebildung zum modernen Drama (Szondi) am epischen Muster. Seiner Ansicht nach greift der Begriff zur Beschreibung postdramatischer Tendenzen zu kurz. Offenbar bezieht sich Lehmanns enger Begriff des ‚epischen Theaters‘ – wie bereits derjenige des von ihm kritisierten Szondi – allein auf den Dramatiker Brecht, ohne dessen Theatertheorie und ihr unrealisiertes Potential einzubeziehen, die eine freie Brecht-Rezeption aufgreifen und transformieren. Vgl. dazu im Ansatz Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs. Zur postdramatischen Brecht-Rezeption vgl. Kap. 1.1 meiner Studie.
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das jenseits aller autor- und zeitspezifischen Eigenheiten liegende Gemeinsame postdramatischer Stücke herauszuarbeiten. Hierzu soll gezeigt werden, dass das Postdrama eine Tradition hat, über die sich spezifische Schreibweisen charakterisieren lassen. Außerdem soll die Entwicklung der postdramatischen Ästhetik nachgezeichnet werden. Wie hier knapp vorweggenommen werden kann, ist eine erste Phase (1966 bis 1984), in der sich die spezifischen Mittel und Formen herausbilden, geprägt von der Spannung zwischen politischer Botschaft und selbstreferentiellem Formalismus. In einer zweiten Phase, die mit Heiner Müllers Bildbeschreibung (1985) beginnt und mit seinem Tod 1995 endet, lässt sich eine zunehmende Subjektivierung der Stücke beobachten: Das Theater wird auf die ‚innere‘ Bühne verlegt, die Stücke lassen sich als Bewusstseinsspiele lesen. In diesem Zuge verstärkt sich, wie gezeigt werden soll, auch die Episierung: Das Diskurstheater der frühen Phase wird zum Erzähltheater, das subjektivierende Mittel des modernen Erzählens adaptiert.31 Obwohl die Postdramatik keine Bewegung oder Schule darstellt, sondern sich durch spezifische Schreibweisen und Inszenierungsstile ganz unterschiedlicher Autoren und Theaterkünstler definiert, ist dennoch eine interne Traditionsbildung zu erkennen: So wird Heiner Müller bereits zu Lebzeiten zu einem Klassiker des Postdramas, auf den sich andere Autoren wie Elfriede Jelinek und Rainald Goetz beziehen, die ihren Stücken intertextuelle Müller-Hommagen einschreiben.
4 Systematische Fragen 4.1 Referenz Umstritten ist die Frage nach der Referenz beziehungsweise ‚Welthaltigkeit‘ des Postdramas. Aufgrund der Dichte von Theatermotiven und der Tendenz, die
31 In der Forschung wird die zunehmende Subjektivierung des postdramatischen oder postmodernen Theaters zumeist nur rezeptionsästhetisch gefasst: Für Helga Finter ist das Drama „in die Sinne“ verlegt (Das Kameraauge des postmodernen Theaters. In: Studien zur Ästhetik des Gegenwartstheaters, hg. von Christian W. Thomsen, Heidelberg 1985, S. 46–70, hier S. 47). Finter untersucht zudem den Schauplatz der „mentalen Bühne“ (Audiovision. Zur Dioptrik von Text, Bühne und Zuschauer. In: Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, hg. von Erika FischerLichte, Wolfgang Greisenegger und Hans-Thies Lehmann, Tübingen 1994, S. 183–192, hier S. 83): Beide Beobachtungen beziehen sich auf den Zuschauer. Vergleichbar argumentiert Erika Fischer-Lichte, wenn sie die Emergenz von Bedeutung im Theater aus rezeptionsästhetischer Sicht untersucht. Ergänzend zu diesen Ansätzen möchte ich die subjektivierenden (Er-
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theatralen Zeichen in ihrer Materialität auszustellen, ist das postdramatische Theater in hohem Maße selbstbezüglich – viele Inszenierungen und Stücke sind als ‚Metatheater‘32 zu qualifizieren. Die Postdramatik erschöpft sich jedoch nicht im Selbstbezug der Zeichen: Elfriede Jelineks Stücke etwa greifen häufig tagespolitische Themen auf wie die Bankenkrise in Die Kontrakte des Kaufmanns: Auch wenn dies kein Stück über die Meinl-Bank ist, also nicht in Form eines Enthüllungsdramas der Skandal rekonstruiert wird, so ist diese Referenz auf außertheatrale Wirklichkeit als Grundlage notwendig, um die formsemantische Aussage zu kontextualisieren. Denn wenn man sich fragt, was hinter der sprachlichen Oberfläche steckt, die genussvoll den Soziolekt der Finanzwelt ‚zerredet‘, so lässt sich mit einem Leitwort des Textes antworten: Nichts. So hat Jelineks Stück in den mäandernden Sprachflächen eine Form für die Referenzlosigkeit und Virtualität der Finanzwelt – für die Blase – gefunden. Diese Form indirekter Referenz ist typisch für postdramatische Stücke, die zugleich – in den selbstreflexiven Mitteln – immer eine Distanz zum Gegenstand aufbauen. Hier stellt sich die grundlegende Frage, wie politisch oder gesellschaftskritisch das postdramatische Theater ist.33 Diese Diskussion ist nicht nur mit Blick auf inhaltliche Aspekte zu führen, da auch in der Formsemantik eines oft als rein selbstbezüglich kritisierten Spiels ein politisches Potential entdeckt werden kann. Aufs engste verbunden mit dem Referenz-Problem ist die Tendenz des postdramatischen Theaters, Realität nicht abzubilden, sondern sie, so wie sie ist, auf die Bühne zu holen. Vieldiskutiert ist der „Einbruch der Wirklichkeit in den Bühnenraum“:34 In postdramatischen Inszenierungen laufen echte Hunde, Pferde und Hühner auf der Bühne herum, ein Darsteller schält umständlich Gurken und isst sie, wirft echten Kartoffelsalat ins Publikum, ein Traktor rangiert lärmend auf der Bühne, in seiner physischen Verausgabung hat sich ein Darsteller wirklich verletzt und blutet aus einer Wunde am Knie: Alle diese
zähl-)Verfahren in den Texten selbst analysieren (Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, bes. Kap. 5). 32 Unter diesem Begriff verstehe ich mit Brigitte Schultze „alle Formen und Verfahren dramatischer und theatraler […] Selbstbewusstheit, Selbstreflexivität und Selbstreferentialität“ (‚Metatheater‘. In: Metzler Lexikon Theatertheorie, hg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat, Stuttgart und Weimar 2005, S. 199–201, hier S. 199). 33 Vgl. zu diesem Aspekt grundlegend Hans-Thies Lehmann, Das politische Schreiben, bes. S. 11–20. 34 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 170–178. Zur Debatte um den „Einbruch der Wirklichkeit in den Bühnenraum“ vgl. auch Katharina Tiedemann und Frank-M. Raddatz (Hg.), Reality strikes back. Tage vor dem Bildersturm. Eine Debatte zum Einbruch der Wirklichkeit in den Bühnenraum, Berlin 2007, (Theater der Zeit Recherchen 47).
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Elemente sind als Ausstellen der Bühnensituation zu werten – die saftigen und glitschigen Gurken zeigen nicht auf Gurken außerhalb des Theaters; auch Hunde, die sich nicht anders als authentisch verhalten können, haben als solche und das heißt, so wie sie auf der Bühne erscheinen, keine gesellschaftskritische Funktion.35 Da diese Elemente innerhalb der Bühnenrealität, wo alles Spiel und Inszenierung ist, keine jenseits dieses Spiels liegende Bedeutung erhalten können, in dieses Spiel zugleich aber nicht integrierbar sind, wirken sie als Bühnen-Verfremdungseffekte: Etwas Wirkliches, nicht Inszeniertes und Inszenierbares wird auf einer Theaterbühne zum Fremdkörper, durch den der grundsätzliche Spielcharakter der gesamten Veranstaltung jedoch umso deutlicher hervortritt. Die realen Momente durchbrechen, analog zum a-parte-Sprechen, eine Spielkonvention, die dadurch auffällt und reflektiert werden kann. Das gilt auch für den mitspielenden Zuschauer, der, wenn er sich nach der Herkunft des Traktors fragt oder hofft, dass die Spieler nicht auf den glitschigen Gurkenscheiben ausgleiten, aus der Rolle fällt – und sich dieser bewusst werden kann. Einen Test- und Grenzfall bildet der verletzte Spieler: Er wird die Wunde entweder ignorieren oder sie im weiteren Spiel einsetzen – wodurch sie selbst notwendigerweise zum Mitspieler wird. Eine Grenze ist überschritten, wenn er behandelt werden muss. In diesem Moment ist das Spiel automatisch abgebrochen. Dieser Bühnen-Verfremdungseffekt, der in der Spannung zwischen Fiktionalität und Faktualität, Inszenierung und Authentizität erzielt wird, ist typisch für die postdramatische Theaterästhetik. Seine Herkunft hat er in der Happening- und Performance-Kunst, deren Wirkungsstrategie häufig im beunruhigenden Changieren zwischen Realität und Kunst liegt.
4.2 Präsenz vs. Theater des Indirekten Eine weitere Spannung ist konstitutiv für die Ästhetik des Postdramas: Metatheatrale Elemente, implizite oder explizite Erzählinstanzen, ironische und allegorische Sprachspiele und intertextuelle Verweise unterlaufen als indirekte Strategien die demonstrierte Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit der Aufführung. In der neueren Forschung wird postdramatisches beziehungsweise postmodernes Theater häufig mit dem Begriff der Präsenz umschrieben: In der theaterwissenschaftlichen Forschung wird der Begriff zumeist mit der Körperlichkeit des
35 Anders argumentiert Nicolas Ridout, für den echte Tiere auf der postdramatischen Bühne politisch sind und auf Mechanismen der Unterdrückung verweisen (Animal labour in the theatrical economy. In: Theatre Research International 29, 2004, H. 1, S. 57–65).
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Schauspielers, seiner physischen Anwesenheit auf der Bühne, verbunden, die durch die selbstreflexiven Mittel des postdramatischen Theaters besonders hervorgehoben wird. Als Gegenbegriff gilt gemeinhin die ‚Repräsentation‘, mit Blick auf den Schauspieler also die Darstellung einer dramatischen Figur. Die spezifische Spannung zwischen unmittelbaren und indirekten Momenten ist bisher nicht hinreichend bestimmt. Meist wird der Postdramatik eine Überwindung der Repräsentation zugunsten der Präsenz zugeschrieben.36 Differenzierter bestimmt Erika Fischer-Lichte das Verhältnis, wenn sie versucht den Gegensatz zwischen Präsenz und Repräsentation mit Blick auf das Performative neu zu formulieren.37 Ihrer Versöhnung der beiden Phänomene liegt die Auffassung zugrunde, dass jede körperliche Erscheinung einen dynamischen Aufführungscharakter hat, also in einem performativen Prozess immer wieder hervorgebracht beziehungsweise hergestellt wird. Auf dieser Grundlage versucht sie, sowohl die leibliche Präsenz als auch die Repräsentation als „Verkörperungsprozesse“ zu beschreiben.38 Ihre Analyse, die auf die Körperlichkeit fokussiert bleibt, vernachlässigt jedoch den Status des auf der Bühne gesprochenen Worts: Auch wenn im Postdrama keine Rollentexte formuliert sind,
36 Hans-Thies Lehmann, Die Gegenwart des Theaters. In: Transformationen. Theater der neunziger Jahre, hg. von Erika Fischer-Lichte u. a., Berlin 1999, S. 13–26, untersucht die „Gegenwart des Theaters“ in der zeitgenössischen Theaterpraxis als spezifische „Ästhetik der Präsenz“ (S. 22), die er mit Hilfe kulturphilosophischer Theorien (Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Karl Heinz Bohrer) an ein Konzept der ‚ästhetischen Erfahrung‘ bindet. Eine vergleichbare Verschiebung von der Repräsentation zur Präsenz diagnostiziert die Jelinek-Forschung: Vgl. Doris Kolesch, Ästhetik der Präsenz. Die Stimme in Ein Sportstück. In: Transformationen. Theater der neunziger Jahre, hg. von Erika Fischer-Lichte, Berlin 1999, S. 57–69; Gabriele Klein, Der entzogene Text. Performativität im zeitgenössischen Theater. In: Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Uraufführung am Thalia Theater Hamburg in der Inszenierung von Nicolas Stemann, hg. von Ortrud Gutjahr, Würzburg 2007, S. 65–78. Zu Peter Handke und Botho Strauß vgl. Bernhard Greiner, „Bleib in dem Bild“. Die Verweigerung von Geschichte(n) auf dem Theater. Peter Handke Die Stunde da wir nichts voneinander wußten und Botho Strauß Schlußchor. In: Schreiben nach der Wende. Ein Jahrzehnt deutscher Literatur 1989–1999, hg. von Gerhard Fischer und David Roberts, Tübingen 2001, S. 207–221. Gegen eine mystische Verklärung von ‚Präsenz‘ wendet sich Miriam Drewes und plädiert für eine „gegenmystische“ Bestimmung von ‚Ereignis‘ und ‚ästhetischer Erfahrung‘ (Miriam Drewes, Theater als Ort der Utopie. Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz, Bielefeld 2010). 37 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, bes. S. 255–261. Im Kontext ihrer rezeptionsästhetischen Analyse zur „Emergenz von Bedeutung“ (Kap. 5, S. 243–280) erläutert sie am Hin und Her zwischen den beiden „Verkörperungsprozessen“ die ‚Selbsterfahrung‘ des Zuschauers, der „auf den Prozess der Wahrnehmung selbst“ (S. 261) gestoßen werde. Ihre systematische Analyse bezieht sich auf die Theatersituation im Allgemeinen – reflektiert jedoch stets die gesteigerte Bedeutung des Performativen im Gegenwartstheater. 38 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 256.
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spricht der Schauspieler dennoch einen fremden Text, den er nur hinsichtlich der lautlichen Qualität und in der Art der Betonung selbst hervorbringt. Diese Spannung zwischen Schauspielerkörper und literarischem Text akzentuiert etwa Jelineks Theater der „Sprachflächen“:39 Die Dominanz einer Vermittlungsinstanz äußert sich hier im markanten ‚Jelinek-Sound‘, der in seiner Künstlichkeit die Distanz zum wiederholenden Schauspieler deutlich markiert.
4.3 Performativität Eng verbunden mit der Frage der Präsenz ist ein weiteres Konzept, das die Debatten um das Gegenwartstheater prägt: Auf die „performative Wende der Künste in den sechziger Jahren“ (Fischer-Lichte) hat eine wissenschaftliche Theoriebildung zum Performativen geantwortet, die an sprachphilosophische Konzeptionen der 1950er Jahre anschließen konnte.40 In der Debatte um die – genuin performativ akzentuierte – Postdramatik ist der Begriff in seinem gesamten Bedeutungsspektrum relevant: Der Begriff des Performativen leitet sich ab vom englischen Verb ‚to perform‘ (‚verrichten, ausführen, aufführen‘). In der Forschung hat sich die Unterscheidung eingebürgert zwischen ‚Performanz‘ (vgl. performance) für die Beschreibung von Aufführungsphänomenen und ‚Performativität‘ als Oberbegriff für die theoretische Reflexion auf diese Phänomene. Der Begriffskomplex wird in drei Bedeutungen gebraucht:41 Eingeführt wurde er zunächst in die Sprachphilosophie. In John Austins Sprechakttheorie42 werden diejenigen Sprechakte performativ genannt, mit denen (bestimmte soziale Bedingungen vorausgesetzt) im Sprechen Handlungen vollzogen werden, etwa eine Taufe („Hiermit taufe ich dich auf den Namen xy“), eine Eheschließung („Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau“) oder ein Versprechen, das mit seiner Äußerung zugleich gegeben ist. Alle diese Sprechakte sind wirklichkeitskonstituierend, stellen eine neue (soziale) Gegebenheit her (im Gegensatz zu solchen Äußerungen, die einen Sachverhalt lediglich beschreiben). Diese sprachphilosophische Kon-
39 Elfriede Jelinek, Ich möchte seicht sein. In: Theater heute, Jahrbuch 1983, S. 102. Zum Begriff der Sprachflächen, der sich in der Jelinek-Forschung zur Beschreibung ihrer Theaterästhetik durchgesetzt hat vgl. Ulrike Haß, Theaterästhetik. In: Pia Janke (Hg.), Jelinek Handbuch, Stuttgart und Weimar 2013, S. 62–67, hier S. 65 f. 40 Vgl. die grundlegende Studie von Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. 41 Zu Begriffsgeschichte und Bedeutungsspektrum des Performativen vgl. die einführenden „Begriffsklärungen“ von Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 31–57. 42 Vgl. John Austin, How to do things with words. The William James lectures delivered at Harvard University in 1955, Cambridge, Mass. 1962.
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zeption ist auch grundlegend für das postdramatische Diskurstheater, das im Ansprechen des Publikums eine spezifische Spielsituation erzeugt und aufrecht hält. Eine zweite, weiter gefasste Bedeutung erhielt der Begriff des Performativen durch die Ausweitung auf Nonverbales. So können etwa körperliche Akte (Bewegungen, Gesten), mit denen eine Person ihre soziale Rolle, etwa ihr soziales Geschlecht (gender), kennzeichnet, mit Judith Butler43 als performative Akte, als wirklichkeitskonstituierende Aufführungen verstanden werden. Ein ganzer Zweig der amerikanischen Soziologie (Kinesik, Proxemik) beschäftigt sich mit derartigen Akten, mit denen Personen ihre soziale Identität konstruieren (etwa, wie sich in unterschiedlichen Grußformeln und -gesten soziale Hierarchien etablieren). In der theaterwissenschaftlichen Forschung zur Postdramatik, die sich auf die räumliche und zeitliche Bühnenpräsenz (s. o.) von Körpern fokussiert, ist der sprachphilosophische Aspekt zugunsten dieser zweiten Bedeutung in den Hintergrund getreten. Er lässt sich auch für die literaturwissenschaftliche Betrachtung operationalisieren, da viele Postdramen, etwa die stummen Stücke Peter Handkes, durch eine Aufwertung des Pantomimischen gekennzeichnet sind. In einer dritten Bedeutung wird der Begriff des Performativen auf jede Form inszenierter und ritualisierter kultureller Handlung ausgeweitet: Hier trifft er sich mit dem Begriff der Theatralität. In den Blick kommen neben künstlerischen Aufführungen (Theater und Performance-Kunst) auch die Theatralik in Politik und Medien oder das Zeremoniell einer Messe. Im Rahmen einer performativen Wende in den Kulturwissenschaften werden in diesem Zusammenhang Dynamik, Prozess- und Ereignischarakter betont, die eine Aufführung gegenüber einem statisch verstandenen, in sich abgeschlossenen Werk auszeichnen. Mit Blick auf die Postdramen lässt sich beobachten, dass Bewusstsein und Reflexion des Performativen sich in der Form der Texte niederschlägt. Der Bezug zur Aufführung spiegelt sich in einer demonstrierten Offenheit: Postdramen sind eher Partituren einer Aufführung als unabhängige, abgeschlossene Werke. Sie sind konzipiert als vielfältig umsetzbares und einsetzbares, offenes und dynamisches Material für eine Aufführung. Diese spezifische Offenheit der Form macht es notwendig, in die Analyse von Postdramen auch Inszenierungen einzubeziehen.
43 Vgl. Judith Butler, Performative Acts and Gender Constitution. An Essay in Phenomenology and Feminist Theory. In: Performing Feminism. Feminist Critical Theory and Theatre, hg. von Sue-Ellen Case, Baltimore/London 1990, S. 270–282.
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5 Methoden Die Studie kombiniert verschiedene Zugänge, die an die Phasen des Phänomens angepasst sind: Um das Postdrama zu historisieren, werden seine Traditionen rekonstruiert – jedoch nicht als bloße Literaturgeschichtsschreibung und Einflussforschung: Vielmehr sollen Entstehung und Entwicklung des postdramatischen Paradigmas kulturgeschichtlich kontextualisiert werden.44 Die ersten beiden Kapitel, welche die Vorläufer und die Gründungsphase des Postdramas behandeln, sind als Text-Kontext-Analysen angelegt: So werden neben Rezeptionsphänomenen auch intertextuelle Dialoge und intermediale Relationen in einem international vernetzten Feld der Theateravantgarde und Performance-Kunst seit den 1960er Jahren analysiert. Insbesondere angesichts der Intertextualität, die das postdramatische Zitattheater entscheidend prägt, erweist sich die Notwendigkeit einer spezifisch literaturwissenschaftlichen Analyse: Das Kriterium der „Dialogizität“,45 mit dem das Verhältnis zwischen Prä- und Posttext in den Blick kommt, erfasst zudem ein dramatisches Moment: Ein dramatischer Dialog wird im Postdrama zwischen Texten inszeniert. Ein pragmatischer, literatursoziologisch fundierter Zugang ist notwendig, um den Bezug des Postdramas zur Institution des bürgerlichen Theaters zu untersuchen. Anleihen aus der Feldtheorie Pierre Bourdieus können dieses Verhältnis profilieren:46 Das symbolische Kapital der Postdramatik speist sich aus der Aneignung avantgardistischer Praktiken, die mit den Konventionen der Institution Theater konfrontiert werden – und eine Transformation seiner Bühnensituation bewirken. 44 Zur wachsenden Bedeutung der Text-Kontext-Relation in der Literatur- bzw. Kulturwissenschaft vgl. Lutz Danneberg, „Kontext“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Harald Fricke, Bd. 2, Berlin und New York 2000, S. 333–337. 45 Den auf Michail Bachtin zurückgehenden Begriff der „Dialogizität“ verwende ich in einem engeren Sinne der hermeneutischen Intertextualitätstheorie von Ulrich Broich und Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 1–30: Dialogizität bestimmt hier die Semantik eines intertextuellen Verweises, die sich aus der Spannung zwischen seinem Herkunfts- und seinem Zielkontext ergibt, in den er als ‚fremde Rede‘ eingeschrieben ist. Die Spannung zwischen dem intertextuellen Verweis und seinem neuen Kontext kann mehr oder weniger groß sein. Ein Optimum an Dialogizität liegt nach dieser Definition in einer „differenzierte[n] Dialektik von Anknüpfen und Distanznahme“ (S. 29). Der Begriff erlaubt eine präzise Beschreibung intertextueller Strukturen als Basis einer Funktionsdeutung. 46 Vgl. Pierre Bourdieu, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris 1992. Eine Einführung in Terminologie und Anwendung der literatursoziologischen Feldtheorie geben Louis Pinto und Franz Schultheis (Hg.), Streifzüge durch das literarische Feld, Konstanz 1997.
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Die Einzeltextinterpretationen kombinieren verschiedene Methoden der philologischen Analyse, die an die hybride Gattung Postdrama angepasst sind: Zunächst operieren sie mit Methoden und Begriffen der strukturalistischen Dramentheorie.47 Um die Narrativierung der Postdramen zu analysieren, werden neuere, an Gérard Genette angelehnte narratologische Analyseverfahren einbezogen.48 Die Arbeit kann hier auch gewinnbringend an Holger Korthals anknüpfen, der Genettes Terminologie für die Dramenanalyse fruchtbar gemacht hat.49 Bei der Analyse subjektivierter Erzählverfahren, wie sie für die postdramatischen Stücke meines Korpus in der zweiten Phase typisch sind, kann die Narratologie wichtige Differenzierungen leisten: Widersprochen werden muss der Tendenz, Vermittlungsinstanzen in postdramatischen Texten als Autorinstanzen zu qualifizieren. Dagegen soll die Kategorie des Erzählers, der als fiktive Autorfigur auftreten kann, in die Analyse eingeführt werden: Bedeutsam wird diese Instanz vor allem dort, wo interne Fokalisierungen und Phänomene wie erzählerische Unzuverlässigkeit die Vermittlung bestimmen. Um der besonderen Bedeutung des Performativen im Postdrama gerecht zu werden, verfahre ich interdisziplinär. Die spezifische Polyvalenz und Offenheit postdramatischer Texte ist, insbesondere mit Blick auf Inszenierungsspielräume, bisher nicht gewürdigt worden. In der interdisziplinären Analyse gibt es noch keine befriedigenden Ergebnisse: Zumeist stehen Textanalysen neben Aufführungsbeschreibungen, ohne das Verhältnis der beiden systematisch zu reflektieren.50 Einen ersten Anstoß zur fruchtbaren Verbindung der Disziplinen liefert die Diskussion um Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart (2006), ein Stück, dessen Text – der von der Autorin nicht veröffentlicht wurde – nur in der jeweili-
47 Hier bezieht sich die Studie auf das Standardwerk von Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, 5., durchges. und erg. Aufl., München 1988. 48 Die Vermittlung von Genettes Terminologie in der deutschsprachigen Forschung verdankt sich Matías Martínez und Michael Scheffel, an deren Einführung in die Erzähltheorie (München 1999) sich die narratologischen Analysen dieser Studie orientieren. 49 Holger Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. 50 Vgl. Katharina Keim, Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, Tübingen 1998, (Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste 23) und Petra Meurer, Theatrale Räume. Theaterästhetische Entwürfe in Stücken von Werner Schwab, Elfriede Jelinek und Peter Handke, Berlin und Münster 2007. Eine Ausnahme bildet Erika Fischer-Lichte, Vom „Theatertheater“ zurück zum Theater. Aufführungsanalyse von Handkes Kaspar in einer Inszenierung des Theaters der Landeshauptstadt Mainz. In: Zeitgenössisches Theater in Deutschland und Frankreich, hg. von Willy Floeck, Tübingen 1989, S. 119–133: Ihre theaterwissenschaftliche Aufführungsanalyse einer Inszenierung von Handkes Kaspar am Staatstheater Mainz hat stets das Verhältnis zur Dramaturgie des Textes im Blick.
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gen Aufführung existiert.51 Eine methodisch reflektierte Analyse der Transformation von Text in Aufführung kann hier gewinnbringend anknüpfen.52 Die Aufführungsanalysen dieser Studie orientieren sich an der Theatersemiotik.53 Vor allem die rezeptionsästhetische Theatersemiotik von Patrice Pavis kann für mein Textkorpus in doppelter Weise fruchtbar gemacht werden:54 Die strukturelle Offenheit der Dramen, die kongeniale Inszenierungsformen provoziert, fordert auch den Zuschauer in besonderer Weise heraus. Aufführungsanalysen sind daher fast zwangsläufig rezeptionsästhetisch dimensioniert. Außerdem sind viele Stücke des subjektivierten Erzähltheaters selbst Aufführungsbeschreibungen, in denen der Erzähler aus der Zuschauerperspektive berichtet. Doch auch wenn ich an Pavis’ Konzept der „dramaturgischen Analyse“ als „Schnittstelle zwischen Produktion und Rezeption“ anknüpfe,55 teile ich nicht die grundsätzliche Übertragung des Konzepts auf literarische Texte, wie sie von Gerda Poschmann vorgeschlagen wurde: Ihr Begriff der „Texttheatralität“ 56 erscheint mir problematisch. Denn in einem wörtlichen Sinne theatral werden die Texte erst im pragmatischen Kontext – als aufgeführte Sprechakte konstituieren sie eine bestimmte Bühnenrealität. Im übertragenen Sinne gebraucht, wird der Begriff jedoch inhaltsleer und kann durch das weitere Konzept des Performativen (s. o.) ersetzt werden.57 51 Vgl. den wissenschaftlichen Sammelband zur Uraufführung von Ortrud Gutjahr (Hg.), Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Uraufführung am Thalia Theater Hamburg in der Inszenierung von Nicolas Stemann, Würzburg 2007, S. 65–78. 52 Grundsätzlich stimme ich auch mit Karen Juers-Munby überein, die sich gegen die gängige Auffassung vom Bedeutungsverlust des Textes im postdramatischen Theater wendet: Mit Blick auf Jelineks Sprachflächen und Inszenierungsbeispiele spricht sie vom „Resistant Text“ und analysiert den „conflict between written text and performance“ (The „Resistant Text“ in Postdramatic Theatre. In: Performance Research 14, 2009, H. 1, S. 46–56). 53 Methode und Terminologie beziehen sich insbesondere auf: Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 1983. Grundlegend für das Verhältnis von Text und Aufführung, das sie als „Transformation“ beschreibt und systematisiert, ist Fischer-Lichtes Beitrag Was ist eine werkgetreue Inszenierung? Überlegungen zum Prozeß der Transformation eines Dramas in eine Aufführung. In: Das Drama und seine Aufführung, hg. von Erika Fischer-Lichte, Tübingen 1985, S. 37–49. Da sich die neueren ‚Performance Studies‘ auf der Grundlage theatersemiotischer Forschung entwickelten, sind deren Standardwerke der 1980er Jahre nach wie vor aktuell: Sie liefern das Instrumentarium einer genauen Beschreibung der Aufführungen, auf deren Basis eine Funktionsdeutung des Verhältnisses von Text und Inszenierung erfolgen kann. 54 Patrice Pavis, Semiotik der Theaterrezeption, Tübingen 1988, S. 100–107. 55 Patrice Pavis, Semiotik der Theaterrezeption, S. 2. 56 Vgl. Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 288–343. 57 Bestimmte performative, etwa musikalisierende Schreibweisen haben eine Affinität zur Theateraufführung, was aber nicht bedeutet, dass sie von sich aus schon als theatral zu beschreiben sind.
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6 Anlage der Arbeit Der Hauptteil der Studie umfasst drei Kapitel: Um die notwendige literarhistorische Kontextualisierung des Postdramas zu leisten, werden in einem ersten komparatistisch perspektivierten Kapitel zunächst die Vorläufer Bertolt Brecht, Samuel Beckett und Gertrude Stein eingehend gewürdigt. Die Frage nach postdramatischen Traditionen perspektiviert entscheidend auch die weitere Untersuchung. Ein zweites Kapitel, das den Kern der Arbeit bildet, beleuchtet eingehend die vernachlässigte Gründungsphase des Postdramas in den sechziger bis frühen achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts: Die intensiven Textinterpretationen zu Handke, Müller und Jelinek werden flankiert von einem extensiven Überblick, der die Entstehung einer spezifisch postdramatischen Ästhetik im Kontext von politischer Aktion, politisiertem Theater, Aktionskunst, Happening und amerikanischer Theateravantgarde verortet. Um der historischen Verselbständigung entgegenzusteuern, werden in den ersten beiden Kapiteln in die Darstellung von Vorläufern und zeitgenössischen Einflüssen immer wieder wirkungsgeschichtliche Analysen eingespielt, die den Bezug zu einzelnen Postdramen herstellen. Das dritte Kapitel verfolgt anhand von Einzelinterpretationen zu Handke, Müller, Jelinek und Goetz, wie sich die postdramatischen Schreibweisen zwischen 1985 und 1995 im Zeichen eines subjektiven Erzähltheaters weiter ausdifferenzieren. Ein Ausblick auf die Zeit nach der Jahrtausendwende verfolgt, wie sich aktuelle Tendenzen des Gegenwartstheaters zugleich an die postdramatische Tradition anschließen und sich von ihr abzugrenzen suchen: Das Beispiel des jungen Dramatikers Ewald Palmetshofer zeigt eine durch die Postdramatik geläuterte Rückkehr zu Brechts Demonstrationstheater.
7 Textauswahl Für die Einzelinterpretationen meiner Studie galt es, aus einem inzwischen beträchtlich angewachsenen und heterogenen Korpus postdramatischer Stücke prägnante Beispiele auszuwählen. Hierbei habe ich mich zunächst für eine zeitliche Eingrenzung entschieden, die die Gründung, Ausdifferenzierung und Etablierung postdramatischer Schreibweisen abbildet: Der Untersuchungszeitraum umfasst dreißig Jahre und reicht vom Uraufführungsjahr der Publikumsbeschimpfung 1966 bis 1995, dem Todesjahr Heiner Müllers, der als Klassiker zu Lebzeiten die Weiterentwicklung des Musters wesentlich prägte. Außerdem wird eine autorzentrierte Auswahl vorgenommen: Am Beispiel der postdramatischen ‚Musterautoren‘ Peter Handke (* 1942), Heiner Müller
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(1929–1995) und Elfriede Jelinek (* 1946), von denen in chronologischer Folge jeweils zentrale Texte aus beiden Phasen behandelt werden, können innerhalb der verbindenden ästhetischen Tendenzen auch autorspezifische Besonderheiten herausgearbeitet und im Vergleich profiliert werden. Das postdramatische Trio wird ergänzt um einen jüngeren Autor: Rainald Goetz (* 1953), der in den 1980er Jahren als Dramatiker debütierte, schreibt sich bereits bewusst in eine bestehende postdramatische Praxis ein. Seit sich das Postdrama in den 1970er und vor allem in den 1980er und frühen 1990er Jahren als Zeitphänomen etablierte, lassen sich Spuren postdramatischer Schreibweisen auch in Stücken anderer Autoren verfolgen. Deshalb sei das Feld postdramatischer Schreibweisen, in dessen Kontext die ausgewählten postdramatischen Musterstücke stehen, hier anhand einiger Beispiele knapp umrissen.
7.1 Tendenzen des Postdramas (1966–1995) Wie weit postdramatische Ästhetik und ihre Traditionsstränge in den siebziger Jahren verbreitet sind, ohne sich zu einer regelrechten Bewegung zu verdichten, zeigt das Beispiel der beiden Erfolgsdramatiker des Jahrzehnts, Thomas Bernhard (1931–1989) und Botho Strauß (* 1944). Sie kombinieren experimentelle, postdramatische und traditionelle dramatische Mittel: Die Konversationsstücke von Botho Strauß wie Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle (1975), Trilogie des Wiedersehens (1977) und Groß und Klein (1978) treffen den Zeitgeist und das Lebensgefühl einer müden (Konsum-)Gesellschaft in der Bundesrepublik, offenbaren ihre gescheiterten Träume und leeren Konversationen: Das Aneinandervorbeireden unterläuft den vordergründigen Konversationsdialog,58 eine Technik, die an Anton Čechov und Maxim Gorki, aber auch an Beckett geschult ist – und Alltagskonversation abrupt ins Absurde kippen lässt. Sein Markenzeichen der kontrastiv gesetzten Mythenanspielung entwickelt Strauß mit der Kalldewey Farce (1982), die auch ein typisches Beispiel für Strauß’ postmodernes intertextuelles Geflecht aus Gattungsmustern und Einzeltextreferenzen ist, das seine dialogischen Stücke dem postdramatischen Muster annähert.59 Die kohärente Handlung wird zugunsten fragmentarischer, 58 Zerfall und Verwandlung des Dialogs in Strauß’ frühen Stücken untersucht Henriette Herwig, Verwünschte Beziehungen, verwebte Bezüge, Tübingen 1986. 59 Die frühen Stücke sind versammelt in: Botho Strauß, Theaterstücke, Bd. 1, München und Wien 1991. Als ein „Labyrinth des unendlichen Textes“ beschreibt Andreas Englhart Strauß’ Dramatik zwischen 1972 und 1996 (Im Labyrinth des unendlichen Textes. Botho Strauß’ Theaterstücke 1972–1996, Tübingen 2000).
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zumeist erzählter Anekdoten zurückgedrängt: Im Wendestück Schlußchor 60 (1991), das in der chorischen Eingangsszene auch experimentelle Notationsweisen adaptiert, verdichten sich die postdramatischen Elemente. Eine Ästhetik der Präsenz61 wird hier spannungsvoll von indirekten Verfahren (intertextuellen Verweisen, Wiederholungen und Fragmentierungen, traumartigen Szenen) unterlaufen. Ein weiterer Erfolgsdramatiker der siebziger Jahre ist Thomas Bernhard: Sein Stück Ein Fest für Boris (1968, UA 1970) kombiniert bühnenwirksam sprachspielerische Virtuosität, die an den Avantgardeexperimenten der Wiener Gruppe geschult ist, mit grotesken und absurden Szenerien, die an Samuel Beckett erinnern. Somit bündelt sein Theater zwei Traditionen, die sich auch im postdramatischen Theater treffen. Die Metatheatralität – viele Stücke Bernhards wie Minetti (1977) und Der Theatermacher (1984) sind Schauspielerstücke – nähert sich ebenfalls der postdramatischen Ästhetik. Ähnliches lässt sich bei Ernst Jandl beobachten: Als „Stück des Jahres“ 1980 wählte die Theaterzeitschrift Theater heute Jandls Aus der Fremde,62 eine „Sprechoper“.63 Das autobiografisch geprägte Stück ist durchgehend im Konjunktiv indirekter Rede verfasst und berichtet – im indirekten Dialog zwischen den beiden Autoren „Er“ und „Sie“ – von seiner eigenen Entstehung, wobei sich zugleich ein Psychound Beziehungsdrama der Protagonisten entfaltet. Die illusionsbrechende indirekte Sprache, der sprachspielerische Witz und die Musikalität („Sprechoper“), autobiografische ‚Egomanie‘, subjektive Bewusstseinsbilder und metatheatrale Selbstbezüglichkeit rücken dieses Stück eines Zeitzeugen der Wiener Neoavantgarden in die Gegenwart der Postdramatik. In eine spezifisch österreichische Traditionslinie, die vom Wiener Volkstheater über Karl Kraus’ Sprachkritik und die Neoavantgarden (Wiener Gruppe, Forum Stadtpark, Wiener Aktionismus) bis in die Gegenwart reicht, stehen weitere Autoren: So zeigen die frühen sozialkritischen Volksstücke Peter Turrinis (* 1944) gleichfalls eine gewisse Nähe zur postdramatischen Ästhetik: Ihr sprachspielerisch-verfremdender Umgang mit Dialekt, etwa in Rozznjogd (1967, UA 1971) und das Thema einer konsequenten Sprachverweigerung in Sauschlachten 64 (1972) verbinden sie mit der
60 Botho Strauß, Schlußchor. 3 Akte, München 1991. 61 Strauß’ Rezeption von George Steiners Theorie der Präsenz erhellt in diesem Zusammenhang Bernhard Greiner, „Beginnlosigkeit“ – „Schlußchor“ – „Gleichgewicht“. Der „Sprung“ in der deutschen Nachkriegsgeschichte und Botho Strauß’ Jakobinische Dramaturgie. In: Weimarer Beiträge 40, 1994, S. 245–265. 62 Ernst Jandl, Aus der Fremde. Sprechoper in 7 Szenen, Darmstadt 1980. 63 So der Untertitel des Stückes. 64 Vgl. Peter Turrini, Stücke, Pamphlete, Filme, Reaktionen etc., Wien, München und Zürich 1978.
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sprachkritischen österreichischen Moderne, mit der subversiven Dialektdichtung der Wiener Gruppe und nicht zuletzt mit Handkes sprachlosem Kaspar. Ein Hang zur Kunstsprache, zur Groteske und zum metatheatralen Selbstbezug bestimmt auch die Stücke von Marlene Streeruwitz (* 1950), die von der Kritik häufig zur ‚kleinen Schwester‘ Elfriede Jelineks stilisiert wurde: Das Ehebruchdrama Waikiki Beach (1992) etwa entlarvt in einer selbstreflexiven Kommentarszene das Geschehen als Teil einer Kunstinstallation.65 Die österreichische postdramatische Linie schreibt sich fort bis zu Werner Schwab (1958–1994): Das Erfolgsrezept, das diesen Autor zum Shooting-Star der frühen neunziger Jahre machte, bestand in einer spezifischen Mischung aus konventioneller Dramenform, postdramatischen Brechungen und exzessivem Körpereinsatz, der direkt an die Wiener Aktionskunst anschließt. Die Nähe zur Postdramatik ist vor allem bedingt durch Schwabs Sprache:66 In erster Linie sind Schwabs Theatertexte Sprechstücke, die an Peter Handkes Publikumsbeschimpfung und die Sprachfolter in Kaspar anknüpfen. Die Kunstsprache seiner Stücke, die zu seinem Markenzeichen wurde, mischt drastische Fäkalausdrücke mit eigenwilligen grammatikalischen Fügungen und Neologismen – etwa, auf die österreichische Tradition anspielend, die „Grazkunst“ und das „Sprachproblemstellungskommando“ aus Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos.67 Eine Figur wie der „Hundsmaulsepp“ monologisiert in gewagten Komposita: „Weltstofforchester“, „Dunkeldüngerfinsternis“ und „Gottesbeuschlsuppe“.68 Die Besonderheit dieser Kunstsprache lässt sich mit einem ‚SchwabWort‘ als „Ersprechen“ 69 fassen. Der Begriff kennzeichnet sowohl die performative Qualität dieser Sprache als auch ihre spezifische Verbindung mit dem Somatischen. Schwabs Metaphorik folgt dem Anspruch, „Sprache in reines Menschenfleisch umzuwandeln“ 70 beziehungsweise sie in den sogenannten Fäkaliendramen als „Körperfunktion“ 71 zu definieren.
65 Vgl. Marlene Streeruwitz, Waikiki-Beach. Und andere Orte. Die Theaterstücke, Frankfurt a. M. 1999, S. 77–121, hier S. 87–89. 66 Als postdramatischer Autor wird Schwab in der Forschung etwa von Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, bes. S. 184–194; Petra Meurer, Theatrale Räume, S. 69–110; und Achim Stricker, Text-Raum, S. 223–266, analysiert. 67 Werner Schwab, Fäkaliendramen, Graz 1991, S. 121–177. 68 Werner Schwab, Mein Hundemund. In: Schwab, Fäkaliendramen, S. 179–235 , hier S. 204 f. und 211. 69 Vgl. Schwabs „Königskomödie“ OFFENE GRUBEN OFFENE FENSTER EIN FALL von Ersprechen. In: Werner Schwab, Königskomödien, Graz 1992, S. 7–62. 70 Werner Schwab, Das Grauenvollste – einfach wundervoll. In: Theater heute, 1991, H. 12, S. 9. 71 Zu Schwabs Behandlung der Sprache als „Körperfunktion“ vgl. Jutta Landa, Schwabrede = Redekörper. In: Werner Schwab, hg. von Gerhard Fuchs und Paul Pechmann, Graz 2000, (Dossier 16) S. 39–57.
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Postdramatische Schreibweisen treten zu Beginn der 1990er Jahre als generationenübergreifendes Muster auf. Dies beweist die gemeinsame Auszeichnung von Werner Schwab und George Tabori als „Theaterautoren des Jahres 1992“ durch die Zeitschrift Theater heute. Tabori (1914–2007) ist unmittelbar beeinflusst von den Traditionen des epischen Theaters (er übersetzte Brecht ins Englische) und der amerikanischen Avantgarden. Er selbst prägte als experimenteller Theatermacher die deutschsprachige Szene zunächst in Bremen, dann in Wien: Sein metatheatrales Stück Goldberg Variationen72 (1991), das in grotesker Überzeichnung die postdramatische Situation eines Probendurchlaufs inszeniert, bündelt all diese Erfahrungen. Ein weiteres prominentes Stück eines Vertreters der älteren Generation, welches bereits zu Beginn der 1980er Jahre die postdramatische Tendenz zur Gattungstransformation aufgreift, ist Tankred Dorsts (* 1925) Monumentalwerk Merlin oder Das wüste Land 73 (1981): Episch ausladend, voll intertextueller Bezüge, verbindet der heterogene szenische Bilderbogen Traum, Mythos und Märchen und zeigt durch seinen schieren Umfang eine Überschreitung des Dramas an. In den Kontext postdramatischer Tendenzen gehört außerdem ein experimenteller Strang der DDR-Dramatik, der sich produktiv am Brecht-Erbe orientiert und in Opposition zum sozialistischen Realismus tritt. Neben Heiner Müller entwickelten Autoren wie Lothar Trolle (* 1944), Thomas Brasch (1945–2001, Ausreise aus der DDR 1976) und Volker Braun (* 1939) vergleichbare experimentelle Schreibweisen74 in Auseinandersetzung mit einem Gegen-Kanon: Zu ihm gehören in der DDR verpönte Autoren wie Franz Kafka und Samuel Beckett, aber auch der andere, experimentelle Brecht der Lehrstücke, Modellbücher, der Fatzer-Fragmente und theoretischen Texte. Außerdem nahmen die
72 George Tabori, Die Goldberg Variationen. In: Spectaculum 55, 1993. Aus dem Englischen übersetzt von Ursula Grützmacher-Tabori. 73 Tankred Dorst, Merlin oder Das wüste Land, Frankfurt a. M. 1981. 74 Die „Entgrenzungsstrategien im Drama der DDR seit den 70er Jahren“ untersucht am Beispiel von Müller, Brasch, Braun und Trolle Norbert Otto Eke, „Kein neues Theater mit alten Stücken“. Entgrenzung der Dramaturgien in der DDR-Dramatik seit den 70er Jahren (Müller, Braun, Brasch, Trolle). In: Rückblicke auf die Literatur der DDR, hg. Hans-Christian Stillmark, Amsterdam 2002, (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 52) S. 307–346. Vgl. auch Norbert Otto Eke, Text und/im Theater. Entgrenzungsstrategien im Drama der DDR seit den 70er Jahren. Eine Erinnerung und ein Plädoyer für einen Wechsel der Forschungsperspektive. In: Theater als Paradigma der Moderne. Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, hg. von Christopher Balme, Erika Fischer-Lichte und Stephan Grätzel, Tübingen und Basel 2003, S. 243–255.
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experimentellen DDR-Dramatiker Impulse aus der internationalen HappeningBewegung auf, die sich als Subkultur auch in Osteuropa verbreitete.75 Nach der Wiedervereinigung entwickelten diese Autoren ihre „dekonstruktivistischen und dissoziativen Dramaturgien“ 76 weiter: Volker Brauns Wendestück Iphigenie in Freiheit (1991) verlegt das intertextuelle, mit zeitgeschichtlichen Verweisen angereicherte Spiel auf die ‚innere Bühne‘ und entspricht damit der postdramatischen Tendenz zur Subjektivierung des Dramas – wie der vorangestellte Autortext zeigt: „Die Szene ist der Raum der Brust, den der Eiserne Vorhang abschließt […].“ 77 Liest man das Stück als Pendant zu Botho Strauß’ Schlußchor (1991) und Peter Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992), so offenbart sich, dass das politische Geschichtsdrama zu Zeiten der Wende häufig postdramatisch gebrochen wird.78 Auch Lothar Trolles Hermes in der Stadt,79 zwischen 1989 und 1991 entstanden, lässt sich in diese Reihe stellen: Das Stück inszeniert ein intertextuelles Theater der Stimmen, in dem die selbstreflexive, zum Teil lyrische Form und der Inhalt kruder Gewaltszenen aus dem Alltag einer Großstadt, die in einer Dramaturgie des anekdotischen ‚story telling‘ gereiht werden, auseinanderfallen – und in dieser Verfremdung je für sich auffallen. Dass die Postdramatik in den 1980er Jahren bereits zu einer Mode avanciert war, zeigt das Beispiel eines weiteren Erfolgsstücks: Gisela von Wysockis Schauspieler, Tänzer, Sängerin (1988) bündelt die postdramatische Aufwertung der genuinen Bühnenelemente und des Performativen in einer Stückpartitur.80 Die 23 Szenen im Spaltendruck sind montiert aus intertextuellen Verweisen, poetologischen Reflexionen, erzählenden Regieanweisungen und poetischen Paratexten. Dieses hochgradig selbstreferentielle Spiel lässt die produktive Spannung zu einer politischen Referenz, die andere Postdramen auszeichnet, hinter sich. Dass der gängige Vorwurf an die Postdramatik, sie erschöpfe sich in elitärer Selbstbespiegelung, auf die meisten Stücke jedoch nicht zutrifft, soll die Textauswahl dieser Studie belegen. 75 Zur Performance-Kunst in Osteuropa vgl. Kata Krasznahorkai, Wie die Spitzel unser Wissen über Kunst vermehren. In: FAZ, 7. Januar 2012 (Bilder und Zeiten). 76 Norbert Otto Eke, „Kein neues Theater mit alten Stücken“, S. 345. 77 Volker Braun, Iphigenie in Freiheit, Frankfurt a. M. 1992, S. 36. 78 Eine vergleichende Perspektive auf Handke und Strauß bieten unter diesem Aspekt Bernhard Greiner („Bleib in dem Bild“), der in beiden Stücken eine „Verweigerung von Geschichte(n)“ diagnostiziert, und Franziska Schößler, die Handkes und Strauß’ Mythen-Adaptionen im Kontext von Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre untersucht (Augen-Blicke, Tübingen 2004, Kap. 2). 79 Lothar Trolle, Hermes in der Stadt. In: Trolle, Nach der Sintflut. Gesammelte Werke, hg. von Tilman Raabke, Berlin 2007, S. 218–263. 80 Gisela von Wysocki, Schauspieler, Tänzer, Sängerin. In: Theater heute, Juni 1988, S. 22–32.
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7.2 Werkprofile der Referenzautoren 7.2.1 Peter Handke Peter Handke debütierte im Kreis der Grazer Künstlergruppe Forum Stadtpark, in dessen Publikationsorgan, den von Alfred Kolleritsch herausgegebenen manuskripten, er seine ersten Texte veröffentlichte. Die Entwicklung seines dramatischen Werkes dokumentiert die Verbindung postdramatischer Ästhetik mit der österreichischen Neoavantgarde. In der Forschung wird Handkes Entwicklung häufig vereinfachend konstruiert: von einem experimentellen Beginn in den sechziger Jahren über einen Rückzug in die neue Innerlichkeit der siebziger bis hin zu einem selbstbezüglichen Formalismus der frühen achtziger Jahre.81 Übersehen wird dabei die Kontinuität seines dramatischen Schaffens, das sich als stetige Weiterführung der postdramatischen Ästhetik lesen lässt.82 Handkes frühe Sprechstücke – neben der Publikumsbeschimpfung zählen hierzu Weissagung (1966), Selbstbezichtigung (1966) und Hilferufe (1967)83 – sind in ihrem provozierenden Gestus des Antitheaters vorbereitet durch Handkes performative „Autorenbeschimpfung“ 84 bei der Gruppe 47 in Princeton. An die frühen Sprechstücke schließt das linguistische Theater der späten 1960er Jahre unmittelbar an: Handkes Kaspar (1968) spielt mit Formen sprachlicher und theatraler Performativität. Sein stummes Stück Das Mündel will Vormund sein (1969) zeigt die Nähe zur zeitgenössischen Performance-Kunst, der das postdramatische Körper- und Bewegungstheater wesentliche Impulse verdankt. Das Gegenstück bildet Quodlibet (1970), das ein Stimmengewirr des Welttheaters inszeniert. Nach diesem vorläufigen experimentellen Grenzpunkt kehrt Handke in den 1970er Jahren mit absurden Konversations- und Gesellschaftsstücken zum Dialog zurück: Doch auch das Wirtschaftsstück Die Unvernünftigen sterben aus (1974) ist postdramatisch durchbrochen durch den epischen Exkurs einer eingeschobenen Erzählung Adalbert Stifters. Die typische metatheatrale Selbstreflexion, die schon die frühen Sprechstücke prägte, setzt sich fort im absurden Schauspielerstück Der Ritt über den Bodensee (1971). Mit Über die Dörfer (1982) bildet sich eine Art postdramatischer Klassizismus aus (der
81 Zu dieser gängigen Einteilung vgl. stellvertretend Rolf Günter Renner, Peter Handke. In: Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts, hg. von Hartmut Steinecke, Berlin 1994, S. 857–869. 82 Für eine Kontinuität von Handkes Werk als konsequenter „Fortschreibung der Moderne“ argumentiert hingegen Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im 20. Jahrhundert, München 2004, S. 458–466. 83 Alle Stücke Handkes bis 1992 werden in dieser Studie zitiert nach: Peter Handke, Die Theaterstücke, Frankfurt a. M. 1992. 84 Peter Pütz, Peter Handkes „Elfenbeinturm“. In: Text und Kritik 24: Peter Handke, 5. Aufl.: Neufassung, 1989, S. 21–29, hier S. 23.
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auch in den Mythenanspielungen bei Heiner Müller und Botho Strauß85 begegnet): Das Stück ist als postdramatische Transformation der Tragödie lesbar, die in eine statische Monologfolge übersetzt wird und in der intertextuellen Figur der gottähnlichen Nova gipfelt. Die Nähe zum Film, die Handkes postdramatisches ‚Bildertheater‘ grundsätzlich auszeichnet,86 in dem sich einzelne Szenen oftmals wie Filmstills aneinander reihen, wird hier untermauert durch den Umstand, dass der Filmregisseur Wim Wenders, für den Handke das Drehbuch zu Himmel über Berlin verfasst hat, die Uraufführung bei den Salzburger Festspielen inszenierte. Von der anarchistischen Theaterprovokation Publikumsbeschimpfung über die sprachanalytische postdramatische Versuchsanordnung Kaspar, die stumme Pantomime Das Mündel will Vormund sein bis hin zum statischen Monologdrama im postmodernen Mythengewand zeigt sich am Beispiel Handkes die Spannbreite postdramatischer Ästhetik von den sechziger bis in die frühen achtziger Jahre paradigmatisch. Die Summe dieser Ästhetik findet sich in seinem zweiten stummen Stück Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992), bei dem die Gattungsgrenzen zwischen Drama und Erzählung aufgehoben sind. Dieses Stück, das die Subjektivierung des Postdramas idealtypisch verkörpert, wird in Kapitel 3.1 meiner Studie eingehend analysiert, ebenso wie Handkes dramatisches Debüt Publikumsbeschimpfung (Kap. 2.4.1), dessen Bedeutung als postdramatischer Gründungstext bisher vernachlässigt wurde.
7.2.2 Heiner Müller Die Dramatik Heiner Müllers in den sechziger, siebziger und frühen achtziger Jahren ist geprägt durch ihre spezifischen Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen „zwischen den Welten“:87 zwischen der DDR und dem Westen, wo Müller seit den siebziger Jahren immer erfolgreicher wurde. Der Skandal um sein Stück Die Umsiedlerin (1961), das sofort nach seiner Aufführung auf einer kleinen Hochschul-Studiobühne in Berlin Karlshorst verboten wurde, beendete zunächst die Karriere des jungen aufstrebenden DDR-Schriftstellers. Müller wurde aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen und war in den
85 Vgl. Eva Huller, Griechisches Theater in Deutschland. Mythos und Tragödie bei Heiner Müller und Botho Strauß, Köln, Weimar und Wien 2007. 86 Die ‚Visualität‘ von Handkes Literatur ist in der jüngeren Forschung zunehmend analysiert worden: Die Poetik des „Sprach-Bildes“ in Handkes Prosa untersucht Roland Borgards, Sprache als Bild. Handkes Poetologie und das 18. Jahrhundert, München 2003. Handkes Theater der Bilder ist hingegen bisher nicht systematisch untersucht worden. 87 So der Titel, den Alexander Karschnia und Hans-Thies Lehmann für Müllers Biografie zwischen 1970 und 1989 wählen. In: Heiner Müller Handbuch, S. 9–15.
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folgenden Jahren weitgehend isoliert, bis er in den 1970er Jahren zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit unangepassten Brecht-Erben in der DDR fand: mit Ruth Berghaus am Berliner Ensemble und vor allem mit Benno Besson an der Ostberliner Volksbühne. Besson griff in seiner Konzeption eines ‚neuen Volkstheaters‘, das vor allem die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum aufheben und eine Interaktion mit dem Publikum provozieren wollte,88 Impulse aus den westlichen Studentenprotesten und Neoavantgarden auf. Bereits mit Der Bau (1963–65; UA 1980), einem Produktionsstück nach „Motiven aus Erik Neutschs Roman Spur der Steine“, wagte Müller eine Überschreitung des Genre-Musters, das er mit einer kühnen Gespenster-Metaphorik surrealistisch verfremdete. Auch seine Antike-Bearbeitungen, besonders der wirkmächtige Philoktet, der 1965 in der westdeutschen Zeitschrift Theater heute abgedruckt wurde, setzt eine kunstvolle Verssprache als antinaturalistische Verfremdung ein.89 Auch die markierte Intertextualität der Sophokles-Bearbeitung, die durch eine Variante des Schlusses ihre kontrastive dialogische Aussage formuliert, markiert Müllers Weg hin zu den selbstreflexiven, indirekten dramaturgischen Mitteln der Postdramatik. In Germania Tod in Berlin (1956– 1971) zeigen die diversen Bearbeitungsstufen seit den ersten Skizzen 195690 diesen konsequent beschrittenen Weg zur postdramatischen Ästhetik: Aus einer linearen Handlung wird nach und nach eine bunte Revue, montiert aus 13 heterogenen „Bildern“: Es wechseln metatheatrale Clown-Szenen (BRANDENBURGISCHES KONZERT 191), Mythen-Adaptationen, Historienbilder und Kriegsszenen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Das Stück erschien 1977 im Westberliner Rotbuch-Verlag und als Stückabdruck in einem Sonderheft von Theater heute; die Uraufführung fand 1978 an den Münchner Kammerspielen statt.92 Diese Publikations- und Aufführungsgeschichte bezeugt den regelrechten „Müller-Boom“, der Ende der siebziger Jahre in der Bundesrepublik herrschte.93 Aber auch in den USA, wohin Müller ausgedehnte Reisen unter-
88 Zu Müllers Zusammenarbeit mit Benno Besson vgl. Norbert Otto Eke. In: Heiner Müller Handbuch, S. 8; sowie Alexander Karschnia und Hans-Thies Lehmann. In: Heiner Müller Handbuch, S. 14. 89 Zu Müllers „Transformationen des attischen Dramas“ in seinen frühen Stücken Philoktet, Sophokles. Ödipus.Tyrann. Nach Hölderlin und Herakles 5 vgl. Eva Huller, Griechisches Theater in Deutschland, S. 45–174. 90 Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte vgl. Volker Bohn. In: Heiner Müller Handbuch, S. 207–214. 91 Heiner Müller, Werke, hg. von Frank Hörnigk, 12 Bde., Frankfurt a. M. 1998–2008 (= Heiner Müller, Werke), hier Heiner Müller, Werke 4, S. 332–338. 92 Vgl. Heiner Müller Handbuch, S. 207–214. 93 Vgl. Alexander Karschnia und Hans-Thies Lehmann. In: Heiner Müller Handbuch, S. 9.
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nahm (1975 dauerte ein Aufenthalt über neun Monate), und in Frankreich, wo Jean Jourdheuil mehrere Stücke Müllers inszenierte, wurde er bekannt. Die Affinität zur amerikanischen Neoavantgarde – Müller bewunderte amerikanische Pop Art-Künstler wie Andy Warhol und Robert Rauschenberg; seit Mitte der achtziger Jahre arbeitete er mit Robert Wilson zusammen – führte dazu, dass einige seiner Freunde sogar feststellten, „[d]ass Müller eher aus den USA [komme] als aus Deutschland“.94 Müller wurde im Westen zur „Pop-Ikone“ 95 und zum Inbegriff eines postmodernen Autors. Der zentrale Referenztext dieses Müller-Bildes ist Die Hamletmaschine (1977). Sie kann als Paradebeispiel postmoderner und postdramatischer Ästhetik gelten: Intertextualität, Intermedialität und Metatheatralität zeichnen diesen Text aus, dessen Struktur weitgehend einer subjektiven Traumlogik folgt. Die bedeutungsvoll eingestreuten zeitgeschichtlichen Bezüge werfen die Frage nach der Referenz der rätselhaften Bilderfolge auf; die Spannung zwischen einer scheinbar ästhetizistischen Selbstbezüglichkeit und einer verschlüsselten politischen Botschaft rufen die Exegeten auf den Plan. Das typisch postdramatische Formbewusstsein hat, wenn nicht unmittelbar politische, so doch im Sinne einer subversiven Sinnverweigerung utopische Qualität.96 Als postdramatisch lassen sich auch die Gattungsmischungen in Müllers Stücken der siebziger Jahre bezeichnen: Exemplarisch sei der kafkaeske und surrealistische Monolog des Mannes im Fahrstuhl genannt, der in Müllers historischem Revolutionsstück Der Auftrag (1979) unvermittelt die Handlung unterbricht.97 Der eingeschobene Prosatext führt in die Gegenwart und berichtet in Form eines Inneren Monologs eines anonymen Angestellten dessen Fahrstuhlfahrt in einem westlichen Bürohochhaus. Die Fahrt endet auf einer „Dorfstraße in Peru“, stumme Begegnungen in dieser Szenerie der ‚Dritten Welt‘ reihen sich wie Traumfolgen aneinander und münden in die rätselhafte Prophetie: „Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegenkommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben.“ 98 Eingeschobene Prosapassagen, die das dialogische Drama postdramatisch durchbrechen, finden sich bereits in Zement (1972). Wiederholt transformierte Müller die dramatische Gattung, etwa auch in seinem erfolgreichsten
94 Zitiert nach: Alexander Karschnia und Hans-Thies Lehmann. In: Heiner Müller Handbuch, S. 11. 95 Heiner Müller Handbuch, S. 9. 96 Zur politischen beziehungsweise utopischen Kraft von Müllers Form vgl. die wegweisenden Müller-Interpretationen von Hans-Thies Lehmann, Das politische Schreiben. 97 Heiner Müller, Werke 5, S. 26–33. 98 Heiner Müller, Werke 5, S. 33.
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Stück Quartett (1982), einer Romandramatisierung nach Robert de Laclos’ Liaisons dangereuses (1782). Die typisch postdramatische Form des Kommentartheaters hat Müller in seiner Shakespeare-Bearbeitung Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar (1984) verwendet: Nach dem Vorbild von Brechts Fatzer-Fragmenten, die Müller 1978 in einer Bühnenfassung ebenfalls bearbeitete, wird der (Autor-)Kommentar zum Teil des Stückes: „Der Kommentar als Mittel, die Wirklichkeit des Autors ins Spiel zu bringen, ist Drama […].“ 99 Etabliert wird die postdramatische Kommunikationssituation zwischen Autor bzw. Erzähler und Publikum. Durch dieses episierende Verfahren überlagert der Dialog des Kommentators einerseits mit seinem Material, das er kommentiert, und andererseits mit dem Publikum, an das der Kommentar gerichtet ist, den innerdramatischen Dialog zwischen den Figuren, der hier den Charakter eines Zitats gewinnt. Mit Bildbeschreibung (1985), einem Prosatext für die Bühne,100 initiiert Müller eine zweite Phase des Postdramas. Die Wirkungsgeschichte dieses Stückes macht Müller endgültig zum postdramatischen Klassiker, auf den sich andere Autoren wie Elfriede Jelinek und Rainald Goetz beziehen. Symptomatisch für ein subjektiviertes Erzähltheater inszeniert Bildbeschreibung den Konflikt zwischen einem Bild und seinem Betrachter: Die Beschreibung des Gegenstandes wird zur subjektiv gefärbten Erzählung seiner Geschichte. Auch dieser Text hat eine Traumstruktur, in der sich äußere und innere Bilder zu einer Bewusstseinslandschaft verbinden. Bildbeschreibung markiert den Höhepunkt – und in gewisser Weise auch den radikalen Grenzpunkt – von Müllers postdramatischen Experimenten. In Wolokolamsker Chaussee (1985/1986) finden sich Mittel des Postdramas wiederum kombiniert mit genuin dramatischen Strukturen. Nach der Wende folgt bis zu seinem Todesjahr 1995, in dem Müllers letztes Stück Germania 3 erschien, eine jahrelange Theaterabstinenz: Quasi als erweiterte Theaterbühne nutzt Müller in diesen Jahren jedoch seine zahlreichen Interviews, in denen er auch seine Theaterästhetik erläutert.101 Um Müllers Entwicklung vom Gründungsautor zum Klassiker des Postdramas zu rekonstruieren, widmen sich die Einzelinterpretationen dieser Studie
99 Heiner Müller, Werke 5, S. 192. 100 Trotz seiner Entstehungs- und Aufführungsgeschichte als Theaterstück wird Bildbeschreibung in der Werkausgabe unter Prosa geordnet (vgl. Heiner Müller, Werke 2, S. 112–119). Um dem Theaterkontext gerecht zu werden, wird das Stück in dieser Arbeit als Teil der Shakespeare Factory zitiert nach: Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Müller, Shakespeare Factory 1, Berlin 1985, S. 7–14. 101 Müllers Interviews seit 1989 sind versammelt in: Heiner Müller, Werke 11 und 12.
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seinen beiden radikalsten postdramatischen Stücken: der Hamletmaschine (1977) und der Bildbeschreibung (1985). In der Hamletmaschine sollen vor allem die bisher vernachlässigten Bezüge auf Bertolt Brecht und Andy Warhol untersucht werden, die als eine Art ‚Clash of Civilisation‘ Aufschluss über die Gründungsphase des Postdramas geben. Mit Bildbeschreibung hat Müller einen zentralen Referenztext geschrieben, an dem die postdramatische Subjektivierung des Dramas im Bezug auf moderne Erzählverfahren ablesbar wird.
7.2.3 Elfriede Jelinek Elfriede Jelineks literarische Anfänge stehen im Zeichen von 1968: Jelinek engagierte sich aktiv in der Studentenbewegung, nahm „an Teach-ins, Arbeitskreisen und Demonstrationen teil“.102 Sie verfasste ein (unrealisiertes) Aktionsstück, rotwäsche103 (1969), bei dem sich die Autorin gemeinsam mit dem Maler Aramis auf der Bühne „mit einem stacheldrahtverhau“ verbarrikadieren, der Kleider entledigen und die Wäsche in einer roten Lauge färben sollte.104 Bereits in ihren ersten Theaterstücken Was geschah, nachdem NORA ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft,105 das Elfriede Jelinek 1979 in der Zeitschrift manuskripte – also in einem prominenten Publikationsorgan der österreichischen Nachkriegsavantgarde – veröffentlichte, und Clara S. Musikalische Tragödie (1981) sind die späteren postdramatischen Sprachflächen der Autorin vorgebildet. Die dialogisch gebauten frühen Stücke sind bereits aus lauter Zitaten und Zitatsplittern zusammengesetzt. Thematisch profilierte sie sich außerdem als politische und feministische Autorin: In Was geschah, nachdem NORA ihren Mann verlassen hatte ist die Figur selbst ein literarisches Zitat. Das Stück beginnt mit den Worten: „Ich bin Nora aus dem gleichnamigen Stück von Ibsen“ 106 und markiert metatheatral und antiillusionistisch die Fiktionalität und Künstlichkeit des Stückes. Auch die Sprache im NORA-Stück ist aus verschiedenen Prätexten montiert, die sich durch die für Jelinek typischen Zeitsprünge auszeichnen: Die Handlung wird in die 20er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts versetzt. Die bürgerliche Sprache des späten neunzehnten Jahr-
102 Pia Janke (Hg.), Die Nestbeschmutzerin. Jelinek und Österreich, Salzburg und Wien 2002, S. 12. 103 Das Typoskript ist abgedruckt Pia Janke (Hg.), Die Nestbeschmutzerin, S. 12 f. 104 Pia Janke (Hg.), Die Nestbeschmutzerin, S. 12. 105 Jelineks Stücke werden in dieser Studie zitiert nach: Elfriede Jelinek, Theaterstücke, hg. von Ute Nyssen, Reinbek bei Hamburg 1992, und Elfriede Jelinek, Neue Theaterstücke, Reinbek bei Hamburg 1997. 106 Elfriede Jelinek, Theaterstücke, S. 9.
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hunderts, die Ibsens Stück prägt, wird mit einem kapitalistischen und einem sozialistischen Diskurs der 1920er Jahre kombiniert. Gespickt wird diese Mischung darüberhinaus mit feministischen Parolen der siebziger Jahre, also aus der Entstehungszeit von Jelineks Stück. Dadurch entsteht ein dialogisches Verhältnis zwischen verschiedenen Diskursen, die sich wechselseitig kommentieren.107 Der eigentlich dramatische Konflikt, so lässt sich dieses Verfahren interpretieren, wird in diesen innersprachlichen Dialog verlegt – während die Figuren, denen die fremde Sprache in den Mund gelegt wurde, in hohlen Phrasen aneinander vorbeireden. Diese Verlagerung des dramatischen Dialogs und Konflikts in die Sprache kann bereits als postdramatisch qualifiziert werden. Das betrifft auch die Konzeption von Figuren. Durch die Rede in Zitaten wird die Vermitteltheit der Sprache betont – die fremde Rede hat einen illusionsbrechenden Effekt. Eine Äußerung ist nicht mehr einer bestimmten Figur zuzuordnen, die durch sie charakterisiert wird. Keine Charaktere, sondern Typen erscheinen auf der Bühne, die zu Trägern von Diskursen werden. Sie sprechen nicht selbst, sondern ‚es‘ spricht aus ihnen, wodurch bereits jene sprachliche Eigendynamik angedeutet ist, die sich in den herrenlosen Sprachflächen in Jelineks Stücken seit Mitte der achtziger Jahre verselbständigen wird. Kalauernde Sprachspiele und kühne Zitatmontagen scheinen auch immer die Grenzen der Referenz auszuloten; die typisch postdramatische Spannung zwischen selbstbezüglichem ästhetischen Spiel und politischer Referenz ist hier bereits sichtbar – ebenso wie der postdramatische Hang zum (selbstreferentiellen) Künstlerdrama und Metatheater, den das Musikerinnenstück Clara S. und die Schauspielerposse Burgtheater (1982) gemeinsam haben. Die Transformation der dramatischen Gattung zeigt sich auch im doppeldeutigen Untertitel der feministisch-subversiven Groteske Krankheit oder moderne Frauen. Wie ein Stück (1984). Das Zitattheater ist hier derart weitergetrieben, dass dem Personenverzeichnis ein Dank an „Jean Baudrillard, Robert Walser, Roland Barthes, Joseph Goebbels, Bram Stoker, Joseph Sheridan Le Fanu, Der Spiegel, Der Hörfunk, Das Fernsehen u.v. a.“ 108 vorangestellt wird – eine krude Mischung, welche die an synkretistischen Verfahren Heiner Müllers und Robert Wilsons sichtlich geschulte Ästhetik des Stückes offenbart. Ein weiteres Charakteristikum, das bereits die frühen Theatertexte Jelineks in die Nähe des postdramatischen Theaters rückt, ist die musikalische Behandlung der Sprache – die Bedeutung von Klang und Rhythmus in ihren exakt
107 Jelineks Zitierverfahren wurde von der Forschung präzise rekonstruiert. Vgl. Maja Sibylle Pflüger, Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek, Tübingen 1996; Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens. 108 Elfriede Jelinek, Theaterstücke, S. 192.
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durchkomponierten Texten, die ihren literarischen Beginn als Lyrikerin und ihre musikalische Ausbildung reflektiert. Jelinek hat ein besonderes Interesse am akustischen Phänomen Sprache – als Kombination einzelner Phoneme. In ihren Theaterstücken wird immer deutlich, dass es keine Lesetexte, sondern Sprech- beziehungsweise Hörtexte sind: Betont wird die Performativität des Sprechens, wodurch eine genuine Nähe zum Theater entsteht. Das österreichkritische Stück Burgtheater (1982), das Jelineks Ruf als „Nestbeschmutzerin“ begründete, endet in einer „Wortsymphonie“ im österreichischen Kunstdialekt:109 Heimatseligkeit und die verdrängte nationalsozialistische Vergangenheit gehen hier eine abgründige Allianz ein. Die Musikalität dieser exakt durchkomponierten chorischen Passage zeigt bereits die frühe Affinität Jelineks zur Postdramatik und ihrem Inszenierungsstil, in dem die Bühnenzeichen in ihrer Präsenz akzentuiert werden. Stimme und Sprechen, der Klang und die Materialität der sprachlichen Zeichen treten losgelöst von Referenz hervor. Zugleich gewinnt die verfremdete Bedeutung, die historische Assoziationen weckt und sprachliche Deformationen ausstellt, eine besondere – politische – Brisanz. Damit stellt sich Jelinek deutlich in eine Tradition der österreichischen Nachkriegsavantgarde, die von der Wiener Gruppe, H. C. Artmanns Dialektgedichten, den Lautgedichten Ernst Jandls und seinen Theaterstücken bis hin zu Peter Handkes Publikumsbeschimpfung reicht. Markiert ist auch die Nähe zur sprachspielerischen österreichischen Volkstheatertradition, die bereits im Untertitel „Posse mit Gesang“ aufgerufen wird. Auch der revoltierende Gestus, der in Handkes Publikumsbeschimpfung vorgebildet ist, wird weitergeführt: Ein Symbol der Hochkultur, das ehrwürdige Wiener Burgtheater, wird in dieser Posse – mit trashigen Szenen, verbalen und physischen Gewaltaktionen und Slapsticks auf der Bühne – genussvoll destruiert. Dieses ‚Schwellenstück‘, mit dem sich Jelineks Übergang zur Postdramatik vollzieht, wird in Kapitel 2.4.3 vor dem Hintergrund der postdramatischen Gründungsphase eingehend analysiert. Das Pendant bildet eine Analyse von Jelineks erstem radikal postdramatischen Text, der Zitatencollage Wolken.Heim. (1988), in Kapitel 3.2. Mit diesem Prosatext für die Bühne stellt sich Jelinek in die Tradition des adialogischen Diskurstheaters, was die bisher nicht beachteten Bezüge zu Heiner Müller belegen. Vor dieser Folie betrachtet offenbaren sich auch in diesem Text, in dem die epische Vermittlungsinstanz scheinbar hinter dem Zitatmaterial verschwindet, die subjektivierenden Tendenzen des Postdramas seit Mitte der 1980er Jahre. Mit Wolken.Heim. hat Jelinek ihre Form des chorischen Monologtheaters gefunden, die ihre Stücke bis
109 Elfriede Jelinek, Theaterstücke, S. 188 f.
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heute auszeichnet. Einige Bezugstexte von Wolken.Heim., etwa von Friedrich Hölderlin, Heinrich von Kleist und Martin Heidegger, begleiten die Autorin auch in späteren Texten und profilieren ihr an Müllers „Theater der Auferstehung“ 110 geschultes Erinnerungstheater, das die Schichten der Vergangenheit in der Sprache freilegt: Stets kreisen die Texte um die Wunde der verdrängten nationalsozialistischen Vergangenheit und analysieren – sprachkritisch – ihre Folgen in der Gegenwart. In unmittelbarer Folge von Wolken.Heim., das den deutschen Heimat-Diskurs dekonstruiert, steht ihr Heidegger-Stück Totenauberg (1991): Vom Verlag als „Prosa für die Bühne und Essay“ 111 angekündigt, verbindet es ausgedehnte monologische Passagen und postdramatische Intermedialität, die durch eine im Nebentext genau beschriebene Filmprojektion markiert ist. Intertextualität und Intermedialität prägen auch die weiteren Stücke Jelineks, die in den Untersuchungszeitraum meiner Studie fallen: Die Komödie Raststätte oder Sie machens alle (1994) ist vor der Folie von Lorenzo da Pontes und Wolfgang Amadeus Mozarts Cosí fan tutte konstruiert; das Stück Stecken, Stab und Stangl (1. Fassung 1995) nutzt die metatheatrale intermediale Bühnensituation einer Fernsehquizshow, um den medialen Umgang mit dem rechtsextremen Mord an vier Roma im österreichischen Burgenland zu geißeln. Durch seine indirekten und verfremdenden Strategien ist das Stück paradigmatisch für das politische Postdrama, das zwischen distanzierender Selbstreflexion und Engagement schwankt. Seit den 1990er Jahren gehört Jelinek zu den erfolgreichsten und produktivsten Theaterautoren der Gegenwart; ihre in rascher Folge entstehenden Stücke werden an namhaften Bühnen inszeniert – ihre Theaterästhetik wurde geprägt von der Zusammenarbeit mit prominenten Regisseuren wie Claus Peymann, Frank Castorf, Einar Schleef, Jossi Wieler, Christoph Schlingensief und Nicolas Stemann, welche die offenen Texturen in eine kongeniale Aufführungspraxis übersetzten. In dieser produktiven Konfrontation mit der Bühne schreiben Jelineks Stücke eine Erfolgsgeschichte des Postdramas – im Kontext postdramatischer Theaterpraxis.
7.2.4 Rainald Goetz Den Anschluss an die Performance-Kunst der Neoavantgarden sucht Rainald Goetz (* 1958) mit seinem ersten aufsehenerregenden Auftritt: Beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb 1983 ritzte er sich während seiner Lesung die Stirn auf
110 Heiner Müller: Brief an Erich Wonder. In: Erich Wonder, Raum-Szenen/Szenen-Raum, Stuttgart 1986, S. 62. Zitiert nach: Günther Heeg. In: Heiner Müller Handbuch, S. 91. 111 Elfriede Jelinek, Totenauberg, Reinbek bei Hamburg 1991 [Verlagsbeilage].
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und ließ das Blut auf die Manuskriptseiten tropfen. Seine Stücke – die Trilogien Krieg (1986) und Festung (1993) – stellen sich bereits in eine Tradition des politischen Postdramas, die, wie bei Jelinek, durch markierte Verweise auf Heiner Müller profiliert ist. Goetz entwickelt auf dieser Grundlage seine spezifische Ästhetik, die sich als subjektiviertes dokumentarisches Theater fassen lässt: Sein ‚Kopftheater‘ dramatisiert das Mitschreiben der Wirklichkeit, das Sammeln von Nachrichten, Eindrücken und Zitaten. In Kapitel 3.3 werden die Transformationen des postdramatischen Modells durch diesen Vertreter einer jüngeren Generation exemplarisch analysiert anhand der Trilogie Krieg (1986). Einen Ausblick auf die Wirkungsgeschichte des Postdramas nach der Jahrtausendwende soll schließlich das Beispiel des jungen österreichischen Dramatikers Ewald Palmetshofer (* 1978) geben. Seine Stücke knüpfen – etwa durch ihre prägnante Kunstsprache – an postdramatische Sprechstücke und Sprachflächen an. Außerdem schreibt er die etwa durch Heiner Müllers Hamletmaschine vorgeprägte Tendenz fort, bekannte Bezugstexte der Dramentradition postdramatisch zu übermalen: Davon zeugen Palmetshofers hamlet ist tot. keine schwerkraft (2007), für das er 2008 von Theater heute zum Nachwuchsautor des Jahres gekürt wurde, und sein faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete (2009). Dieses Stück, das auf spezifische Weise Tendenzen eines neuen sozialen Dramas mit postdramatischen Verfremdungen verbindet, wird die Einzelinterpretationen meiner Studie beschließen. Die Bühnensituation des Stückes markiert eine signifikante Rückkehr zu Brechts Demonstrationstheater, einem Modell, das in der Entwicklung des Postdramas vielfältige Transformationen durchlaufen hat. Die Herausbildung einer spezifisch postdramatischen Bühnensituation beginnt mit Brecht – wie auch die ‚Archäologie‘ postdramatischer Ästhetik im folgenden ersten Kapitel.
1 Mutter und Väter der Postdramatik 1.1 Bertolt Brecht: Wiederentdeckung und Transformation Zahlreiche Künstler des Gegenwartstheaters berufen sich mittlerweile explizit auf Bertolt Brecht.1 Inszenierungstechniken, die sich als illusionsbrechende Verfremdungseffekte im Sinne Brechts beschreiben lassen, gehören mittlerweile zum Allgemeingut: Stimmen werden durch Mikroports hervorgehoben, Filmprojektionen ergänzen die Bühnenaktion, Live-Bands begleiten Songeinlagen der Spieler, Textbücher werden verlesen, Regisseur und Souffleur haben einen Auftritt, auf offener Bühne werden Kostüme gewechselt und Bühnenumbauten vorgenommen. Für den Komponisten und Regisseur Heiner Goebbels ist „vieles von dem, was das postdramatische Theater in den achtziger und neunziger Jahren entwickelt hat, […] letztlich nichts anderes als das, was Brecht theoretisch schon vorformuliert hatte“.2 Doch epische Mittel sind nicht nur im Postdrama verbreitet: Distanzierende Illusionsbrüche und Episierungen prägen auch fabelgestütze, realistische Dramaturgien, vor allem dort, wo eine neue politische oder soziale Dramatik angestrebt wird.3 Stellvertretend seien Autoren wie Dea Loher, Lukas Bärfuss und Roland Schimmelpfennig genannt. Hier wie in postdramatischen Experimenten begegnen narrative Vermittlungsinstanzen, ausgreifende Erzählpassagen, metatheatrale Elemente und intermediale Verfahren. Doch haben sich diese episierenden Mittel zunehmend verselbständigt und stehen nicht mehr im konzeptionellen Zusammenhang eines epischen Theaters im Sinne Brechts. Vielmehr „treiben“ sie, wie Hans-Thies Lehmann treffend bemerkt, „als Stückchen auf dem mainstream heutiger Theaterpraxis ebenso wie in den Nebengewässern des experimentellen Theaters“.4 In diesem Kapitel werden die postdramatischen Brecht-Lektüren rekonstruiert; ihre Wirkung wird in den Einzelanalysen meiner Studie immer wieder
1 Im Rahmen seiner Studie zum Neuen epischen Theater im 21. Jahrhundert hat Frank-M. Raddatz Stellungnahmen von Theaterleuten gesammelt, etwa von Armin Petras, René Pollesch und der Gruppe Rimini Protokoll (Brecht frisst Brecht, Berlin 2007, bes. S. 123–271). Vgl. auch den programmatischen Aufsatz von René Pollesch, Dialektisches Theater now! Brechts Entfremdungs-Effekt (2006). In: Pollesch, Liebe ist kälter als das Kapitel. Stücke, Texte, Interviews, hg. von Corinna Brocher, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 301–305. 2 Heiner Goebbels, „Von der Unabhängigkeit der Mittel“. In: Frank-M. Raddatz, Brecht frisst Brecht, S. 123–135, hier S. 124. 3 Selbst für eine Zeit Nach der Postdramatik (Bernd Stegemann) wird Brecht als Gewährsmann beansprucht, um eine Rückkehr zur Mimesis zu begründen. 4 Hans-Thies Lehmann, Das politische Schreiben, S. 222.
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zu prüfen und zu präzisieren sein. Zunächst soll sie jedoch literatur- und theatergeschichtlich kontextualisiert werden.
1.1.1 Die postdramatische Brecht-Rezeption: Forschungslage und offene Fragen Der Einfluss Bertolt Brechts auf die Gegenwartsdramatik ist vergleichsweise gut erforscht.5 Doch angesichts der immensen Verbreitung episierender Darstellungsmittel im Gegenwartstheater ist die spezifisch postdramatische Brecht-Rezeption bisher nicht klar konturiert. Einzig Heiner Müllers BrechtBezüge wurden eingehend untersucht.6 Allerdings wird auch hier die postdra-
5 Bereits Andrzej Wirth hat die Formensprache des epischen Theaters als „lingua franca“ zeitgenössischer Dramatik ausgewiesen (Vom Dialog zum Diskurs, S. 16). Die internationale Brecht-Rezeption in Drama und Film seit den 1950er Jahren untersuchen die Beiträge in: Pia Kleber und Colin Visser (Hg.), Re-interpreting Brecht: his influence on contemporary drama and film, Cambridge u. a. 1990. Wie grundlegend die ästhetische Prägung zeitgenössischer audiovisueller Kunstformen durch Brechts Paradigma ist, zeigt die intermediale Wirkung auf das europäische Autorenkino in Italien (Visconti, Bertolucci), Frankreich (Godard) und Deutschland (Kluge, Fassbinder), die Thomas Elsaesser nachweist (From anti-illusionism to hyper-realism: Bertolt Brecht and contemporary film. In: Re-interpreting Brecht, hg. von Pia Kleber und Colin Visser, S. 170–185). Aktuelle Stimmen zur Brecht-Rezeption im Gegenwartstheater sammelt Frank-M. Raddatz (Brecht frisst Brecht). Auch hier bestätigt sich die intermediale Wirkmacht: Raddatz nennt Lars von Triers Film Dogville eine „zeitgenössische BrechtHommage“ (S. 193). Brechts Einfluss wird vor allem im Hinblick auf ein neues politisches Drama diskutiert: Stellvertretend genannt sei Birgit Haas, die Dea Lohers politische Brecht-Rezeption systematisch analysiert (Das Theater von Dea Loher). Eine produktive Brecht-Rezeption vereint auch so unterschiedliche Autoren wie Lukas Bärfuss, dessen „Brecht-Brechungen“ Elio Pellin analysiert („Lehrtheater für die Schweiz“. Bärfuss’ Brecht-Brechungen. In: „Wir stehen da, gefesselte Betrachter“. Theater und Gesellschaft, hg. von Elio Pellin und Ulrich Weber, Göttingen 2010, S. 157–164) und René Pollesch, dessen experimentelles Theater Patrick Primavesi mit Brechts Stücken der 1920er Jahre vergleicht (Beute-Stadt, nach Brecht. Heterotopien des Theaters bei René Pollesch. In: The Brecht Yearbook/Das Brecht-Jahrbuch 29, 2004, S. 366– 376). 6 Vgl. Joachim Fiebach, Nach Brecht – von Brecht aus – von ihm fort? Heiner Müllers Texte seit den siebziger Jahren. In: Brecht 88. Anregungen zum Dialog über die Vernunft am Jahrtausendende, hg. von Wolfgang Heise, Berlin/Ost 1989, S. 171–188; Hans-Thies Lehmann, Das politische Schreiben; Frank-M. Raddatz, Brecht frisst Brecht; Frank-M. Raddatz, Der DemetriusPlan oder wie sich Heiner Müller den Brecht-Ton erschlich, Berlin 2010; Marc Silberman, Bertolt Brecht. In: Heiner Müller Handbuch, S. 136–146; Marc Silberman, Die Tradition des politischen Theaters in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 23/24: Bertolt Brecht, 2006, S. 13–22. Die Diskussionen und Theaterprojekte der Brecht-Tage 2009 standen unter dem Motto Brecht Müller Theater (hg. von Harald Müller, Berlin 2010).
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matische Phase vernachlässigt. Denn in der Müller-Forschung hat sich eine Periodisierung etabliert, die einen schwindenden Einfluss Brechts annimmt:7 In der postdramatischen Werkphase seit den siebziger Jahren wurde in dieser Lesart sogar eine Loslösung vom (übermächtigen) Vorbild Brecht gesehen. Die formale Neukonzeption jenseits von Brecht – nunmehr orientiert an Antonin Artaud – zeige sich etwa in irrationalen Traumsequenzen sowie in der radikalen Subjektivierung und zunehmenden Offenheit von Müllers Theatertexten wie der Hamletmaschine und der Bildbeschreibung.8 Als wichtige Etappe dieser Emanzipation, in der er sich produktiv an Brecht abarbeitet, wird Müllers Bühnenfassung des Fatzer-Konvoluts gesehen.9 Umstritten ist, ob Heiner Müller, nachdem er in der Bildbeschreibung einen Grenzpunkt postdramatischer Ästhetik erreicht hat, mit der WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE (1985/86) zu Brecht und dessen Lehrstückidee zurückkehrt.10 Auch wenn sich Müller konzeptionell und weltanschaulich von Brecht löst – und dem aufklärerischen sozialistischen Programm Brechts einen dunklen Geschichtspessimismus entgegensetzt –, bleibt er seinem prägenden Vorbild in formalen Adaptationen dennoch treu. Denn sein an Artaud orientiertes präsentisches Körpertheater wird spannungsvoll unterlaufen durch reflexive, kommentierende Elemente, die sich bei Brechts intellektuellem Theater inspirieren. Auch die Jelinek-Forschung hat einen Brecht-Bezug bisher nur in den frühen, dezidiert politischen Stücken der Autorin aufgedeckt, wobei hier wenigstens im Ansatz eine spezifisch postdramatische Brecht-Lektüre diskutiert wird. Für Evelyn Annuß, die den Bezug zu Brechts Lehrstückpraxis in Jelineks Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte (1979) analysiert,11 ist Jelineks Zitattheater von Brechts gestischem Spiel inspiriert: Jelineks intertextuel-
7 Vgl. Marc Silberman, Bertolt Brecht: Müllers Frühwerk orientiere sich an Brechts ParabelModell (etwa in seinem Stück Die Lohndrückerin), seine mittlere Schaffensphase seit den sechziger Jahren sei geprägt vom experimentellen Lehrstück, das Müller über Brecht hinausführe, etwa mit seiner experimentellen radikalen ‚Mythenkorrektur‘ im Philoktet. Müller entwerfe in dieser Phase gewagte Umarbeitungen und Widerlegungen von Brechts Lehrstücken: Mauser (1970) etwa ist als Antwort auf Brechts Maßnahme lesbar (vgl. Marc Silberman, Bertolt Brecht, S. 142). Mit dem ‚Spätwerk‘ seit den siebziger Jahren schließlich, das einer realistischen Dramatik endgültig eine Absage erteile, werde das Vorbild Brecht nach und nach überwunden (vgl. Marc Silberman, Bertolt Brecht, S. 137). 8 Vgl. Joachim Fiebach, der aber neben diesen Unterschieden zu Brecht auf die fortdauernde Gemeinsamkeit eines dominant visuellen Theaters hinweist, das Müller auch in seinen experimentellen Stücken mit Brecht verbinde (Nach Brecht – von Brecht aus – von ihm fort?). 9 Für Marc Silberman, Bertolt Brecht, S. 144, vollzieht Müller mit dieser Bearbeitung endgültig den Schritt in die „Nichtdiskursivität der Postmoderne“. 10 Vgl. Frank-M. Raddatz, Der Demetrius-Plan, bes. Kap. XIV, S. 216–229. 11 Vgl. Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, S. 46–57.
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le Sprachspiele verlagern nach dieser Lesart das gestische Zitat von den zwischenmenschlichen auf die rhetorischen, „zwischentextlichen Beziehungen“.12 Wie sehr eine sprachlich und sprachtheoretisch akzentuierte Brecht-Rezeption auch Jelineks postdramatische Sprachflächen prägt, ist jedoch bisher nicht untersucht worden. Obwohl bereits Andrzej Wirth Peter Handkes Kaspar als ein „neues Modell epischen Theaters“ qualifiziert hat,13 ist die Spur von Handkes produktiver Brecht-Rezeption nicht weiter verfolgt worden. Der Blick wurde hier wohl durch Handkes polemische Ablehnung von Brechts Dramatik verstellt. Wirths Aufsatz bietet einen wichtigen Impuls für die Analyse postdramatischer BrechtLektüren. Die Transformation des epischen Theaters durch die Gegenwartsdramatik analysiert er am Beispiel von Brechts Straßenszene: Die Demonstration des Unfallszeugen, die Brecht als Modell seiner epischen Musterszene wählt, wendet sich direkt ans Publikum. Das „nachbrechtsche“ Theater von Handke und Müller greift für Wirth genau diese Spielsituation auf und transformiert sie in das neue Muster eines „Diskurstheaters“. Die Wirkung von Brechts programmatischer Straßenszene, die in der Tat ein zentraler Referenztext der Postdramatiker ist,14 reicht jedoch weit über die von Wirth fokussierte Spielsituation hinaus. Der folgende Vergleich wird deshalb auf weitere Aspekte ausgedehnt. Zuvor muss jedoch der spezifisch postdramatische Fokus auf Brechts Werk präzisiert werden.
1.1.2 Selektive Rezeption des Theoretikers und Theaterpraktikers Die postdramatische Brecht-Rezeption bestimmt ein Phänomen, das sich mit Wirth als „Brecht ohne Brecht“ charakterisieren lässt: Brechts grundlegende
12 Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, S. 49. Spärliche Hinweise auf Jelineks mögliche Brecht-Rezeption finden sich bei Stefan Krammer, der die Brecht-Bezüge jedoch – neben anderen Traditionsbezügen – in eine Logik „zwischen Tradition und Innovation“ ordnet und Jelineks Entwicklung als zunehmende Loslösung von Traditionsbindungen zu fassen versucht („Ich will ein anderes Theater“). Punktuelle Nachweise liefert auch Petra Meurer, die Jelinek und Brecht unter dem Aspekt der Performativität vergleicht (Theatrale Räume, S. 33). Eine systematische Funktionsbestimmung von Jelineks postdramatischen Brecht-Bezügen steht jedoch noch aus. 13 Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs, S. 17. 14 Vgl. die Bekundungen in: Frank-M. Raddatz, Brecht frisst Brecht, S. 123–135 und S. 195– 224; in gewisser Weise gehört Wirths Aufsatz selbst unmittelbar zur postdramatischen Wirkungsgeschichte Brechts: Denn bedeutende Vertreter des postdramatischen Theaters wie René Pollesch und die Gruppe Rimini Protokoll entstammen der sogenannten „Gießener Schule“, zu deren prägenden theaterwissenschaftlichen Lehrern Andrzej Wirth gehört. Im Interview mit
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„Verbindung von Sozialkritik und epischer Form“ wird aufgekündigt, doch seine experimentellen theatralen Mittel werden, losgelöst vom politischen Gehalt, zur Inspirationsquelle: „Brechts enorme Auswirkung muß heute auf der formalen Ebene gesucht werden.“ 15 In der Konsequenz gilt das Interesse weniger dem Dramatiker Brecht; seine didaktischen Weltanschauungsstücke werden abgelehnt zugunsten des Theaterpraktikers und visionären Theoretikers.16 Die Postdramatiker rezipieren Brechts Werk selektiv: Ihre Aufmerksamkeit gilt den Lehrstücken (einschließlich des Fatzer-Konvoluts) und den Modellbüchern, die in Text-Bild-Kombinationen Brechts Regiearbeiten dokumentieren. Sie präludieren neue Text- und Notationsformen sowie, zusammen mit dem gestischen Regiestil, den sie illustrieren, ein postdramatisches Theater der Bilder.17 Die wichtigsten Impulse gehen jedoch von Brechts theatertheoretischen Texten aus. Hier sind es vor allem die noch unrealisierten Möglichkeiten von Brechts Theorie, die eine projektive Lektüre anregen. Es ist „Der andere Brecht“ (Lehmann), den die internationale Theateravantgarde und in ihrem Kielwasser die Postdramatiker wiederentdecken und an dem sie eine quasi postmoderne Offenheit zutage fördern.18 Dies gelingt auch durch die typisch postdramatische Konfrontation scheinbar entgegengesetzter Modelle, die in einer parallelen Lektüre spannungsvoll zusammengeführt werden: Die reflexiven, distanzierenden Verfahren des epischen Theaters geraten so in einen spannungsvollen Dialog mit dem rituellen Körper-Theater Antonin Artauds. Außerdem werden Brechts Verfremdungstechniken mit weiteren präsentischen Konzeptionen konfrontiert, die sich von Performances, Happenings und Aktionskunst inspi-
Frank-M. Raddatz verweisen Pollesch und die Mitglieder von Rimini-Protokoll wie auch der in Gießen lehrende Heiner Goebbels auf diese spezifische Brecht-Lektüre hin, insbesondere auf das intensive, auch praktische Studium seiner Lehrstücke und theoretischen Texte. 15 Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs, S. 16. 16 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Das politische Schreiben, S. 189–192. 17 Zu diesem Aspekt produktiver Brecht-Rezeption vgl., mit Bezug auf Heiner Müller, Joachim Fiebach, Nach Brecht – von Brecht aus – von ihm fort?, bes. S. 183. 18 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Das politische Schreiben, bes. S. 207–282. Unter dem Stichwort „Fabel-Haft“ analysiert Lehmann die entscheidende Akzentverschiebung des ‚postbrechtschen‘ Theaters, das sich im Gegensatz zu Brecht von der Fabel emanzipiere (Hans-Thies Lehmann, Das politische Schreiben, S. 219–237). Indem Lehmann jedoch zugleich eine „innere Alterität“ (Hans-Thies Lehmann, Das politische Schreiben, S. 224) in Brechts eigenen, oftmals widersprüchlichen Schriften erkennt, kann er die neuen Ansätze an eine postdramatische „Relektüre“ (S. 225) Brechts rückbinden. Die postdramatischen ‚Relektüren‘ werden von der neueren Brecht-Forschung, die sich vermehrt den theoretischen Schriften zuwendet, teilweise sogar gestützt: Diese neue Forschungslage resümierend, betont Marc Silberman, Brechts „Wertschätzung für den Widerspruch als produktives Element, nicht als Aussetzen oder Harmonisieren der Gegensätze“ (Die Tradition des politischen Theaters in Deutschland, S. 18).
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rieren lassen. Eine produktive Mischung verschiedener Stile und Einflüsse prägt besonders die Brecht-Rezeption der amerikanischen Theateravantgarden, die entscheidend auf das deutschsprachige Postdrama zurückwirkt.
1.1.3 Der ‚reimportierte‘ Brecht Die postdramatische Brecht-Rezeption wurzelt in der Renaissance des politischen Theaters um 1968. Hier wird Brecht von einer internationalen Theateravantgarde (in West und Ost) wieder- beziehungsweise neuentdeckt. Immens ist der Einfluss von Brechts Regiestil auf die internationale Theateravantgarde seit den 1960er Jahren. Brechts Entscheidung, sich nach dem Krieg in der DDR niederzulassen, hatte zunächst zu einem Boykott seiner Werke im Westen geführt, doch Ende der sechziger Jahre wurde sein Berliner Ensemble zu einem „Mekka“ junger Theaterleute.19 John Rouse hat minutiös nachgezeichnet, wie Brechts Inszenierungsstil die westdeutsche Theater-Avantgarde prägte (mit jungen Regisseuren wie Claus Peymann und Peter Stein) und sich bis zum Ende der 1980er Jahre als dominantes Muster durchsetzte.20 Eine wichtige Spur des spezifisch postdramatischen Rezeptionsstrangs führt in die USA. Denn die musterbildende amerikanische Theateravantgarde, die sich im Rückgriff auf vergessene Dramatiker und Theaterkünstler der dreißiger Jahre wie Antonin Artaud und Gertrude Stein konstituierte, bezog sich wesentlich auch auf Bertolt Brecht. Zum ersten Programm des Living Theatre – einer Serie von Kurzdramen, die 1951 im New Yorker Wohnzimmer von Judith Malina und Julian Beck aufgeführt wurde – gehörten auch Brechts Lehrstücke Der Jasager und Der Neinsager.21 Mit dieser Wahl bekundete die Truppe sogleich das spezifische Interesse der Nachkriegsavantgarden am Theater-Praktiker Brecht. 1967 realisierte das Living-Theatre ein Modell-Buch Brechts: das Antigonemodell 1948,22 wobei in die Inszenierung sogar Brechts Bildunter19 Klaus Völker analysiert die Produktionen von Brechts Stücken auf westdeutschen Bühnen zwischen 1945 und 1986 (Productions of Brecht’s plays on the West German Stage, 1945–1986. In: Re-interpreting Brecht: his influence on contemporary drama and film, hg. von Pia Kleber und Colin Visser, Cambridge u. a. 1990, S. 63–75). 20 John Rouse, Brecht and the West German Theatre. The Practice and Politics of Interpretation, Ann Arbor und London 1989, (Theatre and Dramatic Studies 62). 21 Vgl. John Tytell, The Living Theatre. Art, Exile, and Outrage [1995], London 1997, S. 71 f. 22 Bertolt Brecht und Caspar Neher, Antigonemodell 1948, Red. von Ruth Berlau, Berlin 1949. Zur Inszenierung des Living Theatre vgl. John Tytell, The Living Theatre, S. 220 f., sowie das Interview mit Julian Beck von Lyon Phelps 1967, das auch Bildmaterial zur Aufführung bietet (Lyon Phelps, Brecht’s Antigone at the Living Theatre. In: The Drama Review 12, 1967/1968, No. 1, S. 125–131).
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schriften und Erläuterungen integriert wurden. Die Truppe wählte einen freien Umgang mit den verschiedenen Komponenten der Vorlage: So wurden Bilder und Texte des Modellbuchs – eigentlich ganz im Sinne von Brechts eigener Regiepraxis – als grundsätzlich gleichberechtigtes Material genutzt. In diesem Zugang liegt jedoch zugleich eine Emanzipation vom Vorbild. Denn Brechts Verfahren der Modellbücher ist paradox: Obwohl er durch VEffekte – wie das aktualisierende Vorspiel Berlin. April 1945. Tagesanbruch,23 die verwendete nachdichtende Übersetzung Hölderlins und das Spiel mit Masken – Sophokles’ Tragödie öffnen will für Kommentar und Kritik, legt das Modell zugleich jede Geste, jeden Schritt so genau fest, dass ein lückenloses Aufführungs-Skript entsteht, von dem nicht abgewichen werden soll.24 Das Living Theatre hat demgegenüber das gesamte Modell-Buch als Theatertext rezipiert, der frei umgesetzt werden kann: Die Bildunterschriften, die wichtige Handlungsschritte erzählend in Versform wiedergeben, wurden von Brecht als „Brückenverse“ nur in der Probenphase verwendet – und in der Aufführung dem Inspizienten zugeteilt. Sie dienten dazu, das distanzierende Spiel zu trainieren.25 In der Inszenierung des Living Theatre wurden sie hingegen als Sprechtexte in die Aufführung integriert. Der Zweck dieses Verfremdungseffekts liegt für den Regisseur Julian Beck darin „to excite rapid changes, to cool the action, to shift the audience and ourselves from hot to cold, with the hope that each temperature will agitate the other“.26 Die strengen Regievorgaben Brechts werden also eingesetzt, um ein Gegengewicht zu Tempo und Intensität der eigenen Inszenierung zu schaffen und einen Wechsel der Temperamente zu erreichen. Hier manifestiert sich eine radikalisierte Auffassung vom Text als Material, die typisch für postdramatische Ästhetik werden wird. Die Inszenierung tritt in Dialog mit ihrer Textvorlage, die beliebig benutzt, ergänzt und verfremdet werden kann: Textinstanzen werden enthierarchisiert, ihre Festlegungen gebrochen durch Improvisationen. Im Falle des Living Theatre kommt ein exzessives Körpertheater, das Markenzeichen der Truppe, im kontrastiven Dialog mit Brecht und seiner extrem stilisierten Antigone-Aufführung beson-
23 Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe in 30 Bänden, hg. von Werner Hecht u. a., Berlin, Weimar und Frankfurt a. M. 1988–2000 (= GKA), hier GKA 25, S. 84–89. 24 Vgl. hierzu Werner Frick, der zeigt, wie Brechts Programm einer ‚Durchrationalisierung‘ des Mythos im Modellbuch fixiert wird, in dem er ein verbindliches Muster liefert, das „die Gestaltungs- und Manipulationsspielräume künftiger Modellnutzer durch strenge Vorgaben einschränken soll“ („Die mythische Methode“, S. 498). 25 Vgl. die Ausführungen in Brechts und Nehers Vorwort zum Antigonemodell (GKA 25, S. 73– 81, hier S. 79 f.). 26 Julian Beck im Interview mit Lyon Phelps (Brecht’s Antigone at the Living Theatre, S. 129).
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ders zur Geltung. Dabei reaktualisiert das ekstatische Living Theatre auch rituelle Aufführungsformen und die kultischen Ursprünge des Theaters, die Brecht durch eine dezidierte „Säkularisierung“ 27 der Bühne endgültig überwinden wollte. Die Verbindung von Brecht mit dem kultischen und subjektiven Körpertheater Antonin Artauds, die in diesem Ansatz deutlich wird, verbindet das Living Theatre mit Heiner Müller, der in seinen späteren Stücken ebenfalls Brecht mit Artaud konfrontierte.28 Auch andere Vertreter der politischen amerikanischen Theateravantgarde inszenierten Brecht-Stücke beziehungsweise adaptierten seine Methoden: In einem Interview bestätigte Peter Schumann, dass er das Puppenspiel des Bread and Puppet Theatre als Verfremdungseffekt im Sinne Brechts verstehe.29 Die San Francisco Mime Troupe inszenierte bereits 1965 Brechts Lehrstück Die Ausnahme und die Regel. In einer Produktion von 1973 ergänzte die Truppe Brechts Die Mutter, ein Stück, das der Ästhetik der Lehrstücke nahesteht, um aktualisierendes Material: Verwendet wurden politische Parolen aus der amerikanischen Geschichte vom Bürgerkrieg bis zur Anti-Vietnamkrieg-Bewegung: „Bring the War home“.30 Zur Verfremdung des berühmten Berichts vom ersten Mai 1905, der bei Brecht „von der Rezitation zur Pantomime“ übergeht,31 wurden filmische Techniken simuliert: „In the May Day march scene, the actors moved in a cinematic slow, fast, and stop-action sequence.“ 32 Für Heiner Müller hat Joachim Fiebach einen ähnlichen Zugriff auf Brechts Theater nachgewiesen: Um die von Brecht inspirierte „Bildhaftigkeit“ seines Theaters zu erreichen, orientiere sich Müller in seinen späten Stücken zunehmend an audiovisuellen Medien: an Videoclips, Filmen der Pop-Kultur und am US-Fernsehen, das er auf seinen Amerikareisen „intensiv erlebte“.33 So lässt sich an Heiner Müller exemplarisch ein neuer Blick auf Brecht fassen, der über den Umweg einer freien Adaptation des epischen Theaters
27 Zu Brechts aufklärerischem Programm einer Säkularisierung des Theaters vgl. Jörg-Wilhelm Joost, Klaus-Detlef Müller und Michael Voges, Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung, München 1985, S. 220. 28 Vgl. Joachim Fiebach, der nachweist, wie Müllers Stücke seit den siebziger Jahren von Artaud inspirierte Traumszenarien mit der „Bildhaftigkeit der Brechtschen Kunst“ (Nach Brecht – von Brecht aus – von ihm fort?, S. 183) kombinieren. 29 Vgl. Helen Brown u. a., With the Bread & Puppet Theatre: An Interview with Peter Schumann. In: The Drama Review 12, 1967/1968, No. 2, S. 62–73, hier S. 70. 30 Vgl. die Aufführungsbeschreibung von Mel Gordon, The San Francisco Mime Troupe’s The Mother. In: The Drama Review 19, 1975, No. 2, S. 94–101. 31 So Brechts Aufführungsbeschreibung in den Anmerkungen zur Mutter (GKA 24, S. 197). 32 Mel Gordon, The San Francisco Mime Troupe’s The Mother, S. 99. 33 Joachim Fiebach, Nach Brecht – von Brecht aus – von ihm fort?, S. 183 f.
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durch die musterbildende amerikanische Avantgarde in das deutschsprachige Postdrama re-importiert wird. Dieser Aspekt wird in der Heiner Müller-Forschung, die sich weitgehend auf eine durch die DDR-Erfahrung geprägte Brecht-Rezeption konzentriert, vernachlässigt. Einzig Andrzej Wirth stellt die freien Brecht-Adaptationen bei Peter Handke und dem späten Heiner Müller in den Kontext einer internationalen, insbesondere amerikanisch geprägten Theateravantgarde. In der Tendenz, den dramatischen Dialog durch ein Ansprechen des Publikums zu ersetzen, entdeckt er grundlegende Übereinstimmungen zwischen Handke, Müller und den amerikanischen Postdramatikern Richard Foreman und Robert Wilson.34
1.1.4 Abgrenzungen und Bekenntnisse Handkes Brecht-Bild ist zunächst zeittypisch geprägt durch sein – zwischen Sympathie und elitärer Abgrenzung schwankendes – Verhältnis zur Studentenbewegung. Bereits 1967 formulierte Handke eine schroffe Ablehnung Brechts im programmatischen Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms: Von der Warte eines provokanten Pop-Ästhetizismus erscheint Brecht gemeinsam mit Beckett und dem gesamten zeitgenössischen Theater als „Relikt einer vergangenen Zeit“. Handke kritisiert Brechts episches Verfahren als „faule[n] Zauber“. Brechts Desillusionierung verfehle die Realität von Sprache und Theater. Sein Theater stehe vielmehr (als ein politisches) immer noch in mimetischen Diensten: „[W]ieder wurde Wirklichkeit vorgetäuscht, wo Fiktion war.“ 35 Konsequent und zeitgemäß sieht Handke dann im politischen Protest der 68er-Bewegung eine Überbietung Brechts: In seiner Gegenüberstellung von Straßentheater und Theatertheater (1968) rühmt er Brecht zunächst als einen Autor, der ihm „zu denken gegeben“ habe, indem er die häufig allzu selbstverständlich erscheinende Welt verfremdet als „änderbar“ vorführe.36 Als wahre
34 Vgl. Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs. Zum postdramatischen Theater Foremans und Wilsons vgl. genauer Kap. 2.4 dieser Studie. 35 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, Frankfurt a. M. 1972, (suhrkamp taschenbuch 56) S. 27. Diese Fundamentalkritik einer ‚falschen‘ Wirklichkeit, die in Wahrheit Kunst sei, nimmt Handke 1968 wieder auf in seinem Essay über Straßentheater und Theatertheater (Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 51–55). In der knappen Gegenüberstellung Horváth und Brecht (1968) wird das negative Urteil über Brecht offensichtlich: Polemisch stempelt Handke Brecht zum „Trivialautor“ einfacher Weltanschauungsliteratur ab und setzt Brechts naiven „Idyllen“ die komplexen und poetischen Bewusstseinsspiele Horváths entgegen (Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 63 f.). 36 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms S. 51–55, hier S. 51.
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Nachfolger und Überbieter Brechts, die seine Theaterspiele konsequent in der Wirklichkeit fortsetzen, weist er dann die Kommune I in Berlin aus,37 um im nächsten Schritt demgegenüber Brechts Theater-Kunst sogleich als wirkungslos darzustellen: Als Theater bleibe es Konvention und den „Regeln des guten Geschmacks“ auf fatale Weise verhaftet.38 Das wahre „engagierte Theater“ finde nunmehr jenseits der Theaterräume, auf der Straße und in den Hörsälen, statt.39 Die Abwertung Brechts wird implizit noch weitergeführt, denn der Aufsatz endet nicht etwa mit einer Feier des politischen Straßentheaters, sondern mit dem Plädoyer für ein neues Kunsttheater, das als „Theatertheater“ gegen Brecht und seine vermeintlichen Erben profiliert ist: Das politische Theater wird der Realität der Straße überantwortet. Im „Theatertheater“ hingegen soll dann ein „Spielraum zur Schaffung bisher unentdeckter Spielräume des Zuschauers“ entstehen.40 Die provokant kontemplative Haltung sieht Theater als „Mittel zum Empfindlichmachen […] als ein Mittel, auf die Welt zu kommen“.41 Handke lehnt Brechts – direkte – politische Indienstnahme von Theater ab. Sein Gegenentwurf verabschiedet sich von der Idee, auf eine Welt außerhalb des Theaters einwirken zu wollen. Er setzt vielmehr auf Darstellung und Reflexion des Theaters selbst. Das politische Theater wird abgelöst vom selbstreflexiv-formalistischen Kunsttheater, das sich Brechts epischer Mittel jedoch durchaus bedient. Heiner Müllers Stellungnahmen zu Brecht sind ungezählt: Sein wechselvolles Verhältnis zum Vorbild hat er vor allem in Gesprächen und Interviews reflektiert. Diese facettenreichen, teils widersprüchlichen Aussagen können hier nicht umfassend behandelt werden.42 Exemplarisch für die postdramatische Werkphase, die hier allein berücksichtigt werden soll, seien zwei Äußerungen angeführt, die gemeinsam mit den postdramatischen Mustertexten Hamletmaschine und Bildbeschreibung in dem Geburtstagsband Heiner Müller Material (1989) veröffentlicht sind. Dieser Band gehört wesentlich zur Wirkungsgeschichte Heiner Müllers, der rasch zu einem Klassiker des Postdramas avancierte. Auch die Brecht-Rezeption postdramatischer Autoren wie Elfriede Jelinek und Rainald Goetz ist durch Müller vermittelt. In den Stellungnahmen des Bandes präsentiert sich Müllers Brecht-Bild viel differenzierter, als
37 Vgl. Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 51. 38 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 52. 39 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms., S. 53 f. 40 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 54. 41 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 54. 42 In seiner Studie zu Müllers Brecht-Rezeption hat Frank-M. Raddatz diese Äußerungen zusammengetragen (Der Demetrius-Plan).
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es die Ablösungsthese der Forschung suggeriert. Die berühmte Schluss-Sentenz „Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat“ 43 formuliert jedoch keine Abkehr eines desillusionierten Brecht-Erben, sondern impliziert einen produktiven Dialog (quasi um einer Ehrenrettung des prägenden Vorbilds willen), dessen Spuren sich auch in den postdramatischen Texten Heiner Müllers finden. Um Müllers vermeintliche Ablösung von Brecht in der postdramatischen Werkphase zu beglaubigen, wird stets sein Brief an Reiner Steinweg vom 4. Januar 1977 zitiert, der unter dem griffigen Titel Verabschiedung des Lehrstücks in den Band aufgenommen wurde:44 Müllers lapidares „mir fällt zum Lehrstück nichts mehr ein“ 45 wird jedoch im Kontext des Briefes rein inhaltlich begründet und bezieht sich vor allem auf Brechts didaktisches Programm. In Müllers pessimistischem Geschichtsbild gibt es keine gültige Lehre mehr, keinen zu belehrenden Adressaten und keine moralische Triebkraft politischer Aktion („der Humanismus kommt nur noch als Terrorismus vor“ 46). Die Folge ist eine produktive Resignation beziehungsweise „der konstruktive Defaitismus“: „Auf einem Gelände, in dem die LEHRE so tief vergraben und das außerdem vermint ist, muß man gelegentlich den Kopf in den Sand (Schlamm Stein) stecken, um weiterzusehen.“ Auf ein neues Lehrstück muss man hingegen „bis zum nächsten Erdbeben“ 47 warten. Aus dieser Absage an Brechts Lehrstück, die auf eine spezifische historische Diagnose zurückgeht, folgt jedoch keine grundlegende Ablehnung von Brechts formalen Errungenschaften. Auch in seinem Brecht-Essay Fatzer +/– Keuner 48 (1979), in dem er Brechts Werk als gleichermaßen zeitgebunden wie – im Kontext des DDR-Sozialismus und seiner Kulturpolitik – eigentümlich aus der Zeit gefallen charakterisiert, spricht er diesem „Autor ohne Gegenwart“ eine Relevanz ab für die aktuelle „Zeit der Industrienationen“.49 Spannungsvoll und provokativ konfrontiert er Brechts episches Modell mit der rätselhaften und durch ihre Offenheit zeitlosen Metaphorik Franz Kafkas (eines in der DDR verpönten Autors). In der Hamletmaschine (1977) ist das Programm einer kritischen BrechtLektüre bereits eingelöst: Das erzählte Revolutionsstück im vierten Teil Pest in
43 Frank-M. Raddatz, Der Demetrius-Plan, S. 36. 44 Heiner Müller, Heiner Müller Material. Texte und Kommentare, hg. von Frank Hörnigk, Göttingen 1989, S. 40. 45 Heiner Müller, Heiner Müller Material, S. 40. 46 Heiner Müller, Heiner Müller Material, S. 40. 47 Heiner Müller, Heiner Müller Material, S. 40. 48 Heiner Müller, Heiner Müller Material, S. 30–36. 49 Heiner Müller, Heiner Müller Material, S. 36.
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Buda Schlacht um Grönland adaptiert und transformiert eine prominente epische Musterszene Brechts, den Bericht vom 1. Mai aus dem Drama Die Mutter (1932).50 Die geschichtspessimistische Haltung, die aus Müllers kritischem Gebrauch des Prätextes spricht, prägt auch seine 1978 erstellte Bühnenfassung des Fatzer-Konvoluts. In das Fatzer-Fragment projiziert Müller sein eigenes Verhältnis zu Brecht, wenn er den antagonistisch-dialogischen Charakter des Fatzer im Brecht-Essay von 1979 als „Materialschlacht Brecht gegen Brecht“ qualifiziert.51 Die Besonderheit von Brechts Fragment besteht in dem das Fatzerdokument begleitenden Fatzerkommentar („zum fatzerdokument gehört das fatzerkommentar“ 52). Dieser dialogische Materialbegriff prägt auch Müllers eigenes Kommentartheater – etwa seine Shakespeare-Bearbeitung Anatomie Titus Fall of Rome (1984), die sich als Shakespearekommentar an Brechts Kommentartexte des Fatzer-Fragments anlehnt. Ein poetologischer Programmtext im Anhang des Stückes antwortet – ohne Brecht namentlich zu nennen – implizit auf dessen Konzeption.53 Bei Müller dient der „Tituskommentar“ 54 nicht als begleitendes Material, sondern wird als Teil des Stückes ausgewiesen: „Der Kommentar als Mittel, die Wirklichkeit des Autors ins Spiel zu bringen, ist Drama.“ 55 Mit dieser Bestimmung zielt Müller offenbar auf die spezifisch performative Qualität des Kommentars und markiert seine dialogische Struktur: Er ist Dialog zwischen kommentierender Instanz und kommentiertem Text sowie zwischen Kommentator und Publikum (über den Text). Dabei hat dieser Dialog dramatisches Konfliktpotential: Indem er unterschiedliche historische Situationen, verschiedene Weltanschauungen und Erfahrungen konfrontiert, ist er immer auch als Konflikt der kommentierenden Vermittlungsinstanz mit ihrem Material zu werten. Diesen Konflikt szenisch zu realisieren, ist die Herausforderung, die Müller mit deutlichen Brecht-Anspielungen fasst. Man fühlt sich erinnert an Brechts ‚demokratische‘ Schauspielübungen des Lehrstücks, wenn Müller ausführt: „Das Repertoire der Rollen (Positionen), das der Kommentar bereitstellt […], steht allen zur Verfügung, die am Spiel beteiligt sind.“ 56 Daraus folgt für Müller eine konsequente Enthierarchisierung der Textinstanzen, die typisch für seine postdramatische Ästhetik ist und hier deutlich mit Brechts
50 51 52 53 54 55 56
Zu einer Funktionsbestimmung dieses Bezugs vgl. das folgende Kapitel 2.5.2 dieser Arbeit. Heiner Müller, Heiner Müller Material, S. 36. GKA 10.1, S. 515. Heiner Müller, Werke 5, S. 192 f. Heiner Müller, Werke 5, S. 192. Heiner Müller, Werke 5, S. 192. Heiner Müller, Werke 5, S. 192.
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Verfremdungsbegriff verbunden ist: „Kein Monopol auf Rolle Maske Geste Text, Episierung kein Privileg: Jedem die Chance, sich selbst zu verfremden.“ 57 Elfriede Jelineks frühe Dramen stellen sich explizit in die Nachfolge von Brechts politischem Theater. In ihrem Essay Ich schlage sozusagen mit der Axt drein (1984) bekennt sich Jelinek zu diesem Erbe, indem sie ihr „Nora-Stück als eine Weiterentwicklung des Brechtschen Theaters mit modernen Mitteln“ 58 ausweist. Modernisiert wird Brechts Ansatz mit den Mitteln der „Popkultur“: So vergleicht Jelinek ihr verfremdendes Zitierverfahren mit bildkünstlerischen Verfahren, die „vorgefundenes Material aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen“ nebeneinandersetzen. Die Funktion dieser heterogenen Montage – die offenbar als Verfremdungsmittel wirken soll – wird ganz im Sinne Brechts als „Bewusstmachung von Zuständen und Sachverhalten“ 59 definiert. An diesem aufklärerischen Wirkungsanspruch, der an Brechts politisches Theater unmittelbar anschließt, hält Jelinek auch in ihren späteren Texten fest. Dies zeigt sich an ihren folgenden Stellungnahmen: Anlässlich des BrechtJahrs 1998 äußert sie sich in verschiedenen Printmedien wieder explizit über ihr ambivalentes Verhältnis zu Brecht.60 Wenn sie bekennt, „mit dem Werk Brechts immer [ihre] Schwierigkeiten gehabt“ zu haben, gilt auch ihre Kritik zunächst den eindimensionalen politischen Botschaften, denen sie einen „selbstgewissen Reduktionismus“ attestiert.61 Doch ihre Argumentation gerät mehr und mehr zur versteckten Hommage: Leitmotivisch bestimmen Jelineks Essays Brecht als „Mode“-Autor. Diese Zuschreibung bezieht sich auf die Zeitgebundenheit seiner Stücke, die ihren „Datumsstempel“ deutlich tragen: „Brecht aus der Mode“ 62 konstatiert denn auch der Titel eines der BrechtEssays, um diese Aussage dann auf subtile Weise zu relativieren. Denn der Begriff Mode wird von Jelinek auch auf Brechts Ästhetik angewendet: Für Jelinek geht es Brecht – der Dichter-Ikone im abgewetzten Ledermantel – auch in seiner Kunst vor allem um das „Äußerliche“. Wenn Jelinek Brechts Interesse für das „Äußerliche, das dem literarischen Gegenstand ‚Aufgesetzte‘“ 63 hervor-
57 Heiner Müller, Werke 5, S. 192. 58 Elfriede Jelinek, „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“. In: TheaterZeitSchrift 7, 1984, S. 14–16, hier S. 15. 59 Elfriede Jelinek, „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“, S. 15. 60 Jelineks knappe Brecht-Essays erschienen in Theater der Zeit und dem Brecht yearbook (Alles oder Nichts. In: The Brecht Yearbook 23, 1997, S. 66–69), im Berliner Tagesspiegel (Brecht aus der Mode. In: Der Tagesspiegel, 10. Februar 1998) und in der Wochenzeitung Die Zeit (Das Maß der Maßlosigkeit. In: Die Zeit, 5. Februar 1998). 61 Elfriede Jelinek, Neue Theaterstücke. 62 Elfriede Jelinek, Brecht aus der Mode. 63 Elfriede Jelinek, Brecht aus der Mode.
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hebt, hat sie offensichtlich Brechts Verfremdungstechniken und seine Theorie des Gestus im Blick: Die demonstrierende Spielweise, das zitierende Ausstellen von Handlungen und Rede sowie die soziale Symptomatik der Gesten, die nur das gesellschaftlich Typische, nicht einen individuellen Charakter erfassen sollen,64 erzeugen nach dieser Lesart eine künstliche Oberfläche. Auf ihr wirkt der Gegenstand (etwa ein gesellschaftlicher Konflikt zwischen Armut und Reichtum) als Zitat künstlich. Von dieser Überlegung ausgehend, kann Jelinek eine Aktualität Brechts beweisen, indem sie ihn mit der zeitgenössischen grunge-Mode vergleicht: grunge ist ein als modisch ästhetisierter Lumpenlook, wodurch der Kontrast zwischen realer Armut und ihrem modischen Zitat in der Äußerlichkeit der Kleidung, wo der Gegensatz zwischen Lumpe und Luxus gerade nivelliert scheint, nur umso deutlicher hervortritt. So funktionieren für Jelinek auch Brechts „Codes der Äußerlichkeiten“: Indem bei Brecht „die Mitglieder der Klassengesellschaft wie Kleidungsstücke katalogisiert werden“, lässt sich „das eigentlich Wahre an solchen Äußerlichkeiten wiedergewinnen“.65 Wenn Jelinek Brecht in dieser Form als „Mode“-Autor ausweist, würdigt sie seine Ästhetik des – künstlichen, stilisierten – Zeigens. Sie deutet für Jelinek unablässig auf den „Riss zwischen dem Realen und dem Gesagten“, also beispielsweise zwischen der Wirklichkeit von Armut und ihrem gestischen Zitat im Kunstprodukt eines epischen Theaterstücks. Implizit spiegelt Jelinek dann ihr eigenes Verfahren in einer produktiven Brecht-Kritik, indem sie das scheinbare Defizit von Brechts Künstlichkeit positiv wendet: Da der Riss nicht zu schließen ist – also auch „in den Lehrstücken, die sich scheinbar total ‚ausgehen‘, ein unsagbarer, unbeschreiblicher Rest“ 66 bleibt –, soll eine engagierte Kunst genau diesen Riss im dauernden Reproduzieren offen halten. Das „Maß der Maßlosigkeit“,67 das sie dem Stückeschreiber Brecht in der Metapher des „Fressens“ attestiert, gilt besonders für ihre eigenen mäandernden Sprachsalven. Sie markieren stets aufs Neue die Kluft zwischen dem „Realen und dem Gesagten“.68 Im Gesagten reproduziert sie sich als Kampf zwischen der Sprache und „ihrem Gegenstand, der ihr übergestülpt ist wie Kleidung (nicht umgekehrt!)“.69 Mit der Metapher des „Risses“ oder
64 Zu Definition und Funktion von Brechts Schlüsselbegriff „Gestus“ vgl. Peter Brooker, Key words in Brecht’s theory and practice of theatre. In: The Cambridge Companion to Brecht, hg. von Peter Thomson, 2. Aufl.: Repr., Cambridge 2008, S. 209–224, bes. S. 219–222. 65 Elfriede Jelinek, Brecht aus der Mode. Vgl. die entsprechende Argumentation in: Elfriede Jelinek, Alles oder Nichts. 66 Elfriede Jelinek, Brecht aus der Mode. 67 Elfriede Jelinek, Das Maß der Maßlosigkeit. 68 Elfriede Jelinek, Brecht aus der Mode. 69 Elfriede Jelinek, Brecht aus der Mode.
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„Spalts“ konstruiert Jelinek bei Brecht genau jene postmoderne Offenheit, die für postdramatische Re-Lektüren leitend ist. Die selektive und projektive Brecht-Rezeption der Postdramatiker soll exemplarisch an Brechts Straßenszene analysiert werden.
1.1.5 Die Straßenszene (1938): Episches und postdramatisches Modell Brechts 1938 entstandene Straßenszene70 entwirft das „Grundmodell einer Szene des epischen Theaters“. In einem Rückblick auf „anderthalb Jahrzehnte“ (370) episches Theater besinnt sich Brecht programmatisch auf dessen Basis. Die Entwicklung der epischen Theaterform ist für Brecht, wie implizit aus dem Text zu erschließen ist, an einen kritischen Punkt gelangt. Bevor ein Rückfall ins Illusionstheater droht, soll offenbar anhand des minimalistischen Grundmodells an die gesellschaftliche Relevanz des Musters erinnert werden. Brecht fragt danach, welche Elemente mindestens versammelt sein müssen, damit ein Spiel den Ansprüchen des epischen Theaters genügen kann. In der absoluten Reduktion des Modells erreicht Brecht allerdings einen Grad an struktureller Offenheit, der die Straßenszene zu einem zentralen Bezugstext des postdramatischen Theaters macht. Als Grundmodell der Kunst-form ‚episches Theater‘ wählt Brecht einen Vorgang „‚natürlichen‘ epischen Theaters“ (371): die spontane Darbietung eines Unfallzeugen, der den Hergang zeigen möchte. Brecht möchte mit diesem Modell das epische Paradigma in der Lebenswirklichkeit verankern und damit seinen gesellschaftlichen Wirkungsanspruch behaupten.71 Indem er eine be70 Brechts Aufsatz wird im Folgenden mit Seitenangaben im Text zitiert nach: GKA 22.1, S. 370– 381. 71 Joachim Fiebach, Brechts Straßenszene. Versuch über die Reichweite eines Theatermodells [1978]. In: Fiebach, Keine Hoffnung. Keine Verzweiflung. Versuche um Theaterkunst und Theatralität, Berlin 1998, S. 9–34, der Brechts Straßenszene mit der zeitgenössischen politischen Theateravantgarde vergleicht, suggeriert, das epische Theater könne aufgrund seiner ‚natürlichen‘ Basis letztlich als ‚erweitertes Straßentheater‘ gefasst werden. Mit Michael Voges, Aufklärung auf dem Theater. Die Säkularisierung einer kultischen Institution. In: Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung, hg. von Jörg-Wilhelm Joost, Klaus-Detlef Müller und Michael Voges, München 1985, S. 219–222, hier S. 219, lehne ich diese These ab: Die behauptete Alltäglichkeit des natürlichen Theaters ist nicht „naturalistisch misszuverstehen“ (Michael Voges, Aufklärung auf dem Theater, S. 220), sie propagiert also keine naive Ästhetik und fordert kein Verlassen der Theaterräume. Sie dient vielmehr Brechts aufklärerischem Kunstverständnis, das stets die gesellschaftliche Relevanz von Theater einfordert (vgl. Michael Voges, Aufklärung auf dem Theater). Hierzu wird ein ‚säkularisiertes‘ Theater proklamiert, das nicht auf kultische Wurzeln zurückgeht, sondern direkt in der gesellschaftlichen Lebenspraxis gründet (vgl. Michael Voges, Aufklärung auf dem Theater).
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tont kunstlose Form vorstellt, grenzt Brecht sein politisches episches Theater deutlich ab von ästhetizistischen, formalistischen und rein selbstbezüglichen Formen. Hinter dem Modellentwurf steht eine aufklärerische Idee: Das epische Theater soll den Zuschauer zur Kritik gesellschaftlicher Zustände befähigen. Von dieser entscheidenden Voraussetzung ausgehend, wählt Brecht ein Grundmodell, an dem im Folgenden die wesentlichen Kriterien epischen Theaters erläutert werden: die berühmte Straßenszene: „Der Augenzeuge eines Verkehrsunfalls demonstriert einer Menschenansammlung, wie das Unglück passierte“ (371). Seine Darbietung dient dazu, „dass die Umstehenden sich über den Unfall ein Urteil bilden können“ (371). In der Spielweise dieser Szene sieht Brecht nun die Grundelemente auch des künstlerischen epischen Theaters; zum Modell müsse nichts Wesentliches hinzukommen, um „große[s] Theater“ (371) zu erzeugen. Jeder Kunstgriff – etwa auch typisch theatrale Elemente wie Kostüm und Requisite sowie etablierte Mittel des epischen Theaters wie Verfremdungseffekte – wird daraufhin am Modell geprüft. Der Darstellungsstil der Straßenszene ist ihrem Zweck vollkommen untergeordnet. So muss der Vorführende beispielsweise in jeder Geste markieren, dass seine Demonstration „den Charakter der Wiederholung“ (372) hat und keineswegs die Illusion eines wirklichen Geschehens erzeugen soll. Der Antiillusionismus, der für eine epische Theaterszene gleichermaßen gilt, hat also eine „gesellschaftlich praktische Bedeutung“ (373). Um es der Kritik anheim geben zu können, muss Distanz zum Dargestellten gewahrt werden. Die zentralen Mittel, die nach Brecht die Straßenszene und das Spiel im epischen Theater gleichermaßen bestimmen müssen, entsprechen genau diesem distanzierenden Modus: Etwas bereits Vergangenes wird in Form eines gespielten Berichts aktualisiert. Die demonstrierte Wiederholung macht stets bewusst, dass sie nur Spiel ist: „Folgt die Theaterszene hierin der Straßenszene, dann verbirgt das Theater nicht mehr, daß es Theater ist“ (372). Streng zweckgerichtet bleibt die Straßenszene auch darin, dass sie selektiv und perspektivisch vorgeht: Zur Darstellung gelangt nur dasjenige, was (aus der Sicht des darstellenden Zeugen) für eine adäquate Bewertung des Vorgangs notwendig ist. Außerdem kann der Darbietende bestimmte Details durch ein auffallendes Spiel (etwa mittels Übertreibung) besonders hervorheben oder Irrelevantes einfach weglassen. Wenn er Beteiligte des Unfalls imitiert, muss er sich auch hier auf Merkmale beschränken, die für Verständnis und Kritik des Vorfalls erforderlich sind. Diese Charakteristika der Modellszene nutzt Brecht, um eine Ökonomie der Mittel im epischen Theater zu fordern: „Es muß seinen Aufwand rechtfertigen können aus dem Zweck heraus“ (374). Als Unfallzeuge kann der Demonstrant auch nicht vollständige Charaktere, sondern nur ihre situativen Handlungen präsentieren (vgl. 374 f.). Entschei-
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dend für die Darstellung ist somit nicht der Charakter einer dargestellten Figur, sondern die Perspektive ihres Darstellers. Sein „Standpunkt“ (376) muss in allen Mitteln des Spiels durchscheinen – analog ist für Brecht auch der Schauspieler des Theaters ein „Demonstrant“ (376). Das Spiel des Demonstrierenden ist durch seine Kommentare direkt an den Zuschauer gerichtet. Die dadurch etablierte Vermittlungsinstanz, die das demonstrierte Ereignis darstellt, entspricht dem Erzähler der Prosa, dessen Erzählertext sich von der Rede der Figuren, dem Personentext, absetzt. Wichtigstes Mittel, um den Standpunkt der übergeodneten Erzählinstanz zu markieren, ist dabei der „Verfremdungseffekt“ (377). Die typischen ‚V-Effekte‘ des epischen Theaters, die das scheinbar Selbstverständliche auffallend machen und kritische Distanz schaffen sollen, sind in der elementaren Straßenszene bereits angelegt. Brecht verdeutlicht dies am Beispiel einer Bewegung, die durch verlangsamtes Spiel hervorgehoben werden kann, um ihre Bedeutung für den Unfallhergang besonders zu markieren (vgl. 377). Künstlerisch elaboriertere ‚V-Effekte‘ wie das Spiel mit Sprachebenen und Rollenwechseln, der spezifisch theatralische Einsatz von Masken, Schminke und Verkleidungen, intermediale Kommentare durch Spruchbänder, Projektionen oder Songeinlagen unterscheiden sich für Brecht nur hinsichtlich der Mittel und ihrer Ausgestaltung, nicht aber dem Wesen und der Funktion nach vom ‚natürlichen‘ Verfremdungseffekt der Straßendemonstration. Indem Brecht alle künstlerischen Gestaltungsmittel des epischen Theaters aus der Straßenszene ableitet, erweist er ihren Charakter als „Grundmodell einer Szene epischen Theaters“. Inwieweit er damit auch wesentliche Merkmale des postdramatischen Theaters vorbildet, ist noch genauer zu analysieren. Vor der Folie der Straßenszene lassen sich die spezifisch postdramatischen Akzentverschiebungen besonders prägnant herausstellen. Denn in einer (projektiven) postdramatischen Lektüre wird Brechts Essay selbst zum Theatertext.
1.1.6 Wirkung des Modells: Postdramatische Projektionen und Transformationen Brechts Straßenszene lässt sich nicht nur als theoretische Reflexion, sondern auch als (unintendiertes) praktisches Beispiel für ein Postdrama lesen. Mit der klaren Aussage über den gesellschaftlichen Zweck des distanzierenden und antiillusionistischen Schauspielstils kontrastiert der Darstellungsmodus des Essays: Beinahe tastend werden die Möglichkeiten einer Straßenszene entworfen, etwa wenn im Potentialis die Situation der Zuschauer imaginiert wird: „Die Umstehenden können den Vorgang nicht gesehen haben oder nur nicht seiner
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Meinung sein, ihn ‚anders sehen‘“ (371). Die eigentümliche Offenheit der Aussage verschärft sich, indem eine Vielzahl möglicher Alternativen polysyndetisch mit „oder“ gereiht wird: die Hauptsache ist, daß der Demonstrierende das Verhalten des Fahrers oder des Überfahrenen oder beider in einer solchen Weise vormacht, daß sich die Umstehenden ein Urteil bilden können. (371)72
Das Urteil der Zeugen hängt von ganz spezifischen symptomatischen Informationen ab, die gleichfalls in einer offenen Darstellung verschiedener Möglichkeiten durchgespielt werden: Besteht beispielsweise Unsicherheit, wer im Vorfeld des Unfalls ein „Obacht“ ausrief, kann die Frage dadurch entschieden werden, daß demonstriert wird, ob die Stimme die eines Greises oder einer Frau war oder ob sie nur hoch oder niedrig war. Ihre Beantwortung kann aber auch davon abhängen, ob die Stimme die eines gebildeten Mannes oder die eines ungebildeten war. Laut oder leise mag eine große Rolle spielen, da je nachdem den Fahrer eine größere oder kleinere Schuld treffen kann. (373)
Diese Formulierungen entwerfen eine Darbietung im Potentialis, wie sie auch in postdramatischen Texten begegnet: In Heiner Müllers Bildbeschreibung etwa werden symptomatische Details des Bildes in ganz ähnlichen offenen Formulierungen beschrieben: „der linke Mantelärmel hängt in Fetzen wie nach einem Unfall oder Überfall von etwas Reißendem, Tier oder Maschine, merkwürdig, daß der Arm nicht verletzt worden ist, oder sind die braunen Flecken auf dem Ärmel geronnenes Blut.“ 73 Auch der Beobachter in Peter Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten formuliert derartige Alternativen: „Indessen schwebte wieder die, oder eine andere Schönheit vorüber, eingehängt in den, oder einen anderen, strahlend neben ihr her hinkenden […] Platzidioten.“ 74 In Müllers und Handkes Bild-Szenarien geht es jedoch nicht in erster Linie, wie bei Brecht, um Alternativen auf der Geschehensebene, die unterschiedliche Darbietungen erfordern. Im Fokus steht vielmehr die Position des Beobachters: Es wird also nicht mehr bloß gefragt, was passiert, sondern wie es gesehen und gedeutet wird. Müllers Bildbetrachter imaginiert mögliche Szenarien, die der Bildsituation vorausgegangen sein oder ihr folgen könnten („ein Mord vielleicht, oder ein wilder Geschlechtsakt, oder beides in einem“ 75). Der Fragenkatalog erinnert ebenfalls an Brecht, der auf ganz ähnliche Weise Fragen anei-
72 73 74 75
Vgl. auch die häufige Verwendung der Konjunktion auf S. 374. Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Müller, Shakespeare Factory 1, S. 8. Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 558. Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Müller, Shakespeare Factory 1, S. 8.
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nanderreiht, etwa nach dem möglichen Zustand des Unfallfahrers – „War er zerstreut? Wurde er abgelenkt?“ (373) –, die zum Teil ebenfalls ins Spekulative tendieren: „Durch was vermutlich?“ (373). So dienen sie nicht nur dazu, die Demonstration zu präzisieren. Unfreiwillig vermitteln sie eine gewisse Unsicherheit der Wahrnehmung und Deutung – „Was in seinem Verhalten deutet darauf hin, daß er gerade durch jenen Umstand und nicht durch einen anderen abgelenkt werden konnte?“ (373) –, zumal das anschließende „Und so weiter und so weiter“ (373) vor der Fülle der Möglichkeiten geradezu zu kapitulieren scheint. So ist es nicht die klare Botschaft von Brechts Modellszene, sondern eine grundlegende Unsicherheit von Wahrnehmung und Darstellung, welche die Postdramatiker herausfiltern. Brechts essayistische und nicht seine dramatische Form adaptierend, transformieren sie diesen Akzent in neue epische Darstellungsweisen. Wie diese Transformationsprozesse, die Brechts Essay als postdramatischen Theatertext avant la lettre erscheinen lassen, funktionieren, bleibt genauer zu untersuchen. Zunächst ist die Wirkung von Brechts Spielsituation festzuhalten. Andrzej Wirth weist zu Recht darauf hin, dass sie das Diskurstheater seit den 1960er Jahren – ob mit oder ohne direkten Bezug auf Brecht – entscheidend prägt:76 Die direkt ans Publikum gerichtete Darbietung und die übergeordnete Kommentarebene eröffnen den Weg „vom Dialog zum Diskurs“, den Wirth anhand avantgardistischer Theaterformen nachzeichnet. Die antiillusionistische Spielsituation von Brechts Grundmodell durchbricht permanent die ‚vierte Wand‘. Der Diskurs des demonstrierenden Spielers, der sich (das Demonstrierte stets explizit oder implizit kommentierend) direkt ans Publikum richtet, ist dem spielinternen Text, etwa einem nachgespielten oder berichteten Dialog zwischen zwei Beteiligten des Unfalls, stets übergeordnet. Dadurch richtet sich die gesamte Demonstration direkt an den Zuschauer. In der Konsequenz werden auch dialogische Passagen zum Schein. Die Figuren sprechen nicht selbst, sie werden „von dem Urheber der Spielvorlage gesprochen“.77 Diese Tendenz wird im postdramatischen Theater radikalisiert. Zuweilen wird ausschließlich Autor- beziehungsweise Erzählertext präsentiert. Wirth illustriert die Tendenz zu „Selbstgespräch“ oder „Solilog“ am Beispiel Richard Foremans: „Die Antwort auf die klassische Frage der Dramentheorie ‚Wer spricht da?‘ ist in Foremans Theater – Foreman selbst.“ 78 Auch die vier Sprecher in Handkes Publikumsbeschimpfung bekennen: „Wir äußern nicht uns,
76 Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs. 77 Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs, S. 19. 78 Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs, S. 18.
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sondern die Meinung des Autors“;79 in Heiner Müllers Bildbeschreibung ist die gesamte Bildszene aus der Sicht eines Betrachters vorgestellt und Jelineks gliederungslose Sprachflächen scheinen allesamt einer einzigen Autor- oder Erzählerstimme zu entspringen. Doch mit Wirth ist zugleich auf den wesentlichen Unterschied zu Brechts epischem Theater hinzuweisen: Die Subjektivierung der Vermittlungsinstanz im nachbrechtschen Theater stelle Brechts objektivierenden Ansatz quasi „auf den Kopf “.80 Diese Beobachtung lässt sich weiterführen, wenn man narratologische Beschreibungskategorien appliziert. Wesentlich unterscheiden sich die Ansätze nämlich darin, wie die übergeordnete, das Spiel organisierende Vermittlungsinstanz konzipiert ist. Bei Brecht kann diese Instanz narratologisch als auktorialer Erzähler gefasst werden,81 der ein Geschehen aus dem distanzierten, souveränen Überblick wiedergibt und kommentiert. Die Postdramatiker subjektivieren demgegenüber die Erzählhaltung und wählen einen (Ich-)Erzähler, der in das theatrale Geschehen unmittelbar einbezogen ist. Peter Handkes stumme Stücke Das Mündel will Vormund sein (1969) und Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) sind ganz aus der Mitsicht eines Zuschauers verfasst. Im ersten Fall manifestiert sich der vermittelnde Zuschauertext als simultaner Bericht oder Aufführungskommentar in der Wir-Form – „Was wird das Mündel jetzt tun? / Einige Zeit vergeht; wir warten.“ 82 Auch das zweite Beispiel lässt sich als kommentierte Aufführungsbeschreibung lesen. Durch Fragen, Spekulationen und Zweifel wird das subjektive „Blickfeld“ – die Unsicherheit von Wahrnehmung und Deutung – stärker markiert: „Ein Platzwart, derselbe oder ein anderer?, biegt für einen Moment herein“.83 An einer Stelle artikuliert sich das beobachtende, erzählende Ich mit einem überraschten Ausruf, als sich eine vorbeigehende Schönheit „plötzlich nach mir! umdreht“.84 Der Ich-Erzähler im Regietext begegnet auch bei Elfriede Jelinek: Die einleitende Regieanweisung der Kontrakte des Kaufmanns kommentiert das Setting mit der Frage: „Wo bin ich? Beim Jahrestreffen der Gruftie-Gruppe?“ 85 Die Subjektivierung der epischen Vermittlungsinstanz wird in Heiner Müllers Bildbeschreibung radikalisiert: Die abschließende Frage „wer ODER WAS fragt nach dem
79 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 28. 80 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 28. 81 So beschrieben von Jan Knopf, Verfremdung. In: Brechts Theorie des Theaters, hg. von Werner Hecht, Frankfurt a. M. 1986, S. 93–141, hier. S. 126. 82 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 205. 83 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 560. 84 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 561. 85 Elfriede Jelinek, Drei Theaterstücke, S. 209.
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Bild“ wird hier beantwortet, indem sich der beschreibende Betrachter mit den Bildelementen identifiziert: „der Mann mit dem Tanzschritt ICH, mein Grab sein Gesicht, ICH die Frau mit der Wunde am Hals […], ICH der Vogel […], ICH der gefrorene Sturm“.86 Hier wiederholt sich eine Konstellation der Hamletmaschine: Im Revolutionsdrama des vierten Teils findet der Erzähler – unter der irrealen Bedingung „wenn mein Drama noch stattfinden würde“ – seinen Platz „auf beiden Seiten der Front“ und identifiziert sich mit Machthabern und Demonstranten gleichermaßen: „Ich schüttle, von Brechreiz gewürgt, meine Faust gegen mich, der hinter dem Panzerglas steht.“ 87 In meiner Interpretation der Hamletmaschine im zweiten Kapitel dieser Studie gehe ich genauer auf Brechts epische Musterszene Bericht vom ersten Mai 1905 als Prätext dieser Szene ein (Kap. 2.5.2). An dieser Stelle kann bereits festgehalten werden, dass Müller seine Skepsis gegenüber einer übergeordneten, auktorialen Vermittlungsinstanz durch eine radikale Subjektivierung profiliert: Das gesamte Geschehen, das in Brechts Mutter durch die abwechselnde Erzählung und Demonstration von mehreren Spielern rekonstruiert wird, ist bei Müller ganz in den subjektiven Diskurs eines Ich-Erzählers verlagert. Seine Ich-Aussagen münden in eine Selbstreflexion des Erzählens beziehungsweise Schreibens, in der sich seine Identität im technischen Medium auflöst: „Ich bin die Schreibmaschine.“ 88 Während bei Müller daraus eine grundlegende Skepsis gegenüber einer (herausgehobenen) Autorperspektive spricht – konsequent folgt „Die Zerreissung der Fotografie des Autors“ –,89 dienen selbstreflexive Passagen und V-Effekte bei Brecht dazu, einen auktorialen oder ‚allmächtigen‘ Standpunkt zu generieren: So lässt er den erschossenen Smilgin auftreten und an der Rekonstruktion seiner Geschichte mitwirken. Dergestalt zwischen theatraler Vergegenwärtigung („Mein Name ist Smilgin. […] Jetzt stehe ich hier“ 90) und epischem Präteritum („er […] fiel vornüber auf sein Gesicht, denn sie hatten ihn schon abgeschossen“ 91) changierend, wird sein Schicksal zur exemplarischen Revolutionsgeschichte stilisiert. In dieser Zeitregie, die der übergeordneten epischen Instanz zuzuschreiben ist, werden auch selbstreflexive Aussagen doppeldeutig: Die Funktion des vergegenwärtigenden Erzählens reicht, wie eine programmatische selbstreflexive Passage deutlich macht, bis zur Gegenwart der Zuschauer – „Und die sie nicht
86 87 88 89 90 91
Heiner Müller, Heiner Müller, Heiner Müller, Heiner Müller, GKA 3, S. 349. GKA 3, S. 349.
Bildbeschreibung. In: Müller, Shakespeare Factory 1, S. 14. Werke 4, S. 550 f. Werke 4., S. 551. Werke 4, S. 552.
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sahen, denen sollte es erzählt werden […] von jetzt ab bis zur völligen Umänderung aller Dinge“ 92 –, deren revolutionäres Potential sie wecken soll. Während Brechts episches Theater die Autorinstanz, die im Drama ja traditionell schweigt, als Perspektive eines kritischen Überblicks immens aufwertet, wird ihre Bedeutung in der subjektiven und programmatisch antihierarchischen Postdramatik relativiert: Die zwar dominant hervortretende Autor- oder Erzählerstimme steht hier nicht mehr über dem Geschehen und organisiert dieses, sondern sie wird selbst zur „Rolle“ in einem programmatisch offenen Spiel.93 Mit dieser Subjektivierung einher geht die Tendenz, die Macht einer vermittelnden Instanz – eines Autors –, ihre schöpferische, deutende, organisierende Verfügung über den Text, grundsätzlich zu hinterfragen: Schöpferische Originalität wird durch die „Schreibmaschine“ oder „Datenbank“ ersetzt.94 Die wuchernde Intertextualität – etwa bei Jelinek, die ein Stück wie Wolken.Heim. gänzlich aus Fremdtexten montiert – unterläuft ebenfalls die Idee einer festen Vermittlungsinstanz: Die Frage „Wer spricht?“ lässt sich in letzter Konsequenz nicht mehr beantworten. Die Vieldeutigkeit postdramatischer Texte fordert subjektive Zugänge nicht nur einer Urheberinstanz heraus: Neben unterschiedlichen Erzählinstanzen sind angesichts der radikalen Offenheit der Texte alle Co-Produzenten – Regisseur, Spieler und auch Zuschauer – aufgefordert, ihre subjektive Perspektive in die Realisierung des Spiels einzubringen. Eine kritische Leitperspektive, wie sie von Brechts auktorialer Vermittlungsinstanz angestoßen werden soll, ist in diesem polyvalenten Spiel nicht mehr möglich. Diese grundlegende Akzentverschiebung, die Brechts Modell des epischen Demonstrationstheaters radikal subjektiviert, zeigt eine allgemeine Tendenz im postdramatischen Umgang mit Brecht. Neben der epischen Modellsituation werden weitere Verfahren adaptiert, die sich aus Brechts Grundmodell ableiten lassen. Doch auch diese werden auf eine so radikale Weise transformiert, dass sich fragen lässt, inwieweit noch von einer (direkten) Brecht-Rezeption gesprochen werden kann. Angemessener scheint es, im Anschluss an Wirth das paradoxe Phänomen „Brecht ohne Brecht“ genauer zu konturieren. Denn die wesentlichen Voraussetzungen Brechts werden in der Postdramatik außer Kraft gesetzt: Vor allen Dingen wird die Hauptaufgabe von Brechts Verfremdungstechniken – nämlich durch Distanzierung eine „fruchtbare Kritik vom gesell-
92 GKA 3, S. 348. 93 Andrzej Wirth zeigt diese Tendenz wiederum am Beispiel Richard Foremans, dessen ‚Diary Theatre‘ „gegen die Diktatur des Autors“ rebelliere, indem es ihn „zu einem Rollenträger“ mache (Vom Dialog zum Diskurs, S. 19). 94 Heiner Müller, Werke 4, S. 551.
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schaftlichen Standpunkt“ (377) zu ermöglichen – vom postdramatischen Theater aufgegeben. In der Straßenszene verdeutlicht Brecht die Funktion des V-Effekts am Beispiel von verfremdeten Bewegungsabläufen: Ist etwa entscheidend, welchen Fuß das Unfallopfer zuerst auf die Straße setzte, so kann der Demonstrant durch einen verlangsamten, betonten Schritt des linken Fußes die Aufmerksamkeit auf seine Beobachtung des Vorgangs lenken (vgl. 378). Slow-MotionBewegungen in postdramatischen Inszenierungen, wie sie etwa zum Markenzeichen Robert Wilsons wurden, sind ebenfalls als V-Effekte zu qualifizieren. Sie dienen jedoch nicht der verfremdeten Darstellung einer Wirklichkeit jenseits des Theaters, sondern sie lenken die Aufmerksamkeit auf die aktuelle Bewegung selbst und betonen ihren Vollzug im Bühnenraum. Postdramatische Verfremdungen dieser Art lassen also, ganz im Sinne Brechts, Phänomene auffällig werden – jedoch in einer typisch selbstreflexiven Wendung, die Brechts gesellschaftlicher Wirkungsabsicht entgegengesetzt ist. Paradigmatisch für diese Wende ist Handkes Publikumsbeschimpfung, welche die Konventionen des Theaters durchbricht. Die Publikumsansprache, zu der das Drama hier verfremdet wurde, soll die grundsätzliche Veränderbarkeit des Theatererlebnisses selbst erfahrbar machen.95 Das Spiel repräsentiert nicht die Welt außerhalb des Theaters, sondern stellt sich im Vollzug und Mitvollzug der Zuschauer selbst aus. In einer signifikanten Umkehrung wird das Reale sogar als Verfremdungsmittel der Bühnensituation eingesetzt: Wenn eine echte Katze in Handkes Das Mündel will Vormund sein auf der Bühne ganz natürlich „tut, was sie tut“,96 so ist damit die Choreografie der künstlerischen Darbietung plötzlich gestört – und, dergestalt verfremdet, als solche wiederum auffällig geworden. Verfremdung hat hier
95 Den selbstbezüglichen Akzent verkennen Rainer Nägele und Renate Voris, Peter Handke, München 1978, (Autorenbücher 8), S. 74 f., deren Funktionsbestimmung von Handkes verfremdeter Bühnensituation eher brechtisch ausfällt: „Der Zuschauer soll sich im Theater als Teilnehmer eines theatralischen Geschehens bewußt werden, um aufmerksam zu werden für seine Teilnahme an der Dramaturgie der Wirklichkeit“ und ihre „gesellschaftlichen Spielregeln“. Den grundlegenden Unterschied pointiert hingegen Karol Sauerland, Brecht, Handke und das Publikum als Konvention. In: Soziale und theatralische Konventionen als Problem der Dramenübersetzung, hg. von Erika Fischer-Lichte u. a., Tübingen 1988, (Forum Modernes Theater. Schriftenreihe 1) S. 145–152. Er macht deutlich, dass Brechts episches Theater die theatralen Konventionen benötigt und sie bewusst einsetzt, während Handke gerade darauf zielt, die Institution des Theaters aus den Angeln zu heben. Doch auch diese Entgegensetzung müsste differenziert werden: Handkes Stücke zielen nicht auf die Überwindung, sondern auf die Veränderung der Institution Theater und seiner Konventionen. 96 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 196.
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keine mimetische Funktion – sie bezieht sich nicht auf einen Gegenstand oder Sachverhalt jenseits der Bühne, der als veränderbar dargestellt wird –, sondern schafft, indem sie Bühnenzeichen ihrer Referenz entbindet, Evidenz-Momente im gegenwärtigen Theatererlebnis selbst: So lenkt die Sinnverweigerung in Handkes Publikumsbeschimpfung die Aufmerksamkeit auf das Ereignis des Sprechens. Konsequent bestimmt Brechts Grundmodell alle ‚natürlichen‘ und künstlerischen Theatermittel funktional: Die angestoßene Kritik des Dargestellten soll die Zuschauer nach Verlassen des Theaters zum Handeln motivieren – weswegen der Bezug zur Welt jenseits des Theaters stets kenntlich bleiben muss. Dies ist durch die natürliche Modellszene, die aus der Mitte der Gesellschaft stammt, garantiert. Denn die spontane Darbietung an der Straßenecke dient allein dem Zweck, die Schuldfrage des Unfalls zu klären. Eine derart direkte gesellschaftliche oder politische Wirkungsabsicht wird von postdramatischen Ansätzen abgelehnt. Handkes Publikumsbeschimpfung etwa imaginiert, wie sich die „Einheit“ der Zuschauer nach dem Spiel wieder auflösen wird. Sie werden einfach „von einem Ort zu verschiedenen Orten gehen“.97 Das „Theatertheater“ 98 führt nicht zur politischen Aktion. Sein Anspruch ist ein anderer: Bewusstseinsverändernd wirkt es dadurch, dass es „innere Spielräume des Zuschauers“ 99 erschließt. So zeigen sich die ästhetischen Konsequenzen einer selektiven Brecht-Rezeption: Formale Elemente werden ohne die ursprüngliche Botschaft rezipiert („Brecht ohne Brecht“) und erfahren dadurch einen entscheidenden Funktions- und Bedeutungswandel. Während Brecht die Fabel als Kernelement seiner Dramatik in politische Dienste stellt, verabschiedet sich die Postdramatik von der szenischen Darstellung einer Handlung zugunsten der theatralen Situation. An Brechts zentralem Strukturmerkmal der Wiederholung lässt sich diese grundlegende postdramatische Akzentverschiebung noch detaillierter zeigen: Bei Brecht bestimmt sie den Status des gesamten Spiels – „Das Ereignis hat stattgefunden. Hier findet die Wiederholung statt.“ (372) –, wodurch Illusionsbildung gestört, Distanz zum Dargebotenen erzeugt und Kritik ermöglicht werden soll. Dieser Ansatz, durch den auch die Theaterszene für Brecht stets selbstbezüglich ihren Spielcharakter offenlegt, wird in der Postdramatik radikalisiert: Das Strukturmoment der Wiederholung kann hier die Referenz auf die Außenwelt ersetzen. Die Wiederholungen der Publikumsbeschimpfung stellen keinen Bezug her zu
97 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 38. 98 Diesen Begriff prägte Handke 1968 in seinem Essay über Straßentheater und Theatertheater (Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 51–55). 99 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 54.
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Ereignissen jenseits des Theaterspiels, sie bestimmen die Struktur des Spiels selbst – „Sie haben erkannt, daß wir uns wiederholen“.100 Die Aufmerksamkeit wird auf die Performanz des sich wiederholenden Sprechens gelenkt, so auch in den sprachlichen Wiederholungsketten von Robert Wilsons Stücken, die eher von Gertrude Stein als von Brecht inspiriert scheinen. Ein weiteres, tendenziell selbstbezügliches Wiederholungsverfahren ist die Intertextualität postdramatischer Stücke. Auch sie wirkt verfremdend: Eine Figur spricht nicht selbst, sondern wiederholt ‚fremde‘ Sprache. Stellvertretend für die vielfältigen Wirkungsweisen postdramatischer Zitatspiele, die in den Einzelanalysen genauer betrachtet werden, soll an dieser Stelle auf Heiner Müllers Hamletmaschine verwiesen werden: Die Wiederholungen literarischer, mythischer und historischer Gewaltszenerien verweisen auf einen dauernden Kreislauf der immer gleichen Geschichte(n) und Gewalttaten. Negiert wird die Hoffnung auf Veränderungen, die Brechts verfremdende Wiederholungen motiviert, die stets akzentuieren, dass es auch anders sein könnte, dass geschichtliche Wirklichkeit (durch „eingreifendes Denken“ und politische Aktion) veränderbar ist. Ein mögliches utopisches Moment gibt es aber auch bei Müller. Es wird (wiederum in einer selbstbezüglichen Wendung) verlagert von der inhaltlichen, auf politisches Eingreifen zielenden Kritik Brechts auf die künstlerische Tätigkeit: Hoffnung liegt für Müller in der Offenheit der Form – in der kreativen „Lücke im Ablauf“,101 wie die folgenden Interpretationen seiner postdramatischen Theatertexte zeigen sollen. Der punktuelle Vergleich postdramatischer Stücke mit Brechts epischem Modell der Straßenszene zeigte bereits, wie die Vermittlungsinstanz im Postdrama radikal subjektiviert und dabei zugleich als hoch problematisch erfahren und aufgelöst wird. Außerdem werden episierende Mittel von ihrem Weltbezug befreit und rein selbstreflexiv gewendet. Beide Tendenzen werden in den folgenden Stückinterpretationen dieser Studie genauer analysiert, wobei vor allem ihre autorspezifische Ausgestaltung und Funktion präzisiert werden.
1.2 Gertrude Stein: Die berühmte Unbekannte Eine wichtige Vorläuferin und ‚Schutzheilige‘ des postdramatischen Theaters ist Gertrude Stein (1874–1946). Ihr immenser, bisher weitgehend unerforschter Einfluss reicht unmittelbar zurück in die amerikanischen Nachkriegsavantgarden, vom Living Theatre in den fünfziger Jahren bis zu Robert Wilson und
100 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 22. 101 Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Müller, Shakespeare Factory 1, S 13.
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Richard Foreman, deren postdramatisches Theater seit den 1970er Jahren Steins experimentellen Theatertexten entscheidende Impulse verdankt.102 Die lange Zeit vergessene, überaus produktive Dramatikerin Stein hat zwischen 1913 und 1946 über 70 Theatertexte verfasst.103 Die teilweise nur wenige Seiten umfassenden Stücke bestehen etwa aus einer Liste von Short Sentences (1932) oder den aus zufällig erlauschten Gesprächsfetzen montierten Ladies Voices (1916). Das für Stein typische metatheatrale Spiel wird reflektiert in Titeln wie I Like it to Be a Play (1916) und A Play called Not and Now (1936) sowie in eingelagerten Kommentaren: „There is no Scene V“.104 Von den experimentellen, die dramatische Gattung radikal überschreitenden Stücken ist die weitaus größte Anzahl unaufgeführt geblieben. Insbesondere dieser Entwurfcharakter von Steins Stücken, die sich radikal und demonstrativ jenseits der etablierten Theaterpraxis stellen (seit sie selbst Stücke schrieb, hat Stein nach eigenem Bekunden kein Theater mehr besucht),105 inspiriert das postdramatische Antitheater. Steins berühmter sprachspielerischer Stil, der – wie ihr zum Markenzeichen gewordenes „Rose is a rose
102 Zu Steins Einfluss auf das amerikanische Avantgarde-Theater vgl. Bonnie Marranca, Presence of Mind [Introduction]. In: Gertrude Stein. Last Operas and Plays, hg. von Carl van Vechten [Reprint of the ed. published by Rinehart, New York 1949], London 1995, S. VII–XXVII, hier bes. S. XX–XXV. Die Entdeckung der amerikanischen Pariserin Stein in den USA begann bereits mit dem Erfolg ihrer experimentellen „Oper“ Four Saints in Three Acts, die – mit der Musik von Virgil Thomson und ausgestattet von der Malerin Florine Settheimer – in einer Inszenierung von John Houseman 1934 unter anderem am New Yorker Broadway und in Chicago zu sehen war. Für Bonnie Marranca markiert diese Produktion den „starting point for the American Art Theatre“ (Presence of Mind, S. VIII). Das Living Theatre eröffnete 1951 mit zwei SteinInszenierungen (Ladies Voices und Doctor Faustus Lights the Lights), vgl. John Tytell, The Living Theatre, S. 71 f. Eine Chronologie von Stein-Inszenierungen zwischen 1934 bis 1982 bietet der Anhang von Betsy Alayne Ryan, Gertrude Stein’s Theatre of the Absolute, Ann Arbor, Michigan 1984, S. 165–189. 103 Betsy Alayne Ryan listet nach systematischen Kriterien 77 Stücke (Gertrude Stein’s Theatre of the Absolute, S. 163 f.). Aufgrund der schwierigen Gattungszuschreibung von Steins experimentellen Texten ist die Zahl der Dramen umstritten und reicht bis zu ca. 100. Vgl. zu dieser Problematik ausführlicher Achim Stricker, Text-Raum, S. 113. Steins Theatertexte finden sich vornehmlich in den Bänden Geographie and Plays (1922), Operas and Plays (1932) und den posthum erschienenen Last Operas and Plays (1949), die im Folgenden nach Reprint-Ausgaben zitiert werden: Gertrude Stein, Geography and Plays [1922]. With an Introduction by Cyrena N. Pondrom, Madison, Wisconsin 1993, Gertrude Stein, Operas and Plays [1932]. Reprint. Foreword by James R. Mellow, Barrytown, N.Y. 1987, und Gertrude Stein, Last Operas and Plays, hg. von Carl van Vechten (Reprint of the ed. published by Rinehart, New York [1949]), with an Introduction by Bonnie Marranca, London 1995. 104 Gertrude Stein, Listen to me. In: Stein, Last Operas and Plays, S. 387–421, hier S. 404. 105 Vgl. Gertrude Stein, Listen to me, S. XL: „I practically when I wrote my first play had completely ceased going to the theatre.“
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is a rose is a rose“ 106 – von Klangfiguren und Wiederholungen geprägt ist und sich über grammatikalische Regeln hinwegsetzt, stellt bühnenwirksam den Klang von Sprache und den Akt des Sprechens heraus, was ebenfalls bereits den Intentionen der späteren Postdramatik entspricht. Steins radikale Formexperimente nehmen wesentliche Tendenzen der späteren Postdramatik vorweg. Dies gilt besonders für Steins Subjektivierung des Dramas, die schon in den Personalpronomina einiger Titel wie Listen to me (1936) anklingt: Ihre Stücke lesen sich stets wie der „Solilog“ (Wirth) einer radikal subjektivierten Stimme mit hohem stilistischem Wiedererkennungswert. Diese Tendenz, einen Personalstil als Marke zu etablieren, wird sich in einem Phänomen wie dem ‚Jelinek-Sound‘ radikalisieren. Steins Theater der Form steht außerdem für ein vorwiegend selbstreferentielles und dezidiert unpolitisches Theater, das die in ihren Anfängen politische Postdramatik – in ihrer selbstreflexiv-skeptischen Wendung – immer mehr bestimmen wird. Sie stellt damit auch einen Gegenpol zum politischen epischen Theater Brechts dar. Die simultane Rezeption von Steins formalistischem Theater des „continuous present“ 107 und dem intellektuellen politischen Theater Bertolt Brechts ist typisch für die Postdramatik. In Heiner Müllers programmatischem Brecht-Essay Fatzer +/– Keuner108 (1979), in dem er Brecht provokativ mit dem in der DDR als bürgerlich-dekadent verpönten Kafka konfrontiert, wird zur Profilierung des Kontrastes auch Gertrude Stein zitiert: Ihre Beobachtung zum elisabethanischen Theater – „Es bewegt sich alles so sehr“ – wird als „Tempo des Bedeutungswandels“ in der Sprache der Moderne interpretiert. Sie wird fruchtbar gemacht für ein postdramatisches „Primat der Metapher“, die diese Dynamik einfangen und zugleich bannen könne als „Sichtblende gegen das Bombardement der Bilder“.109 Der Einfluss Gertrude Steins auf das deutschsprachige Postdrama ist möglicherweise durch die amerikanische Rezeption vermittelt. Peter Handkes frühe Sprechstücke, Heiner Müllers radikale Formexperimente und Elfriede Jelineks Sprachflächen sind gleichermaßen von Steins Texten inspiriert. Zu den frühesten Stein-Adepten zählen die Mitglieder der Wiener Gruppe, die bereits zu Be-
106 Gertrude Stein, Sacred Emily. In: Stein, Geography and Plays, S. 178–188, hier S. 187. 107 Diesen Begriff prägte Gertrude Stein in ihrem Vortrag Composition as explanation (1926). In: Gertrude Stein, Writings and Lectures 1909–1945, hg. von Patricia Meyerowitz, Baltimore 1967, S. 21–30, hier S. 24. 108 Heiner Müller, Heiner Müller Material, S. 30–36. 109 Heiner Müller, Heiner Müller Material. Die spannungsvolle Konfrontation von Brecht und Stein findet sich schon im ersten Programm des Living Theatre, das Gertrude Steins Ladies Voices mit Brechts Lehrstücken Der Jasager und Der Neinsager kombiniert. Vgl. John Tytell, The Living Theatre, S. 71.
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ginn der fünfziger Jahre im Wiener Amerikahaus auf die Sammlung von Steins Last Operas and Plays (1949) stießen.110 Sie gaben den Anstoß für die SteinVerehrung der österreichischen Neoavantgarden, die etwa auch Ernst Jandl und Friederike Mayröcker erfasste.111
1.2.1 Die Theorie des Landscape-Play Fragt man nach der Genese postdramatischer Ästhetik, wird stets auf Steins musterbildende Konzeption des Landscape Play hingewiesen, ohne dass dieser Begriff und sein Einfluss bisher systematisch untersucht wurden.112 Stein entwickelte ihre Konzeption vornehmlich in ihrer Vorlesung Plays113 (1934): Ihr eigenes dramatisches Schaffen resümierend, zieht Stein den Vergleich zwischen ihren experimentellen, aus vorgefundenem Sprachmaterial montierten Theatertexten und der räumlichen Ausdehnung einer Landschaft, die von den Beziehungen zwischen ihren einzelnen Elementen strukturiert wird. Das Landscape-Play wird dabei als Lösung eines dramaturgischen Grundsatzproblems präsentiert. Einleitend konstatiert Stein nämlich ein rezeptions110 Vgl. Gerhard Rühm (Hg.), Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 9 und 12. Die SteinRezeption der Wiener Gruppe, die sich in (gescheiterten) Aufführungsplänen, intertextuellen Bezügen und stilistischen Anleihen niederschlägt, untersucht Andreas Kramer, Gertrude Stein und die deutsche Avantgarde, Eggingen 1993, S. 176–200. 111 Zu Jandls und Mayröckers produktiven Stein-Lektüren vgl. Andreas Kramer, Gertrude Stein, S. 201–249. 112 Stellvertretend vgl. Hans-Thies Lehmann, der unter der Überschrift Landscape Play Steins Konzept lediglich aus Sekundärquellen rekonstruiert und die postdramatische Rezeption ins Zentrum rückt (Postdramatisches Theater, S. 103–105). Achim Stricker widmet im Rahmen seiner Studie zu Strategien nicht-dramatischer Theatertexte Steins Stücken selbst und ihrer räumlichen, der Installationskunst verwandten Dramaturgie zwar eine eingehende Untersuchung (Text-Raum, S. 91–126), doch bleibt bei ihm die vergleichende Perspektive mit zeitgenössischen Theatertexten von Heiner Müller, Werner Schwab und Rainald Goetz unterbelichtet. Unter der systematischen Frage nach theatralen Zeitkonzepten untersucht Annette Storr Steins Stücke und ihre Dramentheorie (Die Wiederholung, Gertrude Stein und das Theater: Lektüren der Zeit als bedeutender Form, München 2003); im zweiten Teil bietet ihre Studie einen Kommentar der wichtigsten Acts, Scenes, Plays. Wie bereits in ihrem Stein-Essay (Annette Storr, Haben Gertrude Steins Stücke etwas mit Theater zu tun?, Berlin 1994) diagnostiziert Storr auch hier die ‚Unspielbarkeit‘ von Steins Stücken und sieht in diesem ‚utopischen‘ Potential den wichtigsten Grund für ihre Wirkung auf Theatermacher wie das Living Theatre und Robert Wilson. 113 Steins Lecture wird im Folgenden mit Seitenangaben im Text zitiert nach: Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. XXIX–LII, wo sie im Anschluss an Bonnie Marrancas Vorwort im einleitenden Teil abgedruckt ist. Der Text entspricht dem Erstdruck von Steins Lectures in America (1935).
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ästhetisches Defizit des traditionellen Theaters. Die Gefühle der Zuschauer befänden sich nie in Übereinstimmung mit dem Bühnengeschehen: „So your emotion as a member of the audience is never going on at the same time as the action of the play“ (XXIX). Die Aufgabe ihrer neuartigen Dramaturgie sieht sie nun darin, diese „difference in tempo“ (XXX) zu überwinden und die beiden Welten, Publikum und Bühne, in einem gemeinsamen Erlebnis zu synchronisieren. Damit möchte sie ihre präsentische Kunstauffassung – „The business of Art […] is to live in actual present […] and to completely express that complete actual present“ (XXXVI) – für das Theater und die Realzeit einer Aufführung produktiv machen. Mit diesem Programm wird Stein zur direkten Vorläuferin des postdramatischen Präsenz-Theaters. Denn dasselbe Anliegen, Publikum und Bühne zu synchronisieren, bestimmt auch Peter Handkes Publikumsbeschimpfung, welche die Einheit von Zeit, Ort und Handlung als Gemeinschaftserlebnis neu definiert.114 Die konzeptionelle Übereinstimmung mit Handkes postdramatischem Mustertext reicht weit ins Konzeptionelle. Handke teilt Steins Fundamentalkritik an der Ungleichzeitigkeit von Bühne und Publikum, wenn er die „Zweiteilung in eine gespielte Zeit und in eine Spielzeit“ 115 kritisiert. Da im herkömmlichen Theater eine Wirklichkeit gespielt wurde, wurde auch die dazugehörige Zeit nur gespielt […]. Da hier aber die Wirklichkeit im Spiel war, gab es immer zwei Zeiten, Ihre Zeit, die Zeit der Zuschauer, und die gespielte Zeit, die scheinbar die wirkliche war.116
Die konzeptionellen Übereinstimmungen zwischen Stein und Handke erstrecken sich auch auf die Lösung dieses Problems. Denn die angestrebte Einheit zwischen Zuschauern und Bühne erreichen beide durch eine Absage an das Handlungstheater: Es wird keine (fremde) Handlung vorgeführt, bei welcher der Zuschauer außen vor bleibt, sondern im Sprechen und durch das Sprechen ein gemeinschaftliches Ereignis inszeniert. Bereits in Steins erstem Stück What Happened. A Play117 (1913) wird die Handlung abgeschafft und damit die Titelvorgabe spannungsvoll unterlaufen. Das Stück erzählt keine Geschichte, sondern präsentiert ein bezugreiches Klangbild. Dieses setzt sich zusammen aus Gesprächsfetzen, die zu einem surrealen Small-Talk-Chor montiert sind. In ihrer Vorlesung Plays kommentiert Stein die expressive Funktion dieses Verfahrens: „And the idea in What Hap114 Vgl. Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 28: „Wir und Sie bilden eine Einheit, indem wir unmittelbar zu Ihnen sprechen. […] Die Bühne hier oben und der Zuschauerraum bilden eine Einheit.“ 115 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 28. 116 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 33 f. 117 Gertrude Stein, Geography and Plays, S. 205–209.
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pened, A Play was to express this without telling what happened.“ (XLIV) Ihr Anspruch besteht darin, durch die Negation jeglichen Inhalts kein bestimmtes Geschehnis, sondern schlichtweg das Wesen (die ‚Essenz‘) von Geschehen herauszustellen: „in short to make a play the essence of what happened.“ 118 Zur Illustration zitiert Stein den knapp eine halbe Druckseite umfassenden „Act Two“ 119 (XLV), in dem wechselnde Sprecher (mit Zahlen markiert) entweder dialogisch oder chorisch Umgebung und Ambiente der (Garten-)Party evozieren, etwa „The same three“: A wide oak a wide enough oak, a very wide cake, a lightning cooky, a single wide open and exchanged box filled with the same little sac that shines. The best the only better and more left footed stranger. The very kindness there is in all lemons oranges apples pears and potatoes. (XLV)
Die Reihung der zumeist prädikatlosen Sätze – unterbrochen von zwischengeschobenen Fragen („What is the occasion of all that.“) – vermittelt keine Handlung, sondern evoziert ein Bild oder skizziert eine Situation oder eine Stimmung, die der Leser beziehungsweise Zuschauer assoziativ ergänzen muss. Typische Merkmale von Steins Sprache wie Klangfiguren (i- und k-Assonanzen), Wiederholungen und Aufzählungen („lemons oranges apples pears and potatoes“) führen außerdem dazu, dass Gehalt und Referenz zugunsten von Klang und Rhythmus der Sprache zurücktreten. So wird das Ereignis des Sprechens selbst demonstriert – „Wir sprechen nur“, heißt es später in Handkes Publikumsbeschimpfung.120 Die Reihe der tautologischen Vergleiche in Handkes Sprechstück Die Weissagung121 (1966) – „Der Papagei wird plappern wie ein Papagei“, „Gary Cooper wird gehen wie Gary Cooper“ 122 – führen in der informationslosen Wiederholung gleichfalls dazu, dass der Akt des Sprechens und die klangliche wie bildlich-poetische Qualität von Sprache hervortreten. Indem sie dergestalt den Akt des Sprechens vorführt, kann Stein zudem, wie Bonnie Marranca herausstellt, die Realzeit in die dramatische Zeit integrieren („Real time is integreted into dramatic time“ 123). Auch hier springt die konzeptionelle Übereinstimmung mit Handke ins Auge: „Hier gibt es nur die wirkliche Zeit“,124 heißt es in der Publikumsbeschimpfung. 118 Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. XLIV. 119 Vgl. Gertrude Stein, Geography and Plays, S. 206. 120 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 17. Den Vergleich mit Handkes Sprechstücken, die er in Steins ‚Landscape-Plays‘ präfiguriert sieht, zieht bereits Andrzej Wirth, Gertrude Stein und ihre Kritik der dramatischen Vernunft. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 12, 1982, H. 46, S. 64–73, hier S. 67. 121 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 43–56. 122 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 48 f. 123 Bonnie Marranca, Presence of Mind, S. IX. 124 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 28.
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Eine statische – beinahe plastische125 – Qualität gewinnt Steins Sprache zudem durch das Demonstrieren ihrer Strukturelemente: Wiederholungen, Nummerierungen, Auflistungen und zyklische Bauformen erzeugen eine statische Konstellation, ein continuous present. Die Bildhaftigkeit dieses Theaters, das von Heiner Müllers Bildbeschreibung bis zu Wilsons und Foremans „Theater der Bilder“ die postdramatische Avantgarde inspiriert hat,126 spiegelt paradigmatisch das Stück What happended, das mit einem farbfotografischen Gruppenbild endet: „Very likely there is a photograph that gives color if there is then there is that color that does not change any more than it did when there was much more use for photography.“ 127 Das Muster einer performativen Bildkonstruktion, wie es Heiner Müller in der Bildbeschreibung aufgegriffen hat, ist von Stein bereits in dem Stück Photograph (1920) vorgebildet.128 In diesem (hier nur knapp skizzierten) konzeptionellen Zusammenhang entwickelt Stein nun die Idee des Landscape-Play. Am Modell der Landschaft illustriert Stein, wie sie die lineare, von zeitlichen Momenten (Sukzession) bestimmte Handlung zugunsten einer vorwiegend räumlich verstandenen Situation überwindet. Vorbild für die Konzeption des ‚Landscape-Play‘ war die Landschaft um Steins französisches Sommerhaus:129 „The landscape at Bilignin so completely made a play that I wrote quantities of plays.“ 130 Die Landschaft ist nicht bestimmt von einer ‚story‘ – auch wenn in ihr immer irgendetwas passiert. Aber es sind nicht die wechselnden Ereignisse, sondern die bleibenden Elemente, die für Stein eine Landschaft ausmachen, die gleichsam (wie eine Bühne) den festen Rahmen darstellt, innerhalb dessen sich Veränderungen (des Wetters, der Jahreszeiten) vollziehen: „A landscape does not move nothing really moves in a landscape but the things are there“ (L). Das Charakteristische einer Landschaft ist für Stein ihre „Formation“. Mit den „Relationen“ zwischen ihren einzelnen Elementen betont sie ein formales und nicht ein inhaltliches Moment:
125 Steins Dramaturgie wird immer wieder mit modernen Tendenzen in der Bildenden Kunst verglichen: Andrzej Wirth zeigt die Bezüge zum Kubismus, insbesondere zur Form der Collage (Gertrude Stein und ihre Kritik der dramatischen Vernunft); Achim Stricker liest Steins Stücke als Installationen (Text-Raum). Steins Wirkung auf die Konkrete Poesie zeigt Andreas Kramer, Gertrude Stein und die deutsche Avantgarde, S. 250–266. 126 Vgl. Bonnie Marranca, Presence of Mind, S. XXV. 127 Gertrude Stein, Geography and Plays, S. 209. 128 Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. 152–154. 129 Bonnie Marranca verweist darüber hinaus auf einen möglichen Einfluss Anton Čechovs, der sein Stück Die Möwe als „vier Akte und eine Landschaft“ charakterisierte (Presence of Mind, S. X). 130 Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. XLVI.
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The landscape has it formation and as after all a play has to have formation and be in relation one thing to the other thing and as the story is not the thing as any one is always telling something then the landscape not moving but being always in relation, the trees to the hills the hills to the fields the trees to each other any piece of it to any sky and then any detail to any other detail, the story is only of importance if you like to tell or like to hear a story but the relation is there anyway. And of this relation I wanted to make a play and I did, a great number of plays. (XLVII f.)
Mit diesem Programm, in dem mögliche Geschichten stets durch eine feste Form gerahmt beziehungsweise innerhalb einer spannungsvollen, aber statischen Konstellation oder Situation aufgehoben sind, wird Stein zur Vorläuferin und Impulsgeberin eines postdramatischen Formalismus. Ihre Stücke entwerfen keine Handlung, sondern eine Landschaft als Bühne, auf der Ereignisse auf- und abtreten können. In dieser Hinsicht qualifiziert Stein ihr Stück Four Saints in Three Acts (1927) als Musterbeispiel des ‚Landscape-Play‘: „It made a landscape and the movement in it was like a movement in and out with which anybody looking on can keep in time” (LI). Die Aufgabe, Zuschauer und Bühnengeschehen zu synchronisieren, sieht sie also in diesem Stück erfüllt. Hervorzuheben ist die rezeptionsästhetische Qualität des ‚Landscape-Play‘: Denn die Simultaneität der verschiedenen Landschaftselemente ist offen für ganz unterschiedliche, vollkommen gleichberechtigte Wahrnehmungsprozesse, welche die präsentierten Elemente ordnen und deuten können, ohne jemals einer einzig wahren Geschichte hinterherzuhinken.131 Die – bereits in subjektiver Perspektive präsentierte – Landschaft ist also eine produktions- wie rezeptionsästhetisch offene Konstellation. Sie nimmt eine konsequente Enthierarchisierung dramatischer Textinstanzen in der Postdramatik vorweg, die etwa Heiner Müllers Hamletmaschine und Bildbeschreibung auszeichnet.
1.2.2 Formalistisches Bewusstseinstheater: Four Saints in Three Acts (1927/1934) Steins Musterbeispiel eines ‚Landscape-Play‘, ihr wohl berühmtestes Stück Four Saints in Three Acts (1927), präsentiert nicht nur vier, sondern in manchen Szenen bis zu 21 Heilige und arrangiert sie als Landschaft: „All the saints that I made and I made a number of them […] all these saints together made my
131 Die Bedeutung des Lesers (Zuschauers) pointiert Bonnie Marranca, begründet durch die Definition von Steins Landscape als „performance space, with its multiple and simultaneous centers of focus and activity“ (Presence of Mind, S. X).
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landscape.“ 132 Die Heiligen – allen voran die heilige Teresa von Ávila, welche die Szenerie dominiert – scheinen jedoch eher als Anlass für Formexperimente denn als wirkliches Thema bedeutsam. Das Stück, pleonastisch als „Opera to be sung“ bezeichnet,133 stellt seinen eigenen Formalismus demonstrativ aus – durch Verfremdung dramatischer Strukturmerkmale. Zunächst besteht das Stück nicht, wie im Titel angekündigt, aus drei Akten. Die Zählung reicht vielmehr bis zu einem fünften Akt; außerdem gibt es mindestens zwei erste Akte – auf die Überschrift „Act I“ (444) folgt nach wenigen Zeilen bereits die Zwischenüberschrift „Repeat First Act“, worauf der zweite Akt nochmals durch einen „Act One“ (453) unterbrochen wird. Ebenso gibt es sowohl einen „Act Two“ (453) als auch einen „Act II“ (455). Untergliedert sind die Akte in eine unregelmäßige Folge von Szenen, deren Nummerierungen sich wiederholen (auf „Scene One“ folgt „Scene One“) oder deren Zählung mitten im Akt an beliebiger Stelle (etwa nach der siebten wieder mit der fünften Szene) neu ansetzt (vgl. 473 f.). Da der Text zudem auf 41 Druckseiten 64 derartige Akt- und Szenenmarker aufweist und die kürzesten Szenen lediglich aus einem einzigen Wort bestehen, entsteht der Eindruck einer Überorganisation oder, mit Andrzej Wirth, einer „Dekonstruktion durch Überkomponieren“, die als „Verfremdungseffekt“ wirkt.134 Die Verfremdung hat zur Folge, dass die Struktur des Stückes als solche auffällt und ausgestellt wird, eine Tendenz, die durch selbstreferentielle, metadramatische Reflexionen noch verstärkt wird: „This is a scene where this is seen“ (453); „Saint Therese has begun to be in act one“ (453); „Would it do if there was a Scene II” (455), „Could Four Acts be Three“ (462). Ein selbstironisches Spiel mit dieser Methode ensteht, wenn die Protagonistin selbst sich nach dem Stand der Dinge erkundigt: „Saint Therese. How many saints are there in it“. Eine sinnstiftende Gliederung wird nicht nur durch Überkomponieren und beständigen Kommentarzwang unterlaufen, sondern auch durch sprachspielerische Effekte wie Reime: Eine „Scene X“ (462 f.) etwa scheint allein dem Anlass zu dienen, eine Reimwortreihe auf „Ten“ durchzuexerzieren. Die Reime – „When“, „Then“, „Men“ – werden in ständiger Wiederholung abwechselnd von
132 Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. L. Die folgenden Seitenangaben im Fließtext beziehen sich auf: Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. 440–480. 133 Virgil Thomson komponierte die Musik zur amerikanischen Uraufführung (vgl. Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. VIII). 134 Andrzej Wirth, Gertrude Stein und ihre Kritik der dramatischen Vernunft, S. 65.
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mehreren Heiligen gesprochen, die am Ende zehn mal das Wort „Ten“ wiederholen.135 Die demonstrativ ausgestellte Struktur hat offensichtlich keine andere Funktion als einfach da zu sein und ihre Elemente, frei von jedem inhaltlichen oder narrativen Zusammenhang, als solche zur Geltung zu bringen – etwa in einer zweispaltigen Auflistung von 21 Heiligennamen (vgl. 444). Das demonstrative Arrangieren von Material, das sich als Struktur selbst genügt und keine Geschichte erzählen soll, folgt Steins Landscape-Idee: „All these things might have been a story but as a landscape they were just there and a play is just there.“ 136 Steins Stücke werfen, auf ähnliche Weise wie die ihr nachfolgenden postdramatischen Experimente, die Frage auf, ob sie überhaupt noch auf eine außertheatralische Wirklichkeit referieren oder sich in Sprachspiel, Metatheater und Selbstbezüglichkeit erschöpfen. Wie in der Postdramatik, die sich gerade in solchen dramaturgischen Grundsatzfragen bei Stein inspirieren konnte, ist auch in ihrem Fall die Antwort nicht eindeutig. Steins Sprache changiert zwischen einer selbstbezüglichen Oberflächenstruktur, deren rhythmische, klangliche und grafische Bezüge hervortreten und einer immer wieder für Momente hindurchschimmernden semantischen Tiefenstruktur, die Assoziationen weckt und Zusammenhänge suggeriert.137 In Four Saints finden sich etwa verstreute Splitter, die Leben und Umfeld der heiligen Teresa von Ávila und des heiligen Ignatius von Loyola evozieren. Eine barocke Heiligen-Szenerie deutet sich an: In einem „garden inside and outside of the wall“ (446), der einen hortus conclusus darstellen könnte, erscheint Saint Therese auf einer Bank sitzend oder „very nearly half inside and half outside the house and not surrounded“ (446). Anklänge finden sich an klösterliche „habits“, „nuns“ und „sisters“ (443). Eingestreut werden Anspielungen auf Krankheiten und den Anbau heilender Kräuter. Punktuelle Impressionen evozieren die spanische Landschaft: „Pear trees cherry blossoms pink blossoms and late apples and surrounded by Spain and lain.“ (451) Doch das Stück erzählt keine Heiligenlegende. Das barocke Thema wird überlagert und teilweise verdrängt von dominanten metasprachlichen und metatheatralen Aussagen und Strukturen. Die spezifische Spannung zwischen Re-
135 Achim Stricker, Text-Raum, S. 114, schlägt vor, die „dysfunktional[en]“ Akte als performative „Sprech-Akte“ zu interpretieren. 136 Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. LI. 137 Andrzej Wirth vergleicht diese Ambivalenz von Steins Sprachgebrauch mit zeitgenössischen bildkünstlerischen Verfahren: Kubistische Collagen von Steins Künstlerfreunden Juan Gris und Pablo Picasso changieren auf analoge Weise zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion (Gertrude Stein und ihre Kritik der dramatischen Vernunft, S. 65).
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ferenz und Selbstbezüglichkeit zeigt paradigmatisch folgender Dreischritt: Auf eine inhaltliche Aussage, die sich auf das Thema des Stückes bezieht: „Four saints born in separate places“, werden die „Four saints“ in einer metasprachlichen Wiederholungsreihe expliziert: „Saint saint saint saint“, die klangliche und grafische Qualitäten verbindet, um schließlich, auf einer nächsten Ebene, das Stück selbst anzusprechen: „Four saints an opera in three acts.“ In drei Zeilen werden so die Sphären Welt, Sprache und Theater zusammenführt. Sucht man nach einer möglichen Bedeutung von Steins Formalismus, also nach einer spezifischen Semantik der so demonstrativ ausgestellten Strukturen, so lassen sie sich im Sinne einer radikalen Subjektivierung des Dramas interpretieren. Die in hoher Sequenz aufeinanderfolgenden Gliederungselemente, die ständigen Selbstkommentare und lustvoll exerzierten Sprachspiele simulieren den unmittelbaren Einblick in einen Imaginationsprozess. Inszeniert wird der Entwurf eines Stückes über vier Heilige, beginnend mit den Vorbereitungen „Prepare for saints“ (440). Eingestreute Kommentare begleiten die Enstehung: „To be interested fortunately in Saint Therese“ (456), das Erreichte, etwa die stimmungsvolle Evokation von Schnee und Sonne, wird beständig hinterfragt: „What is the difference between a picture of a volcano and that.“ (541) So kann der Wechsel von Objektsprache und Metasprache den Schreibprozess vorführen: Die Suche nach Bildern und Worten zeigt sich in einer assoziativ springenden Wortfolge, die offenbar die Beschaffenheit und Atmosphäre des imaginierten Ortes präzisieren soll: „This is where to be at at water at snow snow show show one one sun and sun snow show no water no water unless unless“, bis der Satz in einer Frage endet, die offenbar ein Erstaunen über die eigene Wortwahl ausdrückt: „why unless“ (441). Das Beispiel illustriert Steins assoziativen Umgang mit Sprache, bei dem in einer prinzipiell unendlichen Kette ein Wort sich quasi aus dem anderen ergibt, sei es durch einen inhaltlichen oder sei es durch einen klanglichen Bezug, durch den überraschende neue inhaltliche Zusammenhänge entstehen. Semantische und klangliche Bezüge mischen sich in der Paronomasie, Steins bevorzugter Stilfigur, die ähnlich klingende, aber semantisch nicht verwandte Wörter in Beziehung setzt: hier das Reimpaar „snow“ und „show“, aber auch ‚falsche‘ Verwandte wie „Meant and met“ (444), „advances advantage“ (454) oder die Verbindung „Scene one“ und „Scene once seen once seen once seen“ (453 f.). Manchmal werden klangliche Bezüge evoziert, aber nicht explizit, wie in „Saint Therese knowing young and told“ (445), bei dem unwillkürlich das Gegensatzpaar young – old mitklingt. Eine prägnante paronomastische Verquickung zwischen dem Autokommentar „Might tingle“ (der sich mit: „Es könnte klingen“ übersetzen lässt) und dem folgenden, ein Gewirr von Bäumen evozierenden „Tangle wood tanglewood“ fängt Steins poetologisches Programm zwischen dominantem Klang und (verwirrender) Bedeutung idealtypisch ein.
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Durch die Verkettung von Wiederholungen und paronomastischen Variationen, die sich über grammatische Regeln hinwegsetzt, entsteht der unverwechselbare ‚Stein-Sound‘. Er prägt den Charakter ihrer Stücke und trägt ebenfalls zu deren Subjektivierung bei: Stets hat man den Eindruck, ein und dieselbe subjektive Autor- oder Erzählerstimme stehe hinter dem gesamten Text. Vorgeführt wird so ein Bewusstseinsprozess, der einen Leser/Zuschauer von Beginn an zum Mitvollzug anregt, wenn etwa mit der Aufforderung „Imagine four benches separately“ (441) das Setting entworfen wird. Als offener Entwurf erscheint die Szenerie auch durch den dominant potentiellen Modus: „Saint Therese could be photographed having been dressed like a lady“ (447) klingt wie ein Vorschlag für eine mögliche Inszenierung. Der Konjunktiv scheint gelegentlich auch eine Wahrnehmungsunsicherheit zu markieren: „Saint Ignatius could be in porcelain actually“ (450). Gertrude Stein hat diesen tastenden und zweifelnden Gestus im Theatertext etabliert und damit den Weg für die offenen Textformen der Postdramatiker geebnet. Der Imaginationsprozess, der von beständigen Zweifeln, Möglichkeiten und Alternativen bestimmt ist, schlägt sich in einem offenen Text nieder: Präsentiert wird kein fertiges Stück, sondern ein Text im dauernden Entwurfstadium: „A narrative to plan an opera“ (443).
1.2.3 Wirkung: Postdramatische Textlandschaften Mit der Idee des ‚Landscape-Play‘ verbindet sich eine immense Öffnung der dramatischen Gattung. Sie wurde von der Postdramatik aufgegriffen, die das Motiv der „Landschaft“ zum Signalwort ihrer Stein-Verehrung machte: Heiner Müllers Bildbeschreibung (1984) etwa beginnt mit der programmatischen Setzung: „Eine Landschaft zwischen Steppe und Savanne“.138 Elfriede Jelineks politische Mediensatire Stecken, Stab und Stangl (1996) setzt ein mit einer doppelten Hommage an Stein und Müller: Die Aufforderung „Bitte, sehen Sie hier eine flache Landschaft“ 139 leitet hier die Bildbeschreibung eines „Zeitungsfoto[s]“ 140 ein. Drei Gründe können die postdramatische Stein-Verehrung erklären: Zunächst fasziniert die radikale Umwertung der Theatersituation, die Steins 138 Heiner Müller, Bildbeschreibung. Text und Materialien, Graz 1985, S. 7. 139 Elfriede Jelinek, Neue Theaterstücke, S. 17. Im weiteren Verlauf des Stückes, das den Untertitel Eine Handarbeit trägt und in dem unablässig gehäkelt wird, tritt außerdem ein „vollkommen umhäkelter Inline-Skater“ auf als „Menschenlandschaft“ (Elfriede Jelinek, Neue Theaterstücke, S. 50). Vgl. auch die Regieanweisung „im ruhigen Landschafts-Dahinhäkeln“ (Elfriede Jelinek, Neue Theaterstücke, S. 43). 140 Elfriede Jelinek, Neue Theaterstücke, S. 18.
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Landscape-Idee propagiert. Die Postdramatiker teilen Steins Anliegen, Bühnengeschehen und Zuschauer zu synchronisieren: Das continuous present, wie es Stein vorschwebt, wird in postdramatischen Stücken durch das Ereignis des Sprechens und der Präsenz von Körpern inszeniert. Außerdem fasziniert Steins postdramatische Gattungstransformation. Für Stein kann grundsätzlich jede Textsorte, die keine Handlung hat, zum ‚Landscape-Play‘ werden: „I concluded that anything that was not a story could be a play and I even made plays in letters and advertisements.“ 141 Der Akzent der Landschafts-Konstellationen besteht darin, sprachliche Zeichen wie die Elemente einer Landschaft zu arrangieren: In der theatralen Umsetzung dieser statischen Dramaturgie verbinden sich akustisches und visuelles Muster, Klangtheater und Theater der Bilder. Steins Landscape-Poetik nimmt so die postdramatische Tendenz vorweg, dass prinzipiell jeder Text, sei es ein Prosaessay oder eine Erzählung, eine Gebrauchsanweisung oder ein Gedicht, als Material eines Theaterstückes oder einer Inszenierung dienen kann. Ein dritter Grund für die postdramatische Stein-Verehrung liegt in der radikalen Subjektivierung, die mit Steins formalistischem Ansatz einhergeht: Im ‚Landscape-Play‘ wird kein objektiviertes, neutrales Landschaftsbild präsentiert, sondern stets der subjektive, perspektivische Blick auf die Landschaft inszeniert. Die Offenheit der Konstellation ermöglicht außerdem eine ebenso subjektive Rezeption – durch die Mitwirkenden an Inszenierung und Aufführung und, nicht zuletzt, durch die Zuschauer, deren Assoziationen und ‚innere Bilder‘ die Aufführung komplettieren. Das eingangs zitierte Landschafts-Motiv bei Müller und Jelinek spiegelt genau diese Tendenz: Müllers Bildbeschreiber stellt sein (konfliktgeladenes) Verhältnis zum Bild stets mit dar – und öffnet es für weitere subjektive Betrachtungsweisen. Auch Jelinek legt ihre Bildbeschreibung einer Vermittlungsinstanz in den Mund, die ihr poetisches Verfahren reflektiert.142
141 Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. XLIV. 142 Anlass des Stückes ist der Mord an vier jungen Roma im Februar 1995 im burgenländischen Oberwart, die einem rechtsradikalen Bombenattentat zum Opfer fielen. Der einleitende ‚Autortext‘, der in einem Vorspiel einer Art Conférencier in den Mund gelegt wird (mit der Figurenbezeichnung „Einer, egal wer“), reflektiert die Aporien politischer Kunst im Angesicht eines realen Verbrechens: „[I]ch versuche, sie im letzten Moment noch zu retten, indem ich sie hier wieder nachstelle, genau so wie sie zusammengehört haben und wie sie auch auf dem Foto drauf sind“ (Elfriede Jelinek, Neue Theaterstücke, S. 18). Die poetologische Ich-Botschaft wird sogleich aufgehoben in den für Jelinek typischen paronomastischen Sprachspielen, die einen wesentlichen Vorläufer gleichfalls in Gertrude Stein haben: „Ich bin vielleicht nicht die Richtige, weil ich immer gleich richte, aber wer hat schon mehr als drei, vier Richtige?“ (Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. 18).
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Steins Öffnung der Gattung und ihre Subjektivierung haben vor allem die amerikanische Theateravantgarde inspiriert, von deren Wiederentdeckung Steins wichtige Impulse auch auf die deutschsprachige Stein-Rezeption ausgingen. Richard Foremans „diary theater“, das stets den Entstehungsprozess des Stückes mit auf die Bühne bringt und einen direkten ‚phänomenologischen‘ Einblick in die Psyche des Dichters suggeriert, ist unmittelbar von Steins formalistischen Bewusstseinsspielen beeinflusst, was sich exemplarisch an Pandering to The Masses143 (1975) zeigen lässt. Vor allem stilistische Anleihen markieren hier den intertextuellen Bezug, etwa eine die Referenz zugunsten des Klanges überspielende Wiederholungsreihe: Oh Max, Max, Oh Max, Max, Max, Max, Max, Max, Max, Oh Max, Max, Max, Ohhh, Max, Max, Oh Max, Oh Max, Oh Max, do you want, Max, do you want, Max, do you want to be rewarded because you are such a good writer? 144
Auf ganz ähnliche Weise wie Steins Four Saints zeigt auch Foremans Stück einen dichterischen Kreativitätsprozess, der als Blick in ein Bewusstsein inszeniert wird (hier verkörpert durch die verschiedenen Facetten von Max, einer Autorfigur). Das assoziative Verfahren wird, wie bei Stein, stets kommentiert: „Oh Max. In your head, everything proceeds by association.“ 145 Das Ergebnis ist ein Konversationsstück, das logische Zusammenhänge negiert und statt dessen die beiden Ebenen von Figurensprache und (Autor-)Kommentar zu einer spannungsvollen Konstellation bindet. Doch scheint Foreman Steins präsentische Landscape-Poetik nicht einfach nur umzusetzen, sondern sie noch auf einer weiteren Metaebene rezeptionsästhetisch zu reflektieren. Die grundsätzliche Achronie zwischen Bühne und Zuschauern, die das ‚Landscape-Play‘ ja programmatisch abschafft, scheint hier letztlich doch unüberwindbar: Max’ Feststellung „I am now in the present moment“ wird sogleich relativiert durch: „Writing it, of course, not when you are watching it.“ 146 Foremans intellektuelles „Ontological Hysteric Theater“ scheint hier bei aller Stein-Filiation implizit eine gewisse Naivität ihres Ansatzes zu problematisieren. Dennoch reklamiert Max für die stilisierte und formalistische Konstellation, die das Stück präsentiert, Steins Grundsatz: „Nothing has to happen.“ 147
143 Richard Foreman, Pandering to the Masses. In: The Theatre of Images, hg. von Bonnie Marranca, S. 15–36. (Zu Foremans Theater vgl. auch Kap. 2.4.3 dieser Arbeit.) 144 Richard Foreman, Pandering to the Masses, S. 18. 145 Richard Foreman, Pandering to the Masses, S. 16. 146 Richard Foreman, Pandering to the Masses, S. 18. 147 Richard Foreman, Pandering to the Masses, S. 19.
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Steins Einfluss auf die amerikanische Theateravantgarde seit den 60er Jahren zeigt paradigmatisch die direkte Gefolgschaft von Robert Wilson. Seine frühen Stücke lesen sich, als würden sie Steins Werk unmittelbar fortsetzen und weiterentwickeln.148 In A letter for Queen Victoria149 (1974) macht Wilson in Stein’scher Manier aus einem Brief ein Stück. Die Gattungsbezeichnung „opera“, die an Steins Four Saints erinnert, begründet Wilson mit der Simultaneität der Bühnenaktionen: „everything in it happens at once, the way it does in operas and the way it does in life.“ 150 In der Nachfolge von Steins ‚LandscapePlays‘ wird hier narrative Sukzession aufgegeben zugunsten eines von Klangfiguren und Wiederholungen strukturierten Arrangements. In ihrer Einleitung qualifiziert die Herausgeberin Bonnie Marranca Wilsons Stück als „continuous present“,151 ein Begriff, den Stein in der Vorlesung Composition as Explanation (1926) zu ihrem poetischen Credo erklärt hat. Wilson übersetzt Steins präsentisches Programm beispielsweise in die Situation des (dauernden) Wartens, die motivisch auch an Beckett erinnert und in endlosen Wiederholungsreihen demonstriert wird: Im Wechsel zweier Sprecher wird zum Beispiel achtmal die Sequenz 1: And you sit on the bench 2: And you wait for me152
wiederholt. Wie in Steins Metatheater werden auch bei Wilson das Stück und sein Fortgang beständig reflektiert, indem seine Spieler sich etwa wiederholt ihres Tuns („We’re doing ‚A letter for Queen Victoria‘“) und des aktuellen Spielstands versichern: „We just did act one and we’re going to be doing act two act three and act four.“ 153 Das akribische Aufzählen von Gliederungselementen erinnert ebenso an Stein wie die Montage vorgefundener Konversationssplitter:154 1: Hello Mister. Want any sauce, want any salt, want any liquor. No? Well, good day. 2: Well we have to have some place to keep our popsicles. 1: Sure is hot in here 2: Outside it’s 40 °
148 Zur Stein-Rezeption von Foreman und Wilson vgl. die knappen Hinweise von Bonnie Marranca, Presence of Mind, S. XXV. 149 Robert Wilson, A Letter for Queen Victoria. In: The Theatre of Images, hg. von Bonnie Marranca, S. 51–109. 150 Robert Wilson, Preface. In: The Theatre of Images, hg. von Bonnie Marranca, S. 49. 151 Robert Wilson, Preface. In: The Theatre of Images, hg. von Bonnie Marranca, S. 39. 152 Vgl. Robert Wilson, A Letter for Queen Victoria, S. 72. 153 Robert Wilson, A Letter for Queen Victoria, S. 71. 154 Robert Wilson, A Letter for Queen Victoria, S. 57.
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Steins Verfahren, vorgefundenes Sprachmaterial, etwa zufällig belauschte Gespräche, als Material ihrer Landscape-Collagen zu benutzen, nimmt ebenfalls Tendenzen der späteren Postdramatiker vorweg. Oftmals legt sie diese Satzfragmente befreundeten oder berühmten Persönlichkeiten in den Mund, was die oft bemerkte autobiografische Qualität ihrer Stücke unterstreicht, deren Material stets aus ihrem unmittelbaren Lebensumfeld zu stammen scheint,155 wie „A man who looks like Picasso“, ein Protagonist in A Play Called Not and Now.156 Arrangiert wird das vorgefundene Material etwa nach grammatikalischen Prinzipien, wodurch Stein das linguistische Theater von Handkes frühen Sprechstücken bereits vorbereitet hat.157 Mit jedem der Short Sentences (1932) etwa wechselt der Sprecher, der jeweils den Namen einer realen Person trägt, so dass auf 16 Druckseiten zwei Spalten entstehen: links eine Liste mit Namen, rechts die knappen, oftmals nur drei bis vier Wörter umfassenden, teilweise fragmentarischen Sätze wie die aufeinanderfolgenden „Just why they rose“; „Just if they thought“; „Just why they left“ (319). Die inhaltlich zusammenhanglosen Satzfetzen erinnern, wie auch die unter reichen Engländerinnen aufgeschnappten Ladies Voices (1916) („Yes Genevieve does not know it. What. That we are seeing Caesar. / Caesar kisses. / Kisses today.“ 158) und das Partygeschnatter in What Happens wiederum an Handkes Umgang mit vorgefundenem Sprachmaterial, zum Beispiel an die nach grammatikalischen Mustern geordneten Wendungen der Einsager im Kaspar: „In die Nesseln gesetzt. Die Tür zugeschlagen. Die Ärmel aufgekrempelt. Auf die Stühle geschlagen.“ 159 oder die aus heterogenen Floskeln zu grammatisch korrekten, aber sinnlosen Sätzen montierten „Pausentexte“ („Kritisieren allein schadet jedem belebenden Fortschritt wie er auch zuschlagen mag“ 160). In Handkes frühen Stücken wird heterogenes Material zudem immer wieder, wie bei Stein, unter dominant hervortretende Strukturprinzipien geordnet. Das Listen-Prinzip, das Handke in der finalen Kanonade der Publikumsbe-
155 Für Bonnie Marranca, „[o]ne of Stein’s great dramaturgical innovations was to incorporate aspects of daily life around her into the actual writing process […], in this way […] introducing a new narrative approach to autobiography and the personal in the theater“ (Presence of Mind, S. XIV). 156 Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. 422. 157 Den Vergleich zwischen Stein und Handkes Sprechstücken hat Andrzej Wirth angeregt (Gertrude Stein und ihre Kritik der dramatischen Vernunft). 158 Gertrude Stein, Geography and Plays, S. 203. 159 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 129. 160 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 159.
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schimpfung („Ihr Kabinettstücke. Ihr Charakterdarsteller. Ihr Menschendarsteller. Ihr Welttheatraliker.“ 161) und in den vorangestellten Regeln für die Schauspieler („Das Inswortfallen bei Debatten anhören. / ‚Tell me‘ von den Rolling Stones anhören. / […] / Die Hitparade von Radio Luxemburg anhören.“ 162) anwendet, ist bei Stein vorgebildet: Stein listet nicht nur Namen, sondern bildet aus verschiedensten Zusammenhängen heterogene Reihen wie in The Mother of Us All (1946) aus dem Streit von „frechen Männern“ About About About About About About
how late the moon can rise. how soon the earth can turn. how naked are the stars. how black are blacker men. how pink are pinks in spring. what corn is best to pop.163
Steins ‚Gliederungswut‘ wird auch von einem formbewussten Autor wie Rainald Goetz adaptiert, der seine Stücke nach mathematischen Prinzipien penibel durchstrukturiert. In Heiliger Krieg,164 dem Eröffnungsstück von Goetz’ Trilogie Krieg (1986), schlägt sich ein Hang zur Überstrukturierung nieder in einem dichten Netz von Abschnitten, Ziffern, Überschriften und Untertiteln, die an selbstreflexive Formzitate Gertrude Steins erinnern. Als Stein-Hommage lässt sich etwa die Dopplung der Szenen 26 und 27 lesen, die zweimal aufeinanderfolgen.165 Sie zitieren Steins Verfahren, die Gliederungselemente in verwirrenden Wiederholungen und Umstellungen – losgelöst von Inhalten – als solche auszustellen. Das Beispiel Goetz zeigt, wie sehr Steins Ästhetik mit aktuellen intermedialen Verfahren kompatibel ist – und neue, durch Medien geprägte Wahrnehmungsweisen bereits vorwegnimmt: So lassen sich Goetz’ an Stein geschulte Formspiele als Simulationen des Fernsehkonsums (als schnelles ‚Zappen‘ durch die Programme)166 interpretieren. Auch Goetz’ stilistische Stein-Imitationen folgen diesem intermedialen Muster – wie die Wiederholungsreihe:
161 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 40. 162 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 11. 163 Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. 63. 164 Rainald Goetz, Krieg. Stücke, Frankfurt a. M. 1986, (edition suhrkamp 1320) S. 11–130. 165 Rainald Goetz, Krieg, S. 47–50. 166 Rainer Kühn, Rainald Goetz. In: KLG, 2004, S. 6, und Norbert Otto Eke, Welt-Kunst-Beobachtung. Rainald Goetz und das Theater. In: Text und Kritik 190: Rainald Goetz, 2011, S. 52– 67, hier S. 61, verwenden den Begriff des zapping, um Goetz’ Ästhetik zu kennzeichnen (vgl. auch Kap. 3.3 dieser Arbeit).
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Es ist was Da Was Was ist Was ist was ist Was ist was ist da ist es Was was Was167
Die rhythmische Wiederholung und Variation kurzer sprachlicher Einheiten, wie sie für Stein typisch ist, simuliert bei Goetz Mitte der 1980er Jahre den Sprechgesang von Rap und Hip-Hop oder einen Sound-Effekt wie das Scratchen.168 Subjektivierung und Formalismus, die beiden dominanten Merkmale von Steins Dramaturgie, verbinden sich mit dem unverwechselbaren ‚Stein-Sound‘. Die Tendenz, einer durch signifikante Stilmerkmale hervortretenden (Autor-) Instanz den gesamten Theatertext zu überlassen – sodass letztlich auch jeder Dialog und jede Regieanweisung einem einheitlichen, alles übergreifenden Monolog untergeordnet werden –, hat die Postdramatik entscheidend geprägt: Jelineks Sprachflächen – nicht umsonst spricht man auch hier von einem spezifischen, unverkennbaren ‚Sound‘ – geben davon Zeugnis. Der sprachspielerische, musikalische Zugriff ist beiden Autorinnen gemeinsam. Außerdem teilen sie die spezifische Vorliebe für Paronomasien: Auch Jelineks mäandernde Textbandwürmer werden oft durch paronomastische ‚Schritte‘ bewegt, etwa wenn die Kontrakte des Kaufmanns (2009) den Soziolekt der Banken und ihrer „Eigner und Neigner, Bankeigner aus Neigung“ in paronomastischen Kalauern wie dem geschmacklos verdrehten „per anus, per rectus, per verrecktus“ vorführen.169 Das bei Stein leichte und spielerische Verfahren („Might tingle. / Tangle wood tanglewood.“ 170) erhält bei Jelinek – mit einem vergleichbaren Effekt zwischen Selbst- und Weltbezug – einen zugespitzt provokanten und satirischen Ton. Steins formalistische Texte inspirieren außerdem die konsequente Enthierarchisiserung des Theatertextes: In den ‚Landscape-Plays‘ sind Figurentext und Regieanweisungen oft schwer zu trennen. Die hervortretenden Gliederungsele-
167 Rainald Goetz, Krieg, S. 263. 168 Zum Vergleich der Wiederholungsstrukturen mit dem Scratchen vgl. Achim Stricker, TextRaum, S. 286. 169 Elfriede Jelinek, Drei Theaterstücke, S. 237. 170 Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. 444.
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mente gewinnen eine eigene poetische Qualität. Die Konjunktur von Paratexten, die sich in postdramatischen Stücken in einer Vielzahl von Zwischentiteln niederschlägt, etwa in den erzählenden Überschriften in Heiner Müllers Hamletmaschine und den anspielungsreichen Zwischentiteln in Rainald Goetz’ Krieg, ist nicht nur im epischen Theater Brechts, sondern auch in Steins Gliederungs- und Kommentierungswut vorgebildet. Durch die Aufwertung gliedernder Elemente werden die Textinstanzen enthierarchisiert: Paratext kann gleichermaßen als Regieanweisung, Kommentar oder gesprochener Text verstanden werden, wie die Zwischenüberschrift im ersten Akt von Steins Four Saints: „Enact end of an act“.171 Diese Unsicherheit über den Status einzelner Passagen, die in postdramatischen Texten programmatisch wird, ist bei Stein an vielen Stellen vorbereitet. Ganze Szenen sind ohne Sprecherangabe und Regieanweisungen als Diskurs präsentiert, wie der reflexive Beginn einer „Scene IV“: „Did wish did want did at most agree that it was not when they had met that they were separated longitudinally.“ 172 Dieses Verschwimmen zwischen Szenenanweisung und Sprechtext wird von postdramatischen Autoren adaptiert, etwa in den gesprochenen Regietexten von Müllers Hamletmaschine wie „Auftritt Horatio“, das erzählende „die reizende Ophelia, sie kommt auf ihr Stichwort“ 173 oder die unvermittelt in den Sprechtext eingelagerten Kommentare in Majuskeln („HAMLET DER DÄNE PRINZ UND WURMFRASS STOLPERND / VON LOCH ZU LOCH […]“ 174). In ihrer Intention, den allwissenden Standpunkt einer übergeordneten Vermittlungsinstanz zu problematisieren, stehen diese episierenden Mittel konzeptionell näher an Stein als an Brecht. Um den Text für vielfältige theatrale Umsetzungsmöglichkeiten zu öffnen – und im Zeichen von Pop und Punk ein anarchisches Text- und Theaterverständnis zu demonstrieren –, hebt auch Rainald Goetz’ Krieg-Trilogie die Grenzen zwischen Regie- und Sprechtext immer wieder auf, etwa wenn eine vermeintliche Sprecherangabe plötzlich ein Satzglied darstellt, das durch den folgenden Sprechtext ergänzt wird:
171 172 173 174
Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. 446. Gertrude Stein, Last Operas and Plays, S. 450. Heiner Müller, Werke 4, S. 546 Heiner Müller, Werke 4, S. 553.
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DER TODESSCHREI gellt in die Stille175 und LUFT Weht. WASSER Fließt. FEUER Brennt. ERDE Ruht.176
Die Typografie eines dramatischen Textes wird hier genutzt, um eine offene, experimentelle Textur zu kreieren. Abschließend bleibt festzuhalten: Ein grundlegender konzeptioneller Einfluss auf die Postdramatiker geht von Steins Subjektivierung des Dramas aus. Ihre formalistischen Bewusstseinsspiele entsprechen einer immer stärker hervortretenden subjektiven und selbstbezüglichen Tendenz postdramatischer Ästhetik: Jenseits einer vordergründig-politischen Formsemantik, in der ein ‚Umsturz‘ der traditionellen Form bereits als politischer Akt begriffen wird, entwickelt sie sich zu einem selbstreferentiellen ‚Bewusstseinstheater‘, das Entstehungsprozess und Wirkungsweise von (politischem) Theater reflektiert. Steins Attraktivität für postdramatische Nachfolger liegt dabei in der programmatischen Offenheit ihrer ‚Landscape-Plays‘, welche die dramatische Gattung radikal erweitern. Dies bedeutet vor allem eine performative Offenheit: Indem die Hierarchien der dramatischen Instanzen fallen, sind einer Inszenierung prinzipiell keine Grenzen auferlegt. Dieser performative Aspekt wird in der Entwicklung der literarischen Postdramatik immer wichtiger: Das Postdrama reflektiert seinen Status als Material für eine Fülle möglicher Aufführungen.
1.3 Samuel Beckett: Vorbild und Zeitgenosse Samuel Beckett (1906–1989) ist nicht nur ein bedeutender Vorläufer und Impulsgeber des postdramatischen Theaters, sondern zugleich dessen Zeitgenosse: Seine minimalistisch-abstrakten späten Stücke wie Breath (1969) und Quad (1982) überbieten sogar die radikalsten postdramatischen Experimente. Als Be-
175 Rainald Goetz, Krieg, S. 105. 176 Rainald Goetz, Krieg, S. 129.
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ckett 1969 den Literaturnobelpreis erhielt, war er bereits eine lebende Ikone des modernen Theaters. Seine berühmtesten Stücke Warten auf Godot (1952) und Endspiel (1957), die längst den Status moderner Klassiker erreicht hatten, zählten für die junge Autorengeneration der späten sechziger Jahre zu den prägenden Erlebnissen ihrer künstlerischen Sozialisation. Becketts Dramen galten als Ausdruck eines existentialistischen Lebensgefühls ‚nach der Katastrophe‘. Befördert wurde diese Rezeption durch die leitenden zeitgenössischen Interpretationen: Theodor W. Adorno erklärte in seinem Versuch, das Endspiel zu verstehen177 (1961) die Sinnlosigkeit zum höheren Sinn eines „zerbombten Bewusstseins“ und Martin Esslin prägte das Schlagwort vom Theater des Absurden178 (1961). Becketts absurde Stücke trafen auch in den späten 1960er Jahren noch den Nerv der Zeit, wie die Erfolge seiner Inszenierungen am Berliner Schiller-Theater zeigen, wo er neben dem Endspiel, das 1967 Becketts Regietätigkeit einläutete, 1969 auch Das letzte Band selbst inszenierte.179 Mit diesen Berliner Inszenierungen lässt sich zugleich eine entscheidende Wende der Beckett-Rezeption im deutschsprachigen Raum datieren, die für die spezifisch postdramatische Adaptation von Becketts Theater entscheidend ist. Die existentialistische Deutungstradition, die vor allem bei jüngeren, der Studentenbewegung nahestehenden Theaterleuten zu einer Ablehnung Becketts als bildungsbürgerlich und apolitisch führte, wurde abgelöst von einer performativen Rezeption. Ähnlich wie Brecht wurde auch Beckett vornehmlich als Theaterpraktiker rezipiert. Denn Beckett selbst betonte in seinen Inszenierungen das leichte und spielerische Element seiner absurden Stücke. Das neue Beckett-Bild, das in diesem Kapitel genauer konturiert werden soll, machte den Autor zur Identifikationsfigur einer elitären formalistischen Avantgarde, die, wie der junge Handke in seinem Elfenbeinturm, an das – indirekte – sozialkritische Potential experimenteller Formen glaubte. Handkes Beckett-Bild ist dabei ähnlich ambivalent wie sein Verhältnis zu Brecht. Eine schroffe Ablehnung formuliert er, dem politisierten Zeitgeist gemäß, zunächst 1966, wenn er dem „Beckettschen Pantomimen, der auf die Bühne geworfen wird“ ein anachronistisches „Hereinfallen auf die alte Bedeutung der Bühne“ attestiert.180 In der Gegenüberstellung von Horváth und Brecht (1968) wird Beckett hingegen, mit unterschwelliger Bewunderung für seine
177 Theodor W. Adorno, Versuch, das Endspiel zu verstehen. In: Adorno, Noten zur Literatur II, Frankfurt a. M. 1961, S. 188–236. 178 Martin Esslin, The Theatre of the Absurd, London 1961. 179 Zu Becketts Berliner Regiearbeiten vgl. den Berliner Jubiläumsband zu Becketts 80. Geburtstag: Klaus Völker (Hg.), Beckett in Berlin. Zum 80. Geburtstag, Berlin 1986. 180 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 27.
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„geordnet-ungeordnete“ Darstellung von „Widersprüche[n]“, neben Horváth gestellt und als zeitgenössischer Antipode Brechts profiliert.181 Beckett wird schließlich zum bedeutenden Bezugsautor für Handkes ‚Theatertheater‘, dem er bis hin zu seiner aktuellen Beckett-Hommage aus dem Jahr 2008, Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts,182 treu geblieben ist: In einer Fortsetzung von Becketts Krapp’s Last Tape (1958) lässt Handke hier die im Erinnerungstonband heraufbeschworene Geliebte Krapps in einem ausgedehnten Monolog selbst zu Wort kommen. Dabei nutzt er ihre Antwort auch zu einem intertextuellen Dialog mit dem bewunderten Vorbild. Doch bereits in Handkes frühem Stück Kaspar (1966) steckt eine Huldigung Becketts: Kaspar als verlorener Clown mit Hut, der aus dem Nichts zu kommen scheint, könnte direkt Becketts Warten auf Godot entsprungen sein. Sein erster Auftritt enthält zudem einen markierten intertextuellen Verweis auf Becketts Acte sans paroles I (1957): So wie Handkes Kaspar in der stummen Eingangsszene auf die Bühne stolpert, umständlich über seine eigenen Beine fällt und im „unordentlichen Schneidersitz“ nachdenklich verharrt,183 wird in Becketts Pantomime ein strauchelnder „Mensch“ auf die Bühne geworfen: Projeté à reculons de la coulisse droite, l’homme trébuche, tombe, se relève aussitôt, s’époussette, réfléchit.184 [„Der aus der rechten Kulisse rücklings auf die Bühne geschleuderte Mensch stolpert, fällt, steht sofort wieder auf, klopft den Staub ab und überlegt.“]
Obwohl sich die Beckett-Anspielungen, wie das Beispiel Kaspar zeigt, bereits in Handkes frühen Stücken finden, ist dieser prägende Einfluss in der Forschung bisher nicht untersucht worden.185 181 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 63 f. 182 Peter Handke, Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts, Frankfurt a. M. 2009. 183 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 95–97. 184 Im Folgenden werden die französischen oder englischen Originalfassungen sowie die deutschen Übersetzungen von Elmar Tophoven zitiert nach der zweibändigen Ausgabe des Suhrkamp-Verlags: Samuel Beckett, Dramatische Dichtungen, Bd. 1: Französische Originalfassungen. Deutsche Übertragung von Elmar Tophoven. Englische Übertragung von Samuel Beckett, Frankfurt a. M. 1963, und Samuel Beckett, Dramatische Dichtungen, Bd. 2: Englische Originalfassungen. Deutsche Übertragung von Erika und Elmar Tophoven. Französische Übertragung von Samuel Beckett, Frankfurt a. M. 1964; hier Samuel Beckett, Dramatische Dichtungen, Bd. 1, S. 320. 185 Becketts Einfluss auf das deutschsprachige Drama der Nachkriegszeit wurde hingegen am Beispiel Thomas Bernhards belegt, etwa von Jean Marie Winkler, der Bernhards Ein Fest für Boris mit Becketts Endspiel vergleicht (Aspekte moderner Anti-Dramatik. Vergleichende Betrachtungen zu Samuel Becketts ‚Endspiel‘ und Thomas Bernhards ‚Ein Fest für Boris‘. In:
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Auf Heiner Müllers bedeutende Beckett-Rezeption wurde hingegen bereits 1986 von Helmut Fuhrmann aufmerksam gemacht, der ihre Spuren vor allem in Müllers Stücken seit den siebziger Jahren verfolgt:186 So integriert Müller 1971 in Germania. Tod in Berlin die Pantomime Nachtstück,187 die Becketts Acte sans paroles II (1959) zitiert und sich sogar namentlich auf den Bezugsautor beruft:188 Es erscheint „ein Mensch“ auf der Bühne (oder „vielleicht eine Puppe“), der sich in einem unbeholfenen Slapstick auf makabre Weise selbst demontiert, bis „[z]wei Beckett-Stachel[n] in Augenhöhe […] von rechts und links hereingefahren“ 189 werden und ihm die Augen ausstechen. In Becketts Pantomime190 für „zwei Personen und einen Stachel“ [„Pour deux Personnages et un Aiguillon“] ist das von Müller zitierte Requisit der heimliche Hauptdarsteller: Denn die Handlung besteht im wiederholten Angriff eines mechanischen Stachels, der auf einem Gestell mit Rädern bewegt wird und zwei in Säcken steckende Menschen bedrängt. Becketts Stück ist damit paradigmatisch für ein „Theater der Gegenstände“,191 das die dramatische Figur zugunsten des demonstrativ vorgeführten Requisits zurückdrängt. Becketts unheimlicher Stachel wird von Müller als Ikone eines handlungslosen, postdramatischen Theaters nach dem Ende der Geschichte zitiert, in dem die alptraumhaften Requisiten (des Unterbewussten?) die Macht übernehmen. Unter den formalen, motivischen und konzeptionellen Beckett-Allusionen in Müllers Werk, die Fuhrmann minutiös nachweist, sticht die Schlussszene der Hamletmaschine heraus: „Ophelia im Rollstuhl“ und in ihrer „weißen Verpackung“ 192 spielt deutlich an auf die Figur des Hamm in Becketts Endspiel, „recouvert d’un vieux drap, assis dans un fauteuil à roulettes“ („In der Mitte sitzt Hamm in einem mit Röllchen versehenen Sessel. Das Ganze ist mit einem alten Bettuch verhüllt“ 193). Der intertextuelle Bezug zeigt wiederum eindrück-
Konventionen und Konventionsbruch. Wechselwirkungen deutscher und französischer Dramatik. 17.–20. Jahrhundert, hg. von Horst Turk und Jean-Marie Valentin, Frankfurt a. M. u. a. 1992, [Jahrbuch für internationale Germanistik 30] S. 220–235). 186 Die beiden grundlegenden Aufsätze zu Müllers Beckett-Rezeption sind wiederabgedruckt in: Helmut Fuhrmann, Warten auf „Geschichte“. Der Dramatiker Heiner Müller, Würzburg 1997, S. 123–135 und S. 136–149. 187 Heiner Müller, Werke 4, S. 372 f. 188 Vgl. Heiner Müller, Werke 4, S. 124 f. 189 Heiner Müller, Werke 4, S. 373. 190 Samuel Beckett, Dramatische Dichtungen, Bd. 1, S. 330–337. 191 Hans Hoppe, Das Theater der Gegenstände. Neue Formen szenischer Aktion, Bensberg 1971. 192 Heiner Müller, Werke 4, S. 553. 193 Samuel Beckett, Dramatische Dichtungen, Bd. 1, S. 208 f. Zum Vergleich der Schlussszene mit Becketts Fin de partie vgl. Helmut Fuhrmann, Warten auf „Geschichte“, S. 138.
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lich die ikonische Qualität und symbolische Kraft, die Becketts Figuren noch 1977 – auch unter den erschwerten Rezeptionsbedingungen in der DDR –194 besaßen. Fuhrmanns Funktionsdeutung der zahlreichen Beckett-Bezüge in Müllers Werk, die er mit einem transformierten Müller-Zitat unter das beckettisierende Motto Warten auf ‚Geschichte‘ stellt,195 bleibt jedoch letztlich der existentialistischen Deutungslinie verhaftet: Mit den Beckett-Bezügen wird nach Fuhrmanns Deutung ein apokalyptisches Lebensgefühl, eine grundlegende „Daseinsskepsis“,196 spannungsvoll gegen den marxistischen Geschichtsoptimismus gesetzt.197 Wenngleich Fuhrmann mehrfach auf Müllers Interesse an Becketts Formensprache hinweist, bleibt dieser Aspekt in seiner Deutung unterbelichtet. Die spezifisch postdramatische Beckett-Rezeption, die sich vor allem auf formale Aspekte seiner Dramaturgie stützt, ist bisher weder bei Müller noch bei anderen Autoren rekonstruiert worden. Dabei definieren Becketts „Clownsspiele“ (Heiner Müller) eine spezifische theatrale Situation, der Autoren wie Handke, Müller und Jelinek198 wesentliche Impulse verdanken. Lediglich Andrzej Wirth weist in seinem grundlegenden Aufsatz Vom Dialog zum Diskurs Beckett neben Brecht als Ahnherren eines dialoglosen „Diskurstheaters“ aus, dessen zeitgenössische Ausprägungen er bei Peter Handke, Heiner Müller und der amerikanischen Theateravantgarde (Robert Wilson und Richard Foreman) verfolgt.199 Einen Akzent auf die performative Qualität von Becketts Sprache legt zudem die Studie von Theresia Birkenhauer zum Theater als Schauplatz der Sprache, die Beckett auch in dieser Hinsicht in die Nähe von Heiner Müllers postdramatischem Theater, etwa der Bildbeschreibung, rückt.200
194 Zur Beckett-Rezeption in der DDR vgl. Helmut Fuhrmann, Warten auf „Geschichte“, S. 123 und 147. 195 In Heiner Müllers knappem Prosatext DER GLÜCKLOSE ENGEL (1958) findet sich die Formulierung „wartend auf Geschichte“ (Heiner Müller, Heiner Müller Material, S. 7). In dem Brief, der die „Verabschiedung des Lehrstücks“ formuliert, verweist Müller auf „einsame Texte, die auf Geschichte warten“ (Heiner Müller, Heiner Müller Material, S. 40). Vgl. Helmut Fuhrmann, Warten auf „Geschichte“, S. 140. 196 Helmut Fuhrmann, Warten auf „Geschichte“, S. 130. 197 Vgl. Helmut Fuhrmann, Warten auf „Geschichte“. Der existentialistische Fokus wird deutlich, wenn Fuhrmann, Becketts Acte sans paroles II und Müllers Nachtstück als „Paradigmen des menschlichen Scheiterns“ ausweist (Warten auf „Geschichte“, S. 125). Doch steigere Müller Becketts absurdes Theater zu einem „grausame[n] Theater“ nach dem Vorbild Antonin Artauds (Helmut Fuhrmann, Warten auf „Geschichte“, S. 126). 198 Jelineks eher indirekt über Strukturen und dramaturgische Mittel nachweisbarer BeckettRezeption ist die Forschung bisher nicht nachgegangen. 199 Vgl. Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs. 200 Vgl. Theresia Birkenhauer, Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur: Maeterlinck, Čechov, Genet, Beckett, Müller, Berlin 2005, S. 130–210.
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Bisher vernachlässigt wurde ein möglicher Einfluss, der von der amerikanischen Theateravantgarde auf die performative Wende in der Beckett-Rezeption ausgeht: Robert Wilson etwa, der seit den achtziger Jahren mit Heiner Müller zusammenarbeitete, adaptiert bereits in seinem Stück A letter for Queen Victoria201 (1974) die Beckett-Situation des Wartens: Im ersten Akt wird der Satz „AND YOU SIT ON THE BENCH AND YOU WAIT FOR ME TILL I COME BACK“ 202 von Wilson und dem autistischen Jungen Christopher Knowles, der in vielen Stücken Wilsons mitwirkte, mehrmals wiederholt.203 Der Satz geht zwischen den Sprechern, die in gewissem Abstand zueinander stehen und sich direkt ans Publikum wenden, hin und her, bis sie ihn schließlich unisono skandieren. Die Situation des Wartens wird so in einem zuständlichen, durch monotones Wiederholen geprägten Sprechen gespiegelt. Dieses Verfahren lässt sich als produktive Rezeption von Becketts Zustandstheater verstehen, die paradigmatisch für spezifisch postdramatische Zugänge ist. Beckett steht vor allem Pate für ein Diskurstheater, das sich dem durch Brecht vorgebildeten demonstrativen Spiel anschließt, dieses aber – mit Beckett – selbstreflexiv wendet: Das Strukturmerkmal der Wiederholung verweist nicht mehr, wie noch bei Brecht, auf die künstlerisch-verfremdete Demonstration einer Welt jenseits des Theaters, sondern sie tritt von vornherein innerhalb des Theaterspiels auf – und weist nicht über dieses hinaus.
1.3.1 Reines Spiel: Der Theaterpraktiker Beckett als Postdramatiker avant la lettre Vor allem durch Becketts Zusammenarbeit mit dem Berliner Schiller-Theater,204 wo seine Stücke seit den sechziger Jahren zunächst unter der Mitarbeit, später unter der Regie des Autors auf die Bühne kamen, wurde die existentialistische Deutungs-Tradition von einem neuen Beckett-Bild abgelöst: Betont wurde nun das Spielerische, die hohe Performativität und Theatralität seiner
201 Robert Wilson, A Letter for Queen Victoria, S. 46–109. 202 Robert Wilson, A Letter for Queen Victoria, S. 72. 203 Eine Beschreibung der Aufführung bietet Stefan Brecht, The theatre of visions: Robert Wilson, Frankfurt a. M. 1978, (The original theatre of the City of New York. From the mid-60s to the mid-70s 1), S. 268–306, vgl. hier bes. S. 288. 204 Der zu Ehren von Becketts achtzigstem Geburtstag erschienene Band von Klaus Völker (Hg.), Beckett in Berlin, dokumentiert materialreich diese Zusammenarbeit und bietet im Anhang eine Chronologie von Berliner Beckett-Inszenierungen zwischen 1953 und 1986.
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Stücke. Beckett selbst inszenierte sie als „deutungsfreie, bloße Spiele“ 205 und initiierte damit eine Lesart, die der postdramatischen Ästhetik nahe steht. Deryk Mendels musterbildende Inszenierung von Warten auf Godot, die unter der direkten Mitarbeit des Autors 1965 am Schiller-Theater mit Horst Bollmann (Vladimir), Bernhard Minetti (Pozzo) und Stefan Wigger (Estragon) entstand, markiert diesen Wendepunkt der Beckett-Rezeption: Hier wurde keine dunkle Bedeutung mehr suggeriert, wie noch 1953 in der deutschen Erstaufführung durch Karl Heinz Stroux, sondern – visuell unterstützt durch einen hellen, lichten Bühnenraum –206 schlicht und einfach das Bühnengeschehen präsentiert: die äußerst theatrale Situation des Wartens („das Warten war interessanter geworden als Godot“ 207). Der Theaterkritiker Georg Hensel betont die Eleganz („Anmut“) des Spiels; Becketts „Clowns-Dramaturgie“ werde in dieser Inszenierung in eine „helle[ ] Heiterkeit“ überführt. Als dominanten Effekt dieses Inszenierungskonzepts stellt Hensel den theatralen Selbstbezug heraus: Jedem Zuschauer, der Vladimir und Estragon beobachte, werde klar: „alleinige[r] Ort ihrer Existenz ist das Theater: ein künstlicher Raum mit einem künstlichen Baum.“ 208 Diese Tendenz, die im Stück bereits durch die Fülle der Theaterund Spielmotive implizit angelegt ist, wird hier durch die Inszenierung herausgestellt; zur expliziten Regievorgabe wird sie dann bei Peter Handkes Kaspar (1967/68), der auch hierin an Beckett anschließt: „Das Bühnenbild stellt die Bühne dar“, Kaspars „Aufmachung“ ist von Beginn an „eine theatralische“.209 Auch das Clowneske – sein strauchelnder Slapstick mit Hut – stellt Kaspar in eine Reihe, in die auch Becketts Vladimir und Estragon ebenso wie ihrer aller Vorbild Charlie Chaplin gehören.210 Eine Kontroverse entstand in der politisierten Atmosphäre Ende der sechziger Jahre um Becketts Berliner Inszenierung des Endspiels, die 1968 zum Theatertreffen eingeladen wurde. Vor allem jüngere Theaterleute aus dem Umkreis
205 Georg Hensel, Da es so gespielt wird … spielen wir es eben so. Samuel Beckett als Autor und Regisseur. In: Beckett in Berlin. Zum 80. Geburtstag, hg. von Klaus Völker, Berlin 1986, S. 10–25, hier S. 25. 206 Vgl. Hensels Beschreibung in: Da es so gespielt wird, S. 11. 207 Georg Hensel, Da es so gespielt wird, S. 11. 208 Georg Hensel, Da es so gespielt wird, S. 11. 209 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 92 und 95. 210 Zu Becketts Bewunderung für Chaplin, die er im Übrigen mit seinem Antipoden Bertolt Brecht teilte, vgl. Gaby Hartel und Carola Veit, Samuel Beckett. Leben, Werk, Wirkung, Frankfurt a. M. 2006, (Suhrkamp BasisBiographie 13), S. 29 und 121. Elinor Fuchs zeigt Handkes Kaspar als paradigmatischen Fall der von ihr untersuchten Clown Shows (Clown Shows: AntiTheatricalist Theatricalism in Four Twentieth-Century Plays. In: Modern Drama 44, 2001, S. 336–354).
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der Studentenbewegung lehnten die Produktion als bildungsbürgerliche Veranstaltung ab und kritisierten den mangelnden tagespolitischen Bezug in Zeiten der Notstandsgesetze.211 Gerade der erhobene Formalismus-Vorwurf mag den jungen Theaterkritiker und angehenden Dramatiker Botho Strauß zu einer reflektierten Parteinahme für Beckett veranlasst haben: In seinem Essay Beckett – unser Zeitgenosse?212 entwickelt er eine subtile Kritik an seinen Generationsgenossen, die sich seiner Ansicht nach nicht durch die vermeintliche Klassizität, sondern in Wahrheit gerade durch die Aktualiät von Becketts Inszenierung provoziert fühlten: Die spielerische Heiterkeit und eleganten Slapstickszenen überführen Becketts Endspiel für Strauß in ein „nicht-endenwollende[s] Spiel“.213 Diesen entwicklungslosen Dauerzustand setzt er in einen provokanten Gegensatz zur Revolutionsutopie der jungen Generation.214 Botho Strauß findet in Beckett einen künstlerischen, genuin theatralen, spielerischen Gegenentwurf zum vordergründig Politischen: Das Endspiel deutet für Strauß nicht direkt, sondern indirekt auf die politische und gesellschaftliche Realität: in der „CHIFFRIERTEN, VERMITTELNDEN und BEDEUTENDEN Ausdruckssprache der Kunst“.215 Strauß’ Stellungnahme ist paradigmatisch für eine, auch elitäre, Haltung einiger junger Künstler, die für die Autonomie einer formbewussten Kunst in politisch brisanten Zeiten plädierten. Ihr kann auch der junge Handke zugerechnet werden. Das Anliegen, „politische und ästhetische Ereignisse zusammenzudenken“ (Strauß), bestimmt die Gründungsphase der postdramatischen Ästhetik, die sich bei den ‚entstaubten‘ modernen Klassikern wie Beckett und Brecht ebenso inspirieren kann wie bei einem formalistischen modernen Gegenkanon (Gertrude Stein) und der künstlerisch kreativen, dabei dennoch politischen Theateravantgarde der USA. Wie sehr gerade Beckett für ein neues Formbewusstsein des Theaters Pate stehen konnte, soll exemplarisch an seinem Stück En attendant Godot gezeigt werden, wobei vor allem die implizite Performativität seiner Dramatik aufgedeckt wird.
211 Einige junge Theaterleute, die der Studentenbewegung nahestanden, hätten lieber Michael Hatrys Ulmer Notstandsübung gesehen (vgl. Botho Strauß, Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken. Texte über Theater 1967–1986, Frankfurt a. M. 1987, S. 135). 212 Botho Strauß, Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken, S. 135–138. 213 Botho Strauß, Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken, S. 137 214 Vgl. Botho Strauß, Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken. 215 Botho Strauß, Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken, S. 136.
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1.3.2 Wirkung von Becketts ‚Zustandstheater‘ am Beispiel von En attendant Godot Becketts Drama En attendant Godot 216 gilt als Inbegriff eines Anti-Stücks: Seit den ersten Aufführungen in den 1950er Jahren provozierte es sein Publikum durch fehlende Handlung, Figuren ohne Geschichte, sinnlose Dialoge und eine beinahe leere Bühne:217 Das szenische Geschehen besteht im unablässigen Warten, das den ersten Akt bestimmt und auch den gesamten zweiten Akt über andauert. Um sich die Wartezeit zu vertreiben, wird geredet – zumeist in kurzen Repliken. Für kurze Unterbrechungen sorgt der wiederholte Auftritt von Pozzo und Lucky. Der Spielcharakter von En attendant Godot, der für die postdramatische Rezeption entscheidend ist, wird gleich in der Eingangsszene markiert. Das Stück beginnt mit einem pantomimischen Slapstick: Estragons umständliches Bemühen, seinen Schuh auszuziehen, bleibt vergeblich – und beginnt nach kurzer Verschnaufpause von neuem: „Même jeu“ („Das Spiel wiederholt sich“) (8 f.). Der pantomimische Einstieg, der von Beginn an den Spielcharakter („jeu“) und damit die Künstlichkeit der Bühnenaktion markiert, ist ein Markenzeichen von Becketts Stücken. Auch das Endspiel beginnt mit einer stummen Szene, in der Clov den Bühnenraum abschreitet, mit einer Leiter die hohen Fenster erklimmt, unter die Deckel der Mülleimer spickt und Hamm von seinem Betttuch befreit.218 Mit den beiden Actes sans paroles (1957 und 1960) hat Beckett das stumme Spiel zum Grundprinzip erhoben, an das Peter Handke mit der Eingangsszene des Kaspar und seinem stummen Stück Das Mündel will Vormund sein (1969) anschloss. Wenn junge Autoren der sechziger und siebziger Jahre ihre Stücke mit einer ausgedehnten Pantomime beginnen lassen, so kann das als programmatische Hommage an Becketts Dramaturgie gewertet werden. Neben Handke wählt auch Botho Strauß wiederholt den beckettisierenden Auftakt. Bereits in seinem ersten Stück Die Hypochonder (1972) lässt Strauß die Hauptperson mit dem Beckett-Namen Vladimir zunächst in einem pantomimischen Slapstick mit Revolver auf die Bühne stürmen.219 „Bevor noch die Handlung beginnt“, gehen
216 Das Stück wird im Folgenden im französischen Original – mit bloßen Seitenangaben im Text – zitiert nach: Samuel Beckett, Dramatische Dichtungen, Bd. 1, S. 6–205. 217 Zur zeitgenössischen Wirkung von En attendant Godot vgl. Gaby Hartel und Carola Veit, Samuel Beckett, S. 83–87. 218 Vgl. Samuel Beckett, Dramatische Dichtungen, Bd. 1, S. 208–210. 219 Vgl. Botho Strauß, Theaterstücke, Bd. 1, S. 9.
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die Schauspieler der Trilogie des Wiedersehens (1978) stumm auf und ab und erscheinen durch typische Gesten „in diesem Raum wie Besucher einer Ausstellung“.220 Der Spielcharakter von Becketts Dramen wird zusätzlich hervorgehoben durch ihre „raumzeitliche Nullsituation“.221 Der Bühnenraum erscheint nicht als Ausschnitt einer Welt, jenseits der Bühne ist keine Wirklichkeit vorstellbar, aus der Becketts Figuren stammen könnten; die Szenerie bleibt letztlich immer ein bloßer Bühnenraum – diese bei Beckett angelegte Tendenz wird in den selbstbezüglichen Bühnenräumen des postdramatischen Theaters (etwa in Handkes Kaspar) fortgesetzt.222 Auch die Requisiten stehen bei Beckett nicht von vornherein in Bezug zum Bühnengeschehen. Sie werden vielmehr erst im Verlauf des Spiels in die Gespräche und Handlungen der Protagonisten einbezogen und dadurch semantisiert, wie etwa der kahle Baum, das einzige Requisit von En attendant Godot:223 ein „arbre“, „arbuste“ oder „arbrisseau“ („Baum“, „Bäumchen“, „Strauch“) (20 f.), an dem man sich zumindest aufhängen könnte (vgl. 26 f.). Weder Raum und Requisiten noch die Figuren haben eine Geschichte: Sie sind bloße Bühnenfiguren, die ihr Profil allererst im und durch das Spiel erhalten. Becketts dramaturgische ‚Nullsituation‘ weist voraus auf performative Strategien postdramatischer Stücke, die mit einer vergleichbaren Voraussetzungslosigkeit einsetzen: Zu denken ist an die im Sprechen erzeugte Bühnensituation aus dem leeren Raum heraus in Handkes Publikumsbeschimpfung und im ‚Sprachflächentheater‘ Elfriede Jelineks. Auch die sukzessive Semantisierung eines Bildes in Heiner Müllers Bildbeschreibung lässt sich in diese Gefolgschaft stellen: Von seinen elementaren Bestandteilen Baum, Haus, Frau, Mann und Vogel ausgehend, wird hier eine immer komplexere polyvalente Geschichte erspielt. In Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten ist die „Bühne […] ein freier Platz im hellen Licht“, der durch die bloße Bewegung der Spieler im Raum – „Es beginnt damit, daß einer schnell über ihn wegläuft“ 224 – zum Schauplatz wird. Auch die berühmte Eröffnung von Peter Brooks Programmschrift The Empty Space (1968) lässt sich in dieses durch Beckett wesentlich mitbegründete elementare Theater stellen, das sich auf seine Grundstrukturen besinnt. Dies belegt Brooks berühmter Eingangssatz:
220 221 222 223 224
Botho Strauß, Theaterstücke, Bd. 1, S. 315. Axel Schalk, Das moderne Drama, Stuttgart 2004, S. 160. Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 92: „Das Bühnenbild stellt die Bühne dar.“ Zu dieser dramaturgischen Strategie vgl. ausführlich Manfred Pfister, Das Drama, S. 349 f. Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 549.
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I can take any empty space and call it a bare stage. A man walks across this empty space whilst someone else is watching him, and this is all that is needed for an act of theatre to be engaged.225
Becketts Regieanweisung „Même jeu“ (8) erweist sich noch auf weitere Weise als paradigmatisch. Sie fängt gleich zu Beginn von En attendant Godot das dramaturgische Grundprinzip ein: Durch (variierende) Wiederholungen von Sätzen („On attend Godot“; „Wir warten auf Godot“) und Geschehnissen (etwa durch das wiederholte An- und Ausziehen der Schuhe, das Essen von Radieschen und Möhren, das Vorhaben, sich aufzuhängen, den wiederholten Auftritt von Pozzo und Lucky) wird jeglicher Handlungsfortschritt negiert. Beckett selbst bezeichnete die inhaltlichen und klanglichen Wiederholungsstrukturen seiner Stücke als „Echos“.226 Das gesamte Verhältnis von erstem und zweitem Akt lässt sich als variierende Wiederholung beschreiben.227 Beide Akte münden schließlich in die gleiche paradoxe Situation zwischen Aufbruch und Stillstand, in der lediglich die Sprecher vertauscht sind: Estragon: Alors on y va ? Vladimir: Allons-y Ils ne bougent pas (114)
Vladimir: Alors on y va ? Estragon: Allons-y. Ils ne bougent pas (205)
(„Estragon: Also, wir gehen? / Wladimir: Gehen wir! / Sie gehen nicht von der Stelle“ [115, vgl. entsprechend 206])
Das Hauptgeschehen von En attendant Godot besteht im Warten: Alle Handlungen und Reden dienen nur dazu, die Wartezeit zu füllen. Die partizipiale Wendung „en attendant“ wird im Französischen auch im Sinne von „in der Zwischenzeit“ oder „bis dahin“ verwendet – in Situationen also, in denen eine Zeitspanne zu überbrücken ist, etwa: „On attendant, essayons de converser sans nous exalter“ (128). Beckett nutzt diese Bedeutung zu Wortspielen: Vladimir: […] Qu’est-ce qu’on fait maintenant ? Estragon: On attend. Vladimir: Oui, mais en attendant. (26) („Wladimir: […] Was sollen wir jetzt tun? / Estragon: Warten / Wladimir: Ja, aber beim Warten.“ [27])
225 Peter Brook, The empty space [1968], New York 1996, S. 9. 226 Vgl. den Arbeitsbericht seines Übersetzers Elmar Tophoven, Von Fin de partie zum Endspiel. Arbeitsbericht des Übersetzers. In: Materialien zu Becketts Endspiel, Frankfurt a. M. 1968, (edition suhrkamp 286) S. 118–127. 227 Auf den Punkt bringt diese Dramaturgie der Wiederholung Friedhelm Rathjen, Beckett zur Einführung, Hamburg 1995, S. 106: „Es ist bemerkt worden, dass in Warten auf Godot nicht
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In Becketts Dramaturgie des Wartens wird die dramatische Handlung programmatisch von einem Dauerzustand abgelöst. Präsentiert wird ein letztlich beliebiger Ausschnitt aus einer Situation, die durch die stete Wiederholung des immergleichen Trotts – „On n’a qu’à recommencer“ (130) („Wir können ja wieder von vorne anfangen“ [131]) – gekennzeichnet ist: „Et ainsi de suite“ (20) („Und so weiter“ [21]). Hauptsächlich füllen Becketts Figuren die Wartezeit mit Reden. In der Forschung gilt Beckett als Zersetzer des dramatischen Dialogs: Dieser werde in seinen Stücken in ein absurdes Aneinandervorbeireden transformiert.228 In En attendant Godot führen die Protagonisten Vladimir und Estragon sinnlose, absurde Gespräche, die oftmals eher zusammenhanglosen Monologen gleichen. Geschichtenerzählen dient dem „Zeitvertreib“ (17) – „Ça passera le temps.“ (16) – wie die biblische Geschichte: „C’étaient deux voleurs, crucifiés en même temps que le Sauveur“ (16) („Es waren zwei Diebe, die zusammen mit dem Erlöser gekreuzigt wurden“ [17]). Doch tritt die religiöse Botschaft plötzlich hinter die lautliche Verbindung der Wörter zurück, wie sie im Französischen durch das Reimpaar „Le Saveur. Deux voleurs“ (17) akzentuiert wird. Außerdem wird nie die ganze Geschichte erzählt, da der Erzählende vom Zuhörer dauernd unterbrochen wird: Estragon: Le quoi? Vladimir: Le Sauveur. Deux voleurs. On dit que l’un fut sauvé et l’autre … il cherche le contraire de sauvé … damné. Estragon: Sauvé de quoi?
– bis hin zur völligen Verwirrung von Erzähler und Zuhörer: Estragon: Qui? Vladimir: Comment? Estragon: Je ne comprends rien […] (16) („Estragon: Mit dem was? / Wladimir: Dem Erlöser. Zwei Diebe. Man sagt, der eine sei erlöst worden und der andere […] verdammt. / Estragon: Wovon erlöst? […] Estragon: Wen? / Wladimir: Wie bitte? / Estragon: Ich verstehe nichts davon […].“ [17])
Durch die Unterbrechungen wird die Aufmerksamkeit von den verweigerten Geschichten auf den Akt des Erzählens gelenkt. Auch einer schlüpfrigen Anek-
nur nichts passiert, sondern dass sich dieses Nichts gleich zweimal ereignet – die beiden Akte sind in weiten Teilen Wiederholung […].“ 228 Stellvertretend genannt seien Martin Esslin (The Theatre of the Absurd) und, mit Blick auf Becketts Einfluss auf die Dramatik der späten 1960er und 1970er Jahre, die diese Tendenz verstärkte, Andrzej Wirth (Vom Dialog zum Diskurs).
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dote wie „l’histoire de l’Anglais au bordel“ (24) („die Geschichte von dem Engländer im Puff“ [25]) wird die Pointe verweigert. Sie wird nur begonnen, dann abgebrochen beziehungsweise ‚zerredet‘. Das Erzählen „en attendant“, bei dem zugleich die vergehende Zeit spürbar wird, ist ein Verfahren, das an vergleichbare Strategien postdramatischer Stücke erinnert: Auch der handlungslose Diskurs der Publikumsbeschimpfung demonstriert das gegenwärtige Sprechen und die im Sprechen vergehende Zeit: „Hier ist es Ernst mit der Zeit. Hier wird zugegeben, daß sie vergeht, von einem Wort zum andern.“ 229 Ähnlich lässt sich auch der zeitdehnende Effekt von Jelineks musikalischen Sprachflächen beschreiben. An Becketts ‚Zustandsdramaturgie‘ ist auch Botho Strauß’ Trilogie des Wiedersehens geschult, die auf spezifische Weise realistische und postdramatische Verfahren verbindet. Auch hier wird „en attendant“ geredet. So zeigt sie im dritten Teil „[d]ieselbe Wartesituation wie am Ende des zweiten Teils. Der Wärter steht auf seinem Stuhl und erzählt einen Witz nach dem anderen.“ 230 Zuvor stellte sich den anwesenden Ausstellungsbesuchern nach dem Verschwinden des Kunstvereinleiters die Beckett-Frage: Felix: Susanne: Felix:
So. Und nun? Wir warten. Aha … Worauf?… Hm? Worauf? – Keine Antwort. Na schön.231
Die internationale Wirkung von Becketts ‚Zustandsdramaturgie‘, die sich bereits bei Robert Wilson ablesen ließ (s. o.), kann das Beispiel Sam Shepards weiter konturieren. Der amerikanische Generationsgenosse von Peter Handke speist seine frühe Dramatik aus vergleichbaren Inspirationsquellen. Beide Autoren sind durch Performancekunst und das amerikanische Avantgardetheater beeinflusst und können vor diesem Hintergrund einen modernen Klassiker wie Beckett aktualisieren: In Shepards Cowboys # 2 232 (1967) sitzen zwei schwarz gekleidete Männer mit Hüten – als Vladimir und Estragon aus dem wilden Westen – auf einem Sägebock, der mitten auf der ansonsten leeren Bühne platziert ist, ‚passing the time‘ mit Reden, Cowboyspielen, imaginären Kämpfen und pantomimischen Fitnessübungen. Am Ende wird eine metatheatrale Struk-
229 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 23. 230 Botho Strauß, Theaterstücke, Bd. 1, S. 378. 231 Botho Strauß, Theaterstücke, Bd. 1, S. 375 f. 232 Sam Shepard, Cowboys # 2. In: Shepard, Angel City, Curse of the Starving Class and other Plays. Preface by Jack Gelber, London 1978, S. 227–240. Auf Shepards Beckett-Filiation und die Nähe zu En attendant Godot verweist Lawrence Graver, Landmarks of world literature: Waiting for Godot, Cambridge u. a. 1989, S. 106 f.
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tur offengelegt durch den Auftritt zweier Herren im Anzug, die das Skript von Cowboys # 2 verlesen, wodurch die Cowboys als Schauspieler in einem Stück entlarvt werden. Diese metatheatrale Wendung ist ebenfalls bereits bei Beckett vorgebildet.233 Seine selbstbezügliche Dramaturgie bereitet das postdramatische ‚Theatertheater‘, das diese Tendenz noch zuspitzt, wesentlich vor. Bereits die paradigmatische Regieanweisung der stummen Eingangssequenz („même jeu“) markiert diese selbstbezügliche Theatralität: Alles ist ein Spiel. Diese dramaturgische Grundidee von Becketts Theater kehrt auch in den Gesprächen und Handlungen der Protagonisten immer wieder: Wechselrede wird mit der Metapher des Ballspiels umschrieben: „Voyons, Gogo, il faut me renvoyer la balle de temps en temps.“ (16) („Hör mal, Gogo, du mußt mir von Zeit zu Zeit den Ball zuspielen.“ [17]) Hamm aus Fin de partie führt sich ein mit den Worten: „… A … bâillements … à moi. Un temps. De jouer“ („… Also … er gähnt … Ich bin wieder dran. Pause Jetzt spiele ich !“ 234). Er verabschiedet sich mit einem Fazit des Spiels: „Puisque ça se joue comme ça […] jouons ça comme ça […] et n’en parlons plus“ („Da es so gespielt wird […] spielen wir es ebenso […] und kein Wort mehr darüber“ 235). In Becketts eigener Inszenierung von 1967 hielt er sich das Taschentuch, das er bei seinen Reden beständig auseinander- und wieder zusammenfaltet, zunächst wie einen Theatervorhang vor das Gesicht und hob es mit Beginn seines Auftritts: „à moi […] De jouer“.236 Die Metatheatralität von En attendant Godot wird auch durch die zahlreichen Slapstickeinlagen markiert, die stets kommentiert werden: Als Beispiel sei Luckys kurze Tanzeinlage „La danse du filet“ („Der Netztanz“) genannt, nach der die erwartungsvollen Zuschauer Estragon und Vladimir mit einem enttäuschten „C’est tout?“ („Ist das alles?“) zurückbleiben (80–83). Zum Platzhalter des unterschlagenen Spektakels wird wiederum das Reden: Nachdem der zweite Tanzversuch ähnlich dürftig endet, evoziert Pozzo ausladend Luckys verlorene tänzerische Fähigkeiten: „Autrefois, il dansait la farandole, l’almée, le branle, la gigue, le fandango et même le hornpipe“ (80). Bereits der erste Auftritt von Pozzo und Lucky wird mit Theatermotiven kommentiert „On se croirait au spectacle“ („Wie im Theater“) und die Spezifizierungen „Au cirque“ und „Au music-hall“ (68) sind immer wieder auch als
233 Lionel Abel ordnet Becketts Stücke in eine Traditionslinie des „Metatheaters“, das er als eigene dramatische Form konturiert und dessen Ursprung er in der Renaissance (Shakespeare, Calderon) sieht (Metatheatre. A new View of Dramatic Form, New York 1963). 234 Samuel Beckett, Dramatische Dichtungen, Bd. 1, S. 212 f. 235 Samuel Beckett, Dramatische Dichtungen, Bd. 1, S. 314 ff. 236 Vgl. Georg Hensel, Da es so gespielt wird, S. 15.
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konkurrierende Selbstbeschreibungen von Becketts eigener Theaterästhetik gedeutet worden.237 Selbstbezüglich ist auch Becketts Sprachgebrauch: Der Sinn einer Aussage wird immer wieder vom Klang überlagert. Typisch ist das ‚Zerreden‘ von Sinn, etwa im Spiel mit den klingenden Vokalen der Namen „Didi“, „Gogo“, „Godin … Godet … Godot“ (70), „Pozzo“ – „C’est Pozzo ou Bozzo? “ (40) – „J’ai connu une famille Gozzo“ (40). Klangfiguren akzentuieren außerdem die Komik der Repliken, etwa die (quasi) paronomastische Verbindung der Verben „se pendre“ und „bander“ Estragon: Si on se pendait? Vladimir: Ce serait un moyen de bander. […] Estragon: Pendons-nous tout de suite. (26) (In der Übersetzung geht dieser Wortwitz hingegen verloren: „Estragon: Sollen wir uns aufhängen?“ Wladimir: „Dann geht nochmal einer ab“ [27])
Hier stellt sich der Impulsgeber Beckett selbst wiederum in eine Tradition wortspielerischer Komik – Alfred Simon verweist auf Becketts Nähe zu den kurzen pointierten Repliken des irischen Kabaretts –238 und trägt diese als ein wesentlicher Mittelsmann weiter in die postdramatische Ästhetik. Jelineks Theatertexte etwa kombinieren auf ganz ähnliche Weise eine teils derbe Sprachkomik – hier inspiriert von der österreichischen Volkstheatertradition – mit einer ‚Zustandsdramaturgie‘ à la Beckett: Als prägnantes Beispiel kann hier ihre „Posse mit Gesang“ Burgtheater gelten (vgl. Kapitel 2.5.3 dieser Arbeit), wo im dauernden Schwadronieren ein Grillparzer-Zitat schon einmal kalauernd ‚verrutschen‘ kann und aus dem hoffnungsfrohen österreichischen Patriotismus („Erhalte Gott dir deinen Jugendsinn“) ein „Erhalte Gott dir deinen LUDERSINN“ wird.239 Um den Akt des Sprechens und die Materialität der Sprache zu akzentuieren, setzt Beckett noch ein weiteres Mittel ein, das postdramatische Diskurse inspirieren konnte. Der Sinn einer Rede wird durch Montage syntaktisch korrekter, aber inhaltlich disparater Satzfragmente, kombiniert mit lautlichen Bezügen, die sich verselbständigen, buchstäblich zerredet: Luckys berühmter pseudowissenschaftlicher Nonsensmonolog (89 ff.) führt vor, wie jemand sich bis zur physischen Erschöpfung um den Verstand redet, was ein knapper Aus-
237 Vgl. Georg Hensel, Da es so gespielt wird, S. 10. 238 Vgl. Alfred Simon, Beckett. Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1988, S. 250. 239 Elfriede Jelinek, Theaterstücke, S. 159. Parodiert wird der Österreich-Lobgesang im dritten Akt von Grillparzers König Ottokars Glück und Ende, V. 1671–1703, hier V. 1702.
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schnitt aus dem viereinhalb Druckseiten umfassenden monotonen Monolog verdeutlichen kann: mais néanmoins couronnées par l’Acacacacadémie d’Anthropopopométrie de Berne en Bresse de Testu e Conard il est établi sans autre possibilité d’erreur que celle afférante aux calculs humains qu’à la suite des recherches inachevées inachevées de Testu et Conard il est établi tabli tabli ce qui suit qui suit qui suit […] (90) („nichtsdestoweniger prämiert von der anthropopopometrischen Akakakakademie in Burg am Berg von Testu und Conard festgestellt wurde bei Ausschaltung aller Fehlerquellen bis auf die von den menschlichen Berechnungen untrennbaren Irrtümer daß im Anschluß an die unvollendeten Forschungen von Testu und Conard festgestellt gestellt gestellt wurde was folgt was folgt was nämlich folgt“ [91])
Gerade die Kombination aus absurdem Nonsens und Bedeutungsresten unterscheidet dieses Verfahren von einem rein lautmalerischen Sprechen, wie es etwa in den Cabarets der Dadaisten vorgeprägt ist, und macht Luckys Monolog anschlussfähig für postdramatische Experimente: Auch Jelineks Sprachkaskaden kombinieren reines Sprachspiel und (evozierten) Sinn, etwa in der finalen „Wortsymphonie“ 240 von Burgtheater, in welcher die verdrängte nationalsozialistische Vergangenheit im absurd verfremdeten Heimatdiskurs an die sprachliche Oberfläche gespült wird als „Die Bremse. Der Alpenklein. Die Bombenzische. Ka Kreuzer im Neck. Der gute Braune. Der Schlagoberbolzen.“ 241 In deutlicher Nachfolge von Becketts absurdem Monolog stehen die eingespielten „Pausentexte“ in Peter Handkes Kaspar (1967/68), die vorgefundenes Sprachmaterial zu einem nicht enden wollenden Nonsens-„Gerede“ montieren. Wie der folgende Ausschnitt zeigt, erhält auch diese Form aus der Verbindung von Absurdität und sinnhafter Anspielung (auf zeitgenössische gesellschaftlichpolitische Debatten) ihre besondere Gestalt: Was früher verboten war ist jetzt mit allen Wassern gewaschen. Jede äußere Ordnung ermöglicht einen ruhigen gemäßigten Gedankenaustausch. Das Weder-Noch halten wir für das Kennzeichen des freien Menschen. Wir müssen uns alle um Verständnis bemühen, wenn ein Toter sich einmal mit der Farbe des Grases schlägt. Ein Mord ist nicht unbedingt mit einem Sturzflug gleichzusetzen! Eine Verbrennung dritten Grades verstopft jeden Benzinautomaten.242
Auch die performative Qualität von Luckys Monolog, der wie eine Sprachfolter (auch für den Zuhörenden) wirkt, hat von den hämmernden Sätzen der Einsa-
240 Elfriede Jelinek, Theaterstücke, S. 188. 241 Elfriede Jelinek, Theaterstücke, S. 188. 242 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 159–163, hier S. 161.
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ger in Handkes Kaspar bis zu den atemlosen Dauermonologen in Jelineks Stücken zahlreiche Nachfolger gefunden. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Postdramatische Stücke erscheinen in vielerlei Hinsicht als konsequente Fortsetzung und Potenzierung von Becketts Ansatz. Die Negation der dramatischen Strukturmerkmale und die Verweigerung von Sinn beziehungsweise Eindeutigkeit lenken bei Beckett wie in der Postdramatik die Aufmerksamkeit auf die Präsenz der theatralischen Mittel und auf das Ereignis des Sprechens und des Spielens (auf das Performative). Der entscheidende Impuls geht jedoch aus von Becketts ‚Zustandsdramaturgie‘: Ein duratives (Warten) und ein iteratives Prinzip (Wiederholung) bestimmen die spezifische theatrale Situation, die anstelle einer Handlung vorgeführt wird – mit entscheidenden dramaturgischen Konsequenzen: Da keine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende erzählt, sondern ein Zustand dauernder Wiederholung vorgeführt wird, könnte das Stück an einem beliebigen Moment einsetzen und abbrechen. Auch die Dauer des Geschehens – die Anzahl der Wiederholungen – ließe sich variieren: Das Warten könnte ewig weitergehen. Diese prinzipielle Offenheit, die in Becketts ‚Zustandsdramatik‘ angelegt ist – auch wenn seine Stücke in Wirklichkeit bis in die kleinste Pause hinein exakt durchkalkuliert sind –, konnte ein neues Verständnis von dramatischen Texten befördern. Postdramatisches Diskurstheater, wie es zugespitzt bei Jelinek begegnet, kann als bewegungsloses ‚Zustandstheater‘ die Textmasse einer Aufführung beliebig variieren: Die zumindest prinzipiell endlose Rede „kann an jeder beliebigen Stelle anfangen und aufhören“,243 wie Jelinek in der einleitenden Regieanweisung der Kontrakte des Kaufmanns (2009) bestätigt.
1.3.3 Die späten minimalistisch-abstrakten Shorter Plays Doch Beckett ist nicht nur ein wesentlicher Impulsgeber; zum Zeitgenossen der Postdramatiker wurde er durch sein Spätwerk: seine experimentellen Shorter Plays und Fernsehstücke seit Mitte der sechziger Jahre.244 Einige der späten Stücke weisen eine deutliche Nähe zur zeitgenössischen Postdramatik auf; radikale Experimente wie Breath (1969) und das Fernsehspiel Quad (1982) beschreiten hingegen einen eigenständigen Weg der Abstraktion.
243 Elfriede Jelinek, Drei Theaterstücke, S. 209. 244 Diese werden im Folgenden in den englischen Originalfassungen zitiert nach der englischen Ausgabe der Collected Shorter Plays, London 1984.
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Eine Nähe zur Postdramatik zeigt sich in Not I.245 In dem 1972 in New York uraufgeführten Stück sind auf dunkler Bühne lediglich ein schwach angeleuchteter Mund und die schattenhafte Gestalt eines Zuhörers zu sehen. Der Mund spricht einen zusammenhanglosen, assoziativen Monolog: Auf sieben Druckseiten reihen sich Satzfetzen, Ausrufe und Fragen, von Punkten unterbrochen. In der dritten Person wird über eine Frau gesprochen: Auch wenn sich die sprechende Stimme von deren Schicksal abgrenzt („Not I“), gewinnt man den Eindruck, sie spreche dennoch von sich selbst:246 „whole body like gone … just the mouth … like maddened … and can’t stop“.247 Mit der Postdramatik vergleichbar ist das demonstrierte Sprechen:248 Wie in Handkes Sprechstücken und Jelineks Sprachflächen sind die Materialität von Sprache und der Akt des Sprechens entscheidend. Dem zusammenhanglosen Inhalt der Rede ist – zumal unter den Bedingungen einer Theateraufführung – schwer zu folgen. Geradezu versinnbildlicht wird dieser sprachperformative Akzent durch den ausgestellten Mund und die Bühnenpräsenz des (schattenhaften) Hörers, die der Szene außerdem einen stark bildlichen Charakter249 verleihen. Sie steht damit dem postdramatischen Theater der Bilder nahe, wie es durch Foreman und Wilson geprägt wurde. Ein Bild von vergleichbarer visueller Kraft bestimmt auch That Time250 (1975): Diesmal steht die Figur des Zuhörers im Zentrum. Sein altes, von weißen Haaren umrahmtes Gesicht erscheint im Spotlight auf der ansonsten dunklen Bühne. Erinnerungsfetzen aus seinem Leben werden über Lautsprecher aus dem Off eingespielt: „Voices A B C are his own coming to him from both sides and above.“ 251 Der Einsatz von Tonbändern erinnert an Krapp’s Last Tape (1958). Technisch reproduzierte Stimmen sind auch ein in der Postdramatik beliebtes Mittel, um die Trennung von Sprache und Körper sowie von Vergangenheit und Gegenwart zu inszenieren:252 In Handkes stummem Stück Das
245 Samuel Beckett, Collected Shorter Plays, S. 213–223. 246 Diese Deutung schlägt auch Alfred Simon, Beckett, S. 290, vor. 247 Samuel Beckett, Collected Shorter Plays, S. 221. 248 Theresia Birkenhauer interpretiert in ihrer Studie zum Theater als Schauplatz der Sprache Becketts Kurzstücke und insbesondere sein Stück Not I als inszeniertes „Sprechen auf der Bühne“ (Schauplatz der Sprache, bes. S. 130–210). 249 Birkenhauer qualifiziert Becketts späte Stücke als „Bastarde zwischen Sprache und Bild“ (Schauplatz der Sprache, S. 132). Wie sehr die visuelle Wirkung gegenüber der inhaltlichen Aussage hervortritt, beschreibt Alfred Simon, Beckett, S. 291: „Die faszinierende Gegenwart des Mundes hat eine größere dramatische Wirkung als der Inhalt dieser verbrämten Beichte“. 250 Samuel Beckett, Collected Shorter Plays, S. 225–235. 251 Samuel Beckett, Collected Shorter Plays, S. 228. 252 Für Axel Schalk ist Beckett ein „Vorreiter einer Theateravantgarde, die schon 1970 die unser Leben bestimmende virtual reality andeutet“ (Das Moderne Drama, S. 180).
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Mündel will Vormund sein (1969), das von Becketts Pantomimen beeinflusst ist, wird auf dunkler Bühne plötzlich „ein lautes Atmen“ eingespielt, das „von einem Tonband über Lautsprecher kommt“.253 Die Beispiele Not I und That Time, die im gesprochenen Wort zumindest noch einen Ansatz von Referenz aufweisen, rücken Beckett in die Nähe eines postdramatischen Bewusstseinstheaters: Wie die Stücke Richard Foremans lassen sie sich als Demonstration mentaler Prozesse deuten, etwa eines vielstimmigen und komplexen Erinnerungsprozesses in That Time. Einen anderen, nicht als postdramatisch zu charakterisierenden Weg schlägt Beckett hingegen mit seinen stummen Kurzstücken ein, etwa in Breath (1969) und Quad (1982). Becketts radikalstes Minimalstück Breath 254 (1969) bringt ihn in direkten Kontakt mit der amerikanischen Theateravantgarde: Eine erste Fassung entstand als Auftragsarbeit für die Off-Broadway-Revue Oh! Calcutta! des englischen Theaterkritikers Kenneth Tynan.255 Text und Handlung folgen dem Prinzip der Reduktion: Die Regieanweisung, aus der das gesamte Stück besteht, nimmt eine halbe Druckseite ein; die präsentierte Bühnenaktion – es ertönen ein Schrei, ein langsames Ein- und Ausatmen, gefolgt von einem zweiten Schrei – dauert 35 Sekunden. In dieser Zeit wird die schwach beleuchtete Bühne, auf der diverser Abfall herumliegt („littered with miscellaneous rubbish“), langsam heller und wieder dunkler.256 Bei aller Nähe seiner radikalen Formexperimente zum postdramatischen Theater hat Beckett mit seinen späten Stücken einen ganz eigenständigen Grad an Abstraktion erreicht. Konsequent reduziert er sein elementares Theater noch weiter. Der Unterschied zu postdramatischen Stücken – bei gleichzeitiger konzeptioneller Nähe – lässt sich an einem Vergleich zwischen Becketts SDRFernsehstück Quad (Quadrat 1 und 2)257 (1982) und Peter Handkes stummem Stück Die Stunde da wir nichts voneinander wußten258 (1992) verdeutlichen: Die grundlegende Gemeinsamkeit zwischen beiden Stücken liegt in ihrer theatralen Ausgangssituation. In beiden Fällen strukturieren die Bewegungen der Spieler einen Bühnenraum.
253 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 198. 254 Samuel Beckett, Collected Shorter Plays, S. 209–211. 255 Vgl. Alfred Simon, Beckett, S. 290. 256 Beckett realisierte 1969 auch eine 35 Sekunden dauernde Kurzfilmversion von Breath. Vgl. Gaby Hartel und Carola Veit, Samuel Beckett, S. 129 f., die den Einfluss des Films auf zeitgenössische bildende Kunst, auf Marina Abramović’ Breathing In/Breathing Out (1977) und Damien Hirsts Remake-Video von Breath (2001) zeigen. 257 Samuel Beckett, Collected Shorter Plays, S. 289–294. 258 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 143–176.
Samuel Beckett: Vorbild und Zeitgenosse
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In Becketts „piece for four players, light and percussion“ 259 wird eine quadratische Fläche von den stummen Spielern auf vier vorgeschriebenen Bahnen an den Längs- und Querseiten sowie über die Diagonalen abgeschritten, wobei genau festgelegte Ausweichmanöver um den Mittelpunkt ein gegenseitiges Durchkreuzen der Bahnen verhindern; Perkussionsrhythmen – jedem Gehenden ist ein bestimmtes Schlaginstrument zugeordnet – untermalen die spezifischen Schrittgeräusche („Each player has his particular sound“ 260); die bodenlangen unifarbenen Umhänge, deren Kapuzen die Gesichter verdecken, sorgen für ein abwechslungsreiches Kombinationsspiel der drei Primärfarben mit Weiß.261 Der Stücktext entwirft das Szenario als neutrale Beschreibung, die aus einfachen Aussagesätzen (Subjekt, Prädikat, Objekt) besteht. Spieler und Raumpunkte sind durch Ziffern und Großbuchstaben dargestellt: „1 enters at A, completes his course and is joined by 3.“ 262 Beigegeben sind zwei Skizzen des Parcours und schematische Darstellungen der Bewegungsabläufe („Course 1: AC, CB, BA, AD, DB, BC, CD, DA“ 263). Auf ganz ähnliche Weise beschreiten und gliedern in Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) mehrere stumme Spieler einen elementaren Bühnenraum: Ihre Bahnen verlaufen zunächst, von links und rechts kommend, parallel zur Rampe, „dann kreuzen zwei einander, ebenso, ein jeder in kurzem, gleichbleibendem Abstand gefolgt von einem dritten und vierten, in der Diagonale“.264 Auch der demonstrierte Rhythmus, in dem sich ein Gehender „seinen Takt vorgibt“, erinnert an die Percussions, die bei Beckett die Schrittrhythmen untermalen. Doch auch wenn Handkes minimalistischer Einstieg als Anspielung auf Becketts Stück verstanden werden kann, so entwickelt sich das Spiel signifikant anders als bei Beckett. Denn Handkes Platz belebt sich zusehends: Ganz unterschiedliche Gestalten – etwa ein „Angler“, ein „Platzkehrer“, eine „Schönheit“, ein „Platznarr“ – treten auf und ab, fragmentarische Episoden entstehen. Auch wenn keine kohärenten Geschichten erzählt werden, wird das Spiel damit zunehmend referentialisiert. In der typisch postdramatischen Ambivalenz wird jedoch zugleich die Selbstbezüglichkeit des Spiels markiert, etwa
259 Samuel Beckett, Collected Shorter Plays, S. 291. 260 Samuel Beckett, Collected Shorter Plays, S. 292. 261 Die entsprechenden farbigen Lichter, die im Entwurf jedem Spieler zugeordnet sind, wurden in der Filmversion nicht umgesetzt, sondern durch „[c]onstant neutral light throughout“ ersetzt (Samuel Beckett, Collected Shorter Plays, S. 293). 262 Samuel Beckett, Collected Shorter Plays, S. 291. 263 Samuel Beckett, Collected Shorter Plays, S. 291. 264 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 549.
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wenn die Ebenen des Dargestellten und der Darstellung, der Rolle und des Schauspielers in Formulierungen wie „Einer überquert den Platz […] als Angler“ 265 unterschieden sind. Anders als das bunte Treiben in Handkes Stück stellt Becketts abstraktes Geschehen weder einen Welt- noch einen Theaterbezug her, sondern erschöpft sich in der Präsentation von geometrischer Bewegung, Rhythmus und Licht. Eine inhaltliche Interpretation kann allenfalls allegorischen oder Parabelcharakter haben: So wurden die gleichförmig ihre Bahnen ziehenden Geher gedeutet als „a sort of parable about society – society as an ensemble of ‚monads‘“.266 Grundlegend unterscheiden sich beide Stücke auch darin, aus welcher Distanz das Geschehen beschrieben wird. Während Becketts Szenario den neutralen Standpunkt des Beschreibens beibehält, der mit seinen Ziffern, Buchstaben und grafischen Elementen extrem formalisiert und technisch wirkt, wird die Beschreibung bei Handke immer stärker subjektiviert: Spekulationen, Fragen, Unsicherheiten und Korrekturen lassen einen perspektivischen Beobachter als Urheber des Textes erkennen, der sich sogar unvermittelt als sprechendes Ich artikuliert – beim Anblick einer „Schönheit, die sich plötzlich nach mir! umdreht“.267 Erkennt man die schillernde Referenz und die Subjektivierung des Theatertextes als spezifische Kennzeichen der Postdramatik an, so geht Beckett mit seinen späten Stücken einen eigenständigen Weg, der in die vollständige Abstraktion führt.268 Durch die demonstrierte Performanz – gerade in der Reduktion von Raum, Bewegung, Rhythmus und Licht werden diese theatralen Grundelemente besonders herausgestellt – weist Becketts Quad allerdings auch grundlegende Berührungspunkte mit postdramatischer Ästhetik auf. Doch sind seine Bühnenaktionen so minutiös festgelegt – wie die 35 Sekunden von Breath oder die auf sechs Schritte berechnete Seitenlänge von Quad –, dass sie den anarchisch offenen Textstrukturen postdramatischer Stücke, die der Rezeption und einer theatralen Umsetzung häufig programmatisch jegliche Freiheiten einräumen, geradezu diametral entgegenstehen.
265 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 550. 266 Hans H. Hiebel, Quadrat 1 und 2 as a Television Play. In: Beckett in the 1990s, hg. von Marius Buning und Lois Oppenheim, Amsterdam und Atlanta, GA 1993, (Samuel Beckett Today/Aujourd’hui 2) S. 334–344, hier S. 336. 267 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 561. 268 Am Beispiel von Breath qualifiziert Axel Schalk in seiner historischen und systematischen Studie zum moderne[n] Drama den späten Beckett als einen Autor, bei dem das „mimetische Prinzip der Dramatik […] völlig aufgehoben“ sei zugunsten einer radikalen „Abstraktion und Reduktion“ (Das moderne Drama, S. 179).
2 Politische oder ästhetische Revolution? Die Gründungsphase der Postdramatik (1965–1984) 2.1 Anregungen/Tendenzen: Theater im Zeichen der Studentenrevolte Peter Handkes Publikumsbeschimpfung (1966) kann als Geburtsstunde der Postdramatik gelten. Die Theatersituation wird radikal umgestoßen: Es sprechen keine Figuren miteinander; vier Sprecher kommen auf die Bühne und wenden sich direkt ans Publikum. Ihre rhythmische, von Wiederholungen, Verneinungen und Widersprüchen strukturierte Sprachkanonade hat musikalische Qualität. Der Sinn ihrer Rede tritt hinter das Ereignis des Sprechens zurück. Ihre Suada macht jedoch unmissverständlich deutlich, dass es sich hier um eine Absage an herkömmliche Dramatik, an Einfühlungstheater und Klassikerpflege handelt. Stattdessen wird in anarchistischer Lust das Lebensgefühl eines Beatniks auf die Bühne gebracht. Die radikale Provokation des bürgerlichen Theaters traf den Nerv der Zeit. Das Stück wurde weniger aufgrund seines Gehalts und seiner sprachlichen Form als durch den Gestus der Revolte als politisch wahrgenommen.1 Handkes frühe Stücke zeigen paradigmatisch die Spannung, in der die frühe Postdramatik steht: Ihr Beginn steht deutlich im Zeichen einer allgemeinen Politisierung der Kunst: Postdramatische Formexperimente wirken einerseits – allein durch provokative Sinnverweigerung oder Rätselhaftigkeit – politisch. Andererseits wurden sie aufgrund ihres spielerischen und selbstbezüglichen Formalismus von Puristen der politischen Kunst als elitär und ästhetizistisch abgelehnt: Deutlich wurde diese Spannung bei der Uraufführung von Handkes Kaspar am 11. Mai 1968, dem Tag des Sternmarsches der sogenannten Außerparlamentarischen Opposition auf Bonn. Das Stück wurde von der Kritik als geglücktes Beispiel aktuellen politischen Theaters gelobt, während Mitglieder der APO es als irrelevant ablehnten und die Aufführung störten.2 1 Ein aktueller Sammelband von Ingrid Gilcher-Holtey, Dorothea Kraus und Franziska Schößler (Hg.) zeigt auf dem Titelblatt ein Szenenfoto von Claus Peymanns Uraufführung der Publikumsbeschimpfung (Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation, Frankfurt a. M. 2006). Die Einleitung des Bandes beginnt mit dem Beispiel der Publikumsbeschimpfung, deren „politische[r] Impetus nicht aus konkreten Themen oder Inhalten, sondern aus einem Bruch mit vertrauten gesellschaftlichen Wahrnehmungsmustern und Erwartungshaltungen“ (S. 7) komme. 2 Zur Debatte um Handkes Kaspar vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Dorothea Kraus und Franziska Schößler (Hg.), Politisches Theater nach 1968, S. 8.
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Denn die zunehmende Politisierung durch Studentenbewegung und APO forderte auch das Theater heraus, das sich in Kritik am dramatischen Kanon, der Gattung Drama und der Institution übte.3 Mit der Politisierung seit den sechziger Jahren gehen zwei Tendenzen einher: eine Renaissance des politischen, sozialkritischen Dramas und eine Suche nach alternativen Theaterformen jenseits des Stadttheaters. Beide prägen auch die Entwicklung des Postdramas, dessen Anfänge in diese politisierte Zeit fallen. Deshalb sei der zeitgenössische Kontext mit Blick auf die beiden dominierenden Tendenzen knapp umrissen: Die politische Dramatik wurde bereits Mitte der sechziger Jahre mit dem politischen und dokumentarischen Theater von Peter Weiss, Rolf Hochhuth und Heinar Kipphardt wiederbelebt. Stücke wie Hochhuths Der Stellvertreter (1963) und Weiss’ Die Ermittlung (1965) prangerten die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit an, indem sie das Publikum mit dem historischen Material konfrontierten. Das Thema von Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964) reichte über Kriegszeit und McCarthy-Ära hinaus in die aktuelle Wirklichkeit des atomaren Wettrüstens im Kalten Krieg.4 Weitere Stücke widmeten sich auch aktuellen politischen Themen wie den Folgen des Kolonialismus und dem Vietnamkrieg. Stellvertretend genannt sei Peter Weiss’ Viet Nam Diskurs (1968). Konjunktur hatte außerdem das Revolutionsstück: An die musterbildenden Stücke, Peter Weiss’ Marat/Sade (1964) und Der Lusitanische Popanz (1967), schlossen Revolutionsdramen an wie Tankred Dorsts Toller (1968), Hans Magnus Enzensbergers Verhör von Habana (1970) und Gaston Salvatores Büchners Tod (1972).5 Das Revolutionsmotiv erscheint zugleich als Krisensymptom politischen Theaters: Es lässt sich mit Jürgen Schröder als eine „hoffnungslose Ästhetisierung des Politischen“,6 also als Ausdruck von Geschichtspessimismus lesen, der im Kontrast zur Aufbruchstimmung der Studentenbewegung steht. Ein Stück wie Marat/Sade zeigt durch seine Absage an dramatische Handlung – und handelnde Figuren – sowie durch seine Metatheatralität auch eine formale Verwandtschaft mit dem postdramatischen Theater beziehungsweise kann als
3 Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Dorothea Kraus und Franziska Schößler (Hg.), Politisches Theater nach 1968, S. 9. 4 Zu diesen zeitgeschichtlichen Bezügen vgl. Jürgen Schröder, Das „dramatische“ Jahrzehnt der Bundesrepublik. In: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, hg. von Wilfried Barner, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, München 2006, S. 463–501, hier S. 479. 5 Die „auffällige Reihe der Revolutionsdramen“ ist dokumentiert und analysiert in: Jürgen Schröder, Das „dramatische“ Jahrzehnt der Bundesrepublik, S. 464. 6 Jürgen Schröder, Das „dramatische“ Jahrzehnt der Bundesrepublik, S. 483.
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dessen unmittelbarer Vorläufer gelten. Allerdings steht Peter Weiss, der zudem einer älteren Dramatiker-Generation angehört, in anderen Traditionslinien als etwa die Postdramatiker Handke und Jelinek. Marat/Sade erscheint demnach eher als eine direkte Fortschreibung und Weiterentwicklung des absurden Theaters, von dem die Postdramatiker lediglich Impulse aufnehmen und transformieren. Dem aufklärerischen und didaktischen Gestus des Dokumentartheaters stand der junge Handke zudem kritisch gegenüber: „Das ist keine Dokumentation“,7 lässt er seine Sprecher der Publikumsbeschimpfung ausrufen.8 In seinem Rückblick auf das Theaterjahrzehnt 1965–1975 konstatiert der Theaterkritiker Günther Rühle eine Dynamik „[v]om politischen zum aktivistischen Theater“ 9 und markiert den Übergang am Beispiel der Münchner Premiere von Peter Weiss’ Viet Nam Diskurs in der Regie von Peter Stein. Nach der Aufführung überschritten die Spieler die Rampe, um beim Publikum Geld für den Vietcong zu sammeln – diese „Verletzung der Spielregeln von Theater in der westdeutschen Gesellschaft“ 10 provozierte einen Skandal, in dessen Folge Peter Stein und einige Schauspieler die Kammerspiele verlassen mussten. Die Inszenierung wurde abgesetzt.11 Für Rühle ist dieser Skandal typisch für die zunehmende Identifikation der Schauspieler mit dem Dargestellten,12 die bis zum politischen Glaubensbekenntnis reichte. Als Beispiel einer damit einhergehenden Art von Gesinnungsdramatik sei hier Michael Hatrys Agitprop-Collage Notstandsübung (1968) genannt, mit welcher der Dramaturg des Ulmer Theaters Ereignisse und Vorgeschichte des 2. Juni 1967, dem Tag der Erschießung Benno Ohnesorgs, vergegenwärtigen wollte.13 Die Suche nach neuen Theaterformen jenseits des Stadttheaters schlug sich in einer bunten alternativen Szene mit Straßentheater, Happening, Kin-
7 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 17. 8 Gesellschaftliche Relevanz beanspruchte auch das neue sozialkritische Volksstück, das sich seit Mitte der sechziger Jahre entwickelte und mit dem zeittypischen Gestus des ‚Antitheaters‘ auftrat: mit jungen Autoren wie Martin Sperr (Jagdszenen aus Niederbayern, 1966/67) und Franz Xaver Kroetz (Stallerhof, 1971). Rainer Werner Fassbinders Stücke, etwa sein Katzelmacher (1968), wurden als Antiteater von der gleichnamigen Fassbinder-Truppe aufgeführt. Doch provozierten die neuen Volksstücke weniger durch formale Experimente – sie sind dialogisch und fabelgestützt – als durch die direkte Darstellung gesellschaftlicher Außenseiter, archaischer Gewalt und (sexueller) Tabus. 9 Günther Rühle, Theater in unserer Zeit, Frankfurt a. M. 1976, S. 233–260. 10 Günther Rühle, Theater in unserer Zeit, S. 235. 11 Vgl. Günther Rühle, Theater in unserer Zeit, S. 235. 12 Vgl. Günther Rühle, Theater in unserer Zeit, S. 236. 13 Zu Hatrys Stück und anderen Beispielen des Agitproptheaters vgl. den knappen Aufriss zeitgenössischer Bühnen/Polit-Stücke. In: Der Spiegel 14, 1968, S. 184 f.
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der- und Jugendtheater nieder.14 Die politisierte Stimmung und eigene Theatralität der Studentenrevolte, welche diese Entwicklung maßgeblich beflügelte, fängt wiederum der Chronist jener Theaterjahre, Peter Rühle, ein: Die Studentenbewegung […] entwickelte schnell ihre eigene Theatralik; in Demonstrationen, die sich mit Spruchbändern farbig machten, in Laufschrittmärschen, […] mit eigenen akustischen Signalen wie dem Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh-Klatschen, provokativen Wortkaskaden, […], durch go- und teach-ins in den Universitäten, durch Happenings während der Vorlesungen oder in Wahlversammlungen, durch spontane und gezielte Aktionen zur Durchbrechung der gewohnten Verhaltenskonventionen, durch Verwandlung von Einkaufs(Konsum-) Straßen in Debattierstätten, durch Schau- und Zurschaustellungen vielerlei Art.15
Peter Handke hat in seinem programmatischen Aufsatz Straßentheater und Theatertheater (1968) bei aller Faszination für die alternative Theaterszene deren Gegensatz zum künstlerischen ‚Theatertheater‘ markiert:16 Die politische Revolte drängt für Handke theatralisierend in den öffentlichen Raum: Das engagierte Theater findet heute nicht in den Theaterräumen statt […], sondern zum Beispiel in Hörsälen, wenn einem Professor das Mikrofon weggenommen wird […], wenn von Galerien Flugblätter auf die Versammelten flattern […], wenn die Kommune [gemeint ist die Berliner Kommune 1, H.K.] die Wirklichkeit, indem sie sie „terrorisiert“, theatralisiert. […] Es gibt jetzt das Straßentheater, das Hörsaaltheater, das Kirchentheater […], das Kaufhaustheater etc.17
Nur sollte diese Theatralik der politischen und sozialen Wirklichkeit für Handke niemals auf dem Theater nachgestellt werden, wo ihr ernsthaftes Anliegen durch den genuinen Spielcharakter von Theater hoffnungslos „verspielt“ werde: „Wann wird man die Verlogenheit, die ekelhafte Unwahrheit von Ernsthaftigkeiten in Spielräumen endlich erkennen?“ 18 Ein politisches Theater à la Notstandsübung lehnt Handke also dezidiert ab. Zugleich verteidigt er das freie Spiel auf dem Theater: Sein künstlerisches Bekenntnis gilt einem „Theatertheater“, das er – in der typisch selbstreflexiven und subjektivierenden Wendung des postdramatischen Theaters – als „Spielraum zur Schaffung bisher unentdeckter innerer Spielräume des Zuschauers“ definiert.19 Die politisch-gesell-
14 Brigitte Marschall bündelt diese Tendenzen politischen Theaters unter dem Motto: „Als das Theater die Theater verließ“ (Politisches Theater nach 1950, Wien u. a. 2010, S. 457). 15 Günther Rühle, Theater in unserer Zeit, S. 235 f. 16 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 51–55. 17 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 51 f. 18 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 53. 19 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 54.
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schaftliche Utopie dieses Theaters, das ein „Empfindlichmachen“ und „Reizbarmachen“ bewirken soll, ist dann nur mehr indirekt definiert: Allenfalls schaffe es „die Voraussetzungen, die Voraus-Sätze für die neuen Denkmöglichkeiten“.20 Letztlich formuliert Handkes Essay ein Plädoyer gegen die politische Indienstnahme von Kunst und für ihre radikale Autonomie. Die Gründungssituation des Postdramas zeigt sich in der spezifischen Spannung zwischen politischem Engagement und ästhetischer Autonomie: Denn im selben Atemzug zeigt sich Handke begeistert vom politischen Protest der Studentenbewegung, für das ‚wirkliche‘ engagierte Theater vor allem der Kommune 1, die „(hoffentlich) so lange spielen [wird], bis die Wirklichkeit ein einziger Spielraum geworden ist.“ 21 Eine geglückte Verbindung von Politik und Kunst fanden junge Autoren und Theaterleute im Vorbild der amerikanischen Theateravantgarde: Während das politische Agitprop-Theater, das in Europa im Umkreis der 68er-Bewegung entstand, eher ein antikünstlerisches „dürres Sprechtheater“ 22 pflegte, entwickelte sich in den USA im Bannkreis von Pop Art, Underground, Hippiekultur, Studentenprotesten und Anti-Vietnamkriegsbewegung die alternative Theaterszene als kreative neue Avantgarde. Ihre Strahlkraft – nicht zuletzt als Impulsgeber des postdramatischen Theaters, ein Aspekt, der in der Forschung bisher vollkommen vernachlässigt wurde – soll im folgenden Kapitel dargelegt werden. Pop Art, Happening und Theaterkollektive wie das ekstatische Living Theatre und das Bread and Puppet Theatre, die regelmäßig auf europäischen Theaterfestivals, etwa in Avignon oder auf der Frankfurter experimenta, auftraten, wurden zu international prägenden Mustern. Daneben beeinflussten zeitgenössische Tendenzen in der bildenden Kunst, die sich zunehmend theatraler Mittel bediente, die Gründungsphase der Postdramatik.
2.2 Intermediale Prägungen: Die internationale HappeningBewegung Die Gründungstexte der Postdramatik sind stärker mit performativen Tendenzen aus der bildenden Kunst wie Happening-, Performance- und Aktionskunst verbunden als mit der zeitgenössischen Dramatik. Diese These soll ein Über-
20 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 54. 21 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 55. 22 Vgl. Dieter Herms, Agitprop USA. Zur Theorie und Strategie des politisch-emanzipatorischen Theaters in Amerika seit 1960, Kronberg i.Ts. 1973, S. 49.
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blick über wichtige Vertreter dieser Strömungen stützen: Das Spektrum reicht von den ersten Happenings, die in den fünfziger Jahren in Wien (Wiener Gruppe) zeitgleich mit der New Yorker Bewegung entstanden (Allan Kaprow), über die vielfältigen Aktionen des Wiener Aktionismus und der freien Theaterszene in New York bis hin zu Theaterkünstlern wie Robert Wilson und Richard Foreman, die inzwischen bereits als Klassiker der zeitgenössischen Theateravantgarde gelten. Wenn diese Tendenzen hier in Zusammenhang mit dem postdramatischen Theater Handkes, Jelineks und Müllers gesetzt werden, sollen weniger direkte Einflüsse gezeigt als vielmehr wirkmächtige Tendenzen und Verflechtungen einer internationalen ‚performativen Wende‘ (Fischer-Lichte) erhellt werden. Diese stellen die postdramatischen Gründungsstücke in einen weiteren literatur-, theater- und kulturgeschichtlichen Kontext.
2.2.1 Happening – Fluxus – Pop Art: Neue Notationsformen Vor dem Hintergrund der literarischen Postdramatik sollen vor allem die neuen Notationsformen der performativen Kunst betrachtet und wegweisende Dokumentationen und Anthologien vorgestellt werden: Die Aktionen, die oft nur ein einziges Mal aufgeführt werden, sind in planenden oder resümierenden Verlaufsprotokollen, Szenarien und Aufführungsbeschreibungen, Text-BildKombinationen mit Fotografien und zeichnerischen Skizzen, Partituren, Tabellen sowie Begleitmaterial wie Plakaten, Programmzetteln und Presserezensionen dokumentiert. Alle diese offenen Text-Formen stellen nicht zuletzt wichtige Impulse für eine Transformation der dramatischen Gattung dar. Das Muster der Aufführungsbeschreibung oder der erzählten Aufführung, das in den Regieanweisungen postdramatischer Texte immer wieder begegnet, ist in der Happening- und Performance-Bewegung vorgebildet, die einmalige Aktionen in kommentierten Beschreibungen ‚verewigt‘. In postdramatischen Texten wie Peter Handkes stummen Stücken Das Mündel will Vormund sein (1969) und Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992), die aus der Zuschauerperspektive eine Aufführung entwerfen beziehungsweise erzählen, bietet dieses Muster die Möglichkeit, einen performativen Akzent in den Texten selbst zu setzen. Die Analyse dieser Textformen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Happening- und Performance-Kunst kann die kulturgeschichtliche Verortung des Postdramas profilieren. Die Happening-Bewegung entstand Ende der fünfziger Jahre parallel in den USA und Europa. Mit ihr verbinden sich Namen wie Allan Kaprow und Wolf Vostell, Künstlergruppen wie die Wiener Gruppe, die internationale Fluxus-Bewegung mit ihren prominenten Mitgliedern Joseph Beuys, John Cage,
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Nam June Paik und Ben Vautier sowie die Wiener Aktionisten. An der Schnittstelle zwischen Bildender Kunst und Theater angesiedelt, beeinflusste diese Strömung auch politische und performative Tendenzen der zeitgenössischen Dramatik. Happenings verließen die herkömmlichen Präsentationsformen bildender Kunst und eroberten den öffentlichen Raum. Aktionen fanden in Privatwohnungen, auf der Straße, auf öffentlichen Plätzen oder in Galerieräumen statt. Interaktive Aufführungssituationen förderten den Kontakt mit dem Publikum, das, etwa in den Happenings Wolf Vostells, genaue Anweisungen erhielt und zum eigentlichen Akteur wurde. Programmatisch forderte die HappeningBewegung, die Grenze zwischen Kunst und Leben aufzuheben: Alltagsverrichtungen wurden theatralisiert und ausgestellt – etwa das Fegen von Abfall in Allan Kaprows berühmter Aktion Sweeping (1962).23 Der Happening-Pionier Wolf Vostell bündelt diese Merkmale in einer Definition: Happening: Inszeniertes oder improvisiertes Geschehnis; Phasen aus der Realität. Darstellung von Fakten, Tatsachen, Träumen ohne Bindung an feste Räume; sondern an vielen Stellen der Stadt. Nämlich an den Stellen, an denen ursprünglich die Ereignisse stattfinden, z. B. Flugplatz, Autofriedhof, Schlachthaus, Hochgarage etc. Der Zuschauer wird aktiv ins Geschehen miteinbezogen, oder der Verlauf des Happening wird auch seiner Verantwortung übertragen.24
Viele Aktionen sind stark an die Person des ausführenden Künstlers gebunden – man denke an die ‚schamanische‘ Gestalt Joseph Beuys, der als Der Chef 1964 neun Stunden in eine Filzrolle eingewickelt gemeinsam mit zwei toten Hasen in der Berliner Galerie René Block ausharrte25 oder an den südfranzösischen Künstler und Besitzer eines Schallplattenladens Ben Vautier, der sich mit einem Schild auf die Bühne setzte: „regardez moi cela suffit.“ 26 Mitte der sechziger Jahre war ‚Happening‘ bereits zum Modebegriff geworden, wie Jürgen Becker im Vorwort seiner gemeinsam mit Wolf Vostell 1965 herausgegebenen Dokumentation Happenings. Fluxus. Pop Art. Nouveau Réalisme einleitend feststellt. Diese Konjunktur nehmen die Herausgeber zum Anlass, die prägenden Tendenzen bis 1964 zu präsentieren. Die Anthologie er-
23 Eine von Tomas Schmit ins Deutsche übersetzte Beschreibung Kaprows findet sich in: Jürgen Becker und Wolf Vostell (Hg.), Happenings. Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme. Eine Dokumentation, Reinbek bei Hamburg 1965, S. 341 f. 24 Jürgen Becker und Wolf Vostell (Hg.), Happenings, S. 46. 25 Vgl. die Abbildung in: Jürgen Becker und Wolf Vostell (Hg.), Happenings, S. 282. 26 Jürgen Becker und Wolf Vostell (Hg.), Happenings, S. 138.
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schien in hoher Auflage als preiswertes Rowohlt-Paperback. Den dokumentarischen Charakter dieses Standardwerks betont die Einleitung programmatisch – als ‚Momentaufnahme‘ einer dynamischen, performativen Kunst: Dieses Buch ist eine Dokumentation. Das heißt, die vorgeführten Phänomene werden nicht weiter umschrieben, sondern sie stellen sich selber dar: in Fotos, Partituren, Manifesten, Chroniken. […] Daß Happenings das Thema dieses Buches stiften, gründet in der Ansicht der Herausgeber, daß sie den hier vorgeführten darstellenden Künsten ihre Tendenz zur Aktion, zum Ereignis erklären.27
Die Dokumentation ist in die jeweils reich bebilderten Abteilungen „Realitäten“, „Fluxus“ und „Happenings“ unterteilt. Die Abteilung „Fluxus“ enthält etwa eine ‚offene‘ Partitur von George Maciunas, Musik für Jedermann (1961) betitelt:28 Die leeren Kästchen einer Tabelle mit Längs- und Querspalten visualisieren die Aufeinanderfolge und Simultaneität der Klänge, die aus mechanischen Geräuschen mit festen oder flüssigen „leblose[n]“ Körpern (rollen, schütteln, werfen, fallen lassen) und menschlichen Lauten bestehen. Nach dem – auf beliebige oder systematische Weise – erfolgten Ausfüllen des Gitters können für eine Aufführung „beliebige kategorien […] in beliebiger kombination verwandt werden“.29 Diese programmatische Offenheit ähnelt postdramatischen Texten, die etwa, wie Handkes Publikumsbeschimpfung, die „Reihenfolge des Sprechens“ als „beliebig“ angeben30 oder, wie Jelineks Sprachflächen, auf Figurenzuweisungen verzichten. Es ist diese spezifische Spannung von Festlegungen – hier einer Fülle von systematisierten Klängen – und Offenheit, die auch die literarische Postdramatik auszeichnet, deren streng gebaute Textstrukturen – man denke an die rhythmisierten Wortkaskaden Jelineks – zugleich offen für Streichungen, Umstellungen, Ergänzungen sind. Die Theater-Szenarien der Happening-Dokumentation entwerfen neue Bühnensituationen und provozieren demonstrativ als Antitheater: Direkten Publikumskontakt und das Überschreiten herkömmlicher Aufführungssituationen zeigt exemplarisch Tomas Schmits Sensatorium Maximum, eine folge von Aktionen AM Publikum31 (1964). Diesem werden von den Akteuren Alltagsgegenstände (Wattebausch, Seife, Bonbons, Geld) in die Hand gedrückt, Küsse
27 Jürgen Becker, Einführung. In: Happenings, hg. von Jürgen Becker und Wolf Vostell, S. 7– 18, hier S. 18. 28 Jürgen Becker und Wolf Vostell (Hg.), Happenings, S. 207–214. 29 Jürgen Becker und Wolf Vostell (Hg.), Happenings, S. 207. 30 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 14. 31 Tomas Schmit, Sensatorium Maximum, eine Folge von Aktionen AM Publikum. In: Happenings, hg. von Jürgen Becker und Wolf Vostell, S. 246–250.
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verabreicht und Beobachtungen ins Ohr geflüstert – alles in der Absicht, „ETWAS ZU MACHEN, FÜR JEMANDEN (: theater), OHNE etwas zu bringen, was die Leute von der Realität ablenken könnte.“ 32 Als Antitheater erscheinen auch die Theater (Vorschläge) Ben Vautiers,33 in denen das Publikum durchsucht und durchgeprügelt werden soll, der Vorhang „immer mitten in der Szene“ fällt, die Zuschauer die Dekoration selber aufbauen müssen und ein Stück darin besteht, dass der Autor „Ben“ auf die Bühne tritt: „Da ist mein Stück, suchen Sie es – Er wirft ein Geldstück in den Zuschauerraum – Vorhang.“ 34
2.2.2 Wolf Vostell und Bazon Brock zwischen Performance und Theater Die Happenings wurden auch im Kontext des Theaters rezipiert, wie zahlreiche fruchtbare Kooperationen beider Kunstsparten belegen: Aktionisten wie Wolf Vostell (Jahrgang 1932) und Bazon Brock (geboren 1936) beispielsweise entwickelten Formate für das Stadttheater. Vorgestellt seien hier stellvertretend Vostells Theaterhappening In Ulm und um Ulm und um Ulm herum (1964) und Brocks Pop Art-Stück Positionen (1966) sowie Joseph Beuys’ Zusammenarbeit mit Claus Peymann und Wolfgang Wiens, die 1969 auf dem Frankfurter Avantgardetheaterfestival experimenta 3 die Aktion Titus Andronicus/Iphigenie realisierten: Die Textmontage aus Goethe- und Shakespeare-Zitaten wurde, von Peymann und Wiens gelesen, über Lautsprecher eingespielt, während Beuys gemeinsam mit einem lebenden Schimmel auf der Bühne agierte. Der besondere Reiz dieser Darbietung lag, wie sich der Rezension von Peter Handke entnehmen lässt,35 in dem kontrastiven wie komplementären Verhältnis von Text und Aktion. Handke konstatiert vor allem die Provokation des Zuschauers, der angesichts der Spannung zwischen den verlesenen Versen und Beuys’ scheinbar sinn- und bezugsloser „ritueller Gestik“ zunächst ratlos und dann zunehmend ungehalten reagiert: „Man ertappte sich dabei, daß man unwillig wurde, weil die Aktionen sich wiederholten.“ 36 Diesen Unmut wendet er dann jedoch – ganz im Sinne der postdramatischen Wirkungsästhetik – in eine produktive
32 Tomas Schmit, Sensatorium Maximum, S. 246. 33 Tomas Schmit, Sensatorium Maximum, S. 253–257. 34 Tomas Schmit, Sensatorium Maximum, S. 253. 35 Peter Handke, Die „experimenta 3“ der Deutschen Akademie der darstellenden Künste. In: Die Zeit, 13. Juni 1969. Wiederabgedruckt in: Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 102–111, vgl. zu Beuys bes. S. 103–105. 36 Peter Handke, Die „experimenta 3“, S. 103.
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Herausforderung, an der Synthese der theatralen Elemente mitzuwirken. Diese „Aktivität des Zuschauers“ bestimmt er wiederum nicht aktionistisch, sondern als in sich gekehrte „ruhige, klare Reflexion beim distanzierten, angestrengten Zuschauen“.37 Diese kontemplative Arbeit des Zuschauers, die Handke hier entwirft, nimmt die Konzeption seiner eigenen postdramatischen ‚Zuschauerdramen‘ wie Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (vgl. Kap. 3.2) vorweg. In der Erinnerung an die Aufführung formen sich dem Rezensenten „das Pferd und der Mann, der auf der Bühne herumgeht, und die Stimmen aus den Lautsprechern zu einem Bild, das man Wunschbild nennen könnte.“ 38 Am Ende dieses produktiven Zuschauens steht der Wunsch, „an solchen Bildern selber zu arbeiten“.39 Damit plädiert er bereits in dieser frühen Rezension für ein postdramatisches Bildertheater, dessen Bezug zum Happening der bildenden Kunst hier greifbar wird. Signifikant für die Gründungsphase des Postdramas ist die abschließende Reflexion Handkes über das indirekt Politische der Kunst, wenn er die Wirkung von Beuys’ Happening zusammenfasst: „es aktiviert einen, es ist so schmerzlich schön, daß es utopisch, und das heißt: politisch wird.“ 40 Wolf Vostells Happening In Ulm und um Ulm und um Ulm herum,41 eine Auftragsarbeit für das Ulmer Theater, wurde am 7. November 1964 an 24 Orten der Stadt aufgeführt. Per Bus wurde das Publikum von Station zu Station gebracht: zu einem Militärflugplatz, einer Autowaschanlage, einem Parkhaus, einem Schlachthof. Das Publikum erhielt Anweisungen, etwa „Laufen Sie auf dem Acker herum und erzählen Sie jemandem Ihre Lebensgeschichte“.42 Diese Publikumsanweisungen bilden zusammen mit den kontrastiv den Ort des Geschehens kommentierenden Zwischentiteln oder Motti die ‚Szenen‘ dieses Happenings. So lautet der Titel der 13. Szene, die auf einem „Ackerfeld bei Dunkelheit“ Fausts „Freies Feld“ alludiert: „500 Plätze an der Sonne.“ Die „500 blaue[n] Totenlichter“, die auf dem dunklen Feld verteilt sind, erzeugen Assoziationen eines Massengrabes.43 Auch andere Stationen, etwa die Schlachthof-
37 Peter Handke, Die „experimenta 3“, S. 104. 38 Peter Handke, Die „experimenta 3“, S. 105. 39 Peter Handke, Die „experimenta 3“, S. 105. 40 Peter Handke, Die „experimenta 3“, S. 105. 41 Wolf Vostell, In Ulm und um Ulm und um Ulm herum. In: Happenings, hg. von Jürgen Becker und Wolf Vostell, S. 386–394. Außerdem ist das Stück dokumentiert in einer zeitgenössischen Rezension von Günther Rühle, Auflösung der Grenzen: Das Happening. In: Rühle, Theater in unserer Zeit, S. 170–185, bes. S. 171–176: Rühle hält hier in einer „Beschreibung des Ulmer Happening“ den Hergang und die Publikumsreaktionen genau fest. 42 Wolf Vostell, In Ulm, S. 391. 43 Wolf Vostell, In Ulm, S. 391.
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szene, erscheinen als drastische Anspielungen auf Gewalt, Krieg und Nationalsozialismus – die Grenzerfahrungen, denen das Publikum im Verlauf der mehrstündigen Tour ausgesetzt ist, provozieren gemäß dem Motto der 21. Station: „Die Infragestellung der inneren Behaglichkeit – oder wo waren Sie vor 20 Jahren?“ 44 In seiner programmatischen Einführungsrede reklamiert der Dramaturg des Ulmer Theaterhappenings, Claus Bremer, eine Traditionslinie: Die „Aktivierung des Zuschauers“ 45 reiche zurück in das improvisierende Spiel der Commedia dell’Arte und zu den dramaturgischen Ahnherren John Fletcher, Ludwig Tieck und Luigi Pirandello, die alle den „gedichtete[n] Zuschauer“ zu diesem Zwecke installierten.46 Die Annäherung von Kunst und Leben, „der theatralischen Ausdrucksmittel an die jeweilige Welt des Zuschauers“ finde sich bei William Shakespeare, Georg Büchner, Bertolt Brecht und Samuel Beckett vorgezeichnet.47 Sie gipfele in einer Dramaturgie des Mitspiels, die das zeitgenössische Happening-Theater präge. Zu dieser Richtung zählt Bremer zeitgenössische Autoren beziehungsweise Künstler wie Jack Gelber, dessen Stücke vom ‚ekstatischen‘ New Yorker Living Theatre (s. u.) aufgeführt wurden, den ‚Eat Artisten‘ Daniel Spoerri, dessen experimentelles Improvisationsstück Der Apfel ebenfalls in Ulm inszeniert wurde, den Nouveau-Romancier Michel Butor, den Medienwissenschaftler und Schriftsteller Friedrich Knilli und – sich selbst,48 wobei er schließlich in einer selbstreflexiven Wendung sogar seinen Vortrag als Happening deklariert. Die Nähe postdramatischer Stücke zum Happening zeigt exemplarisch Peter Handkes Publikumsbeschimpfung, die den provokanten Gestus des Antitheaters mit der von Bremer eingeforderten „Annäherung der theatralischen Ausdrucksmittel an die jeweilige Welt des Zuschauers“ 49 verbindet: Diese wird in Handkes Stück wiederholt beschworen: „Dies ist keine andre Welt als die Ihre“; „Hier auf der Bühne ist die Zeit keine andere als die bei Ihnen“.50 Doch Handke markiert – in Opposition zum (neo-)avantgardistischen Optimismus der Happenings – die Grenzen, die einer Synthese von Kunst und Leben gesetzt sind. Sie dauert höchstens so lange wie die Aufführung; nach deren Ende ge-
44 45 46 47 48 49 50
Wolf Vostell, In Ulm, S. 393. Wolf Vostell, In Ulm, S. 396. Wolf Vostell, In Ulm, S. 396. Wolf Vostell, In Ulm, S. 396. Vgl. Wolf Vostell, In Ulm, S. 396. Wolf Vostell, In Ulm, S. 396. Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 17 f.
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hen die Zuschauer ihrer Wege: „Sie werden wieder ein Eigenleben führen“ 51 – jenseits des gemeinsamen Theatererlebnisses. Bazon Brocks Stück Theater der Positionen. Eine dramatische Illustrierte,52 das gemeinsam mit Peter Handkes Sprechstück Hilferufe 1967 in eine Anthologie zeitgenössischer Stücke aufgenommen wurde,53 demonstriert paradigmatisch, wie Happening-Stücke die Gattung Theatertext ‚sprengen‘. Der gedankliche Einfall, das Konzept, wird zur eigenständigen Kunstform, das in Textfassung und Aufführung nur eine vorläufige, stets unvollendete Repräsentation findet. Das Theater der Positionen präsentiert sich dementsprechend programmatisch als Ausschnitt von 17 „szenischen Einheiten“ 54 eines geplanten Mammutstückes: Dieses trägt den sprechenden Arbeitstitel Die Produktivmittel und ist als Folge von „150 szenischen Einheiten“ 55 konzipiert. Der einleitende Regietext reflektiert die „Schwierigkeiten der Notation“ und imaginiert, das Stück für weitere Bühnenrealisationen auf einer sieben Meter langen „Rolle“ zu drucken,56 auf der die simultanen und nacheinander ablaufenden Szenen durch Farben gekennzeichnet sind. Im Buchformat wird das Stück als Beschreibung seiner Frankfurter Aufführung 1966 präsentiert,57 wodurch jedoch laut Brock die „Realisationsformen“ lediglich „angedeutet“ 58 werden können. Hauptakteur des Abends ist, wie im Aktionstheater üblich, „der Autor“ selbst, dessen Darbietungen in der dritten Person beschrieben werden: „Der Autor beginnt den Abend nach Art der Entertainer.“ 59 Das Stück erscheint als theatrale Pop Art-Installation und spiegelt den immensen Einfluss der amerikanischen Nachkriegsavantgarde auf das experimentelle deutschsprachige Theater, der auch bei Handke, Müller und Jelinek begegnen wird. Das Bühnenbild, das „vorzüglich aus Plastik“ bestehen und das „gefüllte Kaufhaus Neckermann“ 60 repräsentieren soll, ist deutlich von der das ‚Echte‘ verfremdenden Warenästhetik Andy Warhols und Claes Oldenburgs inspiriert: ‚Echte‘ Mannequins lungern darin herum, im Vordergrund sind Waschmitteltonnen der Fir-
51 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 37. 52 Bazon Brock, Theater der Positionen. In: Deutsches Theater der Gegenwart, hg. von Karlheinz Braun, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1967, S. 105–130. 53 Karlheinz Braun (Hg.), Deutsches Theater der Gegenwart, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1967. 54 Bazon Brock, Theater der Positionen, S. 109. 55 Bazon Brock, Theater der Positionen, S. 109. 56 Bazon Brock, Theater der Positionen, S. 109. 57 Das Stück wurde, wie Handkes Publikumsbeschimpfung, auf der experimenta 1 1966 aufgeführt. 58 Bazon Brock, Theater der Positionen, S. 109. 59 Bazon Brock, Theater der Positionen, S. 112. 60 Bazon Brock, Theater der Positionen, S. 111.
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ma Sunil platziert.61 Hellmuth Karasek widerruft im Nachwort der Anthologie ein „Happening-Mißverständnis“ und hebt den an Brecht erinnernden Verfremdungseffekt einer im Theater ausgestellten ‚Echtheit‘ hervor – am Beispiel der im Stück auftretenden ‚echten Fürsorgerin‘: ‚Echte Fürsorger‘ in ein noch so frei arrangiertes Spiel gebracht, sind eben nicht mehr ‚echt‘, sondern – man kann dies an jedem heiteren Beruferaten im Fernsehen studieren – nur noch Akteure ihrer selbst.62
Diese Beobachtung trifft präzise den Effekt theatral verfremdeter Authentizität, die letztlich alle Happenings – etwa auch das Vorführen alltäglicher Verrichtungen wie in Allan Kaprows Sweeping-Aktion – bestimmt. Besonders herausgestellt wird er dann von der literarischen Postdramatik: Die in Handkes Publikumsbeschimpfung angesprochenen Zuschauer sind nicht als ‚echte‘ Personen gemeint, sondern in ihrer Rolle als Zuschauer. Der – in ‚Echtzeit‘ – kochende Teekessel in Peter Handkes stummem Stück Das Mündel will Vormund sein (1969)63 erhält durch seine Einbindung in die präzis durchkomponierte Bühnen-Pantomime eine besondere, zwischen Fiktion und Realität changierende, theatrale Aura. Durch die Integration realer Elemente lässt sich im postdramatischen ‚Theatertheater‘ eben nicht auf die außertheatrale Wirklichkeit referieren – markiert wird lediglich die spielerische Macht des Theaters selbst.
2.2.3 Die österreichische Neoavantgarde: Wiener Gruppe und Wiener Aktionismus Das postdramatische Theater von Peter Handke und Elfriede Jelinek steht in einer spezifisch österreichischen Traditionslinie. Als unmittelbare Vorläufer ihrer Theaterästhetik können die Wiener Gruppe und der Wiener Aktionismus gelten. Mit ihnen teilen sie eine Ahnenreihe, die mit den sprachspielerischen, teilweise dialektalen Dialogen und der Aufführungspraxis des Wiener Volkstheaters beginnt. Dieses Erbe greift die österreichische Avantgarde um die Jahrhundertwende auf: etwa in der entlarvenden Zitatkunst des Sprachkritikers Karl Kraus. Gemeinsam mit der sprachanalytischen Philosophie Ludwig Wittgensteins werden diese Impulse von den Neoavantgarden seit den fünfziger
61 Vgl. die Abbildung in: Günther Rühle, Theater in unserer Zeit, [o. S.]. 62 Hellmuth Karasek, Nachwort. In: Deutsches Theater der Gegenwart, hg. von Karlheinz Braun, Bd. 2, S. 561–584, hier S. 583. Zum Vergleich mit Brecht, bei dem Karasek Brocks (postdramatische) Absage an die Fabel als wesentlichen Unterschied hervorhebt, vgl. S. 584. 63 Vgl. Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 208 f.
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Jahren adaptiert und strahlen aus bis in die postdramatischen Stücke zeitgenössischer österreichischer Autoren, wie die folgende Interpretation von Elfriede Jelineks Burgtheater beispielhaft zeigen kann (vgl. Kap. 2.4.3). Jelineks Dialektstück verbindet den Sprachwitz der Volkstheatertradition direkt mit der drastischen Körperlichkeit des Wiener Aktionismus. In Peter Handkes Publikumsbeschimpfung (vgl. Kap. 2.4.1) wiederum sind Bühnensituation der Publikumsansprache, Provokation des ‚bürgerlichen‘ Theaters und sprachanalytischer Zugriff von den literarischen Cabarets der Wiener Gruppe geprägt.
2.2.3.1 Pioniere der Postdramatik: Die literarischen Cabarets der Wiener Gruppe Anfang der 1950er Jahre formierte sich in Wien der Künstlerkreis der sogenannten Wiener Gruppe – mit seinen Kernmitgliedern Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener. In der frühen Phase stand H. C. Artmann dem Kreis nahe.64 Die Theateraktionen der Wiener Gruppe können als direkte Vorläufer der postdramatischen Ästhetik gelten. Impulse gehen insbesondere aus von den beiden Literarischen Cabarets der Gruppe, die Ende der fünfziger Jahre aufgeführt und in Texten, Fotografien und rückblickenden Aufzeichnungen dokumentiert wurden.65 Inspiriert von den literarischen Cabarets der Dadaisten und der Dramaturgie einer Nummern-Revue bieten die Cabarets eine Folge von Auftritten: Die Gruppenmitglieder deklamieren Dialektgedichte, singen Chansons und inszenieren kurze Happenings wie das Haareschneiden auf offener Bühne, sportliche Ertüchtigungen und die Aktion einer Flügelzertrümmerung. Die Form ihrer Cabarets definieren die Autoren im programmatischen waschzettel als „schlichte Begebenheit“.66 Hier zeigt sich – schon semantisch – 64 Zur Geschichte der Wiener Gruppe vgl. Gerhard Rühm (Hg.), Die Wiener Gruppe. Der Band versammelt Texte, Gemeinschaftsarbeiten und Aktionen der Gruppenmitglieder, ein einführendes Vorwort und Bildmaterial. 65 Vgl. Gerhard Rühm (Hg.), Die Wiener Gruppe, S. 401–481. Eine detaillierte Beschreibung der beiden Cabaret-Abende gibt Oswald Wiener, das ‚literarische cabaret‘ der wiener gruppe. In: Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen, hg. von Gerhard Rühm, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 401–418. 66 Zitiert nach: Gerhard Rühm (Hg.), Die Wiener Gruppe, S. 419. Den „Pionierbeitrag“ der Wiener Gruppe, insbesondere der Literarischen Cabarets, zeigt Evelyn Deutsch-Schreiner: Die Autoren der Wiener Gruppe „machten die besondere Situation des Theatervorgangs sowie die theatralen Elemente und Strukturen bewusst und bezweifelten das herkömmliche Kommunikationsmodell“ („Das totale Theater“. Der Pionierbeitrag der Wiener Gruppe zum zeitgenössischen Avantgardetheater. In: Avantgarde und Traditionalismus. Kein Widerspruch in der Postmoderne?, hg. von Kurt Bartsch, Innsbruck 2000, S. 59–79, hier S. 77). Deutsch-Schreiner skiz-
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die Nähe der Theateraktionen zur Happening-Bewegung mit ihrem Anspruch, alltägliche Situationen als (theatrale) Ereignisse zu inszenieren.67 Das Situative der Literarischen Cabarets manifestiert sich etwa, indem der reale Theaterraum und die anwesenden Zuschauer unmittelbar in das Spiel einbezogen werden: „alles spielt mit: fußboden, sitz, nachbar, garderobenfrau“.68 Die Cabarets gründen in der „idee, ‚wirklichkeit‘ auszustellen“.69 Die Aktivierung des Zuschauers galt der Wiener Gruppe als „protest gegen seine passive art, zuschauer zu sein“.70 Einflüsse der Cabarets auf die postdramatische Ästhetik liegen in der Inszenierung und Ausstellung einer theatralen Situation. Die bewusste Provokation des Publikums in den Aktionen der Gruppe mag Handke zur Grundidee seiner Publikumsbeschimpfung inspiriert haben: Die Akteure der Wiener Gruppe zelebrierten mit ihren Provokationen den „progressiven zuschauerschwund“:71 In einer „verächtliche[n] Haltung“ wurde das Publikum als „gegenstand in allen bedeutungen des wortes“ 72 verstanden und mit geschmacklosen Kalauern, Nonsens-Diskursen, obszönen Gesten, bengalischem Feuer und ohrenbetäubendem Lärm regelrecht aus dem Saal gespielt. In einem Rollentausch goutierten die Akteure die Reaktionen des Publikums, das sie wie eine „schauspielertruppe“ 73 betrachteten. Dies nahm sich der junge Handke ebenfalls zum Vorbild: „Ihr wart Vollblutschauspieler“,74 werden die Zuschauer der Publikumsbeschimpfung am Ende beklatscht. Die Negationsreihe des Antitheaters – „unsere akteure werden keine illusionen anderer personen (wie stanislawskis schauspieler), aber sie werden
ziert die Wirkung dieses situativen Theaters und seiner theaterkritischen Programmatik auf – postdramatische – Theatertexte, etwa von Peter Handke, Elfriede Jelinek und Werner Schwab. Zu den Theateraktionen der Wiener Gruppe vgl. auch Thomas Eder und Juliane Vogel, „Verschiedene Sätze treten auf.“ Die Wiener Gruppe in Aktion, Wien 2008, (Profile 11), und Ferdinand Schmatz, Sinn und Sinne. Wiener Gruppe, Wiener Aktionismus und andere Wegbereiter, Wien 1992. 67 Oswald Wiener weist mehrfach auf diese Parallele hin, verwendet sogar den Begriff „happening“ für die Aktionen der Wiener Gruppe, betont jedoch die Unabhängigkeit von der gleichzeitig sich konstituierenden Bewegung in den USA: „selbstverständlich hatten wir von den zeitlich parallel ablaufenden new yorker ‚happenings‘ so wenig eine ahnung wie die amerikaner von uns!“ (das ‚literarische cabaret‘ der wiener gruppe, S. 411 f.). 68 waschzettel. In: Die Wiener Gruppe, hg. von Gerhard Rühm, S. 419. 69 Oswald Wiener, das ‚literarische cabaret‘ der wiener gruppe, S. 403. 70 waschzettel, S. 419. 71 Oswald Wiener, das ‚literarische cabaret‘ der wiener gruppe, S. 404. 72 Oswald Wiener, das ‚literarische cabaret‘ der wiener gruppe, S. 404. 73 Oswald Wiener, das ‚literarische cabaret‘ der wiener gruppe, S. 403. 74 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 39.
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auch andere personen nicht markieren (wie brechts darsteller)“ 75 – findet ebenfalls ihr Echo in Handkes Publikumsbeschimpfung: „Wir haben keine Illusion nötig […]. Wir zeigen ihnen nichts. Wir spielen keine Schicksale.“ 76 Doch hier wird auch ein Unterschied sichtbar: Während die Akteure im Literarischen Cabaret sie selbst bleiben (mit Achleitner, Bayer, Rühm und Wiener stehen die Autoren selbst auf der Bühne), delegiert Handke den Text an „vier Sprecher“, die zwar ebenfalls keine Figuren verkörpern, aber auch nicht sich selbst spielen, sondern als bloßes „Sprachrohr des Autors“ 77 funktionalisiert sind. Bei Handke zeigt sich die Fiktionalisierung – und damit stärkere Literarisierung – der Aktionskunst in einer nur simulierten Begebenheit, die in Sprechtext und Regieanweisung literarisch gestaltet ist. Die Intention der Wiener Gruppe, eine schlichte reale „Begebenheit“ als theatrale Situation in ‚Echtzeit‘ auszustellen, illustriert beispielhaft die Aktion friedrich achleitner als biertrinker:78 Während Friedrich Achleitner ‚wirklich‘ auf der Bühne sitzt und ein Bier trinkt, spricht Konrad Bayer einen Text, der den Vorgang des Biertrinkens in Futur, Präsens und Präteritum aufruft: „er wird trinken. er trinkt. er trinkt. er trinkt. er trank.“ 79 Der Text begleitet das Bühnengeschehen als „prophezeiung, behauptung und erinnerung“.80 Indem nur die Präsens-Sätze die Aktionen unmittelbar widerspiegeln, demonstriere die Aktion, so Oswald Wiener, „die lächerlichkeit einer beschreibung angesichts eines ereignisses“.81 So läuft die Spannung der „prophezeiung“:82 „er wird die gefüllte flasche süssen grauen bieres in seine ausgezeichnete hand nehmen“ 83 angesichts des banalen Ereignisses ins Leere. Das begleitende „er nimmt die gefüllte flasche süssen grauen bieres in seine ausgezeichnete hand“ 84 wird durch die Evidenz des Vorgangs überflüssig. Die Aktion kann als musterbildend gelten für ein Theater der Beschreibung, das postdramatische Texte wie Heiner Müllers Bildbeschreibung und Peter Handkes stumme Stücke prägt. Auch die sprachanalytische Intention der Szene, welche die WittgensteinRezeption der Gruppe spiegelt, setzt sich in den sechziger Jahren in einem lin-
75 76 77 78 79 80 81 82 83 84
waschzettel, S. 419. Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 17. Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 18. friedrich achleitner als biertrinker. In: Die Wiener Gruppe, hg. von Gerhard Rühm, S. 422. Die Wiener Gruppe, hg. von Gerhard Rühm, S. 422. Oswald Wiener, das ‚literarische cabaret‘, S. 407. Oswald Wiener, das ‚literarische cabaret‘, S. 407. Oswald Wiener, das ‚literarische cabaret‘, S. 407. Die Wiener Gruppe, hg. von Gerhard Rühm, S. 422. Die Wiener Gruppe, hg. von Gerhard Rühm, S. 422.
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guistischen Experimentaltheater – als Paradebeispiel gilt Handkes Kaspar – fort. Das Paradox theatralisch vorgeführter Realität, die notgedrungen zum Schau-Spiel wird, ist von Wiener offensiv programmatisch gewendet: In den Cabarets ging es für ihn darum, „‚wirklichkeit‘ auszustellen, und damit, in konsequenz abzustellen“.85 Für den „neuen ‚realismus‘“,86 den die Theateraktionen der Wiener Gruppe propagieren, ist weniger die Authentizität des Gezeigten als der Ablauf von Handlungen in ‚Echtzeit‘ entscheidend: Die reale Zeit als Material der Aufführung zu verstehen, stellt ebenfalls eine Verbindung zu postdramatischer Ästhetik her. Die geradezu physisch nachzuempfindende Zeitdehnung zeigt sich allein in der mehr als dreistündigen Dauer einer ersten Nummernfolge.87 Die Aktion, eine auf der Bühne platzierte Uhr in fünfminütigen Intervallen „nach gutdünken“ 88 zu verstellen, macht das reale Vergehen der Zeit – verfremdend – anschaulich. Sie erinnert an den Umgang mit dem Material Zeit in Handkes Publikumsbeschimpfung: Hier wird der Zuschauer nach der Beteuerung „Hier auf der Bühne ist die Zeit keine andre als die bei Ihnen“ 89 auf das reale Verrinnen der Zeit „in den Worten“ verwiesen: „Hier gibt es nur ein Jetzt und ein Jetzt und ein Jetzt.“ 90 Die Grundsituation der Publikumsansprache – beispielsweise in der Nummer starke propaganda, in der die Spieler im konkurrierenden Selbstlob um die Gunst des Publikums buhlen – ist gleichfalls musterbildend: Sie nimmt die Kommunikationssituation von Handkes frühen Sprechstücken (etwa der Selbstbezichtigung) vorweg und gründet das – später als spezifisch postdramatisch geltende – Diskurstheater von der Rampe ins Publikum. Handkes Pointe der Publikumsbeschimpfung, in der am Ende die Zuschauer als Darsteller gelobt werden, ist, wie Rainer Nägele und Renate Voris nachweisen,91 in Konrad Bayers Nummer die begabten zuschauer92 vorgebildet. Auch Elfriede Jelineks Sprachflächen haben im Diskurstheater der Cabarets einen Vorläufer: Jelineks Sprachstil tritt deutlich das Erbe der Wiener Gruppe an, die den „kalauer als kunstform“ 93 etablieren will und in der Dia-
85 Oswald Wiener, das ‚literarische cabaret‘, S. 403. 86 Oswald Wiener, das ‚literarische cabaret‘, S. 418. 87 Vgl. Oswald Wiener, das ‚literarische cabaret‘, S. 409. 88 Oswald Wiener, das ‚literarische cabaret‘, S. 416. 89 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 18. 90 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 23. 91 Vgl. Rainer Nägele und Renate Voris, Peter Handke, S. 76. 92 Die begabten zuschauer. In: Die Wiener Gruppe, hg. von Gerhard Rühm, S. 136–138. Zu diesem Bezug vgl. genauer Kap. 2.4.1. 93 Oswald Wiener, das ‚literarische cabaret‘, S. 407.
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lektdichtung vor allem die Klangqualität von Sprache ausstellt. Simultanes Sprechen, das sich bis zum Schreien steigert, Gesangseinlagen und Deklamationen forcieren diesen musikalischen Sprachgebrauch.94 Inszeniert und zelebriert wird das Ereignis des Sprechens – „Wir sprechen nur“, heißt es dann in Handkes Publikumsbeschimpfung.95 Als letzte gemeinsame Aktion der Gruppenmitglieder wurde am 10. April 1964 die bereits 1958 entstandene Gemeinschaftsarbeit kinderoper 96 uraufgeführt. Hier verbinden sich die wesentlichen Mittel der Gruppe und werden zu einer furiosen „abschiedsvorstellung“ 97 übersteigert: In hoher Frequenz wechseln Nonsens-Diskurse im künstlich imitierten ‚Kinderton‘, Märchenzitate – „spieglein, spieglein an der wand / wer ist die schönste im ganzen land“ (316) –, zotige Witze „im auftrag der firma pornophon“ (317), Kalauer – „die grete mit der gräte“ (307) –, Dialektdichtung, konkrete Poesie (vgl. 304), Musik, Gesang und Deklamation. Die begleitende Bühnenaktion – „währenddessen wird getrunken, geraucht und gegessen“ (302) –, die offenbar vom Publikum dankbar aufgegriffen wurde, führte zu Hochstimmung auf der Bühne wie im Parkett, bis sich alles in einem Partygetümmel auflöste.98 Dass die Wiener Gruppe ihre Pionierleistung zur neuen Theaterästhetik selbst behauptete, zeigt die dokumentierende Sammlung von Texten, Gemeinschaftsarbeiten und Aktionen der Gruppenmitglieder, die 1967 von Gerhard Rühm herausgegeben und mit einleitenden Kommentaren und Bildmaterial ausgestattet wurde.99 Diese Publikation, die eine wirkmächtige Bewegung der Neo-Avantgarde der fünfziger Jahre materialreich dokumentiert, fällt damit in die Hochphase der Happening- und Performance-Kunst der sechziger Jahre sowie in die Gründungszeit der neuen Theateravantgarden in den USA und Europa. Als Klassiker der Neo-Avantgarden wurde die Gruppe dann 1997 präsentiert, als sich der österreichische Pavillon der Biennale von Venedig, kuratiert von Peter Weibel, den Aktionen und visuellen Arbeiten der Wiener Gruppe widmete: Ausstellung und Katalog zielten offensichtlich darauf, die Strahlkraft
94 Vgl. die Beschreibung der Nummer Propaganda durch Oswald Wiener, das ‚literarische cabaret‘ der wiener gruppe, S. 405 f. 95 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 17. 96 kinderoper. In: Die Wiener Gruppe, hg. von Gerhard Rühm, S. 300–317. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 97 Gerhard Rühm, vorwort. In: Die Wiener Gruppe, hg. von Gerhard Rühm, S. 36. 98 Vgl. die rückblickende Beschreibung des Abends durch Gerhard Rühm, vorwort, S. 7–36, hier S. 36. 99 Gerhard Rühm, vorwort, S. 36.
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der Wiener Gruppe auf die Konzeptkunst seit den 1960er Jahren deutlich zu machen.100 Zur dramatischen Wirkungsgeschichte der Wiener Gruppe gehört ein Erfolgsstück der beginnenden achtziger Jahre: Als bestes Stück des Jahres 1980 wählte die Theaterzeitschrift Theater heute Ernst Jandls Aus der Fremde: Das autobiografisch geprägte Stück ist durchgehend im Konjunktiv indirekter Rede verfasst und berichtet – im indirekten Dialog zwischen zwei Schriftstellern – von seiner eigenen Entstehung, wobei sich zugleich ein Psycho- und Beziehungsdrama der Protagonisten entfaltet. Durch die illusionsbrechende indirekte Sprache, sprachspielerischen Witz und Musikalität („Sprechoper“ 101), durch autobiografische Egomanie, subjektive Bewusstseinsbilder und metatheatrale Selbstbezüglichkeit rückt dieses Stück eines Zeitzeugen der Wiener Neoavantgarden in die Gegenwart der Postdramatik.
2.2.3.2 Aktion und Text: Hermann Nitschs Partituren Im Umfeld des sogenannten Wiener Aktionismus mit seinen prominenten Vertretern Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler entstanden Aktionen, welche die Entwicklung des postdramatischen Theaters wesentlich beeinflussten.102 Exemplarisch sollen hier die Aktions-„Partituren“ von Hermann Nitsch behandelt werden, dessen Orgien Mysterien Theater sich bei rituellen Theaterformen und Mysterienspielen inspirierte. Seine Partituren zeichnen sich aus durch die besondere Bemühung, die flüchtigen Performances schriftlich zu konservieren und wiederholbar zu machen: Nitsch hat seine Aktionen des Orgien Mysterien Theaters Ende der siebziger Jahre in einer zweibändigen Publikation dokumentiert,103 an der sich die möglichen Notationsformen von Performances paradigmatisch zeigen lassen. Nitsch selbst vergleicht seine „Partituren“ ausdrücklich – nicht formal, aber in ihrer Funktion – mit herkömmlichen Dramen: „eine aktion von mir kann von akteuren, musikern und regisseuren genauso nachvollzogen werden wie jedes andere drama oder mu-
100 Vgl. vor allem das Nachwort von Peter Weibel, die wiener gruppe im internationalen kontext. In: Peter Weibel (Hg.), Die Wiener Gruppe. Ein Moment der Moderne 1954–1960. Die visuellen Arbeiten und die Aktionen, Wien und New York 1997, S. 763–783. 101 So der Untertitel von Jandls Aus der Fremde. 102 Eine ausführliche Darstellung und systematische Analyse des Wiener Aktionismus im Kontext der internationalen Performance Art nach 1945 bietet Thomas Dreher, Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia, München 2001, S. 163–298. 103 Hermann Nitsch, Das Orgien Mysterien Theater. Die Partituren aller aufgeführten Aktionen 1960–1979, Bd. 1: 1.–32. Aktion, Neapel 1979.
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sikdrama.“ 104 Ziel der schriftlichen Fixierung ist es also, Nitschs Aktionen wiederholbar zu machen. Die meisten Partituren sind tabellarisch notiert, etwa die 25. Aktion 1968, die im März 1968 in New York aufgeführt wurde – mit der maximalen Besetzung aus mehreren aktiven und passiven Akteuren, einem zehn Mann starken Chor und einem Orchester mit zwanzig Musikern: Die Felder einer linken Spalte verzeichnen die einzelnen Handlungs-Sequenzen, etwa: in den leib des von der decke hängenden schafes wird blut geschüttet. das blut rinnt und tropft auf das weisse tuch und bildet lachen.105
Rechts neben diesem Text sind in schmaleren Spalten die einzelnen Instrumente notiert, welche die Sequenz begleiten: hier etwa elektronisch verstärkte Bläser, Ratschen und ein Orgelton. Die Partituren sind zudem vom Künstler kommentiert, der den Ablauf jeder Aktion und ihr Gelingen reflektiert sowie „empfehlungen und anweisungen für künftige regisseure“ 106 ausspricht. Fotografien der Aktionen und Raumskizzen sowie Dokumente wie Plakate, Pressebesprechungen und „polizeiberichte“ ergänzen die Partituren und Kommentare. Die Aktionen, in denen Nitsch stets selbst als Akteur mitwirkte, bleiben auch in ihrer schriftlichen Fixierung an die Person des Künstlers gebunden, der in seinen kommentierten Partituren auch „persönliches und autobiographisches“ 107 anmerkt. So findet die 25. Aktion ihre ‚dionysische‘ Fortsetzung in privatem Rahmen: nach der aktion gingen wir alle in ‚maxis‘ kansas city (dem new yorker hawelka) und tranken viel bier. paik und ich, wir hoben immer wieder unsere gläser, um uns zuzuprosten.108
Nitschs notierte Aktionen zeigen damit eine subjektive Tendenz, die auch postdramatische Stücke auszeichnet, etwa in den autobiografischen Autorfiguren, die Elfriede Jelinek auf die Bühne schickt, oder in der „Fotografie des Autors“ 109 in Heiner Müllers Hamletmaschine. Nitschs Partituren enthalten auch Texte, die zum Bestandteil der Aufführung werden: Während der 7. Aktion, die 1965 in Nitschs Wiener Atelier und
104 105 106 107 108 109
Hermann Nitsch, Das Orgien Mysterien Hermann Nitsch, Das Orgien Mysterien Hermann Nitsch, Das Orgien Mysterien Hermann Nitsch, Das Orgien Mysterien Hermann Nitsch, Das Orgien Mysterien Heiner Müller, Werke 4, S. 552.
Theater, Theater, Theater, Theater, Theater,
S. 7. S. 193. S. 7. S. 7. S. 196.
Intermediale Prägungen: Die internationale Happening-Bewegung
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Wohnung stattfand und die bekannten rituellen Handlungen mit geschlachteten Schafen, Blut und Verbandsmaterial vollzog, wurden im Publikum Texte ausgeteilt. Als schriftlicher Kommentar dienen sie etwa der sakralen Überhöhung der Aktion: die hostie, der geopferte und zur kommunion gegessene leib des gottes weist historische verbindungslinien zu den frühesten abreaktionskulten auf. man kann, von der wandlung ausgehend, den weg, der während des geschichtsverlaufes durch religionen sich sublimierenden abreaktionsbedürfnisse krebsartig zurückverfolgen, um von der kreuzigung christi über die dionysosopferung zur totemtierzerreissung, zum urexzess, zur reinen abreaktion zu gelangen.110
Neben dergestalt theoretisierenden Texten, die ihre kultische Botschaft in einen wissenschaftlichen Nominalstil verpacken, wurden andere Texte verteilt, welche wie ein zusätzlicher sinnlicher Stimulans zum Gesehenen wirken, wie der folgende, der offenbar einem Kochrezept entnommen ist: Sicherer ist die probe mit einer langen, kalten nadel, die man rasch durch den dicksten teil des fleisches sticht, drei sekunden ruhig stecken lässt, rasch wieder herauszieht und jene stelle an ihr mit den lippen befühlt, die ungefähr in der mitte des fleisches steckte. fühlt man eine angenehme wärme, ist das fleisch gut, innen schön rosig und doch nicht roh.111
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Nitschs „Partituren“ sind wegweisend durch ihre performativen, aus der Musik inspirierten Notationsformen. Simultaneität von Ereignissen und Sprache wird etwa auch in Handkes Kaspar durch Spaltendruck präsentiert. Außerdem betonen die „Partituren“ den Materialcharakter von Texten und etablieren den Kommentar: Er kann, wie in den verteilten Texten, Teil der Aufführung werden oder diese mit anderen Mitteln fortsetzen, wie die autobiografischen Passagen. Sie dienen nicht (allein) der Selbstdarstellung, sondern demonstrieren auch das ästhetische Ideal der Aktionen: die Avantgarde-Utopie einer Verbindung von Kunst und Leben, an der sich die literarische Postdramatik immer wieder abarbeitet.
110 Hermann Nitsch, Das Orgien Mysterien Theater, S. 87. 111 Hermann Nitsch, Das Orgien Mysterien Theater, S. 87.
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2.3 Theateravantgarde der USA: Eine vernachlässigte Traditionslinie der Postdramatik 2.3.1 Kreativer Protest und ‚Theater der Erfahrung‘ Eine häufig vernachlässigte Traditionslinie der internationalen Postdramatik führt in die USA, wo sich seit den fünfziger Jahren eine Theateravantgarde formierte, die politischen Protest mit einer avancierten künstlerischen Formensprache verband. Der ‚dürre‘ Agitprop-Ton, der das deutschsprachige Theater im Umkreis der Studentenproteste weitgehend bestimmte, erhielt hier ein kreatives Gegengewicht, das ein künstlerisch ambitioniertes politisches Theater inspirieren konnte.112 Als Gründungstruppe der amerikanischen Theateravantgarde gilt das Living Theatre, von dem Impulse in die politischen Straßentheatergruppen (San Francisco Mime Troupe, Bread and Puppet Theatre) ausgingen. Das politische Straßentheater der amerikanischen Nachkriegsavantgarde war ein Theater im öffentlichen Raum, das seine Ästhetik auf diese spezifische Aufführungssituation ausrichtete: Die Truppen traten im Freien, in öffentlichen Parks und Plätzen auf oder mischten sich unter die Demonstranten der Antikriegsmärsche. Für ihr politisches Theater wählten sie einfache theatrale Formen. Schnell und unmittelbar muss das Theaterpublikum jenseits etablierter Theaterräume erreicht werden: mit kurzen Szenen, einfachen Plots, schnell aufgebauten Bühnen. Aufmerksamkeit fesselte man durch auffallende Theatralik: markante Gestik und Mimik, bunte, stilisierte Kostüme und den Einsatz von Musik, Requisiten, Puppen, Masken. Alle diese Mittel sind auch Zeichen einer produktiven Brecht-Rezeption, dessen politisches Theater auf die Unmittelbarkeit der Straße übertragen werden soll. Die markierte Theatralität der Darbietungen im öffentlichen Raum wird als Verfremdungseffekt eingesetzt, da sie im alltäglichen Umfeld aus dem Rahmen fällt: Die ‚Signalwirkung‘ wird genutzt, um die Aufmerksamkeit über die auffallende Darbietung auf die dargestellten aktuellen politischen Themen zu lenken. In den Straßentheaterstücken wird Tagespolitik mit Märchen und Mythen kombiniert und parabolisch verfremdet. Berühmte Ensembles des amerikanischen Straßentheaters, die bis heute existieren, sind das Teatro Campesino, die San Francisco Mime Troupe und das New Yorker Bread and Puppet Theatre. Die beiden letztgenannten
112 Den Gegensatz zur „plakativen Strenge eines gelegentlich ‚dürren Sprechtheaters‘ auf der Straßentheaterszene der BRD“, den „das radikale Theater in den USA mit einer bunten, experimentierender Phantasie aufgeschlossenen Vielfalt gegenüber“ darstelle, betont Dieter Herms (Agitprop USA, S. 49).
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Truppen, die als Pioniere einer Renaissance politischen Theaters in den USA gelten,113 sollen hier als Beispiele dienen, die zwei signifikante und wirkmächtige Merkmale des alternativen amerikanischen Theaters explizieren: die Orientierung an der Volkstheatertradition (San Francisco Mime Troupe) und die theatrale Adaptation des Mythischen und Rituellen, die typisch für den Stil des Bread and Puppet Theatre ist. Aus der bunten Vielfalt der amerikanischen, insbesondere der New Yorker Avantgardetheaterszene, deren Chronist Bertolt Brechts Sohn Stefan Brecht wurde,114 gingen Künstler wie Robert Wilson und Richard Foreman hervor, die zu den Klassikern der internationalen Postdramatik zählen. Sie alle vereint der Rückgriff auf die Theateravantgarden der 1920er und 1930er Jahre, auf Antonin Artauds Körpertheater, Bertolt Brechts und Erwin Piscators episches Theater und Samuel Becketts ‚Zustandstheater‘, zu deren spezifisch postdramatischer Wirkungsgeschichte sie wesentlich beitrugen (vgl. Kap. 1). Mit Blick auf die amerikanische Theateravantgarde zeigen sich exemplarisch die komplexen internationalen Verflechtungen und wechselseitigen Beeinflussungen der Postdramatik. Von der frühen Rezeption der „neuen amerikanischen Theaterbewegung“ im deutschsprachigen Raum zeugt – neben Aufführungen der führenden Truppen, die zum Beispiel auf der Frankfurter experimenta gastierten – ein umfangreicher Materialienband, der 1971 unter dem Titel Theater der Erfahrung im Kölner DuMont-Verlag erschien:115 Reich bebildert, versammelt er deutsche Übersetzungen von zentralen Programmschriften, Flugblättern, Stückauszügen, Kurzporträts und Interviews der prägenden Künstler und Gruppen wie Richard Schechner, Charles Ludlam, Peter Schumann, des Burning City Theater oder der Bewegung des ‚Black Theatre‘. 113 Unter diesem Aspekt beleuchtet die vergleichende Studie von Gerd Burger diese beiden Ensembles und ihre komplementären Ansätze (Agitation und Argumentation. Die San Francisco Mime Troupe und Peter Schumanns Bread and Puppet Theater als zwei komplementäre Modelle aufklärerischen Theaters, Berlin 1993). 114 Von Stefan Brechts auf neun Bücher angelegter monumentaler Chronik The original theatre of the City of New York, die aus einer Fülle eigener ‚Aufführungsprotokolle‘ schöpfen, erschienen drei Teile: zu Robert Wilson (Stefan Brecht, The theatre of visions: Robert Wilson. Frankfurt a. M. 1978, [The original theatre of the City of New York. From the mid-60s to the mid-70s 1]), zum Queer Theatre (Stefan Brecht, Queer Theatre, Frankfurt a. M. 1978, [The original theatre of the City of New York. From the mid-60s to the mid-70s 2]) und zu Peter Schumanns Bread and Puppet Theatre (Stefan Brecht, The Bread and Puppet Theatre, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1988, [The original theatre of the City of New York. From the mid-60s tot he mid-70s 4]). Da die Bände – im englischen Originaltext – im Frankfurter Suhrkamp-Verlag erschienen, gehören sie zur unmittelbaren Wirkungsgeschichte der amerikanischen Avantgarden im deutschsprachigen Raum. 115 Jens Heilmeyer und Pea Fröhlich (Hg.), Theater der Erfahrung. Material zur neuen amerikanischen Theaterbewegung, Köln 1971.
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2.3.2 Vorreiter: Das ekstatische Living Theatre Das Living Theatre wurde von Julian Beck und Judith Malina 1947 in New York gegründet.116 Der Impuls kam aus einem Workshop bei Erwin Piscator.117 Das Living Theatre inszenierte zunächst Stücke von den wichtigen Bezugsautoren der Neoavantgarde, Bertolt Brecht und Gertrude Stein.118 Zentral für die Ästhetik des Living Theatre ist der Kontakt mit dem Publikum, das vor allem durch die Art des Spiels, durch physische Nähe und extremen Körpereinsatz, provoziert wird. Die freie Theatergruppe trat zunächst in verschiedenen New Yorker Lofts auf, bevor sie in der 14ten Straße ein festes Domizil bezog. Die Gruppe, die seit Mitte der 1960er Jahre regelmäßig in Europa auftrat, wurde wegweisend für die Bewegung des freien Theaters oder „Theaters der Erfahrung“.119 Die Wirkung des Living Theatre bezieht sich wesentlich auf den radikalen Ansatz der Gruppe, Kunst und Lebenspraxis zu vereinen und das Publikum in ein spirituell aufgeladenes Gemeinschaftserlebnis einzubinden: Legendär ist das interaktive Improvisationsstück Paradise Now, das im Juli 1968 auf dem Festival d’Avignon uraufgeführt und drei Jahre – und mehr als 50 Aufführungen – später in einer (offenen) Textfassung publiziert wurde.120 Die Aufführung gliedert sich in acht Teile, die dem spirituellen Gehalt gemäß als Stufen („rungs“) bezeichnet werden. Jede Stufe wiederum besteht aus drei Phasen: einem rahmenbildenden Ritus, einer spirituellen Vision und der auf aktuelle Tagespolitik – etwa die Antikriegsbewegung – referierende Aktion;121 das alles unterlegt und angereichert mit fernöstlicher Philosophie, Kabbala und Yoga. Der einleitende Kommentar, „Preparation“ (5–13), beschreibt das Stück als mentale und spirituelle Reise, auf die sich Akteure und Publikum gemeinsam begeben. Der politische, revolutionäre Anspruch wird programmatisch formuliert: „The Plot is the Revolution.“ Am Ende der achtstufigen Leiter steht die
116 Zur Geschichte des Living Theatre im Kontext der amerikanischen Theateravantgarde vgl. die umfassende Monografie von John Tytell, The Living Theatre. 117 Zum Einfluss Erwin Piscators vgl. John Tytell, The Living Theatre, Kap. 1, bes. S. 27–34. 118 Das Living Theatre eröffnete 1951 mit zwei Stein-Inszenierungen (Ladies Voices und Doctor Faustus Lights the Lights). Vgl. John Tytell, The Living Theatre, S. 71 f. 119 Manfred Brauneck, Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Aktualisierte Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1993, Kap. V: Theater der Erfahrung – Freies Theater. 120 Judith Malina und Julian Beck, Paradise Now. Collective Creation of the Living Theatre, New York 1971. Im Folgenden wird mit bloßen Seitenangaben aus dieser Ausgabe zitiert. 121 Vgl. die zeitgenössische deutschsprachige Dokumentation von Erika Billeter, The Living Theatre. Paradise Now. Ein Bericht in Wort und Bild, Bern 1969.
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„permanente Revolution“.122 Ihre Attribute – „Beautiful, Non Violent, Anarchist“ (5) – werden zu ästhetischen Prinzipien der Aufführung, die sich zu einer spirituellen und physischen Zusammenkunft von Spielern und Publikum steigern soll. Bereits die Bühnensituation ist bestimmt durch den permanenten Zuschauerkontakt, der gleich in der Eingangsszene etabliert wird: Den Text dieser Szene bildet ein Set von fünf Sätzen, welche die internalisierten Zwänge der westlichen Gesellschaft spiegeln: „I AM NOT ALLOWED TO TRAVEL WITHOUT A PASSPORT“ (15) oder das kapitalistische Lebensgesetz „YOU CAN’T LIVE IF YOU DON’T HAVE MONEY“ (16). Diese Sätze werden übermittelt, indem sich jeweils ein Akteur mit einem Satz persönlich an einen Zuschauer wendet. Diese direkte Publikumsansprache, die von den Zuschauern häufig als Anklage empfunden wurde,123 spiegelt eine Grundtendenz der Theateravantgarden der sechziger Jahre, die in experimentellen Bühnensituationen den direkten Kontakt zum Publikum suchen: Sie ist seit den fünfziger Jahren bereits Markenzeichen des Living Theatre und prägt als Grundmuster auch Handkes frühe Sprechstücke, insbesondere seine – konfrontative – Publikumsbeschimpfung (1965). Mit Handkes Theater vergleichbar ist auch der sprachliche ‚Angriff‘: Man traktiert sein Gegenüber mit Sätzen, wie es etwa die Sprecher der Publikumsbeschimpfung, aber auch die Einsager im Kaspar tun. In Paradise Now fordern die Regietexte eine gesteigerte Frustration, mit der die fünf Sätze jeweils geäußert werden. Sie soll sich bis zu einem Zustand der kollektiven Hysterie steigern. Nach zwei Minuten endet jede Phase in einem großen Schrei: „This scream is the pre-revolutionary outcry“ (16). Nach einer kurzen Sequenz vollkommener Stille beginnt das Ritual von neuem. Nachdem die ersten vier Sätze auf diese Weise geäußert werden, tritt mit dem fünften Satz eine Veränderung auf: „I’M NOT ALLOWED TO TAKE MY CLOTHES OFF“ (17), sie wird begleitet von einer aktiven Demonstration des Verbots: Die Spieler entkleiden sich, bis nur noch die damals auf Bühnen verbotenen Körperpartien (Geschlechtsteile und weibliche Brust) bedeckt sind. Der Regietext entwirft Möglichkeiten, wie die Schauspieler auf die jeweilige Spielsituation mit einem akustischen oder gestischen Signal reagieren können. Der Improvisationsspiel-
122 Zur theatergeschichtlichen Kontextualisierung des Living Theatre vgl. Brigitte Marschall, Das Politische Theater nach 1950, S. 285–308. Ihre Beschreibung von Paradise Now (vgl. S. 295–300) bezieht sich jedoch ausschließlich auf die Dokumentation von Erika Billeter, The Living Theatre, ohne die authentische Textfassung der Gruppenköpfe Judith Malina und Julian Beck heranzuziehen. Eine Darstellung der Probenarbeit und Aufführungspraxis von Paradise Now bietet John Tytell, The Living Theatre, S. 225–229. 123 Vgl. John Tytell, The Living Theatre, S. 227.
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raum wird in einer offenen Regieanweisung formuliert, wie sie auch in postdramatischen Stücken immer wieder begegnet: At the end of this Rite, as at several other points in the course of the voyage, any actor who feels like it, who is so moved, can make a signal to everyone present. The signal can be a sound, a word, a gesture, a look, all or any of these. (19)
Auch an anderen Stellen zeigt sich die ästhetische Nähe zu postdramatischen Stücken: Ähnlich wie in den Sprechstücken Handkes und den chorischen Textflächen Jelineks werden in den Aktions-Partien Textcollagen ohne feste Sprecheraufteilung präsentiert. Die meist in einem revolutionären Gestus formulierten Sätze mischen Parolen der Studenten- und Antikriegsbewegung – „Be the Students at Columbia“, „Undo the Culture“ (25), „Free Theatre“ (125 u. ö.) – mit geografischen Fachtermini der Britischen Trans-Arctic-Expedition (vgl. 37) und Raumfahrtmissionen sowie per Zufallsprinzip ermittelten Wörtern aus Lukrez’ Natur des Universums (vgl. 123 f.). Die Sprache von Paradise Lost zeigt exemplarisch, wie die performativen Parolen der internationalen Protestbewegungen in Verbindung mit spezifisch literarischen Verfahren (der intertextuellen Montage) eingesetzt werden. Auch in Handkes Publikumsbeschimpfung finden sich Parolen, welche die Agitpropsprache imitieren und zugleich sprachmusikalisch transformieren. Denn die von ‚einhämmernden‘ Wiederholungsfiguren geprägten Sprechgesänge negieren jede politische Botschaft. Dennoch lässt sich beispielsweise der Beginn der Kanonade im Rufrhythmus von Sprechchören inszenieren: „Sie werden hören, was Sie sonst gesehen haben. / Sie werden hören, was Sie hier sonst nicht gesehen haben. / Sie werden […].“ 124 In Paradise Lost wird der Kontakt mit dem Publikum von Stufe zu Stufe stetig intensiviert – auch hier versucht der Text, verschiedenen möglichen Dynamiken gerecht zu werden und Improvisationen zuzulassen, bis hin zu einem: „Free Theatre. The intent of Free Theatre is to allow the public and the actors to do whatever they want.“ (79) Am Ende strebt das Spiel aus dem Theaterraum auf die Straße. Akteure tragen Zuschauer auf ihren Schultern und skandieren Parolen, die in ihrer variierenden Wiederholungsstruktur gleichfalls an avantgardistische Lautpoesie und die Sprachspiele Gertrude Steins erinnern: Free the theatre. The theatre of the street. Free the street. […] The theatre is in the street. The street belongs to the people. Free the theatre. Free the street. Begin. (140).
124 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 15.
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Das Living Theatre gilt als wesentlicher Impulsgeber des neuen politischen Theaters der USA, das aber, wie es typisch für die amerikanischen Nachkriegsavantgarden ist, politische Aktion mit dezidiert künstlerischen experimentellen Theaterformen verbindet und sich bei den Avantgarden der 1920er und 1930er Jahre inspiriert. Der rituelle Charakter dieses ‚Theaters der Erfahrung‘ etwa ist sichtlich geschult an Antonin Artauds Theater der Grausamkeit. Eine Hommage an Artaud ist die Produktion Mysteries des Living Theatre. Das Improvisationsstück wurde 1966 in Paris uraufgeführt und gastierte in mehreren europäischen Städten, darunter in Heidelberg.125 Die Pest betitelte zentrale Szene inszeniert eine kollektive Massenpanik, die von den sich windenden, schreienden und hilfesuchenden Darstellern auf das Publikum übergreift. Die Wiederentdeckung Artauds verbindet die amerikanische Theateravantgarde der Nachkriegszeit mit der europäischen: Sie findet ihren Niederschlag auch in einem postdramatischen Mustertext wie Heiner Müllers Hamletmaschine (1977), die in der Szene Pest in Buda. Schlacht um Grönland eine vergleichbare Verbindung von Pest und Revolution vorstellt.126 Die „Aufhebung des Prinzips der Arbeitsteilung von Autor, Regie und Darstellung“,127 welche die radikalen amerikanischen Theaterkollektive auszeichnet, wird in deutschsprachigen postdramatischen Texten ebenfalls reflektiert: So inszeniert die Hamletmaschine eine Enthierarchisierung der Textinstanzen Autor, Figur, Schauspieler: Der Rollenwechsel wird zum Grundprinzip, die Trennung in Figuren- und Regietext aufgehoben.128 Ein wesentlicher Impuls zu diesen offenen Formen geht aus von Pionieren des ‚Theaters der Erfahrung‘ wie dem Living Theatre.
2.3.3 Politisches Straßentheater im Stil der Commedia dell’Arte: Die San Francisco Mime Troupe Zur wichtigen Inspiration des neuen Straßentheaters wurden populäre Theaterformen. Die kalifornische San Francisco Mime Troupe, 1959 von Ronny Davis gegründet, adaptierte für ihr politisches Straßentheater die Masken, Bühnenbauten und Spielformen der Commedia dell’Arte. Davis schätzt sie als „offene und farbige Form“, die sich für den publikumswirksamen Auftritt mit sparsamen Mitteln eignet: Sie „verwendet Masken, Musik, Gags, und ist mit einem
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Vgl. John Tytell, The Living Theatre, S. 197–201. Heiner Müller, Werke 4, S. 549–553. Dieter Herms, Agitprop USA, S. 21. Vgl. die folgende Interpretation, Kap. 2.5.2.
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Podium und einem kleinen Hinterbühnenvorhang rasch aufgestellt.“ 129 Die Mime Troupe imitierte auch die spezifische Spielweise: „Für den Commedia dell’arte Stil müssen die maskierten Akteure eine präzise Gestik entwickeln, um den Text einsichtig zu illustrieren.“ 130 In einem Stück wie Olive Pits131 (1966/1967), das Lope de Ruedas Farce El paso de las olivas adaptiert und mit tagespolitischen Anspielungen auf den Vietnam-Krieg, die aktuelle Not der Farmarbeiter und die fehlenden Subventionen der Theatertruppe anreichert, treten Figuren der Commedia wie Pantalone sogar namentlich auf. Vaudeville und Commedia dell’Arte treffen sich in dem Spektakel L’Amant militaire132 (1967). Das Interesse an derber Komik, das diese Truppe aus der Volkstheatertradition übernimmt, folgt dem didaktischen Programm, politische Botschaft mit Unterhaltung zu verbinden,133 und damit einer Rezeptionslinie, die von Brechts Commedia-Adaptationen ausgeht. Neben spielerischen Formen inspirierte die Commedia-Tradition auch die Textgestaltung: Offene Szenarien, die an das Canovaccio der Commedia erinnern, lassen Raum zur Improvisation. Diese Wiederbelebung der Volkstheatertradition in der Neoavantgarde reicht über den amerikanischen Kontext hinaus. In Frankreich adaptierte Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil ebenfalls Commedia-Tradition: Die Stücke werden von der gesamten Truppe während der Proben erarbeitet, Stegreifspiel und Improvisation, Körpertheater und Maskenspiel prägen den typischen Stil dieses Theaterkollektivs.134 Musterbildend ist auch die Suche nach neuen Bühnensituationen: Die Architektur der Commedia-Bühne bestimmt nicht nur das Spiel, sondern auch die Haltung der Zuschauer, welche die Freilichtaufführungen der Truppe häufig zur kollektiven Picknick-Party machen.135 Auch in dieser Hinsicht aktualisiert die Mime Troupe
129 R. G. Davis, Guerilla Theatre (1965). Zitiert in der Übersetzung von Dieter Herms, Agitprop USA, S. 72–80, hier S. 77 f. 130 R. G. Davis, Guerilla Theatre, S. 78. 131 Ein Stückabdruck findet sich in: Susan Vaneta Mason (Hg.), The San Francisco Mime Troupe Reader, Ann Arbor, Mich. 2005, S. 57–75. 132 Vgl. R. G. Davis, The San Francisco Mime Troupe. The First Ten Years, Palo Alto, Calif. 1975, S. 80–86. 133 Gerd Burger kontrastiert in seiner vergleichenden Studie die didaktischen Ideen des auratischen Bread and Puppet Theatres mit der quirligen, dem Amüsement verpflichteten Mime Troupe (Agitation und Argumentation). 134 Zu Ariane Mnouchkines Rezeption der Commedia dell’Arte vgl. Anne Neuschäfer, Das ‚Theâtre du Soleil‘. Commedia dell’arte und création collective, Rheinfelden 1983. 135 Vgl. die dokumentierenden Fotografien in: Claudia Orenstein, Festive Revolution. The Politics of Popular Theater and the San Francisco Mime Troupe, Jackson, Miss. 1998, Introduction, hier II f. Orenstein qualifiziert die Theaterform der Mime Troupe als Festive Revolution.
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Brecht, dessen Idee des Rauchtheaters ebenfalls auf eine Entspannung der Theateratmosphäre setzte. Zur Renaissance der Commedia im neuen politischen Theater mag nicht zuletzt ihr Ruf als subversive Theaterform beigetragen haben, so dass sich die Commedia im Geiste der 68er-Bewegung rezipieren ließ.136 Ähnlich politischsubversiv aktualisiert die österreichische Neoavantgarde (Wiener Gruppe) und Postdramatik (Jelinek, Handke) das Wiener Volkstheater. Diese Rezeption wird im folgenden Kapitel exemplarisch an Elfriede Jelineks Posse Burgtheater untersucht (Kap. 2.5.3). Auch Peter Handkes Kaspar (1967) stellt sich in diese Traditionslinie: Kaspar wird gleich bei seinem ersten Auftritt im Harlekin-Kostüm mit Maske typisiert und lässt sich mit der komischen Figur des Kasper(le) und ihrer modernen Aktualisierung verbinden.137 Die Wiederbelebung traditioneller populärer Theaterformen fügt sich in die Tendenz einer performativen Wende in der Kunst: Festgefügte Dramentexte treten zugunsten offener Formen, Improvisation, Stegreifspiel und Körpertheater zurück. Subversiver Wortwitz wird zu politischen Botschaften genutzt, Lieder zur unmittelbaren Ansprache des Publikums und zu seinem Amüsement.
2.3.4 Das auratische Bread and Puppet Theatre Das Theaterkollektiv Bread and Puppet Theatre wurde Anfang der 1960er Jahre von dem deutschen Bildhauer Peter Schumann in New York gegründet.138 Auftritte mit überdimensionalen Stangen- und bemannten Riesenpuppen, mit Fahnen, Masken und Stelzen fanden zunächst auf Antikriegsdemonstrationen statt. Es folgten mehrere Touren durch Europa. 1970 erhielt die Truppe eine feste Spielstätte auf einer Farm in Vermont, wo noch heute alljährlich im Som-
136 Diese Verbindung stellt Anne Neuschäfer im Vergleich von Commedia und kollektiver Kreation im Theâtre du Soleil heraus (Das ‚Theâtre du Soleil‘). 137 Karl Riha stellt Handkes Kaspar in die Linie der Kasper-Adaptationen der Moderne von den Dadaisten über Walter Benjamin bis H. C. Artmann (Vom Verlust und Wiedergewinn der Sprache. Ein Thema der Moderne. In: Riha, Prämoderne. Moderne. Postmoderne, Frankfurt a. M. 1995, S. 33–49). Er sieht im modernen Kasper eine prototypische Schwellenfigur im Schwebezustand zwischen mechanisiertem Leben (Marionette) und ihrer utopischen Überwindung (durch Komik). 138 Zur Geschichte des Bread and Puppet Theatre vgl. die monumentale, detaillierte und mit reichlich Bildmaterial ausgestattete zweibändige Monografie von Stefan Brecht, The Bread and Puppet Theatre. Bilder, Kommentare und Stückabdrucke enthält auch der französischsprachige Band von Christian Dupavillon und Etienne George (Hg.), Bread and Puppet Theatre. Spectacles en noir et blanc, Paris 1978.
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mer Freilichtaufführungen und Umzüge stattfinden. Gemeinsam mit dem Living Theatre gilt das Bread and Puppet als prägend für die Bewegung des freien Theaters. Markenzeichen der Gruppe ist neben dem charakteristischen Puppenspiel das rituelle Verteilen von Brot, mit dem die Spieler den direkten Bezug zum Publikum herstellen – und kultische beziehungsweise sakrale Theaterformen evozieren. In seinen kurzen Stücken, die in Form knapper Szenarien dokumentiert sind, greift das Kollektiv aktuelle politische Themen auf und verfremdet sie durch mythische oder biblische Bezugnahmen. Dadurch entstehen Parabeln, die sich in die Tradition von Brechts politischem Theater stellen. Gleichzeitig – und im Gegensatz zu Brecht – erhalten die Darbietungen des Bread and Puppet Theatre, ähnlich wie diejenigen des Living Theatre, durch ihre starke Ritualisierung eine spirituelle Aura. Dass dieses amerikanische avantgardistische Straßentheater von einem deutschsprachigen (Post)Dramatiker wahrgenommen wurde, bezeugen zwei Hinweise Peter Handkes, der Aufführungen von Bread and Puppet in Frankfurt und Paris gesehen hat.139 In seinem programmatischen Aufsatz zu Theater und Film140 (1968) leitet Handke seine abschließenden Überlegungen zu einem neuen unmittelbaren Theater ein mit einem Verweis auf das Bread and Puppet Theatre: In Paris habe ich kürzlich das Bread and Puppet Theatre aus New York gesehen, das mich von den Möglichkeiten nicht des Theaters, aber des unmittelbaren Vorführens von Handlungen überzeugt hat.141
Diese Zeilen belegen den Einfluss der amerikanischen Theateravantgarde auf die Dramaturgie des Postdramas: Wenn auch die Darbietung des Bread and Puppet Theatre selbst nicht als Theater qualifiziert wird, so kann sein Vorführen von Handlungen doch ein neues Theater inspirieren. Dieses entwirft Handke in den Schlusspassagen des Aufsatzes als ein Theater, das keiner Geschichte dienen, sondern „sich selber vorzeigen“ 142 soll: Die Gesten und Bewegungen auf der Bühne verweisen auf nichts weiter als sich selbst, denn „Jedes Wort, jeder Laut, jede Bewegung ist eine Geschichte: sie führen zu nichts, sie bleiben für sich allein sichtbar.“ 143 Auf signifikante Weise ist in dieser produktiven Rezeption des amerikanischen Straßentheaters dessen politischer Anspruch
139 Vgl. Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 76 und 109 f. 140 Peter Handke, Theater und Film. In: Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 65–77. 141 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 76. 142 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 76. 143 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 76.
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vollkommen ausgeblendet, faszinierend ist für Handke offenbar allein die – selbstreflexive – Ästhetik der theatralen Vorgänge. Bereits in seinen frühen Sprechstücken und im Kaspar (1967/68) hat Handke Wörter und Sprache auf eine vergleichbare Weise ‚vorgezeigt‘. Im stummen Spiel Das Mündel will Vormund sein (1968) werden schließlich alltägliche Handlungen wie das Wasserbrühen mit einem Elektrokocher und das Mahlen von Kaffee in ‚Echtzeit‘ ausgestellt und damit – wie die Brotscheiben des Bread und Puppet – allein durch ihre Präsenz in einer theatralen Darbietung auratisiert, was im Regietext vor allem über akustische Reize vermittelt wird:144 Wir hören, wie das Wasser in den Teekessel rinnt. […] Wir hören das Wasser im Teekessel summen. […] Der Teekessel pfeift …
In seiner 1969 verfassten Rezension der Frankfurter experimenta, auf der das Bread and Puppet Theatre mit dem religiös-mythischen Spiel The Cry of the People for Meat gastierte, zeigt Handke sich zwar nach wie vor fasziniert von der „Sinnlichkeit“ des Spiels. Diese Faszination wird jedoch mit dem Hinweis auf eine „einfältige Ideologie“ relativiert, die womöglich allein eine derart „schöne und unbefangene Sinnlichkeit“ ermögliche.145 In Handkes „Theatertheater“ 146 ist die unmittelbare Wirkung ‚realer‘ Vorgänge hingegen stets reflexiv gebrochen. Im angeführten Beispiel ist diese Brechung bereits durch das die Vorgänge vermittelnde – und kommentierende – „Wir“ gegeben, das an die Vermittlungsinstanzen des epischen Theaters anschließt. Zur Rezeptionsgeschichte des Bread and Puppet im deutschsprachigen Raum zählt wesentlich ein 1973 im Fischer Taschenbuchverlag unter dem Titel Puppen und Masken. Das Bread and Puppet Theatre erschienener Arbeitsbericht Peter Schumanns über die Produktion Der Vogelfänger in der Hölle.147 Das Bändchen enthält das vollständige Szenario, Kommentare Schumanns und Aufführungs-Fotografien. Der Vogelfänger in der Hölle ist exemplarisch für das mythische Parabeltheater des Bread and Puppet. Vorlage ist ein japanischer Märchenstoff, der zur Parabel auf amerikanische Kriegsverbrechen in Vietnam wird. Aktueller Anlass ist der Prozess gegen William L. Calley, der als Offizier für das Massaker von My Lai verantwortlich war und nach seiner Verurteilung von Präsident Nixon zunächst aus der Haft entlassen und schließlich 1974 be-
144 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 208 f. 145 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 109. 146 Diesen Begriff prägte Handke 1968 in seinem Essay über Straßentheater und Theatertheater (Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 51–55). 147 Peter Schumann, Puppen und Masken. Das Bread and Puppet Theater, Frankfurt a. M. 1973.
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gnadigt wurde. Das Stück mischt mythische Vorlage und aktuellen Bezug in einer Textcollage: „Als Quellen für den Text des Stückes wurden das japanische Märchen Der Vogelfänger in der Hölle, Homers Ilias und die Rede Richard Nixons nach der Verurteilung Leutnant William L. Calleys benutzt.“ 148 Neben dem Parabelcharakter, den die strukturgebende Märchenhandlung durch eingestreute Aktualitätsbezüge gewinnt, zeigen sich weitere Einflüsse von Brechts politischem Theater: Die schlichte Fabel wird durch epische Verfahren (Erzählerfigur) übermittelt. Der Einsatz von überdimensionierten Puppen, deren Spieler sichtbar sind und gemeinsam mit den Puppen agieren, wirkt angesichts des markierten politischen Zeitbezugs gleichfalls als Verfremdungseffekt: Das typische Spiel mit ‚bemannten‘ Riesenpuppen verstärkt diese verfremdende Wirkung: „Zwei Hände Yamas sinken zu Boden, in ihnen sieht man vier Herren in Zylinder und Frack sitzen.“ 149 Auch komische Momente werden als verfremdendes Mittel eingesetzt, das die Grauen des Krieges im heiteren und naiven, auf den zweiten Blick jedoch abgründigen Spiel vermittelt. Komik entsteht etwa durch abrupte Wechsel der Sprachebenen: Sieht sich der Vogelfänger eben noch „an der Kreuzung / Der sechs Wege der Existenz“, so flucht er kurz darauf: „O Mist! / Ich glaube, ich gehe lieber in den Himmel.“ 150 Inspiriert sind Komik und Spielweise des Stückes – ebenfalls in der Brecht-Tradition stehend – vom japanischen NôTheater: „Der Vogelfänger in der Hölle ist ein Kyogen, d. h. ein komisches Zwischenspiel in einem Nô-Zyklus.“ 151 Diese distanzierenden Verfremdungseffekte werden verbunden mit übersteigerter sinnlicher Präsenz und kultischem Gemeinschaftserlebnis von Spielern und Zuschauern. Diese Kombination von episch-distanzierenden Mitteln und ekstatischen Verschmelzungsphantasien ist charakteristisch für das amerikanische Avantgardetheater.
2.3.5 Richard Foreman und Robert Wilson als Klassiker der internationalen postdramatischen Avantgarde Das Theater der amerikanischen Avantgardisten Richard Foreman (geboren 1937) und Robert Wilson (geboren 1941) gilt als paradigmatisch für die Postdra-
148 149 150 151 o. S.
Anmerkung des Übersetzers. In: Peter Schumann, Puppen und Masken, o. S. Anmerkung des Übersetzers. In: Peter Schumann, Puppen und Masken, o. S. Anmerkung des Übersetzers. In: Peter Schumann, Puppen und Masken, o. S. Einleitender Kommentar Peter Schumanns. In: Peter Schumann, Puppen und Masken,
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matik.152 An ihrem Beispiel lassen sich im Rahmen dieser Arbeit zwei Dinge zeigen: zum einen eine Traditionslinie, die direkt aus der amerikanischen Avantgarde – aus Happening und Pop Art, politischem Straßentheater und ekstatischem Theater – in die Postdramatik führt. Zum anderen offenbart sich eine Verwandtschaft internationaler Tendenzen: Foreman und Wilson sind weniger Vorläufer als vielmehr aktive Mitstreiter der internationalen Postdramatik. Der Vergleich mit Handke und Müller belegt eine wechselseitige Befruchtung: Handkes Sprechstücke etwa beeinflussten die frühen Theaterarbeiten Foremans153 und die enge Zusammenarbeit von Wilson und Müller befruchtete beide Künstler. Die beiden Amerikaner Foreman und Wilson sind zudem typische Allroundkünstler der New Yorker Avantgarde: Als Regisseure inszenieren sie gleichermaßen fremde wie eigene Stücke, die sie in unverwechselbare visuelle und akustische Installationen, Environments oder Landscapes im Sinne Gertrude Steins übersetzen. Foreman, der auch Stücke von Gertrude Stein, Bertolt Brecht und Botho Strauß inszenierte, stellt sein assoziatives Bewusstseinstheater, mit dem er seit den späten sechziger Jahren international erfolgreich ist, unter den philosophisch-psychologischen Programmtitel Ontological-Hysteric-Theatre.154 Sein Ziel ist die phänomenologische Dramatisierung von Denkprozessen, in der die Darsteller verschiedene Facetten von Foremans Persönlichkeit verkörpern.155 Stefan Brecht qualifiziert Foremans autobiografisches „diary theatre“ als „Theatre as personal phenomenology of mind“.156 Wiederholt arbeitete Foreman in den achtziger Jahren mit der legendären New Yorker Wooster Group zusammen. In Deutschland wurde er 1982 bekannt durch seine Inszenierung von Gertrude Steins Doctor Faustus lights the lights an der Freien Volksbühne Berlin.157 Robert Wilsons suggestives Bildertheater machte in den siebziger Jahren auch in Europa Furore: 1974 wurde die Produktion A Letter for Queen Victoria
152 Hans-Thies Lehmann expliziert postdramatische Mittel wiederholt an Beispielen von Foreman und Wilson (Postdramatisches Theater). 153 Bonnie Marranca verweist in ihrer Einleitung zu Foremans Pandering to the masses auf die „striking resemblance to Peter Handke’s Sprechstücke“ (The Theatre of Images, S. 5). 154 Eine Sammlung seiner Plays and Manifestos bietet Richard Foreman, Plays and Manifestos, New York 1976. 155 Vgl. Bonnie Marranca, The Theatre of Images, S. 4. 156 So Titel und Untertitel von Stefan Brechts unvollendeter Monografie über Richard Foreman, die als dritter Band von Brechts monumentaler Dokumentation The original theatre of the City of New York from the mid sixties to the mid seventies geplant war. Vgl. den Editionsplan in: Stefan Brecht, The Bread and Puppet Theatre. 157 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 105.
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in Paris gezeigt; 1976 seine gemeinsam mit dem Komponisten Philipp Glass geschaffene Oper Einstein on the Beach auf dem Festival in Avignon. Wilsons intermediale Theaterkunst – die Schauspiel, Tanz, Pantomime, Lichtdesign, Bildende Kunst und Musik verbindet – hat im Laufe der Jahre eine unverkennbare Formensprache als Markenzeichen entwickelt, deren exakte, ‚eckige‘ Bewegungen in einer weitgehend statischen, tableauhaften Szenerie (mit dominanten Schwarzweißkontrasten) Hans-Thies Lehmann als „Theater der Langsamkeit“ bezeichnet hat.158 Unter dem Titel The Theatre of Visions bündelt Stefan Brecht im Eröffnungsband seiner Chronik die visionären Bilderfolgen von Wilsons Produktionen bis zur Mitte der 1970er Jahre.159 Legendär ist Wilsons Zusammenarbeit und Freundschaft mit Heiner Müller:160 Ihre erste Begegnung 1976 fällt in die Entstehungszeit von Müllers Hamletmaschine, also in eine Zeit, in der sich Müller vom dialogischen Drama abwendet. Die Hamletmaschine inszenierte Robert Wilson 1986 in zwei Versionen in New York und Hamburg. Zuvor hatte Müller bereits dramaturgisch in Wilsons CIVIL warS-Projekt mitgearbeitet, dessen deutscher Teil mit einigen Texten Müllers am 19. Januar 1984 in Köln Premiere hatte.161 Wilsons Müller-Inszenierungen wurden häufig wegen ihrer unpolitischen Haltung kritisiert und als den Stücken unangemessen abgelehnt.162 Müller hielt hingegen an der Kooperation mit Wilson fest und bekundete in Interviews wiederholt seine Faszination für dessen Theaterstil. Es kann von einer wechselseitigen Befruchtung ausgegangen werden, die Müller wichtige Impulse für seine bildhaften postdramatischen Stücke gab. Bei Wilson wiederum, der Müllers Bildbeschreibung in sein Alkestis-Projekt (1986) integrierte, gewann in der Zusammenarbeit mit Müller der Text wieder mehr Gewicht. Die Zusammenarbeit von Müller und Wilson ist somit paradigmatisch für das spannungsvolle Verhältnis von Sprache und Bild, Text und Aufführung, vermittelnden, reflexiven und unmittelbaren, präsentischen Momenten, das die postdramatische Ästhetik wesentlich kennzeichnet: „Mich interessiert die Kollision zwischen meinem Text und seinen Bildern“,163 äußerte Müller über diese produktive Konfrontation zwischen Autor und Regisseur. Zwei signifikante Beispiele von Wilsons und Foremans Avantgarde-Theater wurden, gemeinsam mit einer Produktion von Lee Breuer (Jahrgang 1937) und
158 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 331. 159 Stefan Brecht, The Theatre of visions 1978. 160 Geschichte und Bedeutung dieser produktiven Freundschaft rekonstruiert Christel Weiler. In: Heiner Müller Handbuch, S. 338–345. 161 Vgl. Heiner Müller Handbuch, S. 338. 162 Vgl. Heiner Müller Handbuch, S. 339. 163 Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1990, S. 113.
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seiner Truppe Mabou Mines, in einer wegweisenden Textsammlung von Bonnie Marranca dokumentiert: The Theatre of Images164 (1977) erklärt im Vorwort programmatisch das postdramatische Bilder-Theater zum Leitmuster. Die demonstrierte Visualität dieses Musters drängt die Bedeutung von Sprache und Text zurück. Die Stücke des Bandes bleiben deshalb notwendigerweise vorläufige „incomplete documents“: „text is merely a pretext – a scenario“.165 Gestalt gewinnen sie erst in der Aufführung: Das Theater der Bilder „must be seen to be understood“.166 Dokumentiert werden Richard Foremans Pandering to the Masses (1977), Robert Wilsons A Letter for Queen Victoria (1974) und Lee Breuers The Red Horse Animation (1976) – flankiert von kommentierenden Essays und Aufführungsbeschreibungen der Herausgeberin, einleitenden Erläuterungen der Autoren sowie Szenenfotos. Aus dem Rahmen fällt Lee Breuers Stück, das vollständig als Comic-Strip präsentiert ist.167 Foremans Pandering to the Masses: A Misrepresentation,168 das 1975 in einem New Yorker Loft aufgeführt wurde, ist ein signifikantes Beispiel für Foremans „diary theatre“: Das Stück erzählt die Geschichte seiner eigenen Entstehung in Form einer „lecture-demonstration“:169 Sprache und Bewegungen auf der Bühne werden von Foremans Kommentar aus dem Off begleitet, der seine Tagebuchnotizen zur Entstehung des Stückes auf Tonband gesprochen hat. Diese episierende Kommentarstruktur des Stückes bezeugt die Brecht-Rezeption Foremans, der sein Stück als „teaching play“ konzipiert hat.170 Wie für postdramatische Transformationen des epischen Musters typisch, werden die episierenden Mittel jedoch selbstreflexiv gewendet: Es geht nicht um politische Aktion jenseits der Bühne, sondern – wie in Handkes „Theatertheater“ 171 – darum, die Theatersituation selbst bewusst zu machen.172 Hierfür greift Foreman auf Gertrude Steins Konzept des continuous present zurück.173
164 Vgl. Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images. 165 Bonnie Marranca, Introduction. In: The Theatre of Images, hg. von Bonnie Barranca, S. IX–XV, hier S. XI. 166 Bonnie Marranca, Introduction, S. XI. 167 Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 111–156. 168 Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 1–36. 169 So Bonnie Marranca in ihrer Einleitung zum Stück. In: Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 1–11, hier S. 5. 170 Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 7. 171 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 51–55 (Straßentheater und Theatertheater). 172 Für Bonnie Marranca ist Foreman dadurch „formalistically more radical than Brecht“ (The Theatre of Images, S. 7). 173 Zum Stein-Bezug vgl. Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 7.
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Im Stück spiegelt sich der Autor in der Figur des Dramatikers Max; die anderen Personen des handlungslosen Geschehens werden als Allegorien psychischer bzw. physischer Zustände lesbar: Sexualität wird beispielsweise durch die Frauenfigur Rhoda repräsentiert.174 Um ihre Funktion im vielschichtigen ‚Bewusstseinstheater‘ zu konturieren, wird sie in ein metatheatrales Spiel verstrickt: Sie tritt in einem Stück-im-Stück auf mit dem Titel Fear, das von der kommentierenden Autorstimme aus dem Off eingeleitet wird: Voice: The ‚Ahhhhhh!‘ of recognition, announces the beginning oft the play Fear, which happens to Rhoda in the center of the play entitled Pandering to the Masses: A Misrepresentation.175
Die Selbstbezüglichkeit steigert sich am Ende, wenn die Zuschauer zur Interpretation des phänomenologischen Bewusstseinsspiels vom Kommentator auf dessen – durch verfremdete Autornamen fiktionalisierte – Quellen verwiesen werden: The play is over. But the meaning of the play will be found within the pages of the books scattered across the floor. Such works including: The Phenomenology of the Spirit by Fredrich Hegel; The Cartesian Meditations by Edmund Hauptfriel; The Introduction to Logic and Aesthetics by Morris Shlicksberg; and, of course, the text of Pandering to the Masses: A Misrepresentation.176
Auch Robert Wilsons Letter for Queen Victoria,177 1974 in Spoleto uraufgeführt, lebt vom selbstreflexiven Spiel mit dem Text und der Theatersituation. Es besteht aus einer Montage heterogener Bilder und Themen: Nachdem zunächst ein vermeintlich authentischer Brief an Queen Victoria von vier Schauspielern verlesen wird,178 mischen sich daraufhin die Zeiten und Themen. Die Spanne umfasst „human interaction, murder, the Civil War, justice, ecology, pilots and a plane crash, cultural imperialism, ancient civilisations and the atom bomb.“ 179 Amerikanische Alltags- und Populärkultur erscheint in banalen Dialogfetzen; zusammenhanglos gereihte Film- und Pressezitate verbinden sich mit einer Referenz an den Wildwesthelden Sundance Kid. Neben den Akteuren,
174 Vgl. Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 4. 175 Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 24. 176 Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 36. 177 Robert Wilson, Letter for Queen Victoria. In: Bonnie Marranca [Hg.], The Theatre of Images, S. 37–109. 178 Vgl. Wilsons Kommentar, der den Brief in einer bearbeiteten Abschrift von Stefan Brecht bekam (In: Bonnie Marranca [Hg.], The Theatre of Images, S. 46 f.). 179 Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 39.
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deren Redeparts durch Ziffern markiert sind, treten ‚reale‘ Personen auf: Wilson selbst, der autistische Junge Christopher Knowles und Wilsons texanische Großmutter. Das Arrangement, das Marranca mit den Assemblagen und Ready Mades der Dadaisten vergleicht,180 wird von Wilson selbst ‚Oper‘ genannt: „‚opera‘ because everything in it happens at once, the way it does in operas and the way it does in life.“ 181 Die Verwendung vorgefundenen Sprachmaterials, das in klangvollen Wiederholungsfiguren arrangiert wird, steht, wie die zuständliche Dramaturgie, deutlich in der Nachfolge von Gertrude Steins ‚Landscape-Plays‘. Die typische selbstreflexive Wendung auf die Theatersituation setzt mit der prologartigen Eingangsszene ein, deren erste Zeilen hier beispielhaft für Wilsons Stil der performativen Wiederholung angeführt werden sollen: Nachdem Robert Wilson und Christopher Knowles, die in diesem Vorspiel und weiteren Zwischenspielen auftreten, mehrmals die Buchstaben „A“ und „B“ in wechselnder Reihenfolge wiederholt haben, wenden sie sich der aktuellen Aufführung des Stückes zu: 2: 1: 2: 1: 2: 1: 2:
We’re doing the play What are we doing A We’re doing „A letter for Queen Victoria“ … B What are we doing We’re doing the four acts Where are we We’re in the theatre182
Die scheinbar endlosen Wiederholungsschleifen lenken die Aufmerksamkeit auf den Klang der Sprache und machen spürbar, wie im Sprechen die Zeit vergeht. Diesbezüglich sind sie mit Handkes Sprechstücken verwandt und aktualisieren, wie diese, das Beckett’sche ‚Zustandstheater‘. Vom Vorbild des absurden Theaters ist auch die Grundsituation des Wartens inspiriert, die in ihren Zwischenspielen den Satz „And you sit on the bench and you wait for me“ wiederholen und variieren.183 Die von Marranca dokumentierten Stücke Foremans und Wilsons vereinen signifikante Merkmale, welche die Herkunft aus Happening, Straßentheater und ekstatischem Theater zeigen und auch die internationale Vernetzung postdramatischer Tendenzen offenbaren; Marranca weist selbst auf die Nähe zwi-
180 181 182 183 tion
Vgl. Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 40 f. Zitiert nach: Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 49. Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 54. Vgl. etwa Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 92. Zu Wilsons Beckett-Rezepvgl. auch Kap. 1.3 dieser Arbeit.
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schen Richard Foreman und Handkes Sprechstücken hin.184 Sie verortet die Texte ihrer Sammlung als Höhepunkte der amerikanischen Avantgardebewegung, deren Traditionslinie sie offenlegt: The works of Foreman, Wilson and Breuer represent the climactic point of a movement in the American avant-garde that extends from the Living Theatre, The Open Theater, The Performance Group, The Manhattan Project and the Iowa Theatre Lab, to the „show and tell“ styles of political groups like El Teatro Campesino, The San Francisco Mime Troupe and The Bread and Puppet Theatre.185
Als spezifische Merkmale vermerkt Marranca zunächst die demonstrierte Intermedialität: Die theatralen Tableaux, die Foreman und Wilson entwerfen, sind inspiriert von bildender Kunst, Film und modernem Tanz. Marranca betont die malerische und bildhauerische Qualität dieses Theaters, das eine, der sukzessiven Narration entgegenstehende, Statik auszeichne.186 Dem Film verdanke das Theater eine spezifische Schnitttechnik, die Reihung bildhafter ‚Stills‘.187 Foreman erreicht Bildhaftigkeit durch spezifische Rahmungen: eine geometrische Zerlegung der Bühne, die durch gespannte Schnüre in einzelne Raumsegmente geteilt wird.188 Für Sekunden eingefrorene Bewegungen bestimmen die visuellen Choreografien beider Regisseure. Wilson arbeitet mit starken Schwarzweißkontrasten, in denen einzelne Signalfarben aufblitzen: das Rot der Mörder, gelbes Licht von Sundance Kid.189 Auf dem dunklen Vorhang, der während der von Knowles und Wilson bestrittenen Zwischenspiele geschlossen ist, wird mit weißem Licht ein visuelles Gedicht projiziert,190 das in Kombination mit den vorgetragenen Lautgedichten die grafische und musikalische Materialität von Sprache demonstriert. Bildhaft-statisch wirkt auch die Inszenierung eines „continuous present“,191 das von Gertrude Steins Landscape-Konzept inspiriert ist. Das ‚Bildertheater‘ ist ferner – und darin liegt eine weitere Gemeinsamkeit der dokumentierten Beispiele – ein ‚Bewusstseinstheater‘, das psychische Zustände visualisiert. Dies gilt nicht nur für Foremans theatralisiertes Psychogramm, auch Wilsons assoziative Bildreihen folgen einer ‚Traumlogik‘. Marran-
184 Vgl. Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 5. 185 Bonnie Marranca, Introduction, S. X. 186 Vgl. Bonnie Marranca, Introduction, S. XII. 187 Vgl. Bonnie Marranca, Introduction, S. XIV. 188 Vgl. Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 8 und die Abbildungen der Aufführung (o. S.). 189 Vgl. Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 45. 190 Vgl. Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 108 sowie die Abbildung (o. S.). 191 Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 39.
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ca verweist in diesem Zusammenhang auf Wilsons Arbeit mit Christopher Knowles, der in Wilsons Stücken mit selbst verfassten Texten auftrat und als Autist einen ‚anderen‘ Bewusstseinszustand repräsentierte.192 Das Theatre of Images ist schließlich wesentlich vom epischen Theater Brechts inspiriert, dessen Verfremdungstechniken im Dienste des visuellen Theaters transformiert werden. Die Trennung der theatralen Elemente dient ihrer Demonstration: Bild und Bühnenhandlung werden aus ihrem Zusammenhang mit der Sprache gelöst; alle Elemente wirken nun in ihrer spezifischen akustischen beziehungsweise visuellen Qualität. Diese wird nicht abgebildet, sondern in einer direkten Wendung ans Publikum ‚in Wirklichkeit‘ demonstriert. In diesem Zusammenhang beschreibt Marranca am Beispiel Foremans genau dieselbe Verlagerung vom „Dialog zum Diskurs“, die auch Andrzej Wirth als Gemeinsamkeit von Handke und Müller – und mit explizitem Hinweis auf Foreman und Wilson – herausgestellt hat.193 Marranca sieht hier, wie Wirth, eine Steigerung von Brechts Dialogtechnik: „Foreman has gone further than Brecht by moving the dialogue from its fixed position in a play on stage to a dialogue (metaphorical) between stage and audience.“ 194 Als typisch postdramatisch kann gelten, dass die epische Grundsituation selbstreflexiv gewendet wird: Foremans und Wilsons Stücke „are about the making of art.“ 195 Metatheatralität, die bei Foreman und Wilson etwa durch Kommentare, ausgestellte Bühnenhaftigkeit und ‚reale‘ Personen auf der Bühne entsteht, hat rezeptionsästhetische Funktion. Sie dient hier, wie Marranca ausführt, dazu, das Publikum nicht vor ein fertiges Produkt zu setzen, sondern es durch die Darstellung des kreativen Prozesses an diesem teilhaben zu lassen.196 Die theatrale Darstellung mentaler Zustände, die nach Marranca das ‚Bewusstseinstheater‘ Wilsons und Foremans prägt, findet eine Entsprechung in den Traumsequenzen von Müllers Hamletmaschine; in Handkes späteren Stücken wird sie ebenfalls dominant. Auch das Intermediale und statisch Bildhafte begegnet wieder im handlungslosen Tableau historischer und literarischer Figuren in Müllers Hamletmaschine. Die Bühnensituation von Foremans Pandering ähnelt wiederum derjenigen in Handkes Kaspar: In einer akustischen Installation mischt Foreman Tonbandaufnahmen aus dem Off und das live gesprochene Wort auf der Bühne:
192 193 194 195 196
Vgl. Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 39. Vgl. Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs. Zu Foreman und Wilson vgl. S. 18. Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 7. Bonnie Marranca, Introduction, S. XII. Vgl. Bonnie Marranca, Introduction, S. XII.
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„So, words bombarded the audience – a different voice for each word, each word coming from a different place.“ 197 Auch Handke traktiert seine Figur und den Zuschauer durch die aus dem Off schallenden Sprachkaskaden der Einsager. Betrachtet man Foremans und Wilsons Stücke im Vergleich mit ihren Zeitgenossen Handke und Müller, so offenbart sich ausgehend von der epischen Grundsituation eine bis ins Detail reichende Verwandtschaft. Sie betrifft nicht zuletzt einen Personenkult des Autors, der sich an Foremans persönlich verlesenem Tagebuch und Wilsons öffentlichem Zwiegespräch mit Christopher Knowles zeigt. Die heterogenen, assoziativen Bildfolgen scheinen zuallererst auf ihren Urheber zu verweisen: „Die Antwort auf die klassische Frage der Dramentheorie: ‚Wer spricht da?‘ ist in Foremans Theater – Foreman selbst“.198 Sein Solilog bietet einen Blick in den Kopf seines Schöpfers, eine Tendenz, die sich in der Entwicklung der postdramatischen Ästhetik noch verstärken wird (vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit). Ihr Ansatz zeigt sich in vergleichbarer Weise bereits in Handkes Debüt, der die Sprecher der Publikumsbeschimpfung zum „Sprachrohr des Autors“ 199 macht. In Heiner Müllers Hamletmaschine, deren Traumlogik ähnlich subjektiv gefärbt ist wie Foremans Bewusstseinsprotokoll und Wilsons Collage, wird eine „Fotografie des Autors“ 200 zerrissen. Einher mit der Subjektivierung der Erzählinstanz dieser epischen Stücke geht eine parallele Subjektivierung der Rezeption: Indem die Hierarchien zwischen Autor, Figur und Spieler, zwischen gesprochenem Text, Regieanweisung, Autorkommentar und Paratexten fallen, wird der Zuschauer zum Mitspielen animiert. Der Text wird offenes Material, das allen am Spiel Beteiligten – Autor, Regisseur, Darsteller und Zuschauer – zur freien Verfügung steht.
2.4 Zwischen Politik und Pop: Postdramatische Gründungstexte 2.4.1 Peter Handkes Publikumsbeschimpfung (1965): Provokation aus dem Elfenbeinturm Handkes Publikumsbeschimpfung 201 wurde am 8. Juni 1966 im Rahmen des Theaterfestivals experimenta I am Frankfurter Theater am Turm unter der Regie 197 Zitiert nach: Bonnie Marranca (Hg.), The Theatre of Images, S. 12. 198 Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs, S. 18. 199 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 18. 200 Heiner Müller, Werke 4, S. 552. 201 Das Stück wird im Folgenden mit bloßen Seitenangaben im Text zitiert nach: Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 7–41.
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von Claus Peymann uraufgeführt: Vier Schauspieler stehen an der Rampe und halten eine ausgedehnte Ansprache ans Publikum. Die Bühne ist leer, die Sprecher sind alltäglich gekleidet, Zuschauerraum und Bühne gleichermaßen erleuchtet. Die vom Titel erzeugte Erwartung einer Beschimpfung wird allerdings zunächst enttäuscht: Vorgetragen wird vielmehr ein langatmiger Diskurs, das poetische Programm eines Antitheaters ohne Bühnenillusion, ohne vierte Wand, ohne Handlung, Dialoge und Charaktere. Erst gegen Ende (im Text auf den letzten vier von knapp 30 Seiten) setzt eine Art Beschimpfung ein. Das Stück ist ein demonstratives ‚Antidrama‘: Der handlungslose Diskurs ans Publikum ist nicht in Szenen und Auftritte gegliedert, die Redepartien sind nicht auf die Sprecher aufgeteilt, sondern werden als fortlaufender, in 67 Abschnitte unterschiedlicher Länge unterteilter Prosatext präsentiert. Doch auch wenn kein Drama im herkömmlichen Sinne vorliegt, exponiert das Stück dennoch eine genuin theatrale Situation, indem es schlicht und einfach den Akt des Sprechens demonstriert: „Wir sprechen nur.“ (17) Allein durch das Sprechen von der Rampe ins Publikum entsteht eine spezifische Theatersituation: „Wir spielen, indem wir Sie ansprechen.“ (17) Konsequent wird ins äußere Kommunikationssystem agiert, wodurch sich auch die Rolle der Zuschauer ändert. Sie werden nicht nur permanent angesprochen, in einem Rollentausch werden sie sogar als die wahren Akteure definiert und am Ende von der Bühne herab frenetisch beklatscht (vgl. 41). Die spezifische theatrale Situation, die im Ansprechen des Publikums entsteht, macht das Stück zu einem Gründungstext der Postdramatik. Die direkte Wendung ans Publikum ist nicht nur von Brechts Demonstrationstheater und der Happening-Bewegung inspiriert, sondern vor allem von der Popmusik: An den Beatles faszinierte Handke nach eigener Aussage „diese Direktheit von Show und Theatralik, diese direkte Ansprache des Publikums“,202 die er in der Publikumsbeschimpfung auf das Theater übertrug. Trotz dieser für das Postdrama musterbildenden Theatersituation und weiterer spezifischer Mittel ist das Stück bisher nicht eingehend als postdramatischer Gründungstext gewürdigt worden. Jüngst hat allerdings Hans-Thies Lehmann am Rande darauf hingewiesen, dass gerade dieses Stück „ganze Lehrbücher der Theatertheorie ersetzen“ könne, da es sich lesen lasse als „einzige große Metapher auf das […], was sich damals und in den kommenden Jahrzehnten als Performance und postdramatisches Theater entwickelte.“ 203 Auch eine differenzierte literar- und theaterhistorische Kontextualisierung steht noch aus. Lediglich Andrzej Wirth hat den frühen Peter Handke neben
202 Peter Handke. In: Der Spiegel, 25. Mai 1970. Zitiert nach: Malte Herwig, Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biographie, München 2011, S. 145. 203 Hans-Thies Lehmann, Peter Handkes postdramatische Poetiken, S. 71 f.
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Heiner Müller als Hauptvertreter einer dialoglosen „Dramatik des Diskurses“ ausgewiesen, die sich durch die „Form einer Publikumsansprache“ auszeichnet.204 In der Handke-Forschung wurde hingegen vornehmlich die Frage nach dem Provokationspotential dieser antitheatralen ‚Revolte‘ diskutiert: Allein in der provokativen Absage an konventionelle dramatische Strukturmerkmale erkannte man einen Gestus der Revolte, aufgrund dessen man das Stück in den Kontext der beginnenden 68er-Bewegung stellte.205 Für Rainer Nägele und Renate Voris dient Handkes Verfremdung der Theatersituation einem aufklärerischen Programm à la Brecht: „Der Zuschauer soll sich im Theater als Teilnehmer eines theatralischen Geschehens bewußt werden, um aufmerksam zu werden für seine Teilnahme an der Dramaturgie der Wirklichkeit“ und ihre „gesellschaftlichen Spielregeln“.206 Eine dergestalt vereinfachende brechtianische Interpretation, die dem politischen Klima der Entstehungszeit folgt, negiert jedoch, dass das Stück jede Bezugnahme auf eine Wirklichkeit jenseits des Theaters zurückweist und statt dessen die Gegenwart des Spiels ausstellt.207 Dennoch kann mit Wirth gerade in der Spielsituation einer Publikumsansprache eine „Radikalisierung des epischen Theaters“ 208 gesehen werden, die jedoch „Brecht ohne Brecht“ aktualisiert und nicht (vordergründig) politisch oder gesellschaftskritisch dimensioniert ist.209
204 Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs, S. 16. Die besondere Kommunikationssituation von Handkes Stück analysieren auch Hans C. Angermeyer, Zuschauer im Drama, Frankfurt a. M. 1971, (Literatur und Reflexion 5) bes. S. 106–111, und Thorsten Roelcke, Dramatische Kommunikation, Berlin und New York 1994, bes. S. 105–152, doch leisten ihre systematischen Studien keine literatur- und theaterhistorische Einordung des Stückes. 205 Ingrid Gilcher-Holtey, Dorothea Kraus und Franziska Schößler (Hg.), Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation, Frankfurt a. M. 2006, S. 7 ff., sehen im Vorwort ihres Sammelbandes zum Politischen Theater nach 1968, dessen Cover ein Foto der Uraufführung von Handkes Publikumsbeschimpfung ziert, das Politische von Handkes frühen Stücken in dieser Lust an der Provokation. Auch für Dorothea Kraus erwächst das „politische Potential“ aus dem „Bruch mit gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungshaltungen“ („Dies ist keine andere Welt als die Ihre“. Zu Peter Handkes Publikumsbeschimpfung. In: Der Deutschunterricht 60, 2008, H. 1, S. 43–52, hier S. 52). Zum revolutionären Potential von Handkes „AntiTheater“ vgl. auch Jürgen Schröder, Das „dramatische“ Jahrzehnt der Bundesrepublik, S. 497– 501. 206 Rainer Nägele und Renate Voris, Peter Handke, S. 74 f. 207 Auch der kontrastive Vergleich von Karol Sauerland zwischen dem ‚Konventionalisten‘ Brecht, der ein formalisiertes und stilisiertes Theater für seine politische Dramatik benötige, und dem ‚Antikonventionalisten‘ Handke, der mit der Institution Theater letztlich nichts anfangen könne, geht an dem komplexen und differenzierten Verhältnis Handkes zu Brecht vorbei (Brecht, Handke und das Publikum als Konvention). 208 Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs, S. 18. 209 Zur postdramatischen Brecht-Rezeption vgl. Kap. 1.1.
Zwischen Politik und Pop: Postdramatische Gründungstexte
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In den einseitig politischen Interpretationen hat die Wirkungsgeschichte des Stückes als „Ouvertüre zur Jugendrevolte zwischen Vietnam und Pariser Mai“ und als „das große Proteststück der sechziger Jahre“ 210 dessen tatsächliche Gestalt überdeckt. Dieses Missverständnis geht so weit, dass kritische Stimmen ein Scheitern des Stückes behaupten: Für Rolf Günter Renner wird dort, wo die „Provokation schon erwartet wird“, diese verharmlost zur bloßen „Aufführung einer Provokation“; das kritische Potential der Beschimpfung sei damit „von vornherein verwirkt“.211 Außerdem bediene Handkes Antitheater letztlich doch genuin theatrale Mittel, weshalb für Peter Pütz die Publikumsbeschimpfung ihre Möglichkeit verspielt, denn sie „könnte […] eine Publikumsbefreiung werden, bliebe sie nicht dem verhaftet, wogegen sie rebelliert.“ 212 Dieser Interpretation schließt sich Renner ausdrücklich an und dehnt sie aus auf die frühen Inszenierungen des Stückes, die letztlich „Theater im konventionellen Sinn“ blieben.213 Auch für Manfred Durzak ist die Opposition zur herkömmlichen Literatur und zum Theater gescheitert: Die Publikumsbeschimpfung sei letztlich nichts weiter als ein „witziger Einfall, der einem geistreichen Feuilleton entsprungen sein könnte, also einer literarischen oder subliterarischen Form, auch wenn Handke im Gestus seines Stückes das Gegenteil behaupten mag.“ 214 Vor allem die Erfolgsgeschichte des Stückes im bürgerlichen Theaterbetrieb wurde als Indiz eines gescheiterten Konzeptes gesehen.215 Bei der Diskussion um Handkes vermeintliches Scheitern wird jedoch bereits der hauptsächlich ästhetische Anspruch seines Stückes verkannt. Gegen eine einseitig politische Lesart soll deshalb die komplexe ästhetische Form des Stückes, die in den bisherigen Interpretationen vernachlässigt wurde, systematisch analysiert werden. Es gilt, das spielerische Moment gegenüber Antitheater und politischer Botschaft stärker zu betonen: Provokant folgt die Publikumsbeschimpfung einem radikalen Formalismus und Ästhetizismus, der sich mit Susan Sontags Camp-Begriff analysieren lässt.216
210 Claus Peymann 2009 im Interview mit Malte Herwig. Zitiert nach: Malte Herwig, Meister der Dämmerung, S. 153. 211 Rolf Günter Renner, Peter Handke, Stuttgart 1985, (Sammlung Metzler 218) S. 36. 212 Peter Pütz, Peter Handke, Frankfurt a. M. 1982, (suhrkamp taschenbuch 854) S. 17. 213 Rolf Günter Renner, Peter Handke, S. 36. 214 Manfred Durzak, Peter Handke und die deutsche Gegenwartsliteratur. Narziß auf Abwegen, Stuttgart 1982, (Sprache und Literatur 108) S. 89. 215 Vgl. Manfred Durzak, Peter Handke und die deutsche Gegenwartsliteratur, S. 89. 216 In ihrer Handke-Studie Pop als poetisches Prinzip hat Anja Pompe, Peter Handke. Pop als poetisches Prinzip, Köln 2009, (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 15), bes. S. 77–88 und S. 142–147, auch die Publikumsbeschimpfung dem „Projekt Pop“ zugeschrieben. Den Begriff des Pop versucht sie dabei eher systematisch zu definieren als kulturgeschichtlich einzuordnen. Einen Bezug zu zeitgenössischen Debatten, zu denen auch Susan Sontag zu zählen
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2.4.1.1 Metatheater Die Publikumsbeschimpfung erfüllt bereits explizit die Minimaldefinition des Postdramatischen, denn als „Sprechstück“, das Sprache vorführt und zum Thema macht, kann es „keine Handlung“ haben:217 „Wir spielen Ihnen keine Handlung vor“ (17) und „Das ist kein Drama. Hier wird keine Handlung wiederholt, die schon geschehen ist“ (23), heißt es denn auch ausdrücklich. Ein erster Zugang zum Stück lässt sich also nicht über dessen Handlung gewinnen; vielmehr muss versucht werden, über die Beschreibung der Form einen Weg zum Gehalt des Stückes zu finden. Die Publikumsbeschimpfung lässt sich nach verschiedenen Prinzipien gliedern. Der Wechsel der Textsorten teilt sie zunächst in vier Teile: Der große Mittelteil, der aus 67 Sprechabschnitten besteht (15–41), wird gerahmt von zwei Regieanweisungen (12–14 und 41). Der Ansprache und den beiden Regieanweisungen vorangestellt ist mit den Regeln für die Schauspieler (11) schließlich ein weiterer Texttyp, dessen Status noch zu klären sein wird. Der Hauptteil, der auf den ersten Blick als monotoner Katarakt von 67 Abschnitten unterschiedlicher Länge erscheint, gliedert sich deutlich in zwei Teile: Denn die eigentliche Beschimpfung des Publikums setzt erst am Ende des Textes ein und erweist sich zudem als relativ kurz (ab Abschnitt 54, S. 38–41). Sie wird vorbereitet und gleichsam immer wieder hinausgezögert von einem langen Vorlauf von 53 Abschnitten. Die Zweiteilung, die beim späten Einsetzen der Beschimpfung deutlich wird, korrespondiert mit einem Anredewechsel: Während das Publikum bisher gesiezt wurde, setzt in der Beschimpfung ein Wechsel zur Du- bzw. Ihr-Anrede ein (ab Abschnitt 54), der lediglich im letzten Sprechabschnitt, mit dem das Publikum offiziell bedankt und verabschiedet wird, zum Sie zurückkehrt. Dieses Hinauszögern entspricht der grundlegenden Strategie des Stückes, jegliche Zuschauererwartung zu enttäuschen: Bereits der einleitende Regietext fordert, die üblichen Vorbereitungen und die Stimmung vor einer Theateraufführung „vor[zu]täuschen“ (12), um dann die Erwartung des Publikums jäh zu durchkreuzen, wenn sich die Bühne trotz der verheißungsvollen Aufbaugeräusche beim Öffnen des Vorhangs als leer erweist und sogar das Licht im Zuschauerraum wieder angeht (vgl. 13). Die Erwartung eines konventionellen Dramas wird durch das Folgende ebenso enttäuscht wie die durch den Titel
wäre, stellt sie nicht her. Stattdessen versucht sie, in der Publikumsbeschimpfung eine musikalische Fugen-Struktur nachzuweisen und diese mit der Popmusik zu korrelieren (vgl. S. 142– 147). 217 Peter Handke, Zu meinen Sprechstücken. In: Handke, Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke, Frankfurt a. M. 1966, (edition suhrkamp 177) S. 95.
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geschürte Erwartung eines Skandals, denn eine Beschimpfung des Publikums findet ja zunächst überhaupt nicht statt. Stattdessen beginnt ein langatmiger Diskurs, der um die Themen Zeit, Zuschauer, Theater und Sprache kreist. Ein-, selten zweigliedrige Aussagesätze reihen sich aneinander, ohne dass sich das Gesagte inhaltlich festlegen ließe. Weitere Kriterien differenzieren eine Binnengliederung: So wird die Ansprache durch Tempus- und Moduswechsel strukturiert. Einstieg und Finale, also Begrüßung und Beschimpfung, sind durch die rasche Folge der Tempuswechsel gekennzeichnet: Bereits auf der ersten Seite (15), in den ersten fünf Abschnitten, folgen Präsens (Abschnitte 1–3), Futur (Abschnitt 4) und Perfekt (Abschnitt 5) aufeinander. Die Beschimpfung wechselt vom Futur (38, Abschnitt 54) zurück ins Perfekt und Präteritum (38–40, Abschnitte 55–63) und schließlich ins Präsens (40, Abschnitt 64), bis sie endgültig in eine verblose Reihung von ‚Schimpfwörtern‘ mündet. Auch im langen Hauptteil der Ansprache wird das vorherrschende Präsens mehrmals unterbrochen, zunächst durch einen vorübergehenden Wechsel ins Perfekt (22, Abschnitt 22). Abgelöst wird es schließlich von einem längeren Rückblick im Perfekt und Präteritum (30– 37, Abschnitte 39–50) und einer anschließenden Prospektion im Futur, die bis zum Beginn der Beschimpfung reicht (37 f., Abschnitte 51–54). Auch die Tempuswechsel erfüllen eine formsemantische Funktion. Im gesamten Stück wird das Thema Zeit inhaltlich und formal auf vielfältige Weise reflektiert: „Wir sprechen in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft von der Zeit“ (35). Vor allem die Gegenwart bzw. Unmittelbarkeit des Sprechens wird betont „Wir sprechen jetzt davon“ (35). Das Zeitwort ‚jetzt‘ wird mehrfach wiederholt. Gleichzeitig wird die Gegenwart des Spiels durch verschiedene Strategien spannungsvoll unterlaufen: Wiederholungen zeigen performativ – „ein Jetzt und ein Jetzt und ein Jetzt“ – das Verrinnen der Zeit: „Hier wird zugegeben, daß sie vergeht, mit einem Wort zum andern“ (23). Während die Abschnitte im Präsens vor allem eine Zustandsbeschreibung liefern, in der die aktuelle Publikumsansprache reflektiert wird, erfolgt im Perfekt und Präteritum ein Rückblick, der die Vorbereitungen der Zuschauer auf den Theaterbesuch und vergangene (herkömmliche) Theatererlebnisse resümiert (30–37). Die Passage im Futur nimmt zunächst das Ende der Vorstellung vorweg und kündigt dann die bevorstehende Beschimpfung an: „Zuvor aber werden Sie noch beschimpft werden.“ (37 f.) Auch die Rückblenden und Vorausdeutungen treten also in eine Spannung zur Gegenwart des Spiels. Neben Tempuswechseln strukturieren Moduswechsel den Diskurs. Der 31. Abschnitt imaginiert im Konjunktiv eine alternative Zuschauersituation: „Im Stehen könnten Sie besser als Zwischenrufer wirken“ (27). Ein weiterer Moduswechsel zeigt einen qualitativen Wandel im Verhältnis zum Zuschauer an: Im
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Imperativ ergehen in den Abschnitten 34, 36 und 37 Befehle an das Publikum: „Blinzeln Sie nicht“ (29). Schließlich leitet der Konjunktiv in Abschnitt 45 – „Wir könnten Ihnen ein Zwischenspiel bringen“ (34) – ein ‚negatives Zwischenspiel‘ ein: Der Moduswechsel dient wie der Wechsel des Tempus dazu, die Gegenwart des Spiels zu durchbrechen. Die Welt jenseits der Theatersituation wird evoziert, wenn es heißt: „Wir könnten Ihnen Vorgänge vormachen, die außerhalb dieses Raums in diesen Augenblicken […] geschehen“ (34). Diese Möglichkeit wird jedoch sofort negiert. Wenn die Sprecher in der Folge darlegen, was sie alles nicht darstellen, gewinnt diese ‚andere‘ Realität jenseits des Theaters – zum Beispiel „das jetzt und jetzt nach der Statistik geschehende Sterben“ – dennoch auf eigentümliche Weise Gestalt. Spannungsvoll unterläuft es die Harmlosigkeit einer nur spielerischen Gegenwart.218 Die inhaltliche Festlegung des Gesagten wird durch spezifische Strukturmerkmale erschwert: Verneinung, Widerspruch und das Wiederholen von Wörtern und Wortfolgen wirken sinnverweigernd, etwa wenn gleichzeitig gelten soll: „Dies ist kein Spiel. Dies ist kein Ernst.“ (24) Diese strukturbildenden Aussageformen werden ebenfalls in dem typischen selbstreflexiven Gestus offengelegt: „Sie haben erkannt, daß wir etwas verneinen. Sie haben erkannt, daß wir uns wiederholen. Sie haben erkannt, daß wir uns widersprechen.“ (22) Diese Mittel zeigen einerseits die Intention der Provokation und Revolte – v. a. gegen das herkömmliche Theater und seine Sinnsetzungen. Die konsequente Sinnverweigerung hat jedoch noch einen weiteren Effekt: Rhythmus und Klang der Sprache überlagern die Referenz. Die Musikalität des Stückes liegt vor allem in den zahlreichen Wiederholungsfiguren, etwa den anaphorischen Sie-Anreden: „Sie leben nicht mit. Sie gehen nicht mit. Sie vollziehen nichts nach.“ (17) Das Musikalische kann durch die Inszenierung, etwa durch chorisches oder rhythmisiertes Sprechen oder Variation der Lautstärke, die Claus Peymann in der Uraufführung einsetzt, noch verstärkt werden. Vorläufig lässt sich festhalten: Die Bedeutung des Stückes liegt nicht vornehmlich im Gesagten, sondern in der Situation des Ansprechens und Vorführens von Sprache, die es inszeniert. Diese erschließt sich vor allem, wenn man die neue Rolle der Zuschauer genauer untersucht. Wenn die Zuschauer explizit in das Spiel einbezogen werden, lässt sich fragen, welche Rolle ihnen darin zukommt. „Sie sind das Thema“, werden sie mehrfach angesprochen. Doch in welcher Eigenschaft oder Funktion? Bereits im 24. Abschnitt wird das Publi-
218 Jürgen Schröder, der nicht auf Negation und Konjunktiv eingeht, sieht in dieser Passage, in der das „Sprechstück sein höchstes Selbstbewusstsein“ erreiche, die „uralte dramatische Einheit von Tod und Geburt“ verwirklicht (Das „dramatische“ Jahrzehnt der Bundesrepublik, S. 499).
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kum, wiederum im negativen Modus, mit theateranalytischen Begriffen beschrieben, wie man sie etwa in einer Theaterkritik lesen könnte: „Sie sind nicht abendfüllend“, „Sie sind nicht spielfreudig“, „Ihr Debut ist nicht überzeugend“ (23). Diese Motive werden dann während der Beschimpfung in einer Art ‚Abendkritik‘ wieder aufgenommen: Hier wird die Publikumsleistung positiv beurteilt, die Zuschauer als „Helden dieses Stückes“, als „Vollblutschauspieler“, „Idealbesetzung“, als „die geborenen Schauspieler“ und „profilierte Darsteller“ (39 f.) gelobt. Angesichts fehlender Referenz ist die gängige Interpretation unplausibel, das Stück ziele mit diesen Zuschreibungen kritisch auf die sozialen Rollen, die jeder zu spielen habe, auf die Mechanismen einer „Dramaturgie der Wirklichkeit“.219 Pointiert wird offenbar vielmehr die – für das postdramatische Theater typische – Aktivierung des Zuschauers innerhalb der Aufführung, der sich seines Zuschauens bewusst werden soll:220 Sein Schauspielern und seine ästhetische Leistung bestehen für Handke in einer spezifischen Haltung zum dargebotenen Spiel.
2.4.1.2 Camp-Theater Um das Spiel der Publikumsbeschimpfung angemessen schätzen, genießen und kreativ in ihm mitwirken zu können, ist eine besondere ästhetische Einstellung nötig. Wie diese auszusehen hat, kann man den vorangestellten Regeln für die Schauspieler (11) entnehmen, die ja, wenn die ‚wahren‘ Schauspieler des Abends die Zuschauer sein sollen, auch für diese gelten müssen – oder sogar ausschließlich für diese gelten, denn auf der Bühne stehen ja lediglich „vier Sprecher“. Diese Lesart lässt sich stützen, wenn man die Regeln genauer betrachtet. Der Titel ist provokant ironisch auf Goethes Regeln für Schauspieler 221 (1803) bezogen, die im Kontext einer gegen den zeitgenössischen Realismus und Naturalismus gerichteten klassizistischen Theaterästhetik stehen. Wie bei Goethe wird auch bei Handke eine antinaturalistische Ästhetik propagiert. Doch im
219 Rainer Nägele und Renate Voris, Peter Handke, S. 75. 220 Dass die „Aktivität […] auf den Zuschauer verlagert“ wird und ihm Möglichkeiten neuer „Denkansätze“ bereitgestellt werden sollen, konstatiert Hans C. Angermeyer, Zuschauer im Drama, S. 106–117, hier S. 116. Wie dieses Zuschauerbewusstsein auch für die Sprachlichkeit der Welt geweckt werden soll, analysiert Richard Gilman, The Making of Modern Drama. A study of Büchner, Ibsen, Strindberg, Chekhov, Pirandello, Brecht, Beckett, Handke. With a new introduction, New Haven, CT u. a. [1972] 1999, S. 277–281, hier bes. S. 280. 221 Johann Wolfgang Goethe, Regeln für Schauspieler. In: Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805, hg. von Friedmar Apel, Frankfurt a. M. 1998, S. 857–882.
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Unterschied zu Goethes Vorgaben zur künstlerischen Darbietung, etwa zur Technik des Deklamierens – die für ein Sprechstück ja durchaus angemessen wären –, werden in Handkes Regeln (11) ausschließlich die visuelle und auditive Rezeption trainiert: Der Katalog reicht von „Die Litaneien in den katholischen Kirchen anhören“ bis „Die Gebärden der Tagdiebe und Nichtstuer […] ansehen“ (11). Die Schauspieler erhalten hier also zunächst eine passive Rolle und wirken als Zuschauer oder Zuhörer.222 Die Reihung verschiedener Wahrnehmungen bildet ein ‚Geschmacksmuster‘, durch die Infinitive geradezu ein ‚Geschmacksrezept‘, so als müsse die richtige Sensibilität für die Rezeption des folgenden Stückes eingeübt werden. Eine adäquate Rezeptionshaltung erscheint als entscheidender aktiver Beitrag zum Spiel, als darstellerische, schauspielerische Leistung. In der Tat offenbart die heterogene Reihe der visuellen und auditiven Reize eine spielerische Haltung zur Welt, in der kulturelle Riten der Kirche, moderne Alltagsphänomene wie eine „Betonmischmaschine“ (11) oder ein- und ausfahrende Züge sowie Produkte der Massen- bzw. Popkultur („Schimpfchöre auf den Fußballplätzen“ (11), markante Szenen aus Western und Gangsterfilmen, die „Hitparade von Radio Luxemburg“ (11), die Beatles und die Rolling Stones) gleichrangig werden, indem man sie offenbar vornehmlich als ästhetische Reize wahrnimmt. Dadurch ergibt sich ein spielerischer, durch seine Vorliebe fürs Aparte aber auch elitärer Wahrnehmungsstil, bei dem etwa die „die laufenden Räder eines auf den Sattel gestellten Fahrrads“ (11) ästhetisch reizvoll werden. Diese Haltung, die offenbar als Rezeptionsvorgabe des Stückes gedacht ist, erinnert an die in den 60er Jahren diskutierte Camp-Ästhetik, wie sie Susan Sontag in ihrem Essay Notes on „Camp“ reflektiert:223 Sontag definiert Camp als Ästhetizismus im Zeitalter der Massenkultur. Gewidmet ist der Essay einem Ahnherren des Geschmackskults, dem Dandy des neunzehnten Jahrhunderts: Oscar Wilde.224 Eine wesentliche Strategie der elitären und esoterischen Camp-
222 Wie dieses rezeptive Training für den schauspielerischen Ausdruck nutzbar gemacht werden soll, lassen die Regeln allerdings offen. 223 Susan Sontags Essay Notes on ‚Camp‘, 1964 in der Partisan Review erschienen, wird im Folgenden zitiert nach: Susan Sontag, Against Interpretation and other Essays, New York und Toronto 1967, S. 275–292. Handke könnte der New Yorker Essayistin und Schriftstellerin, die Mitte der sechziger Jahre rasant zur populären öffentlichen Intellektuellen aufstieg, im Frühjahr 1966, also kurz vor der Uraufführung der Publikumsbeschimpfung, auf der Tagung der Gruppe 47 in Princeton persönlich begegnet sein. Sontag hielt während der Tagung einen öffentlichen Vortrag. 224 Susan Sontag, Against Interpretation and other Essays, S. 277: „These notes are for Oscar Wilde.“ Vgl. auch Susan Sontag, Against Interpretation and other Essays, S. 288: „Camp is the answer to the problem: how to be a dandy in the age of mass culture.“ Zur Bedeutung und
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Sensibilität besteht darin, Werke der Populärkultur und des Kitsches wie Comics, Pop-Musik oder einen Retro-Look aus der Mode der zwanziger Jahre (mit theatralischen Federboas und Fransenkleidern)225 allein durch die Betrachtungsweise ästhetisch zu ‚adeln‘ und mit Werken der Hochkultur – wie Opern und Shakespeare-Komödien – in eine Reihe zu stellen. Pointiert wird eine Liebe zur Künstlichkeit, eine Freude an der Form, an Exaltiertheit und Übertreibung: Camp bedeutet nach Sontag den „Sieg des Stils über den Gehalt, der Ästhetik über die Moral, der Ironie über die Tragödie.“ 226 Es ist die Kunst, die Objekte mit der Distanz spielerischer Ironie zu betrachten, alles in Anführungszeichen zu sehen.227 Folgerichtig ist Camp völlig unpolitisch.228 Sontag betont die Nähe dieser distanziert-spielerischen Geschmackshaltung zur Metapher vom Leben als Theater: Aus der Perspektive von Camp ist das Leben ein Rollenspiel.229 Es handelt sich also um ein zeitgenössisches ästhetisches Programm, das in Handkes Stück umgesetzt sein könnte. Aus der Warte von Camp ist die Publikumsbeschimpfung ein Spiel, befreit vom Ballast der Hochkultur, das nur genießen, an dem nur mitwirken kann, wer die richtige Sensibilität und Haltung mitbringt. Sein kulturkritisches Provokationspotential liegt letztlich im Gestus eines elitären Formalismus und Ästhetizismus, wie Handke ihn auch mit seiner Essaysammlung Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms akzentuierte.230 Auch in seinem öffentlichen Auftreten, in dem sich der junge Autor zum feinsinnigen Dichter im Beat-Look stilisierte, folgt Handke diesem Geschmacksmuster des Camp.231 Die Publikumsbeschimpfung ist vor diesem Hintergrund also nicht (direkt) politisch; die Provokation wird in ironischer Distanz – auf einer Metaebene –
Wirkungsgeschichte des ‚Camp‘-Begriffs, den Sontag der homosexuellen Szene entliehen hat, vgl. Thomas Hecken, Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009, Bielefeld 2009, S. 103–116. 225 Vgl. Susan Sontag, Against Interpretation and other Essays, S. 278. 226 Susan Sontag, Against Interpretation and other Essays, S. 287: „[Camp] incarnates the victory of ‚style‘ over ‚content‘, ‚aesthetics‘ over ‚morality‘, of irony over tragedy.“ [Deutsche Übersetzung H. K.] 227 Vgl. Susan Sontag, Against Interpretation and other Essays, S. 280: „Camp sees everything in quotation marks.“ 228 Susan Sontag, Against Interpretation and other Essays, S. 277: „It goes without saying that Camp sensibility is disengaged, depoliticized – or at least apolitical.“ 229 Susan Sontag, Against Interpretation and other Essays, S. 280: „It is the farthest extension, in sensibility, of the metaphor of life as theater.“ 230 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. 231 Zu Handkes Selbstinszenierung als junger Autor vgl. Malte Herwig (Meister der Dämmerung, bes. S. 145–147), der jedoch keinen Bezug zu ‚Camp‘ herstellt.
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bereits ästhetisch goutiert.232 Deshalb greift die Kritik, das Stück angesichts der kalkuliert angekündigten und schließlich im Theaterbetrieb erfolgreich ‚etablierten‘ Provokation als gescheitert zu betrachten,233 letztlich ins Leere. Denn das Konzept, eine Avantgarde- und Pop-Ästhetik mit der etwas verstaubten Institution des bürgerlichen Theaters und seiner Rituale zu kombinieren, ist campy. Man muss es nur unter dem richtigen Blickwinkel betrachten – wie die Reihen der für den Anlass herausgeputzten Zuschauer, die als „Ornament“ (20) erscheinen können. Die Geschichte der Zuschauer, die in einem Rückblick entworfen wird, ist herrlich demodé und wird genüsslich ausgeschmückt. Die evozierten „Vorkehrungen“, die vor dem Theaterbesuch getroffen wurden, reichen von: „Sie haben auf verschiedene Arten ihre Toilette gemacht“ über: „Sie haben aus dem Mantel geholfen. Sie haben sich aus dem Mantel helfen lassen“ bis hin zu: „Sie haben sich in Ihren Sitzen zurückgelehnt“ (31 f.). Ebenso ‚demodé‘ wie die Institution Theater ist das herkömmliche Drama. Der Diskurs steckt voller spielerischer, geistreicher intertextueller Verweise auf die Dramentradition, die mit dem Stück zugleich über Bord geworfen werden soll. Evoziert wird allen voran die bürgerliche Theatertradition der ‚moralischen Anstalt‘ und des Illusionstheaters. Konkrete Anspielungen auf den klassischen Dramenkanon reichen von Aristophanes über Shakespeare und Goethe bis hin zu zeitgenössischen Theaterformen wie dem existentialistischen und absurden Theater: Mit den „neueren Dramen“, die „keine Tür“ (21) haben, könnte etwa Sartres Huis Clos gemeint sein, aber auch ein absurdes Theaterstück wie Becketts Endgame, dessen in sich geschlossenes Szenario keine Außenwelt jenseits der Bühne zu kennen scheint. Auch das dokumentarische Theater wird evoziert, wenn das eigene Spiel explizit „keine Dokumentation“ (17) sein soll und keinen „Lokalaugenschein“ (23) inszeniert. Selbst die österreichische Neoavantgarde der fünfziger Jahre erscheint schon als historisches Zitat. Die Grundidee des Stückes folgt, wie Nägele und Voris nachweisen,234 einem Stück aus dem Kreis der Wiener Gruppe: In Konrad Bayers die begabten zuschauer (1959), ein prolog untertitelt, unterhalten sich zwei Herren auf der Bühne über das Publikum im Saal. Wie bei Handke werden auch in Bayers knapper Szene die Zuschauer mit theateranalytischen Begriffen beschrieben:
232 Deshalb greifen die Kritiken von Pütz und Renner, die das Stück angesichts der kalkulierend angekündigten und damit im Theaterbetrieb erfolgreich ‚etablierten‘ Provokation als gescheitert betrachten, letztlich ins Leere. 233 Vgl. Peter Pütz, Peter Handke, S. 17; sowie Rolf Günter Renner, Peter Handke, S. 36. 234 Vgl. Rainer Nägele und Renate Voris, Peter Handke, S. 76.
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herr herr herr herr herr
2: 1: 2: 1: 2:
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der alte gefällt mir ja, er spielt sehr natürlich er ist der bruder eines höheren beamten. er ist unnachahmlich. der alte spielt einzig!235
Handkes Stück ist jedoch selbst kein avantgardistisches Theater im Sinne der literarischen Cabarets. Es greift jedoch diese Tradition produktiv auf, um sie unter den Bedingungen der Institution Theater zu transformieren: Die avantgardistische Pose wird „in Anführungszeichen“ 236 ins bürgerliche Theater überführt und mit Pop- und Hochkultur verbunden. Diese explosive Mischung soll beim Zuschauer ein gesteigertes Erleben der aktuellen Theatersituation stimulieren. Wie apolitisch dieses selbstreflexive und ästhetizistische Programm ist, wird in der Prospektion (37 f.) explizit, die das Leben der Zuschauer nach der Vorstellung entwirft. Die ironische Prognose lautet nämlich: Nach dem Spiel wird alles so sein wie zuvor. Die Zuschauer werden in ihren Alltag zurückkehren: „Sie werden allmählich in die Wirklichkeit zurückfinden. Sie werden die Wirklichkeit wieder rauh nennen können. Sie werden ernüchtert werden“ (37); die vorübergehende Gemeinschaft des Theaters löst sich auf: „Sie werden wieder ein Eigenleben führen“ (37) und, so wird bereits vorab lakonisch konstatiert: „Sie werden von einem Ort zu verschiedenen Orten gehen“ (38). Die betonte Wirkungslosigkeit des Spiels erscheint wie eine kritische Pointe gegen das politische Theater, insbesondere gegen Brechts episches Theater und dessen politischen Wirkungsanspruch. Auch wenn Handkes Mittel, die Illusion durch konsequentes Agieren ins äußere Kommunikationssystem zu durchbrechen, formal als Verfremdungseffekt beschrieben werden kann, so unterscheidet sich seine Funktion fundamental von Brecht. Denn die Verfremdung deutet bei Handke nicht auf eine Veränderbarkeit der Welt jenseits des Theaters. Als amimetisches, selbstreferentielles Verfahren verweist sie ‚nur‘ auf die Veränderbarkeit des Theaters, die als Utopie der Kunst allenfalls indirekt politisch wirken soll. Die Publikumsbeschimpfung beschwört zwar die Einheit von Bühne und Publikum und versucht, das Theatererlebnis in der Wirklichkeit des Zuschauers zu verankern – programmatisch heißt es: „Dies ist keine andere Welt als die Ihre“ (17) –, aber dennoch wird der Theaterraum nicht überschritten: Es wird
235 Konrad Bayer, die begabten zuschauer. ein prolog. In: Gerhard Rühm (Hg.), Die Wiener Gruppe, S. 136–138, hier S. 137. 236 Susan Sontag, Against Interpretation and other Essays, S. 280: „Camp sees everything in quotation marks.“
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weder Straßentheater noch ein Happening geboten. Die Publikumsbeschimpfung bleibt ein für die Institution des (bürgerlichen) Theaters entworfenes, künstlerisches „Theatertheater“,237 das Hochkultur mit Pop und Beat-Rhythmus der Sprache verbindet, eine kunstvolle ‚Partitur‘ für eine Theateraufführung. Damit ist das Sprechstück paradigmatisch für die literarische Postdramatik, die von der Spannung zwischen experimentellen Formen und der Institution des Stadttheaters lebt. Symptomatisch ist auch die subjektive Wendung der zitierten episierenden und performativen Mittel: Hinter der kalkulierten, geschmackvoll dosierten und kunstvoll gestalteten Provokation, die auch ihre Erfolgsgeschichte bereits einkalkuliert hat, steht als ‚wahrer‘ Zuschauer der Initiator des Spiels selbst, sein Autor. Sein Text, den die Sprecher – als „Sprachrohr des Autors“ (18) – darbieten, imaginiert, inszeniert und genießt seine ganz subjektive Vorstellung von einem auf den Kopf gestellten Theatererlebnis: „the Camp eye has the power to transform experience“.238
2.4.1.3 Einbruch des Politischen Gegen Ende des Stücks erscheint die mögliche Grenze seines ästhetizistischen Konzepts, wenn an einer signifikanten Stelle die geschichtliche Zeit möglicherweise doch noch in das Spiel einbricht. Die Unmittelbarkeit des reinen Spiels gibt sich zwar demonstrativ ahistorisch (überzeitlich), doch werden sprachliche Ausdrücke verwendet, die eine Referenz auf historische Zusammenhänge aufweisen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die titelgebende Publikumsbeschimpfung (38–41, Abschnitte 52–67) genauer zu untersuchen, die den performativen Sprechakt schließlich für Momente doch inhaltlich – und mit Referenz auf außertheatralische Wirklichkeit – zu bestimmen scheint. Die einzelnen Abschnitte der Beschimpfung sind zunächst zweigeteilt: Sie beginnen jeweils mit einer lobenden Abendkritik, in der die theateranalytischen Begriffe auf das Publikum umgemünzt werden: „Ihr wart Vollblutschauspieler“, „Ihr wart lebensecht“ (39). Ganz unvermittelt münden die Abschnitte in Schimpfwörter: Es beginnt zunächst mit einem einzelnen „ihr Rotzlecker“ (38) und „ihr Gernegroße“ (38). Im Folgenden reihen sich an das Lob bereits drei, dann vier Schimpfwörter, und so nimmt von einem Absatz zum folgenden das Kritikerlob ab und die Reihe der Beschimpfungen wächst, bis zuletzt nur noch Schimpfwörter aufeinanderfolgen. Doch auch der Charakter dieser Wörter
237 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 51–55 (Straßentheater und Theatertheater). 238 Susan Sontag, Against Interpretation and other Essays, S. 277.
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verändert sich: Zunächst handelt es sich um geläufige, vergleichsweise harmlose Beleidigungen, unter die sich nach und nach Ausdrücke anderer Art mischen. Zur Beschimpfung dienen nun auch geschichtlich bzw. politisch deutlich referentialisierte Begriffe. Hier fallen besonders Begriffe aus der NS-Zeit auf, propagandistische Hetzwörter wie „Saujuden“ (39), „jüdische[ ] Großkapitalisten“ (40), „Untermenschen“ (39), „lebensunwerte[ ] Leben“ (40) sowie Verweise auf die deutsche Schuld: „Nazischweine“ (39), „Genickschußspezialisten“ (39). Daneben werden plötzlich politische bzw. gesellschaftliche Rollen und Titel – „Unternehmer“ (41), „Pazifisten“ (40), „Antidemokraten“ (40), „Exzellenzen“ (41) bis hin zu „Mitmenschen“ (41) – als Beleidigungen gebraucht, ja sogar ein beliebiges – quasi ‚referenzloses‘ – Wort wie „Dingsda“ (40). Grundsätzlich lässt sich nach dem Status sprachlicher Referenz in Handkes Sprechstück fragen: Die Schimpfwörter haben Konnotationen, Assoziationen, vor allem ihre geschichtliche Dimension fällt auf. Zugleich wird diese Referenz unterlaufen, da sich die Wörter gegenseitig aufheben. Gleichrangig scheinen kindliche Schimpfwörter voll Sprachwitz, derbe Anschuldigen, geschichtliche Begriffe und vollkommen wertneutrale Bezeichnungen nebeneinander zu stehen.239 Trifft also doch die Behauptung vom referenzlosen bloßen „Klangbild“ (40) zu? An manchen Stellen scheint es, als sei das Sprachmaterial nicht mehr so einfach spielerisch verfügbar, sondern besitze eine Widerständigkeit, einen (geschichtlichen) Eigenwert. So als breche, gleichsam unfreiwillig, nun doch die Zeit in das Spiel ein.240 Ein Wort wie „Nazischweine“ (39) lässt sich nicht einfach nur so dahinsagen – und auch nicht einfach so als ästhetisches Klanggebilde anhören oder als „Sieg der Ästhetik über die Moral“ (Sontag) genießen. Handelt es sich also gar um einen bewusst kalkulierten politischen Anspruch, eine Forderung nach Aufarbeitung, vorgetragen von einem Vertreter der Söhne-Generation, die ihre Väter konfrontieren will mit ihrer Vergangenheit, sie aufmerksam machen will auf die Selbstlüge eines nur passiven Zuschauens? Dann bekäme das harmlose Spiel der Publikumsbeschimpfung, wie es über die weiteste Strecke des Textes inszeniert wurde, plötzlich einen ganz anderen Charakter. Doch wen soll diese Provokation treffen, wenn es doch ausdrücklich zu den Spielregeln der Beschimpfung gehört, sich nicht persönlich angesprochen zu fühlen? „Wir werden niemanden meinen“ (38). Schon die Schimpf-
239 Rolf Günter Renner sieht in dieser „Ausgewogenheit der Beschimpfungen in jede Richtung“ einen der Gründe dafür, dass sie zum „bloßen Gag“ würden (Peter Handke, S. 36). 240 Für Jürgen Schröder vermögen diese geschichtlich aufgeladenen Begriffe „das Sprachspiel für Momente [zu] durchschlagen“ und eine „Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ anzustoßen. Das „Verfahren wechselseitiger Inhaltsaufhebung“ greife hier nicht mehr (Das „dramatische“ Jahrzehnt der Bundesrepublik, S. 499).
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probe (vgl. 13 f.), die im Regietext als Einstieg ins Spiel vorgeschrieben und noch ohne jeden Bezug zum Publikum bleibt, markiert offenbar die Fiktionalität der Beschimpfung – und des gesamten Spiels. Hier lässt sich eine eigentümliche Ambivalenz festhalten, die sich in der weiteren Untersuchung als typisch für postdramatische Stücke erweisen wird: die Spannung zwischen ästhetizistischem Sprachspiel und Eigenmacht der Sprache, vor allem hinsichtlich ihrer geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedeutungen. Sie lässt sich immer wieder beobachten, wenn man nach der Referenz des postdramatischen Theaters fragt. Wie dieses Verhältnis von Sprachspiel und Referenz akzentuiert wird, hängt angesichts der Offenheit postdramatischer Texte immer auch von der jeweiligen Inszenierung ab.
2.4.1.4 Inszenierung des reinen Spiels Claus Peymanns Uraufführung der Publikumsbeschimpfung 241 pointiert den spielerischen Zug des Stückes und präsentiert Sprache als ästhetisches Ereignis. Das Sprechen wird in dieser Inszenierung auf vielfältige Arten vorgeführt: Dass es auf das Sprechen selbst und weniger auf den Inhalt ankommt, wird gleich zu Beginn in der Schimpfprobe signalisiert, die mit Lippenbewegungen ohne Ton einsetzt. In der folgenden Publikumsansprache wechseln schnelles, langsames, lautes und leises Sprechen, Einzelstimme und Chor. Tonlagen und Rhythmen werden variiert, manche Passagen als Sprechgesang (im BeatRhythmus) vorgetragen, teilweise wird in ein Mikrofon gesprochen. Es wird skandiert, wiederholt, mit Echoeffekten gespielt. Bei manchen Sätzen erfolgt bei jedem Wort ein Sprecherwechsel, dabei werden sie beispielsweise an einer Stelle wie Abzählverse betont. Die Wiederholungen – etwa die ständig wiederkehrende Sie-Anrede und Verneinungs-Partikel – werden in ihrer Qualität als Klangfiguren sichtbar. Einige Passagen sind durch simultanes Sprechen verschiedener Texte oder Durcheinanderreden unverständlich. Beobachtet man die Zuschauerreaktion, so bewirken diejenigen akzentuiert spielerischen Elemente die größte Irritation, die jeglichen Inhalt negieren und bloßes Sprechen vorführen. Amüsiert wird hingegen auf klassische Theatereffekte reagiert: den Einsatz von Requisiten (etwa das Spiel mit dem Deckel des Souffleurkastens, der als Sänfte benutzt wird), choreografierte Bewegungsfolgen und tänzerische Elemente, überraschende Wendungen, wenn die Sprecher von der Bühne ver-
241 Die folgenden Beobachtungen beziehen sich auf folgenden Fernsehmitschnitt: Peter Handke, Publikumsbeschimpfung. Aufzeichnung der Uraufführung im Frankfurter Theater am Turm, Regie: Claus Peymann, Hessischer Rundfunk 1966.
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schwinden und an ungewöhnlichen Orten wieder auftauchen. Auch das Überschreiten der Rampe, wenn sich die Sprecher zwischen den Zuschauerreihen und oben im Rang postieren, wird gebannt verfolgt. Kritisch lässt sich fragen, ob diese Effekte dem Sprechstück gerecht werden. Die Kritik Rolf Günter Renners an den „ersten Inszenierungen“ der Publikumsbeschimpfung schließt sicher auch die Uraufführung ein: Sie seien „deshalb so erfolgreich“ gewesen, „weil sie das Antitheater Handkes völlig dem Gesetz des theatralischen Effekts unterordneten“ und damit „selbst schon wieder Theater im konventionellen Sinn“ produzierten.242 Betrachtet man jedoch, wie Peymann diese Effekte einsetzt, lässt sich das Urteil zumindest im Hinblick auf seine Inszenierung relativieren. Die Mittel werden nämlich durchgehend ironisch verwendet: Man spielt mit den Möglichkeiten und den Erwartungen des Publikums, doch werden die Effekte immer nur ‚angerissen‘ und nie voll ausgespielt. Sie werden immer sogleich von der nächsten Sequenz abgelöst, so dass die Inszenierung fragmentarisch wirkt, wie aus lauter unzusammenhängenden und unfertigen Miniszenen zusammengesetzt. Diese Strategie stürzt die Zuschauer in immer neue Irritationen, erzeugt einen permanenten Reiz, der dem provokativen Gestus des Stückes letztlich doch gerecht wird und auch das augenzwinkernde „Hier werden die Möglichkeiten des Theaters nicht genutzt“ (19) berücksichtigt. Die Revue-Ästhetik der Publikumsbeschimpfung, die bereits an Adaptationen dieser Form durch die historischen Avantgarden anknüpfen kann, ist typisch für postdramatische Theaterästhetik. Alle Anklänge an die (unausgeschöpften) theatralen Möglichkeiten werden hier (im Sinne des Camp) quasi in Anführungszeichen, im Gestus des Zitats präsentiert. Besonders deutlich wird diese Strategie, wenn Bedeutung suggeriert, aber nicht eingelöst wird. So wird die zentrale Passage, welche die drei Einheiten im Sinne der neuen Theatersituation umdeutet und die Einheit von Zeit, Raum und Handlung zwischen den Zuschauern und der Bühne definiert (27 f.), durch die Art des Sprechens besonders herausgehoben: Ein Sprecher deklamiert die recht ausführlichen Darlegungen, während die Anderen mit dem Gestus des ‚Merke!‘ einzelne Wörter aufgreifen und mit bedeutungsschwangerer Stimme wiederholen, etwa: „Zeit, Ort, Handlung: Einheit!“ 243 Gestus, Stimmlage und Betonung vermitteln den Eindruck höchster Sinnstiftung; das Ergebnis ist jedoch spielerischer Nonsens. Auch die Vermittlung von Sinn ist hier nur ein zitierter Effekt. Diese Haltung in Anführungszeichen, in der alles bereits auf einer Metaebene reflektiert wird, kann als ein Grundzug
242 Rolf Günter Renner, Peter Handke, S. 35. 243 Nach der entsprechenden Passage des Stückes; vgl. Peter Handke, Theaterstücke, S. 28.
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postdramatischer Ästhetik bestimmt werden. Doch steht er stets in einer dramatischen Spannung zur Referenz auf politische, gesellschaftliche Themen, die unvermittelt in das Spiel einbrechen kann. Der Text ist bereits insofern offenes Material für eine Aufführung, als die Aufteilung auf die vier Sprecher nicht festgelegt ist: „Die Reihenfolge des Sprechens ist beliebig. Alle Sprecher sind ungefähr gleich viel beschäftigt.“ (14) Diese Offenheit betrifft lediglich die „Reihenfolge des Sprechens“ (14), nicht jedoch die Anordnung der Abschnitte. Die genau komponierte Struktur des Textes begrenzt jedoch zugleich die inszenatorische Offenheit. Peymann hält sich denn auch – nicht zuletzt den gesetzlichen Vorgaben einer Uraufführung folgend – genau an die Textgestalt. Spätere postdramatische Stücke und Inszenierungen werden diese Offenheit weiter ausreizen: Elfriede Jelinek ist beispielsweise die Umsetzung ihrer Textmassen ausdrücklich „egal“:244 Welche Texte von wem und in welcher Reihenfolge vorgetragen und sogar mit fremdem Material angereichert werden, ist hier dem Regisseur freigestellt. Der – oftmals konfliktgeladene – Dialog zwischen Regisseur und Autor wird ein weiteres Kennzeichen postdramatischer Ästhetik: Nicolas Stemann etwa inszeniert in seiner Uraufführung der Kontrakte des Kaufmanns (2009) die Unmöglichkeit, ein Stück von Elfriede Jelinek zu inszenieren. Peymanns Inszenierung der Publikumsbeschimpfung gab Anlass, über eine mögliche Grenze von Handkes performativem Konzept zu diskutieren. In der vom Hessischen Rundfunk mitgeschnittenen Aufführung kam es nämlich zu einem kleinen Eklat: Ein Zuschauergrüppchen stört die Aufführung, indem es auf die Bühne kommt und die Akteure direkt anspricht. Diese gehen darauf nicht ein, sondern versuchen, die Provokateure zu ignorieren und schließlich zum Verlassen der Bühne zu bewegen, um möglichst unbehelligt mit dem Stück fortzufahren. Dieses Verhalten, das sicher vorher abgesprochen war (denn mit derartigen Vorfällen musste gerechnet werden), ließe sich als mangelnde Spontaneität oder unangemessene sklavische Texttreue interpretieren – es lässt sich fragen, wie viel Spielraum für Improvisation die Grundidee des Stückes erfordert hätte:245 Wenn der Zuschauer aktiviert werden soll, müsste man dann nicht auf seine aktiven Reaktionen wiederum antworten können? Diese Frage verkennt jedoch den Spielcharakter des Stückes: Die Zuschauer sollen sich nicht dergestalt authentisch verhalten, als wären sie plötzlich nicht
244 Vgl. den einleitenden Regietext der Kontrakte des Kaufmanns. In: Elfriede Jelinek, Drei Theaterstücke, S. 209. 245 Für Uwe Schultz ist das Stück ab dem Moment, wo die Provokation beantwortet wird, „blockiert“ (Zwischen Virtuosität und Vakuum. Über Peter Handkes Stücke. In: Text und Kritik 24: Peter Handke, 1969, S. 21–29, hier S. 21).
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mehr in einem Theater, sondern sie sollen sich der Theatersituation selbst und ihrer Rolle als Zuschauer bewusst werden. Auf dem Theater wird ja nach Handke alles Spiel.246 Der eingreifende Zuschauer missachtet außerdem die Literarizität des Stückes, das keine offene Happening-Partitur darstellt, sondern einen künstlerisch durchgestalteten, monologischen Text präsentiert: Letztlich handelt es sich um den Diskurs einer Autorstimme, den die vier Sprecher als „Sprachrohr des Autors“ (18) lediglich übermitteln. Sie sprechen zwar direkt ins Publikum, jedoch nicht frei, sondern sagen einen festgelegten Text auf. Letztlich funktioniert das Stück eben doch wie ein konventionelles Drama: Die demonstrierte Unmittelbarkeit des Sprechens trifft auf die Vermitteltheit der Rede. Hier demonstriert die Publikumsbeschimpfung eine Qualität jeder Theateraufführung: Das theatrale Ereignis ist dadurch gekennzeichnet, dass Darsteller auf der Bühne hier und jetzt einen fremden Text sprechen. Wenn Handke seine Sprechstücke als „Vorreden der alten Stücke“ bezeichnet, die nicht „revolutionieren, sondern aufmerksam machen“ wollten,247 so hat er genau diesen doppelten Aspekt von Theater im Blick, der im Sprechen seines Stückes vorgeführt und ausgestellt wird. Im Unterschied zum konventionellen Drama, wo ja nur Figuren sprechen, manifestiert sich hier – als einzige – eine Autorstimme. Sie wird – in Peymanns Inszenierung – kongenial flankiert von der ‚Handschrift‘ des Regisseurs, der Sprecherwechsel, Tonlagen, Rhythmen und Bewegungen festlegt. Manfred Durzak sieht in Peymanns virtuoser Theatralisierung die Intention Handkes, Theater zu vermeiden, verfehlt.248 Wenn man jedoch bedenkt, dass Peymann auf die Spielfreude der Sprache mit seinen Mitteln – dem spielerischen Sprechen und Bewegen – antwortet, so lässt sich sein Konzept als adäquate Umsetzung des Stückes sehen: Stück und Inszenierung sollen zudem Theater nicht vermeiden, sondern auf spezifische Weise transformieren. Die Publikumsbeschimpfung ist also keine Realität, sondern bleibt stets Kunst beziehungsweise (fiktionale) Literatur. Wer sich, ob Sprecher oder Zuschauer, direkt (als ‚reale‘ Person) provozieren lässt und auf die Bühne stürmt, verstößt bereits gegen die Grundregeln des Spiels, das „niemanden mein[t]“ (38). Die Publikumsbeschimpfung lässt sich mit Handkes Begriff „Theaterthea-
246 Vgl. Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 53. 247 Peter Handke, Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke, S. 96. Vgl. auch den zweiten Satz der Publikumsbeschimpfung: „Dieses Stück ist eine Vorrede.“ (S. 15) 248 Manfred Durzak verweist auch darauf, dass sich Handke, der den Erfolg zunächst genoss, später gegen diese Theatralisierung zur Wehr setzte (Peter Handke und die deutsche Gegenwartsliteratur, S. 91).
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ter“,249 wie er ihn in seinem Aufsatz Straßentheater und Theatertheater (1968) definierte, abgrenzen vom engagierten Theater jenseits der Theaterräume: Diese inszeniert ‚reale‘ Interventionen, etwa „wenn einem Professor das Mikrofon weggenommen wird“.250 Das ‚Theatertheater‘ hingegen soll nicht direkt eingreifen, sondern „ein Spielraum [sein] zur Schaffung bisher unentdeckter innerer Spielräume des Zuschauers“.251 Wenn man bedenkt, welch elaborierte Haltung des Zuschauens wohl notwendig ist, um diese Intention entdecken und die inneren Spielräume entfalten zu können, zeigt sich auch in diesen Worten die Pose des ästhetizistischen Pop-Dandys. Abschließend lassen sich folgende Kriterien festhalten, die das Stück zu einem Gründungstext der Postdramatik machen: Als direkte Publikumsansprache führt die Publikumsbeschimpfung zunächst weg von der dramatischen Illusion hin zur theatralen Situation, von der Handlung zur Sprachhandlung („Unser Sprechen ist unser Handeln“, 28). Die neue theatrale Situation wird bestimmt von einem homogenen, auf mehrere Sprecher verteilten Diskurs, durch den sich letztlich, da keine dramatischen Figuren sprechen, eine AutorStimme in Szene setzt. Diese Tendenz wird in anderen postdramatischen Stücken – häufig radikalisiert als Subjektivierung des Theatertextes – wieder begegnen. Der dramatische Konflikt wird in Strukturmerkmale transferiert: Er offenbart sich in der Spannung zwischen Bühne und Publikum, Unmittelbarkeit und Vermittlung. Dies gilt insbesondere für die spezifische Spannung zwischen Unmittelbarkeit des Theaterereignisses („Indem wir beschimpfen, können wir unmittelbar werden.“ [38]) und Vermitteltheit seiner Sprache („Wir sind das Sprachrohr des Autors“ [18]). Zu den indirekten Mitteln, welche die Präsenz einer Aufführung brechen, zählt auch die in späteren Postdramen radikalisierte Intertextualität. Im fremden Material, das man den Sprechern in den Mund legt, wird die Vermittlung zusätzlich markiert. Den Schauspielern, die Jelineks Sprachflächen auf der Bühne realisieren, hängen etwa – so ein eindringliches Bild der Autorin – „noch Fetzen von Heidegger, Shakespeare, Kleist, egal wem, aus den Mundwinkeln“.252 Handkes Sprechstück-Idee radikalisierend, werden sie nicht nur zum Sprachrohr eines Autors (der verschwindet gleichfalls hinter den Zitaten), sondern zu einer bloßen Funktion der Sprache: „Die Schauspieler SIND das Sprechen, sie sprechen nicht.“ 253 Auch die Fragen
249 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 51–55 (Straßentheater und Theatertheater). 250 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 51–55, hier S. 54. 251 Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 54. 252 Elfriede Jelinek, Sinn egal. Körper zwecklos. In: Jelinek, Neue Theaterstücke, S. 7–13, hier S. 8. 253 Ebd, S. 9.
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nach der Offenheit postdramatischer Stücke (im Kontrast zu ihrer formalen Strenge), nach der Möglichkeit zur Improvisation, stellen sich in der Folge der Publikumsbeschimpfung. Schließlich wird ausgehend von diesem Text die grundlegende Frage nach der Referenz des postdramatischen Theaters zu stellen sein.
2.4.2 Heiner Müllers Hamletmaschine (1977): Umsturz der Textinstanzen Um die Welthaltigkeit postdramatischer Texte zu prüfen, lässt sich ein Fernseh-Interview Alexander Kluges mit Heiner Müller aus dem Jahr 1990 heranziehen.254 Als die Rede auf die Ereignisse von 1989 kommt, montiert Kluge eine Sequenz aus einem Film des Berliner Dokumentarfilmers Gregor ein, der Bilder der Großdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 mit Ausschnitten aus dem vierten Teil der Hamletmaschine, dem erzählten Revolutionsstück, kombiniert: Die realen geschichtlichen Ereignisse treffen auf den über zwanzig Jahre zuvor verfassten Text, der plötzlich einen prophetischen Charakter erhält, als deute der „Sturz des Denkmals“ 255 auf den Fall der Berliner Mauer voraus. In den eingeblendeten Szenen aus den Proben zu Heiner Müllers Hamlet-Inszenierung, die im März 1990 am Deutschen Theater Premiere hatte und in die Müller die Hamletmaschine integrierte, spricht Ulrich Mühe den Text des „Hamletdarstellers“ (vgl. 549–553): Im schmalen dunklen Anzug mit Hut steht er mit dem Rücken an eine Wand gelehnt. Auch die Melancholie des Intellektuellen in Zeiten des Kalten Kriegs, im Umkreis politischer Macht – eine Lesart des Hamlet-Bezugs in Heiner Müllers Text – wird in Gregors Montage aktualisiert: Bei der Passage „Auf dem Balkon des Regierungsgebäudes erscheint ein Mann mit schlecht sitzendem Frack und beginnt ebenfalls zu reden“ (550) wird Heiner Müller eingeblendet, wie er linkisch das Rednerpodest auf dem Alexanderplatz betritt. Seine schüchtern vorgetragene, lakonische Rede – „Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. […] Die Preise werden steigen, die Löhne nicht“ – wechselt mit Mühes bestimmter und nachdrücklicher, spannungsgeladener, deutlich skandierender Stimme: „Aus dem Ruf nach mehr Freiheit wird der Schrei nach dem Sturz der Regierung“ (550).
254 Alexander Kluge, Interview mit Heiner Müller. Sendedatum: 7. Februar 1990. Das Video stellt die Bibliothek der Cornell University online zur Verfügung: http://muller-kluge.library. cornell.edu/de/video_exp.php?f=109. (Letzter Zugriff: 3. April 2014). 255 Heiner Müller, Die Hamletmaschine. In: Heiner Müller, Werke 4, S. 543–554, hier S. 550. Das Stück wird im Folgenden mit bloßen Seitenangaben im Text nach dieser Ausgabe zitiert.
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Die beiden Szenen kommentieren sich wechselseitig. Die Resignation des „Hamletdarstellers“ („Mein Drama findet nicht mehr statt“ [549]) scheint durch die geschichtlichen Ereignisse einerseits widerlegt, andererseits wird die Hoffnung der Demonstranten durch den Geschichtspessimismus des Stücks als Traum entlarvt, seine Einmaligkeit wird relativiert als Re-Inszenierung des immer wiederkehrenden und immer wieder scheiternden Kampfes um Freiheit. Mit Heiner Müllers Hamletmaschine (1977) erreicht die postdramatische Ästhetik in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre einen vorläufigen Höhepunkt an Komplexität. Der knapp neun Druckseiten umfassende, vorwiegend monologische Text ist rätselhaft: Surrealistische Regieanweisungen („Enormous room. Ophelia. Ihr Herz ist eine Uhr“ [547]) sprengen die Möglichkeiten theatraler Umsetzung ebenso wie durch Zitate extrem verdichteter Sprechtext. Intertextuelle Verweise und Anspielungen auf geschichtliche Ereignisse, gesellschaftliche Zusammenhänge, politische und philosophische Theorien sind zu einem undurchdringlichen Gespinst montiert; die Fülle möglicher Assoziationen lässt sich zu keinem einheitlichen Bild fügen. Die Reihe fragmentarischer Gedankenund Wahrnehmungssplitter folgt vielmehr einer Traumlogik, notdürftig zusammengebunden unter dem titelgebenden Hamlet-Bezug. Das Stück entstand 1977 und wurde 1978 in Brüssel unter der Regie von Marc Liebens uraufgeführt.256 Als Referenzinszenierung gilt die Hamletmaschine des postdramatischen Regiepioniers Robert Wilson, die dieser 1986 an der New York University und kurz darauf in einer deutschen Version am Hamburger Thalia-Theater herausbrachte. Müllers Hamletmaschine wurde in der Forschung zwar als postdramatisch ausgewiesen.257 Die vorwiegend systematisch angelegten Untersuchungen leis256 Kurz darauf, 1979, inszenierte der Müller-Übersetzer Jean Jourdheuil das Stück am Théâtre Gérard Philippe im Pariser Vorort Saint Denis. Diese Produktion wird häufig als Uraufführung genannt. Die deutsche Erstaufführung fand 1979 in Essen statt. Zur Aufführungsgeschichte vgl. Heiner Müller, Werke 4, S. 594. 257 Die zentrale Rolle, die Müllers Hamletmaschine in der Postdramatik-Diskussion einnimmt, hat auch ‚forschungspolitische‘ Gründe: Sie ist darauf zurückzuführen, dass Hans-Thies Lehmann, der den Begriff ‚Postdramatik‘ in der Forschung etablierte, sich wiederholt mit Heiner Müller beschäftigte und ihn als „bedeutendste[n] Autor postdramatischer Texte“ (Das politische Schreiben, S. 340) auswies, was von nachfolgenden Forschungsbeiträgen aufgegriffen wurde (zur Hamletmaschine vgl. S. 343–345): Dagmar Jaeger etwa untersucht das „postdramatische Theater von Elfriede Jelinek und Heiner Müller“, wobei sie die gesellschaftskritische und politische Funktion postdramatischer Strukturmerkmale „im Medienzeitalter“ zu erweisen sucht (Theater im Medienzeitalter). Zur Hamletmaschine als postdramatischem Stück „des Eingedenkens“ vgl. Dagmar Jaeger, Theater im Medienzeitalter, S. 127–129 und S. 133–136. Ohne den Begriff ‚postdramatisch‘ zu verwenden, analysiert bereits Bernhard Greiner in seiner Interpretation des Stückes spezifisch postdramatische Mittel wie die Dekonstruktion von Figur und Handlung, monologische Rede, Intertextualität, Enthierarchisierung der Textinstanzen, Ver-
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ten jedoch keine genaue literatur- und theatergeschichtliche Kontextualisierung: Die spezifische Spannung zwischen politischer Referenz und selbstbezüglicher Kunst, zwischen Politik und Pop, die auch dieses postdramatische Stück kennzeichnet, soll deshalb genauer konturiert werden: Hierzu werden die bisher vernachlässigten Bezugnahmen auf Andy Warhol erstmals eingehend gewürdigt. Am Beispiel der Hamletmaschine diskutiert die Forschung die politische Dimension der als selbstreferentiell geltenden Postdramatik: Bei Reclam erscheint das Stück in einem Band mit Müllers Revolutionsstücken.258 Das Politische liegt für Hans-Thies Lehmann jedoch nicht nur im Gehalt: Politisch wirkt für Lehmann vor allem die experimentelle Form als „Unterbrechung der Regel“.259 Unter dem programmatischen Titel Das politische Schreiben versammelt Lehmann unter anderem mehrere Studien zum postdramatischen Theater Heiner Müllers, das für ihn ein „Kapitel der politischen Bewusstseinsgeschichte der deutschen Gesellschaft“ darstellt.260 Der monologische und chorische Charakter, den Lehmann an Stücken wie der Hamletmaschine analysiert, spiegele eine geschichtliche Gegenwart, in der die intersubjektiven Konflikte durch die ‚undramatische‘ Konfrontation anonymer Kollektive ersetzt seien.261 Außerdem hat sich in der Forschung eine politische Lesart etabliert, die den HamletBezug als Allegorie auf die Situation des Intellektuellen in der DDR deutet: Heiner Müller selbst hat durch seine eigene Doppelinszenierung von Hamlet und Hamletmaschine diese Lesart befördert, etwa explizit auch im eingangs erwähnten Interview mit Alexander Kluge. Hamlets Melancholie gilt nach dieser Deutung dem Scheitern des real existierenden Sozialismus und der Situation des Kalten Krieges.262 weigerung von Referenz (Die Hamletmaschine: Heiner Müllers Shakespeare Factory und Robert Wilsons Inszenierung. In: Die Postmoderne – Ende der Avantgarde oder Neubeginn, hg. von Carl-Schurz-Haus Freiburg i. Br., Eggingen 1991, S. 75–95). Auch Katharina Keim konstatiert Mittel wie die Auflösung dramatischer Figuren in monologischen ‚Diskursen‘, die Trennung von Körper und Stimme sowie Metatheatralität und hohe Intertextualität (Vom Theater der Revolution zur Revolution des Theaters. Bemerkungen zur Dramen- und Theaterästhetik Heiner Müllers seit den späten 70er Jahren. In: Text und Kritik 73: Heiner Müller, 2. Aufl.: Neufassung, 1997, S. 86–102, und Katharina Keim, Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 45–78). Elinor Fuchs erhellt im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Stücken die metatheatrale („theatricalist“) Struktur des Textes (Clown Shows, bes. S. 341–345). 258 Heiner Müller, Revolutionsstücke, hg. von Uwe Wittstock, Stuttgart 1988 (RUB 8470). 259 Hans-Thies Lehmann, Das politische Schreiben, S. 19. 260 Hans-Thies Lehmann, Das politische Schreiben, S. 349. 261 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Das politische Schreiben, bes. S. 343–349. 262 Diese Interpretation vertreten etwa Norbert Otto Eke, Heiner Müller, Stuttgart 1999, (RUB 17615) S. 135–143; Norbert Otto Eke, Apokalypse und Utopie, München, Wien und Zürich 1989, S. 71–107; Helmut Fuhrmann, Warten auf „Geschichte“, S. 100–106; als „Allegorie für das Ende
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Außerdem lässt sich das Stück mit Müllers Geschichtspessimismus verbinden: Nach dieser Deutung wirkt die Kombination des Hamlet-Stoffes mit weiteren Prätexten so, als solle der Hamlet-Konflikt als eine die Zeiten überdauernde Grundkonstellation ausgewiesen werden, die sogar bis in die antike Mythologie (Elektra) zurückreicht und in aktuellen politischen und sozialen Konflikten wiederkehrt.263 Diese Diagnose wird auch zur Erklärung der postdramatischen Form genutzt: Das pessimistische, zyklische Geschichtsbild verbiete kohärente Handlungen, die nur in einem linearen, auf Fortschritt angelegten Geschichtsverlauf sinnvoll wären, indem sie über sich hinaus auf eine mögliche Veränderung zielen könnten. Die Konflikte der Hamletmaschine hingegen verwiesen nur wieder auf vergleichbare beziehungsweise immergleiche andere Konflikte. Kontrovers wird in der Forschung diskutiert, inwieweit Müller – in der offenen Form oder im Motiv der rebellierenden Frau – einen utopischen Ausweg aus diesem Kreislauf entwirft.264 Eine weitere dominante Forschungsperspektive liest, teilweise in Ergänzung zum skizzierten politischen und geschichtsphilosophischen Verständnis, die Hamletmaschine als – poststrukturalistische – Dekonstruktion des Prätextes265 und betont Müllers Rezeption der französischen Poststrukturalisten.266
des Kalten Krieges“ liest das Stück Jean Jourdheuil. In: Heiner Müller Handbuch, S. 221–227, hier S. 226. Uwe Wittstock sieht in der von Müller inszenierten Begegnung zwischen Ophelia und Hamlet eine „bittere Persiflage auf den historisch gescheiterten Flirt marxistischer Intellektueller mit dem Proletariat“ (Nachwort. In: Heiner Müller, Revolutionsstücke, hg. von Uwe Wittstock. Stuttgart 1995, (RUB 8470) S. 115–146, S. 134). 263 Zu mythischen und mythologischen Bezügen in der Hamletmaschine und Müllers Verfahren einer „Mythenüberblendung“ vgl. Eva Huller, Griechisches Theater in Deutschland, S. 204–214. Huller verweist auf die „strukturelle Ähnlichkeit zwischen Atriden-Mythos und Hamlet-Mythos“ (S. 205). 264 Zu dieser Diskussion vgl. Norbert Otto Eke, Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, S. 104, und Norbert Otto Eke, der das offene Ende an den von Müller konzipierten „‚koproduzierenden‘ Zuschauer“ überantwortet: „als Aufforderung und Provokation zur Praxis“ (Heiner Müller, S. 143). 265 Müllers „dekonstruktivistische Dramaturgie“ der späten siebziger und achtziger Jahre analysiert im Kontext von Müllers Geschichtsauffassung Norbert Otto Eke. In: Heiner Müller Handbuch, S. 52–58, hier bes. S. 53 f. In diesem Sinne beschrieben auch die Kritiken zu Wilsons Inszenierung Müllers Ästhetik, etwa Mel Gussow in der New York Times vom 25. Mai 1986: „[I]n ‚Hamletmachine‘ he [d. i. Heiner Müller] deconstructs Shakespeare in order to contemplate and comprehend the disintegration of civilization. Hamlet’s madness becomes Muller’s obsession, and he sees in it, in particular, a reflection of Germany today. “ 266 Bezüge zu Foucault, Derrida und Kristeva erhellt Katharina Keim (Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers). Für sie „erschließt sich [die Hamletmaschine] erst vor dem Hintergrund poststrukturalistischen Denkens“ (S. 46). Vgl. auch Jonathan Kalb, The Theatre of Heiner Müller, Cambridge 1998. Müllers Zugehörigkeit zur Postmoderne ist jedoch umstritten. Vgl.
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Vor allem der hohe Grad an Intertextualität und die „Zerreißung der Fotografie des Autors“ im vierten Teil der Hamletmaschine wurden mit dem Verschwinden des Autors im Sinne von Roland Barthes und Michel Foucault verbunden.267 Ob die Interpreten dem Stück nun geschichtliche Referenz und politische Relevanz bescheinigen oder postmoderne Selbstbezüglichkeit der Zeichen nach dem Ende der Geschichte erkennen; die Analysen der Hamletmaschine offenbaren ein grundsätzliches Problem der Müller-Forschung: Heiner Müller hat in unzähligen Interviews und Selbstkommentaren ein Arsenal von Paratexten zu seinen Dramen geliefert, auf das Interpreten beständig zurückgreifen, um die jeweilige Deutung zu stützen. So legte Müller in seinen Gesammelte[n] Irrtümer[n] selbst die Fährte, die Hamletmaschine als „Selbstkritik des Intellektuellen“ 268 zu lesen und erklärt in seiner Autobiografie Krieg ohne Schlacht die monologische Struktur des Stückes mit der „Unmöglichkeit, mit dem Stoff zu Dialogen zu kommen, den Stoff in die Welt des sogenannten real existierenden Sozialismus-Stalinismus zu transportieren.“ 269 Die poststrukturalistische Lesart lässt sich mit kryptischen Aussagen stützen wie „Kunst legitimiert sich durch Neuheit = parasitär, wenn mit Kategorien gegebener Ästhetik beschreibbar.“ 270 Die willkürlich gewählten Zitate zeigen, wie Müller durch die Kombination erklärender und verschleiernder Aussagen die Logik seiner Theatertexte fortschreibt. Denn seine Stücke lassen ihrerseits keine einseitige Lesart zu. Sie sind vielmehr offenes Material. Ihre spielerische Polyvalenz ist derart zugespitzt, dass es nicht der Anspruch des Interpreten sein kann, alle Bezüge in eine kohärente Deutung zu überführen: Er präsentiert notwendigerweise eine subjektive, wiederum fragmentarische Lesart – und sollte, sich dessen bewusst, der programmatischen Offenheit des Textes auch in Darstellung und Analyse gerecht werden. Die vorliegende Analyse möchte dem Spektrum der Müller-Forschung daher eine weitere mögliche Lesart hinzufügen: Denn die Hamletmaschine erscheint unter einem bestimmten Blickwinkel weniger politisch, als die signalhaft eingestreuten zeitgeschichtlichen Bezüge vermuten lassen – und als spie-
zu dieser Diskussion Alexander Karschnia und Hans-Thies Lehmann. In: Heiner Müller Handbuch, S. 9–15. 267 Vgl. Katharina Keim, Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers. 268 Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer, Bd. 2, S. 103. 269 Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1992, S. 294. Auf diese beiden und andere Zitate verweist etwa Helmut Fuhrmann, um seine politische Deutung nachträglich zu plausibilisieren (Warten auf „Geschichte“, S. 106). 270 Zitiert nach: Katharina Keim, Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 46. Die Briefstelle dient Keim dazu, die Methode ihrer poststrukturalistischen Lesart zu bestätigen.
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lerisches Experiment auch weniger theoriebeladen, als die Derrida- und Foucault-Bezüge suggerieren. Wie sehr die bisherige Forschung von bedeutungsschweren politischen oder poststrukturalistischen Lesarten dominiert wird, zeigt sich daran, dass ein offensichtlicher Bezug zwar bemerkt, aber interpretatorisch nicht fruchtbar gemacht wurde: Mit seinem Wunsch „Ich will eine Maschine sein“ (553) zitiert Müllers „Hamletdarsteller“ einen berühmten Slogan Andy Warhols: „I want to be a machine.“ 271 Die Hamletmaschine gehört außerdem zu Müllers Shakespeare Factory, deren Titel auf Warhols New Yorker Factory anspielt. Der Bezug zur amerikanischen Pop-Art rückt Die Hamletmaschine in ästhetische Nähe zu anderen postdramatischen Texten, etwa zu Peter Handkes Publikumsbeschimpfung.272 Der Pop-Art-Bezug eines DDR-Dramatikers mag verwundern, lässt sich jedoch auch aus der Entstehungsgeschichte des Stückes erklären, das Müller nach einem neunmonatigen USA-Aufenthalt schrieb:273 Als privilegiertem Intellektuellen in der DDR waren ihm derartige Reisen und die persönliche Begegnung mit westlicher Kunst und Künstlern möglich. Die produktive Konfrontation verschiedener Prägungen und Einflüsse, den kreativen ‚clash of civilisations‘ hat Müller zu seinem Markenzeichen gemacht: Im vierten Teil der Hamletmaschine etwa treffen Andy Warhol („Ich will eine Maschine sein“ [553]), Ezra Pound („Gelächter aus toten Bäuchen“ [552])274 und Edward Cummingsʼ Enormous Room auf Karl Marx („ES GILT ALLE VERHÄLTNISSE UMZUWERFEN; IN DENEN DER MENSCH…“ [553]) und den poststrukturalistischen ‚Tod des Autors‘ („Zerreißung der Fotografie des Autors“ [552]). Das Erfolgsrezept dieses ästhetischen Programms lässt sich ablesen an der Verlagsankündigung einer französischen Übersetzung von Müllers Manuskripten der Hamletmaschine in den Éditions de Minuit (2003). Sie spiegelt die Vorurteile gegenüber dem vermeintlichen Brecht-Adepten und die positive Überraschung angesichts seiner umfassenden Belesenheit in westlicher Literatur und aktueller Theorie: Il était supposé appartenir à la postérité est-allemande de Brecht et voilà que sans crier gare il montrait que les œuvres de Samuel Beckett, Jean Genet, Ezra Pound, Thomas
271 Andy Warhol im Interview mit G. R. Swenson, What is Pop Art? Part I. In: Art News, November 1963. Ohne Nachweis der Quelle verweist auf dieses Warhol-Zitat und andere Bezüge des polyvalenten Maschinen-Motivs Jean Jourdheuil. In: Heiner Müller Handbuch, S. 222. 272 Lediglich Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs, bemerkte die Nähe von Handkes und Müllers Theaterkonzepten, die beide das moderne Drama in der Nachfolge Brechts und Becketts zum Diskurstheater führten. 273 Die Entstehungsgeschichte und möglichen Amerika-Bezüge referiert Jean Jourdheuil. In: Heiner Müller Handbuch, S. 221 f. und S. 225. 274 Zu diesem Bezug vgl. Heiner Müller Handbuch, S. 225.
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Sterne Eliot, Gertrude Stein, etc., ainsi que les réflexions de Michel Foucault, Gilles Deleuze, Georges Bataille ou Maurice Blanchot ne lui étaient pas inconnues.275
Die spielerische, performative – und durchaus humorvoll selbstironische – Qualität dieser Ästhetik sowie ihr anarchistischer Gestus rücken ein Stück wie die Hamletmaschine sogar in die Nähe von Handkes Publikumsbeschimpfung.
2.4.2.1 Wiederholungen: Die intertextuelle Struktur Auch wenn die inhaltliche Dichte und formale Komplexität den Einstieg in die Analyse fast unmöglich macht, kann man sich auch diesem Text wiederum zunächst über eine Strukturbeschreibung und die Suche nach der Semantik dieser Strukturen nähern. Der knappe Text ist in fünf Abschnitte geteilt, die durch arabische Ziffern und Zwischentitel in Majuskeln markiert sind. Auch innerhalb der einzelnen Abschnitte treten immer wieder einzelne Passagen in Großdruck hervor. Diese sind zumeist in Blankversen gehalten und heben sich dadurch zusätzlich von der vorherrschenden Prosa ab. Auch eingestreute englischsprachige Verse stechen aus dem deutschen Text hervor und verweisen auf den Ursprung des Prätextes. Ein erstes Gliederungskriterium liefern die Sprecherwechsel: Um die dialogische Mittelachse des dritten Teils, des Gesprächs zwischen Hamlet und Ophelia, gruppieren sich jeweils zwei Monologe des Hamlet(-Darstellers) und Ophelias, so dass die Abfolge Hamlet – Ophelia – Hamlet und Ophelia – Hamlet – Ophelia entsteht. Die Hamletmaschine ist grundlegend intertextuell organisiert. Dies beginnt bei der Form, die als (verfremdende) Bezugnahme auf die fünf Akte des klassischen Dramas lesbar ist. Müller selbst hat diese Lesart (ironisch) befördert: „Sie können den Text der HAMLETMASCHINE als fünfaktiges Stück lesen, ganz klassisch in der Dramaturgie.“ 276 Auch wenn das Stück (wie alle postdramatischen Theatertexte) handlungslos ist, so lässt sich dennoch, wenn man die Überschriften und die grobe inhaltliche Struktur der Abschnitte betrachtet, durchaus eine Anlehnung an den pyramidalen Spannungsaufbau der fünf Akte erkennen: Der erste Abschnitt FAMILIENALBUM (545–547) fungiert mit der Einführung verschiedener Figuren des Prätextes (Hamlet, des Mörders und der Witwe, des Geistes, Horatio, Polonius, Ophelia) und Hinweisen auf ihre Konstellation
275 Zitiert nach: http://www.leseditionsdeminuit.com/f/index.php?sp=liv&livre_id=1826 (Letzter Zugriff: 3. April 2014). 276 Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer, Bd. 1, S. 113.
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als eine Art Exposition, die zugleich in die Grundkonflikte, die strukturbestimmenden Täter-Opfer-Konfigurationen und den Handlungsmotor der Rache einführt. Durch den Auftritt Ophelias im zweiten Abschnitt, DAS EUROPA DER FRAU überschrieben (547 f.), steigt mit dem Hinweis auf den Befreiungs- und Rachewillen dieser tragischen Opferfigur („Ich zertrümmere die Werkzeuge meiner Gefangenschaft“ [547]) die Spannungskurve an. Als Höhepunkt ließe sich die Begegnung von Hamlet und Ophelia im SCHERZO betitelten dritten Teil (548 f.) sehen, der die Identifikation Hamlets mit der tragischen Ophelia als Rollentausch der Geschlechter inszeniert („Hamlet zieht Ophelias Kleider an.“ [548]). Die Peripetie kommt mit dem als Stück im Stück entworfenen Revolutionsszenario zu Beginn des vierten Teils (PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND [549–553]), der in eine resignative Kulturkritik an der von Massenmedien („Fernsehn Der tägliche Ekel“ [551]) und „Konsumschlacht“ (552) bestimmten Gegenwart mündet. Der Fall der Handlung wird bestimmt von der Destruktion der Autorinstanz („Zerreißung der Fotografie des Autors“ [552]) und der Hinrichtung revolutionärer Führer („Marx Lenin Mao“ [553]). Die Katastrophe tritt ein mit der Bändigung der revolutionären Frau im fünften Teil mit dem rätselhaften, Hölderlin alludierenden Titel WILDHARREND / IN DER FURCHTBAREN RÜSTUNG / JAHRTAUSENDE (553 f.).277 Die Identifikation Ophelias mit Elektra („Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis“ [554]) erzeugt zugleich ein offenes Ende: Bietet diese mythologische Rächerin – den Zauderer Hamlet und die Selbstmörderin Ophelia ablösend – die Aussicht auf Vergeltung? Mit Ausnahme der beiden Sprechinstanzen Hamlet und Ophelia sind die intertextuellen Bezüge zu Shakespeares Hamlet nicht strukturbestimmend. Letztlich handelt es sich um punktuelle Verweise:278 Lediglich eines der geflügelten Worte Hamlets wird in Originalsprache zitiert und transformiert: „SOMETHING IS ROTTEN IN THE AGE OF HOPE“ (545) – „Something is rotten in the state of Denmark.“ 279 Ansonsten beschränken sich die Hinweise im Wesentlichen auf die Figurenkonstellation und Anspielungen auf den Grundkon-
277 Es handelt sich um folgendes Fragment: Hölderlin. StA 2.1, S. 316. Zu Müllers HölderlinRezeption vgl. Patrick Primavesi. In: Heiner Müller Handbuch, S. 131–134. 278 Jean Jourdheuil charakterisiert den Bezug als ‚Überschreibung‘: „In Die Hamletmaschine bleibt abgesehen von einigen sehr kurzen Zitaten nichts von Shakespeares Text übrig, gerade so als sei er durch Müllers Text ausgelöscht, als sei er durch ihn ersetzt worden“ (Heiner Müller Handbuch, S. 222). 279 Zudem könnte das Wort „GLOBE“ in „AH THE WHOLE GLOBE FOR A REAL SORROW“ (545) als entkontextualisiertes Signalwort auf Hamlets „distracted globe“ (I, 5) verweisen (oder auf das Globe Theatre).
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flikt der Rachetragödie,280 die zudem in einer Fülle anderer Bezüge aufgehen: auf weitere Shakespeare-Dramen wie „RICHARD THE THIRD“ (545) und Macbeth („ICH WAR MACBETH“ [552]) sowie auf Prätexte unterschiedlicher Gattungen, Zeiten und Nationalliteraturen: Romane wie Boris Pasternaks Doktor Schiwago, Joseph Conrads Im Herzen der Finsternis, Dostojewskijs Schuld und Sühne, Gedichte von Ezra Pound und Friedrich Hölderlin. In den intertextuellen Verweisen wird vor allem die strukturbildende Täter-Opfer-Konfiguration variiert. Ophelia wird in eine Reihe von weiblichen Opfern und Selbstmörderinnen gestellt: Die der Fluß nicht behalten hat. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis […] Die Frau mit dem Kopf im Gasherd. (547)
Sie lassen sich als Anspielungen auf die Dichterin und Ehefrau Heiner Müllers Inge Müller, auf Ulrike Meinhof und Rosa Luxemburg lesen.281 Dostojewskijs Schuld und Sühne wird durch das „Beil“ (553) als Mordwaffe assoziativ mit dem Mord an Hamlets Vater und der späteren ‚Hinrichtung‘ von Marx, Lenin und Mao (vgl. 553) verbunden. Die scheiternde Rache Hamlets wird flankiert von Ophelias Rachewunsch, dem „Aufstand“ der Unterdrückten, Ophelias/Elektras Drohung „im Namen der Opfer“ (554). Auch wenn der heterogene Motiv-Mix weitgehend rätselhaft bleibt, entsteht der Eindruck politischer und gesellschaftlicher Aktualität, erzeugt durch Bezugnahmen auf Stalinismus, Kalten Krieg und Terrorismus, auf Globalisierung, Frauenbewegung, Massenmedien und Konsumgesellschaft: Im Abschnitt PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND wird eingangs mit „Der Ofen blakt im friedlosen Oktober“ (549) auf den blutig niedergeschlagenen Ungarischen Volksaufstand verwiesen, der am 23. Oktober 1956 mit einer friedlichen Großdemonstration von Studenten begann. Auf diese Demonstration spielt die folgende Revolutionsszene an („Der Aufstand beginnt als Spaziergang“ [550]), die blutig endet („die Regierung setzt Truppen ein, Panzer“ [550]). Bei dem „Denkmal“ handelt es sich offenbar um ein Standbild des 1953 verstorbenen Stalin („drei Jahre nach dem Staatsbegräbnis des Gehassten und Verehrten“ [530]).282
280 Eine Rekonstruktion der Shakespeare-Bezüge bietet Bernhard Greiner, Die Hamletmaschine, S. 78–83. Katharina Keim analysiert neben den direkten Shakespeare-Bezügen auch Bezugnahmen auf die Hamlet-Rezeption (Nietzsche, Freiligrath, Brecht) (Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 59–63). 281 Vgl. Jean Jourdheuil. In: Heiner Müller Handbuch, S. 224. 282 Die zeitgeschichtlichen Hinweise entziffern detailliert Helmut Fuhrmann, Warten auf „Geschichte“, S. 100–106; und Norbert Otto Eke, Heiner Müller, S. 135–143.
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Das zentrale Thema der geknechteten und rebellierenden Frau (DAS EUROPA DER FRAU [547]), das die Sphären des Privaten und Politischen verbindet, schafft zugleich einen Gegenwartsbezug: Mit ‚gender‘ greift Heiner Müller wiederum ein aktuelles Zeitthema auf; den Hintergrund bildet die sogenannte zweite Frauenbewegung seit den späten sechziger Jahren, zu der psychologische Studien wie etwa Juliet Mitchells Psychoanalysis and Feminism (1974) und die ‚écriture feminine‘ in Frankreich (Luce Irigaray, Hélène Cixous) zählen. Die Globalisierung wird mit dem revolutionären Aufruf „[a]n die Metropolen der Welt“ (554) evoziert; der zeitgenössische Terrorismus mit Anspielungen auf die Manson-Gruppe283 und die RAF (Ulrike Meinhof als „Die Frau am Strick“ [547]). Zur Aktualisierung tragen Requisiten bei wie Fernsehgeräte und Kühlschrank (vgl. 549), Hinweise auf „Computer“, „Datenbank“ (551) und den westlichen Konsumartikel par excellence: das Modegetränk „COCA COLA“ (552). Diese Aktualisierungen werden kombiniert mit archaisch anmutenden Verweisen auf antike Mythologie, die den neuzeitlichen Mythos Hamlet flankieren.284 Ähnlich wie bei Handkes Publikumsbeschimpfung sind Hochkultur und Pop gemischt: Elektra trifft auf Coca Cola, Hölderlin auf Andy Warhol. Folgt diese Konfrontation jedoch, im Unterschied zu Handke, einer gesellschaftskritischen, dezidiert politischen Intention?
2.4.2.2 Die ‚Warhol-Maschine‘ Der Bezug zur Pop Art Andy Warhols ist im vierten Teil der Hamletmaschine durch ein Zitat deutlich markiert: Hier wird das titelgebende Maschinen-Motiv im Wunsch des „Hamletdarstellers“: „Ich will eine Maschine sein“ (553) reduziert auf motorische Körperfunktionen – „Arme zu greifen Beine zu gehn“ –, alle Sinneswahrnehmungen und mentalen Prozesse sind stillgelegt – „kein Schmerz und kein Gedanke“ (553). Das wörtliche Zitat von Andy Warhols Slogan „I want to be a machine“ wurde in der Forschung zwar erkannt,285 jedoch ohne dessen Kontext zu berücksichtigen: Es stammt aus einem Interview Warhols, der 1963 in der Zeitschrift Art News neben anderen Künstlerkollegen wie Robert Indiana und Roy Lichtenstein auf die Frage „What is Pop Art“ antwortete:
283 Jean Jourdheuil gibt diesen Hinweis: „Der letzte Satz zitiert einen ‚scarring phone call‘ von Susan Atkins, die zur ‚family‘ von Charles Manson gehört: ‚Wenn sie mit Fleischmessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen‘ [554]“ (Heiner Müller Handbuch, S. 226). 284 Zu Hamlet als neuzeitlichem Mythos vgl. Eva C. Huller, Griechisches Theater in Deutschland, S. 205. 285 Vgl. Jean Jourdheuil. In: Heiner Müller Handbuch, S. 222.
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The reason I’m painting this way is that I want to be a machine, and I feel that whatever I do and do machine-like is what I want to do.286
In der Interpretation des Maschinellen gleichen sich Warhol und Müller: Maschinen-Kunst wird von Warhol als gefühllos charakterisiert und folgt dem Gesetz der Wiederholung: „You do it over and over again.“ 287 Das Pop-Art-Prinzip des Seriellen bietet einen ersten Anknüpfungspunkt zu Müllers Hamletmaschine. Aus der Perspektive der Pop-Ästhetik offenbart sich eine spezifische anarchische Spielfreude, mit der hier ein ‚Clash‘ der Kulturen, Stile und Zeiten inszeniert wird. Auch wenn bei Müller nicht dasselbe Motiv, sondern vergleichbare Phänomene gereiht werden: Die Reihe der Täter und Opfer aus Literatur und Zeitgeschichte erinnert an Warhols serielle Kunst, an seine Porträtreihen und Multiples etwa von Stars wie Marilyn Monroe und Liz Taylor oder einer Postkarte der Mona Lisa. Bei Müller ist es die „Galerie“ (548) der tragischen Frauen (Ophelia, Elektra, Rosa Luxemburg, Ulrike Meinhof), der sozialistischen Helden (Marx Lenin Mao), der Shakespeare-Dramen (Hamlet, Macbeth, Richard III), und Dichterporträts – die „Fotografie des Autors“ (552) kann Heiner Müller oder einen anderen der zitierten Dichter darstellen. Vor allem aber lässt sich die Reihe der Schreckensvisionen, welche die Hamletmaschine entwirft, mit Warhols Katastrophen-Serien (Autounfälle, Selbstmörder, der elektrische Stuhl) verbinden, die unter dem programmatischen Titel Death in America seit den frühen sechziger Jahren entstanden. Im bereits zitierten Art NewsInterview qualifiziert Warhol den Tod als das zentrale Motiv seiner Pop-Art: I guess it was the big plane crash picture, the front page of a newspaper: 129 DIE. I was also painting the Marilyns. I realized that everything I was doing must have been Death. […] But when you see a gruesome picture over and over again, it doesn’t really have any effect.288
Warhol beschreibt hier einen Mechanismus, durch den die Referenz eines Bildes im künstlerischen Verfahren ‚ausradiert‘ wird: Zurück bleibt die selbstbezügliche Kunst, ein rein ästhetisches Phänomen, das Zusammenspiel von Flächen und Farben, das sich vom abgebildeten Gegenstand gelöst hat. Auf ganz ähnliche Weise tritt in postdramatischen Stücken die Referenz hinter der klanglichen Kraft der Sprache und dem ‚Eigenwert‘ der Bühnenelemente zurück. Doch da die ‚Welthaltigkeit‘ der eingesetzten – sprachlich oder optisch vermittelten – Motive niemals ganz verschwindet, entsteht die spezifische, zwi-
286 G. R. Swenson, What is Pop Art? Part I. 287 G. R. Swenson, What is Pop Art? Part I. 288 G. R. Swenson, What is Pop Art? Part I.
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schen Bedeutung und Selbstbezüglichkeit schwankende Ästhetik. Die Funktion dieser möglichen Warhol-Rezeption lässt sich folgendermaßen fassen: Ausgestellt wird eine Lust an der Wiederholbarkeit, an der Fülle – nach Warhols Maxime: „30 are better than one“. In der eintönigen Serie tritt die Bedeutung des Einzelnen zurück. Auch die Referenz wird zugunsten der ästhetischen Qualitäten des Materials unterlaufen: bei Warhol die Oberfläche von Farbe und Form, bei Müller Rhythmus und Klangqualität – und grafische Gestalt – des Textes.289 Eine weitere Konsequenz der seriellen und maschinellen Ästhetik, die Müller und Warhol verbindet, ist die Relativierung des Künstlers; er tritt hinter das Material und seine maschinelle Verarbeitung zurück. Zugleich ist seine Kunst jedoch durch das Prinzip der Auswahl und des Arrangements, das einen spezifischen Stil manifestiert, subjektiv und dient letztlich der Selbst-Inszenierung des Künstlers: Dieser wird zum wesentlichen Teil seiner Kunst (wie der Autor in der Hamletmaschine, dessen Fotografie auf der Bühne zu sehen sein soll). Auch wenn in Müllers Stück und in Warhols Serien die Referenz von der stofflichen Qualität des Sprach- und Bildmaterials unterlaufen wird, so bringen die verwendeten Motive doch einen semantischen Eigenwert mit, der in die Ästhetik eingeht: Das zeigt sich bei Warhol wie bei Müller (und zuvor in Handkes Publikumsbeschimpfung) am Testfall der geschichtlichen und gesellschaftlichen Katastrophen-Motive. Die „Genickschußspezialisten“ 290 in Handkes Schimpfkanonade lassen sich ebenso wenig wie der elektrische Stuhl in Warhols Death-Serie 291 und die „Panzer“ (550) in der Revolutionsszene der Hamletmaschine als rein ästhetische Phänomene betrachten. Bricht also letztlich doch wieder die (geschichtliche) Zeit ein in das unschuldige Spiel? In der postdramatischen Rezeption wird der (vermeintlich) affirmative Charakter der amerikanischen Pop-Art relevant, die sich des Materials der kapitalistischen Gesellschaft scheinbar unterschiedlos bedient: Die pure Ästhetik der Konsumwelt, die Warhol etwa in den berühmten Campbell’s-Dosen oder Brillo-Boxen ausstellte, scheint auch Müller fasziniert zu haben; er evoziert sie nicht nur zur Frontbildung seines Revolutionsstückes, das die Signatur des Kalten Krieges trägt. In der Hamletmaschine ist der Name „COCA COLA“ (552) durchaus (auch) als ästhetisches Phänomen zu sehen – klanglich wie grafisch, hervorgehoben in Majuskeln.
289 Die Bedeutung des Sprachrhythmus der Hamletmaschine untersucht Katharina Keim, Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 72–78. 290 Peter Handke, Theaterstücke, S. 39. 291 Die Referenz von Warhols Death in America-Serie wird auch in der Warhol-Forschung diskutiert. Vgl. Hal Foster, Death in America. In: Andy Warhol, hg. von Annette Michelson, Cambridge, Mass. und London 2001, S. 69–88.
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Für Warhol erlauben maschinelle Reproduktionsverfahren – vornehmlich der Siebdruck – die skizzierte serielle Ästhetik. Bereits bestehende Vorlagen (Fotografien, Postkarten) werden reproduziert und weiterverarbeitet. Bei Müller ist es die „Schreibmaschine“ (551), die das Mentale durch rein maschinelle Reproduktion ablöst. Dazu kommt das Motiv der abrufbaren und reproduzierbaren „Datenbanken“ des „Computer[s]“ (551).292 Nachdem das „Textbuch […] verloren“ ist, bleibt dem melancholischen „Hamletdarsteller“ nur mehr das „Fernsehn“ (551), um die sinnlose Zeit totzuschlagen und seinen Welt-„Ekel“ zu betäuben. Auch dieses reproduzierende Medium könnte ein Vorbild im ‚fernsehsüchtigen‘ Andy Warhol haben, der in seinen autobiografischen Aufzeichnungen sogar das Attentat auf die eigene Person als virtuell erlebt: Right when I was beeing shot and ever since, I knew that I was watching television. The channels switch, but it’s all television.293
Ohne in Warhols Aussage eine Medienkritik hineinlesen zu wollen, scheint sich mir hier auch ein Bewusstsein zu artikulieren für den Ernst eines scheinbar nur reproduzierenden und virtuellen Mediums, welches sich zunehmend mit dem realen, physischen Leben vermengt – und ihm im Gesetz der Serie seine Individualität raubt: Warhols Initiationserlebnis der Death-Serie („every time you turned on the radio they said something like, ‚4 million are going to die.‘ That started it.“ 294) entspricht der Wunsch des fernsehenden „Hamletdarstellers“: „Unsern Täglichen Mord gib uns heute“ (551).
2.4.2.3 Warhol trifft Brecht Die Spannung zwischen Referenz und metatheatraler Selbstbezüglichkeit ist im vierten Teil der Hamletmaschine besonders virulent: Hier trifft das WarholMotiv der Maschine unmittelbar auf einen intertextuellen Bezug zu Bertolt Brechts Die Mutter, der in der Müller-Forschung bisher nicht untersucht wurde. Diese Begegnung von Warhol und Brecht, die PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND zu einem Testfall macht, an dem sich der Status politischer Referenz gegenüber dem selbstbezüglichen ästhetischen Spiel untersuchen lässt, ist im Übrigen bereits in Warhols Interview What is Pop Art? vorgebildet: Das Maschinen-Motiv entwickelt er dort nämlich im Vergleich zur Konformisie-
292 Auch wenn der Computer in den siebziger Jahren noch kein Schreibwerkzeug war (und die Hamletmaschine nicht am Computer entstanden ist), weist Müllers Zitatmontage auf Textherstellungsverfahren des digitalen Zeitalters voraus. 293 Andy Warhol, The Philosophy of Andy Warhol, New York 1975, S. 91. 294 Andy Warhol. In: Art News, November 1963.
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rung des Menschen durch Brechts Theater. Programmatisch beginnt er seine Definition der Pop-Art mit einem Hinweis auf Brecht, dessen vermeintliches Programm er entpolitisiert: Someone said that Brecht wanted everybody to think alike. I want everybody to think alike. But Brecht wanted to do it through Communism, in a way. Russia is doing it under government. It’s happening here all by itself without being under a strict government; so if it’s working without trying, why can’t it work without being Communist? Everybody looks alike and acts alike, and we’re getting more and more that way. I think everybody should be a machine. I think everybody should like everybody.295
Wie eine Antwort auf diese ironische Konfrontation liest sich der vierte Teil der Hamletmaschine (549–553): In dieser Schlüsselszene, die den Ungarischen Volksaufstand 1956 evoziert, entwirft der „Hamletdarsteller“ ein Revolutionsdrama im Irrealis als Stück-im-Stück. Der Abschnitt beginnt zunächst mit einem Monolog Hamlets, der sich aber dann seiner Maske und seines Kostüms entledigt und als „Hamletdarsteller“ weiterspricht (vgl. 549). Dessen erste Sätze drücken eine umfassende Entfremdung aus: von der literarischen Figur („Ich bin nicht Hamlet“), vom Drama („Mein Drama findet nicht mehr statt“; „Mich interessiert es auch nicht mehr“), vom Theater, in dem die Dekorationen aufgebaut werden „von Leuten, die mein Drama nicht interessiert, für Leute, die es nichts angeht“. Diese Entfremdung mündet in eine Verweigerung: „Ich spiele nicht mehr mit“ (549). Ausgehend von seiner Betrachtung der Dekoration entwirft er in der Folge jedoch ein alternatives Drama. Die erste Sequenz beginnt sogleich mit einer Formel im Irrealis, welche die Unmöglichkeit des Entwurfs von vornherein markiert und jedes utopische Moment negiert: „Mein Drama, wenn es noch stattfinden würde, fände in der Zeit des Aufstands statt“ (550).296 Auch die zweite Sequenz des Dramenentwurfs wird analog eingeleitet: „Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre […]“ (550) und konstatiert an seinem Ende folgerichtig „Mein Drama hat nicht stattgefunden“ (551), worauf der Monolog wieder zur Absage ans Theater zurückkehrt und dessen endgültigen Tod verkündet: Verloren ist das Textbuch, abgestorben sind die Schauspieler ohne Gesichter, der verfaulte Souffleur und das Publikum der „Pestleichen“ (551).
295 Andy Warhol. In: Art News, November 1963. 296 Der Vorbehalt ähnelt dem negativen Zwischenspiel in Handkes Publikumsbeschimpfung: „Der Tod wäre das Pathos dieser wirklichen Zeit. […] Zumindest würde dieses Zwischenspiel dem Stück zu einem dramatischen Höhepunkt verhelfen“ (Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 34).
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Doch dazwischen gewinnt die Erzählung des Revolutionsdramas eine Eigendynamik, wird als Präsenserzählung297 vergegenwärtigt, als Wunschvorstellung detailfreudig ausagiert: Das erzählte Revolutionsgeschehen steigert sich im ersten Teil (550) dramatisch. Es beginnt zunächst harmlos als verkehrswidriger „Spaziergang“ (550). Beim Regierungsviertel werden Reden der Demonstranten und die Gegenrede eines Vertreters der Macht vorgetragen. Schließlich kommt es zur ersten Gewalt (Steinewerfen), der „Ruf nach mehr Freiheit“ (550) steigert sich zum umstürzlerischen „Schrei“ (550), schließlich zum Sturm auf verschiedene öffentliche Gebäude. Auch die Ereignisse auf der Gegenseite spitzen sich zu: Treten zunächst Polizisten den Demonstranten entgegen, setzt die Regierung schließlich die Armee mit „Panzer[n]“ (550) ein. Das erzählte Revolutionsstück erinnert an eine prominente epische Musterszene Bertolt Brechts, an den ‚Bericht vom 1. Mai‘ in dem Drama Die Mutter 298 (1938) – wodurch Müller dem Mix der Kulturen und Einflüsse noch eine versteckte Hommage an den ‚Übervater‘ des politischen epischen Theaters einschreibt. Diese intertextuelle Bezugnahme wird durch thematische und formale Übereinstimmungen markiert: Bei Brecht wird ein vergangenes Geschehen erzählend und darstellend vergegenwärtigt – die Ereignisse von der Arbeiterdemonstration am 1. Mai 1908 werden von verschiedenen Zeitzeugen, darunter ein Toter (Smilgin), berichtet und nachgespielt. Dabei wechselt die Rede – wie später in der Schlüsselszene der Hamletmaschine – zwischen Präteritum und Präsens, zwischen Retrospektive und Vergegenwärtigung: Smilgin: Anton:
[…] Jetzt stehe ich hier, hinter mir sind es schon viele Tausende, aber vor uns steht wieder die Gewalt. Sollen wir die Fahne weggeben? Gib sie nicht weg, Smilgin! Es geht nicht durch Verhandeln, sagten wir. […]299
Smilgins Präsenserzählung wird im Moment seines Todes abgelöst durch das Zitat: „Ja, sagte er“, ergänzt durch den Bericht „und fiel vornüber auf sein Gesicht, denn sie hatten ihn schon abgeschossen.“ 300 Das Spiel von Distanzieren und Vergegenwärtigen hat bei Brecht offenbar die Funktion, den Impuls zu zukünftiger Veränderung zu geben: Es wird wiederholt, bis sich etwas ändert: „von jetzt ab bis zur völligen Umänderung aller Dinge“;301 „Das wird alles
297 Zu den Ausdrucksmöglichkeiten des Präsens in fiktionalen epischen Texten vgl. Jürgen H. Petersen, Erzählen im Präsens. Die Korrektur herrschender Tempus-Theorien durch die poetische Praxis der Moderne. In: Euphorion 86, 1992, S. 65–89. 298 Bertolt Brecht, Die Mutter. Leben der Revolutionärin Pelagea Wlassowa aus Twersk [Fassung 1938]. In: GKA 3, S. 325–398, hier S. 347–349. 299 GKA 3, S. 349. 300 GKA 3, S. 349. 301 GKA 3, S. 348.
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noch anders werden.“ 302 Die Dinge werden im Sinne Brechts als grundsätzlich veränderbar dargestellt: Ein Auferstandener spricht, den man künftig (in vergleichbarer Situation bzw. in Vermeidung vergleichbarer Situationen) vor dem Tod bewahren muss. Bei Heiner Müllers Hamletmaschine, wo der Bericht von vornherein im Irrealis eingeleitet wird („wenn mein Drama noch stattfinden würde“ [550]) und dann ebenfalls ins vergegenwärtigende Präsens wechselt, wird er zugleich auf ganz andere Weise multiperspektivisch („auf beiden Seiten der Front“ [550]), indem sich jede stabile Perspektive auflöst. Der Erzähler spaltet sich auf im multiperspektivischen Erzählen, wodurch die erzählte Aufführung ihre Anschaulichkeit verliert und mit der Ich-Dopplung des Erzählers surrealistisch ‚entgleitet‘: „Ich schüttle […] meine Faust gegen mich, der hinter dem Panzerglas steht. Ich sehe […] mich […], meine Faust gegen mich schütteln“ (551). Die Erzählinstanz wird, sobald sie ihre ‚Macht‘ (perspektivische Verfügungsgewalt) über das Erzählte verloren hat, gleichsam von den Ereignissen entmündigt, die nun die Regie übernehmen. Der Erzähler wird zur [bloßen] „Schreibmaschine“ und „Datenbank“, die unverfügbaren Geschehnisse als „Wortschleim absondernd“ (551). Es folgt die endgültige Absage ans Drama: „Mein Drama hat nicht stattgefunden“ (551). Diese Selbstabschaffung des Autors spitzt sich im Maschinen-Motiv à la Warhol zu („Ich will eine Maschine sein“), mit dem der Schauspieler/Erzähler/ Autor endgültig hinter sein Material zurücktritt. Sie steht in einer konsequenten Reihe von Enthierarchisierungen, die musterbildend für das postdramatische Theater ist: Zunächst löst der Schauspieler die Figur ab und ergreift als „Hamletdarsteller“ selbst das Wort. Als Erzähler eines Stücks im Stück löst er zugleich mit der literarischen Figur auch den Schöpfer der Figur und ihrer Sprache, den Autor als Vermittlungsinstanz ab. Schließlich übernimmt die Eigendynamik des Geschehens selbst die Regie. Eine grundlegende Skepsis über die Verfügungsgewalt und Allmacht des Autors spricht schließlich aus der „Zerreißung der Fotografie des Autors“ (552), auf die eine regressive Fantasie des sprechenden „Hamletdarstellers“ folgt („Ich ziehe mich zurück in meine Eingeweide“ [552]) und schließlich der Wunsch nach Entpersönlichung als „Maschine“ (553). Die Enthierarchisierung beziehungsweise der Umsturz der Textinstanzen, die sich hier zuspitzen, bestimmen den gesamten Text: Es beginnt mit der unsicheren Figurenrede. Schon zu Beginn ist unklar, wer spricht (im ersten Monolog fehlt die Sprecherangabe), später ist es ein kollektives und chorisches Spre-
302 GKA 3, S. 349.
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chen in der Angabe „Ophelia (Chor/Hamlet)“ (547). Zudem verwandelt sich Ophelia in andere Frauen, schließlich in Elektra. Die Figur wird zum Schauspieler, der Schauspieler zum Binnenautor, der Binnenerzähler zu beiden Fronten des Kampfes, schließlich zur entpersonalisierten (Schreib-)Maschine. Der Autor wird destruiert (sein Bild zerrissen). Alle Hierarchien des dramatischen Textes werden aufgelöst: Regieanweisungen finden sich im Sprechtext: „Auftritt Horatio. Mitwisser meiner Gedanken, die voll Blut sind“ (546). Ein MarxZitat steht – als wörtliche Rede? – mitten im Regietext, hervorgehoben durch Majuskeln: „ES GILT ALLE VERHÄLTNISSE UMZUWERFEN […]“ (553). Der Status der Passagen in Großdruck, die sich in den Sprech- und Regie-Text quasi ‚hineinfressen‘, ist unklar. Viele Regietexte sprengen, etwa durch surrealistische Vorgaben – „Tritt in die Rüstung, spaltet mit dem Beil die Köpfe von Marx Lenin Mao. Schnee. Eiszeit“ (553) – die Möglichkeiten einer theatralen Realisierung. Durch die damit einhergehende Gattungsüberschreitung – der Text wirkt stellenweise als Prosa (Traumtext), in anderen Passagen wie moderne Lyrik303 – wird dieser Klassiker der Postdramatik musterbildend. Welche Bedeutung diese komplexe Textgestalt auch immer haben mag, es lassen sich gravierende wirkungsästhetische Konsequenzen dieser Ästhetik zeigen: Da es keine stabile Instanz gibt, die Macht über das Spiel und seine Bedeutung gewinnt, entsteht eine offene Struktur, in die jeder Teilnehmer am Spiel (Autor, Regisseur, Schauspieler und Zuschauer) aktiv eingreifen kann. So ließe sich das Drama auf einer formalen Ebene doch noch als Revolutionsstück ausweisen? Es ist ein Umsturz der Form: Revolutioniert wird damit die Theatersituation, was sich in den Inszenierungsmöglichkeiten niederschlägt: Die offene Struktur des Stückes erfordert eine besondere Inszenierungsweise. So lässt sich der Text als Material für eine Aufführung beispielsweise nicht als eigenständige Hamlet-Adaptation, sondern als Kommentar zu Shakespeares Drama verstehen – und als ‚postdramatischer Stachel‘ in eine Inszenierung von Shakespeares Hamlet montieren, wie dies Heiner Müller selbst in seiner Hamlet-Inszenierung (1990) getan hat.304 Die Integration von fremdem Textmaterial in ein bestehendes (klassisches) Drama ist eine gängige Praxis postdramatischer Regie geworden. 2008 nutzt Frank Castorf in seiner Inzenierung Kean an der Berliner Volksbühne die Hamletmaschine gleichfalls als Montagetext – in einem Drama, das Alexandre Dumas’ Vorlage mit Texten von Lothar Trolle und
303 Einen Bezug zur modernen Lyrik diskutiert Katharina Keim, Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 72–78. 304 Eine detaillierte Beschreibung der Inszenierung bietet Katharina Keim, Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 240–248.
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Heiner Müller mischt.305 Castorf inszeniert Hamletmaschine als grotesken Fremdkörper, als slapstickhaften Häuserkampf in Telefonkabinen aus Pappe. Robert Wilsons Referenzinszenierung von 1986 hingegen,306 die sich ausschließlich Heiner Müllers Stück widmet, verfährt (ähnlich wie Peymann mit Handkes Publikumsbeschimpfung) kongenial: Wilson antwortet auf die Offenheit und Rätselhaftigkeit mit den visuellen und akustischen Mitteln des Theaters. Er wählt offenbar eine der rätselhaften Metaphern („Ophelia. Ihr Herz ist eine Uhr“ [547]) als Leitidee und visualisiert diese in einer Drehbühne, auf der die Darsteller einen Bewegungsablauf immer wieder durchführen und dabei wie durch ein Uhrwerk mit der Drehbühne weiterbewegt werden: Von Station zu Station ändert sich zwar nicht die Bewegung (sie folgt dem ‚Warhol-Prinzip‘ der Serie), aber die Perspektive des Zuschauers, der die sich stetig wiederholende Choreografie so aus verschiedenen Blickwinkeln beobachten kann. Das theatrale Uhrwerk folgt – wie der Text – dem Prinzip von Wiederholung und Variation. Neben dem musterbildenden Umsturz der Textinstanzen und der Gattungsüberschreitung lässt sich mit Blick auf die weitere Entwicklung der Postdramatik eine signifikante Spannung festhalten: Sie herrscht zwischen einer Skepsis gegenüber der Allmacht des Autors einerseits und einer radikalen Subjektivierung des Dramas andererseits, wie sie etwa im dritten Abschnitt der Hamletmaschine, dem Scherzo; besonders hervortritt: Sie wirkt wie eine subjektive Traumfantasie mit Hamlet-Motiven, ein freies Assoziieren über Hamlet. Diese subjektive Perspektive korrespondiert mit anderen postdramatischen Bewusstseinsspielen, etwa mit Richard Foremans Tagebuchtheater. Sie markiert zusammen mit dem Umsturz der (Text-)Hierarchien (und als sein positives Gegenstück) diese rezeptionsästhetische Tendenz: Durch die radikal subjektive Perspektive ist man herausgefordert, sein eigenes Bild auf Hamlet sowie auf die anderen Prätexte, Urszenen und Bildangebote ins Spiel zu bringen. Erst im Zusammenspiel all dieser Perspektiven wird das enthierarchisierte (anarchische) postdramatische Stück ‚vollendet‘: Als offene Struktur ist es ein Stimulans der Phantasie im Spiel, das (durch Provokation, Sinnentzug etc.) kreative Energien freisetzen soll.
305 Castorf/Dumas/Müller/Trolle, Kean ou Désordre et Génie. Comédie en cinq actes par Alexandre Dumas et DIE HAMLETMASCHINE par Heiner Müller. Premiere: 6. November 2008. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin. 306 Zu Wilsons Inszenierung vgl. Katharina Keim, Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 172–185. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Keims Rekonstruktion. Vgl. auch Bernhard Greiner, Die Hamletmaschine.
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2.4.3 Elfriede Jelineks Burgtheater (1982): Metadramatisches Trash-Theater Elfriede Jelineks Burgtheater (1982, UA 1985)307 ist ein kalkuliertes Skandalstück: Der Titel nennt ein Symbol der österreichischen ‚Hochkultur‘ – die „Stätte der Weihe am Ring“ (142) – und stellt es in den Kontext der im Nachkriegsösterreich verdrängten nationalsozialistischen Vergangenheit: Das Stück behandelt die Verstrickung des Wiener Kulturbetriebs im Dritten Reich. Hinter seinen Protagonisten, dem Schauspielerpaar Käthe und Istvan und dessen Bruder Schorsch, lassen sich die realen Vorbilder Paula Wessely, die Grande Dame des Burgtheaters, sowie die Brüder Attila und Paul Hörbiger erkennen. Hinweise auf Filme und Inszenierungen, in denen diese drei Schauspieler mitwirkten – insbesondere auf den nationalsozialistischen Propagandafilm Heimkehr (1941) mit Wessely in der Hauptrolle –, durchziehen den Text. Auch die Familienkonstellation (Schauspielerehepaar mit drei Töchtern und Schwager) erinnert an den Wessely-Hörbiger-Clan. Die Provokation wird durch die Form des Stückes noch verschärft. Die Figuren erscheinen in grotesker Überzeichnung: In schrillen Kostümen bewegen sie sich in polternden Slapsticks, von physischen und verbalen ‚Schweinereien‘ und Gewaltausbrüchen getrieben. Sie sprechen einen kalauernden, verballhornten Kunstdialekt. Das typisch Wienerische und Österreichische wird lustvoll destruiert: Berühmte Wienerlieder werden zersungen, Wiener Berühmtheiten durch den Kakao gezogen, der nationale Mythos – etwa durch eine bissige Parodie des Lobgedichts auf Österreich aus dem dritten Akt von Franz Grillparzers „Königottokarsglückundende“ (189) – respektlos parodiert: „Vom SILBERBRAND der Donau rings umkunden!“ (158) König Ottokars Glück und Ende ist immerhin das Stück, mit dem das Burgtheater nach dem Krieg feierlich wiedereröffnet wurde – und das im Kontext einer kulturellen Rehabilitierung alles Habsburgerischen steht. Der Skandal um Burgtheater wurde schließlich vor allem dadurch provoziert, dass Jelineks Stück, das 1941 und 1945 spielt, nicht nur eine verdrängte Vergangenheit ans Licht holt, sondern – durch Anspielungen etwa auf Heimatfilme der Nachkriegszeit wie Im weißen Rößl (1960) – eine Kontinuität faschistischer Ideologie behauptet. Elfriede Jelinek selbst hat den Bezug auf reale Personen heruntergespielt: Das Stück ist an realen Personen orientiert, die in der Zeit des Faschismus berühmte Schauspieler waren (und es heute genauso wären), aber nicht die Personen als solche
307 Das Stück, 1982 in der Literaturzeitschrift manuskripte erstmals abgedruckt, wird im Folgenden mit bloßen Seitenangaben im Text zitiert nach: Elfriede Jelinek, Theaterstücke, S. 129– 199.
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sind mir wichtig gewesen, sondern das, wofür sie standen, was sie repräsentierten, wofür sie sich zum Werkzeug machten.308
Auch wenn Jelinek hier betont, dass es ihr als (marxistischer) Autorin nicht um Individuen, sondern um politisch-gesellschaftliche Strukturen gehe, wurde Burgtheater als Enthüllungsstück gelesen: Der vermeintliche Frontalangriff auf Paula Wessely begründete endgültig Jelineks Ruhm als Skandalautorin und ihren Ruf als „Nestbeschmutzerin“.309 Die Bonner Uraufführung war von einer „regelrechten Pressekampagne“ 310 begleitet. In der Forschung wurde der politische Gehalt des Skandalstücks analysiert und die Kritik an der Verdrängung des Nationalsozialismus herausgestellt; untersucht wurde vor allem die Referenz auf die Wessely-Hörbiger-Familie.311 Außerdem wurden die Traditionsbezüge auf das Wiener Volkstheater – aufgerufen schon im Untertitel Posse mit Gesang – und die markierten Verweise auf Ferdinand Raimunds Zauberspiel Der Alpenkönig und der Menschenfeind (1828) herausgearbeitet.312 Auch das zentrale Schauspieler-Motiv wurde für eine Deu-
308 Elfriede Jelinek, „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“, S. 16. 309 Vgl. die von Pia Janke unter dem Titel Die Nestbeschmutzerin. Elfriede Jelinek und Österreich gesammelten Dokumente. 310 Urte Helduser zeichnet den Skandal nach (Theaterlegenden. Paula Wessely im Werk Elfriede Jelineks. In: Elfriede Jelinek. Stücke für oder gegen das Theater?, hg. von Inge Arteel und Heidy Müller, Brüssel 2008, S. 165–174, hier S. 165). Zur „Chronologie des Skandals“ vgl. Pia Janke (Hg.), Werkverzeichnis Elfriede Jelinek, Wien 2004, S. 538 f., die neben den Presseechos auch die Leserbriefe auflistet. 311 Die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich analysieren vor allem Marlies Janz, Elfriede Jelinek, Stuttgart 1995, (Sammlung Metzler 286) S. 62–70, und Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, S. 59–135. Zur Österreich-Kritik vgl. auch Pia Janke (Hg.), Die Nestbeschmutzerin, und Beate Hochholdinger-Reiterer, „Es ist, als liefe das Bellaria-Kino Amok.“ Elfriede Jelineks Burgtheater. Posse mit Gesang. In: Maske und Kothurn 2, 2003, S. 43– 58. Zu Paula Wessely, die auch in Jelineks Erlkönigin (1999) begegnet, vgl. Urte Helduser, Theaterlegenden. Helduser relativiert den Bezug auf reale Figuren wie bereits Evelyn Annuß, die vor allem im heterogenen Zitatmaterial den konkreten Bezug verwischt bzw. ‚verschoben‘ sieht (Elfriede Jelinek, S. 68). 312 Vgl. Hubert Lengauer in einem Sammelband zum zeitgenössischen deutschen Volksstück (Das zeitgenössische deutsche Volksstück, hg. von Ursula Hassel und Herbert Herzmann, Tübingen 1992, S. 217–228). Die Bezüge auf die Tradition des Altwiener Volkstheater weist Stefan Krammer nach („Ich will ein anderes Theater“). Vgl. auch Johann Sonnleitner, „Raimund schau oba“. Zu Elfriede Jelineks Burgtheater. In: Besser schön lokal reden als schlecht hochdeutsch. Ferdinand Raimund in neuer Sicht, hg. von Hubert Christian Ehalt u. a., Wien 2006, S. 95–108. Die starke Körperlichkeit des Stückes stellt Gail Finney als Überbietung von Hanswurst-Szenen heraus (The politics of violence on the comic stage. Elfriede Jelinek’s Burgtheater. In: Thalia’s daughters, hg. von Susan L. Cocalis und Ferrel Rose, Tübingen und Basel 1996, S. 239–251). Zur Tradition des Volksstücks und des epischen Theaters vgl. auch Herbert
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tung fruchtbar gemacht:313 Weniger beachtet wurde jedoch die spezifisch performative Qualität dieses Motivs, das sich mit einer ‚Trash‘-Dramaturgie verbindet, die das Stück in eine postdramatische Traditionslinie stellt. Die unzähligen Zitate aus Filmen der NS-Zeit und Heimatfilmen der fünfziger Jahre hat erstmals Marlies Janz detailliert nachgewiesen.314 Gegen die einseitige Fokussierung auf den vordergründigen Skandal betont sie außerdem die Rolle der Sprachkritik: „Über den Skandal um Burgtheater ist eher unbemerkt geblieben, dass das Stück das Problem einer faschistischen Politisierung von Sprache aufgreift […].“ 315 Für Janz betreibt Jelinek Ideologiekritik als Sprachkritik, Burgtheater zeige die „Ideologisierung der deutschen Sprache“.316 In dieser Interpretation erhalten die „Wortentstellungen“ und „Verballhornungen“ in Jelineks Kunstsprache eine analytische Funktion: Sie enthüllen die „Nazi-Ideologie innerhalb der Sprache“.317 Die Zitatmontage, die Material unterschiedlicher Zeiten kombiniert, entlarve außerdem die Kontinuität faschistischer Sprache über das Kriegsende hinaus. Vor allem die dadaistische „Wortsymphonie“ (188) am Schluss das Stückes, in der österreichische Kultur mit Kriegsvokabular kombiniert wird („Saubertöte“, „Salzburger Trümmerl“ [189]), zeige „die grausige Wiederholung einer Sprache der Vernichtung, die sich ganz Österreich und seine Kultur anverwandeln zu können scheint.“ 318 Diese Lesart kann sich auf Selbstaussagen der Autorin stützen, welche die sprachliche Ohnmacht ihrer Figuren betonen: Für Jelinek sprechen nicht die Figuren, sondern „Es spricht aus ihnen“,319 die Sprache wird zum eigentlichen Akteur ihrer Dramen.320 Die Figuren werden zu Trägern eines ‚verräterischen‘ Herzmann, Tradition und Subversion. Das Volksstück und das epische Theater, Tübingen 1997, S. 115–119. 313 Vgl. Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek, S. 59–135, die im „Allegorische[n] Familientableau“ einen „‚theatralischen‘ Zugang zur Geschichte von 1941 bis 1945“ (S. 65) entlarvt, in dem sich auch die „‚Theatralik des Faschismus‘“ (S. 115) spiegelt. In ihrer Analyse deckt sie einen zentralen Prätext auf (bes. S. 66–68): die Autobiografie von Paul Hörbiger, Ich hab für euch gespielt (1979), an dem sich die ‚schauspielernde‘ Rekonstruktion von Geschichte paradigmatisch offenbart. 314 Marlies Janz, Elfriede Jelinek, S. 62–70. 315 Marlies Janz, Elfriede Jelinek, S. 69. 316 Marlies Janz, Elfriede Jelinek, S. 68. 317 Marlies Janz, Elfriede Jelinek, S. 70. 318 Marlies Janz, Elfriede Jelinek, S. 68. 319 Elfriede Jelinek in einem Interview mit Anke Roeder, „Ich will kein Theater – Ich will ein anderes Theater“. In: Theater heute 8, 1989, S. 30 f. (Zitiert nach: Marlies Janz, Elfriede Jelinek, S. 70). 320 Maja Sibylle Pflüger zeichnet in ihrer Studie Jelineks verfremdende Transformation des Dramas vom „Dialog zur Dialogizität“ nach, die durch die Vielstimmigkeit „vom Subjekt zum subjectum der Rede“ (Vom Dialog zur Dialogizität, S. 30) führe.
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Diskurses, der durch verdrehte Buchstaben, verzerrte Bedeutungen und intertextuelle Verweise von der Autorin intern kommentiert ist.321 Doch diese sprachkritische Lesart, die plausible Argumente entwickelt hat, bleibt zu einseitig. Sie vernachlässigt die spielerische Lust und den Humor von Jelineks Sprache. Die ästhetische Gestalt des Stückes wurde bisher nicht eingehend gewürdigt. Die Bezüge zum Altwiener Volkstheater wurden zwar detailliert nachgewiesen, ihre Funktion bleibt jedoch unterbestimmt.322 Zu bestimmen bleibt der Stellenwert dieses frühen vergleichsweise konventionellen Stücks in Jelineks postdramatischem Werk. Es lässt sich in die Reihe früher postdramatischer Musterstücke stellen, die zugleich eine Phase gesteigerter Performanz – welche in die Texte selbst eingeht – einleiten. Hier wird das Erbe des Wiener Volkstheaters wichtig, das stark an eine spezifische Aufführungspraxis gebunden ist. Dieses performative Erbe wird von Jelinek postdramatisch aktualisiert, wodurch das traditionelle Volkstheater zum Vorläufer einer populären Gegen- beziehungsweise Subkultur, als der ‚wahren‘ Avantgarde, dient. Wie schon Handke und Müller wählt Jelinek zudem die Popart als Vorbild und konfrontiert sie spielerisch provokant mit dem elitären ‚bürgerlichen‘ Stadttheater: Die grotesken Überzeichnungen und Geschmacklosigkeiten, die Burgtheater inszeniert, stehen im Zeichen des ‚Trash‘, einer Richtung, die vor allem im Film begegnet (vgl. den im Umfeld von Warhols Factory entstandenen Film Trash [1970]) und den schlechten Geschmack und billigen Effekt ästhetisch adelt. Das Wiener Volkstheater, dessen Sprachwitz, hohe Performanz (Lied- und Tanzeinlagen) und Körperlichkeit Jelinek aufgreift, wird gemeinsam mit dem Wiener Aktionismus, an den die starke physi321 Diese Kommentarstruktur analysieren Marlies Janz, nach der die „Deutung in die Sprache selbst eingelassen“ (Elfriede Jelinek, S. 70) ist, und Evelyn Annuß, deren Studie den politischen Gehalt des intertextuellen Verfahrens, des „stellvertretenden Sprechens“ beleuchtet (zu Burgtheater vgl. Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek, S. 59–135). Der sprachlichen Gewalt entspricht eine drastisch dargestellte physische Gewalt, wie Urte Helduser eingehend analysiert hat (Theaterlegenden, bes. 171 f.). 322 Stefan Krammer hat zwar genauer untersucht, wie sich Jelinek der Tradition des Wiener Volkstheaters bedient: In einer Logik der ständigen Innovation, die für ihn das postdramatische Theater Jelineks auszeichnet, rufe die Autorin jedoch das Volkstheater lediglich auf, um es zu überwinden, „um sich gleichsam davon los zu schreiben“ („Ich will ein anderes Theater“, S. 115). Die produktive Rezeption dieser österreichischen Tradition bleibt unberücksichtigt. Einzig Ute Nyssen verweist in ihrem Nachwort der ersten Sammlung von Jelineks Theatertexten knapp auf eine gegen Operettenglück, elitäre Klassikerpflege und Heurigenseligkeit gerichtete positive Traditionslinie, die von Johann Nestroy über Ödön von Horváth und Karl Kraus bis hin zu den Kabarettisten Helmut Qualtinger und Georg Kreisler reicht (Elfriede Jelinek, Theaterstücke, hg. von Ute Nyssen, Köln 1984, S. 151–162, hier S. 162). Eine genaue ästhetische Bestimmung dieser Traditionsbezüge und ihrer Funktion leistet ihr knapper Hinweis jedoch nicht.
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sche Verausgabung der Akteure in Burgtheater erinnert,323 zum Vorläufer eines postdramatischen ‚Trash‘-Theaters, dessen überdrehte Slapsticks und Zitate der Trivialkultur etwa von René Pollesch weiterentwickelt werden. Die politische ‚Sprengkraft‘ des Stückes liegt dabei weniger im Inhalt – Burgtheater ist kein vordergründiges Schlüsseldrama – als vielmehr in der Form des Stückes: In der lustvollen Überzeichnung und überdrehten Theatralität wird einer Gesellschaft von Schauspielern ein entlarvender Zerrspiegel vorgehalten.324 Hinter den Verzerrungen und kalauernden Sprachspielen steckt die Ironie einer Autorstimme, welche die sprechenden Figuren hinter deren Rücken entlarvt. Ob ihre Wut resignativ ist oder von Hoffnung auf Veränderung zeugt, muss offen bleiben.
2.4.3.1 Ein Schauspielerstück Auf den ersten Blick erscheint Burgtheater als ein konventionelles Drama: Das dialogisch gebaute Stück ist in zwei Teile gegliedert, ein Personenverzeichnis vorangestellt. Haupt- und Nebentext werden im geläufigen Druckbild unterschieden. Auch wenn bereits in diesem frühen Jelinek-Drama eine Handlung schwer zu rekonstruieren ist, wird doch eine klare Thematik durch zeitliche und räumliche Situierung und eine genau konturierte Figurenkonstellation präsentiert: Das Stück spielt in den 1940er Jahren in Wien im Kreis einer Schauspielerfamilie, bestehend aus dem Ehepaar Käthe und Istvan, dem Schwager Schorsch, ebenfalls Schauspieler, der unverheirateten Schwägerin Therese, die sich im Haushalt als Dienstbotin verdingen muss, und den drei Töchtern des Paares: Mitzi, Mausi und Putzi. Das Stück gliedert sich in zwei Teile: „Der erste Teil spielt 1941, der zweite knapp vor der Befreiung Wiens“ (130), so die einleitende Regieanweisung. Der erste Teil wird durch ein „Allegorisches Zwischenspiel“ unterbrochen, in dem der Raimund’sche Alpenkönig als Mahner eines ‚anderen‘, des „bessere[n] Teil[s] Österreichs“ (147) auftritt und von den Familienmitgliedern in einer überzeichneten Gewaltorgie ermordet wird. Im zweiten Teil tritt wieder ein Außenseiter in den Familienkreis. Diesmal ist es der Burgtheaterzwerg, der von Resi versteckt gehalten wurde
323 Auch dieser Hinweis findet sich, ebenso knapp wie derjenige auf das Volkstheater, bereits bei Ute Nyssen, Nachwort [1984/1992]. In: Elfriede Jelinek: Theaterstücke, hg. von Ute Nyssen, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 266–285, S. 274, die in diesem Zusammenhang auch einen Bezug zu Handkes Publikumsbeschimpfung herstellt. Anknüpfend an Nyssen, die ihre Intuition nicht weiter ausführt, ließe sich so eine spezifisch österreichische Tradition rekonstruieren, die vom Volkstheater über die Wiener Avantgarde und Neoavantgarde bis zum postdramatischen Theater Handkes und Jelineks reicht. 324 Vgl. Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek, S. 59–135.
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und nach seiner Entdeckung den anderen Familienmitgliedern plötzlich wie gerufen kommt. Er soll – der Wandel der Zeiten kündigt sich an – das Alibi für eine antinazistische Haltung der Schauspieler liefern, die sich als seine selbstlosen Retter ausgeben wollen. Neben den Verwicklungen um Alpenkönig und Burgtheaterzwerg gibt es keine nacherzählbare Handlung. Auch hier dominiert vielmehr eine metatheatrale Struktur, die im Nacherzählen fremder Handlungssequenzen besteht. Beständig sprechen die Protagonisten über Theaterrollen und Filmprojekte, erzählen dabei Teile von Filmhandlungen nach: I spü a junge Schauspielerin aus der Provinz. Aus Graz halt. In mein Pensionat hab i heimlich die Aufnahmspriefung für die Schauspielakademie bestanden. Mitm Gretchen natierlich. […] (133) Aber erscht wann i mein Beethoven-Füm „Der Grantscherm von Heiligenstadt“ abgedreht hobe, Schorschi, gell. Da derfts donn die Pemperetschn von der gutmietigen Vermieterin spieln, die was das Genie trotzdem sekkieren tut. (136)
Über weite Strecken besteht das Stück zudem aus einer Aneinanderreihung slapstickhafter Kurzszenen, in der sich verbale und physische Geschmacklosigkeiten überbieten: Die Protagonisten rennen, kreischen und tanzen, stoßen, kneifen und bespringen sich, schmeißen mit Essen und singen Lieder dazu. In der künstlich übersteigerten und überdrehten Performanz des Stückes schlägt Jelinek eine verlogene Gesellschaft von Schauspielern mit ihren eigenen Waffen: Die teuflische Lust am Anschluss – „so glocht hamma nimma seit dem Anschluß“; „So gschrian homma nimma seit dem Heldenplotz“ (147) – wird entlarvt: Voll Begeisterung und Übereifer spielen die Schauspieler mit. Auch in den Regieanweisungen wird die (selbstbezügliche) Theatralität der Darbietung und die damit erzeugte Verwischung von Spiel und Wirklichkeit fortgesetzt. Sie hinterfragen die Glaubwürdigkeit der Figuren mit Posen: „Großer Burgtheaterauftritt“ (176), „wie im Film (150), „wie ein Doktor Mabuse in einem Hollywoodfilm“ (167), „Lauscht pantomimisch“ (161), „à la Leni Riefenstahl“ (153). Auch Käthes Selbstmordversuche am Ende des ersten und am Ende des zweiten Teils, durch welche sie sich offenbar wirkungsvoll zur Märtyrerin stilisieren möchte, werden als Schein entlarvt: „Das meiste ist nur Theater“ (172). Die dauernde Selbstbespiegelung des Theatralen hat auch eine inhaltliche Dimension. Die zentrale Schauspieler-Thematik lässt sich mit Evelyn Annuß allegorisch lesen.325 Jelinek hat neben der direkten Referenz auf (reale, sogar identifizierbare) Schauspieler auch die Verstellungskunst allgemein im Visier,
325 Vgl. Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek, S. 59–135.
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hier im Besonderen die Verstellungskunst der Bürger im Nationalsozialismus sowie in der Beurteilung und Aufarbeitung der eigenen Verstrickung. Der Reiz des Schauspielerstückes und seiner Figurenzeichnung liegt darin, dass man nie weiß, ob sie gerade ‚sie selbst‘ sind oder eine Rolle spielen. Oft sprechen sie emphatisch im „Burgtheaterton“ (156 f. u. ö.). Leitmotivisch ist das (Rollen-)Spiel: „Spielen, spielen ist ja mein Leben“ (132), die Vermischung von Leben und Spiel: Käthe elegisch: … Rollen … Rollen … stets muß ich aus Aigenem gestalten! Menschen formen! […] Nie ist die Mimin sie selbst.“ (141)
Eine Aussage wie diese pointiert auch die Verharmlosung: Wenn alles nur ein großes Spiel ist, so kann man Schuld und Verantwortung getrost weit von sich weisen. In einer tragisch-ironischen Volte lässt Jelinek Schuld ebenfalls nur als Rolle vorkommen, wenn Käthe Grillparzers Medea spielt: „Die gspui ii! In der Josefstodt! I gspui jene tragische Schuld, der eigenen Art untreu geworden zu sain!“ (144) Entlarvt wird auch die Selbstlüge der sogenannten Kulturkollaborateure, die sich ihre Rolle während des Dritten Reichs nachträglich als Verdienst auslegten. Stellungnahmen wie die folgende, aus einem Artikel der konservativen Furche von 1946 entnommen, belegen diese Haltung: Nicht wenige führende Männer des Geistes und der Kunst haben durch ihr Ausharren in der Heimat unersetzliche Kulturwerte vor Unkultur und Verrohung bewahrt, indem sie irgendwie mit den widerlich-trostlosen Zeitumständen in Klugheit oder List fertig zu werden suchten.326
Die vulgären Entgleisungen der vermeintlich ehrwürdigen Burgtheaterschauspieler, die Jelineks Stück vorführt, strafen solche Geschichtsklitterungen Lüge. Die listige Verstellungskunst dient nicht dem Schutz der Kultur, sondern der Anpassung an das jeweilige Gebot der Stunde. Das Verhalten des Wendehalses Schorsch, der sich nachträglich als Widerständler ausgeben will, wird mit dem Hinweis auf sein Talent als Schauspieler kommentiert: „Der Schorschi hot si’s eh gricht […] Dos ist der einmolige Instinkt von oinem oinmaligen Schauspüla.“ (164) Zuvor hatte er opportunistisch noch die Anpassung an die neuen politischen Verhältnisse – als veränderte Rollen-Aufgaben scheinbar aufs Berufliche beschränkt, aber genauso doppeldeutig – verkündet: „[M]ir missen unsane Rollen jetzn, vastehst, itzo a weng … ändern. Anpassn den veränderten Zeitläuften. Dem Verlangen vom Hoamatl“ (132). 326 Zitiert nach: Johann Sonnleitner, „Raimund schau oba“, S. 105.
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Ähnlich verräterisch wie ihre Schauspielerei ist auch die Sprache der Figuren. Der typisch dialektale Hang zum Verkleinern und Verniedlichen – in Diminutiva „Hoamatl“, „Liadl“, „Madl“, „Landl“, „Filmerl“ (151), „Schutzgeisterl“ (173), „Zwergerl“ (177) – wird zur Verharmlosung: das „Hakenkreuzerl“ beziehungsweise „Kraizerl“ (181). Außerdem offenbart sich im Sprechen der Figuren der sprachliche ‚Anschluss‘ Österreichs – die nationalsozialistische Propaganda wird angeeignet, austrifiziert in Wörtern wie „Fiehrer“ (155), „Daitschlond“ (135), „Stodt der Ernaierung“ (135) – auch hier wirken Kunstdialekt und verfremdete Schreibweise als Mittel, die den ‚Wahnsinn‘ der Floskeln wie des Anschlusses umso deutlicher hervortreten lassen und die fatale Selbstlüge der nationalen Identität entlarven. Die ganze Widersprüchlichkeit offenbart sich in der Hochdeutsch und Dialekt auf paradoxe Weise verbindenden Forderung: „Der Ernst der Stunde verlangt gebieterisch noch einem in Großdaitschlond ollgemein verständlichen Schriftdaitsch. Alpen- und Donaugaue fiegen sich“ (134). Die Ironie dieses Verfahrens ist nicht den Figuren, sondern einer entlarvenden Autorinstanz zuzuschreiben; mit Marlies Janz lässt sich diese Kommentarstruktur folgendermaßen charakterisieren: „[D]ie Deutung [ist] in die Sprache eingelassen.“ 327 Die Anpassung an das Regime führt zu einer sprachlichen Deformation: Denn das scheinbar harmlose Österreichisch ist verzerrt. Unter dem charmanten Wienerisch tut sich ein verräterischer Abgrund auf. Typisch österreichische Begriffe werden verfremdet: „Schachertuatn mit Schlog“ (188). Die Gewalt wird in der Sprache ablesbar („Salzkammerblut“, „Schlagoberbolzen“ [189]). Dass diese Sprache das Verdrängte – unfreiwillig und der Kontrolle der sprechenden Figuren entzogen – an die Oberfläche befördern soll, zeigt die kontrastive Selbstcharakterisierung: „Davon wissen mir nix. Des sengan mir gor net. Was mir net sengan, des gibt’s net!“ (188) In der Aussage steckt dramatische Ironie: Die Figuren wollen die Wahrheit, die Katastrophe zwar nicht sehen, sie sprechen aber (unfreiwillig) unablässig von ihr!
2.4.3.2 Trash-Elemente Die Lust am schlechten Geschmack, an der grotesken Überzeichnung und am Tabubruch, die Jelineks Stück offenbart, lässt sich als Trash-Ästhetik kennzeichnen. Die populäre Trashkultur ist mit ihrem „Hang zum Billigen, Schrillen [und] Geschmacklosen“ (Duden) vor allem im Genre des Films zu finden.328 327 Marlies Janz, Elfriede Jelinek, S. 70. 328 Es gibt bisher keine einheitliche, allgemein gültige Definition von ‚Trash‘. Der Begriff wird auf verschiedene Weise gebraucht. Als ‚Trash culture‘ wurde beispielsweise auch die Trivialisierung bzw. Popularisierung von Werken der Hochkultur bezeichnet – etwa die Wiederkehr
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Nach einer Definition beginnt „Trash [dort], wo mit schlechtem Geschmack kokettiert wird“.329 Die programmatische „Antikunst“ inszeniert ein „Fest der Geschmacklosigkeit, eine ekstatische Absage an die bildungsbürgerlichen Werte.“ 330 Man denkt an billig produzierte Horrorstreifen und Spaghettiwestern, aber auch an Kunst- und Undergroundfilme, wie sie im Umkreis von Andy Warhols Factory entstanden sind (Trash 1970) und die mit Elementen des Schundund Kitschfilmes spielen. In diese Kategorie einer (selbst)ironischen Lust am schlechten Geschmack ist Jelineks Ästhetik in Burgtheater einzuordnen: Die physische Überdrehtheit, Hysterie und unkontrollierte Gewalt von Jelineks Figuren ist trashiger Slapstick, etwa die unappetitliche „riesige Patzerei“, wenn die drei Töchter in der Eingangsszene „mit dem Kopf auf der Tischplatte [essen], wie die Schweine“ (131), das ständige Hetzen und Rennen (vgl. etwa 163), Singen und wilde Tanzen (vgl. etwa 139), Johlen und ein Sprechen, das „schrill“ (135), „gellend“ (162, 165, 171), „kreischend“ (174) ist, unterbrochen von einem hysterischen „Lachkrampf“ (148). Optisch begleitet wird der ‚Trash‘-Effekt etwa durch kitschige Trachten-Kostüme mit „riesigen Eichenblättern“ und „riesige[n] Haarschleifen“ (131). Theatralisch rennt Käthe „plötzlich mit aller Kraft dröhnend gegen die Wand“ oder übergießt ihre Tochter mit Benzin: „Im letzten Moment kann sich Mitzi noch zur Seite werfen und entkommt knapp dem Flammentod“ (175). Übertrieben quittiert sie Resis Verschütten von etwas Soße auf dem Tischtuch: „Wie eine Furie fährt Käthe herum und schmiert ihr eine.“ (133) Die inszenierten Gewaltausbrüche erinnern an schlechte Horrorfilme: „Sie ergreift einen Schürhaken, schlägt auf den König ein, der fährt sich mit dem Arm über die Gesichtsbandagen und verschmiert das Blut im Gesicht“, dann „beschmiert sich auch Istvan mit Blut“ (148). Die Demontage des Alpenkönigs endet in einem kannibalischen Akt: „Er reißt Stücke aus dem Alpenkönig heraus und wirft sie wie abgenagte Knochen hinter sich“ (149); nach vollbrachter Tat „rappelt sich [Schorsch] blutbespritzt hoch“ (149). Das Filmische wird in Regieanweisungen – „wie im Film“ (150); „wie ein Doktor Mabuse in einem Hollywoodfilm“ (167) betont. Die groteske Geschmacklosigkeit ergreift auch die Sprache, etwa in Schöpfungen wie dem „Edelschweiß“ (188), dem makabren paronomastischen „Habswürg“ (189) und den degoutanten „Schaukillerinnen“ (156) und „Ssauschlitzerinnen“ (157), zu denen die Schauspielerinnen mutieren.
von Shakespeare-Plots in Vorabendserien oder die Beziehung zwischen Star Trek und Gullivers Reisen. Zum Begriff der ‚Trash-Culture‘ und seinem Gebrauch vgl. Richard Keller Simon, Trash Culture. Popular Culture and the Great Tradition, Berkeley und Los Angeles 1999. 329 Der Definitionsversuch von ‚Trash‘-Filmen, an dem ich meine Verwendung des Begriffs orientiere, stammt aus einem österreichischen Online-Filmlexikon: www.film.at./trash_im_ film/detail.html?cc_detailpage=full (letzter Aufruf: 2. April 2014). 330 www.film.at./trash_im_film/detail.html?cc_detailpage=full.
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Die Kombination von Trivial- und Hochkultur, die schon in Handkes Publikumsbeschimpfung im Sinne einer ‚Camp‘-Ästhetik zelebriert wurde, steigert sich hier im Zeichen des ‚Trash‘. Das bürgerliche Theater wird nicht nur mit Mitteln der Avantgarde- und Pop-Kunst herausgefordert, es wird durch grelle Tabubrüche regelrecht ‚überrannt‘. Schärfe und Tempo der Provokation haben sich gesteigert. Dies zeigt sich vor allem im gehetzten Finale: „Steigern! Rascher!“ (188) Hinter der effektvollen Inszenierung steht kein feinsinniger und elitärer Pop-Dandy; die nicht minder lustvoll und spielerisch inszenierte Konfrontation hält sich nicht an Regeln des Geschmacks; sie dient hier der zynischen Kritik. Die hohe Performanz und Körperlichkeit stellt das Stück in eine eigene Traditionslinie. Die Bezüge zum Wiener Volkstheater werden bereits im Untertitel „Posse mit Gesang“ hergestellt. Kenntlich wird jedoch die Adaptationsform der Überzeichnung, Deformation, Verzerrung, Fragmentierung bis hin zur Destruktion der aufgerufenen Traditionen. Symptomatisch ist die Behandlung des auftretenden Alpenkönigs, der buchstäblich „demontiert“ (149) wird. Dennoch lässt sich der Bezug meines Erachtens als versteckte Hommage lesen. Er etabliert eine Gegentradition, die populäre Subkultur eines anderen Theaters, das in Kontrast zur korrumpierten Hochkultur – symbolisiert im Burgtheater und seiner erstarrten Klassikerpflege („Königottokarsglückundende“ [189]) – gesetzt wird. Das „Allegorische[ ] Zwischenspiel“ (143–159) nach dem ersten Teil markiert ein ausgedehntes Formzitat, das bis in die Bühneneffekte hinein die Aufführungspraxis des Volkstheaters evoziert: In der Art eines Altwiener Zauberspiels (Raimund, schau oba) erscheint eine Art Märchenkahn, Gondel o. ä. paradiesisches Gefährt, hübsch bemalt und so. Das Gefährt wird an Schnüren langsam von der Decke herabgelassen, während die Harfen schön spielen. (143)
Der auftretende Alpenkönig aus Raimunds Stück wird – schon durch seinen anachronistischen Auftritt – deutlich als Fremdkörper gezeigt, etwa auch durch Anspielungen auf die böhmische Herkunft seines Autors („Daitsche Gerodlinigkeit gegen tschechische Vermessenheit, die im letzten seelisch nicht stondhält“ [144]). Im ‚gleichgeschalteten‘ Kulturbetrieb wird der Alpenkönig plötzlich zum Mahner eines „besseren Teil[s] Österreichs“ (147)331 und – gegen seine Vereinnahmung im Dritten Reich – zum Ahnherren einer Gegenkultur.332 331 Für Johann Sonnleitner sind Alpenkönig und Burgtheaterzwerg Repräsentanten des österreichischen Widerstands („Raimund schau oba“, bes. S. 104). Die lädierte Gestalt des Alpenkönigs erklärt er mit der deformierenden Rezeption während des Dritten Reiches, wo Raimund am Burgtheater häufig gespielt wurde (vgl. S. 97). 332 Diese ‚doppelte‘ Vereinnahmung zeigt Sonnleitner detailliert auf („Raimund schau oba“, S. 97).
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Deutlich an der Volkstheatertradition orientiert sind der abgründige Sprachwitz des Stückes, zahlreiche Lied- und Tanzeinlagen („singt à la Raimund“ [144]) sowie epische Brüche wie das a-parte-Sprechen (vgl. 167).333 Die Lieder stammen teilweise aus Volkstheaterstücken wie das Hobellied aus Ferdinand Raimunds Der Verschwender, das der Alpenkönig verfremdet „vom Band“ singt: „Zeigt sich der Tod einst mit Verlaub und zupft mi: Briaderl kumm! Da stell ich mich am Anfang taub und schau mich gar nicht um.“ (149)334 Doch die Lieder, die bei Raimund das Geschehen kommentierend begleiten, werden hier geradezu zynisch aus dem Zusammenhang gerissen und regelrecht zersungen, etwa, wenn Istvan und Schorsch die Hinrichtung des Alpenkönigs mit dem Wienerlied „Marianndl anndl anndl … aus dem Wachauerlandl andl! … ein nettes Wort von dir ist wie ein Kuß von dir“ (147) begleiten und der Alpenkönig „undeutlich, torkelnd sich auflösend“ mit Raimunds melancholischem „Scheint die Sonne noch so schön … einmal muß sie untergehn!“ (147) antwortet.335 Diese kruden Mischungen, in denen berühmte Wienerlieder – etwa „Wien, Wien nur du allein“ (138); „Wien und der Wein“ (139); „Erst wanns aus wird sein mit ana Musi und an Wein“ (183) – ebenso wie eine Mahlersymphonie, ein Ländler (158) und der Wiener Walzer (vgl. 139) kombiniert und mit parodierten Klassikerzitaten versehen werden, wirken wie ein fernes Echo auf das Quodlibet des Volkstheaters – und wie dessen anarchistische Übersteigerung im Zeichen des Trash. Dass die Impulse aus dem Volkstheater fragmentiert, überzeichnet und überreizt werden, destruiert daher nicht den Traditionsbezug, sondern zeigt vielmehr eine versteckte Hommage: Das performative, sprachspielerische und körperliche Wiener Volkstheater wird zum Vorläufer einer postdramatischen Trash-Ästhetik. Der Logik der Übersteigerung und Übertreibung folgt auch der Sprachwitz des Stückes.
2.4.3.3 Diskurstheater – Keimzelle von Jelineks Sprachflächen Die Scharnierstelle, an der die ‚trashig‘ übersteigerten Impulse aus dem Volkstheater sich direkt mit der Postdramatik treffen, ist das Ende des ersten Teils
333 Zum Volkstheater Raimunds und Nestroys und seiner Vorläufer vgl. den ausführlich kommentierten Forschungsbericht von Jürgen Hein, der auch die Aufführungspraxis erhellt (Das Wiener Volkstheater, 3., neubearb. Aufl., Darmstadt 1997). Zur Rolle der Musik in Raimunds Theaterstücken vgl. Dagmar Zumbusch-Beisteiner, Die Musik in den Theaterstücken Ferdinand Raimunds. In: Besser schön lokal reden als schlecht hochdeutsch. Ferdinand Raimund in neuer Sicht, hg. von Hubert Christian Ehalt u. a., Wien 2006, S. 85–94. 334 Diesen Nachweis erbringt Stefan Krammer, „Ich will ein anderes Theater“, S. 117. 335 Zu diesem Raimund-Bezug vgl. Stefan Krammer, „Ich will ein anderes Theater“, S. 117.
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(157 ff.): Auf Schorschs Nonsensmonolog im „Burgtheaterton“ (157) folgt die im Duett vorgetragene Parodie auf Grillparzers Österreich-Lobgesang aus König Ottokars Glück und Ende (3. Aufzug, V. 1671–1703). Der Nonsensmonolog reiht, beginnend mit dem emphatischen Ausruf „Heimat!“ (157), Heimatklischees willkürlich aneinander. Die zusammenhanglosen Satzfragmente und kurzen Wortfolgen erscheinen wie Splitter aus Heimatfilmen: „Der Steinbock. Der Adler auf der Klippe Horst“ (157), die sogleich über klangliche Verdrehungen und sinnentstellende Montagen in dadaistischen Nonsens zerredet werden: Das Dreckerl Erde. Meister Rotrock, der schlaue Fuchs. […] Eichelhäher du, mein alter Freund! Lerche hoch im Katheder schwebst. Satte Wiesen, Pinzgau! Vergessene Wildplätschen in den Schwuchten Pirols. (158)
Auf einen dramatischen Höhepunkt à la Heimatfilm: „Wilderer! Gipfel!“ (158) mischen sich plötzlich geschichtlich konnotierte Begriffe unter die Rede. Einzelne Wörter werden in Majuskeln zusätzlich hervorgehoben: „Fleißige Menschen. Fabriken. Büros. DIE FRONT […] Das Volkslied. Die Großmutter am GASUNGSOFEN.“ (158) Das Verfahren könnte ein verfremdendes Erkennungszeichen Heiner Müllers zitieren, der immer wieder, etwa auch in der Hamletmaschine, einzelne Partien in Majuskeln setzt. Dieser mögliche Bezug auf Müller ließe sich hier als versteckte Hommage an einen weiteren Brecht-Erben lesen, mit dem Jelinek das Interesse an gesellschaftlichen Strukturen und Typen (statt an isolierten Individuen) teilt. Schorschs eineinhalbseitiger Monolog, bei dem der Klang die Referenz überlagert, knüpft bereits an das postdramatische Diskurstheater an, wie es durch Handke und Müller vorgebildet ist. Hier sind Jelineks Sprachflächen vorbereitet, die sie in späteren Stücken, etwa im chorisch-monologischen Wolken.Heim (1988) weiterentwickeln wird. Bereits in Burgtheater wird dieser Ansatz zum Diskurstheater noch gesteigert: Das Stück mündet im zweiten Teil in eine „Wortsymphonie“ (188 f.), in eine klanglich und rhythmisch exakt durchkomponierte Schimpfkanonade, die an das Finale von Handkes Publikumsbeschimpfung erinnert. Doch auch am Ende des ersten Teils wird die Schraube postdramatischer Verfremdung noch weiter gedreht und mit dem performativen Erbe des Volkstheaters verbunden: Zu klassischer Musik, „etwa 3. Satz aus Mahlers Erster“ (158) tanzen die beiden männlichen Protagonisten Istvan und Schorsch „eine Art Ländler, […] wechseln auch jeweils die Arme, in die sie sich einhaken.“ (158) Diese Tanzeinlage untermalt die bissige und verzerrende Parodie von Grillparzers Lobgesang,336 beginnend mit dem wörtlich zitierten „Wo habt ihr dessent336 In der Forschung ist die Grillparzer-Parodie bisher nicht analysiert worden, obwohl nahezu der gesamte Lobgesang transformiert wird. Lediglich Sigrid Löffler vermerkte die Anspie-
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gleichen schon gesehn?“ (V. 1673) bis hin zu dem von Grillparzers Hornek formulierten Wunsch: „Erhalte Gott dir deinen Jugendsinn / Und mache gut, was andere verdarben!“ (V. 1702 f.), aus dem bei Istvan ein „Erhalte Gott dir deinen LUDERSINN“ wird, worauf Schorsch ergänzt: „Und eingriffe gut, was andere versargen!“ (159) Dazwischen werden sämtliche Verse des ‚Lobgesangs‘ zitiert und verballhornt: Aus „Von Lein und Safran gelb und blau gestickt“ (V. 1677) wird ein trashig geschmackloses „von Lein und Wammern gelb und blau gefickt“, das „Silberband“ (V. 1681) wird zum „SILBERBRAND“, ein „lauer Hauch“ (V. 1686) zum „KAUERSCHLAUCH“. Die sprachlichen Verzerrungen und Entstellungen könnten die entstellende Klassiker-Rezeption im Dritten Reich ebenso entlarven wollen wie die gleichfalls eindimensional verfälschende Grillparzer-Rezeption nach dem Krieg, als man sich auf das Habsburgische zurückbesann.337 Zugleich könnten sie das Unverständnis und Gleichgültigkeit der Schauspieler gegenüber ihren Rollen ausdrücken – egal, was gesagt wird, Hauptsache das Spiel geht weiter. Der performative Akzent, der in Sprechgesang, Tanz und Musik gesetzt wird, erfolgt als bissig-ironische Hommage an die Aufführungspraxis des Volkstheaters: Ein bekannter Gassenhauer, zu dem Grillparzers Loblied verkommen ist, wird mit einer bekannten Melodie kombiniert, inhaltlich aktualisiert (als Verballhornung eines latenten Faschismus) und mit einer flotten Tanzeinlage vorgeführt. Performative Dynamik und sprachliche Verfremdung steigern sich im Finale von Burgtheater zur postdramatischen „Wortsymphonie“ (188 f.). Auf knapp anderthalb Druckseiten werden, wie schon in Schorschs Monolog am Ende des ersten Teils, verblose Kurzsätze gereiht, meist bestehend aus Artikel und Substantiv. Es entsteht ein stakkatohafter Sprechgesang, den nun alle Figuren „abwechselnd“ (188) sprechen: […] Die Ringstrossa. Zwoa Brettl a gführiger Fleh. Juchheh! Der Brodler. Das Hack. Die Tiefflennt. Der Herr Leutnant. Der Steifl. Das Kaffeehaus. Der Kraß. Die Hutteln. Das Köpfeln. Die Tramwarn. Der Glanz von tausend Brustern. Die Muttergottes. Der Kaiserschmierer. Die Hofwürg. Der Schnalzer. Salzburg! […] (189)
Mit diesem monologischen Lautgedicht wird das dialogische Stück endgültig von einem postdramatischen Diskurs von der Rampe ins Publikum abgelöst.
lung („Erhalte Gott dir deinen Ludersinn.“ In: Dossier 2: Elfriede Jelinek, hg. von Kurt Bartsch und Günther A. Höfler, Graz 1991, S. 218–222). Der Lobgesang aus Grillparzers König Ottokars Glück und Ende wird im Folgenden mit Versangaben zitiert nach: Franz Grillparzer, Werke, Bd. 2: Dramen 1817–1828, Frankfurt a. M. 1986. 337 Eine solche Lesart schlägt Johann Sonnleitner in Bezug auf Raimund vor, allerdings ohne die Grillparzer-Zitate eingehender zu untersuchen („Raimund schau oba“).
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Die Performativität der Sprache wird gestützt durch die Regieanweisung, nach welcher der Sprechgesang bis zur Atemlosigkeit gesteigert werden soll: „Steigern! Rascher!“ (188) Die Wortsymphonie erinnert nicht nur in dieser Kommunikationssituation an das Finale von Handkes Publikumsbeschimpfung. Hier wie dort sind die Reihenfolge des abwechselnden Sprechens und die Länge der einzelnen Redeparts nicht festgelegt. Auch bei Jelinek überlagern Klang und Rhythmus des durch zahlreiche Wiederholungsfiguren (Alliterationen, Assonanzen und Reime) strukturierten Textes die sprachliche Referenz. Wie bei Handkes Beschimpfung tauchen zwischen der quasi referenzlosen Sprachmusik plötzlich geschichtliche Bezüge auf, welche die Unschuld des Spiels unterlaufen und beim Hörer ein plötzliches Unbehagen hervorrufen: Das Salzkammergut wird ersetzt durch ein Reimwort, das grausige Assoziationen weckt: „Salzkammerblut“ (189); durch Phonemvertauschung wird „Versagerin“ zur „Vergaserin“ (189), so als käme das Verdrängte – wie in einem freudschen Versprecher – unfreiwillig an die sprachliche Oberfläche zurück. Angesichts dieses Verfahrens erscheint die Interpretation einer sprachanalytischen und sprachkritischen Funktion der Sprachspiele plausibel.338 Dennoch liegt in der Sprachmusik und in den Wortverdrehungen eine anarchistische Lust an Geschmacklosigkeit und Tabubruch – inspiriert vom Sprachwitz des Volkstheaters und seiner modernen Nachfahren. Die Musikalität ‚überspielt‘ häufig eine direkte Referenz, indirekt, in der übersteigerten Provokation – im verbalen und physischen Vorführen eines grotesk verzerrten Schauspielens – kann diese Sprache aber wieder politisch wirken. Die sprachkritische Lesart lässt sich hinsichtlich ihrer Traditionsbezüge präzisieren: Jelineks Figuren sollen, wie es der vorangestellte Autortext fordert, ausdrücklich eine „Kunstsprache“ (130) sprechen. Das verfremdete Wienerisch – „Nur Anklänge an den echten Wiener Dialekt!“ (130) – erinnert nicht nur an Dialektstücke der Volkstheatertradition, sondern auch an die neoavantgardistische Dialektdichtung der Wiener Gruppe. Es scheint aber auch orientiert an Brechts Verfremdungstechniken. Schon durch die Schreibweise – „Teatta“ (145 u. ö.), „Brofessa“ (139) – werden die Wörter auffallend. Auch die Aussprache des Kunstdialekts ist verfremdet, denn nach Jelineks Vorstellung sollte möglichst ein „deutscher Schauspieler den Text wie einen fremdsprachigen Text lern[en] und sprech[en]“ (130). Brechts Trennung von Schauspieler und Rolle, die auch Handkes Sprecher als „Sprachrohr des Autors“ 339 und Müllers „Hamletdarsteller“ 340 prägt, scheint auch bei Jelinek –
338 Zu dieser Lesart vgl. v. a. Marlies Janz, Elfriede Jelinek, S. 62–70. 339 Peter Handke, Theaterstücke, S. 18. 340 Heiner Müller, Werke 4, 549–553 (Hamletmaschine)
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durch die Markierung sprachlicher Fremdheit – intendiert. Brechts Konzept wird hier durch ein gewandeltes Schauspielerbild transformiert: In einem späteren Programmtext ihrer postdramatischen Theaterästhetik Sinn egal. Körper zwecklos (1997) hat Jelinek den Schauspieler als bloßen Träger des Diskurses definiert: „Die Schauspieler SIND das Sprechen, sie sprechen nicht.“ 341 Brechts Differenzierung zwischen Schauspieler und Figur wird zur radikalen Trennung von Körpern und „fremde[m] Sagen“ 342 gesteigert. Die Schauspielerfiguren in Jelineks Burgtheater sind letztlich nichts weiter als leere Hüllen, die mit einer fremden Sprache und fremden Rollen gefüllt werden. Die ständige Betonung des Rollenspielens steht in einer Spannung zur behaupteten ‚unumstößlichen‘ Identität, leitmotivisch im „Mir san mir! Und wia ma sa so samma!“ (165) Mit dem Schauspieler als Verstellungs- und Verwandlungskünstler zielt Jelinek auf Mechanismen der Anpassung, des Rollenspiels, der gekonnten Maskierung, des Verwischens zwischen Schein und Sein, Lüge und Aufrichtigkeit – die bis zum Identitätsverlust reichen. Vor diesem Hintergrund eröffnet sich abschließend eine ironische Lesart des intertextuellen Bezugs auf Ferdinand Raimunds Der Alpenkönig und der Menschenfeind:343 Raimunds Zauberspiel ist ein Drama der Verwandlung; der Menschenfeind Rappelkopf, der seine Familie tyrannisiert, wird schließlich zum Menschenfreund. Die fantastische Figur des Alpenkönigs bekehrt Rappelkopf, indem er dessen Rolle annimmt. Er gibt dem Haustyrannen damit die Möglichkeit, sich selbst (gleichfalls in einer anderen Rolle, denn Rappelkopf hat vorübergehend die Gestalt seines Schwagers angenommen) von außen zu betrachten: Die metadramatische Konstellation des zweifachen Rollenspiels gibt selbstverständlich Gelegenheit zu komischen Verwicklungen. Das Stück hat jedoch eine moralische Pointe: Sie liegt in einer Selbsterkenntnis aus der Distanz, die dem Protagonisten ermöglicht wird. Entsetzt über sich selbst, kann Rappelkopf sein untragbares Verhalten kritisch hinterfragen und als „pensionierter Menschenfeind“ seine Tage fortan „ruhig im Tempel der Erkenntnis verleben.“ 344 Das äußere Rollenspiel stößt hier eine innere Wandlung an. Diese ist den Schauspielerfiguren in Jelineks Burgtheater verwehrt: Trotz ständiger Rollenwechsel bleiben sie stets dieselben, denn als substanzlose Wesen bestehen sie aus nichts anderem als aus diesen Rollen. Die dramatische Ironie des
341 Elfriede Jelinek, Sinn egal. Körper zwecklos, S. 9. 342 Elfriede Jelinek, Sinn egal. Körper zwecklos, S. 9. 343 Das Stück wird im Folgenden zitiert nach: Ferdinand Raimund, Der Alpenkönig und der Menschenfeind. Romantisch-komisches Original-Zauberspiel in zwei Aufzügen, Stuttgart 1952 (RUB 180). 344 Ferdinand Raimund, Der Alpenkönig und der Menschenfeind, S. 92.
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intertextuellen Verweises wirkt resignativ. Die Figur des Alpenkönigs, der bereits in einer lädierten Version als „merkwürdige[ ] Mischung aus Alpenkönig, Menschenfeind und Invalide“ (143) auftritt, scheint rührend überholt. Wirkungslos verhallen seine klassisch-humanistischen Mahnungen und Zitate: „Geben Sie Gedankenfreiheit“ (148); „Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein“ (148) und wirken im Kontext der verbalen und physischen ‚Übertretungen‘ des Stückes unfreiwillig komisch. Jelineks Figuren werden am Ende nicht geläutert, sondern – hinter ihrem Rücken – als Unverbesserliche entlarvt. In seiner ästhetischen Gestalt erscheint Jelineks Burgtheater als Schwellenstück am Ende der postdramatischen Gründungsphase: Die provokante Konfrontation von ‚Trash‘-Ästhetik und „Burgtheaterton“ steigert den Impuls, der von Handkes Herausforderung des Stadttheaters durch Avantgarde und PopKultur ausging. Deutlich bezieht sich das Stück auf eine Ahnenreihe des Postdramas, die als Gegenkultur etabliert wird: Sie reicht vom Wiener Volkstheater über das epische Theater Brechts, die Theaterexperimente der Neo-Avantgarden (Wiener Gruppe, Wiener Aktionismus) bis zur amerikanischen Popkultur und Theateravantgarde. Auch innerhalb von Jelineks Werk ist Burgtheater ein Scharniertext, an dem ihre späteren Sprachflächen bereits greifbar werden und zugleich ihre Inspirationsquellen deutlich markieren. Zum Erbe des Volkstheaters bekennt sich Jelinek auch in ihrer Nestroy-Hommage Präsident Abendwind. Ein Dramolett, sehr frei nach J. Nestroy (1988)345 und einem Programmheftbeitrag für eine Nestroy-Inszenierung des Burgtheaters aus dem Jahr 2001.346 Hier wird das sprachspielerische Vorbild Nestroys deutlich: Und diese Sprache denkt ja gleichzeitig ihre Voraussetzungen mit, sie schreibt sie mit, aber sie problematisiert sie nicht, sie sagt sie. Sie entwickelt sich aus sich selbst, in einer eigenen Art Logik, die in keiner Metaphysik, Religion, nicht einmal in einem Materialismus gründet, sondern eben: ist was sie ist und immer weiter, spielerisch, entwickelt, was die ganze Zeit schon da ist und gar nicht entwickelt zu werden braucht.347
Durch die Tradition des Wiener Volkstheaters, die vor allem eine Spielpraxis inspiriert, wird das Erbe des epischen Theaters historisch vertieft. Auch Brechts Dramaturgie ist vom Volkstheater inspiriert; das sprachkritische Theater von Karl Kraus, an dem sich Jelinek vor allem in der Folge immer stärker orientieren wird, ist gleichfalls vom Sprachwitz dieser Tradition geprägt.
345 Abgedruckt in: Text und Kritik 117: Elfriede Jelinek, 1993, S. 3–20. 346 Elfriede Jelinek, sich mit der Sprache spielen. Johann Nestroy. Beitrag für das Programmheft einer Nestroy-Aufführung im Wiener Burgtheater, Anfang 2001: www.elfriedejelinek.com. Rubrik: Zum Theater (letzter Zugriff: 25. März 2014). 347 Elfriede Jelinek, sich mit der Sprache spielen.
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Dieser performative Impuls, der sich in der anarchistischen Spielfreude von Jelineks Burgtheater widerspiegelt, wird die weitere Entwicklung postdramatischer Texte bestimmen. Die postdramatische Aufführung erobert die Texturen. Jelineks Theater der Sprachflächen hat in der „Wortsymphonie“ (188) von Burgtheater seine Keimzelle. Die spezifische offene Struktur, die durch starke Intertextualität, das Changieren zwischen Referenz und Selbstbezüglichkeit, kalauernden Sprachwitz und die Trennung von Sprecher und Sprache entsteht, ist hier angelegt.
3 Der Kopf als Bühne. Subjektives Erzähltheater (1985–1994) 3.1 Beschreiben: Heiner Müllers Bildbeschreibung (1985) im Vergleich mit Peter Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992)1 Mit Heiner Müllers Bildbeschreibung (1985) beginnt eine zweite Phase des Postdramas, die sich als zunehmende Subjektivierung des epischen Musters beschreiben lässt. Der dramatische Konflikt wird in dieser ‚erzählten Aufführung‘ in ein fiktionales äußeres Kommunikationssystem verlegt, in das Verhältnis zwischen einem Bildbetrachter und seinem Gegenstand. Auf dieses zentrale dramatische Strukturmoment des postdramatischen Textes hat Hans-Thies Lehmann hingewiesen.2 Auch wenn Erika Fischer-Lichte die Bildbeschreibung als Paradebeispiel für die Entdeckung des Zuschauers im Gegenwartstheater anführt,3 ist die wirkungsästhetische Strategie des Stückes bisher unzureichend bestimmt.4 Die spezifisch postdramatische Wirkungsästhetik, die in Müllers Text angelegt ist, soll im Folgenden im Vergleich mit Peter Handkes stummem Stück Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992), wo sie deutlicher markiert und weitergeführt ist, untersucht werden. Eine narratologische Analyse kann hier die spezifische Kommunikationssituation zwischen dem erzählenden Zuschauer und dem impliziten Leser beziehungsweise Zu-
1 Das folgende Teilkapitel ist die überarbeitete Version meines Aufsatzes Der Zuschauer als Erzähler (Hanna Klessinger, Der Zuschauer als Erzähler. Zur postdramatischen Wirkungsästhetik von Heiner Müllers Bildbeschreibung und Peter Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten. In: Euphorion 104, 2010, S. 435–454). 2 Hans-Thies Lehmann spricht von einer „konfliktuöse[n] – dramatische[n] – Begegnung zwischen einem Blick und einem Bild“ (Theater der Blicke. Zu Heiner Müllers Bildbeschreibung. In: Dramatik der DDR, hg. von Ulrich Profitlich, Frankfurt a. M. 1987, S. 186–202, hier S. 189). 3 Vgl. Erika Fischer-Lichte, nach der die neue Einstellung zum Zuschauer ihren „treffendsten Ausdruck“ in Müllers Bildbeschreibung findet: „Die Rezeption des Bildes wird hier als Produktion eines Textes vollzogen – Rezipieren ist Produzieren, Zuschauen ist Handeln“ (Die Entdeckung des Zuschauers: Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1997, S. 35). 4 Zuzustimmen ist Hans-Thies Lehmann, der die rezeptionsästhetische Konsequenz des Textes darin sieht, „daß idealiter jeder Zuschauer sich als Beschreiber eines Bildes betätigt“ (Das politische Schreiben, S. 342). Diesen Aspekt einer produktiven Rezeption betont auch Achim Stricker, Text-Raum, S. 181. Die Aktivierung des Zuschauers wird in diesen Ansätzen jedoch nicht an die narratologische Struktur des Stückes, von der sie wesentlich bedingt ist, zurückgebunden.
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schauer erhellen und ihre theatralen Realisierungsmöglichkeiten diskutieren. Der Vergleich offenbart eine konzeptionelle Nähe dieser beiden Postdramen, die auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnten.
3.1.1 Zuschauerdramen und Präsenserzählungen Heiner Müllers Bildbeschreibung entstand als Auftragsarbeit für den Steirischen Herbst und wurde 1985 in Graz unter der Regie von Ginka Tscholakowa uraufgeführt. Dem Prosatext, den Heiner Müller als „Spielmodell“ 5 bezeichnete, fehlen alle Merkmale eines herkömmlichen Dramas. Der knapp acht Seiten umfassende, absatzlose Textblock kommt ohne eine kohärente Handlung, ohne klar definierte Figuren und ohne Dialoge aus. Bestimmt wird der Textverlauf vielmehr von seinem titelgebenden Schreibanlass: der Beschreibung und Deutung einer (unbekannt bleibenden) Bildvorlage.6 Um die zentralen Bildelemente – Frau, Mann, Haus in steppenartiger Landschaft – wird ein düsteres Szenario von Sex, Gewalt und Vampirismus entworfen, das sich als Vision einer Ewigen Wiederkehr des Gleichen nach dem Ende der Geschichte deuten lässt.7 Diese ist durchsetzt mit Anspielungen auf die kulturgeschichtliche Überlieferung, auf biblische, literarische und philosophische Prätexte. Peter Handkes Theatererzählung Die Stunde da wir nichts voneinander wußten wurde 1992 am Wiener Burgtheater unter der Regie von Claus Peymann uraufgeführt. Das stumme Stück, das durch das Fehlen von Figurentext als ausgedehnte Regieanweisung erscheint, ist bestimmt vom Kommen und Gehen auf einem Platz, von zufälligen Begegnungen und flüchtigen Episoden. In etwa 300 Miniszenen treten ca. 100 verschiedene Figuren auf 8 – unter ihnen, neben gewöhnlichen Passanten (namenlosen Frauen und Männern, Einkaufenden,
5 Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1992, S. 343. 6 Es handelt sich um die Traum-Skizze einer bulgarischen Bühnenbildstudentin. Vgl. Müllers autobiografischen Bericht über die Entstehung von Bildbeschreibung (Krieg ohne Schlacht, S. 343). Eine Reproduktion der Zeichnung findet sich in: Heiner Müller Handbuch, S. 121. 7 Zur in der Müller-Forschung etablierten geschichtsphilosophischen Deutung vgl. Hans-Thies Lehmann, Theater der Blicke, S. 188 f.; sowie Florian Vaßen, Images become texts become images. Heiner Müllers Bildbeschreibung. In: Heiner Müller. ConTEXTS and HISTORY. A collection of essays from The Sydney German Studies Symposium, hg. von Gerhard Fischer, Tübingen 1995, S. 165–187, bes. 176 f.; vgl. auch Norbert Otto Eke, Heiner Müller, S. 226–247. 8 Vgl. Bernhard Greiner, „Bleib in dem Bild“, S. 208. In seiner intermedialen Studie verbindet Achim Stricker die ‚Bildlichkeit‘ und ‚Verräumlichung‘ in Müllers Text mit der dreidimensionalen Bildtechnik von Assemblagen (Text-Raum, S. 143–188, bes. S. 166–188).
Müllers Bildbeschreibung und Handkes Die Stunde [...]
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Geschäftsleuten), Typen wie der „Platznarr“ 9 und die „Schönheit“ 10 sowie biblische, mythologische und literarische Gestalten (etwa Aeneas und Peer Gynt). Das Stück wirkt wie ein magisches Traumspiel, dessen Leichtigkeit geradezu im Gegensatz zur Düsterkeit von Müllers Text zu stehen scheint.11 Fallen bei dieser ersten, oberflächlichen Beschreibung vor allem die Unterschiede zwischen beiden Stücken auf, so kann eine genauere Lektüre zeigen, dass sie sehr wohl tiefgehende Gemeinsamkeiten aufweisen. Sie lassen sich vor allem unter formalen, aber auch unter inhaltlichen und sogar unter konzeptionellen Aspekten vergleichen. Zunächst kennzeichnet beide Texte eine spezifische Gattungsmischung. Sie stellen Prosaerzählungen dar, die explizit für eine Bühnenrealisation geschrieben sind und mit ihrer Motivdichte und poetischen Sprache an Prosagedichte der Moderne erinnern.12 Sie adaptieren moderne Erzähltechniken – wie Subjektivierung, Leserlenkung, Unzuverlässigkeit – für die dramatische Gattung. Indem sie als erzählende Texte eine Vermittlungsinstanz einsetzen, brechen sie mit der Vorstellung einer Absolutheit des Dramas. Untermauert wird diese Absage an einen naiven Illusionismus, indem die Vermittlung radikal subjektiviert wird. Beide Texte etablieren eine „dramatisierte“ (Wayne Booth), subjektiv gefärbte Erzählerfigur, die als heimlicher Protagonist des Stückes kenntlich wird. Dieser gewinnt Kontur in einem subjektiven Erzählertext, der durch Kommentare, Assoziationen, Vergleiche, Spekulationen und Deutungen bestimmt ist. Die antiillusionistische Wendung, in der ein äußeres Kommunikationssystem an Bedeutung gewinnt, wird durch den Inhalt der Stücke unterstützt. Beide sind ‚Zuschauerdramen‘, die einen Rezeptionsvorgang schildern: eine Bildbetrachtung bei Müller, die Wahrnehmung einer Theateraufführung bei Handke, dessen Stück sich parallel zu Müllers Bildbeschreibung als ‚Auffüh-
9 Peter Handke, Theaterstücke, S. 563 u. ö. 10 Peter Handke, Theaterstücke, S. 554 u. ö. 11 Auch in der Handke-Forschung hat sich eine geschichtsphilosophische Lesart des postdramatischen Spiels etabliert, die sich v. a. auf die zentrale Szene des Stücks, die Versammlung aller Spieler auf dem Platz, beruft. Bernhard Greiner sieht in dieser „Öffnung des Theaters zu neuer mythischer Präsenz“, die er in den Mittelpunkt seiner Deutung rückt, eine utopische „Antwort auf 1989“ („Bleib in dem Bild“, S. 214). Auch Petra Heyer betont die „Restitution des Mythos“ im ekstatischen „Gemeinschaftserlebnis“ (Von Verklärern und Spielverderbern. Eine vergleichende Untersuchung neuerer Theaterstücke von Peter Handke und Elfriede Jelinek, Frankfurt a. M. 2001, S. 104–138, hier S. 119). Die zentrale Rolle der Form betont einzig Petra Meurer, die in ihrer theaterästhetischen Analyse auf die zentrale Rolle der erzählerischen Vermittlung verweist (Theatrale Räume). 12 Für Hans-Thies Lehmann hat Müllers Bildbeschreibung die „Dichte eines klassischen poème en prose“ (Theater der Blicke, S. 193).
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rungsbeschreibung‘ kennzeichnen ließe.13 Beide Texte nutzen ihren Schreibanlass, um den eigentlich dramatischen Konflikt in die Auseinandersetzung des (fiktionalen) Zuschauers mit seinem Wahrnehmungsgegenstand zu verlegen (also in ein fiktionales äußeres Kommunikationssystem). Beide Stücke lassen sich als metatheatrale Erzählungen kennzeichnen, die (alternative) Szenarien eines Bildes aus der Zuschauerperspektive entwerfen. Dadurch setzen sie vor allem einen wirkungsästhetischen Akzent, der für die (reale) Lektüre bzw. theatralische Umsetzung und ihre Rezeption bedeutsam wird. Durch die subjektive Vermittlung entsteht ein unsicherer, polyvalenter und offener Text, der die Mitwirkung des impliziten beziehungsweise realen Lesers oder Zuschauers herausfordert. Der dramatische Konflikt zwischen Erzähler und Gegenstand setzt sich in diesen dramatischen Spielmodellen also fort: Als dritte bedeutende Größe im Spiel etablieren sie den Rezipienten des komplexen Stückes, der die subjektiven Elemente erkennen und deuten muss. Deutlich wird dieser wirkungsästhetische Aspekt vor allem in denjenigen Textsignalen, die auf ‚unzuverlässiges Erzählen‘14 deuten. In ihnen wird offensichtlich, dass man sich als Rezipient von dieser Instanz nicht einfach leiten lassen kann, sondern als Mitwirkender des Spiels gefragt ist, der zu dessen Semantisierung wesentlich beiträgt. In dieser Hinsicht reflektieren die Texte auch die Multiperspektivität von Drama und Theater, das mit Leser, Regisseur, Bühnenbildner, Darstellern und Zuschauern eine Vielzahl mitwirkender Rezipienten kennen.
3.1.2 Unzuverlässiges Erzählen in Heiner Müllers Bildbeschreibung Heiner Müllers Theatertext Bildbeschreibung ist ein Prosastück von knapp acht Seiten Länge und besteht aus einem einzigen Satz, der durch Kommata und zwei Doppelpunkte gegliedert ist.15 Diesem Textblock ist ein knapper Autor-
13 Petra Meurer bezeichnet das Stück als „Beschreibung einer Aufführung“ (Theatrale Räume, S. 159). Im Vergleich mit Müller ließe sich die Vorlage zudem als ‚bewegtes Bild‘ kennzeichnen, was durch das (fiktive) Motto des Stückes „Was du gesehen hast, verrat es nicht; bleib in dem Bild“ gestützt wird. 14 Der Begriff wird hier gebraucht in Anlehnung an die rezeptionsästhetische Konzeption von Ansgar Nünning (Hg.), Unreliable narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 1998. 15 Trotz seiner Entstehungs- und Aufführungsgeschichte als Theaterstück wird Bildbeschreibung in der Werkausgabe unter Prosa geordnet (vgl. Heiner Müller, Werke 2, S. 112–119). Um dem Theaterkontext gerecht zu werden, wird das Stück in dieser Arbeit zitiert nach: Heiner Müller, Shakespeare Factory 1, Berlin 1985, S. 7–14 (nachfolgend im Text zitiert mit Seiten- und Zeilenzahl).
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kommentar nachgestellt, der auf dramatische, epische und filmische Prätexte (Euripides, Shakespeare, Homer, Hitchcock) und eine „abgestorbene dramatische Struktur“ (14) hinweist. Der Titel gibt Genre und Erzählsituation vor.16 Gegenstand des Textes ist ein Bild, das aber nicht neutral beschrieben wird. Bestimmend ist vielmehr von Anfang an die Perspektive einer Vermittlungsinstanz, die eine subjektive Sicht auf das Bild wiedergibt, ihre Assoziationen, Spekulationen und Vorbehalte kundtut und auf diese Weise das Bild nicht nur beschreibt, sondern immer zugleich auch kommentiert. Vor allem aber versucht sie, ausgehend vom „Augenblick des Bildes“ (7, Z. 23 f.), eine Geschichte zu entwerfen und so seinen möglichen Sinn zu ergründen. Mit der Mischung beschreibender, kommentierender und erzählender Passagen erscheint der Text insgesamt weniger als Beschreibung, sondern vielmehr als Erzählung eines Bildes, die sich zur Erzählung einer Aufführung entwickelt.17 Tempus dieser Erzählung ist das Präsens bzw. sein Vorzeitigkeitstempus Perfekt, mit dem nach der unmittelbaren Vorgeschichte der Bildgegenwart gefragt wird: „was oder wer ist verbrannt worden“ (9, Z. 9 f.); „welche Last hat den Stuhl zerbrochen“ (10, Z. 5 f.). Ein Tempuswechsel ins Futur ermöglicht eine Gliederung des absatzlosen Textblocks in zwei Teile.18 Ein einleitender Teil, der die zentralen Bildelemente evoziert und kommentiert – eine Landschaft mit einem Haus, einem Vogel im Baum, einer bildbestimmenden Frauengestalt im Vordergrund und einem Mann auf der Türschwelle des Hauses mit einem weiteren Vogel in der Hand –, endet mit der auf die Zukunft gerichteten Frage: „Was wird geschehn“ (9, Z. 32), die zur eigentlichen Erzählung überleitet. Darauf werden im zweiten Teil alternative Szenarien der Vergangenheit und Zukunft entworfen. Durchgehendes Tempus dieses erzählenden Teils ist wiederum das Präsens,19 das sich hier mit Jürgen H. Petersen als ‚Fiktionspräsens‘ kennzeichnen lässt, welches im modernen Erzählen zur narrativen
16 Vgl. Frauke Berndt, „oder alles ist anders“. Zur Gattungstradition der Ekphrasis in Heiner Müllers Bildbeschreibung. In: Behext von Bildern? Ursachen, Funktionen und Perspektiven der textuellen Faszination durch Bilder, hg. von Heinz J. Drügh und Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 2001, S. 287–312, die den Text in die Ekphrasis-Tradition einordnet. 17 Zum Begriff des ‚erzählten Bildes‘ vgl. Bernard Dieterle, der in seinen Analysen auch die Affinität dieses Genres zum Dramatischen herausstellt (Erzählte Bilder. Zum narrativen Umgang mit Gemälden, Marburg 1988, bes. S. 20 ff.). 18 Frauke Berndt schlägt gemäß ihrer Deutung als Emblem eine Dreiteilung vor („oder alles ist anders“, S. 287); Hans-Thies Lehmann unternimmt eine Gliederung in fünf Akte (Theater der Blicke, S. 193). 19 Als Zäsur zwischen die Szenarien der Vergangenheit und Zukunft ist wiederum ein Tempuswechsel ins Futur gesetzt: „er wird es wieder brauchen“ (11, Z. 9).
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Gestaltung von fiktiven Entwürfen genutzt wird 20 – eine Möglichkeit, die es nicht zuletzt für den Entwurf (post-)dramatischer Szenarien geeignet macht. Der Text gewinnt im zweiten Teil zunehmend den Charakter einer erzählten Aufführung. Mann und Frau werden zu Akteuren im Bilddekor. Das Geschehen spielt sich bei der Sitzgruppe (ein Tisch, zwei Stühle) vor dem Haus ab. Dort geschieht alternativ ein Geschlechtsakt oder ein Mord (10, Z. 8 – S. 11, Z. 14). Die Mordszene wiederum wird in mehreren Varianten vorgestellt: Der Mann ermordet die Frau mit bloßen Händen oder mit einem Messer. In einer anderen Konfiguration ist es die Frau, die den Vogel mit einem Vampirbiss erlegt. Für die Zukunft wird daraufhin ein bedrohliches Auferstehungsszenario entworfen (12), in dem die Frau als Wiedergängerin und Vorhut einer Invasion der Toten im „große[n] Manöver“ (12, Z. 8) auftritt. Eine nachgeschobene vierte Variante (13, Z. 29–14, Z. 2) entwirft einen positiven Ausgang der Mord-Szene: Durch das Eingreifen des Vogels wird der Mann an der Ermordung der Frau gehindert. Durchsetzt ist die Erzählung dieser Alternativgeschichten wiederum von reflexiven Passagen, von Kommentaren („überflüssig das Gras auszureißen“ [11, Z. 26 f.]), Mutmaßungen („vielleicht folgt die Willkür der Komposition einem Plan“ [13, Z. 2 f.]) und zweifelnden Fragen („oder alles ist anders“ [12, Z. 38]). In der Forschung wurde wiederholt auf den dominanten Darstellungsmodus der „Potentialität“ hingewiesen, der sich in der Verwendung von Modaladverbien („vielleicht“, „wahrscheinlich“) und Konjunktionen („als ob“, „als wenn“, „oder“) sowie in der Häufung von Fragen niederschlägt.21 Bestimmend ist die Unsicherheit des Geschehens. Es werden nicht nur verschiedene Varianten entworfen, sondern die einzelnen Szenen sind auch in sich ambivalent: So ist die Grenze zwischen Mord und Geschlechtsakt fließend („ein Mord vielleicht oder ein wilder Geschlechtsakt oder beides in einem“ [10, Z. 7 f.]). Bereits auf dieser inhaltlichen Ebene setzt der Text wirkungsästhetische Signale, da seine Offenheit die Deutungen des Lesers herausfordert. Gegen Ende des Textes werden die reflexiven Elemente immer dichter und richten sich nicht nur auf den Gegenstand der Erzählung, sondern auf die erzählerische Vermittlung selbst: Die Erzählinstanz kommentiert sich und ihr Verfahren, die alternativen Szenarien ausgehend von Ungenauigkeiten des Bildes zu entwerfen: „gesucht: die Lücke im Ablauf […], der vielleicht erlösende
20 Jürgen H. Petersen, Erzählen im Präsens. Zum ‚Fiktionspräsens‘ vgl. S. 73–78. 21 Vgl. Florian Vaßen, „Bildbeschreibung“, S. 197. Eine genaue Analyse der „Struktur der Potentialität“ gibt Manfred Schneider, Im Namen des Bildes. Über den Grund des Sprechens, in: Heiner Müller. Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung, hg. von Ulrike Haß, Frankfurt a. M. 2005, S. 112–120, S. 113 ff.
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Fehler“ (13, Z. 26–29). Der Erzähler erscheint dabei zunehmend von seinem Gegenstand selbst betroffen. Er artikuliert Gefühle der „Angst“ (14, Z. 2) und der verzweifelten „Hoffnung“ (14, Z. 4). Als Zäsur innerhalb des zweiten Teils, welche die selbstreflexive Wendung anzeigt, erscheint eine Passage in direkter Rede: „ICH HABE DIR GESAGT DU SOLLST NICHT WIEDERKOMMEN TOT IST TOT“ (13, Z. 9 f.). Hier meldet sich zum ersten Mal ein sprechendes Ich, das sich am Ende des Textes mit den Bildelementen identifiziert und damit in das von ihm entworfene Szenario eintritt: „ICH die Frau mit der Wunde am Hals […], ICH der Vogel […], ICH der gefrorene Sturm“ (14, Z. 15–19). Spätestens hier wird deutlich, dass die heimliche Hauptfigur der Erzähler ist. Der Verlauf wird bestimmt von seinem Bewusstseinsprozess, der ein wechselvolles – und zunehmend obsessives – Verhältnis zum Bild offenbart. Ihr dramatisches Potential gewinnt die Bildbeschreibung in diesem Konflikt zwischen Bild und Erzähler, worauf bereits Hans-Thies Lehmann hingewiesen hat.22 Eine dritte wichtige Rolle in diesem dramatischen Spielmodell kommt dem (impliziten bzw. realen) Rezipienten des Textes zu: Er muss die Bildvorlage aus den Aussagen des Erzählers rekonstruieren und die subjektiven Elemente – auch die Unzuverlässigkeit der Vermittlung – erkennen und deuten. Wirkungsästhetisch erscheinen diese als Irritationen der Lektüre, als zunächst unvermittelt und willkürlich wirkende Phantastereien und Abschweifungen der Erzählinstanz. Der Rezipient ist jedoch herausgefordert, die eigenen Irritationen der Lektüre auf Verunsicherungen des Erzählers durch das Bild zu beziehen und das – implizit vermittelte – auslösende Bildelement zu identifizieren. Außerdem ist seine Phantasie angesichts der Leerstellen herausgefordert, so dass sich das Spiel der Deutungen, das dieser offene Text anstößt, mit jedem Rezipienten fortsetzt – was nicht zuletzt für die theatralische Umsetzung bedeutend ist. Im rezeptionsästhetischen Akzent des Textes wird die postdramatische Theatersituation weiterentwickelt: Seine programmatische Offenheit aktiviert die ‚inneren Spielräume‘ des Zuschauers, dessen Aufmerksamkeit vom Bild – dessen ‚wahre‘ Gestalt er mithilfe der Beschreibung zu rekonstruieren sucht – auf den dramatischen Akt des Beschreibens gelenkt wird. Angesichts der Lücken, Leerstellen, Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten sieht er sich herausgefordert, selbst an der Konstruktion des Theaterbildes mitzuwirken. Am Beispiel der Ironie, mit welcher der Erzähler einige Bilddetails kommentiert, kann diese wirkungsästhetische Strategie deutlich werden. So scheint gleich zu Beginn mit dem irrealen Vergleich „wie von Drahtskeletten zusammengehalten“ (7, Z. 3) implizit auf die später beklagte „schlecht ausge-
22 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Theater der Blicke, bes. S. 189.
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führte[ ] Schraffur“ (13, Z. 2) der Zeichnung verwiesen. Auch die zunächst befremdend wirkende Spekulation über eine mögliche Ewigkeit des Bildaugenblicks („Vielleicht steht DIE SONNE dort immer und IN EWIGKEIT“ [7, Z. 24 f.]) lässt sich als ironisches Signal deuten, mit dem der Dilettantismus der Zeichnung kommentiert wird. So könnte das Bild zum ewigen Mittag verdammt sein, weil der Zeichner die komplizierten Schatten der gekreuzten Tischbeine nicht beherrscht hätte (der Stand der Sonne im Zenit wird aus der Position des Tisches abgeleitet).23 Die Ironie erhält eine dramaturgische Funktion im Konflikt zwischen Betrachter und Bild: Sie zeugt offenbar vom Bemühen des Erzählers, die Distanz zu seinem Gegenstand zu behaupten. Das Drama entwickelt sich hingegen durch den allmählichen Verlust dieses Abstandes – bis hin zur Aufhebung der Grenze zwischen Erzähler und Bild am Ende des Textes. Auf den Leser bezogen, können die Ironiesignale bewirken, dass auch dieser Abstand zur vermittelnden Instanz gewinnt – nach dem Grund ihres ironischen Kommentars fragt – und damit auf die eigene Urteilskraft verwiesen ist. Dass sich der Konflikt zwischen Betrachter und Bild zuspitzt, lässt sich an der zunehmenden Betroffenheit des Erzählers ablesen. Diese scheint bedingt durch unfreiwillige Bild-Assoziationen – v. a. durch die Vorstellung einer fatalen und sinnlosen Ewigen Wiederkehr des Gleichen, die sich für den Erzähler, ausgehend von der Begegnung zwischen Mann und Frau (und den beliebigen Varianten ihrer immer gleichen Geschichte), auf den Kreislauf des Werdens und auf den Gang der Geschichte ausdehnt. Auf den Zusammenhang zwischen der Bildbeschreibung und Müllers Konzept eines „Theater[s] der Auferstehung“ hat Hans-Thies Lehmann hingewiesen.24 Besondere Bedeutung gewinnt hier meines Erachtens das Motiv des Bodens, das mit der bedrohlichen Frauengestalt verbunden ist, die aus dem „Boden“ wächst (8, Z. 35) und deren Mantel von „Grundwasser[ ] trieft“ (10, Z. 12). Der bedrohliche Bilduntergrund, der durch die „Wanderung der Toten im Erdinnern“ (11, Z. 33) und ihre Wiederkehr gekennzeichnet ist, lässt sich als Bild traumatischer – geschichtlicher, kultureller – Erinnerung, aber auch individueller Existenz- bzw. Todesangst deuten, die buchstäblich mit aller Macht in die Erzählung drängt (vgl. die wiederkehrende Explosionsmetaphorik). Die
23 Die humoristische Seite von Müllers Text wurde in der Forschung bisher nicht untersucht. Einzig Jan-Christoph Hauschild, verweist auf den „leichte[n], heitere[n] Ton“ am Beginn des Textes (Heiner Müller, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 119). 24 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Theater der Blicke, S. 188. Vom „Theater der Auferstehung“ spricht Heiner Müller in einem Brief an den Bühnenbildner Erich Wonder. In: Erich Wonder, Raum-Szenen/Szenen-Raum, Stuttgart 1986, S. 62. Zitiert nach: Günther Heeg. In: Heiner Müller Handbuch, S. 91.
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Bedrohung wird gesteigert durch die bestimmende Idee einer ewigen Wiederkehr, die hier die Sinnlosigkeit alles Geschehens, des Lebens und der Geschichte, nahelegt und als ‚Gegenspieler‘ jeder linearen Erzählung und jedes Dramas auftritt. In seinem Bemühen, sich von der Macht dieser Vorstellungen zu befreien, entwickelt der Erzähler verschiedene Strategien, die als unzuverlässiges Erzählen gewertet werden können. So scheint er den Beginn der eigentlichen Erzählung künstlich hinauszuzögern, als ahne er ihre fatalen Konsequenzen. Verdächtig wirken etwa die Bemühungen, mit denen er bereits am Übergang zum zweiten Teil, also noch vor dem Beginn der Handlung, eine Beziehungslosigkeit zwischen den Protagonisten des Bildes zu entwerfen versucht – zwischen Mann und Frau („nicht auszumachen, ob er die Frau schon gesehen hat“ [9, Z. 27 f.]) und zwischen den Vögeln („der Vogel im Baum […] interessiert sich nicht für Vögel“ [9, Z. 22 f.]). Sie scheinen den offensichtlichen Zusammenhang überspielen zu wollen.25 Unglaubwürdig wirkt zudem die Spekulation über eine mögliche Blindheit des Mannes (vgl. 9, Z. 28 f.) – immerhin hat er einen Vogel gefangen. Sie ließe sich als verzweifelter Versuch deuten, das Unausweichliche – die Begegnung von Mann und Frau und ihre fatalen Folgen – noch hinauszuzögern. Als die Erzählung schließlich mit dem bedrohlichen Auferstehungsszenario zur Katastrophe drängt, kann der offensichtliche Kontrollverlust des Erzählers als weiterer Hinweis auf unzuverlässiges Erzählen gewertet werden. Er zeigt sich in der Eigendynamik des „Geflechts“, das ja eigentlich die Schraffur der Zeichnung ist, und das, plötzlich lebendig geworden, „den Bungalow hinaufkriecht und den Innenraum schon bis an die Decke besetzt hat“ (12, Z. 34 ff.). In der anschließenden Parataxe „oder das Drahtgewirr der Stühle, oder das Netz“ (12, Z. 36 f.) spiegelt sich die Atemlosigkeit des Erzählers, mit der er diese allmähliche Besetzung des Bildraumes (durch seine obsessiven und traumatischen Assoziationen?) verfolgt. Unglaubwürdigkeit und Kontrollverlust des Erzählers setzen meines Erachtens einen wirkungsästhetischen Akzent: Der Leser oder Zuschauer stellt fest, dass er sich der Vermittlung des Erzählers nicht einfach überlassen kann – und sucht, nun plötzlich alleingelassen, selbst nach einer möglichen Deutung und dem „vielleicht erlösenden FEHLER“ (13, Z. 29). Da für ihn der Erzähler nun
25 Die Präsenz von drei Vögeln im Bild – einem freien Vogel im Baum, einem gefangenen Vogel in der Hand des Mannes sowie dem Skelett des Vogels an der Zimmerwand – legt eine ‚kontinuierende Darstellung‘ nahe, welche die Geschichte einer (wiederholten) Jagd erzählt und mit ihr die Idee vom biologischen Kreislauf des Lebens evoziert – in den letztlich auch die Paargeschichte gehört.
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als Figur kenntlich ist, kann er auch die selbstreflexive Wendung des Stückes mitvollziehen und sich seiner eigenen Rolle im Spiel (ihrer Möglichkeiten und Grenzen) bewusst werden.26 Um die hier skizzierte postdramatische Wirkungsästhetik genauer zu fassen, wird im Folgenden Handkes Stück analysiert, bei dem dieser wirkungsästhetische Akzent weitergeführt ist.
3.1.3 Das ‚Drama des Erzählens‘ bei Handke In Handkes stummem Stück Die Stunde da wir nichts voneinander wußten wird die subjektivierte Erzählsituation noch komplexer gestaltet als bei Müller. Die dialogischen Möglichkeiten der erzählten Theatersituation werden ausgereizt: Erzählanlass ist kein statisches Bild, sondern ein Bühnengeschehen. Auch Peter Handkes Stück ist eine Präsenserzählung für die postdramatische Bühne.27 In ihr schildert ein Zuschauer – in der simultanen Mitsicht – eine Theateraufführung. Diese stellt das bunte Treiben auf einem Platz dar, das von der Bewegung auf- und abtretender Passanten sowie von flüchtigen Begegnungen und Episoden strukturiert wird. Ähnlich wie Müllers Bildbetrachter kommentiert und deutet auch Handkes Zuschauer das Gesehene. Der subjektive Erzählertext wird etabliert durch Assoziationen (Leute schwingen ihre Taschen „wie manchmal Jugendliche […] in einem Zug“ [553]), Deutungen (ein Paar wirkt „wie schon seit langem dort zusammen“ [558]), Kommentare („so sehr ist dann noch niemand an seinem Platz gewesen“ [569]; „freilich fast versteckt“ [557 f.]), Spekulationen („Es könnte der als Japaner von vorhin sein“ [561]) und zweifelnde Fragen („derselbe oder ein anderer?“ [560]). Außerdem scheint auch dieser Erzähler seine Vorlage durch subjektive Projektionen zu ergänzen, in denen er die Geschichte des Platzes weitererzählt. So kann etwa eine Figur wie der plötzlich „[a]ls ein Spuk“ unter gewöhnlichen Passanten auftretende Papageno (556) wie eine Projektion des zuschauenden Erzählers erscheinen. Die Besonderheit von Handkes Konzept liegt darin, dass bereits der Beschreibungsgegenstand, also die Theateraufführung, eine narrative Struktur
26 Als utopisches Moment von Müllers ‚Spielmodell‘ können die Suche nach dem „vielleicht erlösende[n] Fehler“ und die mit diesem verbundene, im Kontext des Spiels mögliche, flüchtige „Hoffnung“ (vgl. S. 13 f.) gelten. Zur geschichtsphilosophischen Deutung dieser Ästhetik des Fehlers vgl. Hans-Thies Lehmann, Theater der Blicke, S. 72 ff. 27 Handkes Stück wird mit Seitenangaben im Text zitiert nach: Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 543–576.
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aufweist. So fügen sich die Projektionen des Erzählers auf den ersten Blick scheinbar nahtlos in das Bühnengeschehen ein. In der komplexen Erzählkonstruktion sind zudem alle Textebenen – der Regietext (der Text lässt sich als Partitur zu einem ‚stummen Spiel‘ verwenden28), die kommentierte Aufführungsbeschreibung und der Entwurf fiktiver Szenarien – so kunstvoll ineinander verschränkt, dass die Grenzen zwischen den Diskursen verschwimmen. Erst nach und nach kann ein aufmerksamer, ‚detektivischer‘ Rezipient die möglicherweise projektiven Anteile des Spiels ermitteln. Mit diesen Interferenzen setzt Handkes Stück einen besonderen wirkungsästhetischen Akzent: Der Leser, der versucht, die verschiedenen Ebenen und möglichen Lesarten auseinander zu halten und aufeinander zu beziehen, ist zugleich auf ihr untrennbares Ineinander im entworfenen Wahrnehmungs- und Erzählprozess verwiesen – sowie auf den Anteil, den seine subjektive Deutung an der Semantisierung des Spiels hat. Damit wird – gegenüber der geschichtsphilosophischen Konzeption bei Müller – eine poetologische Lesart eröffnet. Mit Die Stunde da wir nichts voneinander wußten bringt Handke seine Poetik des „tätigen Zuschauens“,29 in dem Rezeption und Produktion ineinander gehen, als Schauspiel auf die postdramatische Bühne. Die knapp 30 Seiten des Prosatexts gliedern sich in 17 durch Leerzeilen getrennte Abschnitte, von denen 13 mit dem Wort Pause beginnen. Die einzelnen Abschnitte sind durch die Strukturmerkmale der Wiederholung und Variation bestimmt:30 Das ständige, nur durch Pausensequenzen unterbrochene Auf- und Abtreten der Spieler wird zum Beispiel variiert durch verschiedene Bewegungsarten (schnelles und langsames Gehen, Stolpern, Purzeln etc.) sowie durch Rollenwechsel (die 12 Spieler stellen ca. 100 verschiedene Figuren dar). Zudem treten dieselben Figuren mehrmals, aber in verschiedenen Zuständen und Situationen auf – etwa Papageno, der zunächst im gewohnten „Federkleid“ (556) erscheint, bei seinem zweiten Auftritt aber „eines aus Muscheln“ (566) trägt, sowie das Paar, das in verschiedenen Stadien seiner Beziehung gezeigt wird, etwa nach dem Schäferstündchen (vgl. 558) und als werdende Eltern (vgl. 567). Wie durch die Varianten in Müllers Bildbeschreibung entsteht
28 Handke nutzt hier die verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten des Präsens, das auf dieser Ebene einen präskriptiven Charakter annimmt („Einer geht über die Bühne“ als Regieanweisung gelesen). 29 Zu Handkes Poetik des ‚tätigen Zuschauens‘ vgl. Gerhard Melzer, „Lebendigkeit: ein Blick genügt.“ Zur Phänomenologie des Schauens bei Peter Handke. In: Die Arbeit am Glück. Peter Handke, hg. von Gerhard Melzer und Jale Tükel, Königstein 1985, S. 126–152; sowie, bezogen auf Die Stunde da wir nichts voneinander wußten, Petra Meurer, Theatrale Räume, S. 174–178. 30 Eine detaillierte Strukturanalyse des Spiels gibt Bernhard Greiner, „Bleib in dem Bild“, S. 208–211.
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auch hier, durch die Dynamik von Wiederholung und Variation, ein offenes, polyvalentes Spiel. Durch den Wechsel von Dynamik und Statik lässt sich das Stück in drei Phasen gliedern.31 Ein mit 12 Abschnitten umfangreichster erster Teil ist bestimmt vom stetigen Auf- und Abtreten der Figuren, die lediglich für kurze Episoden auf der Szene anwesend sind. Der zweite Teil (Abschnitte 13–16) beginnt mit einer Wende: Die nach und nach eintreffenden Spieler versammeln sich auf der Bühne (Abschnitte 13–14). Seinen Höhepunkt erreicht das Geschehen mit der Anwesenheit der „vollzähligen Helden“ (569) auf dem Platz, die einen ekstatischen Moment der Gemeinschaft und – in der stummen Ansprache eines Greises – eine Art Pfingstwunder erleben (Abschnitte 14–15).32 Als dritter, wiederum dynamischer Teil folgt ein kurzes Nachspiel (Abschnitt 17), in dem die Spieler ihr Kommen und Gehen wieder aufnehmen, bis die Aufführung in das Mitgehen mehrerer Zuschauer auf der Bühne mündet – was an den selbstreflexiven Schluss von Müllers Bildbeschreibung, den Eintritt des Betrachters in die Bildszene, erinnert. Bereits auf der Ebene des Regietextes – der Partitur zu einem stummen Spiel – ist das Stück gekennzeichnet durch eine Reihe von Textsignalen, welche die produktive Phantasie des Rezipienten herausfordern. Durch die Flüchtigkeit des Geschehens – die Personen sind als Passanten immer nur für kurze Momente auf der Bühne – entsteht ein Wechsel von ausschnitthaften und angedeuteten Episoden, die vielfältige Assoziationen auslösen.33 Außerdem werden im Spiel, ähnlich wie in Müllers Alternativgeschichten, systematisch Irritationen erzeugt: So überrascht es, wenn plötzlich „Laub“ aus dem Hut eines Grüßenden fällt sowie „Schotter und Sand“ aus seinem Mantel (552) oder wenn „Gemüse“ (558 f.) in der Tasche eines Gangsters sichtbar wird.34 Auch wenn eine Figur nur minimale Erkennungszeichen mitbringt, ihre Erscheinung also für eine kohärente Deutung nicht ausreichend gekennzeichnet ist – sie etwa
31 Vgl. Greiners Gliederungsvorschlag, der die erste Phase nochmals unterteilt und so vier Phasen des Spiels definiert („Bleib in dem Bild“, S. 209). 32 Vgl. Handkes Hinweis beim Publikumsgespräch am Wiener Burgtheater 1994, abgedruckt in: Theater heute 35, 1994, H. 1, S. 14–18, hier S. 18. 33 Vgl. Bernhard Greiner, der in diesem Zusammenhang auf Handkes Technik aufmerksam macht, ein Ereignis immer bis zur Schwelle einer möglichen Handlung und kohärenten Bedeutung zu führen und dann abrupt abzubrechen („Bleib in dem Bild“, S. 211). 34 Irritationen entstehen ferner, wenn das Präsentierte ‚übercodiert‘ ist. Auf dieses Strukturmerkmal weist Bernhard Greiner hin („Bleib in dem Bild“, S. 212): So verwundern die unzähligen und disparaten Dinge, die ein „junger Macher“ aus seinen Taschen zieht, darunter „Spielwürfel, Lebkuchenherz, Frauenstrumpf“ (554), da dieses Überangebot an möglichen Bedeutungen sich zu keiner kohärenten Geschichte der Figur fügen lässt.
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einfach nur ein „Brot“ (555) über die Szene trägt – wird sie durch diese ‚Unbestimmtheit‘35 auffällig und lädt zu Spekulationen ein. Bernhard Greiner sieht die Funktion derartiger Brüche darin, im Spiel eine „ekstatische[ ] Präsenzerfahrung“ 36 zu erzeugen. Da Rolle und Spiel semantisch unbestimmt blieben, werde die Aufmerksamkeit auf Körper und Bewegung gelenkt.37 Die Wirkungsästhetik des Stückes bleibt jedoch nicht bei diesen momentanen Präsenz-Ereignissen stehen. Das Unerwartete kann vielmehr als Stimulans von Phantasie und Erzählen wirken und die Assoziationen eines tätigen Zuschauers hervorrufen. Die im Spiel entworfene Poetik des Fragmentarischen und Episodischen soll deutlich machen, dass es gerade der ‚erspielte‘ Bruch einer gewohnten Sehweise, die Auffälligkeit des Unerwarteten ist, die das Erzählen ermöglicht. Im Zentrum stünde dann nicht die momentane Präsenz, sondern der Vermittlungskontext (des aktiven Zuschauens), in dem diese Momente möglich sind und wirksam werden können. Die Tatsache, dass ein Bühnenereignis in diesem Sinne auffällig wird, zeigt dem auf sich zurückgeworfenen Rezipienten die Freiheit, seine eigene Phantasie spielen zu lassen – ein Akzent, der an den produktiven Impuls des „erlösende[n] FEHLER[S]“, der „Lücke im Ablauf“ (13) bei Müller erinnert. Die These, Handke stelle mit seinem Spiel das ‚tätige Zuschauen‘ auf die postdramatische Bühne, kann durch eine genaue Analyse der Erzählerfigur belegt werden. Wie Müllers Bildbeschreibung erhält auch Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten die eigentlich dramatische Spannung aus dem Verhältnis zwischen dem (dramatisierten) Erzähler und seinem Gegenstand. Ein Hinweis auf die Bedeutung der Erzählperspektive ist bereits dem Regietext eingeschrieben – durch den Wechsel zwischen Passagen, die den Spielcharakter der Aufführung betonen (vor allem durch Markierung des Rollenspiels, etwa indem „einer als Kellner“ [559] auftritt) und solchen, in denen lediglich die Handlung, das im Spiel Dargestellte, wiedergegeben wird: „Zwei Jäger ziehen auf einer grünen Reisigbahre einen dritten Jäger vorbei“ (559). Dieser Wechsel zwischen Bühnentext und Handlungstext lässt sich als rezeptionsästhetisches Signal (im fiktionalen äußeren Kommunikationssystem) lesen und zeigt an, wie der erzählende Zuschauer mit der Aufführung ‚mitgeht‘, ihrer Illusion für Momente folgt und sich dann wieder ihren Spielcharakter bewusst macht – eine Strategie, die den realen Rezipienten zur Reflexion seines Tuns anregen kann. Handke fängt hier das Besondere der Theatersituation ein, in der wir in einer doppelten Optik einfach Menschen und Bewegungen auf der
35 Die Wörter aus dem Feld „unbestimmt“/„unbestimmbar“ sind Leitmotive des Textes. 36 Bernhard Greiner, „Bleib in dem Bild“, S. 212. 37 Bernhard Greiner, „Bleib in dem Bild“, S. 212.
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Bühne sehen und zugleich einer dargestellten Handlung folgen. Diese spezifische Spannung zwischen Unmittelbarkeit und Referenz, Präsenz und Repräsentation wird in den metatheatralen Verfahren des Postdramas ausgestellt und reflektiert.38 Das Verhältnis zwischen dem erzählenden Zuschauer und der Aufführung spiegelt sich auch in der Zeitstruktur: So wird durch den momentanen Wechsel ins Perfekt (an manchen Stellen ins Präteritum) zunächst angezeigt, dass der Erzähler durch eine Fülle eigentlich simultaner Ereignisse zu Nachträgen gezwungen ist: „Indessen ist im Hintergrund, eine Handglocke läutend, einer als fahrender Gesell seines Weges gegangen“ (555). Durch dieses Verfahren wird aber auch ein Moment der Selektion deutlich: Die Aufmerksamkeit des Erzählers wird von bestimmten Ereignissen offenbar stärker angezogen als von anderen.
3.1.4 Subjektivierung: Traum-Spiele auf der ‚inneren Bühne‘ Wie in Müllers Bildbeschreibung wird auch in Handkes Stück der Erzähler als heimlicher Held des Stückes kenntlich. Seine Rolle im Spiel lässt sich sogar dahingehend interpretieren, dass ohne ihn – ohne sein ‚tätiges Zuschauen‘ – gar keine Aufführung stattfinden würde, was wiederum als Signal an den realen Zuschauer, als Hinweis auf seinen Beitrag zum Spiel, gedacht ist. Dieser Akzent wird schon in den ersten drei Abschnitten (549 f.) des Stückes deutlich. Hier wird das Spiel nach und nach aus seinen Elementen aufgebaut und zugleich, untrennbar damit verbunden, die erzählerische Vermittlung etabliert. Das Geschehen entwickelt sich auf einer leeren Bühne („Die Bühne ist ein freier Platz im hellen Licht.“ [549]) durch erste Bewegungen quer über sie hinweg (vgl. 549) bis hin zum „‚Sich-Einspielen‘“ (549) der Darsteller. Parallel zum Spiel setzt sogleich die erzählerische Vermittlung ein und wird mit ihm verschränkt. Die narrative Struktur beider Prozesse – des Spiels und der erzählerischen Vermittlung – wird gleich zu Beginn durch das anaphorische „Dann“ markiert (549, Z. 3 und 4). In der Folge wird immer deutlicher, dass der erzählende Zuschauer an der Semantisierung des Spiels maßgeblich mitwirkt. Er verleiht – als Bezugspunkt und Deutungsinstanz – dem eigentlich diffusen Geschehen Struktur, indem er Vergleiche herstellt („ebenso“), Wiederholungs-
38 Zur rezeptionsästhetischen Bedeutung dieser ‚doppelten‘ Optik, die den Zuschauer, wenn er sich ihrer bewusst wird, zur Reflexion seines aktiven Zuschauens animieren kann, vgl. die systematischen Überlegungen von Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, bes. S. 255–261.
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strukturen erkennt („und wieder“, „von neuem“, „schon wieder“) und erste Bezüge zwischen den Spielern herstellt (einer wird als „Vorgänger“ [549] des anderen kenntlich). Dieser Einstieg, der ein theatrales Geschehen im leeren Raum initiiert, erinnert an die „raumzeitliche Nullsituation“ (Axel Schalk), aus der Samuel Beckett – v. a. in einleitenden Pantomimen – seine Bühnensituationen aufbaut (vgl. Kap. 1.3 dieser Arbeit). Außerdem wirkt er wie die direkte Umsetzung der berühmten Bestimmung aus Peter Brooks Programmschrift The empty space (1968): I can take any empty space and call it a bare stage. A man walks across this empty space whilst someone else is watching him, and this is all that is needed for an act of theatre to be engaged.39
Diese konzeptionelle Anlehnung macht wiederum deutlich, wie sehr Handkes Theaterästhetik der internationalen Theateravantgarde der 1960er Jahre verpflichtet ist. Diese Nähe gilt auch für das Postdrama Heiner Müllers: Der Beginn der Bildbeschreibung scheint Becketts und Brooks reduktionistisches Prinzip für die Rezeptionsweisen eines medialen Zeitalters zu adaptieren: Müller baut die Szene ebenfalls aus ihren Elementen auf – allerdings in Form einer imaginären Kamerafahrt:40 Zunächst erfolgt eine Totale auf die „flache Landschaft“,41 dann wird der Bildraum von oben nach unten und von hinten nach vorne strukturiert und dynamisiert: Das theatrale Geschehen setzt ein, wenn der Fokus schließlich (nach einer Textseite) auf die eigentlich bildbeherrschende „Frau“ gerichtet wird. Die für die Theatersituation notwendige Zuschauerposition, die hier durch den erzählenden Bildbetrachter repräsentiert wird, ist im Bild gespiegelt in dem „Vogel“, der „Blick und Schnabel gegen [die] Frau gerichtet“ hat.42 Bei Handke strukturieren zunächst die Bewegungen der Spieler den Raum, indem sie einen „Hintergrund“, einen „Platzmittelgrund“ und einen „Vordergrund“ (549) definieren. Die eigentliche Handlung beginnt in Absatz drei mit einem ersten Rollenspiel: „Einer überquert den Platz […] als Angler“ (550). Der Absatz endet mit dem ersten beiläufigen Kontakt – einem Anstreifen beim Überholen (550) –, der die Möglichkeit einer Paarung (und damit einer Geschichte) eröffnet. Das Paar erscheint hier als elementare dramatische Konfigu-
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Peter Brook, The empty space, S. 9. Zu diesem filmischen Verfahren vgl. Frauke Berndt, „oder alles ist anders“, S. 291. Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Müller, Shakespeare Factory 1, S. 7. Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Müller, Shakespeare Factory 1, S. 8.
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ration, was an Müllers Bildbeschreibung erinnert, der die Handlung der Szenarien ebenfalls aus dieser Grundkonfiguration entwickelt. Mit dem Einsetzen der Handlung wird sogleich die Subjektivität der Vermittlung markiert.43 Diese wird deutlich in einer ersten unsicheren Frage beim Auftritt der Feuerwehrleute: „eher bei einer Übung als bei einem Ernstfall?“ (550) Es folgen Deutungen der Erzählinstanz, in denen sie zugleich implizit auf Elemente des Spiels hinweist, die vom Leser erschlossen werden müssen, ähnlich wie einige Bilddetails bei Müller. So lässt sich aufgrund der Aussage, der Angler befinde sich „auf dem Hinweg“ (550) auf mögliche Anzeichen schließen: Vielleicht trägt er einen leeren Eimer mit sich. Und dass es zum Heimatort des Fußballfans „noch weit ist“, könnte der Erzähler aus den (allerdings nicht mitgeteilten) Farben seiner „verkohlte[n] Fahne“ (550) geschlossen haben. Mit diesen Aussagen wird so neben der Subjektivität der Vermittlung zugleich die produktive Rolle des (impliziten bzw. realen) Rezipienten eingeführt – wodurch am Ende von Abschnitt drei alle ‚Mitwirkenden‘ im Spiel sind. Dessen programmatische Offenheit (für alle Beteiligten) wird dabei im ersten Auftritt eines „Unbestimmten“ (550) deutlich. In der Folge gewinnt der ‚dramatisierte‘ Erzähler – vergleichbar mit Müllers Bildbetrachter – Kontur im wechselvollen Verhältnis zu seinem Gegenstand. Dabei zeigt auch er sich zunehmend von diesem betroffen bzw. eingenommen, was, wie bei Müller, in einer Ich-Aussage deutlich wird, durch die er seine Rolle als vermeintlich unbeteiligter Zuschauer endgültig aufgibt. Der entscheidende Moment im Erzählerdrama ist bezeichnenderweise beim Auftritt einer „Schönheit“, als der erzählende Zuschauer plötzlich seine Zurückhaltung und Neutralität über Bord wirft und sich als sprechendes Ich zu erkennen gibt: „[…] und eine Schönheit wiederum, welche zunächst nur von hinten sichtbar, sich plötzlich nach mir! umdreht“ (561). Der Ausruf lässt sich als Ausdruck der Überraschung und Überwältigung, als Wunsch, aber auch als selbstironischer Kommentar der eigenen Eitelkeit lesen.44 Ihm kommt ferner eine dramaturgische Funktion im ‚Drama des Erzählens‘ zu, da er als Indiz für (projektives) unzuverlässiges Erzählen lesbar wird: Denn schon in der folgenden Passage lässt sich die Nachwirkung des Blickkontakts unmittelbar ablesen: Offenbar noch ganz im Bann der Schönheit erscheint dem Erzähler ein unübersichtli-
43 Vgl. den expliziten Hinweis auf das „Blickfeld“ (550). 44 Bereits ein früherer Auftritt der „Schönheit“ enthält Hinweise auf ‚unzuverlässiges Erzählen‘ (vgl. 558). Der Erzähler, der diesen ‚verpassten‘ Auftritt im Präteritum nachträgt, schmückt ihn dabei (mit Tempuswechsel zurück ins Präsens) verdächtig aus (vgl. die Hinweise auf ihren auffälligen „Spiegelschmuck“ und ihr „Blitzen“ [558], mit denen ihre Präsenz übertrieben betont wird), so als wolle er ein Versäumnis kompensieren.
Müllers Bildbeschreibung und Handkes Die Stunde [...]
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ches „Knäuel“, das „ebenso plötzlich“ auf den Platz stürzt, im ersten Moment als „stepptanzend“ (561). Dieses harmlose, spielerische Bild wird sich jedoch als fataler Irrtum erweisen, denn es handelt sich, wie „sich herausstellt“, um einen (einzigen) Menschen im dramatischen „Todeskampf“ (561). Von diesem Moment an häufen sich die dunklen Vorzeichen und bedrohlichen Episoden. Sie könnten wie bei Müller als Hinweise auf traumatische Assoziationen gedeutet werden, die mit Macht in die Erzählung drängen: Bilder von Altern und Tod (plötzlich scheint es dem Erzähler etwa, „als gingen nur Greise über den Platz“ [565]45), Gewalt (die Schönheit wird angegriffen und beraubt [vgl. 562], Papageno von einem „Unbestimmte[n]“ niedergeschlagen [566]), Krieg (vgl. die auftretenden „Soldaten“ [567]), Leid („Entsetzens- und Jammerslaute“ [565]) und Schuld (der Angreifer Papagenos erscheint als „krachender Apfelesser“ [566]). Auf die Verunsicherung des Erzählers deutet eine ambivalente Episode: Was zunächst als erneuter Angriff auf die Schönheit erscheint („ein Mann schleicht sich von hinten an“ [563]), entpuppt sich dann offenbar als harmlos (er nimmt sie „unter Knie und Achseln“ [563] und trägt sie vom Platz). Der Höhepunkt der Platzversammlung, auf den das Geschehen nun zusteuert, akustisch angekündigt durch ein wiederholtes „Rauschen“, „Brausen“ und „Getöse“ (vgl. S. 557; 559; 562; 564) des Theaterdonners (?), wirkt vor diesem Hintergrund beinahe wie eine trotzige Behauptung. Im bedrohlichen Kontext kann diese harmonische Wendung unglaubwürdig wirken, wie vom Erzähler herbeigesehnt – vergleichbar mit der verzweifelten Hoffnung von Müllers Bildbetrachter, dessen imaginiertes Happy End (die positive Variante der Mordgeschichte) vom Kontext ebenfalls widerlegt wird. Beide ‚Utopien‘ sind jedoch zugleich in diesem Kontext, in dem sie aufgebaut (erspielt) und hinterfragt werden, als flüchtige Momente gültig und aufgehoben.46 In der Darstellung der Platzversammlung finden sich zudem weitere Indizien für unzuverlässiges Erzählen, durch die das Ereignis als fiktives Traum-Szenario lesbar wird. Inhaltlich wird der fiktive oder projektive Charakter durch Vorgänge angezeigt, die im Theaterspiel nur schwer oder gar nicht zu vermitteln sind – also auf einer freien Deutung des Zuschauers beruhen müssen, etwa die Momente ‚reiner Präsenz‘ und die Verwandlung durch „bloße[s] Zuschauen“ (570), die den Kern des ekstatischen Gemeinschaftserlebnisses ausmachen:
45 Vgl. auch die Figur, die zunächst als „Junger“, unmittelbar danach als „Gealterter“ auftritt (566). 46 Die zentrale Bedeutung des (Spiel-)Kontextes für die utopischen Momente beider Stücke wurde bisher nicht genügend berücksichtigt.
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Ebenso geschieht es auch, daß sie allesamt einfach bloß da sind […] und einander so zuschauend sich jeweils in den anderen verwandelnd, und so über den ganzen weiten Platz. (571)
Eine ‚Überforderung‘ des im Theater Möglichen stellt wohl auch die „Freitreppe“ dar, welche die Anwesenden mit ihren Leibern formen und von der dann „der zuoberst Liegende plötzlich sich erhebt und herunterschreitet“ (571).47 Unklar ist ja bereits, was mit der Versammlung der „vollzähligen Helden“ (569) gemeint ist – etwa die unzähligen Figuren, die zuvor das Geschehen des Platzes bestimmt haben? Neben diesen inhaltlichen Fiktionssignalen deutet auch die erzählerische Vermittlung darauf hin, dass es sich nicht mehr um eine simultane Aufführungs-Mitschrift handelt, sondern um den Entwurf bzw. die Erinnerung (Wiederholung) eines Traum-Szenarios. So wird die Passage gerahmt durch Erzählerkommentare, die vom Überblick über das gesamte Geschehen zeugen: das einleitende „Für einen langen Moment fügt sich nun folgendes“ (570) und das „Danach ging alles schnell“ (573), das die Auflösung der Versammlung ankündigt. Zusätzlich markiert wird der Charakter einer fiktiven Erzählung durch die Zeitstruktur: Die mehrfachen Wechsel ins Präteritum, die in dieser Passage in erhöhter Frequenz auftreten, lassen sich zunächst noch, während des Eintreffens der Helden, als Nachträge innerhalb der Aufführungsbeschreibung lesen. Zu ihnen ist der Erzähler genötigt, da er über den vielen nacheinander und zugleich Ankommenden den Überblick verliert: „… und auf einem zweiten Weg einer hereinhüpfte […] und auf einem dritten Weg ein eisschleckendes Altenpaar daherkam“ (569). Andere Tempuswechsel lassen sich jedoch nicht mehr in diese Logik einfügen. Sie erscheinen vielmehr als ‚klassische‘ Erzählpassagen im epischen Präteritum (zusätzlich markiert durch Temporaladverbien, die eine narrative Chronologie anzeigen „dann“; „danach“): „Dann passierte nichts als ihre verschiedenen Farben“ (571); „Unter dem Geläute stakten dann […] zwei Gestalten in afrikanischen Prachtgewändern daher, hielten und luden stumm, mit großen Gesten, in ihr Fahrzeug“ (572).48
47 Auch akustisch wird der theatralische Rahmen gesprengt: Wie hat man sich etwa den vom Erzähler vernommenen Schrei eines „Regenwurms“ oder des „Leviathans“ (571) vorzustellen? Die Passagen lassen sich mit den phantastischen Höhenflügen von Müllers Bildbetrachter vergleichen, die eine Unterminierung des Visuellen anzeigen könnten. 48 Vgl. dagegen Petra Meurer, die hier kein episches Präteritum annimmt, sondern die Passagen analog zum sonstigen Tempusgebrauch als Nachträge liest (Theatrale Räume, S. 181). Bernhard Greiner, deutet die Tempuswechsel an dieser Stelle sprachtheoretisch: Da auf ein Geschehen der Präsenz immer nur nachträglich verwiesen werden könne, verfalle der Text „im Moment der Öffnung auf Präsenz in die Zeitform der Vergangenheit“ („Bleib in dem Bild“, S. 212).
Müllers Bildbeschreibung und Handkes Die Stunde [...]
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Die skizzierten Merkmale für unzuverlässiges Erzählen deuten auf eine Verselbständigung der Erzählinstanz – welche die Ebene der objektiven Aufführungsbeschreibung verlässt und diese als erzählte Aufführung auf die ‚innere Bühne‘ verlegt. Handke setzt einen besonderen wirkungsästhetischen Akzent, indem er über diese Signale den Übergang zu einer weiteren Textebene eröffnet. Da sich (bezogen auf den gesamten Text) die projektiven Elemente des Spiels nur schwer und ungesichert ermitteln lassen, drängt sich die Frage auf, wer eigentlich als Urheber hinter dem gesamten komplexen Arrangement steht. Damit ist der Blick auf die dichterische Phantasie gelenkt, deren Dynamik das Spiel aufführt. Dadurch wird der gesamte Text als Erzählung einer imaginierten Aufführung lesbar – vgl. die Motivkette „Traum“ (572; 573) und „Erinnerung“ („Erinnerungslicht“ [574]). So lässt sich als Erzählanlass die Wahrnehmung oder Erinnerung eines Platzes imaginieren, die sich durch ‚tätiges Zuschauen‘, durch Assoziationen, Erinnerungen Wünsche, Ängste und Sehnsüchte zu einem erzählten Schauspiel fügt.49 Damit lässt sich Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten in eine Reihe stellen mit dem ‚Bewusstseinstheater‘ von Richard Foreman und Robert Wilson (vgl. Kap. 2.3.5 dieser Arbeit). Mit der Eröffnung dieser Text-Ebene ist ein wirkungsästhetisches Signal verbunden, das einen inspirierenden Impuls setzt: Durch die Offenheit des phantastischen Traum-Spiels, das den Rezipienten in die Erzählerphantasie versetzt und zugleich seine eigene produktive Phantasie herausfordert, wird er auf sein eigenes ‚tätiges Zuschauen‘ verwiesen. So kann er die selbstreflexive Wende des Schlusses (als mitgehender Zuschauer) mitvollziehen. Diese Pointe verweist – wie die selbstreflexive Wendung bei Müller – auf die Performativität des Textes: Mitwirken im Spiel und Verstehen seines (utopischen) Potentials gehen in eins.
3.1.5 Der Erzähler auf der Bühne: Inszenierungsbeispiele In Inszenierungen der Stücke wurden verschiedene Lösungen des postdramatischen Spiels entworfen, die zum Abschluss kurz skizziert werden sollen. Die theatralische Umsetzung der komplexen Spielmodelle hängt wesentlich vom
49 So der Untertitel des Stückes (Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 543). Diese Lesart lässt sich durch einen paratextuellen Hinweis stützen, durch die Widmung des Stückes „für S. (und zum Beispiel den Platz vor dem Centre Commercial du Mail auf dem Plateau von Vélizy)“ (545), die auf einen realen Platz (aus dem Umfeld des Autors) verweist – durch das „zum Beispiel“ jedoch zugleich wieder die semantische Offenheit des Spiels markiert.
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Umgang mit der Vermittlungsinstanz ab – und, so lässt sich aufgrund der vorgeschlagenen wirkungsästhetischen Deutung ergänzen, vom Umgang mit der produktiven Rolle des Rezipienten. Diese aktualisiert sich in der konkreten Theatersituation in einer (simultanen) Multiperspektive aller Mitwirkenden des Spiels (Regisseur, Darsteller, Zuschauer usw.). Die Uraufführung von Müllers Bildbeschreibung 50 fängt die wirkungsästhetische Multiperspektivität in Wiederholungen ein: Zunächst hört man den gesamten Text, von Müller selbst aus dem Off gesprochen. In der Folge tragen verschiedene Schauspieler zuvor selbstausgewählte Passagen des Textes vor 51 und zeigen dadurch ihr Verhältnis zum Spiel, eine Strategie, die sich – als produktiver Impuls – auf den Theaterzuschauer übertragen kann: Dieser ist durch die verschiedenen Blickwinkel zur Herstellung seines eigenen subjektiven Aufführungstextes herausgefordert – und kann diesen Vorgang (im Vergleich) reflektieren. Handkes stummes Stück bietet die Möglichkeit, die vermittelte Aufführung nachzustellen, also den Regietext zu inszenieren, eine Lösung, die Claus Peymanns Uraufführung wählt.52 Das Konzept funktioniert aufgrund der Komplexität, die das Stück bereits auf dieser Ebene hat (in der alle anderen Ebenen und Lesarten bereits angelegt sind):53 Indem das Spiel die vermittelte Aufführung wiedergibt, stellt sich dem Theaterzuschauer, schon aufgrund des disparaten Geschehens, der Auffälligkeiten und Brüche die Frage, welche Instanz hinter dem Spiel steht. Sein Blick wird also auf eine implizite Vermittlungsinstanz gelenkt. Durch die phantastischen Elemente, etwa das Auftreten Papagenos inmitten gewöhnlicher Passanten, kann er das Geschehen sogar als Blick auf die ‚Bühne‘ einer dichterischen Phantasie erfahren. Gleichzeitig ist er durch die semantische Offenheit des Spiels beständig auf sein eigenes Mittun verwiesen – und kann sich in einer selbstreflexiven Wende dieser Rolle bewusst werden. Eine dritte Möglichkeit wählt Friederike Heller in ihrer Inszenierung von Handkes Spuren der Verirrten (2006),54 das sich in vielerlei Hinsicht als Fort-
50 Eine knappe Schilderung der Uraufführung gibt Katharina Keim, Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 122. 51 Die Textauswahl der einzelnen Spieler findet sich im Programmheft: Heiner Müller, Bildbeschreibung. Text und Materialien. 52 Uraufführung bei den Wiener Festwochen 1992, Wiederaufnahme im Burgtheater 1994. Eine Beschreibung und vergleichende Analyse der Inszenierung gibt Petra Meurer, Theatrale Räume, S. 185–195. 53 Zur Kritik an Peymanns Konzept, das als vereinfachend gewertet wurde, vgl. Petra Meurer, Theatrale Räume, bes. S. 187 f. 54 Burgtheater im Akademietheater, Premiere am 6. Mai 2007.
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setzung von Die Stunde da wir nichts voneinander wußten lesen lässt. Sie inszeniert das Stück als Erzählspiel und teilt den Erzählertext auf verschiedene Rollen auf. Dadurch zeigt ebenfalls jeder Spieler sein Verhältnis zum Text – und zwar in Form eines kommentierten Spiels: Ein Vorgang wird beispielsweise gleichzeitig vorgeführt und erzählt (vom selben oder einem anderen Schauspieler). Die komplexe Vermittlungsstruktur wird also eingefangen, indem man auf der Bühne Schauspieler sieht, die Schauspieler spielen, die ein Stück von Peter Handke spielen. Der rezeptionsästhetische Akzent des Spiels (der Wechsel von Bühnentext und Handlungstext) wird erfasst, indem diese Schauspieler-Figuren immer wieder für Momente in ihr Spiel (eine Rolle) eintauchen und eine Episode unkommentiert darstellen – eine Dynamik, die vom Zuschauer mit vollzogen und, provoziert durch die ständigen Brüche, zugleich reflektiert werden kann.
3.2 Zitieren: Elfriede Jelineks Wolken.Heim. (1988) Wolken.Heim. (1988) ist Elfriede Jelineks erstes Diskurstheater-Stück. Es besteht bereits durchgehend aus jenen Sprachflächen, die inzwischen zum Markenzeichen der Autorin geworden sind:55 Der gut zwanzig Druckseiten umfassende Prosatext, dessen Titel Aristophanes’ „Wolkenkuckucksheim“ evoziert, bildet in 23, durch Leerzeilen getrennten Abschnitten einen Flickenteppich aus Zitaten. Das Material dieses postdramatischen Cento stammt aus Werken von „Hölderlin, Hegel, Heidegger, Fichte, Kleist und aus den Briefen der RAF von 1973–1977“ (158), die in einem nachgestellten Autortext als Quellen genannt sind. In den Mund gelegt sind die Zitate einem Kollektiv, das sich durchgehend in der ersten Person Plural artikuliert. In Inszenierungen wurde das Stück deshalb stets von einem Chor präsentiert. Der montierte Diskurs kreist um Heimat, Selbstbehauptung des Eigenen und Ausgrenzung alles Fremden. Signifikant ist die Sprechsituation ‚aus der Tiefe‘. Offenbar inszeniert Jelineks Stück einen Chor der Untoten, die aus dem Boden (der Geschichte) heraufsteigen: „Jetzt sind wir zuhaus und erheben uns ruhig“ (137). Von der Forschung zwar flächendeckend als „postdramatisch“ bezeichnet, wird dieses Stück jedoch – wie Jelineks Theaterästhetik allgemein – literaturgeschichtlich nicht kontextualisiert, sondern als singuläres Phänomen betrachtet. Dabei schreibt sich Jelinek gerade mit Wolken.Heim. offenbar ganz
55 Das Stück wird im Folgenden – mit bloßen Seitenangaben im Text – zitiert nach: Elfriede Jelinek, Neue Theaterstücke, S. 135–158.
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bewusst in die postdramatische Strömung und Traditionslinie ein. Stellt man ihr Stück in diesen Kontext, so lässt sich eine nahe ästhetische und konzeptionelle Verwandtschaft mit einem Stück wie Heiner Müllers Bildbeschreibung zeigen, mit dessen subjektivem Erzählertext die anonymen Sprachflächen auf den ersten Blick nicht allzu viel gemein haben. Aufzeigen lässt sich eine typisch postdramatische Transformation dramatischer Strukturmerkmale: Die monologische Sprachfläche ist auf verschiedenen Ebenen dialogisiert, so dass sich der dramatische Konflikt wie bei Müllers Bildbeschreibung verschiebt – etwa auf das Verhältnis zwischen dem Autor und seinem Material. Im Vergleich mit anderen postdramatischen Autoren wie Richard Foreman zeigt sich, dass Jelinek auch die subjektiven und selbstbezüglichen Tendenzen der Postdramatik auf spezifische Weise adaptiert. In diesem Zusammenhang muss vor allem die besondere Performativität von Wolken.Heim. betrachtet werden. Zunächst deutet in der Form dieses Prosatextes nichts darauf hin, dass es sich um einen Theatertext handelt: Der Diskurs des Wir ist nicht explizit als ‚Sprechtext‘ ausgewiesen, außerdem gibt es keinerlei Regieanweisung, die auf irgendeine Bühnenaktion hindeuten könnte. Es finden sich auch keine Theatermotive, wie sie in den bisher behandelten, als ‚erzählte Aufführungen‘ qualifizierten Prosatexten von Handke und Müller auftraten. Für einen Theatertext spricht lediglich der pragmatische Kontext seiner Entstehungs- und Aufführungsgeschichte: Wolken.Heim. entstand als Auftragsarbeit für das Bonner Theater, wo es im Rahmen eines Festivals Kleist und die Deutschen 1988 uraufgeführt wurde. Als Referenzinszenierung gilt Jossi Wielers Adaptation für sechs Schauspielerinnen, die er 1993 am Hamburger Schauspielhaus realisierte und die fälschlicherweise oft als Uraufführung bezeichnet wird. Sie wurde 1994 von der Zeitschrift Theater heute zur Inszenierung des Jahres gewählt.56 In der Forschung, in der Wolken.Heim. als postdramatischer Text par excellence gilt,57 wurde der spezifischen Performativität bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Lediglich Maja Sibylle Pflüger und Gerda Poschmann fra-
56 Zur Aufführungsgeschichte und zu den Auszeichnungen vgl. Pia Janke (Hg.), Werkverzeichnis Elfriede Jelinek, S. 94. 57 Diese Zuweisung wird gemeinhin durch die Absage an dramatische Strukturmerkmale begründet: Gerda Poschmann, rubriziert Wolken.Heim. unter „Überwindung der dramatischen Form“ (Der nicht mehr dramatische Theatertext, Kap. 3.5). Als postdramatisch in diesem Sinne weisen das Stück explizit auch die Studien von Evelyn Annuß (Elfriede Jelinek) und Dagmar Jaeger (Theater im Medienzeitalter) aus.
Zitieren: Elfriede Jelineks Wolken.Heim.
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gen nach der spezifischen Theatralität des Zitierverfahrens58 und nach den „Möglichkeiten seines ‚Funktionierens‘ im Theater“.59 Dabei stellt Poschmann die dominante Mündlichkeit der zitierten Quellen (Rede, Vorlesung, Drama, Lied und Gesang) heraus und analysiert Dynamik und Prozesscharakter des Zitierens;60 Zu Recht weisen beide Studien darauf hin, dass der Rezipient die genauen Quellen und den Grad ihrer Bearbeitung, vor allem unter den Bedingungen einer Theateraufführung, nur schwerlich erfassen kann.61 Die Forschung hat in einer akribischen „Nach-Lese-Arbeit“ (Gerda Poschmann) inzwischen wohl nahezu alle Zitate identifiziert 62 – auch die ‚verschwiegenen‘, etwa von Walter Benjamin und Paul Celan,63 die als leise ‚Gegenstimmen‘ den chauvinistischen Diskurs unterlaufen. Analysiert wurden vor allem die quantitativ dominierenden Hölderlin-Zitate, deren ‚hoher Ton‘ den gesamten Text rhythmisiert.64 Aus der Chronologie des zitierten Materials konnte außerdem eine plausible Gliederung des Textes abgeleitet werden: Nachdem in einem ersten Teil (Abschnitte 1 bis 8) vorwiegend Hölderlin und Hegel (der das Leitmotiv des „Bei sich selbst Seins“ [138] liefert) zitiert werden, wird mit Fichtes Reden an die Deutsche Nation ab Abschnitt 9 das sprechende Wir erstmals mit Deutschland in Verbindung gebracht
58 Maja Sibylle Pflüger sieht in der „Dialogozität“ von Jelineks intertextuellen Stücken ein spezifisch theatrales Verfahren und interpretiert den von Michail Bachtin entlehnten Begriff mit Jacques Derridas Dekonstruktion (Vom Dialog zur Dialogizität). Pflüger rekurriert in diesem Zusammenhang auf Derridas Theater-‚Metaphorik‘ (etwa in dem Begriff der „soufflierten Rede“), die eine spezifische Theatralität von Sprache annimmt (vgl. Maja Sibylle Pflüger, Vom Dialog zur Dialogizität, bes. S. 17). Die Spuren dieser Sprachkonzeption verfolgt sie dann in Jelineks Texten, deren spezifische sprachliche ‚Theatralität‘ sie herauszuarbeiten sucht (zu Wolken.Heim. vgl. Maja Sibylle Pflüger, Vom Dialog zur Dialogizität, S. 197–253). 59 Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 274–287, hier S. 277. 60 Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, bes. S. 282–284. 61 Vgl. Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 281 und Maja Sibylle Pflüger, Vom Dialog zur Dialogizität, S. 253. 62 Die umfassendste Rekonstruktion der Bezüge leistet Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek, S. 137– 241. 63 Vgl. Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek, S. 207–219. 64 Jelinek selbst hat Hölderlin in einem Interview als „Rhythmusgeber“ bezeichnet. Zitiert nach: Pia Janke, Werkverzeichnis Elfriede Jelinek, S. 96. Einen umfassenden Nachweis der Hölderlin-Bezüge erbringt Stefanie Kaplan, „Fern noch tönet der Donner“. Zur literarischen Transformation der Lyrik Friedrich Hölderlins in Elfriede Jelineks Wolken.Heim., [Diplomarbeit] Wien 2006. Download unter: www.univie.ac.at/jelinetz/images/4/49/Stefanie_Kaplan_Diplomarbeit. pdf. (letzter Zugriff: 3. April 2014).
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(„Deutsche, Deutsche, Deutsche“).65 Ein doppelter Zeitsprung erfolgt, wenn zunächst Heideggers Rektoratsrede einmontiert wird (ab Abschnitt 14) 66 und ab dem darauffolgenden Absatz mit den Briefen der RAF eine „neue Stimme“ 67 und ein aktuellerer Ton den Schlussteil bestimmen. Detailliert hat die Forschung die Zitierverfahren beschrieben und die Bearbeitungen des montierten Materials nachgewiesen: Das sprechende Wir eignet sich die fremden Texte an durch Ergänzungen, Auslassungen, Transformationen (vor allem der Possessivpronomina und Verben, deren Person und Numerus dem Wir-Diskurs angepasst werden), durch Inversionen und paronomastische Verschiebungen.68 Georg Stanitzek 69 hat die vielen Wiederholungen, die den Text durchziehen, als „Echo-Installation“ 70 gekennzeichnet, die als motivische „Schleifen“ 71 den Text intern dialogisieren. Auf der Basis der identifizierten Zitate rankt sich die Diskussion darum, welche Kriterien der Auswahl zugrunde liegen und warum das Zitatmaterial gerade in dieser Form bearbeitet wurde. Die Reihe der Prätexte erinnert an die Diskussion um deutsche „Meisterdenker“ (André Glucksmann) und ‚Meisterdichter‘ als geistige Wegbereiter des Dritten Reiches: Hegel und Fichte, Kleist und Hölderlin sind Autoren, die in diesem Zusammenhang immer wieder genannt wurden.72 Wolken.Heim. bietet damit ein weiteres Beispiel, wie zeitgenössische Debatten im postdramatischen Diskurstheater reflektiert werden; wiederum stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der außerlitera-
65 Auf diese Zäsur verweisen Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek, S. 161, und (ohne den FichteBezug zu berücksichtigen) Margarethe Kohlenbach, Montage und Mimikry. Zu Elfriede Jelineks Wolken.Heim. In: Elfriede Jelinek, hg. von Kurt Bartsch, Graz 1991, S. 121–153, hier S. 123. 66 Die Heidegger-Bezüge analysiert Andrea Geier, „Schön bei sich sein und dort bleiben“. Jelineks Zitierverfahren zwischen Hermeneutik und Antihermeneutik in Wolken.Heim und Totenauberg. In: Elfriede Jelinek. Tradition, Politik und Zitat, hg. von Sabine Müller und Cathrine Theodorsen, Wien 2008, S. 167–186. 67 Margarethe Kohlenbach, Montage und Mimikry, S. 124. 68 Eine systematische Analyse der ‚entstellenden‘ Zitierverfahren leistet am Beispiel der Hölderlin-Zitate Stefanie Kaplan, „Fern noch tönet der Donner“. 69 Georg Stanitzek, Kuckuck. In: Dirk Baecker, Rembert Hüser und Georg Stanitzek, Gelegenheit. Diebe. 3 x Deutsche Motive, Bielefeld 1991, S. 11–80. 70 Georg Stanitzek, Kuckuck, S. 62. 71 Dominant ist etwa die „Wir daheim-Schleife“ (Georg Stanitzek, Kuckuck, S. 31). 72 Es handelt sich um eine zur Entstehungszeit des Stückes besonders virulente öffentliche Debatte, an der sich etwa Autoren wie Alexander Kluge, Oskar Negt und Jürgen Habermas beteiligten. Kontrovers diskutiert wurde in diesem Zusammenhang die Frage, ob es sich wirklich um Wegbereiter oder nur um vom Nationalsozialismus missbrauchte, instrumentalisierte Autoren handelt.
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rischen Referenz und politischen Bedeutung des Zitat-Theaters. In den überwiegend politischen Interpretationen von Jelineks Stück wird ihr Zitierverfahren als Ideologiekritik durch Sprachkritik73 ausgewiesen. Dieser Lesart zufolge demonstriert Jelineks Zitatcollage die Kontinuität eines faschistischen und chauvinistischen Diskurses des Deutschen und verfolgt dessen Spuren in der Gegenwart.74 Umstritten ist jedoch die kritische Stoßrichtung: Soll der chauvinistische Diskurs des Wir, der aus Zitaten der ‚Meisterdenker‘ montiert ist, die Vorläufer-These bestätigen75 oder den Missbrauch der zitierten Autoren kritisieren? In diesem Zusammenhang ist auf die Vermitteltheit der Zitate aufmerksam gemacht worden.76 So verweist Jelinek in einer vorangestellten Danksagung (136) auf Leonhard Schmeisers Gedächtnis des Bodens. Dieser philosophische Essay aus dem Jahr 1987,77 der dem nationalen Mythos des deutschen Bodens nachgeht, zitiert zum Teil aus denselben Quellen wie Wolken.Heim. Somit könnte Jelineks Stück Hölderlin und Hegel möglicherweise nicht direkt, sondern bereits aus zweiter Hand wiedergeben.78 73 Vgl. die Argumentation von Margarethe Kohlenbach, Montage und Mimikry; Marlies Janz, Elfriede Jelinek, S. 123–133; Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 274–287. Neuere Beiträge knüpfen an diese Interpretation an, so Bärbel Lücke, Jelineks Gespenster. Grenzgänge zwischen Literatur, Politik und Philosophie, Wien 2007, S. 13–31, und Dagmar Jaeger, Theater im Medienzeitalter, S. 72–74. 74 Marlies Janz analysiert dieses Fortleben mit Bezug auf Roland Barthes’ Konzept der ‚Trivialmythen‘: Der „Prozeß der Trivialisierung und Stereotypisierung“ gebe sich in der musikalischen Sprache von Wolken.Heim. zu erkennen (Elfriede Jelinek, S. 130). In ihr sieht Janz „den ideologie- und diskurskritischen Gehalt des Textes“ (Marlies Janz, Elfriede Jelinek, S. 130). Auch für Bärbel Lücke „stellt Elfriede Jelinek faschistisch-rassistische Tendenzen der Gegenwart […] in eine lang zurückreichende chauvinistisch-faschistische Geistestradition, die schließlich zum Holocaust führte“ (Jelineks Gespenster, S. 14). Für Evelyn Annuß offenbart das zitierende Wir ein verdrängtes Trauma (Zwangsleben und Schweigen in Elfriede Jelineks Wolken.Heim. In: Sprache im technischen Zeitalter, 2000, H. 153, S. 32–49; Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek). 75 Diese Frage lenkt den Blick auf das ‚entstellende‘ Zitierverfahren: Georg Stanitzek sieht in ihm vorgeführt, wie Hölderlins Lyrik dem „Wir daheim“ unterworfen werde (Kuckuck). Ähnlich argumentiert Gerda Poschmann, die das Zitierverfahren „die gewaltsame Eliminierung der Intertextualität durch die Unterwerfung prinzipiell mehrdeutiger Sprache unter einen einzigen Kontext“ demonstriert (Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 285). Vgl. auch Marlies Janz, Elfriede Jelinek, S. 124. Für Margarethe Kohlenbach, ist Jelineks ideologiekritische Stoßrichtung jedoch wirkungslos: Die Linie ‚von Hegel zu Hitler‘ funktioniere nur, indem man den zitierten Texten Gewalt antue (Montage und Mimikry). 76 Für Andrea Geier sind etwa die Hölderlin-Zitate durch Heideggers Hölderlin-Interpretation perspektiviert und ideologisch ‚vereinnahmt‘ („Schön bei sich sein und dort bleiben“). 77 Leonhard Schmeiser, Das Gedächtnis des Bodens. In: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, 1987, H. 10, S. 38–56. 78 Zu Schmeisers Essay und den Zitatübereinstimmungen mit Wolken.Heim. vgl. ausführlich Maja Sibylle Pflüger, Vom Dialog zur Dialogizität, S. 216–242.
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Der Kopf als Bühne. Subjektives Erzähltheater
Jelineks Zitierverfahren wurde als Ausdruck postmoderner Autorschaft gelesen 79 und mit Blick auf dekonstruktivistische 80 und diskurstheoretische81 Theorien interpretiert. Spezifisch postdramatische Züge dieses intertextuellen Spiels sind jedoch bisher ebenso wenig konturiert worden wie Jelineks Bezugnahmen auf die postdramatische Traditionslinie.82
3.2.1 Eine Heiner-Müller-Hommage Die folgende Äußerung von Elfriede Jelinek belegt kurz vor der Entstehung von Wolken.Heim., dass ein entscheidender Impuls von Heiner Müllers Bildbeschreibung ausging: Ich habe nach dem Lesen von Heiner Müllers Bildbeschreibung plötzlich dieses, auch mein Unbehagen an Dialogen bemerkt. Man müßte vielleicht an eine andere Art von Stückpartituren denken, die nicht mehr dialogisch funktionieren, wo man sich die Dialoge erst herausarbeiten muß. […] Wenn ich je wieder etwas mache für die Bühne, dann eher in dieser Richtung; prosaähnliche Texte.83
79 Andrea Geier, die in ihrer Jelinek-Interpretation hermeneutische und antihermeneutische Ansätze zu vermitteln sucht, erkennt in der Vermitteltheit der Zitate eine Reflexion auf postmoderne Konzeptionen von Autorschaft („Schön bei sich sein und dort bleiben“). 80 Maja Sibylle Pflüger interpretiert den Text mit Derridas Konzept der „Soufflierten Rede“ (Vom Dialog zur Dialogizität, S. 197–253). Als Umsetzung von Derridas Sprachphilosophie liest auch Bärbel Lücke das Stück (Jelineks Gespenster, S. 13–31), um in der Folge selbst eine dekonstruktivistische Parallel-Lektüre vorzuschlagen (S. 33–44) – durch „Aufpfropfung“ zweier Derrida-Texte. Ihr Ansatz vermischt die Gegenstands- und die Beschreibungsebene und verstellt, indem er dekonstruktivistischen Motiven mit dekonstruktivistischen Methoden beizukommen sucht, den Blick auf eine mögliche (ironische) Reflexion dieser Bezüge. Auf sie weist jedoch zu Recht Konstanze Fliedl hin: In einer Diskussion mit Bärbel Lücke liest sie Jelineks Ulrike Maria Stuart nicht als „Inszenierung der Dekonstruktion“, sondern als „Inszenierung des Dilemmas der Dekonstruktion“ (In: Pia Janke (Hg.), Elfriede Jelinek: „Ich will kein Theater“. Mediale Überschreitungen, Wien 2007, S. 84). 81 Nicole Gageur liest Wolken.Heim. als „Abbild des von Foucault beschriebenen historischpolitischen Diskurses und seiner Transformationen“ (Elfriede Jelineks Wolken.Heim als Abbild des von Foucault beschriebenen historisch-politischen Diskurses und seiner Transformationen. In: Mythos und Krise in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von Bogdan Mirtschev u. a., Dresden 2004, S. 161–171). 82 Auf die Inspiration durch Heiner Müller verweist lediglich Jürgen Schröder, sieht diese postdramatische Filiation mit Jelinek jedoch in eine Sackgasse gelangen („Postdramatisches Theater“ oder „neuer Realismus“?, S. 1104). Dagmar Jaeger, die beide Autoren in einer Studie zum „postdramatischen Theater“ im „Medienzeitalter“ exemplarisch behandelt, geht auf mögliche Einflüsse und intertextuelle Bezüge nicht ein (Theater im Medienzeitalter). 83 Zitiert nach: Jürgen Schröder, „Postdramatisches Theater“ oder „neuer Realismus“?, S. 1104.
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Mit Wolken.Heim. realisiert sie dieses Programm. Formal lässt sich Jelineks Stück in die Reihe des dialoglosen Diskurstheaters stellen. Wie Handkes Publikumsbeschimpfung ist es ein reines Sprechstück – es radikalisiert jedoch diesen Ansatz, indem es ganz ohne Regieanweisung auskommt, also keinerlei Bühnenaktion entwirft. Die Performanz ist damit vollkommen in die Sprache verlagert. Außerdem ist der dialoglose Diskurs sowohl formal als auch motivisch und konzeptionell an Heiner Müller angelehnt. Jelinek schreibt ihrem Stück eine intertextuelle Müller-Hommage ein, die von der Forschung bisher nicht bemerkt wurde: Jelineks „Untote“ (138 u. ö.), ihre aus dem „Gedächtnis des Bodens“ (136) sprechenden Wiedergänger, evozieren Müllers „Theater der Auferstehung“.84 In der Bildbeschreibung fokussiert Müller dieses Programm auf das zentrale Motiv des „Bodens“, das Jelinek wiederum zu einem Leitmotiv von Wolken.Heim. macht. Bei Müller ist es verbunden mit der bedrohlichen Frauengestalt, die aus dem „Boden“ wächst und deren Mantel vom „Grundwasser“ durchnässt ist.85 Der unsichtbare Untergrund des Bildes wird durch die „Wanderung der Toten im Erdinnern“ 86 und ihre drohende Wiederkehr gekennzeichnet und lässt sich als Bild einer traumatischen kollektiven Erinnerung deuten, die buchstäblich mit aller Macht an die Oberfläche drängt (vgl. Kap. 3.1 dieser Arbeit). Auch bei Jelinek wachen die Toten im Erdinnern: „Und doch, zur Ruhe kommen wir nicht im Boden“ (144). Ihr Auftauchen aus dem Boden wird in Wolken.Heim. in vielen Variationen evoziert: „Vor uns liegen wir, Untote, im Staub. Und kommen wieder hervor aus dem Boden“ (144).87 Die Wucht des ‚Ausbruchs‘, die Müllers Bildbeschreibung in eine Explosions- und Erdbebenmetaphorik fasst,88 erscheint auch bei Jelinek: „Der Boden, in dem wir liegen, schwankt, ein furchtbarer Schlag durchdröhnt ihn. Wir kommen heraus!“ (146).89
84 Heiner Müller in einem Brief an den Bühnenbildner Erich Wonder. In: Erich Wonder, Raum-Szenen/Szenen-Raum, Stuttgart 1986, S. 62. Zitiert nach: Günther Heeg. In: Heiner Müller Handbuch, S. 91. 85 Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Müller, Shakespeare Factory 1, S. 8 und 10. 86 Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Müller, Shakespeare Factory 1, S. 11. Vgl. auch die „schrumpfende Fleischbank unter dem Boden“ (S. 12). 87 Vgl. auch: „Lebe droben, o Vaterland, wir, hier unten, achten auf dich und stoßen die Schätze des Bodens mit unsern müden Füßen ans Licht“ (S. 145). 88 Vgl. Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Müller, Shakespeare Factory 1, S. 12: „wenn nach der Umsiedlung der Atemluft das Erdbeben sie durch die Haut des Planeten sprengt.“ 89 Evelyn Annuß verweist auf Jelineks Zitat des Grimmschen Märchens vom eigensinnigen Kind, dessen Ärmchen immer wieder aus dem Grab wächst, um von der Mutter wiederholt gezüchtigt zu werden („Warum wächst ihr die Hand aus dem Grab?“ [144]). Annuß stellt außer-
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Müllers „Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen dramatischen Struktur“ 90 findet also ein ‚Echo‘ in Jelineks Zitatcollage. Wie Müller kleidet sie den dramatisierten Erinnerungsprozess in eine „prosaähnliche“ Form, die auch die Idee (postdramatischer) Strukturen, aus denen „man sich die Dialoge erst herausarbeiten muß“ (s. o.), umsetzt. In Wolken.Heim. ist der dramatische Dialog abgelöst von einer internen Dialogisierung des Textes: Das dialogische Verhältnis zwischen dem sprechenden Wir und den von ihm geäußerten Zitaten spiegelt sich in den Bearbeitungen beziehungsweise Entstellungen, mit denen sich die Sprechenden ihr Sprachmaterial aneignen. Dieser konfliktgeladene – und dadurch dramatische – Dialog entspricht dem Verhältnis zwischen dem beschreibenden Betrachter und dem Bild in Heiner Müllers Bildbeschreibung. Jelineks Wolken.Heim. scheint außerdem Heiner Müllers Bildbeschreibung fortzusetzen: Denn während die Wiederkehr der Untoten bei Müller aus der Beobachterperspektive geschildert ist, lässt Jelinek die Auferstandenen selbst sprechen – so als würde Müllers Beobachter von den Geistern, die er rief, nun direkt angesprochen.
3.2.2 Dialoge und Konflikte Jelineks Stück präsentiert den ‚Sprechakt‘ des Zitierens als dramatischen Konflikt: Auf verschiedenen Ebenen finden sich Dialoge, die man „erst herausarbeiten muß“ (s. o.). Um die Performativität zitierenden Sprechens genauer zu kennzeichnen, sei zunächst mit dem zweiten Abschnitt des Textes ein prägnantes Beispiel betrachtet: Regt sich ein Sturm, wird das Jahr kalt, dann geht das Licht über unser Haupt, wir sind bei uns. Wo lebt Leben sonst? Schön bei sich sein. Wie wenn am Feiertage, das Feld zu sehn, ein Landmann geht, des Morgens, wenn aus heißer Nacht die kühlenden Blitze fielen die ganze Zeit und fern noch tönet der Donner. Wir schaudern vor den andren. Wir führen uns ebene Wege. Wir weichen nicht aus, denn wir gehören uns. In sein Gestade
dem die Verbindung her zur Rezeption des Märchens in Oskar Negts und Alexander Kluges Geschichte und Eigensinn, die es allegorisch auf die RAF beziehen (Zwangsleben und Schweigen in Elfriede Jelineks Wolken.Heim, S. 41). Auch in Müllers Bildbeschreibung lässt sich bereits ein möglicher Hinweis auf das Märchen – und seine Deutung als Wiederkehr des verdrängten (kollektiven) Traumas – finden in dem „BÖSEN FINGER, der von den Toten in den Wind gehalten wird“ (Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Müller, Shakespeare Factory 1, S. 12). 90 Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Müller, Shakespeare Factory 1, S. 14.
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wieder tritt der Strom, und frisch der Boden grünt. Schön bei sich sein und bleiben, und es trinken himmlisches Feuer jetzt die Erdensöhne und kommen zu uns ins öde Haus. Es gibt uns. Es gibt uns. Wir sind allein, aber schön bei uns. Des Vaters Strahl, der reine, versengt uns nicht und tieferschüttert, die Leiden des Stärkeren mitleidend, bleibt in den hochherstürzenden Stürmen des Gottes, wenn er uns naht wenn er uns naht wenn er uns naht. Wir sind bei uns zuhaus. (137 f.)
Mit dem vierten Satz des Abschnitts beginnt ein längeres Zitat von Friedrich Hölderlins Feiertagshymne, deren erste vier Verse zunächst, in Prosa übertragen, wortgetreu wiedergegeben werden („Wie wenn am Feiertage, das Feld zu sehn / Ein Landmann geht des Morgens, wenn / Aus heißer Nacht die kühlenden Blitze fielen / Die ganze Zeit und fern noch tönet der Donner“).91 Doch es bleibt nicht beim wörtlichen Zitieren. Eine wesentliche Veränderung liegt ja bereits in der Transformation von Versen in Prosa. Die weiteren Zitate aus der Feiertagshymne werden dann so signifikant bearbeitet, dass man von einem ‚entstellenden‘ oder ‚unzuverlässigen‘ Zitieren sprechen kann. Verändert werden sie durch Kontamination beziehungsweise durch Kombination mit anderen Quellen: In die Verse der Hymne werden andere Textsegmente eingeschoben, etwa das aus Hegels Geistphilosophie entlehnte Bei-sich-Sein,92 das – zu „Schön bei sich sein und bleiben“ (137) verfremdet – zwischen zwei Verspaare der Feiertagshymne geschoben ist: zwischen „In sein Gestade wieder tritt der Strom / Und frisch der Boden grünt“ (V. 5 f.) und „Und daher trinken himmlisches Feuer jetzt / Die Erdensöhne […]“ (V. 54 f.). Verändert werden in der Folge außerdem die Personalpronomina, die der wir-Form der Sprecher angeglichen werden: Aus Hölderlins „Des Vaters Strahl, der reine, versengt es nicht“ (V. 63) wird bei Jelinek „Des Vaters Strahl, der reine, versengt uns nicht“ (138). Liegt hier bereits ein deutlich sinnentstellender Eingriff vor (Bezugswort bei Hölderlin ist „das Herz“ [V. 66 bzw. V. 61: „reinen Herzens“]), verschärft sich diese Tendenz, wenn in der Folge ein Personalpronomen nicht nur ausgetauscht, sondern einfach ergänzt wird: Statt die Ankunft des in „hochherstürzenden Stürmen“ (V. 65) sich ankündigenden Gottes mit dem einfachen „wenn er nahet“ (V. 66) zu imaginieren, beziehen Jelineks Sprecher das Geschehen auf sich und ergänzen: „wenn er uns naht.“ (138) Die interpunktionslose Wiederholung „wenn er uns naht wenn er uns naht“ (138), die das Sprechen litanei-
91 Die Hymne wird im Folgenden mit Versangaben zitiert nach: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 239–241. Eine detaillierte Aufschlüsselung der Hölderlin-Zitate leistet Stefanie Kaplan, „Fern noch tönet der Donner“. Zu diesem Abschnitt vgl. v. a. die tabellarische Darstellung auf S. 21: Der Anfang des Absatzes kombiniert demnach Zitate aus Hölderlins An Eduard und Die Liebe. 92 Zu den Hegel-Bezügen vgl. Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek, S. 168–174.
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haft erscheinen lässt, untermalt zusätzlich die verfremdende Aneignung. Die Wiederholungen (vgl. auch „Es gibt uns. Es gibt uns.“ [138]) wirken zudem wie verzweifelte Selbstbeschwörungen. Das Scheitern der Aneignung zeigt sich in einer elliptischen Syntax, die vor Hölderlins komplexen Sperrungen und Inversionen zu kapitulieren scheint – und sich in die Wiederholung flüchtet. Offengelegt wird durch diese Beispiele der Mechanismus von Zitieren: Ein Segment wird einem Herkunftskontext entnommen und in einen neuen eingefügt. Seine Bedeutung wird von diesem Zielkontext, in dem es nun auftritt, mitbestimmt oder gar modifiziert. Die entstellten Zitate in Jelineks Wolken.Heim. tragen die deutlichen Spuren dieser Aneignung. Das dergestalt ausgestellte gewaltsame Zitieren wird zudem ironisch kommentiert: Denn die Splitter fremder Rede sollen sich ausgerechnet in einen Heimat-Diskurs fügen, mit dem das Eigene, die Identität beschworen werden. Leitmotivisch behauptet das sprechende Wir sein ‚Bei-sich-(selbst)-Sein‘ und ‚zuhause Sein‘. Doch die Heimatbeschwörung in fremder Rede wirkt paradox. In einer Selbstbehauptung durch Zitat widersprechen sich Inhalt und Ausführung, wodurch ein performativer Widerspruch in all seiner Dramatik ‚aufgeführt‘ wird: Das sprechende Wir redet beständig von dem ihm Eigenen und hat doch keine eigene Sprache. Zugleich grenzt es in einer chauvinistischen Rede alles Fremde aus – „Wir sind wir und scheuchen von allen Orten die anderen fort“ (139) –, wobei es jedoch zugleich seine Identität nur mit Hilfe von fremdem Material konstruieren kann. Der Konflikt zwischen Identität und Fremdheit spitzt sich noch zu, wenn das Stück chorisch gesprochen wird: Denn durch simultanes Sprechen, das einen bindenden Effekt hat, erscheinen die Sprechenden als homogene Gruppe. Sie behaupten eine kollektive Identität, untermauern diese (performativ) durch gemeinsames, simultanes Sprechen und stellen sie zugleich durch die benutzte fremde Sprache infrage. Das dramatische Zitierverfahren zeigt also nicht nur die (gewaltsame) Aneignung durch die Sprecher,93 sondern zugleich die – widerständige – Fremdheit der verwendeten Zitate. Diese Tendenz wird aus rezeptionsästhetischer Perspektive besonders deutlich, die weitere implizite Dialoge aufzeigen kann: zwischen dem Wir und den Zuschauern sowie zwischen diesen und einer übergeordneten Vermittlungsinstanz.
93 Diesen Aspekt stellt Gerda Poschmann besonders heraus: Das ‚theatrale‘ Zitierverfahren demonstriere „die gewaltsame Eliminierung der Intertextualität durch die Unterwerfung prinzipiell mehrdeutiger Sprache unter einen einzigen Kontext“ (Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 285).
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Beim einmaligen Hören in einer Aufführungssituation kann man unmöglich alle Zitate identifizieren,94 sondern allenfalls mehr oder weniger Bekanntes aufschnappen. Wahrnehmen wird man hingegen die auffallende Homogenität des Textes, die durch den rhythmusgebenden ‚hohen Ton‘ von Hölderlins Dichtung, das „Sendungsbewußtsein“ 95 aller Prätexte sowie durch den leitmotivischen chauvinistischen Heimatdiskurs entsteht. Allein die stilisierte, poetische Sprache voller Pathos mag in einem Gegenwartsdrama befremdend wirken. Diese stilistische Verfremdung erinnert an Brechts Antigonemodell 1948, das sich ebenfalls des hohen Tons aus Hölderlins Übersetzung bediente. Auffallen wird dem Hörer außerdem, dass der banale chauvinistische Heimatdiskurs („Wir sind bei uns zuhaus“ [138]; „Wir sind bei uns daheim“ [140], „Wir sind hier. Dort sind die andern“ [141]) mit dem fremden, befremdenden Material kontrastiert. So überträgt er sein Befremden auch auf die im Chor sprechenden Körper, die, ‚verloren‘ und abgelöst von der ihnen fremden und verfremdeten Sprache, auf der Bühne stehen. Distanzierende Verfremdung prägt auch die Bühnensituation: Im Diskurstheater wird der Zuschauer von der Bühne aus direkt angesprochen; angesichts einer chorischen Ansprache stellt sich die Frage, ob man als Zuschauer in dieses „Wir“ eingeschlossen ist, wie es etwa die zitierte Rektoratsrede von Martin Heidegger suggeriert, deren Wir-Form den Sprecher und seine Zuhörer vereint. Diese Einheit ist in Jelineks bearbeitetem Zitat durch eine Wiederholung besonders penetrant hervorgehoben, die, als wäre ein Sprung in der Platte, an diesem Wir hängenbleibt: Wissenschaft und deutsches Schicksal müssen zumal im Wesenswillen zur Macht kommen. Und sie werden es dann und nur dann, wenn wir wenn wir wenn wir dem deutschen Schicksal in seiner äußersten Not standhalten. (154) 96
Eine Zugehörigkeit zu diesem selbstbezogenen Wir wird der Rezipient von Wolken.Heim. – schon angesichts des befremdlichen Pathos und hohen Tons – zunächst wohl zurückweisen. Doch bedenkt er unter dem Aspekt, dass er mög-
94 Vgl. Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 281, wo Poschmann die Wirkung des Textes auf der Bühne diskutiert. 95 Elfriede Jelinek in einem Zeitungsinterview 1990. Zitiert nach: Pia Janke (Hg.), Werkverzeichnis Elfriede Jelinek, S. 96. 96 Vgl. Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 16.1: Veröffentlichte Schriften 1910–1976. Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, hg. von Hermann Heidegger, Frankfurt a. M. [1933] 2000, S. 108. Jelinek entkontextualisiert und verallgemeinert die Aussage, indem sie den ersten Teil des Konditionalsatzes streicht, in dem Heidegger das Wir in einer Apposition als „Lehrerschaft und Schülerschaft“ konkretisiert.
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licherweise dazugehört, das Gesagte genauer, wird er vielleicht auf kollektiv Verdrängtes gestoßen: Die evozierten Traditionszusammenhänge sind nicht mehr unmittelbar präsent, doch rühren die chauvinistischen und faschistischen Äußerungen, deren fremder Ton zunächst Distanz erzeugt, möglicherweise am verdrängten kollektiven Trauma des Dritten Reichs, das sich in jedem Zuschauer spiegeln kann: Hier ließe sich aus rezeptionsästhetischer Sicht der politische Gehalt des Stückes ausmachen, sein – im Sinne des epischen Theaters – Aufmerksamkeit, Kritik und Mitwirken befördernder Ansatz. Ein Dialog entstünde dann zwischen dem Sprachmaterial und dem Zuschauer, der sein Befremden in (Wieder-)Erkennen und produktive Kritik umwandeln kann. Ob ein verdrängter chauvinistischer Diskurs unter der (sprachlichen) Oberfläche noch fortlebt, müsste sich dann auch an der Reaktion der Zuschauer erweisen. Die Zitatmontage fordert den Rezipienten auf vielfältige Weise zur Mitarbeit auf und leistet damit einen Beitrag zur postdramatischen Aktivierung des Zuschauers: Die Struktur von Wolken.Heim. folgt weitgehend einer assoziativen Logik, die sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetisch funktioniert. So lässt sich die Gewitter-Metaphorik der Feiertagshymne assoziativ mit dem Ausbruch der sprechenden Untoten aus dem Boden, der sie „wieder ausspuckt“ (141) verbinden, wobei Hölderlins Donner entsprechend personalisiert wird: „Fern noch tönt unser Donner“ (141). Der Assoziationsspielraum, den die offene Textmontage bietet, zeigt sich paradigmatisch im Titel: In der Forschung ist über die Bedeutung des trennenden Punktes spekuliert worden.97 Unweigerlich ergänzt man das fehlende „Kuckuck(s)“ zu „Wolkenkuckucksheim“.98 Daran anknüpfend lässt sich das berühmte Volkslied Kuckuck Kuckuck, ruft’s aus dem Wald assoziieren, das ein weiteres Leitmotiv des Stückes aufruft – den (deutschen) Wald. Mit ihm endet auch das Stück: „Wachsen und werden zum Wald“ (158),99 so lautet der elliptische Schlusssatz. Wenn das offene Stück sich dergestalt als Provokation des Zuschauers lesen lässt, so stellt sich auch die Frage, wer hinter der verfremdeten Zitatcollage steht. Schon der performative Widerspruch zwischen dem Inhalt der Rede und ihrer Form als Zitat lässt eine ironische Vermittlungsinstanz vermuten, welche
97 Für Evelyn Annuß (Zwangsleben und Schweigen in Elfriede Jelineks Wolken.Heim; Elfriede Jelinek), bildet die (verschwiegene, verdrängte) Shoah das geheime Zentrum des Stückes, so dass sie die Leerstelle im Titel paradigmatisch liest als „Kryptonym, als Zeichen des Verschweigens, für historische Schuld“ (Zwangsleben und Schweigen in Elfriede Jelineks Wolken.Heim, S. 42). 98 Vgl. Georg Stanitzek, der unter dem Titel „Kuckuck“ das gesamte Stück analysiert. 99 Das assoziative Spiel lässt sich noch weiter treiben, wie die Interpretation von Evelyn Annuß zeigt, die über das Wald-Motiv eine assoziative Verbindung zwischen Wolken.Heim und Stammheim herstellt (Zwangsleben und Schweigen in Elfriede Jelineks Wolken.Heim, S. 36).
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die Figuren hinter ihrem Rücken entlarvt. Ein komischer oder tragikomischer Effekt entsteht, da den unbeirrt ihre Litanei fortsetzenden Sprechern dieser Widerspruch überhaupt nicht bewusst zu sein scheint. Eine vermittelnde Instanz wird außerdem dort greifbar, wo die Zitate sich wechselseitig kommentieren und die Umdeutung des ursprünglichen Sinns augenfällig wird, etwa wenn – mit markanter Ellipse – Hölderlins berühmtes „Komm, ins Offne, Freund“ 100 zitiert und mit der unmittelbar anschließenden Aufforderung „komm in die Erde!“ (151) zum Todesbild verdreht wird. Durch den Kontext wird das – metaphysisch – „Offne“ zu einem bloßen Loch im Boden konkretisiert. Die in diesem ironischen Zug entlarvte Borniertheit der Sprecher wird endgültig deutlich, wenn sie auf die Möglichkeit eines in „hochherstürzenden“ (138) Stürmen herannahenden Gottes ein lapidares „Wir sind bei uns zuhaus“ (138) folgen lassen – so als seien sie dadurch gegen jede mögliche Erschütterung gefeit. Durch diese dramatische Ironie kommuniziert die Autorinstanz – hinter dem Rücken ihrer Figuren – mit dem Zuschauer und zeigt die ideologiekritische Stoßrichtung ihrer Zitatcollage an. So stellt sich Wolken.Heim. in die Reihe von Brechts und Müllers Kommentartheater, das durch das ausgestellte – intern kommentierte – Zitierverfahren virtuos fortgeschrieben wird. Das dramatische Zitieren lässt sich zudem poetologisch lesen und in eine spezifische Traditionslinie postdramatischer Selbstreflexion stellen.
3.2.3 Subjektivierung: Eine „Reise durch Jelineks Kopf“ In Jelineks Wolken.Heim. lässt sich die typisch postdramatische Selbstbezüglichkeit nachweisen, die hier durch das intertextuelle Verfahren bedingt ist: Denn es handelt sich um einen literarischen Text ‚auf zweiter Stufe‘, der nicht auf die außerliterarische Welt, sondern auf andere Literatur verweist. Der nachgestellte Paratext reflektiert dieses Verfahren, indem er die „verwendeten Texte“ bekanntgibt: Sie sind „unter anderem von: Hölderlin, Hegel, Heidegger, Fichte, Kleist und aus den Briefen der RAF von 1973–1977“ (158). Diese Zeilen stehen am Anfang einer Reihe vergleichbarer Paratexte, die Jelinek regelmäßig ihren Stücken beifügt, um deren spezifische Machart zu markieren. Häufig meldet sich die Autorin in einer Danksagung selbst zu Wort – wie im folgenden Beispiel aus ihrem Stück Bambiland (2003):
100 Vgl. Friedrich Hölderlin, Der Gang aufs Land. In: Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 276 f., hier V. 1: „Komm! ins Offene, Freund! […]“.
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meinen Dank an Aischylos und die ‚Perser‘, übersetzt von Oskar Werner. Von mir aus können Sie auch noch eine Prise Nietzsche nehmen. Der Rest ist aber auch nicht von mir. Er ist von schlechten Eltern. Er ist von den Medien.101
Jelineks Sprachflächen sind stets aus fremdem Material zusammengesetzt, das durch spezifische Bearbeitungen dem berühmten ‚Jelinek-Sound‘ einverleibt wird. Als seine Geburtsstunde kann das Zitatstück Wolken.Heim. gelten, an dem sich exemplarisch die dramaturgische Funktion dieser Selbstbezüglichkeit bestimmen lässt. Sie steht, wie gezeigt werden soll, in Zusammenhang mit einer typisch postdramatischen Subjektivierung: In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Mühlheimer Theaterpreises 2011 bezieht sich Jelinek auf eine Kritik, die gegen ihr intertextuelles Verfahren erhoben wurde. Offensiv wendet sie einen Vorwurf ins Positive und ruft das „Parasitärdrama“ 102 aus. Mit Blick auf ihr preisgekröntes Stück Winterreise (2011), welches das Reisemotiv strukturell in ein Spiel aus Bewegung und Stillstand übersetzt, erläutert sie die parasitäre Methode: Wie immer verwende ich bloß einzelne Zitate, um dem Stillstand etwas wie Türen einzubauen, Dreh- und Angelpunkte aus einer fremden Sprache, nicht Fremdsprache, an die ich mich dann wieder mit meiner eigenen Sprache andocke.103
Beschrieben wird die auch aus Wolken.Heim. bekannte Dynamik, die durch den dramatischen Konflikt zwischen Eigenem und Fremdem in Gang gehalten wird. Das Verfahren wird hier produktionsästhetisch erläutert: Zitate, an die man sich ‚andocken‘ kann, treiben den eigenen Text voran. Das eigene Schreiben speist seine Energie aus dem Dialog mit anderen Stimmen. Ihre Stücke stellen dieses Verfahren selbstbezüglich aus. So wie in Müllers Bildbeschreibung und Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten Erzählprozesse auf die Bühne kommen, inszeniert Jelinek ihr Zitierverfahren als Bühnenereignis. Dass damit auch bei ihr eine Subjektivierung des Theatertextes einhergeht, kann am Beispiel von Wolken.Heim. ein bisher vernachlässigter Prätext aufdecken, der das Leitmotiv des ‚Bei-sich-Seins‘ variiert. Es handelt sich um das Gedicht Wer ist denn schon (1982) von Elfriede Gerstl, einer engen Freundin Jelineks und Avantgardeautorin aus dem Umkreis der Wiener Gruppe. Jelinek stellt das Gedicht als Motto ihrer Salzburger Anthologie Jelineks Wahl (1998) voran.104
101 Elfriede Jelinek, Bambiland. Babel. Zwei Theatertexte, Reinbek bei Hamburg 2004 (‚Danksagung‘ zu Bambiland). 102 Elfriede Jelinek, Das Parasitärdrama. In: Theater heute. Jahrbuch 2011, S. 96–101. 103 Elfriede Jelinek, Das Parasitärdrama. Zitiert nach: http://www.elfriedejelinek.com/. Rubrik: Zum Theater (letzter Zugriff: 23. September 2014) 104 Elfriede Jelinek (Hg.), Jelineks Wahl. Literarische Verwandtschaften, München 1998.
Zitieren: Elfriede Jelineks Wolken.Heim.
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In einem Fragenkatalog spielt Gerstls Gedicht die Mehrdeutigkeit von ‚Beisich-Sein‘ durch, das neben der Prägung durch Hegels Geistphilosophie auch psychologische (‚man selbst sein‘ und ‚bei Sinnen sein‘) sowie konkrete (‚zuhause sein‘) Bedeutungen haben kann: Wer ist denn schon wer ist denn schon bei sich wer ist denn schon zu hause wer ist denn schon zu hause bei sich wer ist denn schon zu hause wenn er bei sich ist wer ist denn schon bei sich wenn er zu hause ist wer ist denn schon bei sich wenn er zu haus bei sich ist wer denn105
Jelineks Anthologie, die sie für eine Reihe von Lesungen bei den Salzburger Festspielen 1998 zusammenstellte, versammelt Texte von Autoren wie Robert Walser, Georg Trakl, Friedrich Hölderlin, Sylvia Plath und Konrad Bayer. Die poetologischen Essays, mit denen Jelinek die einzelnen Abteilungen der Anthologie einleitet, sind mit – teilweise variierten – Versen aus Gerstls Gedicht überschrieben: „nicht bei sich und doch zu hause“, „wer ist denn schon bei sich zu haus“, „wer ist denn schon bei sich“, „wer ist denn schon zu hause“, „wer denn dann“.106 Liest man das Gedicht als Prätext zu Wolken.Heim., mit dem es das Leitmotiv teilt, so eröffnet sich neben der politischen eine allgemeinere, psychologische oder anthropologische Lesart: In den rhetorischen Wer-Fragen von Gerstls Gedicht wird das Identitätsproblem, sich selber fremd zu bleiben, ins Allgemeinmenschliche gehoben. In den poetologischen Essays ihrer Anthologie gibt Jelinek diesem Identitätsproblem zudem eine sprachkritische Bedeutung. Sie bezieht die Fremdheit – einer von außen kommenden Sprache – auf die (eigene) Autorschaft. Die Frage, ob ein Dichter „Herr“ seiner Sprache sei, beantwortet sie mit Blick auf das Eigenleben der Worte, „die dann überraschend schnell allein gehen können, und ihr Schöpfer rennt schreiend hinter ihnen her“.107 105 Elfriede Jelinek (Hg.), Jelineks Wahl, S. 11 (ED in: Elfriede Gerstl, Wiener Mischung, Wien 1982). Das Gedicht wird abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Literaturverlags Droschl. 106 Elfriede Jelinek (Hg.), Jelineks Wahl, S. 11, 25, 85, 135, 197. Den Bezug dieser Überschriften zu Wolken.Heim. stellt bereits Andrea Geier her und definiert das „‚Nicht bei sich Sein‘ als konstituierendes Moment von Autorschaft“ („Schön bei sich sein und dort bleiben“, S. 170). Auf Gerstls Gedicht geht sie in diesem Zusammenhang jedoch nicht ein. 107 Elfriede Jelinek (Hg.), Jelineks Wahl, S. 12.
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Pointiert hat sie diese Verbindung in einem Interview zusammengefasst: Also, nicht bei sich und doch zuhause, das geht auf ein Gedicht von Elfriede Gerstl zurück: wer ist denn schon bei sich, wer ist denn schon zuhause. Was ist dieses Bei-sichSein? Autoren, die immer ich schreien und sich damit meinen, interessieren mich nicht. Mich interessieren Autoren, die die Brüchigkeit dieses Ichs kennen und zwar ich sagen, aber sich damit nicht meinen, sondern etwas anderes, das nicht das Es ist und auch nicht das Über-Ich ist, sondern alles, was in den Autor einfließt. Und da würde ich mich selbst dazuzählen.108
Der performative Widerspruch zwischen Selbstbehauptung und fremder Rede, der das konfliktgeladene Zitieren in Wolken.Heim. prägt und dort vor allem politisch gedeutet werden kann, erhält mit dem Bezug zu Gerstls Gedicht eine subjektive Dimension, die sich poetologisch wenden lässt. Auch in Wolken.Heim. hat Jelinek ein Ich versteckt, das dieses ‚ironische‘ Verhältnis zu sich, in dem man „ich“ sagt, sich aber nicht meint, reflektieren könnte: Inmitten des kollektiven Monologs meldet sich am Ende des achten Abschnitts unvermittelt ein sprechendes Ich: „und welchen Gott faßt, denk ich, der darf sinken“ (145). Dieses wörtliche Zitat aus Heinrich von Kleists Die Familie Schroffenstein (II, 2) ist jedoch wieder fremde Rede – eines fremden Dichters und einer literarischen Figur (Sylvester). Noch zweimal äußert sich das sprechende Ich – mit Bezug zu einem angesprochenen Du – im folgenden neunten Abschnitt (145), um dann wieder im Wir zu verschwinden. Erst in den Abschnitten 15 und 16 taucht es noch einmal, ebenso punktuell, wieder auf – mit Zitaten aus den Briefen der RAF („Fragst Du mich im allgemeinen, wie der Kampf enden wird? Ich antworte: mit dem Sieg. Fragst Du mich aber […]“ [150]) und mit einem Hölderlin-Zitat, den Versen 5 f. von Der Gang aufs Land: „Trüb ist es heut, es schlummern die Gäng und die Gassen, und fast will mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit“ (151).109 Aus diesem instabilen Ich spricht jedoch hier genauso wenig Hölderlin selbst wie eine literarische Figur. Die Stimme gehört auch keiner Erzählinstanz und offenbar auch nicht der Autorin Elfriede Jelinek. Dennoch scheint es so, dass der gesamte Diskurs – in seiner Homogenität – von einer einzigen Verlautbarungsinstanz herrührt, die alles, „was in sie einfließt“, wiedergibt. So lässt sich die Zitatmontage Wolken.Heim., die ihr eigenes bearbeitendes Verfahren
108 Elfriede Jelinek und Christine Lecerf, L’Entretien, Paris 2007. Zitiert nach der deutschen Übersetzung, die auf der Homepage des Fernsehsenders Arte zugänglich ist: http:// www.arte.tv/de/706682,CmC=706788.html (Letzter Zugriff: 1. April 2014). 109 Friedrich Hölderlin, Der Gang aufs Land. In: Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 276 f., V 5 f.: „Trüb ists heut, es schlummern die Gäng’ und die Gassen und fast will / Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.“
Zitieren: Elfriede Jelineks Wolken.Heim.
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demonstriert, als „Reise durch Jelineks Kopf“ lesen (wie der letzte Abschnitt der Anthologie betitelt ist). Der zitierende Dialog mit fremdem Material ist als eine Form des Selbstgesprächs lesbar. Diese Reise durch den Kopf einer Autorinstanz bringt alles auf die Bühne: den Konflikt mit einem Material, das aus ihr spricht, und ein zwanghaftes und traumatisches Erinnern, das alles Material aus der Perspektive einer historischen Erfahrung bearbeitet. In späteren Stücken, besonders in ihrer aktuellen Winterreise (2011), verbindet Jelinek die Erinnerung an das Dritte Reich mit autobiografischen Bezügen zu ihrer – tragischen – Familiengeschichte. Doch auch in Wolken.Heim. erscheint der kollektive Monolog bereits subjektiv gefärbt. Indem Jelineks Wolken.Heim. Einblick in den Entstehungsprozess des Stücks und die kreativen Bewusstseinsprozesse seiner Autorin gibt, ähnelt es konzeptionell einem poetologischen ‚Autodrama‘ wie Richard Foremans Pandering to the Masses (1975). Damit schreibt sich Jelinek in die subjektiven und selbstreflexiven Tendenzen des Postdramas seit den 1970er Jahren ein, zu denen auch Müllers Bildbeschreibung und Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten gehören. Durch die offene Frage, wie das auf vielen Ebenen dialogisierte ‚Selbstgespräch‘ Wolken.Heim. inszeniert werden kann – und welches (postdramatische) Theaterverständnis ihm zugrunde liegt –, kommt ein weiterer Dialog in den Blick: der Konflikt zwischen der Erzählinstanz und der Bühne.
3.2.4 Jelinek inszenieren Jelineks performatives Zitierverfahren, das ein indirektes Sprechen und die Fremdheit der Sprache akzentuiert, hat bereits eine strukturelle Affinität zur Bühne: Denn fremde Sprache (und nicht die eigene Rede) im Munde zu führen, ist Merkmal jedes Schauspielers, der eine Rolle spielt. Diese theatrale Grundsituation spitzt Jelinek in ihrem Theater der Sprachflächen zu. Ihr Theaterverständnis wird deutlich in dem programmatischen Text Sinn egal. Körper zwecklos (1997),110 der in erster Linie eine Abhandlung über das Verhältnis von Autor und Schauspieler ist – und auch das implizite Theaterkonzept von Wolken.Heim. erhellen kann. Jelineks grundsätzlich antitheatrale Haltung („Ich will kein Theater“) klingt hier an im Verhältnis zu den Schauspielern: „Ich habe schon oft gesagt, daß ich kein Theater von ihnen will.“ 111 Die scheinbar paradoxe „Herausforderung“ an die Darsteller lautet dann: Sie sollen etwas
110 Elfriede Jelinek, Sinn egal. Körper zwecklos, S. 7–13. 111 Elfriede Jelinek, Sinn egal. Körper zwecklos, S. 8.
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zeigen, das „nicht Wirklichkeit, aber auch nicht Theater ist“ und uns „etwas bestellen […], eine Nachricht die Anfänger, eine Botschaft die Fortgeschrittenen“.112 Diese Forderung erinnert an Handkes Publikumsbeschimpfung, welche die Sprecher zum „Sprachrohr des Autors“ macht. Auch die Darsteller eines Jelinek-Stückes spielen keine Rolle (also kein traditionelles Theater), sprechen aber auch nicht als sie selbst (zeigen also auch nicht die ‚Wirklichkeit‘), sondern sprechen einen literarischen Text, den sie als Nachricht einer (fiktiven) Autorinstanz übermitteln – und realisieren damit ein postdramatisches Diskurstheater. Jelinek spitzt diese Bühnensituation noch zu, indem sie das Verhältnis zwischen Autorinstanz und Schauspielern auf der Bühne als Konflikt gestaltet. Zunächst reflektiert sie den Effekt, den die Sprecher eines fremden Diskurses auf der Bühne erzeugen: Da der gesprochene Text keiner Figur gehört, die sie verkörpern könnten, aber auch nicht ihr eigener ist, entsteht ein befremdlicher Bruch zwischen den Sprechern und ihrer Rede. Die ‚herrenlose‘ Sprache wird durch diese Verfremdung ebenso auffällig wie der Schauspieler, der sich hinter keinem Rollentext mehr verstecken kann. Die Spieler werden zu Requisiten: „Wie Mikadostäbe“ werden sie in den Raum geworfen „diese Männer und Frauen, denen noch Fetzen von Heidegger, Shakespeare, Kleist, egal wem, aus den Mundwinkeln hängen“.113 Als Zitat-Theater betrachtet, inszenieren Jelineks Sprachflächen einen Kampf zwischen einer Erzählinstanz, die als (fiktive) Autorfigur auftritt, und den darstellenden Schauspielern, denen die fremde Rede untergeschoben wird: Aber da sie ja zu mehreren, zu vielen sind und mich mühelos ausknocken und auszählen können, muß ich sie verwirren, disparat machen, ihnen ein fremdes Sagen unterschieben, meine lieben Zitate, die ich alle herbeigerufen habe, damit auch ich mehr werden und ausgeglichener punkten kann als bisher. (9)
Ihr Zitierverfahren motiviert Jelinek mit dieser theatralen Konkurrenz, in der sie zur „Mehrgängerin“ (9) ihrer selbst werden und den postdramatischen Konflikt an mehreren Fronten zugleich – gegen die Schauspieler auf der einen und die zitierten Autoren auf der anderen Seite – ausfechten muss. Im dramatischen Ringen mit den Schauspielern müssen sich „die Nachbarskinder Fichte, Hegel, Hölderlin“ der Autorstimme „fügen, da gibts nichts, sonst schneide ich ihnen von ihrem Gestell was ab.“ 114 Der Programmtext reflektiert, durchaus selbstironisch, wie Jelineks Zitatspiel als Theater-Spiel funktioniert.
112 Elfriede Jelinek, Sinn egal. Körper zwecklos, S. 9. 113 Elfriede Jelinek, Sinn egal. Körper zwecklos, S. 8. 114 Elfriede Jelinek, Sinn egal. Körper zwecklos, S. 9.
Zitieren: Elfriede Jelineks Wolken.Heim.
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Doch wie hat man sich eine theatrale Realisierung der Sprachflächen vorzustellen? Ein Stück wie Wolken.Heim., das aus lauter fremdem Material montiert ist, hat selbst den Status eines offene Materials, das einem Regisseur jegliche Freiheit zur Bebilderung einräumt und ihn zum Co-Autor macht: „Es ist egal wie man ihn realisiert.“ (Regieanweisung zu Die Kontrakte des Kaufmanns). Zugleich ist diese demonstrierte Freiheit auf paradoxe Weise eingeschränkt durch die dominierende Präsenz einer Vermittlungsinstanz in Jelineks Theaterstücken. Sie äußert sich vor allem im Sprachstil sowie in der Dichte und oftmals im schieren Umfang der Textflächen: Im spezifischen ‚Jelinek-Sound‘ rollt eine Sprachlawine heran, gegen die ein Regisseur erst einmal ankommen muss. Die scheinbare Gleichgültigkeit der Autorin gegenüber der Umsetzung ihrer Texte („Das ist mir sowas von egal!“ 115) wird zudem unterlaufen durch die Ich-Aussage einer (fiktiven) Autorinstanz, die sich in einigen Stücken mit Kommentaren, Feststellungen oder einer Prophezeiung wie „Und so wird es auch sein“ 116 zu Wort meldet. Kommen Jelineks Stücke auf die Bühne, tritt mit dem Regisseur ein weiterer Konfliktpartner ins Spiel.117 Er steht vor der Frage: „Wie kann man machen sollen, was man will?“ (Nicolas Stemann).118 Viele Jelinek-Inszenierungen spielen mit der spezifischen Kommunikationssituation der subjektivierten Sprachflächen, indem sie die von Jelinek kreierte Autorfigur (die ja keineswegs mit der Autorin identisch ist) auf der Bühne auftreten lassen. Dabei rekurrieren sie auf das äußere Erscheinungsbild, mit dem sich Elfriede Jelinek in der Öffentlichkeit zur Kunstfigur stilisiert (und hinter deren postdramatischer Oberfläche die ‚wahre‘ Person verschwindet): Frank Castorf ließ in seiner Inszenierung von Raststätte oder sie machens alle (1995) eine drastische Porno-Puppe mit Jelinek-Zöpfen auftreten.119 Den direkten Dialog mit der eingeschriebenen Vermittlungsinstanz suchte Einar Schleef, als er in seiner Marathon-Inszenierung des Sportstücks (1998) plötzlich selbst auf die Bühne kam, um die „Autorin“ ironisch verzweifelt um Beistand zu bit-
115 Zitiert nach: Nicolas Stemann, Das ist mir sowas von egal! Wie kann man machen sollen, was man will? Über die Paradoxie, Elfriede Jelineks Theatertexte zu inszenieren. In: Theater der Zeit Jahrbuch, 2006, S. 62–68. 116 Elfriede Jelinek, Drei Theaterstücke, S. 209. 117 Die grundsätzliche Bedeutung des Regisseurs im Theater der Postmoderne analysiert Jens Roselt, Postmodernes Theater. Subjekt in Rotation. In: Räume der literarischen Postmoderne. Gender, Performativität, Globalisierung, hg. von Paul Michael Lützeler, Tübingen 2000, S. 147– 166. 118 Nicolas Stemann, Über die Paradoxie, Elfriede Jelineks Theatertexte zu inszenieren. 119 Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere: 26. Januar 1995.
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ten.120 Auch Nicolas Stemann sitzt im Schlussbild seiner Uraufführung von Ulrike Maria Stuart 121 (2006) selbst auf der Bühne: Auf dem Kopf eine verrutschte Jelinek-Perücke, liest er, solipsistisch in sich selbst verkrochen, in monotonem Österreichisch aus dem Textbuch vor. Diese Beispiele offenbaren eine postdramatische Regiepraxis, in der nicht ein Text, sondern die Auseinandersetzung mit einem – letztlich unspielbaren – Text inszeniert wird. Paradigmatisch für diese Tendenz sind Nicolas Stemanns Jelinek-Inszenierungen: Sein kongeniales Konzept besteht darin, den Text mit den Mitteln des Theaters und in seiner ganz spezifischen Regiehandschrift zu überspielen – und ihn dadurch zur Geltung zu bringen. Auf Jelineks offene Texturen antwortet er mit einer Fülle von Ergänzungen, Umstellungen und Wiederholungen. Der Text wird zerredet und geschrien, mit Musik unterlegt und zersungen. Die szenischen Lösungen sind bei Improvisationen während der Probenarbeit entstanden und tragen deutlich diese Spuren:122 Die ganze Inszenierung, etwa seine Uraufführung der Kontrakte des Kaufmanns (2009),123 wirkt selbst wie eine Probe. Eine Fülle an Requisiten aus dem Probenraum – zu Stemanns bevorzugten „Spielzeugen“ 124 gehören Textbücher, Mikrofone, Videokamera, Musikinstrumente, Masken –, wird zumeist kontrastiv zum Text eingesetzt und fördert diesen spielerischen Dialog mit der Vorlage. Es entsteht eine offene Aufführung, die den Zuschauer im Sinne der postdramatischen Wirkungsästhetik herausfordert: Während der Aufführung von Die Kontrakte des Kaufmanns konnte das Publikum kommen und gehen, wie es wollte – denn auch der Text kann ja „an jeder beliebigen Stelle anfangen und aufhören“.125
3.3 Agieren: Rainald Goetz’ Krieg (1986) Als Mitte der 1980er Jahre das Postdrama mit Heiner Müllers Bildbeschreibung seinen experimentellen Höhepunkt erreichte, debütierte mit Rainald Goetz (* 1954) ein Dramatiker einer jüngeren Generation: Sein rebellisches Antitheater steht im Zeichen des Punk und aktualisiert die spezifische Körperlichkeit und Performanz dieser Bewegung. Damit fügt er dem heterogenen Feld der
120 Burgtheater Wien, Premiere: 23. Januar 1998/Langfassung: 14. März 1998. 121 Thalia Theater Hamburg, Premiere: 28. Oktober 2006. 122 Einen Einblick in Stemanns Probenarbeit gibt Bernd Stegemann, Spiele der Selbstüberlistung. 123 Schauspiel Köln, Premiere: 16. April 2009. 124 Bernd Stegemann, Spiele der Selbstüberlistung, S. 19. 125 Elfriede Jelinek, Drei Theaterstücke, S. 209.
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zeitgenössischen Postdramen eine weitere Stimme hinzu. Indem Goetz postdramatische Mittel adaptiert und auf signifikante Weise transformiert, schreibt er sich zudem bewusst in die Tradition des Diskurstheaters ein: Als politischer Autor stellt er sich in eine Linie mit Bertolt Brecht und Heiner Müller, schließt mit seinen ästhetischen Provokationen jedoch auch an den jungen Peter Handke an. Goetz’ Stücke bündeln postdramatische Mittel wie in einem Brennglas, weshalb das prägnante Beispiel seiner Krieg-Trilogie, das den Hauptteil meiner Studie beschließen soll, auch dazu genutzt wird, ein erstes historisches und systematisches Resümee zu ziehen.
3.3.1 Neue Aktionskunst: Rainald Goetz als Punk-Autor Zur Punk-Performance geriet bereits Goetz’ Auftritt auf dem Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, mit dem er 1983 schlagartig berühmt wurde: Während der Lesung seines Prosatextes Subito ritzte er sich die Stirn mit einer Rasierklinge und ließ das Blut, während er unbeirrt weiterlas, auf die Manuskriptseiten tropfen. Die demonstrierte Verbindung von Kunst und physischer Präsenz, die sich auch im gelesenen Text widerspiegelt („Ohne Blut logisch kein Sinn“ 126), knüpft demonstrativ an die Performance- und Aktionskunst der Neoavantgarden an. Sie gleicht dem Körpereinsatz der Wiener Aktionisten, Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, aber auch dem extremen physischen Performances der siebziger Jahre wie Marina Abramovićs Selbstverletzungen. Die Aktionskunst-Zitate wurden von der zeitgenössischen Kritik sogleich registriert, über ihren Stellenwert – als bloß epigonaler Aufguss oder aber reflektierte Auseinandersetzung, die auch die Aporien (neo-)avantgardistischer Kunst aufdeckt – gingen die Meinungen indes auseinander.127 Goetz’ Klagenfurter Lecture-Performance zitiert aber noch eine andere Tradition: Provozierend hält der selbstreflexive poetologische Text dem etablierten Literaturbetrieb (der „Klagenfurter Branchenscheiße“) und dem ritualisierten Wettlesen und Kritisieren den Spiegel vor: „Denn es geht dort ja nicht um die fade Literatur, sondern um die lustige Hüftenschußkritik.“ 128 Der rebellische Gestus erinnert an die kalkulierten Provokationen des jungen Peter Handke – an seine legendäre Wortmeldung bei der Gruppe 47 in Princeton und das
126 Rainald Goetz, Hirn, Frankfurt a. M. 1986, (edition suhrkamp 1320) S. 9–25, hier S. 16. 127 Vgl. zu dieser Debatte den KLG-Artikel von Rainer Kühn, Rainald Goetz, bes. S. 2 f. Goetz’ Nähe zur bildenden Kunst und Performance-Bewegung analysiert ausführlich Achim Stricker, Text-Raum, S. 267–299. 128 Rainald Goetz, Hirn, S. 17.
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Anti-Theater der Publikumsbeschimpfung. Handke, der Beat-Poet der Sechziger mit Pilzkopf, wird in den Achtzigern beerbt vom Punk-Dichter Rainald Goetz mit blondierter Stehfrisur und Nietenarmband. Die Beschimpfung wird zur wütenden Hasstirade radikalisiert, unversöhnlich und anarchisch: „Lieber geil angreifen, kühn totalitär roh kämpferisch und lustig […]. Ich brauche keinen Frieden, weil ich habe den Krieg in mir.“ 129 Nach seinem Roman Irre (1983), der motivisch eng mit der Subito-Lesung verbunden ist, debütierte Goetz 1986 als Dramatiker: Die Stücke der Trilogie Krieg 130 – Heiliger Krieg, Schlachten und Kolik – wurden in der Spielzeit 1987/ 1988 am Schauspiel Bonn uraufgeführt, das unter der Intendanz von Peter Eschberg zu einem Zentrum für experimentelle Gegenwartsdramatik aufstieg, an dem beispielsweise auch Elfriede Jelineks Wolken.Heim. in der darauffolgenden Spielzeit seine Uraufführung erlebte.131 1988 erhielt Krieg den Mühlheimer Dramatikerpreis. Mit der Trilogie stellte sich Goetz gleichfalls in Traditionen der Performance-Kunst und politischen Dramatik seit den sechziger Jahren. Wie eine Handke-Hommage wirkt hier der Auftritt eines Mädchenchors, der eine ‚Theaterbeschimpfung‘ anstimmt und gegen den „Wahrheitsvernichterort“, „Dummheitsort“ und „Schreiort“ wettert (114–117).
3.3.2 Transformationen postdramatischer Mittel In der Forschung werden Goetz’ Theaterexte zwar flächendeckend als „postdramatisch“ oder „nicht mehr dramatisch“ gekennzeichnet,132 wie sich Goetz 129 Rainald Goetz, Hirn, S. 21. 130 Rainald Goetz, Krieg. Stücke, Frankfurt a. M. 1986, (edition suhrkamp 1320). Die Trilogie wird im Folgenden mit Seitenangaben im Text nach dieser Ausgabe zitiert. 131 Heiliger Krieg wurde am 10. Oktober 1987 uraufgeführt, Regie: Hans Hollmann; Schlachten am 19. März 1988, Regie: Günther Gerstner, und Kolik am 15. Mai 1988, Regie: Hans Hollmann (vgl. KLG). 132 Vgl. stellvertretend Jürgen Schröder, „Postdramatisches Theater“ oder „neuer Realismus“?, hier bes. S. 1081 und S. 1108 f. In ihrer systematischen Studie zum nicht mehr dramatische[n] Theatertext klassifiziert Gerda Poschmann Goetz’ Festung als „Unterwanderung der dramatischen Form“, die sie als spezifische Art ihrer „kritische[n] Nutzung“ ausweist (Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 211–227); das Schlussstück Katarakt wird als „Sonderfall monologischer Theatertext“ behandelt (S. 238–245). Achim Stricker analysiert Goetz’ „TextAusstellungen“ im Rahmen einer Studie, die sich gleichfalls den Strategien nicht-dramatischer Theatertexte widmet und ihre intermedialen Bezüge zur Bildenden Kunst aufdeckt (Text-Raum, S. 267–299). Auch Norbert Otto Eke, der die Begriffe „postdramatisch“ oder „nicht mehr dramatisch“ zwar konsequent meidet, kennzeichnet Goetz’ Dramen dennoch als „(Ab-)Brüche“ mit traditionellen Theatermodellen und hält grundlegend fest, dass seinen Stücken „mit den Kategorien eines literarischen Theaterbegriffs kaum mehr beizukommen ist“ (Welt-Kunst-Beobach-
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jedoch in eine postdramatische Tradition stellt – und dabei auf spezifische Weise Mittel des epischen Theaters adaptiert –, wurde bisher nicht untersucht. Im Folgenden sollen wesentliche Merkmale von Goetz’ Dramatik skizziert werden anhand von Beispielen aus den drei Teilen von Krieg. Heiliger Krieg, das erste Stück der Trilogie, spiegelt die Mode der Revolutionsstücke in einem Stimmengewirr voll überbordender intertextueller Bezugnahmen. Das Eröffnungsstück entwirft so ein buntes Gesellschaftspanorama, das die Leitthemen der Trilogie – Gewalt, Krieg, Revolution und Kunst – in unterschiedlichen Kontexten und Tonlagen durchspielt. Sie werden im Mittelstück in die privaten Schlachten einer Künstler-Familie übertragen. Den Schlussstein setzt das Monologdrama Kolik, in dem ein namenloser „Mann“ sich, im Krieg mit sich selbst, um den Verstand redet und zu Tode trinkt. Die Trilogie folgt einer Bewegung der Reduktion und Konzentration: vom Stimmengewirr (Teil 1) über die Dialoge einer Kleinfamilie (Teil 2) zum Monolog (Teil 3), von der gesellschaftlichen ‚Totalen‘ über das Gruppenbild im „Inneren des Hauses“ (136) zum (Selbst-)Porträt eines einzelnen Mannes in seiner „Kammer“.133 Goetz fügt seine Theaterstücke zumeist in größere Werkkomplexe ein: So ist seine Prosasammlung Hirn (1986), in die auch der Klagenfurt-Text Subito aufgenommen wurde, als „Schrift Zugabe zu Krieg“ 134 definiert. Hieraus spricht eine spezifische Konzeption des Theatertextes, der im Sinne von Brechts epischem Theater und dessen Transformation durch Heiner Müller als Material definiert ist. Sie mündet auch bei Goetz in eine radikale Offenheit gegenüber der theatralischen Umsetzung. Anlässlich einer Neuinszenierung von Krieg notiert Goetz in seinem Tagebuchroman Abfall für alle (1999): „Deswegen war es mir immer egal, was die Regisseure mit dem TEXT machen, ich war immer für Kürzen, Streichen, Neumontieren, scheißegal.“ 135 Gegen überkom-
tung, S. 52). Als vorläufiger Höhe- und Grenzpunkt dieser Entwicklung gilt Goetz’ letztes Stück Jeff Koons, das Jürgen Schröder als „offene Textpartitur“ kennzeichnet, „der man am ehesten noch den Charakter eines skizzenhaften Filmskripts zusprechen kann“ („Postdramatisches Theater“ oder „neuer Realismus“, S. 1108). 133 Als „Weg von außen nach innen“ beschreibt Norbert Otto Eke diese Dynamik (Welt-KunstBeobachtung, S. 60). 134 Rainald Goetz, Hirn, S. 2 (Vorbemerkung des Autors). Auch Goetz’ zweite Stück-Trilogie Festung (Stücke, Frankfurt a. M. 1993, [edition suhrkamp 1793]) wird über den eigentlichen Dramentext hinaus ‚gedehnt‘: Festung ist der Obertitel einer dreibändigen Publikation, welche neben den Theaterstücken die voluminöse Materialiensammlung 1989 (Frankfurt a. M. 1993, [edition suhrkamp 1794]; drei Teile, insgesamt knapp 1600 Seiten) und einen Prosaband Kronos mit neun teilweise mit Fotos bebilderten „Berichten“ umfasst (Rainald Goetz, Kronos. Berichte, Frankfurt a. M. 1993, [edition suhrkamp 1795], hier S. 1–3). 135 Rainald Goetz, Abfall für alle, Frankfurt a. M. 1999, S. 744.
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mene Vorstellungen von Werktreue setzt der Postdramatiker Goetz auf den produktiven Dialog oder besser: auf den Konflikt zwischen Text und (kongenialer) Umsetzung, zwischen Autor und Regisseur. So fährt er fort: „Wenn nur der GEIST der Sache erfaßt ist, und der Regisseur dann GEGEN den aninszeniert, gegen den sein eigenes Ding setzt.“ 136 Goetz’ Auffassung deckt sich hier mit dem Verhältnis anderer postdramatischer Autoren zur Realisierung ihrer Texte, etwa mit Jelineks „Es ist egal, wie man ihn realisiert“.137 Diese programmatische Offenheit lässt sich nunmehr als eine Grundtendenz postdramatischer Textästhetik aufweisen. Doch ebenso typisch ist, auch bei Goetz, dass diese Offenheit durch die dominante Stimme einer Vermittlungsinstanz spannungsvoll unterlaufen wird. Goetz adaptiert die Grundsituation des ‚neuen‘ epischen Theaters, das sich mit Wirth als „Diskurstheater“ beschreiben lässt.138 Krieg ersetzt den Dialog zwischen Figuren über weite Strecken durch ein Ansprechen des Publikums. Ausgreifende Monologe (Kolik) und chorische Passagen (Heiliger Krieg) prägen seine Trilogie. Das Stimmengewirr, das seine Stücke inszenieren, wirkt wie ein – homogener – Kollektivtext, der scheinbar willkürlich und austauschbar auf verschiedene Sprecher verteilt wird. Ein Hang zum abstrakten Theoretisieren – in philosophischen, soziologischen und kunsttheoretischen Exkursen – verstärkt diese Tendenz. Sprache und Sprechen werden – in der Nachfolge von Handkes Sprechstücken und parallel zu Jelineks Sprachflächen – demonstrierend ausgestellt: Wiederholungen, Sprachspiele, elliptische Sätze, Neologismen, sperrige Komposita wie „Hirnlosenzusammenrottungsort“ und „Icherrichtungskraftakt“ (115 und 232) tendieren zur dramatischen Kunstsprache. Die typisch postdramatische Gattungstransformation markiert Goetz durch gebrochene Zeilen, welche die Sprache ans Lyrische annähern. Sprache wird musikalisiert, Sinn ‚zerredet‘, so dass auch in Goetz’ Diskurstheater die Referenz häufig zugunsten des Klangs zurücktritt. In der Forschung wurden Begriffe der Popmusik verwendet, um den spezifischen Rhythmus der Texte zu kennzeichnen: Die Wiederholungsstrukturen wurden etwa mit der DJ-Technik des „Scratchen“,139 die gebrochenen Zeilen unterschiedlicher Länge mit den „Pendelausschlägen eines Mischpultes“ 140 verglichen.
136 137 349, 138 139 140
Rainald Goetz, Abfall für alle, S. 744. Elfriede Jelinek, Die Kontrakte des Kaufmanns. In: Jelinek, Drei Theaterstücke, S. 207– hier S. 209. Vgl. Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs. Rainer Kühn, Rainald Goetz. In: KLG 2004. Achim Stricker, Text-Raum, S. 286.
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Markiert wird so das gegenwärtige Sprechen, das „Live-Wort des Schauspielers“.141 Goetz knüpft demonstrativ an die Theaterexperimente der NeoAvantgarden an, welche, wie die Wiener Gruppe oder die amerikanischen Avantgardetruppen, die Präsenz des Spiels markieren. Dieser Anspruch wird in Heiliger Krieg explizit, wenn der „Chor der jungen hübschen Mädchen“ (53) einsetzt: Jetzt Jetzt Jetzt Jetzt Jetzt Jetzt Jetzt Jetzt Jetzt (53)142
Der Dreizeiler, der typografisch an Konkrete Poesie erinnert,143 liest sich wie eine Essenz der Mittel, mit denen bereits Handkes Publikumsbeschimpfung Präsenz simuliert: Die Unmöglichkeit, das „jetzt, und jetzt, und jetzt“ in der Welt sich ereignende Sterben auf der Bühne darzustellen, wird dort mit der Unmittelbarkeit des Sprechens „Wir sprechen nur davon. Wir sprechen jetzt davon“ konfrontiert.144 „Sprechen wir“ lautet der mehrmals beschwörend wiederholte Imperativ bei Goetz (49). Doch wie bereits Handke die Spieler zwar unmittelbar ‚hier und jetzt‘ sprechen lässt, ihnen dabei aber einen fremden Text in den Mund legt, sie zum „Sprachrohr des Autors“ 145 macht, wird das Indirekte auch bei Goetz markiert – zunächst durch eine Fülle intertextueller und intermedialer Verweise. Wie postdramatische Intertextualität das Moment der Wiederholung betont und es gegen die Unmittelbarkeit der Aufführung ‚ausspielt‘, wird bei Goetz besonders augenfällig:
141 Rainald Goetz, Abfall für alle, S. 744. Die Zeitkonzeptionen der Trilogie Krieg untersucht Martin Buchwaldt, „… wenn ihr nicht wißt von der Zeit, wißt ihr nichts von der Bühne“. Zeitkonzeptionen und Zeitstruktur in „Krieg“ von Rainald Goetz. In: Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, hg. von Christopher Balme, Erika Fischer-Lichte und Stephan Grätzel, Tübingen und Basel 2003, S. 257–266. Vgl. Martin Buchwaldt, Ästhetische Radikalisierung. Theorie und Lektüre deutschsprachiger Theatertexte der achtziger Jahre, Frankfurt u. a. 2007, S. 177–198. 142 Der Begriff spiegelt auch den Anspruch der internationalen politischen Theateravantgarden: Unter dem programmatischen Titel Theater der Erfahrung (hg. von Jens Heilmeyer und Pea Fröhlich) erschien die erste deutschsprachige Anthologie der amerikanischen Off-OffBroadway-Bewegung. 143 Eine konzeptionelle Nähe besteht etwa zu Gerhard Rühms Typocollage jetzt (1954/55). In: Rühm, Gesammelte Werke, Bd. 2.2: Visuelle Poesie, hg. von Michael Fisch, Berlin 2006, S. 128. 144 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 35. 145 Peter Handke, Die Theaterstücke, S. 18.
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Unter dem Titel Heiliger Krieg präsentiert das Eröffnungsstück von Goetz’ Trilogie einen postmodernen Bilderbogen aus fünf Teilen oder Akten, die sich wiederum in 68 Kurzszenen gliedern: In einer Ästhetik, die an das ‚Zappen‘ zwischen Fernsehprogrammen erinnert,146 wird eine Fülle heterogener Motive, Bilder, Themen und Anspielungen montiert: Französische Revolution, sozialistische Arbeiterbewegung, Studentenproteste von 1968 und RAF-Terror der siebziger Jahre (vgl. die Figur „Stammheimer“) werden verknüpft mit religiösen Motiven und gespickt mit zeitgenössischer Umgangssprache („Tschüßdenn, tschüßchen, tschüß“ [19]) sowie Stammtischparolen der 1980er Jahre. Angereichert wird das Ganze mit einer unübersichtlichen Fülle intertextueller Verweise, die direkt oder indirekt die Themen Krieg, Schlacht und Tod evozieren: Die historische und stilistische Spanne der literarischen Anspielungen reicht hier von Homers Illias und dem Gilgamesch-Epos (vgl. 121) über Matthias Claudius’ und Franz Schuberts Der Tod und das Mädchen, dessen Incipit einen Szenentitel bildet (105), und Georg Büchners Danton und Woyzeck (vgl. die Szene Lichter Buden Volk, 124) bis hin zu Ernst Jüngers Stahlgewittern.147 Aus dem Rahmen fällt Karl Krolows markante Genitivmetapher „Algebra der reifen Früchte“,148 die Goetz ebenfalls in einem Szenentitel zitiert. Der Kontext kann Aufschluss geben über die spezifische Technik von Goetz’ Zitatmontage. Der Titel lautet bei Goetz vollständig: übrigens ganz was anderes gestern im dings im fernsehn Algebra Der Reifen Früchte (110). Quelle des Zitats, das demnach im Zufallsprinzip des ‚Zapping‘ gewählt wurde, ist offenbar ein Fernsehbeitrag, der womöglich 1985 anlässlich des 70. Geburtstags Karl Krolows (oder der Verleihung des Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste im selben Jahr) ausgestrahlt wurde: Der Kontrast des etwas antiquiert und ‚geziert‘ anmutenden Verses („ganz was anderes“) zur Kriegs- und Gewaltrealität, die täglich die Medien bestimmt, wird in der heterogenen Zitatmontage abgebildet. Die verstreuten intermedialen Verweise reflektieren das Verhältnis zu einer außertheatralen Wirklichkeit, die bereits medial vermittelt ist. Auf diesen Aspekt, der für die Dramaturgie des Stückes entscheidend ist, wird noch genauer eingegangen.
146 Rainer Kühn verwendet den Begriff des zapping, um die Ästhetik des Materialbandes 1989 zu kennzeichnen (Rainald Goetz. In: KLG 2004, S. 6). Norbert Otto Eke, verwendet den Begriff mit Blick auf Goetz’ zweite Stück-Trilogie Festung (1993): „‚[G]ezappt‘ wird auch durch die deutsche Geschichte“ (Welt-Kunst-Beobachtung, S. 61). 147 Der Szenentitel Immer unten reinhaun, Herr Fähndrich, oben fällt der Dreck von selbst (119) zitiert Ernst Jünger, In Stahlgewittern [1920], Stuttgart 1994, S. 49. 148 Sie bildet den vierten Vers von Krolows Gedicht „Drei Orangen, zwei Zitronen“ (1953). In: Karl Krolow, Gesammelte Gedichte, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1965, S. 107.
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Die literarischen Allusionen in Krieg mischen sich mit Verweisen auf soziologische Theorien (Niklas Luhmann, Jean-François Lyotard)149 und philosophische Theorien (auf Descartes’ Discours de la méthode, auf Wittgenstein und Martin Heidegger, der sogar als Figur auftritt). Hinzu kommen intermediale Bezugnahmen auf Musik (eine weitere Figur heißt „Stockhausen“) und bildende Kunst, etwa auf den Dürer-Stich Der heilige Hieronymus im Gehäus, der in ein Szenenbild übersetzt wird (43). In der Tradition der Pop- oder Trash-Stücke bietet auch Goetz ein ‚Crossover‘ von Hoch- und Populärkultur: Er konfrontiert literarische und Umgangssprache („Man redet mehr so vor sich hin, halt was man halt so redet“ [41]), alludiert Popsongs (ein Szenentitel zitiert den Song Welcome To The Pleasure Dome der britischen Band Frankie Goes to Hollywood, der auch als Motto der gesamten Krieg-Trilogie dient), Horrorfilme (The Texas Chainsaw Massacre [80]),150 die „Samstagabendsportschau“ (53) und ComicSprache („Brabbel brabbel / Sabber sabber sabber“ [70]). Umstritten ist in der Forschung,151 welche Funktion dieser Überfülle zukommt: Im Ansturm des Materials scheinen Sinn und Referenz der Rede regelrecht erdrückt zu werden. Dies kann als – typisch postdramatische – Dekonstruktion von Referenz verstanden werden. Inszeniert Goetz mit dieser Strategie ein abstraktes, rein auf Klang, Rhythmus und Bild konzentriertes Spiel 152 oder besteht sein Anspruch darin, ein intellektuelles „Theoretisches Theater“ zu installieren?153 Soll die konsequente Überreizung neue Rezeptionsweisen beim Zuschauer provozieren?154
149 Vgl. Richard Weber, „… noch KV (kv)“: Rainald Goetz. Mutmaßungen über Krieg. In: Deutsches Drama der 80er Jahre, hg. von Richard Weber, Frankfurt a. M. 1992, S. 120–148, hier S. 129 f. 150 Achim Stricker stellt außerdem den Bezug zu einer gleichnamigen „US-Trash-Metal-Band“ her (Text-Raum, S. 272). 151 Einen aktuellen Forschungsüberblick zu Goetz’ Theatertexten bietet Norbert Otto Eke, Welt-Kunst-Beobachtung. Zur Diskussion um die Funktion der Fülle heterogener Referenzen, „mit denen Goetz den Leser/Zuschauer regelrecht überschwemmt“ (S. 52). 152 Eine Nähe zur abstrakten poésie pure konstatiert Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 220. Auf die Musikalität von Goetz’ Sprache verweist die intermediale Lektüre von Achim Stricker (Text-Raum, S. 271), für den sich die Referenz in der Musikalität jedoch nicht auflöst, sondern – mit einem Terminus von Martin Seel – in ein „referentielles Rauschen“ (S. 272) überführt wird. 153 Den Begriff verwendet Goetz selbst in einem Szenentitel der Festung (Rainald Goetz, Festung, S. 49). Zur Diskussion dieser Zuschreibung vgl. Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 220; Stefan Krankenhagen, Laß mich rein, laß mich raus. Jeff Koons von Rainald Goetz. In: Weimarer Beiträge 54, 2008, H. 2, S. 212–236, bes. S. 224; Norbert Otto Eke, Welt-Kunst-Beobachtung, S. 52. 154 Gerda Poschmann sieht in ihrer Interpretation von Goetz’ Festung das „Scheitern traditioneller Verstehensabsichten“, die „Aufmerksamkeit des Rezipienten umorientiert und geöffnet
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Der Kopf als Bühne. Subjektives Erzähltheater
Meiner Ansicht nach lässt sich die intermediale und intertextuelle Struktur, ähnlich wie Jelineks Sprachflächen, poetologisch interpretieren: Sie inszeniert den Blick ins ‚Hirn‘ ihres Schöpfers – als selbstreflexiv postdramatisches ‚Bewusstseinstheater‘, das die Subjektivierung des Musters seit Mitte der 1980er Jahre deutlich macht. Diese Lesart lässt sich stützen, wenn man den Konflikt zwischen einer (fiktiven) Autorinstanz und ihrem Gegenstand – hier der medial vermittelten Wirklichkeit von Gewalt und Krieg – rekonstruiert. Hierbei spielt die formale Struktur des Stückes eine besondere Rolle. Denn dem heterogenen, chaotischen Materialmix steht die Formstrenge des Stückes spannungsvoll entgegen. Der aus so vielfältigem Material montierte Text ist nämlich, wie alle Stücke von Goetz, penibel gegliedert. Ein Hang zur Überstrukturierung, der sich in einem dichten Netz von Abschnitten, Ziffern, Überschriften und Untertiteln niederschlägt, erinnert an die selbstreflexiven Dramen Gertrude Steins.155 Als SteinHommage lässt sich etwa die Dopplung der Szenen 26 und 27, die zweimal aufeinanderfolgen (vgl. 47 f. und 48 ff.), lesen, die Steins verwirrende Wiederholungen und Umstellungen der Gliederungselemente alludiert (vgl. Kap. 1.2 dieser Arbeit). Akribisch hat die Forschung die mathematischen Ordnungsprinzipien rekonstruiert, nach denen sich Goetz’ Stücke gliedern: Richard Weber etwa hat die „auf der Ziffer drei basierende strenge Formalisierung des gesamten Textkörpers von Krieg“ 156 aufgedeckt und versteckte „Kreuzungsregeln“ decodiert, nach welchen der Rezipient die einzelnen Sequenzen zu einem neuen „Integraltext“ zusammensetzen kann.157 Besondere Bedeutung gewinnt auch die mathematische ‚Mitte‘: Der Monolog Kolik etwa, der (Thomas Hobbes alludierend) sein Strukturprinzip als „Rechnen ist Denken“ (257) reflektiert, besteht aus 17 Sequenzen. Die herausgehobene Bedeutung des Mittelabschnittes suggeriert der Text selbst, der darauf verweist „daß neun Mitte und Zentrum ist von siebzehn“ (250).158 Vom Leitwort des neunten Abschnittes – „Arbeit“ –
für eine andere Art der Kommunikation, die auf den Prinzipien Suggestion, Evokation und Musikalität aufbaut“ (Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 220). Diese Tendenz vergleicht sie mit der abstrakten poésie pure (S. 220) und stellt einen Bezug zu Niklas Luhmanns Systemtheorie her (S. 221). 155 Wenn Goetz in Jeff Koons (Frankfurt a. M. 1998) sogar die Reihenfolge der Akte vertauscht, kann dies als direkte Hommage an Steins ‚Anti‘-Gliederungen gewertet werden. 156 Richard Weber, Rainald Goetz. Mutmaßungen über Krieg, S. 124. 157 Vgl. Richard Weber, Rainald Goetz, bes. S. 142–146. 158 Die komplexe Spiegelungstechnik um diese Mitte entschlüsselt Norbert Otto Eke, für den sich Goetz durch „gleichzeitige Zitation und Dekonstruktion eines Ordnung und Orientierung bietenden Strukturmodells durch dessen Überbietung“ kritisch mit der Konvention der Repräsentation auseinandersetzt (Welt-Kunst-Beobachtung, S. 53).
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aus lassen sich semantische Beziehungen zwischen den einzelnen Sequenzen herstellen, die – wie Norbert Otto Eke erhellt 159 – auf komplexen Spiegelungen beruhen (jeder Abschnitt hat dabei ein eigenes Leitwort, das jeweils am Beginn steht und am Ende wiederholt wird). Eke verweist zugleich auf die heuristischen Grenzen der „komplexen ‚Nachrechnungen‘ und ‚Nachberechnungen‘ der Struktur“:160 Eine „Resemantisierung der Form/Struktur“, wie sie in der Goetz-Forschung versucht wurde, sei blind für „mögliche Ironiesignale“.161 Sucht man nach ironischen Brechungen, so stößt man etwa auf den zweiten Akt von Heiliger Krieg (55–78): Unter dem Titel Büro, Büro. Der Materialistische Ritus scheinen die drei Szenen, das akribische Gliedern, Zerstückeln, Ordnen (so die Szenentitel) als bürokratisch aufs Korn zu nehmen. (Selbst-)ironisch lässt sich auch der Protagonist von Schlachten verstehen: Sein paradoxer Anspruch, zugleich „Schlachtenmaler“ (141) und „Radikalreduktionist“ (143) zu sein, führt zur Schaffenskrise – und kontrastiert zugleich die Materialschlacht der Krieg-Trilogie. Unterbelichtet blieb in der Forschung bisher auch, wie ‚Gliederungswahn‘ und grassierende Paratexte eine übergeordnete Vermittlungsinstanz installieren, die sich in die Tradition des epischen Theaters stellen lässt. Sie artikuliert sich etwa in den fünf Teilen und 70 Szenen von Heiliger Krieg, die allesamt Titel (und teilweise Untertitel) tragen wie Endlich Wieder Miteinander Sprechen (40, Szene I, 18) und Jenseitige Opulenz (44, Szene I, 21): Die Folge der Überschriften – von denen einige als Regieanweisungen lesbar sind und mögliche Szenenbilder (Hieronymus im Gehäus) oder (musikalische) Spielweisen (Noch langsamer [48]) angeben – konstituiert einen Meta- oder Kommentartext, der in der Folge des Kommentartheaters von Bertolt Brecht und Heiner Müller steht. Selbstreflexivität und Subjektivierung sind auch bei Goetz typisch postdramatische Transformationen eines neuen epischen Theaters: Die politische, gesellschaftskritische Thematik der Stücke wird stets selbstreflexiv gebrochen. Im Vordergrund steht nicht die Referenz auf konkrete historische und politische Zusammenhänge – vielmehr geht es um die Rede vom oder die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Politischen. Der dritte Akt von Heiliger Krieg
159 Norbert Otto Eke, Welt-Kunst-Beobachtung, S. 53. 160 Norbert Otto Eke, Welt-Kunst-Beobachtung, S. 54. Neben Richard Weber (Rainald Goetz. Mutmaßungen über Krieg), rekonstruieren die mathematischen Gliederungen auch Stefan Krankenhagen, Auschwitz darstellen. Ästhetische Positionen zwischen Adorno, Spielberg und Walser, Köln u. a. 2001; Richard Weber, Laß mich rein, laß mich raus (zu Festung und Jeff Koons); und Johannes Windrich, Technotheater. Dramaturgie und Philosophie bei Rainald Goetz und Thomas Bernhard, München 2007, S. 397–417 (zu Jeff Koons). 161 Norbert Otto Eke, Welt-Kunst-Beobachtung, S. 55.
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trägt den metadramatischen Titel Die Bühne und zitiert im Untertitel einen Brief Ludwig van Beethovens, dem freilich am liebsten ein großer Gegenstand aus der Geschichte als Grundlage eines Librettos gedient hätte, das er bei August von Kotzebue in Auftrag geben wollte.162 Typisch postdramatisch rückt das Politische metatheatral und poetologisch gebrochen in die Distanz: Dieses Verfahren wird in Festung programmatisch in der Vorbemerkung: „Festung spielt im Theater und ist Kommunikation.“ 163 Das Verhältnis von Kunst und politischer Aktion – Denken und Handeln, Wort und Tat – wird in Goetz’ Stücken kritisch reflektiert – und (selbst-)ironisch kommentiert: „Was aber tue ich, ich nur das Studium Studierender, kein Tuen Tuender“ (43). Repräsentativ für diese selbstreflexive Tendenz ist das ‚Endlosgespräch‘, das Herr „Stammheimer“ und ein „verantwortlicher angestellter mündiger Bürger“ über Revolution führen (55–64): „was realisierbar ist und wie, ist immer diskutierbar“ (57). In dieser Tendenz, die Auseinandersetzung mit Politik in der Form der Dramen zu spiegeln und ihre Produktionsbedingungen abzubilden, hat die GoetzForschung einen spezifischen Realismus erkannt.164 Doch meines Erachtens geht es Goetz nicht in erster Linie darum, die „Möglichkeiten eines ‚Welt‘-haltigen Bühnenspiels“ 165 zu erproben. Der Akzent liegt nicht auf der Mimesis von Welt, sondern vielmehr – typisch postdramatisch – auf einem subjektiven Verhältnis zur historischen, politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie es die ‚innere Bühne‘ eines ‚Kopftheaters‘ offenbart. Der Weltbezug einer ‚Literatur auf zweiter Stufe‘ ist indirekt – darin liegt ihre Formsemantik: Goetz nutzt sie, um Bewusstseinsprozesse unter den Bedingungen des Medienzeitalters zu reflektieren. Nicht gesehen wurde bisher, wie sich Goetz dabei in die Nachfolge von Heiner Müllers selbstreflexiver politischer Dramatik stellt, der seine Stücke bereits formal durch ihre Kommentarstruktur verpflichtet sind.
162 Vgl. Ludwig van Beethoven an August von Kotzebue. Brief vom 28. Januar 1812: „Freilich würde mir am liebsten ein großer Gegenstand aus der Geschichte sein und besonders aus den dunklen Zeiten, z. B. Attila usw.“ Zitiert nach: Rudolf Pečman, Beethovens Opernpläne, Brünn 1981, S. 32. 163 Rainald Goetz, Festung (Vorbemerkung des Autors). 164 Jürgen Schröder behandelt Goetz’ Dramen im spezifischen Spannungsfeld der 1990er Jahre zwischen „postdramatischem Theater“ und „neuem Realismus“ („Postdramatisches Theater“ oder „neuer Realismus“?, hier bes. S. 1081 und 1108 f.), wobei er bei Goetz eine spezifische Kombination von „programmatisch-postdramatisch[er]“ Formensprache und einem Authentizitäts-Anspruch sieht, der darin besteht, gerade mittels dieser Formen das ‚wirkliche Leben‘ einzufangen (vgl. S. 1109). Auch Norbert Otto Eke betont Goetz’ realistische Poetik (Welt-KunstBeobachtung, bes. S. 57–64): Für ihn zeigt die Krieg-Trilogie die „Verlagerung von Gewalt von der physisch-unmittelbaren auf die diskursive Ebene“ (S. 59). 165 Norbert Otto Eke, Welt-Kunst-Beobachtung, S. 64.
Agieren: Rainald Goetz’ Krieg
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3.3.3 Aporien des politischen Theaters: Rainald Goetz und Heiner Müller Die Nähe zwischen Goetz und Müller reicht über die bloße Form des Kommentartheaters hinaus in dessen konzeptionelle Basis. Eine grundlegende Skepsis gegenüber jeglicher Fortschrittsgeschichte, die sich bei Müller in den Wiederholungen der immer gleichen Gewaltgeschichten spiegelt, zeigt sich auch bei Goetz: In seinem wilden ‚Zapping‘ durch die Geschichte überlagert Gewalt – „Gemetzel, Schlachten, Ströme von Blut“ (43) – die revolutionären Ideale, die letztlich austauschbar werden. Wie Heiner Müller verbindet auch Goetz das Genre Revolutionsdrama mit einem Verweis auf Antonin Artauds rituelles Theater: Das Motiv der Pest, das Müller im vierten Teil der Hamletmaschine mit dem Ungarnaufstand kombiniert (PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND166), reiht Goetz in eine – delirierende – Assoziationskette revolutionärer Motive: „Danton, Lüge, Quatsch, Paris, Französisches, notorisch krauses Zeug, Erbe Büchner, Pest, Pest jedem Denken“ (59). Die spezifischen Transformationen, die das epische Muster unter den Bedingungen des Medienzeitalters erfährt, zeigt ein weiterer möglicher intertextueller Verweis auf den vierten Teil der Hamletmaschine: Dort entwirft der „Hamletdarsteller“ ein Revolutionsdrama – als visionäre Präsenserzählung, die sich im Erzählen dramatisch zuspitzt (vgl. Kap. 2.4.2 dieser Arbeit). Als Echo dieser Sequenz erscheint bei Goetz ein erzähltes Horrorfilm-Szenario: Unter dem Titel The Texas Chainsaw Massacre folgt ein knapp sechs Seiten langer Prosatext, der als ausgedehnte Regieanweisung oder gesprochene Präsenserzählung lesbar ist und – jenseits jeglicher politischer Zusammenhänge – pure Gewalt inszeniert. Aus der Zuschauerperspektive („Schwärze, Leder, Eisen, Stampfen, Düsternis. Steht da wer?“ [80]) wird ein Presslufthammer- und Kettensägenangriff geschildert, der, als schließlich die Bühne in Flammen aufgeht, eine Massenpanik im Parkett auslöst. Partizipialkonstruktionen und rhythmisch gereihte Substantive vergegenwärtigen die akustische, visuelle und physische Bedrohung: „Funkenfontänen sprühen sprühend von der kreischend rasenden Flex weg in den Raum, Drohung, Geruch von Funken, Steingeruch, Brandgeruch, Presslufthammerhämmern, Flexgekreisch, Leiberstampfen, Mundlochschreie, Qual, Qual, Qual, Qual, Augenlöcherlust, wilder, wilder“ (83). Bereits in Müllers Revolutionsszenario wird die Autor-Instanz problematisiert: Der Ich-Erzähler, dem das Geschilderte zunehmend entgleitet, wird multiperspektivisch dekonstruiert und dann von der Macht der erzählten Ereignisse regelrecht ‚überrannt‘. Goetz steigert diese Tendenz: Seine perfor-
166 Heiner Müller, Werke 4, S. 549.
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Der Kopf als Bühne. Subjektives Erzähltheater
mative Erzählung zeigt die pure Präsenz einer Gewalt, die sich aus allen politischen oder historischen Sinn-Zusammenhängen gelöst hat. In der konsequenten Folge von Müllers selbstreflexivem und geschichtspessimistischem epischen Theater zeigt Goetz die Aporie theatraler Präsenz: Er inszeniert Gewalt als ästhetisches Phänomen – um diese Tendenz dann in den reflexiven und kommentierenden Strukturen des Stückes immer wieder zu problematisieren. Goetz’ Stücke lassen sich in eine postdramatische Traditionslinie stellen, die in der Skepsis gegenüber einer sinnstiftenden auktorialen Vermittlungsinstanz das epische Muster radikal subjektiviert und sich in eine Linie mit Brechts Demonstrationstheater und Müllers subjektiviertem Erzähltheater stellt: Auch Goetz’ Stücke lassen sich als Soliloge einer Autor- oder Erzählinstanz interpretieren.167 Sie bringen die Entstehung des Stückes auf die Bühne: ‚Gliederungszwang‘ und grassierende Paratexte spiegeln den Konflikt zwischen einer Autorinstanz und ihrem – scheinbar objektiv als „Zeitmitschrift“ 168 gegebenen – Material. Dieses wird – in der Tradition der Pop-Art – als vorgefertigtes Material unverändert und ungefiltert genutzt: „and trying to figure out what was happening – and taping it all“, lautet die Parole Andy Warhols, die Goetz seinem Materialband 1989 als Motto voranstellt.169 Dass er sich mit dieser Methode bewusst in die Folge Heiner Müllers stellt, zeigt ein Interview, in dem er sein literarisches Selbstverständnis als „SCHREIBMASCHINE SEIN“ 170 charakterisiert – und damit, was die Forschung bisher nicht erkannt hat, Heiner Müllers Hamletmaschine zitiert: Als der erzählende „Hamletdarsteller“ sich in der Multiperspektive des Revolutionsstückes verloren hat, zieht er – übrigens gleichfalls im Kontext einer Warhol-Anspielung – die radikale Konsequenz: „Ich bin die Schreibmaschine.“ 171 Wenn Goetz dieses Selbstverständnis näher charakterisiert, verweist er auf genau jene paradoxe Spannung zwischen Objektivität (des Materials) und –
167 Typisch für diese Tendenz sind auch die autobiografischen Spuren, die Goetz in seinen Stücken legt, etwa in der Figur des Schreibers in Festung, die auf Goetz’ andere Werke („die Frage nach der Revolution / untersucht in Krieg“) und seine Lebensumstände verweist: „Aber im Winter / Neunzehn fünfundachtzig sechsundachtzig / lebte ich als Häftling eines Staatsstipendiums / freiwillig und gerne in der Villa des sogenannten / literarischen Colloquiums Berlin“ (Rainald Goetz, Festung, S. 212). 168 Rainald Goetz, Festung, Klappentext (Selbstkommentar des Autors). 169 Rainald Goetz, Festung, (Motto). 170 Rainald Goetz im Interview mit Ingrid Seidenfaden. In: Schauspiel Magazin Nr. 3. Hamburg, März 1994, S. 9. Zitiert nach: Eckhard Schumacher, Zeittotschläger. Rainald Goetz’ Festung. In: Vergangene Gegenwart – Gegenwärtige Vergangenheit. Studien, Polemiken und Laudationes zur deutschsprachigen Literatur 1960–1994, hg. von Jörg Drews, Bielefeld 1994, S. 277–308, S. 305. Das Müller-Zitat erkennt Schumacher jedoch nicht. 171 Heiner Müller, Werke 4, S. 551. Zur Warhol-Anspielung vgl. Kap. 2.4.2.2 dieser Arbeit.
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nicht auszuschaltender – Subjektivität, die auch das erzählte Revolutionsdrama bei Müller kennzeichnet: Aufgehen im Objektiven, ohne dabei jedoch selbst ausgelöscht zu sein, im Gegenteil: selbst äußerste PRAKTIK der Präsenz im nichtpräsentischen Medium werden, selbst Schrift.172
Die Stücke dramatisieren den Umgang des Schreibers mit diesem Material und bieten einen Blick ins Hirn des Dichters: Ausgestellt und vorgeführt werden die Strategien, mit denen der Ansturm des Materials bewältigt werden soll: Die strukturelle Überdeterminiertheit zeigt Symptome eines Kontrollzwangs. Eine drohende Überforderung wird selbstironisch gebrochen, denn auch die Flucht in die pure Präsenz des Spiels führt in die Aporie, wenn sie das historische Material nicht kommentiert, sondern nur die Ästhetik von Gewalt feiert. So setzt die Vermittlungsinstanz immer wieder neu mit ihrer prinzipiell unabschließbaren „Arbeit“ (262 u. ö.) am Material an. Dabei produziert sie umfangreiche Textkomplexe, die wiederum ein – offenes – Material für die theatrale Aufführung bieten. Es offenbart sich der Konflikt zwischen einer Autorinstanz und ihrem Material oder Beschreibungsgegenstand, wie er strukturbildend auch in anderen Postdramen wie Heiner Müllers Bildbeschreibung und Peter Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten ist. Eine Nähe lässt sich auch zwischen Rainald Goetz und Elfriede Jelinek feststellen, deren Zitatmontage Wolken.Heim. sich auf vergleichbare Weise als Reise durch den Kopf der Autorin lesen lässt. In Goetz’ Krieg-Trilogie zeigt der Blick ins Hirn eine innere (Text-)Landschaft. Den Bezug zu Heiner Müller markiert ein intertextueller Verweis, der als Hommage an das Vorbild lesbar ist: Wenn Goetz sein Aufschreibeprogramm dem monologisierenden Alten in Kolik in den Mund legt, für den „Alle / Gegenstände menschlichen Denkens / Und Forschens“ (249) zum Gegenstand dienen können, reflektiert er auch die zeitgemäße Methode, die das episierende intertextuelle Verfahren und einen zeitgenössischen postdramatischen Bezugstext zitiert: „Gegliedert beschreibbar“ wird die Materialfülle nämlich „in Form von Nacherzählungen / Die Erzählungen nacherzählen“ oder als „Bildbeschreibung“ (250)!
172 Goetz im Interview mit Ingrid Seidenfaden. Zitiert nach: Eckhard Schumacher, Zeittotschläger, S. 305.
4 Transformationen des epischen Theaters nach der Jahrtausendwende 4.1 Das Postdrama zitiert sich selbst In den Postdramen seit der Jahrtausendwende lässt sich eine kritische Bilanzierung des Musters beobachten: In den Stücken der Postdramatiker steigt der Grad an Selbstreflexion, zum Beispiel in Form von Selbstzitaten, die sich teilweise wie prüfende, selbstironische Kommentare oder gar Selbstkritik lesen. So antwortet die kommentierende Zuschauerfigur in Handkes Spuren der Verirrten (2007) auf frühere Stücke des Autors, etwa auf den impliziten Zuschauer des stummen Schau-Spiels Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) oder den provozierten Zuschauer der Publikumsbeschimpfung (1966). Die in rascher Folge publizierten und uraufgeführten Stücke Elfriede Jelineks wirken aufgrund ihres unverkennbaren und stets gleichbleibenden ‚Jelinek-Sounds‘ wie scheinbar zufällig definierte Ausschnitte aus einem fortlaufenden monologisierenden ‚Dauerstück‘. Der dramatische Konflikt ist hier offenbar verlagert in den performativen Schreibakt selbst, wie Jelineks Programm des „Parasitärdramas“ zeigt – das die dauernde Wiederholung des bewährten Rezepts reflektiert, wenn es heißt: Wie immer verwende ich bloß einzelne Zitate, um dem Stillstand etwas wie Türen einzubauen, Dreh- und Angelpunkte aus einer fremden Sprache, nicht Fremdsprache, an die ich mich dann wieder mit meiner eigenen Sprache andocke.1
Der eingangs bereits zitierte nostalgische Rückblick eines „postdramatischen Rats“ in Nicolas Stemanns Faust-Inszenierung reflektiert augenzwinkernd das postdramatische Dilemma. Eine einst glorreiche Vergangenheit wird verklärt – „Es war a wichtige, intensive Zeit, i sprech von der Postdramatik.“ 2 Das inzwischen etablierte Muster wird gegenwärtig nur mehr durch ‚Beamte‘ verwaltet. So erscheint es konsequent, wenn aktuelle Debatten in Feuilleton und Forschung versuchen, mit Blick auf neuere Theatertendenzen eine Gegenbewegung zur erstarrten Postdramatik zu profilieren.3 Schlagwörter wie ‚neuer Realismus‘, ‚neue Mimesis‘ und ‚Rückkehr der Helden und Geschichten‘ be-
1 Elfriede Jelinek, Das Parasitärdrama. 2 Zitiert nach der Theaterkritik von Peter Kümmel in: Die Zeit, 4. August 2011, S. 52. 3 Vgl. stellvertretend Birgit Haas (Plädoyer für ein dramatisches Drama, Wien 2007) und Bernd Stegemann (Nach der Postdramatik).
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Transformationen des epischen Theaters nach der Jahrtausendwende
stimmen die Debatten. Doch schon das Beispiel Bernd Stegemanns,4 der eine Ära Nach der Postdramatik verkündet, zeigt, dass die Gegensätze konstruiert und die Grenzen zwischen den ‚Fronten‘ durchlässig sind. Bereits die Ausgangsbehauptung, die Postdramatik habe sich zu einer Art normativen Leitästhetik entwickelt, ist angesichts der heterogenen Vielfalt des Gegenwartstheaters nicht haltbar. Stegemanns Beschreibung des Gegentrends offenbart zudem ein eindimensional zugespitztes und ‚schiefes‘ Bild. Die Postdramatik – zumindest in der theaterwissenschaftlichen Theorie, gegen die sich seine Polemik vornehmlich wendet, welche die Beschreibungs- und die Gegenstandsebene beständig vermischt – eliminiert nach dieser Auffassung jeglichen Weltbezug und ersetzt ihn durch reine Selbstbespiegelung. Gegen diese Extremposition, die meines Erachtens stark überzeichnet ist, versucht Stegemann auch Kunstwerke des postdramatischen „Kanons“ zu verteidigen.5 Denn er plädiert keinesfalls für eine Rückkehr zum Illusionstheater. Regisseure wie Nicolas Stemann, Michael Thalheimer und die Gruppe Rimini Protokoll, die er anführt, seien vor allem an der changierenden Grenze zwischen Spieler und Rolle interessiert und forschten in diesem Spannungsfeld nach neuen Geschichten und Schicksalen. Damit wird jedoch genau jene epische Grundsituation des Demonstrationstheaters aktuell, die Brecht in seiner Straßenszene darlegt – und die auch grundlegend für postdramatische Spielmodelle ist (vgl. Kap. 1.1). Eine spezifische Spannung zwischen Unmittelbarkeit der Bühne und vermitteltem Spiel, zwischen Selbstbezug und (indirekter) Referenz zeichnet auch die in dieser Studie analysierten Postdramen aus. Sie ist meines Erachtens bis heute konstitutiv für diese Ästhetik. Gegen die Idee ihrer Überwindung soll demnach wiederum auf die vielgestaltige Transformation postdramatischer Schreibweisen aufmerksam gemacht werden, mit denen eine junge Generation dem scheinbar erstarrten Muster neues Leben einhaucht. Da postdramatische Schreibweisen auch bei jüngeren Dramatikern nach wie vor virulent sind, soll die vorliegende Studie auch nicht mit einem bilanzierenden Schlusswort enden, sondern mit einem exemplarischen Ausblick: Der junge österreichische Autor Ewald Palmetshofer, geboren 1978, ist einer der erfolgreichsten jungen Theaterautoren der letzten Jahre.6 Sein Beispiel kann
4 Bernd Stegemann, Nach der Postdramatik. 5 Bernd Stegemann, Nach der Postdramatik, S. 21. 6 Palmetshofer wurde 2008 von der Zeitschrift Theater heute zum Nachwuchsautor des Jahres gekürt. 2009 war er Hausautor am Schauspielhaus Wien, in der darauffolgenden Saison bekleidete er dieselbe Position am Nationaltheater Mannheim. Beide Theater haben sich in den vergangenen Jahren durch zahlreiche Uraufführungen und Auftragswerken zu Zentren der Gegenwartsdramatik entwickelt.
Rückkehr zu Brecht in ‚jungen Stücken‘
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im unübersichtlichen Feld der Gegenwartsdramatik den Blick lenken auf einen Strang einer ästhetisch avancierten jungen Dramatik, die keine bloße Überwindung des postdramatischen Musters anstrebt, sondern dieses kritisch adaptiert und kreativ transformiert. Dabei kehrt es, wie zu zeigen sein wird, zu dessen Wurzeln zurück: zu Brechts epischem Theater.
4.2 Rückkehr zu Brecht in ‚jungen Stücken‘: Ewald Palmetshofers faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete (2009) Ewald Palmetshofers Stück faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete,7 uraufgeführt 2009 am Schauspielhaus Wien unter der Regie von Felicitas Brucker, stammt aus demselben Jahr wie Jelineks Die Kontrakte des Kaufmanns. Im Vergleich mit diesem und anderen ‚klassischen‘ Postdramen wird die Transformation des Musters durch eine jüngere Autorengeneration besonders sinnfällig. Denn in Palmetshofers Stück erhalten die als selbstreferentiell geltenden postdramatischen Mittel plötzlich eine neue mimetische Kraft. Denn obwohl sich Palmetshofers Stück durch eine Wiederannäherung an dramatische Strukturmerkmale wie Handlung und Figur auszeichnet, womit er einer Tendenz des neuen Realismus in der jüngeren Dramatik folgt,8 kehrt es nicht zum Illusionstheater zurück. Vor allem durch seine distanzierenden Mittel vollzieht es vielmehr eine postdramatisch geläuterte Rückkehr zu Brechts epischem Theater. Die Handlung von Palmetshofers Faust-Stück ist rasch erzählt: Drei befreundete Paare der Generation thirty-something treffen sich regelmäßig zu Balkonpartys mit gemeinsamem Grillen und Musik vom Laptop. Zwei typische Singles dieser Generation werden in den Kreis eingeführt und miteinander verkuppelt. Das Beziehungsexperiment scheitert jedoch: Die beiden Außenseiter, die sich nur in der Ablehnung der „Spießerparty“ (7) und des „seriellen Glücks“ (5) der Pärchen einig sind, finden keine Basis für eine Beziehung. Die Geschichte endet tragisch: Der junge Mann macht sich aus dem Staub und lässt die schwangere Geliebte sitzen. Diese flüchtet daraufhin in den Wald, zieht sich dort in eine selbstgebaute Hütte aus Plastikplanen und Wohlstandsmüll zurück und verscharrt ihr gewaltsam abgetriebenes Kind. Der Fall erregt
7 Das Stück wird im Folgenden mit bloßen Szenen- und Seitenangaben im Text zitiert nach: Ewald Palmetshofer, faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete. In: Theater heute, Juni 2009, Stückabdruck, S. 2–14. 8 Dieser Tendenz lassen sich beispielsweise auch Autoren wie Roland Schimmelpfennig, NiesMomme Stockmann und Philipp Löhle zurechnen.
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Transformationen des epischen Theaters nach der Jahrtausendwende
die Aufmerksamkeit der Medien. Es wird eine Fernsehdokumentation gedreht, in der die befreundeten Paare als Zeugen auftreten. Doch wer in dieser Form die bloße Handlung nacherzählt, befindet sich in einem Dilemma: Er hat über das Stück selbst noch nichts gesagt – sondern lediglich einen Stoff erfasst, der für jede Vorabend-Soap geeignet wäre. Das Besondere an Palmetshofers Stück liegt jedoch darin, wie diese scheinbar so banalen Ereignisse, die in ein etwas überzogen sensationelles Finale münden, präsentiert werden: Denn die tragische Geschichte ist beim Einsetzen des Stückes bereits vergangen, ihre Protagonisten sind auf der Bühne nicht anwesend. Stattdessen treten die Paare des Freundeskreises auf, erzählen die Geschichte der Abwesenden und schlüpfen dabei immer wieder in deren Rollen. Die vergangenen Ereignisse werden also im Wechsel von Erzählung und Rollenspiel rekonstruiert. Damit adaptiert Palmetshofer die Vermittlungssituation von Brechts Straßenszene (1938),9 in der ein Zeuge den Hergang eines Unfalls nachstellt, damit sich die Umstehenden ein Urteil über den Vorfall bilden können (vgl. Kap. 1.1.5 dieser Arbeit). Im Wechsel von Bericht und Rollenspiel rekonstruieren auch die befreundeten Paare bei Palmetshofer das vergangene Geschehen rund um die abwesenden Protagonisten – von ihrer ersten Begegnung bei einer der Balkonpartys bis zum tragischen Ende in einer Hütte im Wald.10 Die Spielsituation des Demonstrationstheaters ist dabei gekennzeichnet von einer spezifischen Überlagerung von äußerem und innerem Kommunikationssystem: Mit ihrem Bericht wenden sich die Zeugen direkt ans Publikum, beim Nachspielen der Geschichte agieren sie im inneren Kommunikationssystem eines Spiels im Spiel.11 Die erste postdramatische Verfremdung, die diese episierende Vermittlung besonders markiert, ist die selbstreflexiv demonstrierte Gliederung des Stückes: Die Geschichte des tragischen Paares wird in 25 Kurzszenen rekonstruiert, deren Zählung von –1 und 0 bis 23 ins Auge fällt. Als zweites postdramatisch-distanzierendes Element ist Palmetshofers Kunstsprache zu nennen, die den Soziolekt seiner Generation verfremdet und
9 GKA 22.1, S. 370–381. 10 Zur Wiedergabe der Rollenspiele hat Palmetshofer ein grafisches System entwickelt, das er in einer einleitenden Regieanweisung – quasi als Lese- und Inszenierungshilfe – erläutert: „Faust und Grete […] werden von den sechs anwesenden Figuren nachgespielt. Die durchgestrichenen Personennamen im Text markieren dem entsprechend, dass die jeweils durchgestrichene Figur ‚Faust‘ bzw. ‚Grete‘ ist. Ihre wahren Namen kennt man nicht.“ (2) 11 Auch dieser Wechsel der Ebenen ist im Stücktext grafisch hervorgehoben und wird eingangs erläutert: „Einrückungen zur Seitenmitte hin zeigen die Sprechintention hinein in die SpielerInnengruppe an, im Gegensatz zu einer Gerichtetheit nach außen.“ (2)
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zugleich ausstellt. Sie wurde als ‚Palmetshofer Sound‘ zum Markenzeichen: Die elliptischen, zumeist prädikatlosen Kurzsätze brechen, sobald das Notwendige zur Verständigung gesagt ist, ab: eine Rede halt ich sicher nicht wenn die bei uns da halt ich sicher keine Rede das soll der Fritz. (5)
Typisch ist der sprachliche Rhythmus, der vom Wechsel zwischen kryptischen Kurzdialogen voll alltäglicher Belanglosigkeit und erratischen Monologblöcken geprägt ist, die in wild mäandernden Assoziationen die großen Themen – Leben und Tod, Liebe, Glück und Wahrheit – sprachlich beackern und in ihrer Eigendynamik an Jelineks Sprachflächen erinnern. Aufgrund seiner unverwechselbaren Kunstsprache wurde Palmetshofer von der Theaterkritik als „Jelineks Kronprinz“ 12 ausgewiesen. Zur postdramatischen Verfremdung der Handlung trägt nicht zuletzt die komplexe Struktur des mehrfach geschichteten Stückes bei, die nun genauer analysiert werden soll. Die einzelnen Diskursschichten des komplexen Vermittlungskontexts werden der Verständlichkeit halber zunächst getrennt voneinander behandelt, um daran anschließend ihre Vernetzung deutlich zu machen: Unter der von mir skizzierten ‚Soap‘-Handlung liegt eine intertextuelle Tiefenschicht, markiert durch die Faust-Bezüge, die das gesamte Stück durchziehen und als prominente Folie dessen – tragische – Handlungsstruktur deutlich machen. Über die vordergründig banale Handlung und ihre tragische Tiefenschicht ‚wölbt‘ sich zudem ein postdramatischer Überbau: Im komplexen Rollenspiel, in kalauernder Kunstsprache und mäandernden Sprachflächen sowie im spezifischen Umgang mit Intertextualität und Intermedialität wird die tragische Handlung immer wieder spannungsvoll unterlaufen.
4.2.1 Ein postdramatisches Coverdrama Durch seine strukturbildende Intertextualität stellt sich Palmetshofers FaustStück in eine Reihe mit anderen postdramatischen „Coverdramen“,13 die als 12 Eva Klinger, Nur noch ein Party-Gerücht. In: www.nachtkritik.de, 2. April 2009. (Letzter Zugriff: 3. April 2014). Zum Vergleich Palmetshofers mit postdramatischen Autoren wie Elfriede Jelinek, Werner Schwab und Marlene Streeruwitz vgl. Barbara Villiger Heilig, Generation Babyphon. In: Neue Züricher Zeitung, 6. April 2009. 13 Den Begriff, der das freie Spiel mit der Vorlage mit einem Begriff aus der Pop-Musik umschreibt, entlehne ich Werner Schwab (Werke, Bd. 8: Coverdramen, hg. von Ingeborg Orthofer,
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freie Interpretationen bekannter Prätexte des dramatischen Kanons konzipiert sind wie die musterbildende Hamletmaschine und Jelineks Schiller-Transformation Ulrike Maria Stuart. Eine Nähe zu diesen häufig selbstironisch demonstrierten Bearbeitungen zeigt bereits der kalauernde Titel faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete. Ähnlich wie Jelineks Maria Stuart-Adaptation aktualisiert auch Palmetshofers Stück Motive des Prätextes. Die strukturbildenden Allusionen etablieren eine Kommentarebene: Sie schlägt sich etwa in intertextuellen Paratexten wie dem Szenentitel Prolog. Kein Himmel (3) nieder, der gleich zu Beginn prägnant und ironisch die trostlose Gegenwart entwirft, in die Palmetshofer seine Figuren versetzt. Weitere Anspielungen auf Goethes Faust durchziehen den Text: So werden die abwesenden Hauptfiguren, deren Geschichte hier nachgestellt wird, mit den Spiel-Namen Faust und Grete eingeführt. Gleich zu Beginn wird der Bezug parodierend markiert mit einem Vorspiel vorm TV (2) und dem bereits erwähnten Prolog. Kein Himmel (3). Später folgen eine variierte Gretchenfrage und subtile Anspielungen auf den „Geist, der stets verneint“ (vgl. 10), bis sich die Bezugnahmen im Schlussteil zu wörtlichen Zitaten verdichten: „Sie ist die erste nicht“ (14), „verweile doch“ (14). Kern der Faust-Bezüge und zugleich Dreh- und Angelpunkt von Palmetshofers Stück ist jedoch das Motiv des Kindsmordes. Palmetshofer hat vor allem eine aktuelle Gretchen-Tragödie verfasst. In einem theoretischen Aufsatz in Theater heute hat er unter dem Titel Liebe deine Katastrophe sein Interesse an Goethes Faust begründet.14 Für Palmetshofer ist das Drama um die verführte, sitzen gelassene Margarete, die zur Kindsmörderin wird, offenbar der Inbegriff einer individuellen Tragödie: Doch bereits Mephistos „Sie ist die erste nicht“ 15 relativiere dieses Einzelschicksal auf fatale Weise. Palmetshofer übersetzt diese Konstellation ins mediale und globalisierte Zeitalter: Was gilt hier ein individuelles Schicksal? Wahrgenommen wird es nur, wenn es einzigartig ist. Die Medien haben aus dieser Einzigartigkeit eine Ware gemacht – mit hohem Sensationsdruck und kurzer Halbwertszeit, denn schnell kann es ein Bild unter vielen gleichen werden. Die Gefährdung des „Einen“ besteht durch seine „De- oder Regradierung […] zu Beliebigem“.16 In dieser Spannung inszeniert Palmetshofer – immer wieder mit direkten Bezügen zur tragischen intertextuellen Folie – seine aktuelle Gretchen-Tragödie.
Graz 2009), dessen intertextuelle Stücke wie Der reizende Reigen nach dem Reigen des reizenden Herrn Arthur Schnitzler und Troiluswahn und Cressidatheater unter diesem Genre-Titel veröffentlicht wurden. 14 Ewald Palmetshofer, Liebe deine Katastrophe. In: Theater heute. Jahrbuch 2008, S. 76. 15 Ewald Palmetshofer, Liebe deine Katastrophe, S. 76. 16 Ewald Palmetshofer, Liebe deine Katastrophe, S. 76.
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Neben einem postdramatisch freien intertextuellen Spiel lässt sich eine dramatische, handlungs- und figurenbezogene Intertextualität von Palmetshofers Faust-Stück ausmachen, die rezeptionsästhetisch dimensioniert ist. Palmetshofer nutzt die Bekanntheit des Prätextes, um die Handlungsstruktur seines komplexen Stückes für den Zuschauer erkennbar zu machen. Vor der Folie des deutlich markierten Prätextes lassen sich etwa Fausts Verschwinden, Gretes Schwangerschaft und der Kindsmord erschließen, auf die im Rollenspiel der Zeugen nur verschlüsselt angespielt wird. Vor allem verleiht er einer banalen Geschichte unserer Tage durch den Bezug auf Gretchens Kindsmord eine tragische Dimension. Tragik entsteht, indem durch den intertextuellen Bezug eine zunächst typische Figur – ein beliebiger Single in den Dreißigern – individualisiert wird und für Momente eine ‚eigene‘ Katastrophe erhält, bis sich die globale Medienaufmerksamkeit wieder erschöpft und das einmalige Bild im Beliebigen des „Sie ist die erste nicht“ verschwindet. Diese Intention, ein individuelles Schicksal in den Fokus zu rücken, steht, so könnte man etwas vereinfachend kontrastieren, im Gegensatz zu postdramatischen intertextuellen Verfahren. Man denke etwa an Heiner Müllers serielle Ophelia-Gestalt in der Hamletmaschine: Diese Figur wird durch den simultanen Bezug zu mythologischen Gestalten (Elektra) und Personen der Zeitgeschichte (Rosa Luxemburg, Ulrike Meinhof) eher entindividualisiert und auf überzeitliche und überindividuelle mythische Grundstrukturen bezogen. Vergleichbar wäre Jelineks Verfahren in Ulrike Maria Stuart (2006), Ulrike Meinhof und Schillers Maria Stuart zu ‚morphen‘. Postdramatiker sind dabei weit mehr an überindividuellen Strukturen (und einer strukturellen, in der Geschichte liegenden Tragik) interessiert als an individuellen Schicksalen. Der junge Autor Palmetshofer scheint hingegen ein neues Interesse am Individuum und seiner privaten Katastrophe zu haben.17 Aber das Individuelle blitzt auch in dem komplexen Vermittlungskontext von Palmetshofers Stück nur kurz auf – die grundsätzliche Skepsis an der dramatischen Darstellung individueller Schicksale teilt er mit den Postdramatikern. Die Darstellung der Figur, ihre unmittelbare Präsenz, wird durch die doppelte Vermittlung gebrochen: Es steht ja nicht Goethes Gretchen auf der Bühne, sondern eine durch den intertextuellen Bezug als modernes ‚Gretchen‘ (in Anführungszeichen) kenntliche Figur. Außerdem ist durch die Spiel im SpielSituation die Grenze zwischen verkörperter Figur und Darsteller immer sicht-
17 Die Forschung spricht mit Blick auf junge Gegenwartsdramatik von der Rückkehr der Helden (Nikolaus Frei, Die Rückkehr der Helden. Deutsches Drama der Jahrhundertwende [1994– 2001], Tübingen 2006).
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bar: Denn auch die intertextuelle Grete-Figur ist nicht anwesend, sie wird von einer anderen Figur ‚nachgestellt‘. Schließlich wird die Einzigartigkeit Gretes durch das mephistophelische „Sie ist die erste nicht“ in die Flut ähnlicher Geschichten eingespeist und droht seine Bedeutsamkeit zu verlieren. So durchbrechen oder verfremden postdramatische Distanzierungen die Figurenzeichnungen eines neuen sozialen Dramas. Die skizzierte dramatische, handlungsbezogene Intertextualität verbindet sich außerdem mit ironischen intertextuellen Sprachspielen: Denn ausgehend von den alludierten Figuren und Handlungsmomenten von Goethes Tragödie wird ein Spiel mit Faust-Bezügen inszeniert, das mit seinem – schon im Titel – kalauernden Gestus, dem Wechsel zwischen immaterieller und materieller Bedeutung der alludierten Motive sowie ihrer Vernetzung mit aktuellen Themen an Jelineks intertextuelle Verfahren erinnert. Besonders deutlich zeigt sich diese Tendenz in den ausgreifenden Monologblöcken, die Palmetshofers Nähe zum ‚Diskurs-‘‚ bzw. ‚Traktattheater‘ à la Jelinek begründen. Vergleichbar mit Jelinek ist auch dessen ambivalente Wirkung: Denn die metaphysische Aufladung der Motivketten wird immer wieder selbstironisch gebrochen. So lässt Palmetshofer, der studierte Theologe und Philosoph, einen seiner Spieler äußern, Faust habe „zu viel postmoderne Scheiße im Hirn“ (8).
4.2.2 Sprachflächen Die formale Anlehnung an Jelineks Diskurstheater zeigt sich in Aufbau und Wirkung der Monologblöcke: In diesen Monologen gewinnt die Sprache in der Folge scheinbar wild assoziierender und mäandernder Motivketten eine Eigendynamik, so dass das mimetische Moment des Rollenspiels verloren geht und nur noch das reine Sprachereignis bleibt – dieser performative Sprachgebrauch, bei dem Referenz und Kohärenz hinter der Sprachoberfläche – etwa dem Rhythmus, zum Beispiel von Wiederholungen, und der Klangqualität des Redens – zurücktreten, ist ein typisch postdramatisches Verfahren. Es erinnert an die – teilweise durchgehend – monologischen Sprachflächen Jelineks. Ähnlichkeiten zeigen sich auch mit dem Zersprechen von Sinn, wie es etwa Peter Handke bereits in seinen Sprechstücken und im Kaspar inszeniert. Palmetshofers Adaptation dieses Verfahrens zeigt sich paradigmatisch in Fausts Monolog vom „Glück“ (5): In einem punktlosen Bandwurmsatz voll wilder Assoziationen sind verschiedene Themen und Motivketten miteinander verbunden: Hunger/Verdauung, Liebe, Ökonomie, Verkehrswesen und, ganz nach dem Vorbild des Gelehrten Faust, Mathematik, Physik und Metaphysik.
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Diese werden im Reden immer weiter gesponnen zu einem komplexen und – beim einmaligen Hören in der Aufführungssituation – schier undurchdringbaren Netz, das vor allem durch Wiederholungen strukturiert ist: und denkst dir, so ein vorverdautes Glück, das würd dir selber viel zu wenig, weil absolut ist so ein halbvergor’nes Glück ja nicht, und auch die Aneinanderreihung nicht, die Serie, der Stoßverkehr durch dich hindurch, Transit, totales Glück ist das noch nicht, wenn sich ein Glück im Seriellen produziert, das potenziert sich trotzdem nicht ins Absolute hoch, ein serielles Glück wird trotzdem, nein ein Absolutes wird das nicht, wenn man nur nacheinander reichlich rein und hofft, dass aus der Summe sich ein Mehrwert absetzt auf der Innenwand der glatten und durch die Steigerung der Konsumtion die Masse kritisch wird und umschlägt und mit lautem Urknall, nein, das ist dir leider sonnenklar, dass mehr vom Selben nichts Totales macht […]. (5)
Das schon im Titel des Stücks eingeführte Faust-Motiv des Hungers – das den faustischen Drang in eine kapitalistische Logik des Konsums überführt und in der Motivkette Verdauung konkretisiert (sowie sprachspielerisch ironisiert) – verbindet sich am Ende des Monologs mit einem weiteren faustischen Motiv: dem „Kern“: „Latrinen sind wir, alle gleich, dass Welt durch unsre Leere drin’, da wär ein Kern ein Hindernis“ (5). Das ironische intertextuelle (Sprach-)Spiel mit Sentenzen steigert sich hier bis ins Groteske, so dass die Tragik des FaustBezugs ebenfalls spannungsvoll unterlaufen wird. Die Suada wird nur zeitweilig unterbrochen und setzt sich – diesmal um das am Ende eingeführte Motiv des „Kerns“ kreisend – einige Szenen später in Fausts zweitem ausladenden Monolog fort (10 f.), wieder verbunden mit den Motiven Hunger/Verdauung, Ökonomie und Mathematik. Hier wird die faustische Suche nach dem ‚Inneren‘ ironisch mit dem „Kern“-Motiv verbunden und privatisiert: Heute wird, so offenbar Palmetshofers Diagnose, die Sinnstiftung im Zwischenmenschlichen gesucht; die Liebe ist zur neuen Privatreligion geworden; der Hunger richtet sich auf den Mitmenschen.18 Dieser Liebeshunger wird nun wiederum mit dem Vokabular der Finanzwelt konfrontiert und mit dem nächsten faustischen Motiv, der „Wette“, kombiniert: „[E]ine Wette muss man vielleicht auf einen Kern im Menschen wetten und ist dann wie eine Ausschüttung, eine Gewinnausschüttung aus dem Menschen raus, dass du auf ihn setzt, dass du ein Kapital auf den Menschen setzt und sich dann ein Innerlichkeitsgewinn ausschüttet […]“ (11).
18 In seinem intertextuellen Programmtext Liebe deine Katastrophe (Ewald Palmetshofer, 2008) verweist Palmetshofer explizit auf die kannibalistische Logik, die „Wahrheit unseres Hungers: dass wir Menschen essen“ – und auf die Gefahr, sich dabei am Mitmenschen („Nebenmenschen“), etwa „an einer Grete“, zu „verschluck[en]“.
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Die zwischengeschalteten Monologblöcke haben einen doppelten Effekt: Zunächst führen sie dazu, dass die so klar gezogene Grenze zwischen Figur und Darsteller aufgehoben scheint: Der Spieler (hier die Figur Fritz, welche Fausts Part übernommen hat) steigert sich im dauernden Reden immer mehr in seine Rolle hinein, scheint mit dieser zu verschmelzen. Zugleich geht diese Rolle jedoch in der Sprache verloren: Es bleibt die Performanz des atemlosen Sprechens. In ihm wird die Kernlosigkeit, auch als metaphysische Leere der Figuren, formsemantisch umgesetzt. Das Verfahren und sein Effekt sind vergleichbar mit Jelineks sprachlicher Performanz – etwa einer virtuellen Finanzwelt in Die Kontrakte des Kaufmanns. Hier kreisen assoziativ verbundene Motivschleifen – wie hungrige Heuschrecken, Immobilien und wandernde Steine, eine Aktie namens Herkules und die Taten des mythologischen Herkules – um das zentrale Motiv: das „Nichts“. Durch die referenzlose Rede vom beziehungsweise von Nichts findet die ‚Blase‘ der Finanzwelt ihre formsemantische Entsprechung. Ein Beispiel kann die stilistische und konzeptionelle Nähe belegen. Wie kann es geschehen, daß eine Gewerkschaft eine Heuschrecke besitzt, sie dann dazu abrichtet, nicht zu singen, obwohl sie es doch können sollte, wie eine Grille singen, wie ein Heimchen, das sich auf die heiße Herdplatte gesetzt hat?, und dann auch noch von einer anderen Heuschrecke gefressen wird, der auch schon ganz schlecht ist, und dabei hat sie noch eine solche Menge Futter vor sich? Diese Grillen, diese Schrecken, diese Schrillen singen ja oft im Magen einer Katze weiter! Sie muß üben, was im Bereich ihrer Möglichkeiten liegt, die Heuschrecke, sie will nämlich Kleinholz machen aus dieser Bank […].19
Palmetshofer und Jelinek konkretisieren Metaphern (hier die Heuschrecke) und spielen mit Assoziationen dieser konkreten Bedeutung. Assoziative Verbindungen werden zudem durch Paronomasien („Grillen“, „Schrillen“, „Schrecken“) und das Vermengen doppelter Bedeutungen (das „Kleinholz“ einer Kredit!Bank, der Horror von Heu-Schrecken) hergestellt. Auch die – gleichfalls im Konkreten ausgemalte – Metaphorik des kapitalistischen Hungers verbindet Jelineks und Palmetshofers Texte. Festhalten lässt sich an dieser Stelle, dass Palmetshofers Stück eigentümlich changiert zwischen dramatischen Elementen, die ein Interesse an Handlung, an Figuren und Dialogen zeigen, und postdramatischen Mitteln, die diese Dramatik immer wieder unterlaufen – und eine indirekte, an Strukturen, gesellschaftlichen Analysen und am Zersetzen von Sinn interessierte postdramatische Dramaturgie propagieren.
19 Elfriede Jelinek, Drei Theaterstücke, S. 211 f.
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4.2.3 Intermedialität Dieser changierende Eindruck setzt sich fort, wenn man die Intermedialität des Stückes betrachtet, die zunächst ebenfalls an postdramatische Muster anzuschließen scheint. Das Erzählen und Nachspielen der Faust-GretchenGeschichte wird im Stück motiviert durch einen thematischen Rahmen: Die Bühnensituation entspricht einer TV-Dokumentation, in der einzelne Szenen der aktuellen Faust-Tragödie nachgestellt werden, vergleichbar einem Format wie Aktenzeichen X.Y. ungelöst. Ein „Vorspiel im TV“ (2 f., Szene 1), die Eingangsszene des Stücks, führt diese Konstruktion ein. Der Hinweis „und wieder nachgestellte Szene eingeblendet unten links im Bild“ (3), expliziert – in Figurenrede – das Verfahren. Die Zeugen treten also als Akteure in einem Dokumentarfilm auf: Das spektakuläre Ende der Geschichte hat öffentliches Aufsehen erregt und wird in den Medien aufgearbeitet – mit den befreundeten Paaren als Zeugen. Nach einem „Zwischenspiel im TV“ (11, Szene 15) schließt das „Nachspiel vorm TV“ (14, Szene 23) den Rahmen: Hier zeigen sich die Akteure nun als Zuschauer des Dokumentarfilms und sind erleichtert, ihre Anonymität gewahrt zu haben: „bei mir war ‚Freundin‘ eingeblendet unten links / … und keine Namen“ (14) . Durch diesen motivischen Rahmen erhält das vermittelnde Spiel, das Nachstellen eines vergangenen und fremden Geschehens, eine besondere Formsemantik. Mit ihr wird die Verfassung einer Mediengesellschaft reflektiert: Von Beginn an begegnet man Figuren, die Katastrophen nur in der Reproduktion – von Pressefotos und Fernsehen – kennen. Sie sind geprägt von indirekten Erfahrungen: Man kennt die Liebe nur aus dem Kino, redet in entsprechenden Vergleichen, selbst das Kind des einen Paares ist im Stück nur vermittelt durch das Babyphon präsent. Folgerichtig haben sie auch die vor ihren Augen geschehene Tragödie verpasst, die für sie erst in der Rekonstruktion real wird. Die Darsteller erleben die Katastrophe als Reinszenierung einer Sensation und sind dabei in erster Linie mit ihrer Rolle als Darsteller, als Mitwirkende bei einem Medienereignis beschäftigt. Auch Grete hat übrigens, wie sich herausstellt, nur ein Foto nachgestellt – ein Katastrophenbild aus der Dritten Welt, auf dem eine Frau vor einer Hütte aus Plastikplanen zu sehen ist, die ihr totes Kind begräbt.20 Grete liefert den Medien also in Wahrheit kein neues
20 In der vorliegenden Textfassung wird dies nicht ausgesprochen, die Textfassung der Mannheimer Inszenierung von Dieter Boyer bietet eine genaue Bildbeschreibung – an einer früheren Stelle des Stückes – so dass Gretes Tat deutlicher als ‚Nachstellen‘ dieser Szene markiert wird. Dies ist in der vorliegenden Fassung nur angedeutet bzw. die Reihenfolge von Szene und Bild wird umgedreht: Erst wird Gretes Tat (21), dann ihr – angedeutetes, vom Zuschauer selbst zu erschließendes – Vorbild präsentiert (in der Beschreibung von Tanja, [vgl. 22]).
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Sensationsbild, sondern stellt ein in anderen Teilen der Welt alltägliches Bild nach, das plötzlich mitten im österreichischen Wald dennoch kurzzeitig für Aufmerksamkeit sorgt. Die Brecht entlehnte Situation des Nachstellens führt zu einer Dominanz des äußeren Kommunikationssystems. Der vermittelnde Rahmen, die Tatsache, dass nur gespielt wird, ist in jedem Moment gegenwärtig: Beständig wechseln Bericht und Rollenspiel einander ab. Das Rollenspiel wird immer wieder unterbrochen durch Kommentare ad spectatores („naja, ich glaub, man muss das jetzt ganz kurz erklären“ [4]). Bei ihrer Rekonstruktion sind die Spieler unsicher, korrigieren sich, ergänzen ihre Versionen wechselseitig, fallen sich ins Wort („Blödsinn: / ‚hakt sich bei ihm ein‘ / Was du schon wieder“ [9]). Dadurch entsteht eine Kommentar-Ebene, die ebenfalls nach außen, an den Zuschauer des Spiels – den fiktionalen Fernsehzuschauer und den realen bzw. impliziten Theaterzuschauer – gerichtet ist. Doch zusätzlich metatheatral reflektiert wird dieser Effekt durch den Rahmen der Fernsehdokumentation: Die Spielsituation wird dadurch markiert, dass die Figuren in jedem Moment fürs Fernsehen agieren. Auch das postdramatische Diskurstheater in der Nachfolge Brechts, an das diese indirekte Dramaturgie anschließt, ist ebenfalls dominant ins äußere Kommunikationssystem gerichtet. Palmetshofers mediales Spiel im Spiel erinnert an ähnliche Konstellationen, etwa an den Rahmen einer Fernsehunterhaltungsshow bei Jelinek (Stecken, Stab und Stangl,21 ein Stück, in dem ein authentischer Fall, der Mord an drei Roma im Burgenland, in einer Quizshow nachgestellt wird) oder die Situation eines Filmdrehs in René Polleschs Liebe ist kälter als das Kapital 22 (das wie Palmetshofer die Motive Liebe und Ökonomie verbindet). Palmetshofer und seine postdramatischen Vorbilder nutzen diese intermedialen Spiele, um die Logik einer globalisierten Medienwelt mit theatralischen Mitteln zu reflektieren, sie performativ auszustellen und zugleich spielerisch zu unterlaufen. Aber wiederum ist das Mittel bei Palmetshofer ambivalent eingesetzt, auch hier tendiert die Darstellung wieder zum Dramatischen.
4.2.4 Multiperspektivische Rollenspiele als neues Modell epischen Theaters Bei Palmetshofer wird (Inter-)Medialität nicht nur ausgestellt und auf einer Metaebene reflektiert – er verfolgt offenbar noch ein anderes Interesse: So verbin-
21 Elfriede Jelinek, Stecken, Stab und Stangl. In: Jelinek, Neue Theaterstücke, S. 15–68. 22 René Pollesch, Liebe ist kälter als das Kapital, S. 171–224.
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det sich die Diagnose einer alles umfassenden Medienwelt mit dem Versuch, sie zumindest für Momente zu durchbrechen. Gesucht wird nach Tragik und Authentizität in der Reinszenierung. Hierbei dient der intermediale Rahmen, um den Perspektivismus des Rollenspiels zu pointieren. Eine besondere Funktion erhält deshalb das Mittel des Spielerwechsels: Während Faust nur von einem der Freunde, Fritz, verkörpert wird, spielen alle drei Frauen abwechselnd die Rolle der Grete, wodurch verschiedene Perspektiven auf die Figur sichtbar werden und immer wieder die Frage aufkommt, wie viel Eigenes in der Darstellung einer fremden Figur steckt. In der Wiener Uraufführung und in der Mannheimer Inszenierung von Dieter Boyer23 wurden Rollenwechsel – Aufführungstraditionen des epischen Theaters zitierend – durch Kostümwechsel markiert. In Mannheim wurde auch die Mischung von Schauspieler-Figur und Rolle in der Kleidung abgebildet: Das jeweilige Gretchenkostüm variierte je nach Trägerin und griff Elemente ihrer ursprünglichen Kleidung auf. Indem die Frauen Grete eine je eigene Gestalt verleihen, charakterisieren sie – indirekt – sich selbst und treten für Momente aus dem Kollektiv der sensationslüsternen Medienmenschen heraus. Sie zeigen ihr Verhältnis zu Gretes Geschichte: Die gefühlvolle, romantische, von der Tragik ergriffene Perspektive (die erste Darstellerin, Tanja, mit ihrer unerfüllten Sehnsucht nach Liebe),24 die Wut des im ‚Spießerdasein‘ unterdrückten und angestauten Emanzipationswillens (Ines, die zweite Darstellerin)25 sowie die von Schuldgefühlen einer Freundin und eigenem Nachfühlen (sie ist selbst Mutter) bestimmte Perspektive von Anne:26 Diese dritte Darstellerin ist der Figur am nächsten, stellt auch die Tat nach und übernimmt den anklagenden Schlussmonolog Gretes (14, Szene 21). Ein Beispiel, wie die Figur Gretes von einer Sprecherin/Darstellerin zur anderen ‚kippt‘, ist die Szene 11: Die entscheidende ‚Gretchenfrage‘ richtet sich, der Aktualisierung entsprechend, nun auf die Liebe. Die Passage wird von den Spielerinnen zunehmend identifikatorisch dargeboten und offenbart verschiedene Perspektiven auf die dargestellte Figur. Durch einen Spielerwechsel innerhalb von Gretchens Monolog wandelt sich dieser vom verletzlich offenen Körperdiskurs (der Spielerin Tanja) zur aggressiven Anklage (Ines). Schonungslos offengelegt wird das weibliche Dilemma, Körper und zugleich Ideal/ Idee zu sein. Ines in der Rolle Gretes erfährt es als „Spannung zwischen zwei
23 24 25 26
Nationaltheater Mannheim, Premiere: 28. November 2009. Vgl. Szene 8; Szene 10 und Szene 11. Vgl. Szene 11 und Szene 13 Vgl. Szene 5; Szene 6; Szene 16, Szene 19 und Szene 21.
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Polen, wo ich auf jeder Seite verdammt noch mal immer die Arschkarte ziehen werde zumal als Frau, weil so ein Frauenkörper immer ein bisschen zuviel Materie […]“ (10). Die Spielfigur ‚Grete‘ wird also in Palmetshofers aktueller Gretchen-Tragödie durch die intermediale Bühnensituation zu einem Medium, mit dem individuelle Tragik erzeugt werden kann – ohne jedoch je den Distanz vermittelnden Rahmen der Spielsituation zu verlassen: Auch der Goethe-Bezug scheint allenfalls auf der medialen Metaebene, also episch gebrochen. Profiliert werden kann Palmetshofers Verfahren vor der Folie von Brechts Demonstrationstheater. Das entscheidende Kriterium, das für Brecht die Straßenszene zum Modell des epischen Theaters macht, ist die Haltung des Spielers zum Dargestellten: Sie wird bestimmt von einer grundsätzlichen Distanz zwischen Spieler und Figur. Im übergeordneten äußeren Kommunikationssystem der epischen Vermittlung wird diese Distanz aufrecht erhalten; die gesamte Darbietung ist demonstrierend ans Publikum gerichtet. Implizit oder explizit wird stets eine Kommentarebene mitgeführt und durch Verfremdungseffekte aufrechterhalten. Andrzej Wirth sieht in Brechts Straßenszene die entscheidende Wende vom Dialog zum Diskurs angelegt,27 die von Postdramatikern wie Heiner Müller und Peter Handke adaptiert und radikalisiert wurde – zu einem ‚solilogischen‘, ins äußere Kommunikationssystem gerichteten Diskurstheater, das sich, so lässt sich Wirths Linie fortschreiben, bis zu den Sprachflächen Elfriede Jelineks zieht. Schaut man nun auf Palmetshofers Dramaturgie, so lässt sich, gleichzeitig mit der ebenfalls angelegten Tendenz zum Diskurstheater, ein möglicher direkterer Rückbezug auf das brechtsche Modell feststellen. Denn die Spielsituation der Straßenszene weist frappierende Ähnlichkeit mit der Bühnensituation von Palmetshofers Stück auf: Palmetshofer, dessen Zeugen in ähnlicher Weise einen Vorfall nachstellen, erzeugt diesen Rahmen durch das Agieren fürs Fernsehen und den immer wieder reflektierten intertextuellen Bezug – beide Verfahren ließen sich als Verfremdungseffekte deuten, mit denen die Soap-Handlung in die kommentierende Distanz rückt. Alles ist nachgestellt, ist, um Brechts zentralen Begriff zu verwenden, „Wiederholung“ und damit antiillusionistisch: „Das Ereignis hat stattgefunden, hier findet die Wiederholung statt.“ 28 Brechts Modell, das den Zeugen des Unfalls in Analogie zum Schauspieler des epischen Theaters setzt, wird von Palmetshofer jedoch in eine Spiel im Spiel-Situation übersetzt: Hier demonstriert nicht der Schauspieler des epi-
27 Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs. 28 Bertolt Brecht. In: GKA 22.1, S. 372.
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schen Theaters eine Figur, sondern zu Darstellern werden fiktive SchauspielerFiguren, die andere Figuren nachstellen. Palmetshofer nutzt das Modell des epischen Theaters, um es auf spezifische Weise zu subjektivieren und mit verschiedenen Perspektiven auf ein Ereignis zu spielen. Geht Brecht noch von der Wiedergabe eines objektiven auktorialen Standpunktes in der Demonstration aus, so führt Palmetshofer eine Reihe subjektiver, intern fokalisierter (und unzuverlässiger) Erzähler als Demonstranten ein. Indem er sie als Figuren auf der Bühne auftreten lässt, integriert er eine neue Mimesis individueller Geschichten in das Modell. Dieses Verfahren unterscheidet sich von der postdramatischen Methode, die Brechts Modell zwar gleichfalls subjektiviert, den unzuverlässigen Erzähler jedoch als versteckte Vermittlungsinstanz einem reinen Diskurstheater einschreibt (vgl. Kap. 3 dieser Arbeit). Auch Palmetshofer bedient sich der distanzschaffenden Mittel des Diskurstheaters, die eine übergeordnete ironisch distanzierte Kommentarebene etablieren. Wie diese noch etwas unentschieden wirkende Suche nach einem neuen Modell epischen Theaters weitergeht, bleibt abzuwarten. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass sich der vermeintliche Gegensatz zwischen der Generation der Postdramatiker und einer jungen Autorengeneration relativieren lässt, wenn man beide auf eine gemeinsame Traditionslinie des epischen Theaters bezieht (ob nun mit oder ohne direkten Bezug auf Brecht). Weder blinde Gefolgschaft noch radikale Ablösung bestimmen die dynamische Entwicklung des Gegenwartstheaters. Sie verläuft vielmehr in Transformationen spezifischer Traditionen.
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Personenregister Abel, Lionel 93 Abramović, Marina 98, 235 Achleitner, Friedrich 114, 116 Adorno, Theodor W. 81 Aischylos 228 Angermeyer, Hans C. 142, 147 Annuß, Evelyn 3, 32, 39–40, 178–182, 216– 219, 221, 223, 226 Aristophanes 150, 215 Artaud, Antonin 39, 41–42, 44, 84, 123, 127, 245 Artmann, H.C. 33, 114, 129 Austin, John 15 Bachtin, Michail 17, 217 Balme, Christopher 4–5, 7, 24, 239 Bärfuss, Lukas 37–38 Barnett, David 4, 7 Barthes, Roland 32, 163, 219 Bartsch, Kurt 114, 189, 218 Bataille, Georges 165 Bayer, Konrad 114, 116–117, 150–151, 229 Becker, Jürgen 107–108, 110 Beckett, Samuel 6, 20–22, 24, 45, 75, 80– 100, 111, 123, 137, 147, 150, 164, 209 Beck, Julian 42–43, 124–125 Benjamin, Walter 14, 129, 217 Berghaus,Ruth 28 Berndt, Frauke 199, 209 Bernhard, Thomas 21–22, 82, 243 Bertolucci, Bernardo 38 Besson, Benno 28 Beuys, Joseph 106–107, 109–110 Billeter, Erika 125 Birkenhauer, Theresia 84, 97 Bischoff, Michael 94 Blanchot, Maurice 165 Bollmann, Horst 86 Booth, Wayne 197 Borgards, Roland 27 Bourdieu, Pierre 17 Boyer, Dieter 259, 261 Brasch, Thomas 24 Brauneck, Manfred 124 Braun, Karlheinz 113
Braun, Volker 24–25, 112 Brecht, Bertolt 2, 6–8, 10, 20, 24, 28, 30– 31, 35, 37–61, 63, 79, 81–82, 84–87, 111, 113, 122–124, 128–130, 132–133, 135, 139, 141–142, 147, 151, 164, 167, 171–174, 188, 190–192, 225, 227, 235, 237, 243, 246, 250–252, 260, 262–263 Brecht, Stefan 85, 123, 129, 133–134, 136 Bremer, Claus 111 Breuer, Lee 6, 134–135, 138 Brocher, Corinna 37 Brock, Bazon 109, 112–113 Broich, Ulrich 17 Brooker, Peter 50 Brook, Peter 89–90, 209 Brown, Helen 44 Brucker, Felicitas 251 Brus, Günter 119 Büchner, Georg 111, 240 Buchwaldt, Martin 239 Buning, Marius 100 Burger, Gerd 123, 128 Butler, Judith 16 Butor, Michel 111 Cage, John 106 Calderon de la Barca, Pedro 93 Calley, William L. 131–132 Case, Sue-Ellen 16 Castorf, Frank 34, 175–176, 233 Čechov, Anton 21 Celan, Paul 217 Chaplin, Charlie 86 Cixous, Hélène 168 Claudius, Matthias 240 Cocalis, Susan L. 178 Conrad, Joseph 167 Crimp, Martin 4 Cummings, Edward E. 164 Danneberg, Lutz 17 Davis, Ronny G. 127–128 Deleuze, Gilles 165 Derrida, Jacques 162, 164, 217, 220
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Personenregister
Descartes, René 241 Deutsch-Schreiner, Evelyn 114 Dieterle, Bernard 199 Dorst, Tankred 24, 102 Dostojewskij, Fjodor 167 Dreher, Thomas 119 Drewes, Miriam 14 Drews, Jörg 246 Drügh, Heinz J. 199 Dumas, Alexandre d. Ä. 175–176 Dupavillon, Christian 129 Dürer, Albrecht 241 Durzak, Manfred 143, 157 Eder, Thomas 115 Ehalt, Hubert Christian 178, 187 Eke, Norbert Otto 24–25, 28, 77, 161–162, 167, 196, 236–237, 240–244 Eliot, Thomas Sterne 165 Elsaesser, Thomas 38 Englhart, Andreas 21 Enzensberger, Hans Magnus 102 Eschberg, Peter 236 Esslin, Martin 81, 91 Euripides 199 Fabre, Jan 4 Fassbinder, Rainer Werner 38, 103 Fichte, Johann Gottlieb 215, 217–218, 227, 232 Fiebach, Joachim 38–39, 41, 44, 51 Finter, Helga 11 Fischer-Lichte, Erika 4, 11–12, 14–15, 18–19, 24, 59, 106, 195, 208, 239 Fletcher, John 111 Fliedl, Konstanze 220 Floeck, Willy 18 Foreman, Richard 5–6, 45, 55, 58, 62, 67, 74–75, 84, 97–98, 106, 123, 132–135, 137–140, 176, 213, 216, 231 Foster, Hal 170 Foucault, Michel 162–165, 220 Frei, Nikolaus 255 Fricke, Harald 17 Frick, Werner 7, 43 Fröhlich, Pea 123, 239 Fuchs, Elinor 5, 86, 161 Fuhrmann, Helmut 83–84, 161, 163, 167
Gageur, Nicole 220 Geier, Andrea 218–220, 229 Gelber, Jack 92, 111 Genet, Jean 164 George, Etienne 129 Gerstl, Elfriede 228–230 Gerstner, Günther 236 Gilcher-Holtey, Ingrid 101, 142 Gilman, Richard 147 Glass, Philipp 134 Glucksmann, André 218 Godard, Jean-Luc 38 Goebbels, Heiner 37, 41 Goethe, Johann Wolfgang 109, 147–148, 150, 254–256, 262 Goetz, Rainald 3–4, 11, 20–21, 30, 34–35, 46, 64, 77–80, 234–247 Gordon, Mel 44 Gorki, Maxim 21 Grätzel, Stephan 24, 239 Graver, Lawrence 92 Greiner, Bernhard 14, 22, 25, 160, 167, 176, 196–197, 205–207, 212 Greisenegger, Wolfgang 11 Grillparzer, Franz 94, 177, 183, 188–189 Gris, Juan 70 Grützmacher-Tabori, Ursula 24 Gussow, Mel 162 Gutjahr, Ortrud 14, 19 Haas, Birgit 2, 38, 249 Habermas, Jürgen 218 Handke, Peter 1–2, 4–7, 10, 14, 16, 18, 20, 23, 25–27, 33, 40, 45–46, 54–56, 59– 61, 63, 65–66, 76–77, 81–82, 84, 86– 89, 92, 95–101, 103–106, 108–118, 121, 125–126, 129–131, 133, 135, 137–144, 147–151, 153–158, 164–165, 168, 170, 172, 176, 180–181, 186, 188, 190, 192, 195–197, 204–209, 213–216, 221, 228, 231–232, 235–236, 238–239, 247, 249, 256, 262 Hartel, Gaby 86, 88, 98 Hassel, Ursula 178 Haß, Ulrike 200 Hatry, Michael 87, 103 Hauschild, Jan-Christoph 202 Hecht, Werner 43, 56
Personenregister
Hecken, Thomas 149 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 136, 215, 217–219, 223, 227, 229, 232 Heidegger, Martin 34, 158, 215, 218–219, 225, 227, 232, 241 Heilmeyer, Jens 123, 239 Heimböckel, Dieter 4 Hein, Jürgen 187 Heise, Wolfgang 38 Helduser, Urte 178, 180 Hensel, Georg 86, 93–94 Herms, Dieter 105, 122, 127–128 Herwig, Henriette 21 Herwig, Malte 141, 143, 149 Herzmann, Herbert 178–179 Heyer, Petra 197 Hiebel, Hans H. 100 Hirst, Damien 98 Hitchcock, Alfred 199 Hobbes, Thomas 242 Hochholdinger-Reiterer, Beate 178 Hochhuth, Rolf 102 Höfler, Günther A. 189 Hölderlin, Friedrich 28, 34, 43, 166–168, 215, 217–219, 223–227, 229–230, 232 Hollmann, Hans 236 Homer 132, 199, 240 Hoppe, Hans 83 Hörbiger, Attila 177 Hörbiger, Paul 177, 179 Hörnigk, Frank 28, 47 Horváth, Ödön von 45, 180 Houseman, John 62 Huller, Eva 27–28, 162, 168 Ibsen, Henrik 32 Ignatius von Loyola 70 Indiana, Robert 168 Irigaray, Luce 168 Jaeger, Dagmar 3, 160, 216, 219–220 Jandl, Ernst 22, 33, 64, 119 Janke, Pia 31, 178, 216–217, 220, 225 Janz, Marlies 178–180, 184, 190, 219 Jelinek, Elfriede 1–5, 7–8, 11–12, 14–15, 18– 21, 23, 30–35, 39–40, 46, 49–51, 56, 58, 63, 72–73, 78, 84, 89, 92, 94–97, 103, 106, 108, 112–115, 117, 120, 126,
281
129, 156, 158, 160, 177–185, 187–193, 197, 215–234, 236, 238, 242, 247, 249, 251, 253–256, 258, 260, 262 Joost, Jörg-Wilhelm 44, 51 Jourdheuil, Jean 29, 160, 162, 164, 166–168 Juers-Munby, Karen 19 Jünger, Ernst 240 Kafka, Franz 24, 47, 63 Kalb, Jonathan 162 Kane, Sarah 4 Kantor, Tadeusz 4 Kaplan, Stefanie 217–218, 223 Kaprow, Allan 106–107, 113 Karasek, Hellmuth 113 Karschnia, Alexander 27–29, 163 Kastberger, Klaus 4 Keim, Katharina 18, 161–163, 167, 170, 175– 176, 214 Kiesel, Helmuth 26 Kipphardt, Heinar 102 Kleber, Pia 38, 42 Klein, Gabriele 14 Kleist, Heinrich von 34, 158, 215–216, 218, 227, 230, 232 Klessinger, Hanna 195 Kluge, Alexander 38, 159, 161, 218, 222 Knilli, Friedrich 111 Knopf, Jan 56 Knowles, Christopher 85, 137, 139–140 Kohlenbach, Margarethe 218–219 Kolesch, Doris 4, 12, 14 Kolleritsch, Alfred 26 Korthals, Holger 9, 18 Kotzebue, August von 244 Kramer, Andreas 64, 67 Krammer, Stefan 7, 40, 178, 180, 187 Krankenhagen, Stefan 241, 243 Krasznahorkai, Kata 25 Kraus, Dorothea 101, 142 Kraus, Karl 22, 113, 180, 192 Kreisler, Georg 180 Kroetz, Franz Xaver 103 Krolow, Karl 240 Kümmel, Peter 2–3, 249 Laclos, Robert de 30 Landa, Jutta 23
282
Personenregister
Lecerf, Christine 230 Lehmann, Hans-Thies 3–6, 8, 10–12, 14, 27– 29, 37–38, 41, 64, 133–134, 141, 160– 161, 163, 195–197, 199, 201–202, 204 Lengauer, Hubert 178 Lichtenstein, Roy 168 Liebens, Marc 160 Loher, Dea 2, 37–38 Löhle, Philipp 251 Lope de Rueda 128 Lücke, Bärbel 219–220 Ludlam, Charles 123 Luhmann, Niklas 241–242 Lukrez 126 Lützeler, Paul Michael 233 Luxemburg, Rosa 167, 169, 255 Lyotard, Jean-François 241
159–171, 173–176, 178, 180, 188, 190, 195–200, 202, 204–214, 216, 218, 220– 222, 227–228, 231, 234–235, 237, 243– 247, 255, 262 Müller, Klaus-Detlef 51
Maciunas, George 108 Malina, Judith 42, 124–125 Manson, Charles 168 Marranca, Bonnie 5–6, 62, 64, 66–68, 74– 76, 133, 135–140 Marschall, Brigitte 104, 125 Martínez, Matías 18 Marx, Karl 164 Mason, Susan Vaneta 128 Mayröcker, Friederike 64 Meinhof, Ulrike 167–169, 255 Mellow, James R. 62 Melzer, Gerhard 205 Mendel, Deryk 86 Meurer, Petra 18, 23, 40, 197–198, 205, 212, 214 Michelson, Annette 170 Minetti, Bernhard 86 Mirtschev, Bogdan 220 Mitchell, Juliet 168 Mnouchkine, Ariane 128 Monroe, Marilyn 169 Moog-Grünewald, Maria 199 Mozart, Wolfgang Amadeus 34 Muehl, Otto 119 Mühe, Ulrich 159 Müller, Heiner 1, 3–8, 11, 18, 20, 24, 27–35, 38–41, 44–49, 54, 56–58, 61, 63–64, 67–68, 72–73, 79, 83–85, 89, 106, 112, 116, 120, 127, 133–134, 139–140, 142,
Ohnesorg, Benno 103 Oldenburg, Claes 112 Oppenheim, Lois 100 Orenstein, Claudia 128 Orthofer, Ingeborg 253
Nägele, Rainer 59, 117, 142, 147, 150 Negt, Oskar 218 Neher, Caspar 43 Nestroy, Johann 180, 187, 192 Neuschäfer, Anne 128–129 Neutsch, Erik 28 Nietzsche, Friedrich 167, 228 Nitsch, Hermann 119–121, 235 Nixon, Richard 131–132 Nünning, Ansgar 198 Nyssen, Ute 31, 180–181
Paik, Nam June 107 Palmetshofer, Ewald 20, 35, 250–258, 260, 262–263 Pasternak, Boris 167 Pavis, Patrice 2, 19 Pechmann, Paul 23 Pektor, Katharina 4 Pelka, Artur 6 Pellin, Elio 38 Petersen, Jürgen H. 173, 199–200 Petras, Armin 37 Peymann, Claus 34, 42, 101, 109, 141, 143, 146, 154–157, 176, 196, 214 Pfister, Manfred 17–18, 89 Pflüger, Maja Sibylle 32, 179, 216–217, 219– 220 Phelps, Lyon 42–43 Picasso, Pablo 70 Pinto, Louis 17 Pirandello, Luigi 111 Piscator, Erwin 123–124 Plath, Sylvia 229 Pollesch, René 5, 37–38, 40–41, 181, 260 Pompe, Anja 143
Personenregister
Pondrom, Cyrena N. 62 Poschmann, Gerda 3–4, 7, 10, 19, 23, 216– 217, 219, 224–225, 236, 241 Pound, Ezra 164, 167 Primavesi, Patrick 3, 5, 38, 166 Profitlich, Ulrich 195 Pütz, Peter 26, 143, 150 Qualtinger, Helmut 180 Raabke, Tilman 25 Raddatz, Frank-M. 12, 37–41, 46–47 Raimund, Ferdinand 178, 187, 191 Rathjen, Friedhelm 90 Rauschenberg, Robert 29 Renner, Rolf Günter 26, 143, 150, 153, 155 Ridout, Nicolas 13 Riha, Karl 129 Roelcke, Thorsten 142 Rose, Ferrel 178 Roselt, Jens 233 Rouse, John 42 Rühle, Günther 103–104, 110, 113 Rühm, Gerhard 64, 114–118, 151, 239 Ryan, Betsy Alayne 62 Salvatore, Gaston 102 Sartre, Jean-Paul 150 Schalk, Axel 89, 97, 100, 209 Schechner, Richard 123 Scheffel, Michael 18 Schiller, Friedrich 81, 85–86, 254–255 Schimmelpfennig, Roland 37, 251 Schleef, Einar 34, 233 Schlingensief, Christoph 34 Schmatz, Ferdinand 115 Schmeiser, Leonhard 219 Schmitt, Olaf A. 5 Schmit, Tomas 107–109 Schneider, Manfred 200 Schößler, Franziska 25, 101, 142 Schröder, Jürgen 3, 102, 142, 146, 153, 220, 236–237, 244 Schubert, Franz 240 Schultheis, Franz 17 Schultze, Brigitte 12 Schultz, Uwe 156 Schumacher, Eckhard 246–247
283
Schumann, Peter 44, 123, 129, 131–132 Schwab, Werner 3, 18, 23–24, 64, 115, 253 Schwarzkogler, Rudolf 119 Seel, Martin 241 Seidenfaden, Ingrid 246–247 Settheimer, Florine 62 Shakespeare, William 30, 48, 93, 109, 111, 149–150, 158, 162, 164, 166–167, 169, 175, 185, 198–199, 232 Shepard, Sam 92 Silberman, Marc 38–39, 41 Simon, Alfred 94, 97–98 Simon, Richard Keller 185 Sonnleitner, Johann 178, 183, 186, 189 Sontag, Susan 143, 148–149, 151–153 Sperr, Martin 103 Spoerri, Daniel 111 Stanitzek, Georg 218–219, 226 Stegemann, Bernd 2, 7, 37, 234, 249–250 Steinecke, Hartmut 26 Steiner, George 22 Stein, Gertrude 3, 20, 42, 47, 61–80, 87, 124, 126, 133, 135, 137–138, 165, 242 Stein, Peter 42, 103 Steinweg, Reiner 47 Stemann, Nicolas 2–3, 14, 19, 34, 156, 233– 234, 249–250 Stifter, Adalbert 26 Stillmark, Hans-Christian 24 Stockmann, Nies-Momme 251 Storr, Annette 64 Strauß, Botho 14, 21–22, 25, 27, 87–89, 92, 133 Streeruwitz, Marlene 23, 253 Stricker, Achim 3, 7, 23, 62, 64, 67, 70, 78, 195–196, 235–236, 238, 241 Stroux, Karl Heinz 86 Swenson, G. R. 164, 169 Szondi, Peter 9 Tabori, George 24 Taylor, Liz 169 Teresa von Ávila 69–70 Thalheimer, Michael 250 Theodorsen, Cathrine 7, 218 Thomsen, Christian W. 11 Thomson, Virgil 62, 69 Tieck, Ludwig 111
284
Personenregister
Tiedemann, Katharina 12 Tigges, Stefan 6 Tophoven, Elmar 82, 90 Trakl, Georg 229 Trier, Lars von 38 Trolle, Lothar 24–25, 175–176 Tscholakowa, Ginka 196 Tükel, Jale 205 Turk, Horst 83 Turrini, Peter 22 Tynan, Kenneth 98 Tytell, John 42, 62–63, 124–125, 127 Valentin, Jean-Marie 83 Vaßen, Florian 200 Vautier, Ben 107, 109 Vechten, Carl van 62 Veit, Carola 86, 88, 98 Visconti, Luchino 38 Visser, Colin 38, 42 Vogel, Juliane 115 Voges, Michael 44, 51 Völker, Klaus 42, 81, 85–86 Voris, Renate 59, 117, 142, 147, 150 Vostell, Wolf 106–111 Walser, Robert 32, 229 Warhol, Andy 29, 31, 112, 161, 164, 168–172, 174, 176, 180, 185, 246
Warstat, Matthias 4, 12 Weber, Richard 241–243 Weber, Ulrich 38 Weibel, Peter 118–119 Weiler, Christel 4, 134 Weiss, Peter 102–103 Wenders, Wim 27 Werner, Oskar 228 Wessely, Paula 177–178 Wieler, Jossi 34, 216 Wiener, Oswald 114–118 Wiens, Wolfgang 109 Wigger, Stefan 86 Wilde, Oscar 148 Wilson, Robert 4–6, 29, 32, 45, 59, 61, 64, 67, 75, 84–85, 92, 97, 106, 123, 132– 140, 160, 162, 176, 213 Windrich, Johannes 243 Winkler, Jean Marie 82 Wirth, Andrzej 4, 6, 9–10, 38, 40–41, 45, 55–56, 58, 63, 66–67, 69–70, 76, 84, 91, 139–142, 164, 238, 262 Wittgenstein, Ludwig 113, 116, 241 Wittstock, Uwe 161–162 Wonder, Erich 34, 202, 221 Wysocki, Gisela von 25 Zumbusch-Beisteiner, Dagmar 187
Dank Vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2012/13 von der Philologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. als Habilitationsschrift anerkannt. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. Mein Dank gilt an erster Stelle Herrn Prof. Dr. Achim Aurnhammer, der den Fortgang der Arbeit mit motivierendem Interesse und anregender Kritik unterstützt hat. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Dieter Martin für wertvolle Hinweise und sein Korreferat. Frau Prof. Dr. Barbara Korte danke ich für die Übernahme des anderen Korreferats. Für die Aufnahme in die Reihe „Studien zur deutschen Literatur“ danke ich der Herausgeberin und den Herausgebern. Herzlich danken möchte ich schließlich Janja Soldo, Eva Killy und Felix Lempp für ihre sorgfältige redaktionelle Unterstützung.