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German Pages 592 [596] Year 1988
RECHTSTHEORIE Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie dee Rechte
Beiheft 7
Politische Theorie des Johannes Althusius
Politische Theorie des Johannes Althusius
Herausgegeben von K a r l - W i l h e l m D a h m / Werner Krawietz Dieter Wyduckel
Vorwort von Werner Krawietz
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Zitiervorschlag: Karl-Wilhelm Dahm, Johannes Althusius E i n Herborner Reditsgelehrter als Vordenker der Demokratie in: RECHTSTHEORIE Beiheft 7 (1988), S. 21 - 41
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Politische Theorie des Johannes Althusius / hrsg. v o n K a r l W i l h e l m Dahm . . . V o r w . von Werner Krawietz. — Berlin: Duncker u. Humblot, 1988 (Rechtstheorie: Beiheft; 7) I S B N 3-428-06273-6 NE: Dahm, K a r l - W i l h e l m [Hrsg.]; Rechtstheorie / Beiheft
Alle Rechte vorbehalten © 1988 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1988 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06273-6
Vorwort Gibt es Gründe, die es rechtfertigen, die politische Theorie des Johannes Althusius (1563 - 1638) zum Gegenstand der modernen rechtstheoretischen Forschung zu machen? Und worin ist — bejahendenfalls — ihr Ertrag für die heutige Theorie und Philosophie des Rechts zu erblicken? Diese und viele andere, fachsystematisch gesehen aus so unterschiedlichen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Theologie und Philosophie, der Politikwissenschaft und der Jurisprudenz herrührende Fragestellungen standen i m Mittelpunkt eines Internationalen Symposions, das aus Anlaß der Wiederkehr des 400. Jahrestages der Begründung der Hohen Schule zu Herborn vom 12. bis 16. Juni 1984 in Herborn stattfand. Warum gerade Herborn als Tagungsort für ein interdisziplinäres und internationales Symposion zur politischen Theorie des Althusius? Der Grund hierfür liegt ganz einfach darin, daß in Herborn — und nicht im benachbarten Siegen, das auch heute wieder Universitätsstadt ist — seinerzeit (i) i m Jahre 1584 durch den damaligen Landesherrn Johann VI., Graf von Nassau-Dillenburg, die berühmte Hohe Schule (,Johannea') begründet wurde, an der Althusius als erster Jurist ein Lehramt übernommen hatte und von 1586 bis 1604 (mit einigen Unterbrechungen) als Professor wirkte, und (ii) daß Althusius hier — nach einigen Vorarbeiten zum römischen Recht (1586: lus Romanum) und zur romanistischen Rechtswissenschaft (1588: Iurisprudentia Romana) seiner Zeit — i m Jahre 1603 seine Politik (Politica) veröffentlichte, die als Grundlage für seine spätere Theorie des Rechts und der Gerechtigkeit diente. (iii) Auch war Althusius hier, ausweislich der Immatrikulationsliste im Jahre 1602 als Rektor der Hohen Schule tätig (vgl. hierzu den Auszug aus der Matrikel in diesem Band). Über das weitere Schicksal der Hohen Schule zu Herborn im 16. und 17. Jhdt. und den Anteil des Althusius an ihrer wissenschaftlichen Entwicklung informiert die i m Auftrage der Stadt Herborn von Joachim Wienecke herausgegebene, unter dem Titel „Von der Hohen Schule zum Theologischen Seminar Herborn 1584 - 1984" veröffentlichte „Festschrift zur 400-Jahrfeier", die im Jahre 1984 in Herborn erschien. Es lag nahe, anläßlich des 400. Jahrestages der Begründung der Hohen Schule auch
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Vorwort
ihres berühmtesten Gelehrten zu gedenken durch den Versuch einer Rekonstruktion und Ref or mulierung der politischen Theorie des A l t h u sius, die zugleich deren Ertrag für unser heutiges politisches Denken über das Verhältnis von Recht, Staat und Gesellschaft erkennen läßt. Worin ist heute die Relevanz der politischen Theorie des Althusius für die rechtstheoretische Grundlagenforschung zu erblicken? Ganz sicherlich darin, daß seine Theorie von Politik, Recht und Staat noch frei war von einer Verengung durch den juristischen Positivismus, der später das Rechtsdenken zu einem praxisfernen und geschichtslosen — abgelöst von allen gesellschaftlichen Gegebenheiten bloß in mente existierenden — vernünftigen Argumentieren zu verflüchtigen suchte und damit die soziale Wirklichkeit allen politisch-rechtlichen Gemeinschaftslebens verfehlen mußte. Auch war seine Theorie der Politik noch nicht präokkupiert von der heute verbreiteten, aber zu einseitigen Auffassung einer Staatszentriertheit allen Rechts, die der Gesetzgebung im staatlich organisierten Rechtssystem einen viel zu prominenten Platz — wenn nicht gar ein Monopol! — für Rechtserzeugung zuschreibt und dabei die nicht formellen, im menschlichen Gemeinschaftsleben wurzelnden Rechtsquellen eher geringschätzig behandelt. I m Hinblick darauf muß ein auf die politischen Bedingungen allen menschlichen Gemeinschaftslebens gerichtetes Rechtsdenken, das sich an der sozialen Wirklichkeit des Rechts orientiert, gerade heute eine wachsende Faszination ausüben, da es nicht ignoriert, daß das Zusammenleben der Menschen — unbeschadet der Existenz einer staatlichen Entscheidungsbürokratie — stets regelgeleitet ist, weil es ohne die normative Orientierung, welche die Regeln des Rechts verleihen, gar nicht bestehen könne. Der Reiz, den das Rechtsdenken des Althusius heute auf uns ausübt, liegt nicht zuletzt auch darin, daß in seiner politischen Theorie die religiösen und die politisch-rechtlichen Ordnungsvorstellungen, die das menschliche Leben in den prämodernen Gesellschaftsformen maßgebend bestimmten, noch nicht voneinander völlig geschieden waren. Wie kaum ein anderer vor ihm, vermochte Althusius in stringenter Form den Nachweis zu führen, daß und wie die Entwicklung des Rechts ursprünglich ihren Ausgang nahm von einigen kleineren Saatbeetgesellschaften um das Mittelmeer herum, nämlich in Israel, Griechenland und im alten Rom, in denen die ersten institutionellen Grundlagen der späteren modernen Gesellschaft ausgebildet wurden. Genau hier liegen die Beweggründe dafür, daß mit der Ausbreitung des Christentums und der Expansion des römischen Rechts in der mittelalterlichen Synthese von kirchlicher und staatlicher Ordnung eine im wesentlichen christliche Gesellschaft entstehen konnte, die durch Papst und Kaiser und die von ihm beherrschten (oder doch wenigstens von ihm repräsentierten) kooperativen
Vorwort
Strukturen verkörpert wurde. Dementsprechend konnte es — nicht zuletzt auch unter dem Einfluß der sich entfaltenden Naturwissenschaften — auf der Ebene der wissenschaftlichen Reflexion dieser Entwicklung zu einer wachsenden Verselbständigung und gesteigerten Verwissenschaftlichung von Theologie, Jurisprudenz und Politik kommen, für die das politische Gemeinschaftsdenken des Johannes Althusius durchaus charakteristisch ist. I m Gegensatz zu der bereits einsetzenden Entwicklung, die auch in Deutschland zur Ausbildung des absolut-monarchischen Regiments führte, trat Althusius für eine gemäßigte und gebundene Form staatlicher Herrschaft ein, auch wenn er den Rahmen staatlicher Aufgaben sehr weit spannte. So steht Althusius als Vorkämpfer städtischer und ständischer Freiheit an der Schwelle eines Jahrhunderts, dessen politische Entwicklung in Deutschland eher in entgegengesetzter Richtung zum Ausbau unbeschränkter Fürstengewalt führte, während in England politische Ideen in blutigen Auseinandersetzungen sich durchrangen, die den Grundanschauungen dieses Streiters für calvinistisch-demokratische Auffassungen durchaus verwandt waren. Durch diese Haltung gewinnt Althusius seine auch für die Folgezeit bedeutende Stellung im Gang der politischen Ideen; sie bringt ihn als einen Vertreter freiheitlicher Staatsideen auch unserer Gegenwart sehr nahe. Die Modellvorstellung für den modernen Staat entnimmt Althusius den kleineren Territorien, wie beispielsweise der Schweiz und den Niederlanden. Auch vermochte Althusius während seiner Herborner Zeit selbst Erfahrungen in der Administration eines kleineren Territoriums zu sammeln, die in seiner Politica ihren Niederschlag gefunden haben. Seine calvinistische Grundanschauung über die Gemeinde ermöglichte es ihm, die dort geübten demokratischen Gepflogenheiten und Verfahrensweisen auf das von ihm konzipierte staatliche Gemeinwesen zu übertragen. Aus all dem folgt eine zum absolutistischen Staat gegenläufiges Modell staatlicher Herrschaft, zu dessen Ausarbeitung Althusius i m Rahmen seiner Politica überaus wichtige Bausteine geliefert hat. Der Dank der Herausgeber gebührt vor allem Herrn Prof. Dr. theol. Wolfgang Kratz, Professor und stellvertretender Leiter des Theologischen Seminars Herborn, der die Tagung vorbereitet und organisiert hat. Unser besonderer Dank gilt ferner dem damaligen Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Herrn Pfarrer D. Helmut Hild, und dem Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Herr Prof. Dr. Otto Rudolf Kissel, die das Symposion durch Rat und Tat ermöglicht haben. Wir danken auch der Stadt Herborn, die die obige Veranstaltung mit unterstützt hat. Dank der finanziellen Unterstützung durch die Evangelische Kirche in Hessen und
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Vorwort
Nassau konnte erstmals eine Übersetzung der Politica ins Deutsche in Angriff genommen werden, die — besorgt durch Herrn Oberstudiendirektor H. Janssen aus Melle — gegenwärtig schon in Form einer Rohübersetzung vorliegt und voraussichtlich in naher Zukunft veröffentlicht werden kann. M i t dem Dank an alle Teilnehmer des Symposions, die einen Beitrag zu diesem Bande geleistet haben, verbinden w i r ein stilles Gedenken an Herrn Professor Dr. Henrik Jan van Eikema Hommes, den ein — viel zu früher! — Tod am 3. September 1984 aus unserer Mitte gerufen hat. Sein i m Zeitpunkt der Tagung schon druckfertiger Beitrag w i r d hier in authentischer Form abgedruckt. Diesem Bande konnten einige Bebilderungen beigegeben werden, die einiger kurzer Hinweise bedürfen. Das bisher so nicht veröffentlichte B i l d des Althusius entscheidet allem Anschein nach den Streit um seinen Geburtstag bzw. um sein Geburtsjahr zugunsten des Jahres 1563, sofern die in diesem Bande vertretene Deutung zutreffen sollte, daß es zum 60. Geburtstag des Althusius angefertigt wurde. Auch enthält dieser Band in Kopie — wohl zum ersten Male — die freilich unvollständige, zum Teil leicht beschädigte Promotionsurkunde von Althusius' Promotion i n Basel, deren Original im Stadtarchiv Herborn aufbewahrt wird. Die Veröffentlichung dieses Bandes wäre nicht zustandegekommen ohne die großzügige Unterstützung des Verlages Duncker & Humblot. Hierfür und für sein persönliches Engagement sind die Herausgeber dem Geschäftsführer des Verlages, Herrn Rechtsanwalt Norbert Simon, zu großem Dank verpflichtet. Auf diese Weise wurde ermöglicht, daß dieses Buch erscheint — eben rechtzeitig zum 350. Todestag i m Jahre 1988! Für ihre Mithilfe beim Druckfertigmachen der Manuskripte, bei Fahnen- und Umbruchkorrekturen und beim Anfertigen des Registers danke ich den Mitarbeitern an meinem Lehrstuhl, insbesondere den Sekretärinnen Frau Martina Böddeling, Frau Dagmar Ordelheide und Frau Andrea Freund sowie meinen Assistenten und wissenschaftlichen Hilfskräften: Frau Referendar Petra Werner und den Herren Assessor Antonis Chanos, Dr. Athanasios Gromitsaris, Assessor Andreas Schemann und stud. iur. Athanasios Vrettis. Münster, im Dezember 1987 Werner Krawietz
Inhaltsverzeichnis
I. Ausgangslage der politischen Theorie im Zeitalter von Humanismus und Reformation Otto Rudolf Kissel: Begrüßungsansprache
....
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Johannes Althusius — ein Herborner Rechtsgelehrter als Vordenker der Demokratie
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Karl-Wilhelm
Bernd
Dahm:
Rüthers:
Reformation, Recht und Staat
...
43
Johannes Althusius als Syndicus Reipublicae Embdanae. Ein kritisches Repetitorium
67
I I . Person, Leben und Werk des Johannes Althusius Heinz
Antholz:
Gustav Adolf
Benrath:
Johannes Althusius an der Hohen Schule in Herborn Heinz
89
Holzhauer:
Hat Althusius i n M a r b u r g studiert? Heinrich
....
109
Janssen:
Student sein — vor 400 Jahren. Ein Dokument der „Hohen Schule" Herborn 113 O. Moorman
van
Kappen:
Die Niederlande in der „Politica" des Johannes Althusius
123
Hans Jürgen Warnecke: Althusius und Burgsteinfurt
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Inhaltsverzeichnis I I I . Politische Theologie als politische Theorie
Hans Helmut
Eßer:
Calvin und Althusius. Analogie und Differenz ihrer politischen Theorien 163 Charles S. McCoy: The Centrality of Covenant in the Political Philosophy of Johannes Althusius 187 Karl Heinrich
Rengstorf:
Die Exempla sacra in der Politica des Johannes Althusius Wilhelm
201
Schmidt-Biggemann:
Althusius' politische Theologie
213
IV. Souveränität, Reich und Recht in den Reichsstaatsrechtslehren Rudolf
Hohe:
Althusius und die Souveränitätstheorie der realen und der personalen Majestät 235 Gerhard
Menk:
Johannes Althusius und die Reichsstaatsrechtslehre. Ein Beitrag zur W i r k u n g der Althusianischen Staatstheorie 255 Hans Ulrich
Scupin:
Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Theorien von Gesellschaft und Staat des Johannes Althusius und des Jean Bodin 301 Carl Siedschlag: Machtstaat und Machtstaatsgedanke in den politischen Lehren des Johannes Althusius und des Justus Lipsius 313 Heinhard
Steiger:
Zur Kontroverse zwischen Hermann Vultejus und Gottfried Antonius aus der Perspektive der politischen Theorie des Johannes Althusius 333
Inhaltsverzeichnis
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V. Theorien von Redit, Staat und Gesellschaft Hendrik
Jan van Eikema
Hommes:
Naturrecht und positives Recht bei Johannes Althusius Werner
371
Krawietz:
Kontraktualismus oder Konsozialismus? Grundlagen und Grenzen des Gemeinschaftsdenkens i n der politischen Theorie des Johannes Althusius 391 Walter
Spam:
P o l i t i k als zweite Reformation: Die historische Situation der „ P o l i tica" des Johannes Althusius 425 Paul-Ludwig
Weinacht:
Althusius — ein Aristoteliker? Über Funktionen praktischer Philosophie i m politischen Calvinismus 443 Dieter Wyduckel: Althusius — ein deutscher Rousseau? Überlegungen zur politischen Theorie i n vergleichender Perspektive 465
VI. Strukturprobleme des neuzeitlichen Rechtsstaates Norbert
Achterberg:
Gewaltenteilung bei Althusius
497
Hasso Hofmann: Repräsentation i n der Staatslehre der frühen Neuzeit. Zur Frage des Repräsentationsprinzips in der „ P o l i t i k " des Johannes Althusius 513 Peter Jochen Winters: Das Widerstandsrecht bei Althusius Thomas
543
Würtenberger:
Zur Legitimation der Staatsgewalt in der politischen Theorie des Johannes Althusius 557
Dieter Wyduckel: Auswahlbibliographie zu Leben und Werk des Johannes Althusius . . 577 Personenregister
585
Verzeichnis der Mitarbeiter
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I. Ausgangstage der politischen Theorie im Zeitalter von Humanismus und Reformation
BEGRÜSSUNGSANSPRACHE des Präses der Synode der Evangelischen Kirche i n Hessen und Nassau, Otto Rudolf Kissel, Darmstadt Es ist m i r Ehre und Vergnügen, die Teilnehmer des Althusius-Symposion im Namen des Gastgebers, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, begrüßen zu dürfen. Für die gastgebende Kirche ist es Freude und Ehre zugleich, einen so erlauchten interdisziplinären Kreis begrüßen zu dürfen zu einem Anlaß, der geistig keineswegs auf Hessen und Nassau beschränkt ist, der aber zu einem nicht unerheblichen Teil seinen Ursprung i m Gebiet unserer Landeskirche hat, nämlich in Herborn. W i r feiern in diesem Jahr die 400. Wiederkehr der Gründung der Hohen Schule i n Herborn, feiern es voll Stolz, vor allem aber auch in Dankbarkeit. Das aus diesem Anlaß veranstaltete Symposion gilt einer Persönlichkeit, die, wie man heute sagt, einen Mann der ersten Stunde war, dem Johannes Althusius, 1586 als erster Professor der Jurisprudenz an diese Hohe Schule berufen. Wenn auch die Hohe Schule in der Konzeption ihrer seinerzeitigen Gründung nicht mehr besteht, so ist doch das Gedächtnis an sie keineswegs verlorengegangen, und sie hat i m theologischen Seminar einen würdigen Nachfolger gefunden, eine Qualifizierung, die sich ein Laie vielleicht eher leisten kann als ein Theologe. Damit komme ich zu einer doppelten Verlegenheit als Begrüßungsredner: der eigenen des Laien und der eines poeta laureatus, der nur eine gegenständlich beschränkte 400jährige Tradition der Hohen Schule rühmen kann. Die eigene Verlegenheit besteht darin, nicht als Althusius-Kenner ausgewiesen zu sein, und dieses Prädikat auch nicht einmal für sich in Anspruch nehmen zu können. Das enthebt Sie andererseits der Gefahr, daß i n der Begrüßung etwas vorweggenommen wird, was Sie eigentlich selbst sagen wollten — ganz zu schweigen von der Gefahr, daß etwas zu Ihnen Entgegengesetzes gesagt würde, das dann noch unter die Rubrik „a. A." oder gar „abwegig" in die Fußnoten gerät. So
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Otto Rudolf Kissel
stehe ich vor Ihnen als einer, der von Althusius zunächst nicht mehr im Gedächtnis hatte als bescheidene und höchst fragmentarische Erinnerungen an Anfangsvorlesungen und gelegentliche Lesefrüchte. Ich stehe vor Ihnen aber als Interessierter, der hierher kommt, um Neues zu lernen, und damit vielleicht dem Charakter dieser Einrichtung am ehesten Rechnung trägt. Die zweite Verlegenheit ist die bereits angedeutete, daß nämlich die Hohe Schule mit ihren ursprünglich drei Fakultäten nur noch eine Fakultät hat, wobei ich dieses „ N u r " quantitativ zu verstehen bitte und nicht als Ausdruck von Juristenhochmut ob der inzwischen geschlossenen seinerzeitigen Juristenfakultät. Aber diese Verlegenheit ist nur eine scheinbare, denn am Anfang der Herborner Hohen Schule stand die theologische Fakultät, und sie war auch der Schwerpunkt der dortigen Arbeit. Von daher ist es also durchaus berechtigt, von einer 400jährigen Tradition zu sprechen, wenn w i r in der Euphorie der Jahrhundert-Feier einige nicht unerhebliche Unterbrechungszeiten vernachlässigen. Und fast könnte man auch von einer personellen Tradition sprechen, denn am Anfang der Hohen Schule waren es drei Professoren in der theologischen Fakultät, also eine ähnliche personelle Ausstattung wie heute auch, wobei einer damals schon gleichzeitig als Pfarrer tätig sein sollte. Nur stutzt der heutige Leser, wenn er als Facultas des zweiten Professors liest: „Praktische Theologie und Polemik" — letzteres w i r d heute wohl, jedenfalls offiziell, nicht mehr gelehrt, ich verzichte auf eine Glosse. Johannes Althusius gehört nicht zu den Persönlichkeiten, die in der aktuellen rechtspolitischen Diskussion oder im akademischen Lehrbetrieb eine echte Rolle spielen — sehr zu Unrecht, wie ich nach schüchternen Versuchen, im Vorfeld dieser Zusammenkunft ihm ein wenig näher zu kommen, bestätigen möchte. Otto von Gierke hat in der ersten Auflage seines grundlegenden Werks über Althusius im Jahre 1880 im Vorwort geschrieben von Althusius als einem „. . . fast verschollenen deutschen Gelehrten, dessen politische Doktrin der Verfasser einen hervorragenden Platz in der Geschichte der Staatswissenschaften vindizieren zu müssen glaubt". Diese Feststellung hat mich für meinen spärlichen Wissensstand ebenso beruhigt wie die Tatsache, daß i m Festvortrag zum 300jährigen Jubiläum dieser hervorragenden Einrichtung zwar viele Gelehrte, die hier wirkten, namentlich erwähnt wurden, der Name Althusius aber total fehlt, vielleicht auch deshalb, weil er kein Theologe war.
Begrüßungsansprache
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So hat dieses Symposion mehr Bedeutung als nur die einer angemessenen wissenschaftlichen Veranstaltung anläßlich eines 400jährigen Jubiläums — es entreißt i n aller Öffentlichkeit einen Gelehrten der Vergangenheit und der Vergessenheit, der es verdient, uns wieder präsent zu sein. Dabei verkenne ich nicht, daß es seit Otto von Gierke eine Vielzahl von Werken gibt, i n denen er erwähnt, abgehandelt und geschildert wird, sei es unter anderen, sei es auch selbständig, vor allem biographisch. Und JURIS, unser juristisches Informationssystem, hat m i r eine mehrere Meter lange Zusammenfassung der Veröffentlichungen ausgedruckt, i n denen es — zumindest auch — um Althusius geht. Ich sagte, ich habe schon i m Vorfeld einiges dazugelernt, was A l t h u sius und seine Auffassung angeht, dazugelernt sowohl i n meiner ehrenamtlich-kirchlichen Funktion, als auch i m Hauptberuf, der mich ja gerade i n diesen Wochen mitten hineinstellt i n die Lebenswirklichkeit des Gemeinwesens, u m das es ja auch Althusius gegangen ist, um das Gemeinwesen und seine rechte Ordnung. Ich habe i n der respektablen, uns allen i m Manuskript als Umdruck vorliegenden Ubersetzung der „Politikwissenschaft" unseres Jubilars m i t Interesse gelesen (und von dieser möchte ich hier nur sprechen) — oder sollte ich ehrlicherweise sagen, geblättert, zunächst nur i n der Hoffnung, einige zugkräftige Zitate zu finden. Aber ich habe mich an einigen Stellen festgelesen, sei es nun bei den Anflügen des Arbeitsrechts und des Koalitionsrechts (III, 40 f.; IV, 4), sei es bei den Gerichten (VI, 41 ff.), sei es, wenn eine sehr freie Interpretation erlaubt ist, beim Präses, dem heiligen Gebete, gute Ratschläge und heilbringende Ermahnungen attestiert werden (VIII, 30 ff.), sei es die Kriminalpolitik (X, 11) oder steuerrechtliche Erkenntnisse bis hin zum Gedanken der Erdrosselungssteuer (XI, 37 f.), sei es der dargestellte hohe Wert der Rechtsmittelinstanzen (XVI, 8), seien es vor allem die Ephoren als den Anfängen vielleicht der Gewaltenteilung, jedenfalls aber der unabhängigen Rechtsprechung, besonders der Verfassungsgerichtsbarkeit (Kap. X V I I I ) , sei es die Bedeutung der Gesetze ( X V I I I , 39 f.), wobei die Eingeweihten mit Recht vermuten, daß ich gerade an dieser Stelle und der in der Einleitung gegebenen scharfen Unterscheidung zwischen Politik und Juristerei, hier von mir als Rechtsprechung verstanden, in A l t husius einen meiner bis dahin unbekannten geistigen Väter entdeckte. Und wenn Althusius von der „Fackel der Einsicht" spricht, so w i r d der Revisionsrichter sofort erinnert an jene die Kuppel des früheren Reichsgerichts i n Leipzig zierende, ja krönende symbolische Darstellung der Wahrheit m i t der erhobenen Fackel. Ich sagte schon, ich habe mich an einigen Stellen festgelesen und großen Gewinn dabei empfunden. Althusius wie seine Zeit, also auch 2 RECHTSTHEORIE, Beiheft 7
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Otto Rudolf Kissel
die der Gründung der Herborner Schule, sind eindrucksvoll, und vieles von dem damals Gedachten drängt Parallelen zur Gegenwart auf und zeigt so, wie das Denken, auch das des Juristen, eingebettet ist i n die Geschichte. W i r müssen Althusius hineinstellen i n die Zeit u m 1600, die ja eine geistige Umbruchsituation von ungeahntem Ausmaß darstellt: Die Reformation war gefestigt, der Humanismus selbstverständlich. Die Renaissance bringt ein neu zu nennendes Menschenbild, die Naturwissenschaften blühen auf. I m Rechtsleben unseres Volkes treten Gewohnheit und Tradition zurück, viele Gesetze, ja Kodifikationen werden bestimmend. Die Volksrichter treten zurück hinter den rechtsgelehrten Richter, gepaart m i t beginnender Rechtsfremdheit weiter Bevölkerungskreise und einer Stärkung der Obrigkeit. Es ist schon faszinierend, plötzlich und unvermittelt i n dieser Zeit an die erste wohl geschlossene systematische Staats- und Gesellschaftslehre unseres Lebenskreises zu geraten (man könnte auch von den A n fängen der modernen Soziologie sprechen), die geprägt ist durch den Calvinismus und nur durch diese Basis recht verstanden werden kann. Ich meine damit beispielsweise etwa die Gedanken des Althusius über das Volk als Inhaber der höchsten Gewalt, es klingt so etwas die grünaktuelle Basis-Demokratie an. Ich denke an das Widerstandsrecht gegen tyrannische Obrigkeit, die i n totalem Mißverständnis heute ihre Epigonen auch i n Pfarrern unserer Landeskirche hat. Ich denke an eine Konzeption des Naturrechts, die sich i n ihrer gesetzesverbessernden und lückenfüllenden Funktion wesentlich bescheidener ausnimmt, als manches i n der Gegenwart. Ich denke vor allem daran, daß dies alles nicht als logisches Denkspiel oder theoretisches Modell erdacht wird, sondern Ausdruck, fast könnte man sagen, zwingende Folge eines von tiefer religiöser Überzeugung geprägten Denkens und Empfindens ist. Kurzum, es gibt für mich, erlauben Sie diese persönliche Abschweifung, bei Althusius genügend Interessantes und Nachdenkenswertes für alles das, womit ich mich beschäftige, nicht zuletzt auch für die Rechtspolitik. M i t diesen Überlegungen ist wohl hinreichend dargetan, daß die Beschäftigung m i t Althusius — und das kommt ja i m gesamten Tagungsprogramm m i t aller Deutlichkeit zum Ausdruck — keine rein historische Betrachtung ist, sondern uns m i t seinem Denken i n die Aktualität führt. Und dabei erinnere ich mich an ein persönliches Erlebnis hier i n Herborn von vor wenigen Jahren: Die holländische Königin besuchte die Bundesrepublik, und der Besuch ging auch i n die Herborner Hohe Schule; dabei war auch ein
Begrüßungsansprache
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Gespräch i m kleinen Kreis, an dem teilzunehmen ich das Vergnügen und die Ehre hatte. Als nun einer der hochgelehrten Herborner Seminarprofessoren m i t einer zweifellos wohlfundierten historischen Betrachtung über die Hohe Schule, ihre Geschichte und ihre Bedeutung für die Niederlande ansetzen wollte, wurde er schon zu Beginn der Einleitung unterbrochen m i t der Bemerkung der Königin: „Lassen Sie uns lieber über die Zukunft sprechen." M i t dieser arabesken Selbsterinnerung möchte ich meine Begrüßungsrede beenden, eingedenk der Erkenntnis des Althusius, daß rhetorische Naturen streitsüchtig und kampfeslustig und deshalb für das Gemeinwesen gefährlich sind (VII, 33). Ich danke den Initiatoren dieser Zusammenkunft für viele Mühe und Kraft, die sie darauf verwendet haben. Ich danke allen, die Beiträge für dieses Symposion vorbereitet haben und an der Aussprache teilnehmen. Ich wünsche Ihnen allen für diese Veranstaltung einen reichen geistigen Ertrag, und wünsche Ihnen allen schöne und ertragreiche Stunden i n Herborn.
JOHANNES ALTHUSIUS — E I N HERBORNER RECHTSGELEHRTER ALS VORDENKER DER DEMOKRATIE* Von Karl-Wilhelm Dahm, Münster Johannes Althusius: dieser Name ist hier i n Herborn nicht ganz unbekannt. Es gibt eine Althusius-Straße, einen Althusius-Preis. Der Name w i r d gelegentlich i n den Zeitungen erwähnt. Gerade i n den letzten Tagen ist mehrfach auf das internationale Althusius-Symposion aus Anlaß der 400-Jahr-Feier der Hohen Schule hingewiesen worden. Und jetzt hat dieser Kongreß begonnen: 25 Fachgelehrte aus Rechts- und Sozialwissenschaften, Geschichte und Theologie werden sich mit eigenen Beiträgen an der wissenschaftlichen Diskussion über Werk und Wirkung von Johannes Althusius beteiligen. Und Sie, meine Damen und Herren, sind heute abend in großer 2'ahl aus Herborn und seiner Umgebung i n diese, schon von Althusius benutzte Aula der alten Hohen Schule gekommen, um sich aus Anlaß dieses Symposions ein wenig genauer über Werk und Wirkung eines der größten Männer aus Herborns großer Zeit zu orientieren. E i n solches Interesse an Althusius ist ja keineswegs selbstverständlich. I n den letzten Jahren habe ich bei allerlei Gelegenheiten wittgensteiner, siegerländer und nassauische Lehrer, Pfarrer und Juristen befragt, was sie denn von Althusius wüßten. Den meisten war nicht einmal der Name bekannt, ganz zu schweigen von der weitreichenden Wirkung des Mannes, der i n mehrfacher Hinsicht Landsmann unserer Heimat war. Denn Althusius hat ja nicht nur viele Jahre als Professor an der hiesigen Hohen Schule gelehrt, als Rektor ihr wissenschaftliches Profil wesentlich mitgestaltet sowie hier sein wichtigstes Buch, die Politica, geschrieben und veröffentlicht; sondern er ist auch i n dieser hiesigen Gegend geboren und aufgewachsen: in dem ca. 35 k m von Herborn entfernten Dorf Diedenshausen bei Berleburg. Er ist ein K i n d dieses Landes; von unserer Landschaft, ihren Lebensverhältnissen und ihrem Menschenschlag von klein auf geprägt. Der Bekanntheitsgrad dieses Mannes, der heute als einer der wichtigsten Vordenker der Demokratie gilt, ist freilich auch außerhalb seiner engeren Heimat, gemessen an seiner internationalen Wirkung, nicht eben überwältigend. Lehrer und Schüler kennen ihn nicht, weil er i n * öffentlicher Vortrag aus Anlaß des Althusius-Symposions i n der Hohen Schule Herborn am 12. J u n i 1984.
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Karl-Wilhelm Dahm
den Geschichtsbüchern der Schulen und den einschlägigen historischen Nachschlagewerken (etwa i m Ploetz) kaum oder gar nicht erwähnt wird. Ich notiere das nicht zuletzt deshalb, weil der Sachverhalt i n der englischsprachigen Welt offenkundig anders liegt. Für die Bibliographische Enzyklopädie „Printing and the mind of man" (von J. Carter und P. Muir; London 1967) gilt die Politica „anerkanntermaßen als eines der bedeutendsten Dokumente i n der Geschichte der Staatswissenschaften"; es w i r d sogar behauptet, daß die heutige Bedeutung des Wortes Politik Althusius zu verdanken sei. I n den Vereinigten Staaten bin ich selbst zu meiner Verwunderung mehrfach auf Althusius angesprochen worden, wenn ich erwähnte, daß ich lange am Theologischen Seminar i n Herborn gearbeitet habe. Für viele Amerikaner und nicht nur für akademische Lehrer gilt er als einer der Vorväter und Inspiratoren der amerikanischen Verfassung von 1789. Es stellt sich also die Frage, warum Althusius in der deutschen Öffentlichkeit i m Unterschied zu anderen bedeutenden historischen Gestalten so wenig bekannt ist, während man sonstwo und auch in deutschen wissenschaftlichen Fachkreisen längst erkannt und darauf aufmerksam gemacht hat, daß seine Gedanken über die Volkssouveränität und den Gegenseitigkeitsvertrag zwischen Volk und Regierung schon 200 Jahre vor der Amerikanischen Verfassung und vor der Französischen Revolution (1789) zu Papier gebracht und zur Diskussion gestellt wurden. Die A n t w o r t auf diese Frage muß sicher damit zusammenhängen, daß die Auffassungen des Althusius i m Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts, i n dem die Prinzipien der Demokratie und Volkssouveränität eher bekämpft als gefördert wurden, bewußt oder unbewußt verdrängt und schließlich i n der politischen Öffentlichkeit vergessen wurden. Allerdings hat G. Menk, der jüngste Historiograph der Herborner Hohen Schule, kürzlich darauf aufmerksam gemacht, daß die Gedanken des Althusius unter der Decke der konventionellen politischen Publizistik sehr wohl auch i n der Rechtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts i n vielerlei Äußerungen virulent waren. Doch ist die Aufmerksamkeit einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit erst i m Jahre 1880, durch eine damals aufsehenerregende Veröffentlichung des renommierten Rechtsprofessors Otto von Gierke, wieder auf Althusius gelenkt worden. Seitdem vollzieht sich i n den zuständigen wissenschaftlichen Disziplinen eine vielfältige Rezeption des AlthusiusWerkes: I n den Vereinigten Staaten schon während der dreißiger Jahre, stark vorangetrieben durch den aus Deutschland emigrierten Professor Carl Joachim Friedrich; i n Deutschland dann, unterbrochen durch die nationalsozialistische Zeit, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg und, wenn man von dem engagierten Interesse an unserem Symposion ausgehen kann, i n ständig zunehmendem Maße. Allerdings dauert es offenbar seine Zeit, bis wissenschaftliche Diskussion und Forschungsergebnisse
Althusius — ein Herborner Rechtsgelehrter
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sich bis zu den Autoren von Lehr- und Schulbüchern durchgesprochen haben. Ein anderer Grund für das Unbekanntsein des Althusius könnte darin liegen, daß sein zentrales Werk, die Politica, sprachlich und inhaltlich schwer zugängig ist. Sie ist i n eigenwilligem Stil lateinisch geschrieben; inhaltlich vermischen sich in ebenso eigenwilliger Weise theologische und juristische Denkweisen. Wer die Politica lesen und studieren w i l l , muß nicht nur das spätmittelalterliche Latein beherrschen, sondern er muß wegen der vielen abgekürzten Verweise auf Bibelstellen auch die Heilige Schrift gut kennen; er muß schließlich sowohl mit theologischer als auch mit juristischer Gedankenführung fachlich vertraut sein. Dies alles zusammen findet sich selten und so haben es nur wenige Gelehrte gewagt, sich in die unmittelbare Diskussion mit dem Originaltext einzulassen. Andererseits war es auch nicht möglich, statt aus dem schwierigen lateinischen Orginaltext die Gedanken des Althusius i n einer sachgerechten deutschen Übersetzung zur Kenntnis zu nehmen und sich über eine solche Fassung mit ihnen auseinanderzusetzen. Eine adäquate deutsche Übersetzung gab es nämlich bisher nicht; übersetzt waren nur Teilabschnitte. Wiederum ist der Unterschied zu den amerikanischen Verhältnissen zu notieren, wo eine englische Gesamtübersetzung der Politica seit Jahrzehnten vorliegt und Teilstücke daraus i n verschiedenen wissenschaftlichen Fächern verbreitet sind. Nicht selten w i r d die englische Übersetzung selbst i n Deutschland verwendet, wenn man sich rasch informieren w i l l , ohne sich der Mühsal einer Beschäftigung mit dem lateinischen Originaltext aussetzen zu wollen oder zu können. Diese mißliche Lage soll nun i m Zusammenhang unseres Herborner Kongresses endgültig behoben werden. I n Herrn Oberstudiendirektor H. Janssen aus Melle konnten w i r einen Übersetzer gewinnen, der gründliche lateinische Sprachkenntnisse und das notwendige Vertrautsein mit theologischen und juristischen Denkweisen miteinander verbindet. Bald also können alle Interessenten sich mit den politischgesellschaftlichen Grundgedanken der Politica anhand einer kompetenten Übersetzung beschäftigen. Von diesem wichtigen Buch möchten w i r Ihnen heute Abend einen kleinen Eindruck zu vermitteln versuchen. Vorher jedoch wollen w i r uns i n einem ersten Teil mit der Biographie des Althusius und mit der offenen Frage nach Einflüssen seiner heimatlichen Lebenswelt auf sein Werk beschäftigen. I . Z u r Biographie des Johannes Althusius (1557—1638)
Als Geburtsjahr des Johannes Althusius gilt allgemein 1557. Von dieser Jahreszahl ging wohl auch er selbst aus. Gelegentlich werden über] egenswerte Gründe dafür diskutiert, ob sein Geburtsdatum ein paar Jahre später anzusetzen sei, vielleicht 1563.
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Sein Geburtsort Diedenshausen bei Berleburg liegt i m nassauischwittgensteinischen Grenzgebiet. Der junge Johannes dürfte dort zunächst einmal das normale dörfliche Alltagsleben eines Bauernjungen geführt haben; auch wenn manche meinen, daß er aus einer etwas gebildeteren Familie gekommen sein müsse, vielleicht sogar als unehelicher Seitensproß aus dem wittgensteinischen Grafenhause stamme. Jedenfalls dürfte er mit den eigentümlichen dörflichen Lebensverhältnissen seiner Heimat auf das engste vertraut gewesen und von ihnen sowohl i n seiner Persönlichkeit als wahrscheinlich auch i n seiner Ideenwelt nachhaltig beeinflußt worden sein. Auf diesen Aspekt ist schon deshalb später zurückzukommen, weil er i n der Althusiusforschung bisher merkwürdig wenig beachtet wurde. Wie von seinem Elternhaus haben w i r auch von seiner Schulbildung keinerlei Kenntnis. Wahrscheinlich hat der junge Johann Althaus, wie sein Name ursprünglich lautete, bevor er ihn nach der A r t damaliger Studenten in Althusius lateinisierte; — wahrscheinlich also hat Johann Althusius die Lateinschule zu Berleburg von deren Gründung i m Jahre 1577 an besucht. Da Althusius 1577 aber schon zwanzig Jahre alt war, ist anzunehmen, daß er vorher im Privatunterricht, vielleicht beim Pfarrer, mit den wichtigsten Voraussetzungen für sein Studium vertraut gemacht wurde. Daß er die Berleburger Lateinschule besuchte, ist daraus zu schließen, daß er sich gerne auf den Gründer und ersten Leiter dieser Anstalt berufen hat, auf den berühmten calvinistischen Theologie-Professor Caspar Olevian (1536—1587). Olevian hatte noch mit Calvin (1504—1564) in persönlichem Kontakt gestanden, war später als Professor i n Heidelberg zu einem führenden Repräsentanten der Foederaltheologie geworden und hatte 1577 am Hofe des wittgensteinischen Grafen Zuflucht gefunden, nachdem er von seinem Heidelberger Lehrstuhl aus konfessionspolitischen Gründen vertrieben worden war. Vom Berleburger Hof aus nahm Olevian starken Einfluß auf Schulsystem und Kirchenorganisation nicht nur i m engeren Raum von Wittgenstein, Nassau und Hessen, sondern darüber hinaus auf die theologische und organisatorische Ausrichtung des gesamten Calvinismus. Auch die Konzeption der Hohen Schule Herborn hat er maßgeblich mitgestaltet; bei ihrer Gründung wurde er zu ihrem ersten Theologie-Professor ernannt. Wenn Althusius nun diesen Caspar Olevian als seinen wichtigsten Lehrer und Mentor erwähnt, dann ist kaum anzunehmen, daß er ihn erst in Herborn kennenlernte: Schon daraus, daß Olevian sich maßgeblich dafür eingesetzt hatte, Althusius nach Herborn zu holen, kann vermutet werden, daß er ihn vorher bereits kannte. I n Herborn selbst war dann der Zusammenarbeit von Althusius und Olevian nur ein kurzer Zeitraum beschieden: wenige Monate, nachdem Althusius in Herborn eingetroffen war, starb Olevian, nur 51 Jahre alt. Beide müssen sich also, wenn die
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Berufungen des Althusius auf seinen Lehrer Olevian einen Sinn machen sollen, vor allem i n Olevians Berleburger Zeit (1577—1584), wahrscheinlich i n der Lateinschule näher begegnet sein; vermutlich, weil Althusius diese Schule besuchte. K a u m etwas bekannt ist ebenfalls aus den ersten Studienjahren. Wir wissen nur, daß er von Graf L u d w i g von Wittgenstein persönlich stark gefördert wurde. Als Stipendiat hat er seine ersten Semester wohl in Marburg und K ö l n zugebracht, bevor er i n Genf und Basel von jenem eigentümlichen kulturellen und wissenschaftlichen Klima erfaßt und geformt wurde, i n dem sich engagiert-calvinistische Theologie mit stadtbürgerlich-humanistischer Weltoffenheit und mit genossenschaftlichfrühdemokratischen Formen des politischen Lebens verbunden hatten. Diese Verbindung hat sein eigenes Denken offenkundig stark durchdrungen und sein Werk mitgeprägt. Das erste exakte Datum seiner Biographie vermittelt die Baseler Promotionsurkunde zum Doctor juris utriusque vom Jahre 1586. Kurz darauf, zwei Jahre nach der Gründung der Johannea, wie die Hohe Schule nach ihrem wichtigsten Promotor, dem nassauischen Landesherrn Johann VI. benannt worden war, kam der fast 30jährige Althusius nach Herborn, wurde hier zunächst Institutionarius, eine A r t wissenschaftlicher Assistent, und 1588 ordentlicher Professor. Vier Jahre danach, 1592, schien er Herborn schon wieder den Rücken kehren zu wollen, als er einem scheinbar verlockenden Ruf nach Burgsteinfurt folgte; schon nach wenigen Jahren allerdings kehrt er von dort, offenbar ernüchtert, an die Johannea zurück. I n dieser kurzen Zeit hatten sich freilich die Verhältnisse der Hohen Schule gewaltig geändert: Die Anstalt war i m A p r i l 1594, zehn Jahre nach ihrer Gründung, von Herborn nach Siegen verlagert worden; hauptsächlich, weil Herborn sich angesichts der unerwartet rasch angestiegenen Studentenzahlen für den benötigten Wohnraum und für die Ernährung so vieler neu hinzugekommener Menschen als ein zu kleiner Ort erwies und weil man sich von der größeren und reicheren Stadt an der Sieg eine bessere ökonomische Unterstützung für die stets an Geldnot leidende Hochschule erwartete. I n Siegen wurde Althusius bald nach seiner Rückkehr aus Steinfurt zum Rektor der Johannea ernannt; dort schlug er auch persönlich und gesellschaftlich tiefere Wurzeln. Durch seine Heirat mit Margarete Neurath wurde er Mitglied einer angesehenen und einflußreichen Siegener Familie; seine andauernde Verbundenheit mit den Neuraths kommt nicht zuletzt in der zehn Jahre später formulierten Widmung seiner Politica an den Schwager, Rechtsanwalt D. M a r t i n Neurath aus Siegen zum Ausdruck.
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Die Hoffnung auf eine wirtschaftliche Besserstellung der Johannea erfüllten sich jedoch in Siegen nicht. Als außerdem militärische Bedrohungen den Horizont verdunkelten, betrieb Graf Johann V I . die Rückkehr der Hohen Schule nach Herborn, das insgesamt als weniger gefährdet erschien. Althusius, der Rektor der Anstalt, widersetzte sich jetzt nachhaltig den Plänen zur Rückführung und unterstützte nach Kräften das Experiment einer Zweiteilung der Hochschule: in einen Herborner Zweig für Theologie und Geisteswissenschaften und einen Siegener Zweig für Rechts- und Staatswissenschaften. Schließlich mußte auch Althusius sich der Anordnung des Grafen fügen und nach insgesamt acht Jahren Abwesenheit im Jahre 1600 in die Stadt an der D i l l zurückkehren. Das danach folgende Jahrzehnt w i r d von den Historikern als Blütezeit der Hohen Schule charakterisiert: Studenten kamen in Scharen aus allen reformierten Gebieten Westeuropas; Althusius selbst wurde dafür eine besondere Anziehungskraft zugeschrieben. Wichtiger noch war eine aufsehenerregende literarische Produktivität der Herborner Wissenschaftler: Aufgrund der wie aus einem Guß entstandenen theologischen, juristischen, kirchenrechtlichen und pädagogischen Werke habe Herborn zu Beginn des 17. Jahrhunderts, so sagt man, mehr als alle anderen Orte, auch als Genf und Heidelberg, zur geistigen Formung des Calvinismus i n Westeuropa beigetragen. Die kleine Stadt an der D i l l sei geradezu zum geistigen Vorort des calvinistischen Widerstandes gegen die massiven Rekatholisierungsversuche geworden. M i t an die Spitze dieser einflußreichen Publikationen gehört die 1603 erschienene Politica. Ein Jahr später allerdings verließ ihr damals 46jähriger Autor nun doch die Stadt Herborn, diesmal endgültig. Siebzehn Jahre war es her, daß er nach Herborn berufen worden war; tatsächlich hier anwesend war er die Hälfte dieser Zeit. Althusius folgte einem Ruf nach Emden; als Syndikus, also als Stadtoberhaupt der damals reichen und bedeutenden Hafen- und Handelsstadt. M i t der Stadt Herborn freilich bleibt sein Name auf Dauer verbunden; nicht nur deshalb, weil er hier gelebt, gelehrt und seine berühmte Politica geschrieben und veröffentlicht hat, übrigens auch alle späteren Auflagen hier erscheinen ließ, sondern nicht zuletzt darum, weil er der Stadt Herborn in diesem Buch ein bleibendes Denkmal gesetzt hat: I m 5. Kapitel, Absatz 80 heißt es: „Zur Vermehrung des Ansehens bedeutender Städte trägt insbesondere eine berühmte Schule und Akademie mit guten Wissenschaften i n allen Fakultäten bei. Deshalb sind Marburg, Heidelberg, Basel, Zürich, Bern, Genf, Herborn und mehrere andere Orte sehr berühmt geworden." Als Emdener Syndikus hatte der schnell berühmt gewordene Verfasser der Politica drei Jahrzehnte hindurch eine einflußreiche und
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hochgeachtete Stellung inne; sie ließ ihm die Möglichkeit, auch weiterhin wissenschaftlich zu arbeiten. Ehrenvolle Berufungen auf wissenschaftliche und politische Positionen anderer Städte, zumal aus den Niederlanden, lehnte er ab. I n Emden starb Johannes Althusius achtzigjährig nach einem reich erfüllten Leben im Jahre 1638. I I . D i e dörfliche M e n t a l i t ä t der nassauischen Grenzgebiete und die genossenschaftlichen I d e e n des J. Althusius
Vor dem Hintergrund des biographischen Überblickes müssen w i r die Frage nach dem Einfluß seiner dörflichen Kindheits- und Jugenderfahrungen auf seine Anschauungen und seine politische Theorie aufnehmen und entfalten. Viele von Ihnen kennen ja, ebenso wie ich selbst, aus eigener Erfahrung die dörflichen Lebensverhältnisse i m nördlichen Nassau und seinem Umland, wie sie vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen sind. Liest man nun die Passagen über das dörfliche Gemeinschaftsleben in der Politica, etwa i n ihrem zweiten Kapitel, so ist man überrascht, wie sehr die dort geschilderten Lebensverhältnisse über weite Strecken denen gleichen, die w i r aus der Zeit vor 1945 i m Gedächtnis haben. Die A r t etwa, wie über Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft, über die alles bestimmende Rolle der Landwirtschaft, über angesehene und weniger angesehene Berufsgruppen, über Geldgeschäfte sowie über Hand- und Spanndienste berichtet wird, das alles könnte genauso gut dreihundert Jahre später geschrieben worden sein. Offensichtlich haben sich wirklich grundlegende Veränderungen dieser dörflichen Lebensformen hier wie anderwärts erst nach dem Zweiten Weltkrieg ergeben: durch technische Entwicklungen, Bevölkerungsbewegungen und den Wandel der Wertsysteme. Bis i n die fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts standen offenbar im Prinzip ganz ähnliche Gesellschaftsverhältnisse und soziale Regeln i n Kraft wie vierhundert Jahre vorher in der Jugendzeit des Althusius. Nun wiesen die sozialen Verhältnisse i n den nassauischen Grenzdörfern einige durchaus bemerkenswerte Charakteristika auf, die sich vom Dorfleben der meisten anderen deutschen Regionen deutlich unterschieden. Sie hängen vor allem damit zusammen, daß hier wie i n anderen Grenzmarken die Sozialstruktur der Leibeigenschaft bei weitem keine so dominante Rolle spielte wie fast überall sonst. I n den Grenzmarken konnte sich eine auf mehr Freiheit und Genossenschaftlichkeit gerichtete Sozialstruktur herausbilden, weil man den Grenzbauern schon um ihres eigenen Verteidigungswillens mehr Freiheit und Eigenständigkeit beließ als den leibeigenen Landwirten. Solche Freibauern-Siedlungen sind für viele Teilgebiete des nassauisch-wittgensteinischen Grenzraumes belegt, vor allem für die Haigermark, einschließlich des siegerländischen „Freien
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Grundes", in dessen Namen schon diese Tendenz erkennbar ist. Gerade i m Siegerland, das ja zu Nassau gehörte, entwickelte sich i m Rahmen dieser sozial-geographischen Bedingungen eine eigenständige Genossenschaftskultur, die i n der Haubergwirtschaft bis in unsere Generation andauert, ähnlich aber auch die Arbeits- und Besitzverhältnisse im Eisenerzbergbau geprägt hat. Das besondere siegerländische Genossenschaftswesen war dem Professor Althusius bei der Abfassung seiner Politica ganz zweifellos bekannt; hatte er doch selbst sechs Jahre i n Siegen gelebt und war er dort doch durch seine angeheiratete Verwandtschaft mit den Siegerländer Wirtschafts- und Mentalitätsstrukturen auf das engste vertraut gemacht worden. Es soll darum heute abend hier die Frage gestellt werden, ob der Einfluß der Siegerländer Verhältnisse auf den Genossenschaftsbegriff des Althusius und auf dessen sehr konkrete Praxisvorstellungen bereits zureichend untersucht und erfaßt ist; ob er also bisher nicht allzusehr vernachlässigt wurde. Weiter muß gefragt und erklärt werden, ob Althusius nicht schon in seiner dörflichen Heimat bestimmten Formen dieser Genossenschaftsmentalität begegnet sein muß und welchen Einfluß dieser Erfahrungshintergrund auch für diejenigen „symbiotisch"genossenschaftlichen Vorstellungen hat, in denen sich Althusius von politisch ähnlich denkenden Zeitgenossen unterscheidet. Jedenfalls erinnert der ständige Hinweis des Althusius auf gegenseitiges Aushelfen und Aufeinanderangewiesensein überdeutlich an jene engen und kooperativen Nachbarschaftsbeziehungen der nassauischen Grenzdörfer, auf die gerade die relativ freien und selbständigen Kleinbauern schon um der knappen Ressourcen an Land und Vieh willen unabdingbar angewiesen waren. Und solche Gegenseitigkeitshilfe wurde offenkundig in einem Maße praktiziert, das weit über die auch sonstwo üblichen Formen der Nachbarschaftshilfe bei Not und Krankheit hinausging. Ich kann den Kreis der Fragen nach dem Einfluß der sozialen Lebensverhältnisse seines Heimatdorfes sowie des Siegerländer Genossenschaftswesens, auf die Ideenwelt und die politische Theorie des Althusius heute abend nur deutlich zur Debatte stellen. Ich kann sie nicht beantworten und ihnen nicht einmal i m einzelnen nachgehen. Doch scheinen mir solche Einflüsse unverkennbar vorhanden zu sein — und der Bearbeitung durch die Forschung dringend bedürftig.
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I I I . Wichtige Einflußkräfte i m W e r k des Althusius: ständestaatliche Machtinteressen, ramistische Methode, föderaltheologische
Grundauffassungen
M i t dem sozialbiographischen Hinweis auf Mentalität und Gemeinschaftsformen seiner Heimat kann natürlich keine Gesamterklärung des politischen Denkens von Althusius gegeben werden. Zweifellos haben andere Einflüsse eine ebenso gewichtige oder auch vorrangige Rolle gespielt. Gerade für genossenschaftliche Lebensformen i n Politik und Wirtschaft hat Althusius zweifellos auch i n der Schweiz und von niederländischen Experimenten viel Anschauungsmaterial gewonnen. Darüber hinaus möchte ich ohne Anspruch auf Vollständigkeit drei Einflußfelder skizzieren, von deren Gesamtheit sein Werk, insbesondere die Politica, auf das stärkste bestimmt wurde. Ich denke an die realpolitischen Interessen des Fürstenhauses Nassau, sodann an die wissenschaftliche Arbeitsmethode des „Ramismus" und endlich an bestimmte theologische, insbesondere reformiert-föderaltheologische Denkweisen. Dem Hause Nassau ging es i n der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor allem um die theoretische Begründung einer Politik, die auf mehr Selbständigkeit und Eigenverantwortimg der sogenannten Stände, etwa der Fürstentümer oder großen Städte, gegenüber der kaiserlichen Zentralgewalt zielte. Den Hintergrund dieser Forderungen bildete die seit den 1560er Jahren, also seit fast vier Jahrzehnten andauernden Kämpfe zwischen den calvinistischen Ständen und dem katholischen Kaiserhaus. Nach Meinung der Protestanten war es während der Hugenottenkriege (seit 1562) und i n den niederländischen Befreiungskriegen (seit 1566) immer wieder und zunehmend zu Rechtsbrüchen und zu illegitimen Übergriffen der Kaiserlichen gekommen. Insbesondere die Ereignisse der Bartholomäusnacht (1572) hatten die Frage nach dem Widerstand gegenüber einer offenkundig von Gott und seinem Gebot abgefallenen, zur Tyrannis verkommenen Obrigkeit aufgeworfen. Seit Wilhelm von Oranien kurz danach (1573) offen zum Calvinismus übergetreten und seit ihm darin sein etwas jüngerer, i n Nassau regierender Bruder Johann VI. i m Jahre 1578 gefolgt war, stand das nassauische Fürstenhaus i n vorderster Linie des calvinistischen Kampfes gegen Gegenreformation und habsburgische Despotie. Neben dem Interesse an einem theologisch und juristisch begründeten Widerstandsrecht gegenüber kaiserlicher und fürstlicher Obrigkeit ging es dem nassauischen Hof gleichzeitig um die theoretische Fundierung einer Politik föderativer Zusammenschlüsse i m Rahmen des Wetterauer Grafenvereins. Althusius hat i n seinem Buch beide Forderungen, die nach einer Theorie des Widerstandsrechtes und die nach einer föderalen Staatslehre, aufgenommen und sie im Rahmen der sogenannten „ramisti-
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sehen Methode" bearbeitet. Diese ursprünglich auf wissenschaftliche Arbeit begrenzte Methode gewann damals, nicht zuletzt ihrer interdisziplinären Anwendung an der Hohen Schule Herborn wegen eine weit i n den politischen und kirchlichen Alltag hineinreichende Bedeutung. I h r Begründer war der französische Philosoph Petrus Ramus (1515—1572), der i n der Bartholomäusnacht ermordet wurde und dessen Ansehen als calvinistischer Märtyrer i n den Augen der nachfolgenden reformierten Generationen die Bedeutung der von ihm begründeten Wissenschaftslehre noch verstärkte, so daß sie nicht selten geradezu als „calvinistische Methode" bezeichnet wurde. Der Sache nach ging es darum, einerseits „methodus" (Logische Klarheit, Einfachheit, Durchsichtigkeit) und andererseits „usus" (Anwendbarkeit und Nutzen für die Praxis) zu einer wissenschaftlichen Ganzheit mit ausgesprochen didaktischer Orientierung zu verbinden. Petrus Ramus wollte sich mit diesem Wissenschaftsprinzip gegen jene damals vorherrschende Richtung des Aristotelismus stellen, die er wie viele andere als zu abstrakt und weltfremd, sozusagen als akademisches Sprachspiel empfand. Diesem ramistischen Wissenschaftsverständnis war die Herborner Hohe Schule als ganze von Anfang an verschrieben. Es bildete gleichsam die interdisziplinäre methodische Klammer, durch die für die Arbeiten der Theologen wie Olevian, Piscator und Zepper, der Rechtslehrer wie Althusius und Johann Aisted sowie der Vertreter der rasch aufblühenden Naturwissenschaften eine gewisse innere Einheitlichkeit zustande kam. Auch der nassauische Hof setzte große Erwartungen i n die ramistische Methodik: i h m ging es darum, Pfarrer, Lehrer und Juristen so auszubilden, daß sie den Untertanen i n einfach-verständlicher und überzeugender Weise die Grundüberzeugungen des calvinistischen Glaubens und einer entsprechenden Lebensführung vermitteln konnten. Die Fachtheologen müßten, so meinte man bei Hofe, ihre eigene theologische Position gegen die Vertreter der anderen Konfessionen, Lutheraner wie Katholiken, deutlicher, einfacher und klarer vertreten; dazu verhelfe eine gute ramistische Schulung. Althusius seinerseits war als entschiedener Anhänger der ramistischen Methode i n all seinen Werken u m einen durchsichtigen, beinahe grafisch abzubildenden architektonischen Aufbau bemüht, ebenso um exakte Begriffserklärungen, u m Anschaulichkeit und um unmittelbaren Realitätsbezug. Es lag auch genau i n der Linie des Ramismus, daß Althusius direkt i n die politische Praxis hineinwirkte: i n die religions- und rechtspolitischen Auseinandersetzungen zwischen Calvinismus und Katholizismus, zwischen dem Hause Habsburg und den auf stärkere Freiheit drängenden territorialstaatlichen Ständen, aber auch i n die unmittelbaren regionalpolitischen Spannungen in Nassau und i n der Wetterau.
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I n diesem Rahmen war es seine inhaltliche Absicht, dem vorherrschenden Trend zum Zentralstaat entgegenzuwirken und ihm, um es vorweg zu sagen, ein aus dem föderalen Gedanken entwickeltes zweipoliges Vertragssystem entgegenzusetzen: Er intendierte sozusagen ein „Vertragssystem auf Gegenseitigkeit", also auf Anerkennung der wechselseitigen Abhängigkeiten und des gegenseitigen Aufeinanderangewiesenseins von Volk und Herrschaft, von Ephoren und Magistratus, von Gemeinde und Gemeindevorsteher. I n moderner Abbreviatur gesprochen: er strebte als Gegenkraft zu den absolutistischen Tendenzen ein System von Checks and Balances an. A l l diese Zielvorstellungen und ihre praktische Konkretisierung hängen direkt oder indirekt von einem weiteren, dem vielleicht wichtigsten Bündel von Einflußkräften ab; nämlich von bestimmten biblisch-theologischen, besonders calvinistisch-föderaltheologischen Denkweisen, die von Althusius aufgenommen und i n die politische Theorie transformiert wurden. Diesen Transformationsprozeß wollen w i r an einigen exemplarischen Grundgedanken aus der Politica aufzuspüren und zu veranschaulichen versuchen. Dazu aber müssen zunächst einige Angaben zu diesem Werk selbst gemacht werden. I V . Z u r „Politica", Ziele und Inhalte
Der Titel des großen Werkes lautet i m Original „Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustra". Auf deutsch: „Politikwissenschaft, methodisch dargestellt und an biblischen sowie profanen Beispielen erläutert". Der als demonstratives Signal vorangestellte Begriff „Politica" war damals grammatisch ungewöhnlich und soll inhaltlich wohl an die bekannten Aristoteles-Formulierungen anknüpfen. A l t husius w i l l mit diesem Begriff seinerseits offenbar eine Verbindung herstellen zwischen dem, was w i r heute als Politische Theorie bezeichnen, wobei es um grundsätzliche Zielsetzungen und um Inhalte der Politik geht, und dem, was heute Politikwissenschaft oder Politologie heißt, also der wissenschaftlichen Analyse und Reflexion des Zustandekommens und der Praktizierung solcher politischen Ziele und Inhalte. Zur Zeit des Althusius gab es eine derartig differenzierende Begrifflichkeit für diese Thematik noch nicht; wahrscheinlich gab es nicht einmal das Wort „Politik" als selbständiges Substantiv i n der deutschen Sprache. Einige Forscher meinen, daß das Hauptwort „Politik" eben durch diesen Titel des Althusiusbuches sprachlich eingeführt und verbreitet worden sei. Der Sache nach w i l l Althusius mit seinem Buch offenbar drei Teilziele verfolgen: er w i l l zeigen, daß es eine spezifische und eigenständige Auffassung ist, die er über die Aufgabe der Politik vertritt; er w i l l
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gewissermaßen eine eigene Gesellschafts- und Staatslehre vortragen. Zweitens w i l l er darstellen, wie seine Auffassung von Politik i n konkretes Handeln umgesetzt werden kann; drittens soll i n der Art, i n der er diese Absichten durchführt, erkennbar werden, daß hier eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin begründet wird. Diese Teilziele klingen im ersten Satz des ersten Kapitels bereits an: „Politica ist die Lehre davon, wie Menschen sich untereinander zu Errichtung, Pflege und Erhaltung eines sozialen Lebens verbinden (sollen)." Bevor w i r darauf eingehen, wie Althusius sich dieses „Wie" selbst vorstellt, muß erwähnt werden, daß das über 1000 Druckseiten umfassende Buch mehr als 2000 Bibelzitate aufweist. Diese zeigen ein hohes Maß an Vertrautheit mit der Bibel an und lassen vermuten, daß Vorstellutigs- und Gedankenwelt des Autors auf das stärkste von biblischen Grundauffassungen beeinflußt ist. W i r wenden uns damit gegen die gelegentlich geäußerte These, daß es sich bei diesen sacra exempla lediglich um ein i n jener Zeit übliches Ornament handele — und daß die politische Theorie des Althusius ohne biblisches und sonstiges fromme Beiwerk die gleichen Muster und Tendenzen aufweisen würde. Wer so profund aus der Vorstellungswelt der Bibel schöpft, muß darin leben und direkt oder indirekt auch davon beeinflußt sein. Wie sich Althusius nun den Aufbau und die Funktionsweisen des von ihm intendierten Gemeinwesens vorstellte, soll an drei Zentralbegriffen der Politica entwickelt werden: dem Leitbegriff der Consociatio symbiotica, sodann dem Begriff des Pactum mandati und endlich dem Begriff des lus resistentiae. Während sich das zuletzt genannte Wort leicht und unmißverständlich in das deutsche Wort „Widerstandsrecht" übersetzen läßt, handelt es sich bei den beiden anderen Begriffen sprachlich wie substantiell um eigenwillige Konstruktionen, die auf deutsch nicht m i t einem eindeutigen Fachterminus wiedergegeben werden können; ihre inhaltliche Tendenz muß vielmehr etwas umständlich umschrieben werden. 1. Consociatio symbiotica
Das Wort consociatio heißt zunächst Vereinigung und steht ganz allgemein für „Gemeinschaft" oder für „Gesellschaft". Symbiose bedeutet „Zusammenleben". Die Verbindung beider Worte könnte man wörtlich als „zusammenlebende Gemeinschaft" übersetzen und darin auf den ersten Blick eine Tautologie entdecken. Doch handelt es sich bei A l t h u sius keineswegs um eine sprachliche Nachlässigkeit; mit seinem das ganze opus leitenden Zentralbegriff consociatio symbiotica w i l l er vielmehr gezielt etwas Spezifisches zum Ausdruck bringen: Er w i l l deutlich machen, daß eine Theorie politischer Lebensformen jenem elementaren
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Auf einander-Angewiesensein des Menschen entsprechen muß, wie es uns beim neugeborenen K i n d am augenfälligsten begegnet und wie es bei genauerem Hinsehen in allem Zusammenleben von Menschen so oder so i n Erscheinung t r i t t : I m Zusammenwirken der Berufe sind Bauern und Handwerker unausweichlich aufeinander angewiesen; auf gegenseitige Ergänzung, auf Reziprozität angelegt sind auch Mann und Frau, jung und alt, Geist und Körper; das gleiche aber muß prinzipiell auch für das Oben und Unten i n der Gesellschaft, für Vorsteher und Dorfgemeinde, für Obrigkeit und Volk gelten. Vorgebildet ist das Modell der consociatio symbiotica für Althusius i m Schöpferwillen Gottes, wie w i r ihn i n der Bibel, aber auch i n der Primärerfahrung der Menschen erkennen. Gott hat uns von vornherein ungleich geschaffen, auf gegenseitige Hilfe und Ergänzung, eben zur Reziprozität bestimmt. I n der grundlegenden Bibelstelle von 1. Kor. 12, in den Bildern von unterschiedlichen Gaben und verschiedenartigen Gliedern am gleichen Leibe geht es demnach nicht zuerst darum, unsere jeweilige Verschiedenheit, Besonderheit und Einmaligkeit, kurz unsere spezifische Persönlichkeit zu entdecken und zu feiern. Sondern es geht hier zuerst darum, unsere Zugehörigkeit zu einem Corpus der Gemeinschaft, unsere Partikularität als ein ursprüngliches und konstitutives Merkmal unseres Menschseins zu erkennen und dies auch politisch zu bedenken. Nachdrücklich und in einer frühreformatorischen Weise polemisch weist Althusius jede Idealisierung individualistischer Existenz weisen, etwa der von Eremiten, Einsiedlern, Einzelgängern ab. Nirgendwo i n der Bibel werde uns eine solche Lebensweise zum Zeichen gesetzt. Gott wolle sie nicht. Gott wolle vielmehr solche sozialen Organismen, an denen w i r alle Glieder sind, die einander brauchen und ihre Vollendung erst im Miteinander finden. A l l diese Metaphern sind für Althusius nicht nur Richtschnur für das Leben der Gläubigen als religiöser Gemeinschaft, sondern auch für die profane Welt, dafür, wie ein politisches Gemeinwesen nach Gottes Willen gestaltet werden soll. Ganz unbefangen werden biblische Vorstellungen aufgenommen und bruchlos umgesetzt auf die Welt des 16. Jahrhunderts. Das auf Reziprozität und Partizipation gerichtete Modell des menschlichen Zusammenlebens gilt für die Beziehungen auf allen Ebenen der Gesellschaft, sowohl auf jeder Ebene, wenn man sie für sich nimmt, als auch für die Beziehungen zwischen den verschiedenen Ebenen, also von der einen zur anderen Ebene. I n einigen Bereichen steht diese Reziprozität von Natur aus i n Kraft: nämlich i n face-to-face-relations, i n der Familie, i m Handwerksbetrieb, i n dörflicher Nachbarschaft. Besser, energischer oder ganz neu zur Geltung gebracht werden muß sie auf den abstrakteren Ebenen des gesellschaftlichen Lebens: in Organisationen, 3 RECHTSTHEORIE, Beiheft 7
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Verbänden, Städten und Provinzen. Radikal neu bedacht werden muß Gegenseitigkeit bzw. Reziprozität für die Beziehungen zwischen unten und oben, zwischen Ephoren und Magistraten, zwischen Dorfgemeinde und Provinz, zwischen Ständen und Staat. I n summa: das Leitbild der gesamten Politica ist eine symbiotische Gemeinschaft, i n der organische Wechselbeziehungen den gesellschaftlichen Körper durchströmen wie der Blutkreislauf unseren physischen Körper. Daß ein solch pulsierendes Leben die vertrockneten Strukturen des hierarchischen Gesellschaftsgefüges wieder menschlicher macht, ist für Althusius eben Aufgabe der Politik; anders gesagt, Reziprozität muß i n Verfahren und Verträgen eingebaut sein. Bevor w i r uns dem Komplex solcher Verfahren näher zuwenden, muß noch einmal das historisch-konkrete Umfeld betrachtet werden, i n das das Modell der Consociatio symbiotica hineingestellt wurde und i n der es wirken sollte. Von ihrem äußeren B i l d her stellen sich die vorfindlichen politischen Gebilde dem Althusius keineswegs so dar, als wären sie von symbiotischem Leben erfüllt; sie erscheinen erstarrt und strukturell vertrocknet. Sie sind, wie er sagt, zum Verstandeswerk ohne Herz und Gefühl denaturiert. Sie mögen i m Wege des consensus als rationale Vereinbarung zustande gekommen sein, aber es fehlt ihnen an concordia, an lebendiger Freundschaft, an der Eintracht der Herzen. Hinter diesen faktischen Fehlformen politischer Praxis erkennt Althusius zwei gravierende Fehler i m theoretischen Ansatz: entweder w i r d die Konstitution des Gemeinwesens zu einseitig unter individualistischem oder sie w i r d zu einseitig unter zentralistischem Aspekt thematisiert und organisiert. Individualistische Engführungen erkennt Althusius vor allem in denjenigen Strömungen des traditionell vorherrschenden Aristotelismus, die das Gemeinwesen zwar als Zusammenschluß von Individuen verstehen, die diese Individuen jedoch als abstrakte Einzelpersonen betrachten und denen jeder Gedanke an Symbiose, an A u f einander-Angewiesensein, an Reziprozität politisch völlig fern liegt. Vielleicht hat der ältere Althusius diesen gefährlichen Ansatz bereits i n den Schriften seines berühmten jüngeren Kollegen und Widersachers Hugo Grotius (1583—1645) entdeckt, der sich weit stärker als Althusius von seinem ursprünglich auch calvinistischen Hintergrund gelöst und einem aristotelisch-voraufklärerischen Humanismus zugewendet hat. Die andere Gefahr, gegen die Althusius sich wendet, droht dann, wenn alle Macht allein und unrevidierbar auf nur einen Träger, auf den Souverän, übertragen werden soll, wie es i n diesem Falle von einem älteren Fachgenossen und Widersacher, nämlich dem französischen Rechtslehrer Jean Bodin (1530—1596) vehement vertreten wurde. Wie schon angedeutet, witterte Althusius sehr früh die i n diesem Ansatz
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angelegten Möglichkeiten von W i l l k ü r und Unterdrückung, die dann i m späteren Absolutismus kraß hervortreten sollten. Natürlich wußte Althusius, daß das Souveränitätsproblem nach dem Verfall von kaiserlicher und päpstlicher Autorität i n der Reformationszeit neu in Angriff genommen werden mußte. Doch, so meinte er, könnte dieses Thema nur i m Rahmen eines umfassenderen Gesellschaftskonzeptes, für ihn also i m Rahmen der Consociatio symbiotica, sinnvoll bearbeitet werden. Conditio sine qua non mußte es dabei für den überzeugten Calvinisten sein, von der Vorgabe der absoluten Souveränität Gottes auszugehen. Vor allem mußte verhindert werden, daß durch eine auf Absolutheit tendierende Souveränität des Fürsten die Souveränität Gottes beeinträchtigt oder sogar verdrängt würde. Es mußte gesichert und davon ausgegangen werden, daß Gott selbst der wahre und eigentliche Souverän auch der Consociatio symbiotica ist. Kein Herrscher, kein Magistratus (und auch keine Theorie des J. Bodin) darf und kann Gott auch nur ein Stück dieser Souveränität nehmen. Gott selbst aber hat im Alten wie im Neuen Testament gezeigt, daß er sein Volk in freier Souveränität zum populus Dei, zu seinem Bundespartner machen will. Er hat das in je unterschiedlicher Weise in seinem Bundeshandeln mit Noah, Adam, am Sinai und am Kreuz Christi verdeutlicht. Wie Gott hier gegenüber dem populus Dei gehandelt hat, das muß, so meint Althusius, strukturell auch für das Verhältnis zur Consociatio gelten. Der Consociatio als Ganzer hat er das lus majestatis, die Souveränität als Leben anvertraut, um so Bedingungen dafür zu schaffen, daß die Gemeinschaft erhalten, Nächstenliebe geübt und ein frommes Leben geführt werden kann. Die höchste irdische Gewalt, die i n dieser diesseitigen Welt denkbar ist, soll darum bei der Consociatio, beim Volk, nicht bei einer Obrigkeit liegen. Damit ist der Gedanke der Volkssouveränität vorformuliert; i n dieser Form wahrscheinlich zum ersten Mal in der abendländischen Geschichte. Das Volk als Ganzes hat die A r t seiner politischen Verfahren zu regeln. Für Althusius kann das nur i m Sinne seines Grundansatzes der wechselseitigen Abhängigkeiten geschehen. Die Ausübung der obrigkeitlichen Gewalt, also Regierung und Verwaltung, kann nicht das Volk als Ganzes übernehmen. Es muß mit diesen Aufgaben einen Amtsträger, den Magistratus, auf höchster Ebene den Summus Magistratus, die Obrigkeit beauftragen. Dieser Obrigkeit muß das Volk, damit sie ihren Auftrag ausführen kann, einen Teil seiner Souveränität übertragen. Einen anderen Teil der Souveränität w i r d das Volk bei sich behalten müssen, sowohl zur Wahrung seiner eigenen Rechte als auch zur Kontrolle der Obrigkeit. Althusius entwickelt also die Vorstellung von einem „doppelten Souverän". Er verteilt die eine Macht auf zwei, sich nahezu gleichwertig gegenüberstehende Träger der höchsten Gewalt: i m Prinzip auf den Summus Magistratus als Obrigkeit und auf das Volksganze. Da die
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Gesamtheit des Volkes aber schon u m der Zahlen willen den eigenen Teil von Souveränität und Macht gegenüber dem Summus Magistratus nicht funktionstüchtig wahrnehmen kann, muß es Repräsentanten wählen, die es gegenüber dieser höchsten Obrigkeit, dem Herrscher vertreten. Solche Repräsentanten werden bei Althusius als „Ephoren" bezeichnet, sozusagen als Aufsichtsrat. Allerdings haben die Ephoren, wie zu zeigen ist, auch ihrerseits eine Doppelfunktion zu erfüllen; auch sie sind i n die reziproke Struktur eingebunden. Zunächst ist aber festzuhalten, daß das akute Souveränitätsproblem von Althusius i m Sinne eines dualen Gegenübers von gleichberechtigten Partnern gelöst wird. Doppelter Souverän sind der summus magistratus auf der einen Seite und der Stand der Ephoren als Repräsentant des Volksganzen auf der anderen. M i t dieser Konstruktion ist die erste theoretische Weichenstellung für die Entwicklung von Prinzipien wie Gewaltenteilung und „Checks and balances" vollzogen. U m uns noch einmal den theologischen Hintergrund dieses Gedankens ins Gedächtnis zu rücken, zitiere ich eine kurze Zusammenfassung von Althusius: „Beide, Herrscher (Magistraten) und Ephoren werden sowohl von Gott als vom Volk eingesetzt. Von Gott mittelbar, vom Volk unmittelbar." (Politica X I X , 69). Bisher aufgeschoben wurde von uns die Frage, wie, i n welcher A r t und Weise dieses Prinzip von Reziprozität und Balance in die Verfahren der politischen Praxis umgesetzt wurden. Das soll uns nun anhand eines anderen Zentralbegriffs der Politica, dem Begriff des pactum mandati näher beschäftigen. 2. Pactum mandati
Dieser Terminus scheint aufs erste leichter verständlich als der der consociatio symbiotica; doch hat auch er es sprachlich und inhaltlich i n sich: mit dem Teilbegriff „pactum" leuchtet ein Zusammenhang der Althusiustheorie mit der Föderaltheologie auf, was schon durch die Verwandtschaft der Worte pactum, contractus und foedus signalisiert ist. Der Teilbegriff mandatum zielt auf die politischen Strukturprobleme der Gegenseitigkeit, insbesondere auf die Relationen zwischen den verschiedenen Hierarchieebenen des Gemeinschaftslebens. Ganz selbstverständlich setzt Althusius voraus, daß jeder soziale Organismus durch „oben und unten", also durch eine Hierarchie von Über- und Unterordnungen gegliedert ist. Nur durch solche Ordnungsgefüge von Leitenden und Ausführenden, von Befehl und Gehorsam w i r d ein Gemeinwesen funktionsfähig. Jeder Gedanke an einen positiven Sinn von Anarchie ist Althusius fremd und für ihn indiskutabel. Obrigkeit muß sein und zwar auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Die obrigkeitliche Funktion ist jedoch, wie w i r sahen, kein Freibrief für W i l l k ü r und Macht-
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mißbrauch. Doch muß nicht nur das schlimmste vermieden werden, sondern auch die Wahrnehmung der alltäglichen Regierungsgeschäfte, die Maßnahmen der Verwaltung und die politischen Entscheidungen müssen an Gottes Gebot geprüft werden; sie müssen kritisch beobachtet, sozusagen kontrolliert werden. Solche kritische Begleitung, die konkreten Aufgaben der Obrigkeit, die Dauer ihrer Beauftragung, das alles muß in einer Übereinkunft geregelt sein. Es muß ein Vertrag darüber geschlossen werden: das pactum mandati; der Beauftragungsvertrag. Vom Grundgedanken der consociatio symbiotica müßte ein solcher Vertrag von der Gesamtheit der Regierten auf jeder Ebene der Consociatio mit ihrer jeweiligen Obrigkeit geschlossen werden. Das aber ist in der Regel nur auf dörflicher Ebene möglich. Dort kann tatsächlich wie i n den Schweizer Kantonen die Gesamtheit der Bürger ihren Vorsteher wählen und einen Vertrag über seine Aufgaben mit ihm schließen. Für die nächsthöhere Ebene ist die direkte Beauftragung durch die Gesamtheit der Consociatio nicht mehr möglich. Sie muß sich also durch bestimmte Repräsentanten vertreten lassen. Dazu nun soll sie, und hier liegt ein weiteres Kernstück der Reziprozitätstheorie, diejenigen Amtsträger in Anspruch nehmen, die auf der Ebene ihrer eigenen Lebensgemeinschaft obrigkeitliche Funktionen wahrnehmen. Ein Dorfvorsteher ist also einerseits Magistratus, regierende Obrigkeit für seine eigene Gemeinde; andererseits ist er Ephore, das heißt eine A r t Aufsichtsperson oder Kontrollinstanz gegenüber dem Amtsträger der nächsthöheren politischen Ebene, beispielsweise gegenüber einem Grafen. Der Dorfvorsteher ist das nicht als Individuum, sondern als Mitglied des Kollegiums aller Vorsteher seiner Grafschaft; Vertragspartner des Grafen ist das Kollegium der Ephoren. Der Graf seinerseits hat sowohl die obrigkeitliche Gewalt innerhalb seiner Grafschaft inne als auch als M i t glied des Grafenvereins ephorale Funktionen gegenüber dem nächsthöheren Amtsträger, also dem Fürsten. Das Pactum mandati ist also ein Vertrag gleichzeitig der Beauftragung und der Beaufsichtigung. Wiederum haben w i r es wie beim Souveränitätsbegriff des Althusius zu tun mit einer dualen Struktur politischer Funktionsausübung, mit Gegenseitigkeitsbeziehungen, m i t ersten Formen der Gewaltenteilung, der checks and balances. Fragen w i r auch hier, aus welchen Bereichen Althusius die Bausteine für das Modell des pactum mandati bezieht, so kommt nun wiederum (unter anderem) die Föderaltheologie in unseren Blick: Zunächst schon deshalb, weil Calvin den Bund, den Gott m i t seinem Volk geschlossen hat, i n den Termini des römischen Rechts i m Sinne gegenseitiger Verpflichtung beschrieben hat und weil Althusius darum sprachlich und inhaltlich an Calvin anschließen konnte. Zum anderen wiederholt sich
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jetzt auf den einzelnen Ebenen der Consociatio, was vorhin am Herrschaftsvertrag zwischen der Obrigkeit und der Consociatio als Gesamtheit entwickelt wurde, und was eben das Handeln Gottes zum Urbild hat. Der Vertrag bindet den Amtsträger (Magistraten), beispielsweise einen Vorsteher oder einen Grafen daran, seine Aufgabe i m Sinn der Gebote Gottes auszuführen. Was aber passiert, wenn er das nach Meinung der ihn kritisch begleitenden Ephoren, also seines Aufsichtsrates nicht in der rechten Weise tut? Für diesen Fall sieht Althusius einen ganzen Katalog von Maßnahmen vor, der i m äußersten Fall zum Widerstandsrecht ausgeweitet wird. Zunächst w i r d der Amtsträger ermahnt. Bleibt er bei seinem Fehlverhalten oder w i r d er sogar vertragsbrüchig, dann w i r d das pactum hinfällig. Der Vertrag kann, in bestimmten Fällen muß er gekündigt werden. Dem Amtsträger muß seine Beauftragung entzogen werden; notfalls durch Gewalt. Das betrifft die obrigkeitlichen Funktionen auf allen Ebenen der Consociatio. Es gilt ganz nachdrücklich auch für die höchste Obrigkeit, den summus magistratus, den Kaiser. Es ist nicht schwierig, sich die Sprengkraft vorzustellen, die für das frühe 17. Jahrhundert i n einer solchen, theoretisch gründlich abgesicherten Auffassung liegt. Es w i r d verständlich, wenn der obrigkeitstreue Lutheraner Hermann Conring sagt, die Politica bringe die ganze Welt i n Unordnung. Althusius selbst faßt diesen Gedanken lapidar in folgendem, an das vorige Zitat anschließenden Satz zusammen: „Beide, Herrscher (sc. Amtsträger) und Ephoren können auch von Gott und dem Volke aus ihrem A m t entfernt und ihrer Macht entkleidet werden, ebenfalls von Gott mittelbar und vom Volk unmittelbar." (Politica X I X , 69). 3. lus resistentiae
Das Widerstandsrecht ist die logische Weiterentwicklung des Herrschaftsvertrages auf Gegenseitigkeit. Die Ausgangsfrage ist, was geschieht, wenn eine Obrigkeit (Magistratus) sich fundamental gegen die i m Vertrag ausgehandelten Bedingungen, sogar gegen das Gebot Gottes vergeht und am Ende dann die konstitutiven Vereinbarungen der Consociatio zerstört, mit einem Wort, wenn sie zur Tyrannis entartet? Was Tyrannis ist, erklärt Althusius folgendermaßen: „Tyrannis ist das Gegenteil einer richtigen und gerechten Obrigkeit (Magistratus). Sie verletzt und zerstört die Fundamente und das verbindende Band der Lebensgemeinschaft (Consociatio) hartnäckig, beharrlich und unheilbar entgegen der beschworenen Treue und dem Versprechen des beauftragten Amtsträgers." (Politica X X X V I I I , 1). Ein solcher Tyrann muß aus seinem A m t entfernt werden, notfalls mit Gewalt; im äußersten Fall, wenn er sich etwa selbst mit Waffengewalt zur Wehr setzt, kann er zum Tode verurteilt und hingerichtet werden.
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I m Sinne seiner Gesamtintention liegt Althusius natürlich alles daran, auch solches Recht zum Widerstand gegen Mißbrauch zu sichern, jetzt sozusagen gegen W i l l k ü r von unten. Das geschieht u. a. dadurch, daß das Recht, einer tyrannischen Obrigkeit Widerstand zu leisten, auf die für sie zuständigen Ephoren begrenzt ist. Es kann nicht von jedermann, gleichsam direkt aus dem Volke heraus, i n Anspruch genommen werden. Andererseits aber soll mit dieser Zuständigkeit der Ephoren gerade den niederen, mit dem Volk i n unmittelbarere Symbiose verbundenen Amtsträgern eine scharfe Waffe i n die Hand gegeben werden. Ein möglicher Amtsmißbrauch seitens der Ephoren soll dadurch verhindert werden, daß sie außer an den erwähnten Katalog kritischer Maßnahmen an folgende exakt festgelegte Bedingungen gebunden sind: Widerstand, notfalls mit Gewalt ist erst dann erlaubt, wenn die Tyrannis „nota" offenkundig ist. Die Ephoren dürfen keine fingierten Gründe vorschieben, u m einen unbequemen Herrscher loszuwerden. Die Obrigkeit muß ihre Gewaltherrschaft verstockt fortgesetzt haben, obgleich sie wiederholt durch die Ephoren ermahnt worden ist. Die M i t t e l des Widerstandes müssen denen des Tyrannen angemessen sein. Der einzelne Ephore darf nicht gegen die erklärte Mehrheitsmeinung der übrigen Ephoren seines Kollegiums zum Widerstand aufrufen. — Die Ephoren könnten ihre Pflicht aber auch in umgekehrter Richtung verletzen, indem sie dem Treiben des Tyrannen tatenlos zusehen oder sich sogar bestechen lassen. Selbst i n einem solchen Fall hat das Volk, haben also die untersten Ebenen der consociatio nicht das Recht, sich i n eigener Autonomie und Spontaneität gegen den Tyrannen zu empören. Es bleibt dem Volk nur die Möglichkeit, seine eigenen Repräsentanten abzusetzen und neue zu wählen. Nur eine einzige Ausnahme läßt Althusius zu: Wenn die Obrigkeit von ihren Bürgern verlangt, sich gegen Gottes Gebot zu vergehen, dann gilt die clausula Petri (Acta 5,19): „ M a n muß Gott mehr gehorchen als den Menschen." Dann also kann und soll das Volk seiner Obrigkeit passiven oder defensiven Widerstand entgegensetzen. Allerdings sind auch i n diesem Falle Aufstand oder Rebellion der Massen nicht erlaubt. Das Widerstandsrecht des Althusius ist keine Revolutionstheorie. Es stellt sich vielmehr, ganz i m Sinne der ramistischen Methode, als ein durch und durch geordnetes Verfahren dar, das streng an den Prinzipien von Reziprozität, Repräsentation und an hierarchischer Ordnung orientiert bleibt. Althusius bleibt an die ständische Ordnung gebunden. Sein Widerstandsrecht hat nichts mit plebiszitärer Demokratie, mit Basisdemokratie oder mit Volksdemokratie zu tun. Dennoch besteht die Besonderheit seines Widerstandsrechtes darin, daß es im Unterschied zu allen anderen Staatslehren, seien sie thomistischer, neo-aristotelischer oder lutherischer Provenienz, auch den obersten irdischen Herrscher, den summus magistratus einbindet i n den Gegenseitigkeitsvertrag. Wie-
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derum scheint i n Begründung und Durchführung des Widerstandsrechtes ein calvinistisch-föderaltheologischer Hintergrund deutlich erkennbar zu werden. Gott hatte ja i n einem Bundesvertrag dem corpus consociat i u m als Ganzem die summa potestas, die irdische Souveränität, ausgeliehen und das Volk hatte sich i m gleichen Vertrag zur Einhaltung der Gebote Gottes verpflichtet. Diese strenge Bindung an Gottes Gebot w i r d nun in ganz besonderem Maße von dem summus magistratus gefordert, weil dieser i m Sinne des doppelten Souveräns i n dem ganzen Vertragssystem eine herausragende Verantwortung trägt. Vor Gott ist er i n einem spezifischen Sinne minister dei. Ist er es nun, der seinen vertraglichen Eid bricht, indem er Gottes Gebote bewußt und verstockt mißachtet, dann kann und darf er nicht länger minister dei bleiben. Die Ephoren, also die niederen Obrigkeiten, haben in diesem Fall die Pflicht, Gottes Willen zu vollziehen und den Tyrannen zu beseitigen. T u n sie das nicht, dann bedeutet auch das Auflehnung gegen Gott. Das Widerstandsrecht gegenüber dem Tyrannen ist vor Gott Widerstandspflicht.
V . W o r i n ist (und bleibt) die Politica aktuell?
Es war gerade das Thema „Widerstandsrecht" und seine inhaltliche Durchführung, das i n den letzten Jahrzehnten die politische Aufmerksamkeit auf die Theorie des Althusius gelenkt hat. Ernst Bloch hat in seinem großen Werk „Naturrecht und menschliche Würde" die progressive und erstaunlich moderne Behandlung dieses Themas durch Althusius nachdrücklich herausgestellt. Auch i n der jüngsten sozialethischen Debatte des Themas Widerstand, nämlich i m Zusammenhang der Nachrüstung, ist wiederholt auf Althusius verwiesen worden. Wenn dabei zweifellos vor schnellen Analogisierungen zwischen damaligen und heutigen Fragestellungen gewarnt werden muß, zeigt sich doch gleichzeitig, welches Aktualisierungspotential in den Gedanken der Politica steckt. Die Frage, ob uns denn Althusius auch etwas zu unseren heutigen politischen Problemen sagen könne, w i r d ja gerade i n der Öffentlichkeit und vermutlich i n der an diesen Vortrag anschließenden Diskussion auch von Ihrer Seite, bei Gelegenheit solcher Symposien, unüberhörbar gestellt. Wenn ich meinerseits zu dieser Frage Stellung nehmen sollte, dann würde ich allerdings eher auf die anregende Kraft des Modells der Consociatio symbiotica als auf das Widerstandsrecht zu sprechen kommen. Ganz elementar ist ja i n den letzten Jahrzehnten, besonders eklatant durch die sogenannte Studentenbewegung auf die Fremdheit, Abstraktheit und Alltagsferne der politischen Entscheidungsprozesse, das Defizit an Unmittelbarkeit und also an symbiotischen Formen politischer Teilhabe beklagt worden. Trotz der fundamentalen Verschiedenheit von Situation und Adressatenkreis der Proteste geht doch die
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moderne K r i t i k i n eine prinzipiell vergleichbare Richtung: wie das Modell der Consociatio Symbiotica in den Wunsch nach aktiver Beteiligung anstelle von Betreuung, Verwaltetsein, Versorgtsein sowie nach mehr Transparenz und mehr Reziprozität zwischen oben und unten, jung und alt; auch nach besseren Formen der Kooperation zwischen Arbeitsbesitzenden und Arbeitslosen, nach neuen Formen politischer Partizipation, tendenziell nach Fundamental- und Basisdemokratie. Diese prinzipielle Vergleichbarkeit der Zielrichtung und die Beschreibung, die Althusius für den Weg dorthin anbietet, das ist es, was eine gründliche Beschäftigung mit Buch und Autor angesichts unserer heutigen politischen Fragestellungen nötig und ertragreich macht. Die Bürger von Herborn und des gesamten nassauisch-wittgensteinischen Grenzgebietes sind dazu i n besonderem Maße aufgefordert; nicht nur, weil ihr Landsmann Althusius hier seine Politica erarbeitet und öffentlich vertreten hat. Sondern auch, weil sie i n dieser Gegend nach wie vor aus ähnlichen Quellen symbiotischer Lebensgestaltung schöpfen können, aus denen Althusius einen unverwechselbaren Teil seiner Anschauungen und A n regungen gewonnen hat.
REFORMATION, RECHT U N D STAAT Von Bernd Rüthers, Konstanz Die 500. Geburtstage Luthers (10. November 1483) und Zwingiis (1. Januar 1484) regen auch Juristen an, darüber nachzudenken, was die Reformation für das Verständnis von Recht und Staat bedeutet. Das Thema Reformation und Recht gibt viele Fragen auf. Hier sollen uns nur zwei beschäftigen: 1. Was lehrte die Reformation über das Recht und den Rechtsgehorsam? 2. Was bewirkte die Reformation für das Recht und den Staat?
I . Z u r Rechtslehre oder „Rechtstheologie"
Die Antwort ist auf den ersten Blick scheinbar einfach: Martin Luther war Theologe, kein Jurist. Er hatte zwar während seiner Studienjahre i n Erfurt nach der Magisterprüfung auch mit dem Studium der Rechte begonnen, nicht zuletzt auf Wunsch seines Vaters Hans Luther. Der war vom Bauernsohn und Bergmann zum selbständigen Unternehmer aufgestiegen. Er sah den Sohn bereits i n der neu aufsteigenden Schicht der Juristen als Berater weltlicher und geistlicher Fragen. Aber der Sohn Martin entschied sich plötzlich anders, verkaufte seine juristischen Bücher und trat, zum Entsetzen seines Vaters, als Mönch bei den Augustinern ein. 1. Luther über Recht und Juristen
Vom Recht und den Juristen hat Luther zeitlebens nicht viel gehalten und das auch mit der ihm eigenen Offenheit deutlich gesagt, etwa so: „Die Menschensatzungen geben der Seele keine Nahrung, sondern sie sind ein Dreck."
oder „Es sind Rechtsbücher allzuviel da." oder „Durch das Gesetz w i r d kein Mensch besser, sondern nur ärger."
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„Ebenso müssen w i r bekennen, daß es keine schändlichere Regierung gibt als bei uns durch geistliches und weltliches Recht, so daß kein Stand mehr der natürlichen Vernunft, geschweige denn der heiligen Schrift gemäß geht." „Das weltliche Recht, h i l f Gott, w i e ist das auch eine Wildnis geworden! Obwohl es viel besser, kunstvoller u n d redlicher ist als das geistliche, an welchem außer dem Namen nichts Gutes ist, so ist es doch auch v i e l zuviel geworden."
Die Juristen selbst kommen noch schlechter weg: „Die endliche Ursache, darum i h r zu Juristen werdet u n d Jura studiret, ist das Geld, daß i h r reich werdet."
oder „Das Studium der Rechte ist eine gar niederträchtige Kunst, und wenn es nicht den Geldbeutel füllte, würde sich niemand darum bemühen."
oder „Wenn d u ein Jurist werden solltest, wollte ich dich an einen Galgen hängen."
oder „Juristen können n u r Mücken fangen, die großen H u m m e l n reißen h i n durch."
oder „Die Schinder schinden tote Tiere, die Juristen aber lebendige Leute." 2. Die theologische Kernfrage
Aber alles das waren beiläufige Äußerungen. Luthers Hauptthema war ein ganz anderes. Er wollte wissen: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?" „ W i e w i r d der sündige Mensch gerechtfertigt?"
Die Fragen des menschlichen Rechts dagegen waren ihm am Anfang gleichgültig, später, als er seinen reformatorischen Kampf auch gegen das geltende Recht — kirchliches und weltliches — führen mußte, Steine des Anstoßes. Rechtsfragen erweckten bei ihm Mißtrauen, K r i t i k , Spott und Abscheu. Nicht nur die Juristen müssen sich fragen, warum das bis heute beim einfachen Bürger nicht sehr viel anders geworden ist. Seine Zentralfrage nach der Rechtfertigung des sündigen Menschen durch einen gnädigen Gott stellte er mitten i n den chaotischen Wirren und Verderbnissen seiner Zeit. Ist das Thema Reformation heute deshalb so ungemein fesselnd, w e i l w i r uns i n den Wirren von damals zu erkennen glauben wie i n einem Spiegel?
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3. Die Reformation als Konflikt mit dem geltenden Recht
Luther wollte die Re-form der sündigen, durch abstoßende Mißstände gekennzeichneten Kirche seiner Zeit, die Wiederherstellung der Kirche i n ihrer biblisch reinen Gestalt. Er wollte keine neue, sondern die alte, reine wahre Kirche. Der Gedanke an eine Spaltung lag i h m fern. Dieser Wunsch nach einer Erneuerung der Kirche an Haupt und Gliedern war alt und immer wieder vergeblich erhoben worden. Mehrere sog. Reformkonzilien hatten wenige und allenfalls zeitweilige Früchte getragen. Wer Buße, A r m u t und Abkehr von kirchlichem Reichtum predigte, wer die traurigen Tatsachen beim Namen nannte, geriet schnell und trotz heiliger Eide über freies Geleit in Lebensgefahr. Johannes Hus war 1415 i n Konstanz verbrannt, Savonarola 1498 i n Florenz öffentlich gehenkt worden. Jeder Reformator nahm auf seinem Weg das Risiko einer Verurteilung als Ketzer i n Kauf. Er legte sich bewußt mit den geistlichen und weltlichen Mächten und ihren Rechtsordnungen an, w e i l sie sich seiner Forderung nach der Erneuerung der Kirche aus dem Geist der Bibel entgegenstellten. Luther hat diese Konflikte mit den Statthaltern der Kirche, des Reiches sowie mit den Landesfürsten weder beabsichtigt noch gemieden. Er ging seinen Weg nach der — damals — unerhörten Eingangsthese seiner Schrift „von der Freiheit eines Christenmenschen" : „ E i n Christenmensch ist ein freier H e r r über alle Dinge u n d niemandem Untertan. E i n Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge u n d jedermann
Untertan."
W i r können heute kaum noch ermessen, welch revolutionäre Sprengkraft dieser Satz damals für die überkommenen Ordnungen von Kirche und Staat enthielt. Luther meinte, was er sagte; daran ließ er keinen Zweifel. 4. Der Bruch mit Papst und Kaiser
Als er am 10. Oktober 1520 die päpstliche Bulle erhält, die i h m den Kirchenbann androht und die den Kaiser und die Fürsten auffordert, Luthers Schriften zu verbrennen, da schreibt er i m November — wie zitiert — „von der Freiheit eines Christenmenschen". Aber nicht nur das: I m Dezember lädt er m i t einem Anschlag an der Pfarrkirche zu Wittenberg „alle Freunde evangelischer Wahrheit" dazu ein, an der Verbrennung der gottlosen Bücher des päpstlichen Rechts und der scholastischen Theologie teilzunehmen. A m 10. Dezember gingen vor dem Elstertor i n Wittenberg unter dem Beifall einer Schar von Begleitern und Studenten drei Bände des kirchlichen Rechts i n Flammen
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auf. Luther selbst warf die päpstliche Banndrohungsbulle ins Feuer. A m nächsten Tag hat er i n seinem Kolleg vor einem großen Zuhörerkreis diesen Schritt — wider alle universitären Gebräuche i n deutscher Sprache — erläutert: Er habe keine Wahl gehabt und nicht etwa aus weltlichen Gründen gehandelt, sagte er, sondern um seine Mitmenschen vor dem ewigen Verderben zu bewahren. Das Bücherverbrennen sei nicht genug. Der päpstliche Stuhl müsse den Flammen übergeben werden. Damit war er gegen die herrschenden Mächte seiner Zeit, gegen Papst und Kaiser, gegen kirchliches und weltliches Recht aufgestanden. A m 3. Januar 1521 wurde er von Papst Leo X. gebannt. A m 17. und 28. A p r i l wurde er auf dem Reichstag zu Worms vor Kaiser und Reich verhört. Er widerrief nicht. Damit hatte er sich entschlossen, seine Reformation nicht nur gegen den Papst, sondern auch gegen Kaiser und Reich zu wagen. Die Reformation ist nicht das Werk eines Mannes. Die Zeit war reif für einen tiefgreifenden Wandel. Luther war nur einer von vielen, die dieses Bewußtsein zur Tat drängte. Aber ohne diesen Martin Luther wäre das Geschehen so nicht vorstellbar. Die Spaltung der bisher einen Kirche wurde auf dem Reichstag zu Worms offenbar. Luther sagte dort: „Solange ich nicht durch die Heilige Schrift oder klare Vernunft widerlegt werde, k a n n u n d w i l l ich nichts widerrufen, w e i l gegen das Gewissen etwas zu t u n weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe m i r ! "
Der junge Kaiser K a r l V. entgegnete mit einer eigenhändig verfaßten Erklärung vor dem Reichstag: „Denn es ist sicher, daß ein einzelner Bruder i r r t , wenn er gegen die Meinung der ganzen Christenheit steht, da sonst die Christenheit tausend Jahre oder mehr geirrt haben müßte. Nachdem w i r gestern die Rede Luthers hier gehört haben, sage ich Euch, daß ich bedaure, so lange gezögert zu haben, gegen i h n vorzugehen. Ich werde i h n nie wieder hören. E r habe sein Geleit. Aber ich werde i h n fortan als notorischen Ketzer betrachten . . . "
Der Atem der Weltgeschichte weht uns aus dieser Szene an. Die öffentliche Verbrennung der kirchlichen Rechtsbücher und der päpstlichen Bulle i m Namen der Freiheit und der subjektiven Wahrheitsüberzeugung war ein umwälzender, ein buchstäblich und i m Rechtssinne revolutionärer A k t . Er kennzeichnet das Ende einer Epoche. Das Mittelalter war vorüber. Eine neue Zeit brach an. Die Idee der individuellen Menschen- und Freiheitsrechte betrat i m A k t der Gesetzbuch- und Bullenverbrennung zu Wittenberg erneut die
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politische Bühne Europas. Diese Idee hat fortan und bis heute das politische Leben der zivilisierten Welt beherrscht, ungeachtet aller realen Unterdrückung, aller Folter und allen Terrors. Man sieht: E i n Eintreten für die Re-formation der Kirche ohne Zusammenstoß mit dem kirchlichen und weltlichen Recht war so, wie die Dinge lagen, undenkbar. Jeder Reformator bekam es sehr schnell mit dem Recht und dessen Vollstreckern zu tun. Jeder Reformator war daher i n der Regel sehr bald gezwungen, seine Einstellung zum Recht zu finden und zu erklären. Insofern kann man (mit Johannes Heckel) sagen, daß alle Hauptlehren Luthers — obwohl sie theologischen U r sprungs sind — auch ein rechtliches Element enthalten. Das bedeutet aber nicht, daß Luther eine Rechtslehre oder gar eine systematische „Rechtstheologie" verkünden wollte. Seine theologischen Reformthesen erfaßten vielmehr den ganzen Menschen i n allen Ordnungen. Sie betrafen deshalb notwendig auch seine Stellung i m Recht von Kirche und Welt. Sie betrafen zugleich damit die Rechtsverhältnisse zwischen Kirche und Reich. Trotzdem gilt die These: Es lag Luther fern, jedenfalls nicht i n seiner Absicht, eine systematisch geschlossene, theologisch fundierte Theorie des Rechtes und des Staates zu entwickeln. 5. Die Zwei-Reiche-Lehre
Grundlage und Ausgangspunkt seiner Vorstellung über die Stellung des Christen i n Staat und Recht war die Lehre von den „zwei Reichen", in die der Christ gestellt sei und i n denen er zu leben habe. Das Evangelium bringt ihm nach dieser Lehre den A n r u f Gottes, die Berufung i n das „Gottesreich", ein Reich der Liebe Gottes, gelenkt von der Gnade. Zugleich bleibt und steht er als Mensch i n dieser Welt, i m „Weltreich"; dies ist ein Reich der Strenge und des Zornes Gottes, beherrscht vom Gesetz. Es geht Luther bei der Lehre von den beiden Reichen um die Stellung des Christen i m irdischen Leben. Wie ist der individuelle Glaubensgehorsam gegenüber der Bergpredigt, also gegenüber Gott, mit der Teilnahme an der Gestaltung der Welt vereinbar? Es geht also um die Rolle des Christen in Gesellschaft und Politik. Die „Zwei-Reiche-Lehre" Luthers ist i m Ergebnis als eine reformatorisch-pastorale Anleitung zur gesellschaftlichen und politischen Praxis des Christen i n der Welt zu verstehen. Die Einheit von Kirche und Reich, geistlicher Führung und weltlicher Machthabe w i r d verneint. Das war eine Wende gegen die Tradition des Mittelalters. Die theo-
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logische Predigt von Gott und seinem Heil w i r d unterschieden vom Handeln des Christen in der Welt. Zwischen dem theologischen Glauben und dem weltlichen Handeln besteht zwar eine Beziehung, aber auch ein durch die Freiheit des Einzelgewissens gekennzeichneter Unterschied. Beides ist nicht dasselbe. Sowohl Luther (Von weltlicher Obrigkeit, 1523) als auch Calvin (Institutio, 1529, IV, 20) haben die „Zwei-Reiche-Lehre" am Beispiel des politischen Handelns des Christen entfaltet. Bei beiden t r i t t derselbe reformatorische Grundgedanke hervor: Es geht ihnen u m die Wiedergewinnung und Sicherung der Freiheit des Christenmenschen. Der Weg dazu ist, besonders für Luther, i n heutiger Sprache die Entpolitisierung des Evangeliums, also der Kirche, und die Entklerikalisierung der Welt. Er zielt auf das Ende des Priester- und Kirchenregiments i n Fragen des weltlichen Rechts und der Politik. Reformation, das bedeutet insoweit: Abkehr vom Klerikalismus. Diese Zwei-Reiche-Lehre schränkt den autoritativen Einfluß der Kirche, also auch der Theologen und Pfarrgeistlichen, auf konkrete politische Entscheidungen radikal ein. Das w i r d heute, unter dem Eindruck drängender ökologischer und rüstungspolitischer Zeitfragen, von manchen, vor allem evangelischen Pfarrern, Professoren und sogar Bischöfen als unbefriedigend empfunden. Sie neigen dazu, i m Evangel i u m unmittelbar gültige politische Handlungsanweisungen zu sehen und ihre Interpretation derselben als verbindliche Weisung Gottes auszugeben. Z u diesem Zweck w i r d gesagt: Die Zwei-Reiche-Lehre sei ein Produkt aus der Zeit Luthers; sie stamme aber nicht vom Reformator selbst, dem man als treuer Lutheraner nicht widersprechen möchte. Historisch läßt sich diese These nicht halten. Die Belege i m Werk Luthers für seine eigenständige theologische Fundierung dieser Lehre sind eindeutig. Luther zielt m i t der Zwei-Reiche-Lehre bewußt auf das Ende der Priester- und Kirchenherrschaft in Fragen des weltlichen Rechts und der Politik. Reformation, das bedeutete für ihn insoweit Abkehr vom Klerikalismus. 6. Kirche und Staat bei Zwingli und Calvin
Die beiden großen Schweizer Reformatoren Z w i n g l i (1484—1531) und Calvin (1509—1564) hatten zu Staat, Gesetz und Recht eigenständige, gegenüber Luther deutlich modifizierte Positionen. Das hat verschiedene Ursachen. Beide begründeten — der eine i n Zürich, der andere in Genf — aus dem neuen Glauben theokratisch verstandene Stadtherrschaften. Das führte von vornherein zu einem bewußteren, praktischen und i m Ansatz positiveren Verhältnis zum staatlichen Gesetz und zur politischen Macht. Auch das abgeschlossene gründliche juristische
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Studium Calvins (1528—1531 i n Orléans und Bourges) hat seinen gesamten Denkstil, aber auch seine Einstellung zu Recht und Staat maßgeblich und lebenslänglich geprägt. Interessant sind insoweit die Differenzen i n der Rechts- und Staatsauff assung der Schweizer Reformatoren auch untereinander. Die Rechtsund Staatsauffassung Huldrych Zwingiis unterschied sich wesentlich von der Zwei-Reiche-Lehre Luthers. Zwingli erkannte keine so prinzipielle Trennung von Kirche und Staat an. Für i h n sind dies nicht zwei verschiedene, selbständige Institutionen und Rechtsordnungen. Der Staat ist für i h n der christliche Staat und damit zugleich die christliche Gemeinde. Der weltliche (in Zürich städtische) Magistrat ist für i h n zugleich das Presbyterium dieser Gemeinde. I n dieser christlichen, staatlich-kirchlichen Volksgemeinde ist der Pfarrer der berufene Hirte. Er macht das geschriebene biblische Wort Gottes zur gesprochenen, auf diese Stunde und diese Gemeinschaft zugemünzten und gültigen Weisung. I m zweiten helvetischen Bekenntnis, verfaßt vom Nachfolger Zwingiis, Heinrich Bullinger, steht der kennzeichnende Satz: „Die Pre digt des Wortes Gottes ist das Wort Gottes Nach der Auseinandersetzung Zwingiis mit dem Vertreter des Bischofs von Konstanz i n zwei entscheidenden Disputationen 1523 beschloß der Rat der Stadt Zürich die grundlegende Wende zu einem neuen Gottesstaat: Zürich sollte als christliches Staatswesen künftig unmittelbar unter den Weisungen und Normen des Gotteswortes stehen. Das war zunächst die Lossagung von der Autorität des Konstanzer Bischofs. Zugleich damit wurde die Autorität und Kompetenz der Organe des neuen Gottesstaates erheblich ausgeweitet. Ein neues Eheund Kirchenrecht wurde von den Stadtbehörden i n Kraft gesetzt, selbstverständlich i n dem Bewußtsein, Norm und Weisung des Evangeliums für diesen Bereich wahrhaft zu erfüllen. Zwingli hat sich mit dieser Konstruktion eines neuen Gottesstaates grundsätzlich auseinandergesetzt i n seiner 1523 verfaßten Schrift „ V o n göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit". Die Unterscheidung w i r d bei i h m sogleich dialektisch aufgelöst i n Zuordnungen und Bildern, wie „Seele und Leib" oder „Geist und Materie". Für i h n ist beides folgerichtig eine untrennbare Einheit, also das Gegenstück zu Luthers „Zwei-Reiche"-Lehre. E i n Vorfall i n Konstanz belegt das. Als dort der Rat der Stadt die Messe verbieten und den A l t a r entfernen ließ, widersprachen die Anhänger Luthers diesem Schritt: Es sei nicht Sache der weltlichen Obrigkeit, Kirchenfragen zu entscheiden. Zwingli, von den Konstanzern 4 RECHTSTHEORIE, Beiheft 7
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u m Rat gebeten, schrieb: Der Rat der Stadt sei der Versammlung der Apostel i n der Urgemeinde vergleichbar. Auch dort hätten die Apostel über die Gemeindeordnung entschieden. Städtischer Magistrat und Kirchenleitung fallen also bei Z w i n g l i zusammen. Bei Calvin ist die Sicht des Verhältnisses von Kirche und Staat anders. Er hielt Stadtregiment und Kirchenleitung i n Genf getrennt. Kirche und Staat sind nach Calvin eigenständige Körperschaften mit eigenen Rechtsordnungen. Seine Auffassungen dazu werden zwar ebenfalls zutreffend i m Sinne einer Theokratie, also einer Gottesherrschaft über das Gemeinwesen, gedeutet. Aber Theokratie darf hier nicht mit Priesterherrschaft gleichgesetzt werden. Das gilt jedenfalls für die Lehre Calvins. I n der politischen Praxis seiner Zeit war sein realer politischer Einfluß groß. Theokratie, das bedeutete für ihn die unmittelbare Verbindlichkeit des göttlichen Willens gemäß der biblischen Offenbarung auch i m Staat. Anders als Z w i n g l i unterscheidet Calvin jedoch streng die weltliche von der geistlichen Gewalt. Das zeigt sich i n zwei Grundsätzen: Er ist gegen jede institutionelle Vermischimg von geistlicher und weltlicher Amtsführung. Das gilt für i h n nach beiden Richtungen: Er t r i t t für eine strikte Trennung von weltlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit ein. Das Konsistorium (geistliches Gericht) und der Magistrat (weltliches Gericht) haben streng getrennte Zuständigkeiten. Übergriffe beider Seiten waren nach Calvin unzulässig. Das bedeutete allerdings auch, daß die weltliche Gewalt den Spruch des kirchlichen Gerichts nicht mißachten durfte. Der Staat muß mit seiner Strafgewalt eingreifen, um die Religion zu schützen. E i n Beispiel: Ein Pfarrer, der eine falsche Lehre predigt, darf gemeinsam von der Kirche und der weltlichen Obrigkeit an der Ausübung seines Amtes gehindert werden. Fassen w i r zusammen: Calvin wollte den staatlichen und den kirchlichen Bereich unterschieden, wenn auch nicht gänzlich getrennt wissen, denn beide stehen auch bei i h m unter dem einen Wort Gottes. Hier geht er weiter als Zwingli, der eine hierokratische Position — jedenfalls für seine eigene Person — einnahm. Er unterordnete damit den Staat der Kirche. Das führte i m Ergebnis — wenig anders als bei Luther — zu einem Staatskirchentum. Die weltliche Obrigkeit i n Zürich wurde immittelbar für das geistliche W o h l der Untertanen verantwortlich. Sie hatte den Kirchenzwang einzuführen und seine Befolgung zu überwachen. Das hier für die großen Reformatoren angedeutete Grundproblem des Verhältnisses von Kirche und Staat ist durch die Jahrhunderte bis
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heute aktuell geblieben. Der reformatorische Ansatz Luthers und Calvins, Kirche und Staat stärker zu unterscheiden, geistliches Hirtenamt und weltliches (politisches) Gestaltungsamt deutlicher als i m M i t t e l alter zu trennen, ist i m II. Vatikanischen Konzil auch von der katholischen Kirche aufgenommen und modifiziert worden. Das hat u. a. zu einem gewandelten Verständnis der katholischen Naturrechtslehre geführt. Auch die Teilnahme von katholischen Geistlichen an konkreten politischen Aktionen w i r d seither anders gesehen (vgl. die Pastoralkonstitution über die Kirche i n der Welt von heute: „Gaudium et spes"). Umgekehrt wenden sich evangelische Pastoren heute stärker als je aktuellen politischen Streitfragen zu und geben Antworten, die aus ihrer Sicht biblisch begründet sein sollen. A u f Luther können sie sich dabei kaum berufen. Er verneinte den Herrschaftsanspruch der Kirche über Gesellschaft und Staat. Er beschränkte sie auf ihren theologischen Auftrag der Verkündigung. I n allen den Glauben nicht unmittelbar berührenden Fragen sollte der gläubige Christ seinem Gewissen, der natürlichen Vernunft und der weltlichen Obrigkeit unterstehen, nicht aber der Kirche, also dem Papst oder den Klerikern. 7. Widerstandsrecht als Grenze des Rechtsgehorsams
Das alles war für Luther kein juristisches, sondern ein theologischbiblisches Problem. Es ging dabei nicht zuletzt auch u m das sehr praktische und spannungsvolle Verhältnis eines Reformators zu seiner eigenen kirchlichen und weltlichen Obrigkeit. Die reformatorische Auffassung vom Recht ist wesentlich von Bibel her bestimmt, die allerdings dazu unterschiedliche Aussagen hält. Luther geht auch hier von der Frage der Rechtfertigung sündigen Menschen vor Gott aus. Die Rechtsfrage ist also für i h n seiner Rechtfertigungslehve eng verknüpft. Deshalb war zunächst 13. Kapitel des Römerbriefes direkt Gottes Befehl:
der entdes mit das
„Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über i h n hat, denn es gibt keine Obrigkeit, es sei denn von Gott."
Alle Reformatoren waren überzeugt, daß Gottes Allmacht und Gerechtigkeit auch für die Beseitigung einer ungerechten Obrigkeit sorgen werde. Der hier von der Bibel angeordnete duldende Gehorsam gegenüber einer ungerechten Obrigkeit hat jedoch biblische Grenzen: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, u n d Gott, was Gottes (Markus 12,17).
ist!"
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„ M a n muß Gott mehr gehorchen als dem Menschen" (Apostelgeschichte 5, 29).
Luther sah darin ein göttliches Gebot zum Widerstand verankert. Er bejahte jedoch kein Widerstandsrecht des einzelnen, der von einem Unrecht der Obrigkeit betroffen war. Auch ein naturrechtliches Notwehrrecht lehnt Luther — anders als Melanchthon — strikt ab. Nach seinem Verständnis gab es lediglich eine Widerstandsp/UcTit und ein Widerstandsrecht der Reichsstände gegenüber einem ungerechten Herrscher, der etwa die religiösen Belange seiner Untertanen verletzte oder sonst schweres Unrecht beging. Dieses Widerstandsrecht der Reichsstände folgte aber bereits aus der Reichsverfassung, war also positives Recht. Von Luther stammt die Äußerung: „Das Evangelion nicht widder die weltliche recht lehret."
Er betonte dieses Widerstandsrecht der Reichsstände, als er die Reformation zunehmend durch geistliche und weltliche Gewalten und durch deren Rechtsordnungen bedroht sah. Auch Calvin kannte kein aktives Widerstandsrecht der einzelnen Bürger und lehnte den Gedanken der Volkssouveränität ausdrücklich ab. „Demokratischer" Widerstand war nach den Reformatoren nicht zulässig. Gewaltsames Aufbegehren solcher, die sich von einer ungerechten Obrigkeit in ihren Rechten verletzt sahen, lehnte Luther als Aufruhr ab. Einprägsam formuliert er in einem Brief an den Kaufmann Kohlhase (Kleist's Vorbild) vom 8. Dezember 1534: „ K ö n n t i h r das Recht nicht erlangen, so ist kein ander Rat da, denn U n recht leiden. U n d Gott, der Euch so läßt Unrecht leiden, hat w o h l Ursach zu Euch."
I n der politischen Praxis seiner Zeit hat diese zwiespältige Problemat i k Luther große Schwierigkeiten eingetragen. Beispielhaft deutlich w i r d das in seinem Streit m i t Thomas Müntzer und i n seinen Stellungnahmen zum Bauernkrieg 1525, die nicht zu Unrecht als „rasente Schriften" bezeichnet werden; es heißt darin gegen die auf ständigen Bauern: „Steche, schlage, würge hier, wer da k a n n . . . D u n k t das jemand zu hart, der denke, daß A u f r u h r unerträglich i s t . . . "
Festzuhalten bleibt: Die Reformation hat die Frage nach der Grenze des Rechtsgehorsams, also nach dem Widerstandsrecht, neu gestellt. Gewaltsamer Widerstand von privaten Einzelnen galt allen drei Reformatoren als rechtswidriger Aufruhr. Die Reformation hat zugleich gezeigt, daß es auf diese Frage auch anhand der biblischen Aussagen immer nur zeitbedingte und risikoreiche Antworten gibt.
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8. Ansätze zu einer evangelischen Rechtslehre
Luthers Lehre hat auf große Juristen seiner Epoche Einfluß gehabt. Von Schwarzenberg (1465—1528), Schöpfer der Bambergischen Halsgerichtsordnung (1507) und Mitgestalter der Carolina, war sein Freund und ein Förderer der Reformation. Johann Oldendorp (1488—1567) und Johannes Althusius (1557—1638) wurden die maßgeblichen Lehrer einer neuen evangelischen Rechtsanschauung. Oldendorp verarbeitete die theologischen Aussagen Luthers mit der Ethik Melanchthons i n eine protestantische Rechts- und Staatstheorie. Althusius verband diese später mit der Souveränitätslehre und der theokratischen Staatsauffassung Calvins. Althusius vertritt i n seinen „politica" (1603) die Selbständigkeit einer neuen Disziplin der Politik- oder Gesellschaftswissenschaft neben der Rechtslehre, der Ethik, der Theologie, der Physik und der Logik. Er geht dabei als Calvinist von der Prädestination alles gesellschaftlichen und staatlichen Lebens aus. Der Staat hat für Althusius zugleich weltliche und geistliche Aufgaben zu erfüllen. Eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche i. S. der Zwei-Reiche-Lehre Luthers kennt Althusius nicht. Von großer historischer Tragweite ist die Lehre des Althusius zur Volkssouveränität, die er i n der Abgrenzung zu Bodin und i n Anlehnung an Vasquez (Schule von Salamanca) entwickelt. Althusius lehnt in seiner Lehre vom Gesellschaftsvertrag die Souveränität des Herrschers ab. Dieser ist für i h n nur der leitende „Beamte". Geschäftsherr ist das Volk. Althusius kennt auch keine absolute Souveränität („potestas absoluta"). Die souveräne Gewalt (auch des Volkes) ist nicht nur durch göttliches und Naturrecht, sondern auch durch die staatlichen Gesetze, besonders durch die Verfassung eingeschränkt. Der Urgedanke des Rechtsstaates t r i t t i n dieser Lehre bereits deutlich hervor. Auch seine Lehren zum Widerstandsrecht bestätigen die strenge Bindung an die Rechtsordnung. Er verkündet kein Recht zur Revolution, sondern bindet den zulässigen Widerstand des Volkes oder seiner Repräsentanten („Ephoren") an genaue formelle Voraussetzungen. Das Widerstandsrecht darf nur defensiv gegen einen Vertragsbrüchigen Herrscher und nach den Regeln des Rechts ausgeübt werden. Der Widerstand gegen einen ungerechten Landesherrn ist dann nicht Aufruhr, sondern berechtigte Notwehr gegen die Verletzung eigener Rechte. Voraussetzung des Widerstandsrechts ist für Althusius, daß die Obrigkeit göttliches oder natürliches Recht verletzt. Dann w i r d der Widerstand sogar rechtsstaatlich geboten. Aber er begrenzt solchen erlaubten Widerstand auf eng umgrenzte Fälle, w i l l dafür einen legalen Rahmen und gesteht das Widerstandsrecht nur bestimmten Inhabern öffentlicher Ämter und
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Funktionen zu. Rechtsstaatliche Gesichtspunkte, besonders die Hochachtung des Gesetzes sind stark ausgeprägt. 9. Ergebnisse zur ersten Frage
1. Die Reformation bewirkte eine schwere Erschütterung der gesamten damaligen kirchlichen und weltlichen Rechtsordnung. Die reformatorische Umwälzung reichte bis i n die Grundlagen des Rechts- und Verfassungsverständnisses hinein. 2. Die Reformation stellte das gesamte Lehrgebäude der scholastischen Theologie, Philosophie und der theologischen Naturrechtslehre i n Frage. Der thomistische Grundsatz von der Unterordnung des positiven und des natürlichen unter das kirchliche Recht wurde aufgegeben. 3. Der Sinn und der Geltungsanspruch menschlichen ( = weltlichen) Rechts waren nach Luther und Calvin primär aus geschichtlichen und natürlichen Ursachen zu erklären und zu rechtfertigen. Daneben gab es zwar unmittelbar geoffenbartes, göttliches, nämlich biblisches Recht. Aber: Die Einheit einer vom Rechtsschöpfer Gott selbst abgeleiteten umfassenden Rechtsordnung für alle Lebensbereiche wurde von ihnen verneint. Auch die Rechtssatzungen der Kirche waren danach, nicht immittelbar göttliches Recht, sondern von Menschen gemacht. 4. Die Reformation bewirkte so eine (Enttheologisierung = ) Verweltlichung des staatlichen Gesetzes. Die positive Rechtsordnung wurde primär einer inner weltliche Angelegenheit. Das Einzelgewissen wurde, gebunden an und angeleitet durch die Bibel, die verbindliche Richtschnur für das (politische und gesellschaftliche) Handeln des Christen i n der Welt. Diese Lehre setzte zugleich die Inhaber der weltlichen Macht von der Autorität kirchlicher Soziallehren weitgehend frei. Gerechtfertigt wurde der Christ von innen: Sola fide, sola gratia, sola scriptura, also allein durch Glauben, Gnade und Schrift. Die Amtskirche hatte keine Macht mehr über das konkrete weltliche Handeln und über das Gewissen der Handelnden. Diese müssen anhand der Bibel m i t den politischen Problemen, auch m i t der Frage nach Gehorsam und Widerstand gegenüber dem staatlichen Recht, allein fertig werden. I I . D i e W i r k u n g e n der Reformation auf Staat und Recht
Wichtiger als die Lehren der Reformation über das Recht waren die Wirkungen der Reformation auf das Recht. Warum?
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1. Glaubenskriege
M i t dem Kirchenbann gegen Luther, m i t seiner Ablehnung des Widerrufs vor dem Reichstag i n Worms und m i t der Reichsacht über Luther und seine Anhänger (alles 1521) w a r de facto ein neues Bekenntnis, eine zweite Kirche entstanden. Fortan gab es i n Europa nicht mehr die eine religiöse Wahrheit, sondern mindestens zwei, bald drei Wahrheiten, die sich widersprachen und bekämpften. Die neuen Bekenntnisse mußten nun neben der alten römischen Kirche eine Stellung i m Reich, i n den Fürstentümern und i n den Rechtsordnungen finden. Das bedeutete eine Umwälzung des gesamten Kirchen- und Staatsverständnisses i m „hl. römischen Reich deutscher Nation". Das wurde seit 1520 von K a r l V . regiert und war ohnehin von Zerrissenheit und Zerfall bedroht. Schwere Konflikte über die Grundfragen des Glaubens, der weltlichen Herrschaft und des Rechts waren damit unausweichlich. Aus der Spaltung der einen Christenheit i n verschiedene Konfessionen folgten blutige Glaubenskriege, die Europa, besonders aber Deutschland schwer verwüsteten. Alle diese Glaubenskriege waren auch von sehr weltlichen Interessen der Kriegsparteien durchzogen. Der Augsburger Religionsfriede von 1555 schrieb u. a. auch den erreichten Stand der konfessionellen Macht-, Raum- und Vermögensverteilung fest. Er verkündete zudem ein neuartiges Friedensprinzip: Cuius regio — eius religio. Der Landesherr bekam das verbriefte Recht, die Religion seiner Untertanen zu bestimmen. Wer die i h m vom Landesherrn verordnete Religion nicht wollte, konnte nur noch auswandern. Was i m Namen der reinen Lehre und der Freiheit des Gewissens begonnen hatte, führte zur staatlich verordneten Religion, zur totalen Einschnürung der Religionsfreiheit durch den jeweiligen Machthaber. Von der Freiheit des Christenmenschen blieb nur die Unterwerfung oder der Weg ins konfessionelle Exil. Das galt für beide Konfessionen. Dieser „Friede" galt übrigens nur für Katholiken und Lutheraner. Die Anhänger Calvins waren davon noch ausgeschlossen; insgesamt also eine schmale Basis für Glaubensfreiheit, Humanität und Toleranz. Die jeweiligen konfessionellen Friedensschlüsse erwiesen sich i n der Regel bald als bloße Waffenstillstände. Die explosiven konfessionellen und politischen Spannungen i m zerfallenen Reich dauerten auch nach dem Aufstand der Reichsritter gegen die Fürsten (1525) an. Es folgten der große Bauernkrieg (1525), die Plünderung Roms durch deutsche
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Landsknechte — „sacco di Roma" — (1527) und die Herrschaft der Wiedertäufer i n Münster (1534/35). Die Glaubenskriege erreichten ihren Höhepunkt 1618 i n der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges. Deutschland und Europa versanken i n einem Meer von Blut und Tränen. Und wiederum wurde auf allen Seiten gekämpft, gebrandschatzt und getötet i m Namen des wahren Glaubens. Die Bevölkerung des Reiches (ohne die Niederlande und Böhmen) sank von ca. 21 Mio 1618 auf weniger als 13,5 Mio 1648; andere Historiker schätzen den Blutzoll dieses Gemetzels auf ca. 30—40 % der Bevölkerung. Nach unsagbaren Verwüstungen wurde 1648 zu Münster und Osnabrück der Westfälische Friede geschlossen. Der konfessionell ausgerichtete Territorialstaat als „Teilstaat" wurde jetzt die alles beherrschende Staatsform und als solche auch verfassungsrechtlich anerkannt. 2. Der Staat Garant des religiösen Friedens
U m die grauenhaften konfessionellen Bürgerkriege zu beenden, erschien die Aufteilung Mitteleuropas i n konfessionelle Territorialstaaten als ein plausibler Weg. Das Gewaltmonopol des Staates wurde zum Garanten des inneren Friedens. Der Staat wurde damals zur wichtigsten Friedensbewegung. Man lernte: Wer das staatliche Gewaltmonopol bestreitet, begünstigt den Bürgerkrieg. Die Einheit und Handlungsfähigkeit des Reiches und seiner Organe wurden durch die Einführung der konfessionellen Parität für den Reichstag, die Reichsdeputation und die obersten Reichsgerichte entscheidend geschwächt. I n Glaubensfragen galt i m Reichstag nicht mehr der Mehrheitsentscheid, sondern die sog. „itio in partes", d. h. sie wurden zur Abstimmung i n die jeweiligen Religionshälften überwiesen. Praktisch blieben solche Fragen meistens unerledigt. Ähnliche Paritätsprobleme sind uns heute i n Staat, Gesellschaft und Wirtschaft nicht unbekannt. Die Calvinisten („Reformierte") wurden jetzt den Katholiken und Lutheranern gleichgestellt. Das Recht des Landesherrn, den Glauben seiner Untertanen zu bestimmen, wurde als selbstverständlich bekräftigt. Die Glaubensspaltung hatte, spätestens zu diesem Zeitpunkt, einen neuen Staat und damit auch neues Recht geschaffen. Diese Entwicklung folgte einer gleichsam naturgesetzlichen Notwendigkeit. 3. Vernunft statt Glaube als Rechtsgrundlage
M i t der Einheit des Glaubens waren die wesentlichen Grundlagen entfallen, auf denen i m Mittelalter das Staatsbewußtsein und das
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Rechtsbewußtsein geruht hatten. Der Zerfall der einen Kirche i n verschiedene Konfessionen stellte das gesamte theologisch fundierte Weltbild i n Frage. Ein theologisch-biblisch begründetes Recht, das dazu diente, den mörderischen heiligen Krieg gegen den konfessionellen Gegner zu rechtfertigen, ja auszulösen, verlor mit den Kriegsgreueln zunehmend seine Überzeugungskraft. Der blutige Kampf zwischen den katholischen und den protestantischen Staaten erschien vielen als ein konfessioneller Bürgerkrieg. Seine Fronten gingen mitten durch bisher einige Völker und Länder. Sollte dem Völkermorden aus Glaubensgründen Einhalt geboten werden, so mußte eine neue, nicht theologischkonfessionelle Rechtsbegründung gefunden werden. Konkurrierende konfessionelle Rechtsvorstellungen als Folge der Glaubensspaltung waren geistige Grundlagen, ja geistliche Waffen der konfessionellen Bürgerkriege. Zur Wiederherstellung und Sicherung des konfessionellen Friedens war ein neues Rechtsverständnis vonnöten. Es setzte gemeinsame Wertgrundlagen der sich befehdenden Glaubensparteien und Staaten voraus. Richtungweisend war die auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie damals führende Schule an der spanischen Universität Salamanca, besonders de Vitoria, de Soto, Vazquez und de Suârez. Sie griffen auf die Traditionen des Vernunftrechts der Antike zurück, lösten den Rechtsbegriff von theologischen Lehrsätzen ab und entwickelten die Lehre eines neuzeitlichen, auf Vernunft, nicht auf Glauben und Offenbarung gegründeten Naturrechts. Die Lehre von der Volkssouveränität und die Annahme eines Rechtes auf freie eigenverantwortliche Gestaltung von Gesellschaft und Staat wurden von Salamanca aus zu entscheidenden Anstößen für die Aufklärung. Bemerkenswert ist die Wirkung der katholischen Schule von Salamanca gerade auf protestantische Gelehrte wie Althusius, Grotius und v. Pufendorf. Sie wurde über diese Autoren zur Ahnherrin des modernen Völkerrechts. Besonders für Hugo Grotius (1583—1645) war die Beendigung der konfessionellen Bürgerkriege seiner Zeit und die Wiederherstellung einer auf Toleranz gegründeten staatlich-gesellschaftlichen Ordnung — nach schmerzlichen eigenen Erlebnissen — das zentrale Lebensziel. Er stritt für Toleranz i n allen dogmatischen Fragen. Unter dem Eindruck der Verheerungen der ersten Jahre des Dreißigjährigen Krieges begann er 1623 mit seinem dreibändigen juristischen Hauptwerk „De jure belli ac pacis". Er legte damit die Grundlagen des modernen Völkerrechts. Fast bedeutsamer ist noch seine Darstellung des Naturrechts, das für
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i h n die Basis allen Rechts ist. Das Naturrecht versteht er als die Richtschnur einer jeden vernünftigen und sittlichen Lebensordnung. Es ist für i h n die Quelle aller positiven, also gesetzlichen Rechtssätze. Es ist das i n der Menschennatur vorgegebene Lebensgesetz jeder Gemeinschaft, ihre sittliche Norm, i n der sich Vernunft und Moral decken. Grotius verbindet dabei christliche und antike, scholastische und humanistische Gedanken zu einer neuen, i m buchstäblichen Sinne des Wortes allgemeinen Rechtslehre, die für jedermann überzeugend sein sollte, unabhängig von konfessionellen oder anderen Unterschieden. Sein Naturrecht sollte die vernünftigerweise notwendige Grundordnung des Menschentums sein. Gerechtigkeit und Menschlichkeit, Justitia und Humanitas fallen bei i h m zusammen. Von den theologischen Voraussetzungen des Menschenbildes w i r d bei Grotius kaum mehr gesprochen. Insoweit folgt die neue Lehre der Schule von Salamanca. Allerdings ist zu beachten: Grotius arbeitete in den traditionellen Vorstellungen seiner Zeit, das heißt auch i n engem Kontakt mit scholastischen und reformierten Grundgedanken. Das rationale und das theologische Menschenbild, Vernunft und christliche Ethik, Menschheit und Christenheit bildeten für ihn noch eine selbstverständliche Einheit. Dabei war der Wunsch nach überkonfessioneller Wirksamkeit, j a Gültigkeit seiner juristischen Aussagen ein beherrschender Richtpunkt seiner Arbeit. Die Wiederherstellung einer einheitlichen ökumenischen Kirchenverfassung war für i h n zeitlebens das letzte Ziel. Die Hinwendung zur Vernunft, zur Einsicht i n die wahre Menschennatur, wirkte historisch gesehen als Abwendung von der Theologie und dem kirchlichen Lehramt. K e i n Wunder also, daß das Hauptwerk („De jure belli ac pacis") des Grotius bereits 1626 auf den päpstlichen Index der verbotenen Bücher kam, auf dem es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verblieb. Aber auch die meisten Lutheraner lehnten seine Naturrechtslehre als gefährlichen Synkretismus entschieden ab. Fortgeführt wurde der Neuansatz der Rechts- und Staatslehre von Grotius durch so eigenständige Denker wie v. Pufendorf (1632—1694), Thomasius (1655—1728) und Wolff (1679—1754). I h r Denken ging über die noch vom religiösen Weltbild des Mittelalters geprägten Konzepte des Grotius hinweg i n neue Dimensionen. Sie waren i n der Jurisprudenz und i n der Staatsphilosophie Vorläufer einer neuen Welt des Rationalismus und der Aufklärung. Vielleicht der bedeutendste unter ihnen war Samuel von Pufendorf. Seine Naturrechtslehre war auf neue Ziele ausgerichtet. Er ging vom Menschen, seiner Bedürftigkeit („„imbecillitas") und seiner Sozialnatur
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(„socialitas") aus, untersuchte die soziale und sittliche Welt als einen dem Menschen zur autonomen Gestaltung zugewiesenen Wirkungsraum. Er versuchte, ihre Tatsachen zu erforschen und ihre Gesetze zu entdecken. Seine fast als „soziologisch-empirsch" zu bezeichnende Methode entspricht einem Rationalismus des Decartes und ist deutlich vom heraufziehenden physikalisch-empirischen Weltbild der Neuzeit geprägt. Er leugnet zwar nicht die Abhängigkeit des Menschen vom Willen Gottes. Gleichwohl setzt er den forschenden Verstand als eine theologisch voraussetzungslose Instanz an. Dieser historisch-soziologische Empirismus und Rationalismus leitet i h n an, eine von i h m angenommene Eigenständigkeit der Welt des Geistig-Sittlichen und eine „Autonomie der K u l t u r " darzustellen und zu begründen (Erik Wolf). Die Naturrechtslehre v. Pufendorfs hat i m 17. und 18. Jahrhundert ganz Europa stark beeinflußt. Erst die wirkungsmächtige K r i t i k Kants an unabänderlichen Naturrechtssätzen ließ v. Pufendorf in den Hintergrund, teils auch i n den Schatten seiner Nachfolger Thomasius und Wolff treten. Als Staatsdenker war v. Pufendorf den Vorstellungen des fürstlichen Absolutismus verhaftet. Das Reich faßte er als einen „Staatenbund" souveräner Fürstentümer auf und beeinflußte damit die deutsche Staatsrechtslehre auf lange Zeit. Die Souveränität der (konfessionell begründeten) Territorialstaaten gründete er auf den Gedanken einer besonderen, von der „Reichsraison" verschieden gedachten „Staatsraison". Sie hatte ihre Grundlage i n der Vernunft der jeweiligen Situation, i n einer A r t staatsrechtlichen „Natur der Sache". Der Staat w i r d zum Inhaber der vollen Souveränität. Er ist frei von kirchlichen oder politischen Bindungen. Aber trotz der Anerkennung des Absolutismus der Fürsten ist der Staat nicht das bloße Machtinstrument fürstlichen Herrscherwillens. Auch der Fürst ist der „Staatsraison" unterworfen. Er hat seine Hausinteressen und Liebhabereien dem Staatswohl unterzuordnen (lus naturae, lib. V I I , cap. 8 § 1—3). Der Fürst ist bei v. Pufendorf das Haupt des politischen Ganzen, aber der Staat ist wichtiger als der Fürst. Die höchste Staatsgewalt ist also nicht unumschränkt, sie muß dem Wohl des Volkes dienen (lus naturae, lib. V I I , cap. 6 § 10,13). Die Souveränität ist nach von Pufendorf vom Recht, insbesondere auch vom Völkerrecht begrenzt. I m übrigen aber ist der Staat der einzige die menschliche Lebenswelt gestaltende Machtfaktor. Damit ist ein neues Verhältnis zwischen Staat und Kirche angedeutet. Die Kirche ist nur noch Organisation im Staat, nicht autonome Einheit neben dem Staat, sie ist dem Staat unterworfen. Dieser ist Schirmherr und Gesetzgeber der ihrem Wesen nach rechtsfremden Kirche. Grotius hatte i n der Kirche — insoweit katholischer Tradition verbunden — noch eine „civitas Dei" gesehen. Als Reformierter sah er i n ihr (in A n lehnung an Calvin und Zwingli) die geistliche Leitung des Staates.
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V. Pufendorf hingegen formulierte die landesherrliche Kirchenhoheit, den Summepiskopat. Er begründete ihn noch mit der Übertragung durch die Glaubensgemeinde. Schon Thomasius leitete ihn aus der Territorialhoheit des Landesherrn ab. Die Organisationsgrundlage der Kirche hatte sich grundlegend gewandelt: Die Ordnung der Kirche gehörte nunmehr als „natürliche" dem Naturrecht, als „positive" dem Staatsrecht an. Alle kirchlichen Rechtsvorschriften mußten nach v. Pufendorf sowohl mit den Natur- und Vernunftgesetzen als auch mit den Staatsgesetzen übereinstimmen. 4. Rationales Naturrecht als Weg zu Humanität und Toleranz?
Die weitere Entwicklung des rational abgeleiteten Naturrechts war vielfältig und dauert bis heute i n den Schulen des Konstruktivismus und der sog. rhetorischen Jurisprudenz fort. Es zeigte sich bald: Aus der einen Vernunft, auf welche die rationale Naturrechtslehre setzte, wurden die vielen konkurrierenden Vernünftigkeiten. Vernunft erwies sich als ein weltanschaulich geprägter Begriff. Die Aufklärung hatte begonnen. Die jetzt mögliche Vielheit konkurrierender Lehren wirkte sich auf das Rechtsverständnis aus. Alle nachfolgenden Epochen haben das staatliche Recht mit rationalen oder machttheoretischen Erwägungen zu begründen versucht. Nur die katholische Kirche hielt und hält durch die Jahrhunderte h i n an ihrer thomistisch-aristotelisch konzipierten Naturrechtslehre fest. Der historische Befund zeigt allerdings, daß auch dieses katholische Naturrecht historisch stark wechselnde Aussagen zu inhaltlich gleichen Fragen gemacht hat. Seine neueren Vertreter korrespondieren mit dem zitierten Satz aus der Rektoratsrede Westermanns. Schauen w i r zurück, so bewirkte die Reformation für das Recht zu einem Teil das, was Luther und Calvin wollten: Eine Enttheologisierung des staatlichen Rechts und eine Entklerikalisierung der weltlichen Macht. Die Aufklärung und das 19. Jahrhundert haben diesen Weg vollendet. Das rationale Naturrecht hat — auf der Basis christlicher und biblischer Traditionen — den Weg frei gemacht für den Siegeszug der Lehre von den Freiheits- und Bürgerrechten eines jeden Menschen. Sie war i n der Bibel insofern angelegt, als dort die Gleichheit der Menschen vor Gott, ihre Gottesebenbildlichkeit und gleiche Sündigkeit gelehrt wird. Diese Lehre w i r d heute von den Kirchen auch für die Nichtgläubigen anerkannt. Das ist eine späte, aber richtige Einsicht. Etwas anderes hat sich erwiesen: Der Rückgriff auf die Vernunft war keine Garantie für Toleranz und Menschlichkeit. Der theologische Zwist
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der Glaubensspaltung wurde durch die Existenz und Konkurrenz konfessionell geprägter Territorialstaaten und (später) Nationalstaaten dauerhaft gemacht. Zusätzlich entstand m i t der Säkularisierung der modernen Welt i m Gefolge der Aufklärung die Konkurrenz und die Aggressivität der nachchristlichen Weltanschauungen und Ideologien. Aus den konfessionellen wurden die nationalen und ideologischen Bürgerkriege nicht nur Europas, sondern der Welt. Sie waren nicht weniger grausam und verheerend. Das rationale Naturrecht hat sie nicht verhindern können. 5. Recht und Sinnfrage
Die Frage nach dem Zusammenhang von Reformation und Recht, also von Glaube und Recht, führt weiter zu der Frage nach den weltanschaulichen Grundlagen jeder Rechtsordnung. Luthers Ausgangsproblem war: Wie w i r d der Mensch vor Gott gerechtfertigt? Das betrifft einen Wesenskern des Menschen. Der Mensch braucht, um leben zu können, das Bewußtsein, gerechtfertigt zu sein oder zu werden; er ist ein Wesen, das es „richtig" gemacht haben w i l l ; hart gesagt, er ist ein „Rechtfertigungstier". Die Fragen nach Recht und Gerechtigkeit sind daher ein Teil der Frage nach dem Lebenssinn. Die Sinnfrage aber kann nur i m Hinblick auf Herkunft und Zukunft entschieden werden. Bei der Frage nach dem Recht geht es daher i m letzten Grund auch um den Sinn von Leben und Tod des Menschen. Was Recht ist, das ist zugleich eine Frage nach den letzten Dingen, wie immer die Antwort auch lauten mag. Diese Sinnfrage w i r d seit der Reformation i n der Christenheit, erst recht i n der säkularisierten Welt von heute, verschieden beantwortet. Die Antwort liegt nach Luther nicht mehr bei einem kirchlichen Lehramt, das er verdammt, sondern i m freien Gewissensentscheid des einzelnen nach seinem Glauben und seiner Vernunft. Das ist ein wichtiger Schritt zur Religionsfreiheit. Aber Richtschnur blieb bei Luther und Calvin die Bibel als das Wort des einen Gottes. Moderne Skeptiker, wie etwa Ernst Topitsch oder Odo Marquard, haben daraus — strikt gegen Luther — ein Lob des Polytheismus und der Polymythie abgeleitet. Die Verehrung einer Vielzahl von „Gottheiten" oder Mythen erscheint ihnen als eine Bedingung pluraler Freiheit. Dieser Skeptizismus fordert eine elastische Position. Nach Marquard hätte man i n der Lage Luthers vor dem Reichstag i n Worms sagen können oder sollen: Hier stehe ich, ich kann auch anders! Es geht bei allem endlich u m die Frage, was nach den historischen Erfahrungen mit Religions- und Welt ans chauungskriegen zuletzt als
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möglicher rechtstheoretischer Standpunkt für ein Überleben i n Würde noch übrigbleibt. Oder: Wie ist ein friedliches, gewaltfreies Nebeneinander von Religionen und Ideologien i n dieser zerrissenen Welt praktisch möglich? 6. Pluralismus und Grundrechtsdemokratie als späte Frucht der Reformation
Toleranz setzt dem Wortsinn nach einen eigenen, festen Standpunkt dessen voraus, der die Meinung anderer toleriert, also erträgt. Die Standpunktlosigkeit ist zur Toleranz unfähig. Die Toleranzdelikte der nachreformatorischen Epoche bedeuteten nicht die Preisgabe der eigenen Glaubensüberzeugung, sondern die bewußte Hinnahme und Respektierung abweichender Konfessionen. Der Andersgläubige erhielt einen staatsrechtlichen Freiraum, eine Rechtsschutzgarantie. Man geht davon aus, daß er i m Irrtum sei, erträgt i h n aber dennoch. Toleranz war also der erste Schritt zur Religionsfreiheit, nicht aber zur staatsrechtlichen Gleichberechtigung der verschiedenen Konfessionen. Dazu war ein langer und schmerzlicher Weg erforderlich. Die vorläufig letzte Etappe ist die relative religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates und des staatlichen Rechts. Auch sie ist eine Frucht der Reformation und der durch sie absichtslos geförderten Aufklärung. Der Staat verzichtet darauf, sich mit einer Religion oder Konfession gleichzusetzen, geschweige denn eine Staatsreligion mit Zwangsmitteln durchzusetzen. Die Weltanschauungsneutralität des Staates bedeutet, daß verschiedene Auffassungen über Gott und die Welt, über Recht und Staat, über Wahrheit und I r r t u m als gleichberechtigt gelten und m i t einander i m Wettbewerb stehen. Staat und Rechtsordnung verzichten darauf, außerhalb der Verfassungsgrundwerte Aussagen über Wahrheit und I r r t u m i n Religions- oder Weltanschauungsfragen zu machen. Sie „wissen nicht", was hier Wahrheit ist, sind also insoweit relativistisch. Dieser für Demokratien kennzeichnende staatliche Relativismus ist eine Bedingung der Freiheit i n pluralen Gesellschaften mit konkurrierenden Weltanschauungsgruppen. Für totalitäre Systeme ist schon das Wort Pluralismus eine Existenzgefahr. Gerade dieser Pluralismus aber war eine zwangsläufige und wirkungsmächtige Folge der Reformation. Seine Verarbeitung in der Staats- und Rechtsphilosophie hat — über die Jahrhunderte h i n — die gegenwärtige Form der Grundrechtsdemokratie hervorgebracht. I n ihr ist der Staat als Garant der Menschen- und Bürgerrechte, der Glaubens- und Gewissensfreiheit gedacht. Ob und wie es uns gelingt, die anspruchsvollen und schwierigen gesellschaftlichen, bewußtseinsmäßigen und bildungspolitischen Bedingungen
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dieses P l u r a l i s m u s i m m e r n e u z u f i n d e n , z u b e w a h r e n u n d z u festigen, das ist eine offene Frage. O b die h e u t e g e l e g e n t l i c h p r o p a g i e r t e S t a n d p u n k t l o s i g k e i t oder S t a n d p u n k t e l a s t i z i t ä t oder e i n k a u m ernst z u m e i n e n d e r nachchristl i c h e r P o l y t h e i s m u s geeignete Wege s e i n k ö n n e n , das w i r d m a n noch einige Z e i t b e z w e i f e l n . D i e R e f o r m a t i o n u n d i h r e W i r k u n g s g e s c h i c h t e w e i s e n andere Wege.
Verwendete Literatur Vorbemerkung A u f Einzelbelege wurde entsprechend dem narrativen Charakter des Beitrages fast durchgehend bewußt verzichtet. Der interessierte Leser w i r d anhand der folgenden Quellenangaben gesuchte Einzelnachweise leicht finden. Baur, Jürgen: Gott, Recht u n d weltliches Regiment i m Werke Calvins, Bonn 1965 Bohatec, Josef: Calvins Lehre von Staat u n d Kirche m i t besonderer Berücksichtigung des Organismusgedankens, Breslau 1937 — Calvin u n d das Recht, Fludingen i n Westfalen, 1934 Ebeling, Gerhard: M a r t i n Luthers Weg u n d Wort, F r a n k f u r t a. M. 1983 Farner, A l f r e d : Die Lehre von Kirche u n d Staat bei Z w i n g l i , Diss. Zürich 1927 Farner, Oskar: Huldrych Z w i n g l i , 4 Bände, Zürich 1943—1960 Friedenthal, 1982
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I I . Person, Leben und Werk des Johannes Althusius
JOHANNES ALTHUSIUS A L S SYNDICUS REIPUBLICAE E M B D A N A E Ein kritisches Repetitorium Von Heinz Antholz, Meckenheim I.
Der Syndikus Althusius pflegte während seines langjährigen W i r kens i n Emden (1604—1638) seinen politischen Cxegnern und Feinden selten den Vorwurf zu ersparen, sie hätten „keine rechte Wissenschaft der Accorde", d. h. der Verträge, auf denen die Verfassung der Stadt Emden und die der Grafschaft Ostfriesland beruhten. Es ist nicht bloß die übliche rhetorische Initialgebärde einer Bescheidenheit, die sich selbst und anderen die allenfalls fragmentarische Behandlung eines wissenschaftlichen Themas bewußt halten möchte, wenn ich eingangs eingestehe: Auch ich bin insofern „ohne rechte Wissenschaft", als ich seit dem Abschluß meiner Forschungen über den Emder Stadtsyndikus, mithin seit nunmehr drei Jahrzehnten, einer anderen „Wissenschaft der Akkorde", nämlich der klingenden, verbunden, ein Apostat der politischen Historie und Ideengeschichte bin. Der möglicherweise ungute Eindruck, daß ein A u t o r nach Abfassung einer „Monographie" — das übliche Doktorandenschicksal — von der Szene verschwindet, ferner die zunächst unbefriedigend dünkende Gelegenheit, wenn nicht gar peinliche Verlegenheit, auf einem wissenschaftlichen Symposion ein bloßes Selbstreferat mit Eigenkompilationen abzuliefern: beides gebot zu prüfen, ob die Wiederbefassung mit einer alten Arbeit nicht allenfalls ein Goethe-Wort bestätigt: „Nichts gibt mehr Aufschluß über uns selbst, als wenn w i r das, was vor Jahren von uns ausgegangen, wieder vor uns sehen, so daß w i r uns selbst als Gegenstand betrachten können." 1 Und ich w i l l die Dankbarkeit für solche produktive Erinnerung, welche die Einladung zur referendierenden Teilnahme an einem AlthusiusSymposion bei mir auslöste, auch nicht verschweigen. Wenn ich dennoch einige Sätze der Selbstbegegnung verliere, nämlich darüber, wie ich überhaupt „zu Althusius gekommen" bin, so mögen diese persönlichen Anmerkungen vor bloßer Selbstbespiegelung bewahrt 1
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Artemis-Goethe-Gedenkausgabe Bd. 10, S. 378.
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sein, wenn sie nicht nur die autobiographische Komponente eines wissenschaftlichen Interesses und Forschungsbeitrages sichtbar machen, sondern auch i m Horizont der Althusius-Rezeption i n Deutschland nach 1945 verstanden werden könnten. Der Student, der, „ i m widerstrebenden Konformismus überlebend" 2 , damals nach sieben Jahren Krieg und Gefangenschaft sein Studium wieder aufnahm, der, was geschehen, nicht einfach i n die Anonymität einer deutschen Tragödie verdrängen konnte, spürte einen großen Nachholbedarf: wie an „entarteter Musik" so auch an politischer Aufklärung und an political culture. N u r wenige Stichworte mögen das aktuelle Erkenntnisinteresse anzeigen „ i m Gefolge einer Ahnensuche nach demokratisch-parlamentarischen Vorformen" 8 : die Bedeutung überpositiven Rechts vor dem staatlichen Gesetz, die Grenzen von Staats- und Rechtsgehorsam, die Lehre von der Volkssouveränität und vom Widerstand gegen die Obrigkeit. Wesentliche Anregungen, auch erste Hinweise auf Althusius, verdankte ich Theodor Schieder i m Rahmen seines Seminars über „Staat und Kirche i m Absolutismus". Ich sehe wieder vor mir (mit Goethe gesagt) die Auseinandersetzungen, die dort geführt wurden: über Exousia i n Römer 13,1, über Luthers Beitrag zur deutschen Untertanenmentalität und Calvins zum westlichen Demokratismus, überhaupt über „das Verhältnis von Religion und Politik, . . . das große Thema von Althusius' Zeit", um Carl Joachim Friedrich zu zitieren und i n Erinnerung zu bringen, dessen Einleitung und Edition von Althusius' „Politica methodice digesta" ich weitere bedeutsame Hilfen und Impulse verdankte. 4 Es waren damals erregte studentische Diskussionen, die — etwa i m Anschluß an Veröffentlichungen von P. Tillich, G. Ritter oder O. Dibelius — keineswegs Werturteile aus der Behandlung politischer Institutionen und Prozesse heraushielten und die jeder wissenschaftlichen Askese etwa eines M. Weber abhold waren. Daß der Zusammenhang von Geschichte und ihrer Deutung erst i m Kontext von Frageinteressen herstellbar und reflektierbar ist, welche einer „Ortsbestimmung der Gegenwart" aufhelfen, 5 wurde i n Konfrontationen mit Abrissen und Verrissen deutscher Geschichte „von Luther 2 C.F.von Weizsäcker, Selbstdarstellung, i n : Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, München/Wien 1977 (Sonderausgabe 1982), S. 566. 8 G. Oestreich, Ständetum u n d Staatsbildung i n Deutschland, i n : ders., Geist u n d Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, B e r l i n 1969, S. 277. 4 Johannes Althusius u n d sein Werk i m Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, B e r l i n 1975, S. 10; Politica Methodice Digesta of Johannes Althusius. Reprinted f r o m the t h i r d edition of 1614. W i t h an introduction by C. J. Friedrich, Cambridge (Mass.) 1932. 5 A. Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, Erlenbach/Zürich 1952.
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bis Hitler" eine ebenso besorgte wie bestürzende Gewißheit.® Sie begleitete i n den ersten Nachkriegs jähren auch den Doktoranden, der Althusius' politisches Wirken i n Ostfriesland aus den Quellen zu erarbeiten suchte, der als Geschichtslehrer gleichzeitig angehalten wurde, „Wendepunkte einer politischen Erziehung" didaktisch zu reflektieren und unterrichtlich zu aktualisieren, welche „ohne Staatsmetaphysik . . . die mitbürgerliche Kooperation . . . , eine genossenschaftlich bestimmte menschliche Haltung" und „den Abbau des herrschaftlichen Charakters unseres öffentlichen Lebens" als Zielhorizonte entwarf. So las es sich in jenen Jahren i n einer viel beachteten Schrift von F. Oetinger. 7 Schon die wenigen Zitate mögen die politisch-semantische Nähe zur consociatio symbiotica und zur maiestas populi als den Begriffen anzeigen, i n denen die politische Ideenwelt des Althusius zusammenschießt. Einem großen Mann deutscher Demokratietheorie und -geschichte i n ein kleines Territorium, meine Heimat, zu folgen: dies Vorhaben entsprang also kaum einer ausgesprochenen Zuneigung zur Heimatgeschichte (welcher übrigens wie der allgemeinen Geschichtsschreibung der Emder Syndikus Althusius bis dahin so gut wie unbekannt, allenfalls eine historische Fußnote wert war) Schon eher war es ein übergreifendes geschichtliches Interesse am Nordwesten des Reiches, der um 1600 wie kaum je zuvor oder später i n die großen geistigen und machtpolitischen Auseinandersetzungen Europas hineingezogen wurde: die Kriege zwischen Spanien und den Niederlanden, das Ringen zwischen Calvinismus und Gegenreformation, die Spannungen zwischen reformiertem und lutherischem Konfessionalismus, die Konflikte zwischen absolutistischen Souveränitätsansprüchen und ständischem Freiheitsstreben. Alle diese Stürme stießen i n Ostfriesland i n beispielhafter Verdichtung zusammen, in diesem Wetterwinkel wirkte Althusius 34 Jahre. Noch mehr aber reizte es, „den politischen Theoretiker des Calvinismus par excellance" 8 , für den sich „Macht in ihren verschiedenen Formen, als da sind potentia, potestas und auctoritas, aus dem Zusammenleben einer Gemeinschaft, einer consociatio symbiotica herleitete" 9 , i n seiner politischen Praxis aufzusuchen. Setzt und wie setzt politische Theorie, obschon i n Horizonten der Allgemeinheit stehend, politische Handlungsentscheidung und Wirkung frei in konkreten β W. von Hanstein, Von L u t h e r bis Hitler. E i n wichtiger Abriß der deutschen Geschichte, Dresden 1947. 7 F. Oetinger (al. Th. Wilhelm), Partnerschaft, die Aufgabe der politischen Erziehung, Stuttgart 81953, S. 81, 271. Die 1. Auflage 1951 unter dem T i t e l „Wendepunkte der politischen Erziehung". 8 Friedrich, Introduction (FN 4), S. X V I I . 9 Friedrich, Johannes Althusius u n d sein W e r k (FN 4), S. 77.
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Bedingungs- und Begründungssituationen? Umgekehrt drängte es sich auf, die erste Ausgabe der Politica, die unmittelbar vor der Übersiedlung des Herborner Professors nach Emden erschien, mit den späteren erweiterten Auflagen zu vergleichen, i n ihrer theoretischen Textur mögliche Einfädelungen praktischer Erfahrungen aufzuspüren. Seit dem Erscheinen meines Buches 10 bin ich Althusius nur noch zufällig und en passant begegnet. Was die Althusius-Rezeption betrifft, war bezeichnend, daß mich Anfragen zu seinem Wirken i n Emden und zur Quellenlage häufiger aus dem westlichen Ausland als aus dem Inland erreichten. Auch gab zu denken, daß dieser frühneuzeitliche Vordenker der politischen Wissenschaft und des Demokratismus i n Geschichtsbüchern und Quellenheften für die Schule, i n Einführungen i n die politische Wissenschaft 11 oder i n Sammelbänden mit Klassikern des politischen Denkens 12 unerwähnt blieb, um nicht zu sagen: unterschlagen wurde. Was könnte ich, zumal Kennern meines Buches, „Neues über A l t h u sius" 151 vermelden? Denn ich konnte zwischenzeitlich keine weiteren Quellenstudien treiben, bin m i t h i n nicht einmal für einen Forschungsbericht mit Entwurfs- oder Hypothesencharakter ausgerüstet. 14 U m mich nicht gerade auf dem Stand des neuesten wissenschaftlichen Irrtums zu befinden, habe ich mich vor dem Symposion wenigstens einer Lektüre der wichtigsten Folgeliteratur unter dem Aspekt einer kritischen A u f nahme meiner Althusiusforschung unterzogen. 15 Mein besonderes Interesse mußte dabei der Frage gelten: Ist das B i l d des politischen Praktikers Althusius, wie es sich m i r aus den Quellen formte, zu korrigieren? Denn der Emder Syndikus kam bei m i r (salopp gesagt) nicht gerade gut weg. Und vorweg sei auch hier bemerkt, daß mein Beitrag zu diesem Symposion als einer Jubiläumsveranstaltung nicht gerade hagiographisch gestimmt ist.
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Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius i n Emden, A u r i c h
11 z. B. W. Abendroth/K. Lenk (Hrsg.), Einführung i n die politische Wissenschaft, Bern/München 1968. 12 z. B. H. Maier/H. Rausch/H. Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, 1. u. 2. Bd., München 1968. 1S . J.von Gierke , Neues über Johannes Althusius, B e r l i n / K ö l n 1957. Hier finden sich keine neuen Erkenntnisse über den Emder Syndikus. 14 Sofern ich daher i m folgenden Primärquellen zitiere, kann ich, auch was die Fundstellen betrifft, n u r auf meine damalige Publikation verweisen. 15 H e r r n Dr. W. Deeters, D i r e k t o r des Niedersächsischen Staatsarchivs A u rich, habe ich f ü r ein Informationsgespräch über Neuerscheinungen zur f r ü h neuzeitlichen ostfriesischen Geschichte zu danken.
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Ich trug schon seinerzeit Bedenken vor, die Spannung zwischen der luziden, großartigen Theorie eines symbiotischen Konsozialismus sowie eines freiheitlichen Rechts- und Verfassungswesens und der grautönigen, bisweilen auch kleinkarierten Praxis der Syndikatur zu verdecken oder gar zu beschönigen. Ohne hier die Problematik politischer Theoreme mit der Fiktion intakter Ordnungssysteme und ohne auch die Problematik wissenschaftlicher Signifikanz historischer Größe aufreißen und entfalten zu können, sei doch so viel gesagt: Weder „gleicht die Lehre von Althusius einem friedlichen Gottesgarten" noch „bewies er als diplomatischer Vertreter Geschicklichkeit", wie J. von Gierke i n einer Gedenkrede rühmte. 1 6 Auch C. J. Friedrich scheint sich gelegentlich, wenn er den politischen Akteur i m Anschluß an meine Arbeit i n seine Althusius-Darstellung einbeziehen möchte, schwer zu tun, das nicht immer gerade illustre B i l d des Syndikus vorbehaltlos zu übernehmen. Wenn Althusius nach Friedrich „zu den wenigen gehörte, die i n Theorie und Praxis geschaffen haben, was ihnen nach Lage der Dinge möglich war" (Hervorhebung von mir), 1 7 so trifft dies historische Urteil Althusius' Leistung und Größe sicherlich insofern, als er den in der ersten Ausgabe der Politica von 1603 gestellten Anspruch einer vita activa politica selbst in hohem Maße erfüllte: „Intellectum politicum plenum constituunt doctrina et usus" 18 . Ob aber der Emder Syndikus Politik als Kunst des Möglichen und des Notwendigen (um nur diese vage Mensurierung des politischen Intellekts heranzuziehen) verstand und handhabte: hier drängt sich m i r weiterhin zum mindesten die Frage auf, ob er i m politischen Alltag vor der auseinanderbrechenden Einheit von Idee und Wirklichkeit die Augen verschloß, wie ich damals schrieb, 19 und wie weit er die Reizschwelle einer Gewissensbelastung i n Grenzsituationen politischer Entscheidung verschob. Wenn C. J. Friedrich, Grenzen politischer Macht reflektierend, davor warnt, Politik zu treiben und dabei auf Bajonetten zu sitzen, 20 so läßt sich eben nicht übersehen, daß der Syndicus Reipublicae Embdensis jahrzehntelang ohne situationsangemessene Selbstregulation und ohne entscheidungslähmende Irritation die radikale Politik eines Stadtregimes vertrat, welches sich nicht nur nach außen gegen absolutistische Souveränitätsansprüche des Landesherrn, sondern auch nach innen gegen weiten Unmut und wiederholte Aufstände der Bevölkerung nur mühsam i m Sattel hielt, indem es sich ständig auf Bajonette stützte (s. u.). Wie groß 18
Neues über Johannes Althusius, B e r l i n / K ö l n 1957, S. 8 u. 6. Johannes Althusius und sein Werk (FN 4), S. 38 f. 18 Kap. X V I 11. 19 Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius i n Emden, Aurich 1955, S. 220. 20 Die politische Wissenschaft, Freiburg/München 1961, S. 14. 17
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oder wie klein ist der Schritt von vorgegebenen hehren Prinzipien religiöser und politischer Überzeugungssysteme zu vorgeblichen; situationsethisch flankierten Rechtfertigungselementen, u m die der Syndikus Althusius nicht verlegen war? Ist gar von einer „Tragödie des Theoretikers, der i n die Politik gerät", zu sprechen? 21 Problemen der Vermittlung von Theorie und Praxis sah ich mich erneut gegenüber, als ich mich meiner damaligen Arbeit wieder zuwandte, sequente Sekundärliteratur las und nochmals die Größe des politischen Denkers und die Grenzen des politischen Praktikers überdachte. Nicht ohne angespanntes Interesse las ich mittlerweile erschienene Publikationen zur Geschichte Ostfrieslands i m 17. Jahrhundert, i n denen meine Althusius-Arbeit berücksichtigt wurde. Das waren vor allem zwei Veröffentlichungen von Harm Wiemann, dem wohl kompetentesten Kenner der ostfriesischen Ständegeschichte, der auch Quellenmaterial ausländischer Archive auswertete, die m i r i n den ersten Nachkriegs jähren verschlossen blieben. I n seiner Arbeit von 1974 über die landständische Verfassung Ostfrieslands w i r d auch Althusius' Bedeutung i m Ständekampf bis zum Osterhuser Vertrag von 1611 herausgestellt und meinem Buch „eine ausgiebige, vorsichtig abwägende Darstellung" des Syndikus Althusius attestiert. 22 Indessen (und auch daher rührt meine eingangs erklärte Unsicherheit) i n einer jüngsten Veröffentlichung von B. Kappelhoff von 1982 zur ostfriesischen Ständegeschichte i m 18. Jahrhundert, die einleitend auch auf das vorlaufende Jahrhundert zu sprechen kommt, fand ich eine Fußnote, die nach einem Hinweis auf meine Arbeit den Vermerk bringt: „Wiemann w i r d das dort zu isoliert auf Emden bezogene und zu wenig die Stände insgesamt berücksichtigende Althusiusbild korrigieren und ergänzen" 23 . Diese A n kündigung, vermutlich auf Gesprächen des Dissertanden mit Wiemann fußend, betrifft die seit langem erwartete Geschichte der ostfriesischen Stände, die Wiemann jedoch „nicht mehr zu einer durchgestalteten Darstellung" bringen konnte, wie es i m Vorwort des nun von anderer Hand überarbeiteten und umgeformten Manuskripts heißt. 24 Diese bedauerlicherweise unvollendete Publikation enthält jedoch, jedenfalls 21 Th. Schieder, Althusius i n der politischen Geistesgeschichte des Abendlandes. Protokoll eines Vortrages i m Aubinkreis der Ostfriesischen L a n d schaft am 3.12.1949. 22 Die Grundlagen der landständischen Verfassung Ostfrieslands. Die Verträge von 1595—1611, A u r i c h 1974, S. 65. 28 Absolutistisches Regiment oder Ständeherrschaft? Landesherr u n d L a n d stände i n Ostfriesland i m ersten D r i t t e l des 18. Jahrhunderts, Hildesheim 1982 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen u. Bremen X X I V ) , S. 14. 24 Materialien zur Geschichte der Ostfriesischen Landschaft, Aurich/Leer 1982.
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was „mein" Althusiusbild betrifft, weder Korrekturen noch Ergänzungen, auch nicht i n dem Kapitel, das den calvinistischen Emder Stadtsyndikus und den lutherischen gräflichen Kanzler Franzius gegenüberstellt, 2 5 wie ich es bereits tat.2® Obschon ich Althusius' Ständepolitik seinerzeit nicht nur aus den Emder Ratsakten erarbeitete, die ostfriesische Ständegeschichte freilich nur so weit berücksichtigte, als es das m i r gestellte Thema erforderte, muß ich i m Augenblick offen lassen, ob weitere Quellenforschungen das B i l d des Althusius nuancieren oder modifizieren könnten. Der m i r angetragenen Bitte, „auf der Basis meiner damaligen Arbeit darzulegen, w o r i n die politische Wirksamkeit des Althusius für Emden und Ostfriesland besteht", getraute ich mich zunächst nur zögernd nachzukommen. Ich wage es zum einen, w e i l ich auch nach nochmaliger Durchsicht aufbewahrter Quellenexzerpte eine prinzipielle Korrektur des Althusiusbildes kaum für wahrscheinlich halte (ohne damit dem Idol einer objektiv-authentischen Rekonstruktion von Vergangenheit durch den Historiker zu verfallen). 27 Zum anderen machte m i r Mut eine dritte hier anzuzeigende profunde Publikation, die breites Primär- und Sekundärmaterial auswertet und meine Althusiusforschung berücksichtigt und bestätigt, nämlich Heinrich Schmidts „Politische Geschichte Ostfrieslands" 28 . Mag Historie sich auch immer nur als „Teilgeschichte" der gesamtgeschichtlichen, -gesellschaftlichen und -politischen Entwicklung formieren können, so wurden m i r doch besonders zwei Unzulänglichkeiten meiner damaligen Veröffentlichung deutlich, als ich sie „wieder vor m i r sah": 1. Die unzureichend dargestellte soziale S t r u k t u r der Emder Population. Sie erfährt bei H. Schmidt eine differenziertere Behandlung. 2. Die i m interdisziplinären Geflecht des Themas unsichere rechtswissenschaftliche Analyse der Schriftsätze aus Althusius' Feder als eines I n d u k tionsfeldes der verschiedenen „Rechte". 25
Ebd., S. 146 ff. Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius i n Emden, Aurich 1955, S. 38 ff. u. p. 27 Ob eine zu meiner Untersuchung „analoge Arbeit für die nassauische Tätigkeit" des Professors Althusius wesentliche Korrekturen i n seinem Char a k t e r b i l d ergibt, w i e L. Hatzfeld anzunehmen scheint (Nass. Annalen 68. Jg. 1957, S. 344), müßte sich zeigen. Daß m i r „die stoizistische Geisteshaltung" des Althusius entgangen sei, dem „ i n Nassau u n d Emden aufgetragen war, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit i n rückhaltlosem persönlichen Einsatz zu sagen", t r i f f t (ohne mich hier m i t dem Wahrheitsbegriff anlegen zu w o l len) nicht zu, da ich durchaus stoisch-standhafte Züge i m Wesen des Emder Syndikus gezeichnet habe. 28 Leer 1975. U m mich ein wenig von aktueller wissenschaftlicher I n k o m petenz zu entlasten, zitiere ich diesen A u t o r i m folgenden einige Male. 2β
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Auch deshalb sind Lücken i n der Althusiusforschung, auf die ich schon vor Jahrzehnten hinwies, zu füllen, z. B. die Edition und Kommentierung der zahlreich erhaltenen Schriftstücke und Briefe des Syndikus. Wie ergiebig oder belastbar solche Quellen hinsichtlich neuer interpretatorischer Rückschlüsse auf das B i l d des Althusius sind, bleibt abzuwarten. — I m folgenden nun einige Skizzen zum „historical background" 2® der weltbekannten Politica i n der Hoffnung, daß auch bei der gebotenen Kürze des Referats politische Ideen aufscheinen, die über bloße Faktizität hinausweisen. II.
Ostfriesland, seit dem 15. Jahrhundert Reichsgrafschaft unter den Circsenas, befand sich um 1600 in heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Landesherrschaft und den zum Bewußtsein ihrer politischen Geltung gelangten Landständen der Ritter, Städte (Emden, Norden, Aurich) und Bauern. Die Reformation hatte das Territorium i n das lutherische Bekenntnis, dem das Grafenhaus anhing, i m östlichen Landesteil und i n das reformierte i m westlichen gespalten. Niederländische Flüchtlinge waren der Stoßtrupp eines auch politisch w i r k samen Calvinismus gewesen, an dem die Durchsetzung eines Territorialkirchentums scheiterte. Die antigräfliche ständische Front fand ihre stärkste Bastion i n Emden („Genf des Nordens"), dessen „Mooderkerk" (Mutterkirche) die „Herberge" des niederländischen und niederdeutschen Calvinismus war. Der Stadt an der Ems war i m 16. Jahrhundert infolge geschickter Nutzung internationaler Kriegskonstellationen ein meteorhafter konjunktureller Aufschwung zugefallen („Venedig des Nordens"). Wirtschaftlicher Wohlstand verband sich hier mit konfessionellem und republikanischem Freiheitsstreben. „Die Grenz- und Frontierstadt des Heiligen Römischen Reiches" war um 1600 auf dem Weg zu einer unabhängigen Stadtrepublik. Die „niederländische" Partei in Emden, inspiriert durch Prediger und Älteste des Kirchenrates, angeführt von Reedern und Kaufleuten, hinter sich die breite Schicht der Handwerker, hatte ihre Interessenvertretung i n einem Kollegium von vierzig Bürgern gefunden, von dem auch erste Anregungen zur Einstellung eines Stadtsyndikus nach dem Vorbild großer freier Kommunen ausgingen. I n der „Emder Revolution" von 1595 wurde der gräfliche Magistrat abgesetzt. Dem Landesherrn verblieb nur eine eingeschränkte, formelle, wenngleich erb- und primo29 So Friedrich i n der Preface zu: The Politics of Johannes Althusius. A n abridged Translation of the t h i r d Edition of Politica methodice digesta translated, w i t h an Introduction by Frederick S. Carney, London 1965.
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geniturrechtlich gewahrte Souveränität. Doch Enno III., in Aurich residierend, verzichtete gegenüber den „ungehorsamen und rebellischen Emdern" nicht auf die Restitution seiner Hoheitsrechte als Landes- und Stadtherr. Er versicherte sich m i t dem Wittemberger Professor Franzius eines ebenso beschlagenen wie verschlagenen Juristen, der als Kanzler gegen „niederländische Separatisten" ostfriesische Reichspolitik und gegen ständische „Mitregierung" einen unbedingten landesherrlichen Absolutismus verfocht. Aber auch die Stände, zumal Bürger und Bauern auf der ärmeren Geest und dem kargen Moor i n der östlichen Landeshälfte, waren 1604 einmal wieder gegen Emden aufgebracht, weil es sich dem mehrheitlichen Landtagsbeschluß über seine Steuerquote nicht beugte. So gerät die stolze Hafen- und Handelsstadt in akute Bedrängnis. Eben doch fehlende fiskalische, jurisdiktionelle, münz- und marktrechtliche Privilegien republikanischer Stadtfreiheit sind nicht mehr unter calvinischer Berufung auf Gottes Souveränität einzufordern wie unter dem großen Prediger Menso A l t i n g vor 1600.50 Und valide stadtund landesgeschichtliche Dokumente ersetzt auch nicht die illusionierte Geschichte friesischer Freiheit des Historikers Ubbo Emmius von 1596 mit ihrem Halbdunkel eines vorpositiven Rechtsraums. Die auf eine radikale Lösung der Souveränitätsfrage drängenden, aber unter Legitimationsdruck stehenden Emder Republikaner brauchen einen Juristen und politischen Theoretiker, zumal der erste Magistratssyndikus, da Vertreter einer Ausgleichspolitik, entlassen und wie andere ehemalige Emder „Patrioten" i n gräfliche Dienste getreten war. I n dieser Situation fragt A l t i n g über Martinius in Herborn, bei dem ein Sohn Altings studiert, bei Althusius „wegen Bedienung des Syndikates" an. Graf Johann von Nassau gibt seinen berühmten Professor erst nach längerem Widerstand frei, da eine „mutation i n scholis schädlich" und ein „talentum am besten i n patria nützlich" sei. Althusius sagt zu, wenn er „ m i t gemeiner Stimme und Wahl dazu gefordert und es Gott also versehen". Er w i r d i m Sommer 1604 Syndikus und Bürger der Stadt Emden. Sie hat ihn sich ein „ziemlich extraordinarium salarium" mit Gehaltserhöhungen bei wiederholten Berufungen und Exemtion von allen öffentlichen Lasten kosten lassen. Gem. Anstellungsvertrag ist der Syndikus, dem eine private Anwaltspraxis belassen wird, beratendes Mitglied des Magistrats und sein Vertreter i n allen Rechts- und Verwaltungsangelegenheiten. Er nimmt an allen inner30 Z u M. A l t i n g neuerdings die durch E. von Reeken besorgte Übersetzung der lateinischen Biographie von U. Emmius, Menso Altings Leben, Emden 1982. Ich vermerke n u r Publikationen, die das Literaturverzeichnis i n meinem Buch von 1955 ergänzen.
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städtischen und auswärtigen Verhandlungen teil, ist häufig auch Leiter von Kommissionen und Legationen. Bald w i r d er Emdens Wortführer, dessen „konzipierte Antwort i m Rat vorgelesen und approbiert w i r d " , wie die Diarien nun 34 Jahre lang vermelden. Seine faktische, sicherlich nicht bloß hypostasierte Autorität ist i m Magistrat unbestritten, wenngleich in der Stadt mehr und mehr nicht unumstritten. Althusius kann seinen Einfluß i m Laufe der Jahre ausbauen, besonders i n schwebenden Konflikten zwischen dem Vierzigerkollegium und dem Magistrat. Während die Vierziger dem Magistrat vorhalten, er „bilde sich ein, eine absolute Regierung zu sein", w i l l dieser sich nicht mehr bloß als ein ausführendes Organ der Bürgervertretung verstehen, z. B. sich allein die Besetzung städtischer und ständischer Ämter vorbehalten. Die Kontroversen spitzen sich zu (wir können i m folgenden immer nur einzelne Ereignisse herausgreifen, ohne Althusius' Wirken von Jahr zu Jahr zu verfolgen) 1615/16 zu einer städtischen Verfassungskrise, die der Syndikus mit der Vertrauensfrage verbindet. Denn er hatte sich längst von einer Zusammenarbeit mit den Vierzigern distanziert, denen er nur Vorschlags- und Beratungsfunktionen zukommen lassen möchte. Er beschuldigt sie glattweg, sie „wollten sich maiorem et superiorem potestatem zumaßen und aus jetzigem aristocratico imperio, so in den beschworenen Accorden fundieret, ein vollkommen populärem et democraticum statum machen". I n den Verhandlungen, die schließlich wie immer i m Haag geführt werden vor den Generalstaaten als Garantiemacht, kann der Syndikus seine entschiedene Abweisung einer „breiten, gemeinen Regierung" nicht durchsetzen, seine Position aber festigen. Denn die von den Vierzigern geforderte Annuität des Syndikats — und das hieße Althusius' programmierte A b w a h l am Jahresende — w i r d verhindert. I n solche innerstädtischen Konflikte spielen zumeist „außenpolitische" Kontroversen hinein, hier die Opposition von Vierzigern gegen eine äußerst krisenanfällige, prinzipiell kompromißlose Politik des Syndikus. Immer wieder „rumort" und „randaliert" es in den Straßen der Stadt, sicherlich häufiger und heftiger, als es offizielle Verlautbarungen zugeben. Mißliebige Oppositionelle werden arrestiert oder der Stadt verwiesen, die Bürgervertretung w i r d gelegentlich, 1626 z. B. über ein Jahr lang, lahmgelegt. Das innerstädtische Machtverhältnis zwischen Bürgervertretung und Stadtregierung, das Althusius 1604 vorfand, verkehrt sich infolge seiner agil-inspirativen Autorität nahezu ins Gegenteil, zeitweise in eine Gesinnungsdiktatur mit einer dem Syndikus unterstellten Zensur. „Die Herrschaft der Prinzipien w i r f t den Schatten der Gewalt auf alles, was sie i n Frage stellt" 3 1 , mag der Syndikus nach außen auch in Wort und Schrift eine Solidarität der „gemeinen Bürgerei" vortäuschen.
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Althusius' Stellung stärkt sich noch mehr, als er 1617 in den Emder Kirchenrat gewählt wird. Obschon der Syndikus, wie der Autor der Politica, sich gegen „jede Vermengung der Officien, sonderlich der geistlichen i n die weltlichen" ausspricht, ist er lange Zeit der einzige Bürger i n Emden, der zugleich ein politisches und geistliches A m t innehat. Als Syndikus i n der Konsistorienstube und als Ältester i n der Ratskammer hat er wie kein Zweiter Einblicke in alle offiziellen und inoffiziellen, offenen und geheimen Angelegenheiten und Umtriebe i n der Stadt, kann er seine Verbindungen spielen lassen. Er garantiert in Grenzen die Kooperation des weltlichen und des geistlichen Arms, auch nach Altings Tod: Er ist ein eifriger und eifernder Fürsprecher der Prediger i n den res mixtae wie Schulwesen oder Eheordnung, ist gegen konfessionelle Toleranz und kirchliche Laxheit, gegen Luxus und Korruption i n Patrizierkreisen, gegen Sonntagsentheiligung, Lustbarkeit und Unzucht i n der Hafenstadt, gegen lutherische und libertinistische Häresie, gegen „päpstische Werke" und „heidnische Volksbräuche". I n der Regulierung der Kirchenzucht und i n der Reglementierung des bürgerlichen und kulturellen Lebens läßt sich Althusius, dogmatischunerschütterlich und asketisch-streng, wohl von niemandem übertreffen. Wenn C. J. Friedrich ein weiteres Attribut, mit dem ich Althusius charakterisierte, nämlich „unmusisch", als „etwas gewagt" bezeichnet, 32 darf ich einen fachlichen Hinweis geben: Der Emder Kirchenrat mit Althusius beschließt 1618, „ i n der Lateinschule die tägliche Singstunde abzuschaffen", um dafür „Psalmen und anderes Nützlicheres zu lehren". Bei den zensierten Unterrichtsgegenständen handelt es sich wegen der damaligen engen Verbindung von kirchlicher Contio und schulischer Cantio um geistliche Lieder, nicht etwa (mit Luther gesprochen) um „Buhllieder und andere fleischliche Gesänge". Eigentlich muß Althusius' Wahl ins höchste Laienamt der Emder Kirche überraschen, so sehr sie anzeigt, daß er „mit der Zeit der eigentliche Boß" i n Emden ist, 33 den man einfach nicht umgehen und entbehren kann. Denn obgleich der Kirchenrat nach der „Emder Revolution" seinen alten politischen Einfluß verloren hat, sind der Magistrat und sein Syndikus schon geraume Zeit mißtrauisch auch gegen Vorsprachen von Predigern und Ältesten, die den Magistrat auf seine Pflicht der Daseinsfürsorge für die Bevölkerung hinweisen. Ihre Sorgen gelten zumal Not und Leid i n den vielen Schifferfamilien, deren Männer sich i n spanischem Gewahrsam oder auf spanischen Galeeren befinden, weil die Stadt infolge ihres politischen Kurses immer wieder der Vorteile 31 32 33
H. Schmidt, Politische Geschichte Ostfrieslands, Leer 1975, S. 242. J. Althusius und sein Werk (FN 4), S. 11. Ebd., S. 36.
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der Neutralität verlustig geht, keine gräflichen Seepässe als Neutralitätsausweise ausgeben kann. Konflikte über einen neuen Wahlmodus für die Prediger- und Ladenämter sowie Manipulationen bei ihrer Besetzung künden an, daß der Magistrat sich als voller Erbe des landesherrlichen Kirchenpatronats versteht. Der Senior Althusius ist auch i n Kirchenfragen darauf bedacht, „populäre" Tendenzen und Einflüsse abzublocken. So gesteht er etwa dem „großen Konsistorium" (dem auch die Haupt- und Subdiakone, die Vorstände des Gasthauses und der Fremden, der Schiffer und der Armen sowie Ratsdeputierte angehören) nur die nachträgliche Approbation des Kandidaten zu, aber keinerlei M i t w i r k u n g bei Elektion, Nomination, Examen und Präsentation. Auch während dieses Konfliktes stellt Althusius 1620 die Vertrauensfrage i m „kleinen Konsistorium" (dem nur die Prediger und Ältesten angehören). Das Verhältnis zwischen Kirchen- und Stadtregiment erfährt unter Althusius eine weitere Verschiebung des Machtgewichtes zugunsten des weltlichen Arms. Die einstigen Träger konfessioneller und republikanischer Freiheit i n Emden, die Vertretungskörperschaften der kirchlichen und der bürgerlichen Gemeinde, finden i m „aristokratischen" Senior und Syndikus ihren argwöhnischen Beobachter und Gegner. Daß noch der alternde Syndikus Sitz und Stimme i m Presbyterium nutzt, um einen Rivalen seiner politischen Linie kalt zu stellen, zeigt der lange schwelende Fall Dr. Witfeld. Dieser junge, ebenso fähige und gewandte wie ehrgeizige und wendige Bürgermeister war nicht ohne Erfolg um eine Verständigung mit Aurich, den Haag, Brüssel und Madrid bemüht. Nachdem ein Prediger wiederholt, auch von der Kanzel, Ratspersonen, darunter den Bürgermeister, unlauterer Geschäfte und kirchlich toleranter Einstellung beschuldigt hatte, gelingt es Althusius, den Magistrat, der sich zunächst vor den Bürgermeister gestellt hatte, noch herumzureißen, als der Skandal schon abklingt. Witfeld w i r d 1634 als „Verräter an der respublica Embdensis" entlassen. Althusius w i r d i h m später, als Witfeld, nunmehr gräflicher Rat, zu Verhandlungen auf dem Rathaus erscheint, jede Unterredung verweigern. Dies als ein bezeichnendes Beispiel dafür, daß der Syndikus auch sein kirchliches A m t für das eigentliche Hochziel seiner Politik einsetzt, für die unabhängige Stadtrepublik. — Bevor w i r uns Althusius' „Außenpolitik" zuwenden, hier zum A b schluß seiner innerstädtischen Wirksamkeit und Position nur zwei Schlaglichter auf die in Emden entstehenden erweiterten Neuauflagen der Politica, u m den Verweislingszusammenhang von politischer Praxis und Theorie auf dem Hintergrund der skizzierten Verfassungskonflikte wenigstens anzudeuten. 84
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Erfahren städtisches Gemeinwesen und Kommunalrecht schon i n der zweiten Ausgabe von 1610 eine ausführlichere Behandlung, so konturiert die dritte Edition von 1614, also unmittelbar vor der Auseinandersetzung zwischen Vierzigern und Magistrat, noch das B i l d einer „aristokratischen" Stadtregierimg — sicherlich auch eine aktuelle publizistische Spitze gegen „Populäre" i n Emden. Und während die erste Ausgabe von 1603 die Beziehung von Kirche und Staat kaum artikuliert und noch die zweite die Predigerwahl behandelt, ohne die weltliche Gewalt zu erwähnen, arbeitet die dritte, die nicht lange nach dem Tode des Freundes M. A l t i n g herauskommt, „magistratus officium i n vocatione ministri" und einen staatlichen Einfluß auf Kirchenfragen heraus, welcher über bloße Schutz- und Hilfsfunktionen hinausgeht, dem Magistratus beispielsweise die Inspektion über die reine Lehre zuweist. — Wenden w i r uns nunmehr Althusius' Bedeutung für den ostfriesischen Ständekampf zu, und zwar zunächst bis zum Osterhuser Vertrag von 1611, der, m i t Hilfe der Generalstaaten als Signatar- und Garantiemacht geschlossen, die schwankende Basis der Verfassung Ostfrieslands bis zu seiner Eingliederung i n Preußen 1744 war. Der Emder Syndikus ist, zumal auf nahezu allen Landtagen, ein bereiter und beredter A n w a l t der Gravamina und Resolutionen des Städteund des Bauernstandes gegen Adel und Graf. Leidenschaftlich t r i t t er i n der provincia Frisia Orientalis für ihre administratio duplex, nämlich durch Stände und Landesherrn ein — m i t den Termini der zweiten Politica-Ausgabe von 1610 gesprochen, die erst die Provinz als öffentlichrechtliche Verbandseinheit dem korporativen Gradualismus zwischen Kommune und Staat einfügt. Althusius ist, wie ich nachweisen konnte," Autor oder Mitautor ständischer Kampfschriften, z. B. der „Vindiciae iuris populi contra usurpationem iniquam comitis usque ad annum 1608". Er treibt i m Ständekampf eine Politik mit voran, die auf der abgeleiteten und kontrollierten Macht einer landesherrlichen Obrigkeit ohne eigenes Recht besteht. Die ausdauernde und geschäftige Tätigkeit des Ständepolitikers A l t husius hier nur i n Stich Worten: — Rechtshilfen zur Sicherung u n d Ausformung des Landtagswesens : Beratungsvollmacht u n d Beschlußkraft der Ständeversammlung an unbefestig34 Z u m ausführlicheren Vergleich der Politica-Editionen s. Verf., Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius i n Emden, Aurich 1955, S. 63 ff., 71 f., 76 ff., 104, 140 ff. 36 Johannes Althusius u n d die Emder Publizistik zu Beginn des 17. J a h r hunderts. Z u strittigen Verfasserfragen i n Schriften der ständischen Bewegung, i n : Ostfriesland (Mitteilungsblatt der Ostfriesischen Landschaft) 1949/ Heft 7 u n d 1950/Heft 1.
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Heinz Antholz ten Orten u n d ohne „Einreden" des Grafen, dem n u r die Einberufung, Eröffnung u n d der Abschied eines Landtages sowie die Ausführung seiner Beschlüsse zukommen sollen; Gleichberechtigung der drei Stände, auch die unmittelbare Vertretung der Bauern u n d ihrer Rechte
— Begründung u n d Sicherung des ständischen Steuerbewilligungsrechtes sowie Bemühung u m die Einrichtung eines vom Territorialherrn unabhängigen Steuerkollegiums m i t ständischen Administratoren — E n t w u r f einer neuen Ordnung des Hofgerichtes als des höchsten, von E i n w i r k u n g e n der gräflichen Kanzlei freien Landesgerichtes, vor dem auch der Graf u n d seine Beamten justitiabel sind — Forderung einer positivrechtlichen F i x i e r u n g des Widerstandsrechtes (im F a l l landesherrlicher Verfassungsbrüche) als des Palladiums ständischer Freiheit
Es können hier nicht die turbulenten innerstädtischen, ostfriesischen und internationalen Ent- und Verwicklungen verfolgt werden, die den Stadt- und Ständepolitiker Althusius bisweilen an den Rand der Verzweiflung, auch i n Konflikte der Berufswahl treiben, i n denen er aber selbstlos und unbeirrt bis 1611 drei verlockende akademische Rufe ablehnt. Angedeutet sei hier nur die Eskalation einer Widerstandspolitik gegen „Seiner Gnaden Kontraventionen und Restitutionen" — von zunächst positivrechtlich begründeten Ermahnungen seit 1604 — über die Aufkündigung des Emder Gehorsams 1608 — bis zum Überfall der Emder Garnison auf Aurich mit Plünderung von Residenz und Archiv 1609. Der Demonstrativeffekt dieser Widerstandsaktion steht i n keinem Verhältnis zu Emdens auch internationalem Prestigeverlust und zu den wirtschaftlichen Folgeschäden für die Hafen- und Handelsstadt. Der Syndikus ist jahrelang, abgesehen von einem eiligen Schauprozeß gegen den Hauptmann der Garnison, damit beschäftigt, vor aller Welt, auch und gerade vor den aufgebrachten Generalstaaten, Gewalt als Essentiale des Widerstands zwecks Unrechts auf hebung zu begründen. Er überdenkt und überarbeitet erneut die ganze Widerstandsproblematik. I n dieser diplomatisch-prekären und militärisch-gefährlichen Situation Emder Magistratspolitik — spanische Truppen bedrohen die Stadt von Süden — stellt die zweite Ausgabe der Politica von 1610 (den Generalstaaten gewidmet!) m i t ihrem neuen Kapitel „De tyrannide eiusque remediis" geradezu eine Apologie Emder Widerstands- und Freiheitspolitik dar — ein Beispiel für die situationspolitische Aktualität der wissenschaftlichen Arbeit des Gelehrten. Als einen greifbaren Erfolg kann der Syndikus als Ständepolitiker 1606 die Einsetzung eines ständischen Administrationskollegiums verbuchen, so daß die landesherrlichen Hoheitsrechte eine weitere Ein-
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schränkung erfahren. (Freilich ist diese „Aufteilung" der „Gewalt" nicht erst und allein durch Althusius inauguriert worden.) Nicht durchsetzen kann er u. a. die Aufnahme einer Widerstandsklausel i n den Osterhuser Vertrag. Die Positivierung des Widerstandsrechts i n Ostfriesland scheitert weniger an Enno I I I . als am allgemeinen ständischen und wohl auch am Emder Ausgleichswillen, vor allem aber an der Befriedigungspolitik Oldenbarneveldts gegenüber Madrid und Wien. Gegen sie versucht der Syndikus i m Haag i n seiner eigenartigen Mischung von Prinzipientreue und Trotz, Selbstsicherheit und Selbstgerechtigkeit wochenlang und bis zuletzt, auch gegen andere Emder Delegationsmitglieder und seinen Freund und Gesinnungsgenossen Ubbo Emmius, anzurennen — vergeblich. — Die Jahre von 1611 bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges sind durch Sicherung und Ausbau der landständischen Verfassung bestimmt. (So erhält z. B. das Administrationskollegium auch die Judikatur i n Steuersachen.) Althusius hat Zeit für private Anwaltsreisen und den Besuch seiner Heimat. Die politischen Ambitionen verlagern sich mehr nach innen: Die oben skizzierten Emder Verfassungskonflikte fallen in diese Zeit. Die weiteren 27 Amts jähre des Syndikus verlieren sich oft, da ohne politisch-schöpferische „moralische Energie" (L. von Ranke), in kleingeistige ständische Streitereien, die zeitweise zu anarchischen Zuständen i m Lande führen. Stadt- und Ständepolitik driften mehr und mehr auseinander. Damit soll nicht ein abrupter Kurswechsel des Althusius von einer Politik der Ständefreiheit zur Stadtfreiheit angezeigt werden. Stellte sich dem Syndikus doch schon vor 1611 — und das ist möglicherweise intendierter K r i t i k an einem angeblich „zu isoliert auf Emden bezogenen Althusiusbild" entgegenzuhalten — die territoriale politische Situation i n Ostfriesland immer als eine „duplex controversia" dar, nämlich zwischen Landesherr und Landständen auf der einen Seite und „separatim", wie Althusius hervorzuheben pflegt, zwischen Landesherr und Emden als einer „Haupt- und nicht Landstadt" auf der anderen. A l t husius trieb i n Ostfriesland, dies zumal nach 1611, nicht als Ständepolitiker Stadtpolitik, sondern bediente sich „populärer" ständischer Argumente i m Ringen um die freie respublica Embdensis. Seine Bedeutung für Ostfriesland besteht darin, daß er die Durchsetzung eines landesherrlichen Absolutismus verhindern half; sein Wirken i m Ständekampf weist auf den modernen freiheitlichen Verfassungsstaat hin, der sich nicht als Herrschaftsform, sondern als politische Organisation des (wie immer auch verstandenen) Volkes versteht. Althusius' Bedeutung für Emden liegt darin, daß er, wie noch zu zeigen sein wird, der größten Gemeinde des Landes, welcher der Graf und 0 RECHTSTHEORIE. Beiheft 7
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seine Berater nur „Rechte wie dem geringsten Dorf" zuerkennen wollten, eine ihrer Größe entsprechende Rechtsstellung zu erringen suchte. Die Emsstadt w i r d vom Syndikus unermüdlich, aber vergeblich propagiert als — „freiester u n d sicherster Ort der Landtage" — Sitz des Hofgerichts u n d der Niedergerichte der westlichen Ä m t e r des Landes — Sitz der Landeskasse — wirtschaftlicher M i t t e l p u n k t des Landes m i t Stapel- und Waagezwang sowie Münzrecht, u m den gesamten ostfriesischen Handel u n d Verkehr an i h n zu binden — Inhaber der jurisdictio plena einschl. Todesstrafe — Exekutor des ständischen Widerstands m i t Hilfe der Garnison — Sitz von „ G y m n a s i u m u n d Hohe Schule i n dieser Grafschaft" 3 0
Summa: Emden als Metropolis, als welche es i n der Politica neben Venedig, Amsterdam, Augsburg, Frankfurt, K ö l n und anderen großen Städten aufgeführt wird, und sein Syndikus als „Patron van die vrye republicke Embden", wie Enno I I I . Althusius einmal i m erregten Disput trefflich titulierte. Althusius' Syndikat ist ein spätes Kapitel i n der Geschichte deutscher Städtefreiheit. Emden findet sich auf den Landtagen dieser Jahre nur noch selten i n der alten Koalition des Städte- und des Hausmannsstandes gegen landesherrlichen und adeligen Feudalismus. Der Syndikus versteigt sich wiederholt zu einer Obstruktionspolitik, welche i n selbstgerechter Interpretation ständischer Freiheiten die Illegalität aller ständischen Mehrheitsbeschlüsse erklärt, für seine Stadt Sitz und Stimme als „eines Standes für sich" fordert, den anderen beiden Städten und den Hausleuten aber „ n u r ein Votum als einem Stand" zukommen lassen möchte. 1618 schließt Emden gegen Zubilligung von Institutionen und Privilegien einer Metropole eine Union mit dem bisher geschmähten und bekämpften Ritterstand, der sich vom Grafen wegen dessen gewaltsamer Besetzung einer adeligen Herrlichkeit löst. „Das Standesinteresse interpretiert sich i n die Rolle des allgemeinen Rechtshüters hinein, und ein Mann wie Althusius honoriert nun das Verhalten des Adels mit anerkennenden Formulierungen über seine hohe Bedeutung für die ostfriesische Freiheit. Er w i r d später, bei gewandelter Interessenlage, 38
Ob Althusius die Herborner Hohe Schule als V o r b i l d nahm, müßte ein Vergleich derer S t r u k t u r u n d Statuten m i t Althusius' Emder Konzeption ergeben.
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wieder anders über Adelsrechte urteilen." 8 7 Die Interessenallianz zwischen Emden und der Ritterschaft zerbricht, als der Emder Magistrat nach dem Erwerb von adeligen Gütern und Herrlichkeiten, nimmehr den stolzen Titel „Häuptling" führend, Nobilitätsansprüche stellt und 1630 Sitz und Stimme auch i m Ritterstand fordert. Der Antagonismus zwischen Emden und dem Landesherrn ist i n den wechselnden Koalitionen die Konstante ostfriesischer Geschichte. A l t husius pflegt die Stände als zur Landstandschaft disqualifiziert abzustempeln, wenn sie z. B. die M i t t e l für die Emder Garnison verweigern (deren Soldaten dann Gelder gewaltsam i m Lande eintreiben). So ist für den Syndikus nahezu ständig der „casus defensionis i u r i u m patriae gemäß allen natürlichen und weltlichen Rechten" gegeben. Als Enno I I I . sich 1618 angesichts der internationalen Lage vermittlungsbereit, wenngleich sicher nicht verzichtswillig, nach Emden begibt, „schreitet der Magistrat zur notwendigen Defension, so Gott und die Natur zulassen" und interniert den Landesherrn wochenlang. Sein Syndikus muß als leidenschaftlicher Verteidiger, wenn nicht Anstifter der A k t i o n dem I n - und Ausland wieder die Rechtfertigung dafür liefern, warum man (Originalton Althusius) „Seiner Gnaden untertäniglich gebeten habe, allhier zu Embden solange zu verharren, bis durch dero Präsens und Autorität alles i n vorigen Stand wiederum gesetzet". Der Tod des Grafen und wenige Jahre später der seines Nachfolgers führen zu jahrelangen Kontroversen über Emdens Huldigung und zu jeweiligen Gehorsamskündigungen. Althusius ist jedesmal bemüht, gräfliche declarations of rights zu erlangen. Aus den Quellen ist ersichtlich, wie hartnäckig er i n protokollarisch-taktischen Details der Huldigungsfeierlichkeiten, i n syntaktischen und semantischen des Huldigungsreverses und -eides die seit der letzten Emder Huldigung von 1595 vorangetriebene Emanzipation von der landesherrlichen Souveränität und einen bedingten Herrschaftsauftrag der jungen Grafen zu fixieren sucht. So streicht er etwa i n den Verhandlungen immer wieder den „unerhörlich präjudizierlichen Titel des angeborenen und geschworenen Dieners und Untertanen", den er freilich (s. o.) i m auswärtigen diplomatischen Verkehr und i n Bittschriften nicht unterschlägt. Er setzt ferner durch, daß i m Emder Homagium nicht mehr von „Gehorsam" als einer einseitigen Obligation, sondern nur noch von „Treue" als einer beidseitigen die Rede ist. Der körperliche Eid auch der Grafen während der Zeremonie, auf den Althusius gedrungen hatte, entfällt jedoch.
87 Schmidt (FN 31), S. 267. Althusius' i n dieser Zeit vorgelegter E n t w u r f einer Hohen Schule sieht vor, daß ihre Kuratoren n u r von Emden und der Ritterschaft gestellt werden.
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Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Summe aller „Suspensionen und Verweigerungen" Emdens i n diesen Jahrzehnten de facto seiner Autonomie i m Territorialverband gleichkommt. Diese Freiheit indessen offenbart zumal nach Beginn des Dreißigjährigen Krieges einen erschreckenden Mangel an Einsicht in notwendige konstruktive Verbandspolitik, wie die ostfriesischen Stände i n diesen Kriegs jähren überhaupt mehr Privilegskorporationen gleichen und eine denkbar negative Ausprägung des sog. Ständestaates darstellen. Als die Landesverteidigung vordringlichster Verhandlungsgegenstand der K u rienversammlungen ist, verweigert Emden den Einsatz seiner (aus der Landeskasse besoldeten!) Garnison zur Grenzsicherung, und sein Syndikus erklärt unentwegt, von den Leiden der Bevölkerung i m wiederholt besetzten und geplünderten Land anscheinend weniger bewegt, daß diese Emder Truppe laut Verträge nicht zur Verteidigung des Vaterlandes, sondern der Verfassung bestimmt sei. Er reagiert empört auf Anwerbungen durch den Grafen und die Stände, schiebt ihnen aber die Schuld an der Unsicherheit der Emder Handelswege zu. Wenn der Emder Magistrat schon einmal in höchster Not der Aufstellung einer Truppe nicht widerspricht, dann nur unter der Bedingung, daß ihre Stärke nicht die der Emder Garnison übertrifft und ihr Einsatz zeitlich begrenzt wird. Ständische Gravamina und Resolutionen aber gegen den Emder miles perpetuus schmettert Althusius mit überpositiven Rechtssätzen ab. M i t welcher verqueren Logik und Mißachtung übergreifender Solidarinteressen Althusius die egoistische Emder Politik juristifiziert, dafür nur ein Beispiel. Als Graf und Stände bemüht sind, das von den Generalstaaten vorgestreckte Lösegeld für den Abzug der marodierenden Mansfelder Soldateska aufzubringen, welche eben die Generalstaaten als ihre Verfügungstruppe von 1622 bis 1624 i n Ostfriesland einquartierten, da verweigert Emden, „eine der modernsten und stärksten Festungen der damaligen Zeit" 3 8 und von den Drangsalierungen der Mansfelder verschont, jeden A n t e i l an der Summe. Denn — so der federflinke Syndikus, kaum noch auf einen immanenten Argumentationszusammenhang bedacht — der angerichtete Schaden falle unter Einwirkung höherer Gewalt, weshalb der Geschädigte allein zahlen müsse; ferner seien — und nun bemüht der rigorose Legalist das eben noch barsch vindizierte Ausnahmerecht nicht mehr — die für Emden verbindlichen Zahlungen i n den Akkorden festgelegt, von den hier verlangten finde sich dort aber kein Wort. Causa finita! Der juristische Laie, solchen spitzfindigen Distinktionen konfrontiert, kann 88 W. Brünink, Der Graf von Mansfeld i n Ostfriesland, Aurich 1957, S. 90. Auch B r ü n i n k hat i n seiner ausführlichen kriegs- und militärwissenschaftlichen Untersuchung Althusius' Einfluß trotz des reichlichen Quellenmaterials nicht erkannt, vermutlich w e i l er Althusius' Handschrift nicht identifizierte.
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sich wiederholt eines bösen Eindrucks nicht erwehren: Entweder argumentiert der Syndikus, man könne seine Stadt nicht mit etwas belangen, was i n verbindlichen Vertragstexten nicht ausdrücklich formuliert sei („Quodquod i n formula non invenitur, i l l u d non usurpetur"), oder, wenn doch ein positiver, aber für Emden „negativer", abträglicher Rechtssatz vorgelegt wird, dann muß das überpositive Recht herhalten („was alle göttlichen und natürlichen Rechte zulassen"). Die „niederländische" Politik der Emder entzieht der Stadt immer wieder alle Vorteile der Neutralität. Sie setzt mit der politischen Freiheit der respublica die wirtschaftliche der Handelsstadt und damit die salus publica aufs Spiel, ruiniert die Existenzen der Reeder und Kaufleute, des gewerblichen Mittelstands sowie der Schiffer und Matrosen. Es war die große Fehlrechnung auch des Emder Syndikus — als solche von besonnenen und vorausschauenden Köpfen erkannt, doch gegen das oligarchische Stadtregime nicht abwendbar —, beide Freiheiten, die politisch-republikanische und die wirtschaftlich-sozialverträgliche, m i t einander vereinbaren, die eine erringen und die andere retten zu können. U m Emdens Handel und Wirtschaft aufzuhelfen, sieht sich Althusius beispielsweise 1623 genötigt, selbst i m Haag damit zu drohen, die Stadt „müsse sich einen anderen Protektor ihres Gefallens suchen", sei es T i l l y oder Christian IV. von Dänemark, mit dessen Kanzler der Syndikus ergebnislose Protektionsverhandlungen führt. Emdens Neutralitätseinbuße mit ihren schlimmen wirtschaftlichen und sozialen Folgen sind für einen Althusius, der prinzipiell nicht gesonnen ist, mit „Papisten" und „Lutherischen" zu verhandeln und übereins zu kommen, ein ständiger Verständigungsdruck. Auch das Vabanquespiel einer scheinbar autonomen Emder „Außenpolitik", ohne Zustimmung des Landesherrn und des Kaisers und ohne Billigung der Generalstaaten, offenbart die ganze Hilflosigkeit einer weniger hochgemuten als hochmütigen Politik, die ins Große zielt, ohne Größe zu besitzen. Sie überstieg einfach Emdens M i t t e l und Möglichkeiten: Es blieb ein Satellit der Generalstaaten und letztlich auch auf den Landesherrn und die Landschaft angewiesen. — Ich breche Skizzen eines dunklen Kapitels ostfriesischer und Emder Geschichte ab, um mit einigen Eindrucksnotizen auch zu schließen. III.
Wer den Autor der „Politica methodice digesta" i n der Emder Syndikatur verfolgt und seine politische Theorie als kritisches Interpretament dieser politischen Praxis heranzieht, dabei prätentiös auf plane Kontingenz setzt, w i r d nicht vor Irritationen bewahrt.
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Dem Syndikus Althusius stellte sich die Verfassung der „Provinz Ostfriesland", z. B. i n seiner umfangreichen ständischen Streitschrift „Gegenbericht" von 1620, als „monarchia cum democratia temperata" dar. A u f der territorialen Ebene bestand er auf der abgeleiteten Herrschaft des Landesherrn als eines Mandatars und auf der Fortentwicklung einer „breiten", „demokratischen" Verfassung, einer „administratio duplex", welche schon auf Teilung der Gewalten i n potestas constituens und potestas constituta, jedenfalls auf eine Teilung der Verwaltung des Gemeinwesens und auf Machtbeschränkung politischer Gewalt hinauslief. I n der Stadt Emden dagegen, also gerade auf der untersten Stufe seines korporativen Systems, mißtraute und wehrte er allen bürgerlich-demokratischen Tendenzen. Verstieg er sich doch sogar zu der Aussage, dem Vierzigerkollegium, also dem Vertretungsorgan der Bürgerschaft, sei „der „Magistrat immediate vorgesetzt", nämlich als „Erbe landesherrlicher Rechte". Es ergibt sich m i t h i n die Paradoxie, daß i m Territorium eine Landesherrschaft mit allen M i t t e l n gegen die „populäre Mitregierung" der Stände kämpfte, i n der Stadt Emden hingegen ein nahezu autokratisch waltendes Regime mit seinem Syndikus — man ist versucht zu sagen: unter ihm — gegen den „populären und demokratischen Status" der Kommune. Eine inhaltsanalytische Inspektion der Schriftsätze und der Publizistik des Althusius ergibt für das A t t r i b u t „demokratisch" eine kontextuell sich durchhaltende Hochwertanzeige i m territorialen Verband, eine ausdrückliche semantische Tiefwertsuggestion aber i m kommunalen. E i n kritisches U r t e i l über den Stadtsyndikus läßt sich, zumal wenn es auch die absolutistischen Ambitionen des Grafenhauses einbezieht, nicht einfach mit der schlechten Presse abtun, die Emden gemeinhin i n der ostfriesischen Geschichtsschreibung gefunden hat und die sich häufig von antimonarchomachistischer, monarchischer Staatsgesinnung herleitet, so etwa seit der Historie des fürstlichen ostfriesischen Kanzlers E. R. Brenneysen. 39 Auch sollte, wer ein zwielichtiges B i l d vom politischen Akteuer A l t husius zeichnet, nicht schon verdächtigt werden „der Tendenz, die deutschen Stände scheel anzusehen und die Partei der Fürsten, die sie zu unterdrücken strebten, zu ergreifen" 40 . Das gilt auch dann, wenn das historische Urteil über den Syndikus und seinen berechtigten Widerstand gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt nicht vergißt 89
Ost-Friesische Historie u n d Landesverfassung, Aurich 1720. F. L. Carsten, Die deutschen Landstände u n d der Aufstieg der Fürsten, 1959; Wiederabdruck i n : H.Rausch (Hrsg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung, 2. Bd., Darmstadt 1974, S. 328. 40
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anzumerken, daß der Ständepolitiker Althusius damit zu Zeiten einer kurzsichtigen Privilegienpolitik Vorspanndienste leistete, welche konstruktive Landespolitik verkümmern, soziale Solidarität vermissen ließ. Den Historiker befällt w o h l die beklemmende Frage, ob die politische Praxis des Syndikus die politische Theorie des Professors zu desavouieren scheint. Verletzen Althusius' manchmal doch recht bedenklichen, ja macchiavellistischen Praktiken nicht Grund-Sätze der Politica mit ihren Kristallisationszentren Konsozialismus und Volkssouveränität? Kann man solche Irritationen beschwichtigend damit abtun, daß eine krisenanfällige oder verfehlte Politik von Theoretikern noch nicht unbedingt die Krise bzw. Verfehlung der Theorie bedeutet? Der politische Praktiker Althusius ließe sich, mit K. Mannheim gesprochen, als ein „monopolistischer Denktypus" m i t „relativem Entferntsein von den offenen Konflikten des alltäglichen Lebens" charakterisieren. 41 Er neigte infolge hochgradiger F o r m a t i e r u n g politischer Krisen-, Konflikt- und Entscheidungslagen zur Wirklichkeitsreduktion und -verkennung. Seine überzogenen Programme für die Respublica Embdana könnten einem fast wie Wunschphantasien erscheinen, die man versucht ist, psychopolitisch als Versagungsreflexe zu diagnostizieren. Die von i h m mitverantwortete, wenn nicht gar inaugurierte Politik des Magistrats stand auf den Waffen einer gefügigen Schutztruppe und notfalls einer niederländischen Eingriffsreserve, die jede Opposition wiederholt erstickten. „Die politische Prinzipientreue rettete sich, wie so oft i n der Geschichte, wenn ihre Überzeugungskraft versagt, mit dem Instrumentarium der handgreiflichen Macht". 4 2 Freilich ist hinzuzufügen, daß i m ostfriesischen Ständekampf sich auf beiden Seiten Persönlichkeiten extremer Denkweisen und ausgeprägter Unduldsamkeit wie etwa Franzius und Althusius gegenüberstanden und daß die Circsenas mit privatrechtlicher Ausschöpfung landesherrlicher Hoheiten „die Dynastie nicht auf das Land, sondern das Land auf die Dynastie bezogen". 48 Schließlich: Auch schon vor Althusius gab es i n Emden „die i m Zeichen von ,Freiheit' und ,Vaterland' erpressende Gewalt gegen Hilflose — Situationen, die ihre politischen Urheber erhaben übersehen, wenn sie ihre Augen auf hehre Prinzipien und Ideen richten, statt einfach nur auf Menschen". 44 Gewiß: es war die tiefe Überzeugung des Verfassers der Politica, daß auch politische Praxis nicht aus sich selbst begründet und bewältigt 41 42 43 44
Ideologie u n d Utopie, F r a n k f u r t / M a i n 41965, S. 11. Schmidt (FN 31), S. 239. Ebd., S. 189. Ebd., S. 228.
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werden kann, daß zu ihr politische Theorie nicht exterritorial liegt. Ich möchte auch nicht wie Kants „ K l ü g l i n g " jenem naiven Verständnis von Praxis aufsitzen, i n der „alles ganz anders ist". Daher strapaziere ich auch nicht die Frage, was von der großartigen Idee einer „Vollkommenheit des Ordnungsganzen" bleibt, die i n der Politica „auch zu einer ästhetischen Größe w i r d " 4 5 , wenn i h r Autor i n Anlehnung an Petrus Gregorius Tolosanus den politisch-sozialen Organismus i n Analogie setzt zur antik-mittelalterlichen Triade von musica mundana, humana et Instrumentalis. 48 Dennoch ist öfters erschreckend, wie linear Althusius politische und juristische Sätze auf die Wirklichkeit übertrug, ohne konkurrierende oder antinomische Momente i m Ansatz zu reflektieren. Dem ebenso prinzipienfesten wie eigen- und starrsinnigen Syndikus fehlten konziliantes Vermittlungsvermögen und offene Kompromißbereitschaft. I h m lag nicht eine aristotelische Politeia ex hypotheseos, welche aus den gegebenen Verhältnissen das mögliche Beste, das „gemeine Beste" machte. „Althusius dachte i n harten und schattenlosen Kategorien." 4 7 Ob das politische Wirken des Syndicus Reipublicae Embdanae, gerade was das bonum commune i n Stadt und Land betrifft, die Politica des Gelehrten desavouiert? Die i n solchem Ressentiment möglicherweise aufgehobene Vernunft zu bergen und auf den Begriff zu bringen, getraue ich mich hier nicht mehr. Denn dazu wäre, um über Eindruckserinnerungen und -notizen hinauszukommen und um nicht i n Untiefen des Topos von der Vermittlung von Theorie und Praxis stecken zu bleiben, ein Doppeltes vonnöten: zum einen die vorgängige diskursive Bestimmung eben von Begriffen wie Theorie und Praxis oder Ideologie und Wirklichkeit, zum andern erneute Quellenforschung und -exegese unter solchem spezifisch-systematischen Interesse. Zurück bleibt jedenfalls (um auch mit einer Sentenz Goethes zu schließen) die gleichermaßen i m politischen Geschäft und ideologischen Getriebe unserer Tage ebenso nachdrückliche wie provozierende Frage, ob „Theorien gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes sind, der die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt." 48
45 P. J. Winters, Die „ P o l i t i k " des Johannes Althusius u n d ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg i. Br. 1963, S. 182 f. 49 I X 8. Wenn Friedrich von einem „Vergleich zwischen einem Gemeinwesen u n d einem Orchester" spricht (Johannes Althusius u n d sein Werk . . . , S. 42), verengt er den von Althusius rezipierten musica-Begriff. 47 Schmidt (FN 31), S. 238. 48 Artemis-Goethe-Gedenkausgabe Bd. 9, S. 551.
JOHANNES ALTHUSIUS A N DER HOHEN SCHULE I N HERBORN Von Gustav Adolf Benrath, Mainz „ I m Februario bin ich nach Ochsenfurt [ = Oxford in England] gezogen . . . Es waren aber meine Gefehrten die wohlgebornen jungen Grafen Conrad von Solms, Philip Ernst von Isenburg, Johan Cunrad Reingraff, ein Herr von Serotin nebenst ihrem Praeceptor, dem wohlgelährten Henrich Alting. . . . Von London seynd w i r den 1. M a r t i i abgefahren. . . . " Diese Nachricht entstammt dem Bericht des reformierten pfälzischen Hofpredigers Abraham Scultetus über seine Englandreise im Jahre 1613. Die kleine sechsköpfige Reisegesellschaft, der er angehörte, nahm damals ihren Rückweg nach Deutschland durch die südlichen Niederlande über Ostende und Antwerpen, Aachen und Jülich nach Köln. „Von dar seynd w i r durch das Gebirg gereiset und den 24. i m Schloß Sigen, den 25. i m Schloß Tillenberg eingesprochen, da die gräfliche Gebrüder beisammen waren, nemlich die Wohlgebornen Herrn Wilhelm Ludwig, Gouverneur in Frießland, Johan und Georg Graffen von Naßaw . . . Von Tillenberg w i r d Herborn durch einen lustigen Tal abgescheiden, welches vor Zeiten eine unbekandte Stadt gewesen, jetzo aber wegen der Schulen in der Welt berühmet. Den Ruhm hat zwar die Stadt von dem Gymnasio, von Graff Johann dem Eltern, einem gottesfürchtigen und milten Herrn, i m Jahr 1584 aufgerichtet und von der Druckerei Christoph Corvini, das Gymnasium aber von der Kunst und Geschicklichkeit Johan Piscatoris von Straßburg erlanget... ."* I. Auf den Namen von Althusius stößt man in diesen Notizen zwar nicht, und man darf ihn darin auch nicht erwarten, weil Althusius bereits i m Sommer 1604 von Herborn Abschied genommen hatte. Aber w i r finden hier, neun Jahre später, noch immer dieselben persönlichen, politischen und dynastischen, kirchlichen, konfessionellen und akademischen Verbindungen vor, i n denen Althusius in Herborn seit Ende 1586 — mit den bekannten Unterbrechungen — bis zu seinem Übergang nach 1 Die Selbstbiographie des Heidelberger Theologen und Hofpredigers A b r a ham Scultetus (1566—1624), hrsg. von Gustav Adolf Benrath, Karlsruhe 1966, S. 64, 65, 67 f.
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Emden i m Jahre 1604 gewirkt hatte: Die genannten drei Grafen von Nassau, die seit 1606 nach dem Tode ihres Vaters Johann VI., des Schulgründers 2 , die Verantwortung für die Hohe Schule in Herborn gemeinsam übernommen hatten, waren Althusius wohl gewogen; sie hatten ihn nur ungern aus ihren Diensten ziehen lassen. M i t Johann Piscator, dem führenden Theologen und Rektor der Hohen Schule, stand Althusius jahrelang i n respektvoller kollegialer Verbindung. M i t dem aus Zürich stammenden Christoph Corvinus war Althusius ebenfalls gut bekannt; er überließ i h m seine Schriften zum Druck und Verlag. Heinrich Alting aber hatte er als jungen Theologiestudenten i n Herborn (1602) kennengelernt, und m i t seinem Vater Menso Alting, Pfarrer an der Großen Kirche i n Emden, verband ihn seit 1604 die engste Glaubens- und kirchenpolitische Kampfgemeinschaft. M i t Scultetus selbst sollte A l t h u sius schließlich noch i m Jahre 1623 i n Emden bekannt werden, als Scultetus zum zweiten Nachfolger Menso Altings nach Emden berufen wurde. Man möchte zunächst meinen: Die Welt des Calvinismus war klein; die gelehrten Vertreter der reformierten Bildungsschicht waren persönlich oder jedenfalls akademisch-literarisch allesamt miteinander bekannt. Doch eben die große Wegstrecke, die der pfälzische Hofprediger mit seinen Begleitern nach England und wieder zurück durch die Niederlande und die nassauischen Grafschaften i n die Pfalz durchmessen hat, öffnet dem Betrachter die Augen für die weitreichenden, gesamteuropäischen politischen und dynastischen Verbindungen, deren sich der aufstrebende deutsche Calvinismus damals rühmen durfte. I m Jahr 1580 stand es um die reformierte Sache in Deutschland nicht gut. Aber seit i m Kurfürstentum Pfalz, dem führenden deutschen reformierten Territorium, nach vorübergehender Rückkehr zum Luthertum (1576—1583) das reformierte Bekenntnis wiederhergestellt worden war (1584), erlebte der Calvinismus in Deutschland einen geradezu unaufhaltsamen Aufstieg.3 Die Grafschaften Nassau-Dillenburg, Sayn-Wittgenstein und Solms nahmen das reformierte Bekenntnis noch 1577 an. Seit 1588 war auch das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken reformiert. Seit 1594 führte Friedrich IV. von der Pfalz das Direktorium der evangelischen Reichsstände, — sehr zum Mißvergnügen von Kursachsen, dem damit seine bis dahin unbestrittene Führerrolle entglitt. 1595 traten die beiden 2 Über i h n Karl Wolf, Johann VI., der Ältere, Graf von Nassau-Dillenburg, i n : Nassauische Lebensbilder 2 (1943), 49—65; neuerdings: Gerhard Menk, Graf Johann V I . von Nassau-Dillenburg (1536—1606). Das Leben des G r ü n ders der Hohen Schule zwischen Politik, Religion u n d Wissenschaft, in: Joachim Wienecke (Hrsg.), Von der Hohen Schule zum Theologischen Seminar Herborn 1584—1984, Festschrift zur 400-Jahrfeier, Herborn 1984, S. 5—21. 3 Zusammenfassende ältere Übersicht bei Karl Müller, Kirchengeschichte I I / 2 (81923), § 239.
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Fürsten von Anhalt, der regierende Fürst Johann Georg und sein Bruder Christian von Anhalt, dem reformierten Bekenntnis bei, i n demselben Jahr auch die Grafen von Hanau-Münzenberg i n der Wetterau und die benachbarten Grafen von Isenburg. 1599 ging der Markgraf Ernst Friedrich von Baden-Durlach zur reformierten Konfession über. Und i m neuen Jahrhundert riß die Kette der Erfolge der Reformierten nicht ab: Der Herzog von Liegnitz und Brieg i n Schlesien begünstigte den Calvinismus, 1603 schloß sich i h m auch Graf Philipp von Eberstein i m nördlichen Schwarzwald an, um dieselbe Zeit die Grafschaft Lippe (1605)4 und — dies war ein besonders großer Erfolg — i m Jahre 1605 Landgraf Moritz von Hessen-Kassel. I n seinen bekannten „Verbesserungspunkten" begann er, die Kirche seines Landes allen Widerständen zum Trotz i m Sinne des Calvinismus umzugestalten. 1609 bekannte sich auch der Herzog von Holstein zur reformierten Lehre, und 1610 bildete sich eine von den Niederlanden unabhängige eigene reformierte Synode am Niederrhein. 1613 schließlich trat Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg zur reformierten Konfession über, wobei es sich hier allerdings zeigen sollte, daß der Grundsatz cuius regio, eius religio jetzt nicht mehr in vollem Maße oder gar nicht mehr durchführbar war. 5 Immerhin gehörten seit 1613 zwei der drei protestantischen Kurfürsten der reformierten Konfession an. Die nassauischen Grafen hatten sich damit in ein weitgespanntes politisches System eingereiht, dessen Verbindungen von der Schweiz über Frankreich und die Kurpfalz, die Schutzmacht des Calvinismus i n Deutschland, i n die Niederlande und von dort hinüber bis nach England und Schottland reichten. Und die politischen wurden durch dynastische Verbindungen befestigt: Graf Johann VI. hatte die Tochter des Kurfürsten von der Pfalz zur Frau, und Landgraf Moritz von Hessen war mit den Grafen von Nassau verschwägert. Die Krönung dieser Familienallianzen aber war es, als i m Jahre 1612 der junge Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz die Tochter König Jakobs I. von England zur Frau nahm. Diese Verbindung zwischen Kurpfalz und England wirkte wie ein Triumph des westeuropäischen Calvinismus. I n dem Bewußtsein, zum Widerstand gegen die drei großen gegenreformatorischen Mächte — Papsttum, Haus Habsburg und Jesuitenorden — berufen zu sein, sah er sich für diese Aufgabe nunmehr aufs beste gerüstet.
4 Hierüber zuletzt ausführlich: Heinz Schilling, Konfessionskonflikt u n d Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem u n d sozialem Wandel i n der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe, Gütersloh 1981. 5 Walter Delius, Der Konfessionswechsel des brandenburgischen Kurfürsten Johann Sigismund, i n : Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 50. 1975 (1977), S. 125 ff.
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Dabei war noch immer der alte Grundsatz des konfessionellen Zeitalters in Geltung: Kein Bündnis ohne gemeinsames Bekenntnis. So wie die Gemeinsamkeit von Konfession und Kirche den tragenden Grund und die treibende Kraft für den Aufstieg des politischen Calvinismus gebildet hatte, so setzte sich m i t der Erweiterung der Macht der reformierten Territorien die konfessionelle Annäherung und die Vertiefung ihrer kirchlichen Beziehungen fort. Innerhalb des neuentstandenen Systems stellten die reformierten Territorialkirchen der nassauischen Grafschaften einen kleinen, aber respektablen Faktor dar. Anläßlich der Synode von Dordrecht i m Winter 1618/19 sollte das deutlich zum Ausdruck kommen, als die nassauischen Theologen Seite an Seite mit den Delegierten aus England, Kurpfalz, der Schweiz, Bremen und Emden ihr Votum abgaben. Schließlich aber sind i m vorliegenden Zusammenhang die wichtigen akademischen Verbindungen zu nennen, die sich unter den reformierten Universitäten und Hohen Schulen bildeten.® Jene Jahrzehnte zwischen 1580 und 1620 kamen geradezu einer akademischen Gründerzeit gleich. Innerhalb des Netzes der älteren und neugegründeten Bildungsstätten, das auf der einen Seite von Genf (1559), Basel (reformiert seit 1529) und Heidelberg (reformiert seit 1561) über Sedan (1601) und Saumur (1604) bis nach Bremen (1584, 1610), Burgsteinfurt (1591), Marburg (reformiert seit 1606) und Frankfurt an der Oder (teilweise reformiert seit 1613), auf der anderen Seite aber über Leiden (1575), Franeker (1585) und Groningen (1614) bis hin nach St. Andrews (1582), Dublin (1591) und Aberdeen (1593) reichte, vermochte die Hohe Schule in Herborn in geographischer Mittellage eine nicht geringe Anziehungskraft auszuüben und bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein zu behaupten. II.
Waren es i m Gründungs jähr 1584 zunächst nur 23 Studenten, meist aus der näheren Umgebung Herborns, die sich in Herborn immatrikulieren ließen, so waren es i m nächsten Jahr schon 54, unter ihnen ein Studiosus aus Emden, zwei aus Ostfriesland, ein Däne und ein Schotte. Althusius trug später als Rektor des Jahres 1602/03 84 Studenten i n die Matrikel ein, 7 — keine kleine Zahl, wenn man bedenkt, daß das Professorenkollegium aus nur sechs hauptamtlichen Kräften bestand: zwei Theologen, zwei Juristen und zwei Philosophen, von denen der eine auch für die medizinischen Vorlesungen zuständig war. 8 Es war also ein 6 (Nicht vollständige) Übersichtskarte i m Atlas zur Kirchengeschichte, hrsg. von Hubert Jedin u. a., Freiburg 1970, S. 80. 7 Gottfried Zedier ! Hans Sommer, Die M a t r i k e l der Hohen Schule u n d des Paedagogiums zu Herborn, Wiesbaden 1904, 4—7, S. 36—39.
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enger Rahmen, i n dem sich die akademische Arbeit von Althusius vollzog; kleine und auch kleinliche Verhältnisse des Schulalltags waren es, die ihn in Anspruch nahmen. Die überlieferten Akten, namentlich die Senatsprotokolle und einige Briefkonzepte des Althusius aus seinen beiden Amtszeiten als Rektor (1599/1600 und 1602/03) berichten darüber noch mancherlei 9 , was aber nicht i m einzelnen dargestellt werden muß. Doch dürfte ein wiederholter Überblick über die etwas mehr als 15 Jahre willkommen sein, in denen Althusius in nassauischen Diensten stand. 10 Diese Zeit gliedert sich i n drei unterschiedlich lange Abschnitte: Von Ende 1586 bis Mitte 1592 wirkte Althusius in Herborn, von Frühjahr 1597 bis Sommer 1600 i n Siegen und anschließend bis Sommer 1604 wieder i n Herborn. Bevor der 29jährige Lizentiat der Rechte in Herborn um Weihnachten 1586 seine Vorlesungen begann, dürfte er, wie es die 1609 erneuerten Schulgesetze zur Vorschrift machten, vom Rektor, dem um elf Jahre älteren Theologen Johannes Piscator, öffentlich vorgestellt worden sein. Nach seiner Rede an die Studenten hatte er sich dem Rektor mit Handschlag feierlich darauf zu verpflichten, Lehre und Leben nach dem Wort Gottes und den Gesetzen der Schule auszurichten. Eine nähere Verpflichtung auf das reformierte Bekenntnis wurde ihm dabei aber nicht abverlangt. 11 Als er die von i h m i m Mai 1587 erbetenen 100 Gulden Jahresbesoldung nicht erhielt, gab er sich zwar mit den gewährten 80 „Rädergulden" zufrieden, behielt sich aber die Entscheidung darüber noch vor, ob er unter diesen Bedingungen bis über Michaelis 1587 hinaus bleiben werde. Doch er erhielt dann wohl eine Aufbesserung, denn er blieb. Seit 1588 wurde er als Professor bezeichnet. Noch als Lizentiat tituliert, hatte Althusius zunächst neben der Erklärung der Institutionen eine philosophische Vorlesung zu halten. 12 Jede dieser Kollegstunden mußte er mit einem passenden lateinischen Gebet beginnen und schließen. 13 Abgesehen von diesen Vorlesungen war er nach Bedarf — jeweils am Samstag — zur Abhaltung von öffentlichen Disputationsübungen verpflichtet. 14 Die wenigsten seiner juristischen Disputationsthesen sind 8 Johann Hermann Steubing, Geschichte der hohen Schule Herborn, H a damar 1823, S. 282, cap. V I , 1; Friedrich Zimmer, Die Schulgesetze der Hohen Schule zu Herborn 1584—1609, i n : Festschrift des ev.-theol. Seminars zu Herborn zur Feier des Comenius-Jubiläums 1892, S. 3—31, hier S. 18. 9 Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, A b t . 95, 780 sowie 782, 60—164. 10 Ansprechende Skizze von Alfred Voigt, Johann Althusius i n Herborn und seine „Politica" (1603), i n : 1050 Jahre Herborn. Vorträge zur Geschichte Herborns 1964, Herborn 1965, S. 40—58. 11 Steubing (FN 8), S. 276, cap. I I I , 1; Zimmer (FN 8), S. 14; 1. 12 Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Abt. 95, 391, 3 (Exzerpt des 18. Jh.s). 1S Steubing (FN 8), S. 276, cap. I I I , 2; Zimmer (FN 8), S. 14; 2. 14 Steubing (FN 8), S. 282, cap. V, 7; Zimmer (FN 8), S. 17; 7.
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gedruckt und erhalten; aus den ersten fünfeinhalb Jahren sind es, der Althusius-Bibliographie zufolge, nur zwei. Aber dazu sind neuerdings die interessanten ältesten „philosophischen" Thesen gekommen, die der Schotte Robert Howie (Hovaeus) i m März 1587 unter dem Vorsitz von Althusius vortrug. 1 5 Sie haben mit der üblichen Schulphilosophie augenscheinlich nichts zu tun. Acht Jahre vor dem Erscheinen der „Politica ecclesiastica" Zeppers nahm hier Althusius vielmehr einige politische Grundgedanken seiner „Politica" von 1603 vorweg. I m übrigen erlebte er die Genugtuung, daß bei Corvinus in Herborn zwei Neuauflagen seiner „Jurisprudentia Romana" zum Druck kamen (1588, 1592); dieses sein Lehrbuch war, wie bekannt, zuerst i n Basel erschienen (1586) und dürfte ihn für die Berufung nach Herborn empfohlen haben; i n Basel wurde es inzwischen ebenfalls nachgedruckt (1589).1β Die Hohe Schule hatte i n diesen Jahren einen kontinuierlichen Zuwachs zu verzeichnen. Welche Motive es letztlich waren, die Althusius dennoch dazu veranlaßten, Herborn so bald wieder zu verlassen und an das von Graf Arnold von Bentheim neugegründete Gymnasium i n Burgsteinfurt überzugehen (1592), ist nicht eindeutig zu bestimmen. Man kann fragen, ob er sich i n Herborn trotz seiner Erfolge nicht auch zurückgesetzt fühlen mußte. Jedenfalls wurde das anfänglich jahrelang von Piscator geführte Rektorat, i n dem sich seit 1590 Theologen, Juristen und Philosophen jeweils turnusmäßig abwechseln sollten und tatsächlich abgewechselt haben, nicht etwa ihm übertragen, sondern seinem erst nach ihm (1588) berufenen Kollegen Johannes Goeddaeus.17 Der 34jährige Althusius war beweglich genug, um aus seiner engeren Heimat fort nach Burgsteinfurt zu ziehen. 18 Ja, Althusius war so beweglich, um nach etwa viereinhalb Jahren, Ende 1595 oder Anfang 1596, wieder aus Burgsteinfurt in nassauische Dienste nach Siegen zurückzukehren. Die Hohe Schule war inzwischen i m Sommer 1594 von Herborn nach Siegen verlegt worden. 19 Aber die folgenden Jahre standen unter keinem günstigen Stern: Pest (1596 und 1597) und zuletzt sogar Kriegsgefahr (1598) brachten sie dort der Auflösung nahe. Da wurde endlich zum Sommersemester 1598 ein entschiedener Neubeginn ausgerufen. Das Programm dieses Neubeginns, i m Vorwort eines gedruckten Vorlesungsverzeichnisses in 15 Hinweise u n d Zitate bei Gerhard Menk, Die Hohe Schule Herborn i n ihrer Frühzeit (1584—1660), Wiesbaden 1981, S. 259 f. 16 Althusius-Bibliographie, hrsg. von Hans Ulrich Scupin und Ulrich Scheuner, bearbeitet von Dieter Wyduckel, B e r l i n 1973, Nr. 2, 4, 1, 3. 17 ZedierISommer (FN 7), S. 11, 517. 18 Über seine Tätigkeit i n Burgsteinfurt u n d das D a t u m seiner Rückkehr vgl. jetzt, wonach alle älteren Angaben zu korrigieren sind, Warnecke, A l t husius und Burgsteinfurt, i n diesem Heft. 19 Einzelheiten bei Menk (FN 15), S. 45 ff.; die Angaben über Althusius ebd., S. 48 sind jetzt nach Warnecke zu berichtigen.
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Plakatform enthalten 20 , erscheint für Geist und Gesinnung des K o l legiums der Hohen Schule bezeichnend. Für einen Augenblick möchte man sogar meinen, Althusius könnte dieses Programm abgefaßt haben, und zwar nicht n u r wegen der auffallenden Dichotomien, die sich darin finden 21 , sondern insbesondere wegen des folgenden definitiven Postulats: Scholae officinae
sint hominum
ad vitae
societatem
rite
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parandorum — „Schulen sollen Einrichtungen sein, i n denen die Menschen i n rechter Weise auf das Leben in der Gemeinschaft vorzubereiten sind." Doch lassen sich der ramistische Formalismus und der strenge Moralismus dieses Dokuments ebensowohl auch dem Theologen Piscator zuschreiben, der damals erneut Rektor war. Wie dem auch sei: Althusius stand i n der kollegialen M i t v e r a n t w o r t u n g (Rector et Professores) für dieses Programm; er dürfte es vorbehaltlos gebilligt haben. M i t der betonten Absichtserklärung einer doppelten Reformation, der Lehre und der Sitten, griff dieses Programm ins Grundsätzliche aus: Die Lehre soll dem Leben dienen! Nicht Fabeln, sondern nützliche Dinge, nicht Worte oder Phrasen, sondern gute, ernsthafte Sachen (bonitas rerum, res seriae) g i l t es zu lehren und zu lernen. Moral, P o l i t i k und Historie sind über der Mythologie zu kurz gekommen! Wenn das Erziehungsziel, die Vorbereitung auf das Leben i n der Gemeinschaft, erreicht werden soll, darf man auf ein bestimmtes Zeitalter — gemeint war zweifellos die klassische Antike — und auf bestimmte Autoren — die antiken Redner und Dichter — keine Rücksicht nehmen! 22 I m übrigen sollen die Vorlesungen künftig nur eine Dreiviertelstunde dauern, damit 20 Index Lectionum Scholae Nassovicae Sigenensis aestivo semestri habendarum anni M D X C I I X . Vorhanden: Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, A b t . 95, 1 1750I . Nicht verzeichnet bei: Konrad Schröder, Vorläufiges Verzeichnis der i n Bibliotheken u n d Archiven vorhandenen Vorlesungsverzeichnisse deutschsprachiger Universitäten aus der Zeit vor 1945. I m Manuskript gedruckt. Anglistisches I n s t i t u t der Universität des Saarlandes, Saarbrücken 1964. 21
Lectionum elencho duo j a m praemittenda duximus. De scholae nostrae recollectione unum, alterum de ejusdem reformatione . . . Reformatio erit t u m doctrinae t u m disciplinae, a.a.O. 22 Pestis est scholarum non tarn rerum u t i l i u m quam fabularum j u v e n t u t i praelegere magistros. Lingua verborum phrasiumque copia exornatur, rerum bonitate animus haud instruitur. Autores erant eligendi non solum verbis, sed etiam rebus physicis, ethicis, politicis, historicis referti. Inepti fere ad omnem vitae partem homines ex scholis venientes. Quid mirum? I n u t i l i a i n scholis curiose curantur, u t i l i a non inculcantur. Fabulosi et verbosi autores amantur, moralia et politica scripta negliguntur. De Aeneae ad inferos descensu ex classica schola emissi discipuli m u l t u m fabulari noverunt, de rebus moralibus, politicis et historicis ne fari quidem. Nae t u erras q u i res sérias pueris proponendas negas! A malo isto scholam nostram aliquando liberatam omnino cupimus. Scholae sint officinae h o m i n u m ad vitae societatem rite praeparandorum. Scripta ad finem istum obtinendum maxime apta acceptabimus, nulla aevi autorisque habita ratione. Quod voluimus, ob m u l t a i m pedimenta perficere j a m t o t u m nequivimus. Inceptio nunc, post perfectio, ebd.
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die Hörer ihre Dozenten i n der letzten Viertelstunde über Unklares, Unverstandenes oder Fehlendes befragen können. Den Professoren w i r d dieses Verfahren keinen Nachteil bringen, sofern sie nur Nützliches und Notwendiges (utilia et necessaria) lehren und fruchtlose Feinheiten oder kuriose Sondermeinungen beiseite lassen: „Jeder Professor w i r d nach dem Vortrag seines Lehrstückes sogleich dessen Nutzen und Anwendung darlegen". „Nichts nützt die Wissenschaft, wenn w i r sie nicht richtig zu gebrauchen wissen." Praxis, non theoria studiorum est finis, so lautet zum Schluß die Sentenz.23 Sie summiert die Tendenz: die Ablehnung jeder abstrakten Schulwissenschaft, der einseitigen Hochschätzung der Antike und der Bildungsziele des klassischen Humanismus. Das Vorlesungsverzeichnis selbst ist denkbar knapp gehalten: Ohne Angabe des betreffenden Dozenten — den Namen Althusius sucht man auch hier vergebens —, des Ortes und der Zeit kündigt es juristische Vorlesungen über Buch I und I I der Institutionen und über Buch I, Titel 3 der Pandekten an und dazu, ganz allgemein formuliert, die Behandlung wichtiger juristischer Fragen und Stoffe, sowie mindestens eine Disputation jeden Monat und schließlich eine Übung i m Gerichtsprozeß, wofür i n jeder Woche ein Gerichtstag (dies iuridica) zur Verfügung steht. 24 I m übrigen w i r d aber ganz deutlich, was die betonte Restauration vom Sommer 1598 prägt und trägt: es ist der Ramismus. I n der dritten und vierten Klasse des Gymnasiums w i r d dem Unterricht die dem Ramismus adaptierte lateinische Grammatik Melanchthons (Grammatica Latina Philippo-Ramea) zugrundegelegt. Aber auch im Unterricht der ersten und zweiten Klasse steht die Dialectic a Rami an erster Stelle. Und die philosophischen Vorlesungen haben — neben Physik und Politik — gleichfalls die Dialektik des Ramus zum Gegenstand. Die Forderung praktischen Nutzens der Lehre und das erklärte Bekenntnis zum Ramismus standen m i t der erklärten bildungspolitischen Absicht der gräflichen Regierung in voller Übereinstimmung. 25 Der erwünschte Aufschwung 23
De lectionibus publicis hoc tenendum. Professores publici omnes très horae quadrantes explicationi tribuent, reliquum horae tempus concedent auditoribus u t modeste et sine ulla contentione rogent de obscure dictis, non perceptis aut omissis. N i h i l hinc temporis professoribus decedet, si u t i l i a t a n t u m et necessaria dicant omissis subtilitatibus inanibus et curiosis opinionum collationibus. Doctrina aliqua proposita usum ejusdem et applicationem professor quilibet statim commonstrabit. N i l j u v a t scientia, nisi u t i ea recte sciamus. Praxis, non theoria, studiorum est finis, ebd. 24 LECTIONES P U B L I C A E . . . J U R I D I C A E . Institutionum I m p e r i a l i u m liber primus et secundus. I n explicatione Pandectarum continuabitur ex ordine lib. 1. t i t . 3. Tractatio quaestionum et materiarum illustrium. — E X E R C I T I A . Disputatio singulis mensibus saltern una. Restaurabitur etiam j u d i ciarii processus exercitium forense, cui serviet singulis septimanis juridica dies una, ebd. 25 Dns Doctor Schorei hat auf der studiosorum an vnsern gnedigen hern wegen deß Scoti abgangene supplication referirt, daß S. G. ernste meinung
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erlahmte jedoch schon i m nächsten Frühjahr (1599), als ein Teil der Hohen Schule von Siegen nach Herborn zurückverlegt wurde. Nicht die beabsichtigte Verdoppelung wurde erreicht. Die Teilung hatte vielmehr die Schwächung der Schule zur Folge. 26 Althusius verblieb i n Siegen. Er wurde dort zum Rektor gewählt und am 17. J u l i 1599 i n einem feierlichen Schulakt als solcher proklamiert. 2 7 Als man Althusius im März 1600 nach Herborn zu ziehen versuchte, setzten sich in Siegen nicht nur seine Kollegen, sondern auch Bürgermeister und Stadtschöffen, die ihrerseits von den Handwerksmeistern i m Namen der Bürgerschaft darum gebeten worden waren, beim Grafen für sein Verbleiben ein. Die Kollegen erklärten Althusius für unabkömmlich, weil er neben seiner juristischen auch eine philosophische Vorlesung, juristische und philosophische Übungen und öffentliche und private Disputationen abhalte. Für den Fall seiner Abberufung befürchteten sie geradezu den Zerfall der Hohen Schule in Siegen. Selbst die Handwerksmeister hoben auf die Unentbehrlichkeit eines „ i n Theoria geübten Juristen" ab, „der weniger nit, als diß Orts durch D. Althusen . . . geschehen, die Disputationes vnd andere Exercitia, welche sonst nit Jedermans Werck seind, w o l verdretten könne". Auch habe „vermelter D. Althusen . . . in philosophia mehr Lectiones über sich genommen gehabt und dieselbe schon dem Elencho einverleiben lassen". 28 Doch ihre Bitten fruchteten nichts. Vielleicht gegen seinen Willen wurde Althusius i m Sommer des Jahres 1600 nach Herborn versetzt. Zu seinem juristischen Kollegen Anton Matthäus, den er von Siegen her kannte, blieb hier das Verhältnis kühl; zumindest äußerte sich dieser dahin, „daß seine mores den moribus Althusij nicht respondirten". 29 Aber der angebliche Prinzipienstreit, den Althusius mit den drei Theologen Piscator, Zepper und Martinus Martinius i m Jahr 1601 i n Herborn ausgefochten haben soll, ist kein solcher gewesen. Der Historiker Paul Münch (Essen) hat die älteren, zuletzt von Carl Joachim Friedrich v n d w i l l e sei, daß gemeltem Scoto hinfuro nicht sol gestatet werden, metaphysicam oder anders zudocirn, w e i l Studium metaphysicum so beschaffen, daß es wenig nützt. Z u dem hat auch g. Dns Doctor wegen vnsers gnedigen hern referirt, daß m a n vber Rameam philosophiam (die i n diese Schule recipiirt worden) halten solle v n d iuventutem m i t Aristotelica philosophia nicht t u r b i r n vermug der legum. Senatsprotokoll v o m 16.12.1602, Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, A b t . 95, 782, 110. 28 Menk (FN 15), S. 47—50. 27 Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 95, 151. Zedier/Sommer (FN 7), S. 27. 28 Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 95, 391, 12—20, Zitate: 18 f. 29 Paul Münch, Göttliches oder weltliches Recht? Z u r Kontroverse des J. Althusius m i t den Herborner Theologen (1601), i n : Stadtverfassung, Verfassungsstaat, Pressepolitik. Festschrift für Eberhard Naujoks zum 65. Geburtstag, hrsg. von Franz Quarthai und W i l h e l m Setzier, Sigmaringen 1980, S. 16—32, hier S. 20. 7 RECHTSTHEORIE, Beiheft 7
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1975 noch einmal wiederholten irreführenden Bemerkungen 30 darüber als gegenstandslos widerlegt und vielmehr Folgendes klargestellt: I n der Frage der aktuellen Verbindlichkeit des alttestamentlichen Judizialgesetzes für den reformierten Territorialstaat, — einer Frage, die damals wiederholt den ganzen Calvinismus einschließlich des englischen Puritanismus beschäftigte —, waren Althusius und seine theologischen Kollegen durchaus einer Meinung. Aber gegen zwei Biblizisten unter den Studenten vertrat Althusius ebenso wie die Theologen die Ansicht, daß die einzelnen Verordnungen des mosaischen Gesetzes nur insoweit beachtet werden müßten, als sie mit dem allgemeinen göttlichen Moralgesetz übereinstimmen; i m übrigen dürfe man sich darüber hinaus i n der Jurisprudenz, wie auch i n der Philosophie, die Erkenntnisse der Heiden zunutze machen, die ein Gottesgeschenk an uns seien. 31 Die Meinungsverschiedenheit i n einer untergeordneten Frage — sie betraf das Strafmaß für schweren Diebstahl —, stellte die grundsätzliche Übereinstimmung nicht i n Frage. Der angeblich „ziemliches Aufsehen unter der Elite der Grafschaft Nassau" (C. J. Friedrich) erregende Streit des Jahres 1601 hatte demnach keinen grundsätzlichen Charakter. I m übrigen wurde in diesem Jahr die später noch mehrfach aufgelegte „Civilis conversatio" des Althusius von seinem Vetter Philipp Althusius in Hanau zum Druck gebracht. 32 Ob diese praktische Ethik, eine A r t Anstandsbuch, vielleicht mit seinem Unterricht an der Hohen Schule, etwa in Privatkollegien, i n Zusammenhang steht, ist bisher nicht untersucht worden. Wichtiger als diese Frage erscheint das schon mehrfach erörterte Problem einer positiven Beeinflussung, die Althusius von Seiten der drei genannten Theologen Piscator, Zepper und Martinius empfangen haben könnte: die Frage nach den möglichen Zusammenhängen zwischen der Herborner Föderaltheologie und seiner politischen Vertragstheorie ist jedoch noch nicht schlüssig beantwortet. 33 Die Jahre 1601—1604 sind mit Recht als Blütezeit der Hohen Schule i n ihrer Frühzeit bezeichnet worden. 34 Die Frequenz stieg von neuem an. 80 „Dieser Streit entsprang aus der Frage, ob die Regierung ermächtigt sei, darüber zu entscheiden, w i e w e i t der Wille Gottes i n der Bibel offenbart ist." Carl Joachim Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk i m Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, B e r l i n 1975, S. 26. 31 et quia pura omnia puris, so konnten wier Dona Dei quae ipse nobis per Ethnicos homines praestat, zue vnserm nutz v n d t besten (wie auch i n philosophia beschicht) gebrauchen . . . , Althusius an Barthold Schorey u n d Gerhard M e h n (Herborn, 17. 5.1601), bei Münch (FN 29), S. 32. 82 Althusius-Bibliographie (FN 16), Nr. 8. 38 Trotz zahlreicher suggestiver Aussagen von Theologen u n d Rechtshistor i k e r n erscheint m i r ein vollgültiger positiver Nachweis bisher nicht erbracht. 34 Menk (FN 15), S. 51.
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Auch einer deutlich zunehmenden Zahl juristischer Respondenten durfte Althusius sich jetzt erfreuen. 55 Unter diesen günstigen Voraussetzungen wurde er i m Mai 1602 zum Rektor gewählt und als solcher am 1. J u l i 1602 in einem feierlichen öffentlichen Schulakt vorgestellt.*® ΠΙ. Nachdem sowohl der äußere — politische, kirchlich-konfessionelle und akademische — als auch der innere und engere Rahmen der akademischen Arbeit von Althusius i n Herborn gekennzeichnet ist, gilt es, anhand seiner lateinischen Rede „De utilitate, necessitate et antiquitate scholar u m " 8 7 die Leitgedanken über Sinn und Zweck der Wissenschaft und der Schule aufzuzeigen, von denen Althusius bei seiner Lehrtätigkeit ausging. Seit jeher hat man diese Rede als seine Rektoratsrede bezeichnet, und sie darf wohl auch dafür gelten. Leider enthalten die Senatsprotokolle des Jahres 1602/03 keine Nachricht darüber, wann sie gehalten wurde. Das Vorwort, das Althusius anläßlich der ersten Drucklegung an den jungen Magister Tobias Mierbeek aus Antwerpen, Sohn des Handelsherrn Michael Mierbeek aus Middelburg, richtete, ist vom 23. August 1603 datiert. 58 Aber an diesem Tag ist die Rede keinesfalls vorgetragen worden. Die Amtszeit von Althusius endete am 24. Juli; am 25. Juli 1603 folgte ihm turnusgemäß der Philosoph und Mediziner Johannes Pincier i m Amt. 3 9 Zwar ist es denkbar, daß Althusius seine Rede am Ende seiner Amtszeit anläßlich der Rektoratsübergabe vortrug, — ein derartiges Beispiel für zwei solcher Reden, die am gleichen Tag, die eine von dem scheidenden, die andere von dem sein A m t antretenden neuen Rektor, gehalten wurden, ist für Herborn aus dem Jahr 1595 bezeugt. 40 Aber ebensowohl käme als Abfassungszeit auch der Beginn der Amtszeit i m Juli 1602 i n Betracht. Eine Anrede und entsprechende Hinweise oder Anspielungen auf Datum, Ort und Hörerschaft fehlen zwar, doch wahrscheinlich wurde die Rede i m J u l i 1602 oder aber 1603 vor versammelter Hoher Schule i n der Aula gehalten. Die Tatsache, daß sich Althusius auf das rhetorische Genus der mahnenden Lobrede (admonitio panegyrica; commendatio; laudatio) ver85
Zedier/Sommer (FN 7), S. 712 f. M i t t e i l u n g des Senats an Graf Johann V I . (Herborn 29.5.1602): H a u p t staatsarchiv Wiesbaden, Abt. 95, 152; Zedier/Sommer (FN 17), S. 36. 87 De utilitate, necessitate et antiquitate scholarum admonitio panegyrica; sie ist den Ausgaben der Politica beigefügt, vgl. Althusius-Bibliographie (FN 16), Nr. 11—18. 38 Es ist n u r i n der 1. Auflage 1603 (Althusius-Bibliographie Nr. 11) enthalten (S. 3 f.), später jedoch weggelassen. 39 Zedier/Sommer (FN 7), S. 39. 40 Vgl. Menk (FN 15), S. 151, A n m . 109. 38
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legte, hat bei den rhetorisch gebildeten Hörern von damals den Genuß dieser Hede gewiß gesteigert. Die Leser von heute werden diesen Umstand eher i n Kauf nehmen, als daß sie i h m ein besonderes Vergnügen abgewinnen können. Doch es lohnt sich, hinter dem rhetorischen Schmuck etwas von der Sache aufzudecken, um die es Althusius ging. Und man darf sich dazu um so eher ermuntert fühlen, als in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts i m protestantischen Deutschland, wie es scheint, nur etwa ein Dutzend solcher lateinischen Lobreden gedruckt worden sind, die das Universalthema „Universität" und „Hohe Schule" so oder anders variiert haben: De causis quare instituantur Academiae, De dignitate, necessitate , utilitate et iucunditate scholarum; De academiarum officio; De suavitate vitae academicae und wie diese Variationen auch immer lauten. Der Jurist Nikolaus Reusner i n Jena verstieg sich übrigens zu der Formulierung: „Neque salutem extra ecclesiam neque vitam extra Academiam esse/"41 Althusius hat diese Reden wohl allesamt nicht gekannt, — eine einzige ausgenommen, die ihrem Gehalt nach seiner eigenen recht nahekommt: die Inauguralrede des reformierten italienischen Theologen Hieronymus Zanchi, eines strengen Vertreters der calvinischen Orthodoxie, der zuvor in Heidelberg wirkte. Zanchi hatte sie einst i m Jahre 1578 anläßlich der Eröffnung der reformierten Hohen Schule i n Neustadt an der Haardt gehalten, als in der Kurpfalz (1576— 1583) infolge jener vorübergehenden Wiedereinführung des Luthertums Neustadt die Rolle einer Gegenuniversität zu Heidelberg zugedacht war, — ein Unternehmen, dessen Zwecksetzung sich aber dann schon nach wenigen Jahren von selbst erledigte (1583). Zanchis Thema lautete: De aperiendis in ecclesia scholis deque opera sacrarum literarum studiis cumprimis danda. 42 Der enge Zusammenhang zwischen Hochschule, K i r che und Heiliger Schrift, wie er nicht nur für den Theologen Zanchi, sondern auch für das gesamte Zeitalter der Reformation bezeichnend war und für die lutherische und die reformierte Orthodoxie bezeichnend bleiben sollte, findet sich auch bei Althusius wieder. Die Motive des schulgründenden Calvinismus waren dort wie hier ganz dieselben. Wörtliche Zitate entnahm Althusius der Rede Zanchis nicht. Ja, es findet sich bei ihm noch nicht einmal ein Hinweis auf die Rede Zanchis, obgleich er sie nachweislich kannte. 43 Wohl aber gab Althusius einen Hinweis auf zwei zeitgenössische Bücher, i n denen das Universitätswesen behandelt war: auf Jakob Middendorpius, De celebrioribus universi terrarum orbis 41 Wilhelm Erman/Ewald Horn, Bibliographie der deutschen Universitäten, Leipzig u n d B e r l i n 1904, N D Hildesheim 1965, Nr. 270—284, dazu Nachtrag 1, 284 n. 42 Nicht bei Erman/Horn. Vgl. G. A. Benrath, Neustadt an der Haardt u n d seine Hohe Schule (Casimirianum) vor 400 Jahren, i n : Pfälzer Heimat 1978, S. 91—96. 43 Friedrich (FN 30).
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academiis libri duo (11567, 51602) und auf das Theatrum vitae humanae des Basler Professors Theodor Zwinger, des gefeierten Polyhistors, den Althusius während seiner Basler Studienzeit kennengelernt hatte. 44 Anders als es die drei Stichworte i m Titel (utilitas, necessitas, antiquitas) eigentlich erwarten lassen, ist die Admonitio panegyrica nach dichotomischer Manier in zwei gleichgroße Teile geteilt: im ersten werden Nützlichkeit und Notwendigkeit, i m zweiten w i r d das alte Herkommen der Schulen dargelegt. Auf diese Weise sollte die Würde (dignitas) des Gegenstandes angemessen begründet und gefeiert werden, wie es dem genus panegyricum entspricht. Diese beiden Hauptteile sind umschlossen von einer kurzen Einleitung, die auf die Motivation des Redners eingeht, und von einem Schluß, in dem die Applikation in Gestalt der Ermahnung (admonitio) beherrschend hervortritt, während ein verhältnismäßig ausführliches Gebetsvotum das Ganze beschließt. 45 Bereits in der Einleitung w i r d die grundlegende Überzeugung deutlich, auf der die gesamte Rede beruht: Studium und Schule dienen dem Aufbau der Kirche Gottes und des Staatswesens; sie befestigen das Reich Gottes auf Erden, sie erhöhen den Ruhm und die Herrlichkeit des göttlichen Namens, und sie bringen dessen Größe zur Kenntnis und feiern sie. Christenpflicht ist es daher, alle Kräfte, Fähigkeiten und Bemühungen auf Studium und Schule zu verwenden. 46 Die Schulen sind Werkstätten der Frömmigkeit und der Tugenden und ein Pflanzgarten der Kirche und des Staates: pietatis et virtutum officinae seminariumque Ecclesiae et Reipublicae. 47 Ein reformierter Theologe hätte die Notwendigkeit von Studium und Schule gewiß nicht anders entfaltet als hier der reformierte Jurist i m Hauptteil seiner Rede. Althusius beruft sich nämlich auf die Heilige Schrift: Infolge des Falles der ersten Menschen — durch eigene Schuld — ist das Licht der göttlichen Weisheit und Erkenntnis größtenteils verlorengegangen. Jetzt gilt es, die fehlenden Fähigkeiten, soweit möglich, wiederzuerlangen, was dem Menschen aus eigener Kraft aber unmöglich ist. Gott hat jedoch i n seiner Barmherzigkeit eingegriffen 44
Admonitio panegyrica 4603, S. 44 u n d 31614 ( = N D Aalen 1961), S. 1001 f. Disposition (nach s 1614): Einleitung, S. 969 f.; 1. Hauptteil, S. 970—985; 2. Hauptteil, S. 985—1002; Schluß, S. 1002 f. — Die Darstellung i m folgenden bezieht sich auf den T e x t von UöOS, die Belege werden nach 81614 ( = N D 1961) zitiert. Bemerkenswert ist es, daß Althusius den ursprünglichen Text von 1603 u m ein Fünftel erweitert hat. Bei diesen Erweiterungen i n 31614 handelt es sich meist u m die Vermehrung von Beispielen und Belegstellen, insbesondere innerhalb des 1. Hauptteils. 48 N a m si hisce studiis, quae i n scholis excoluntur et discuntur, Ecclesia Dei et Respublica aedificatur, continuatur et ad posteros transmittitur, regnumque Dei i n hisce terris stabilitur, erigitur et nominis d i v i n i gloria, majestas et amplitudo cognoscitur et celebratur, quis Christianus non i n ea omnes suas vires, facultates et operam lubens conferret? Admonitio panegyrica 31614, S. 970. 47 Ebd. 45
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und hat durch Christus die Menschheit aus der Herrschaft des Satans befreit, und zur Wiederherstellung ihrer geistigen Fähigkeiten gibt er ihr als Mittel die Wissenschaft und, vor allem, sein göttliches Wort an die Hand, mit dessen Hilfe i n den Schulen die Kenntnis des Willens Gottes und Christi des Erlösers vermittelt wird. Ihre wissenschaftliche Erkenntnis aber — ein besonderes Geschenk Gottes — haben die ersten Menschen mit Hilfe ihrer Wahrnehmung, Beobachtung, Erprobung und Erfahrung aus den unwandelbaren Prinzipien der Natur gewonnen. 48 U m die Nützlichkeit des Studiums und die köstlichen Früchte der Schule aufzuzeigen, zählt Althusius sodann i n dreigestufter Folge die einzelnen Wissenszweige (artes) auf, das sind — abgesehen vom grundlegenden Lesen und Schreiben — (1) Arithmetik, Geometrie und Musik, Rhetorik und Logik, sodann (2) die verschiedenen Gebiete der Naturwissenschaft (physica) einschließlich Astronomie und Medizin und zuletzt (3) die beiden höchsten „praktischen" Wissenschaften fartes practicae) Theologie und Jurisprudenz. 4® Eine jede Stufe und jeder Wissenszweig hat seine Bedeutung. Jeder von ihnen führt mittelbar oder unmittelbar auf Gottes Schöpfung oder zu Gott selbst hin: Ohne die Kenntnis von Lesen und Schreiben lägen die Überlieferung aus der Vergangenheit (histonae) und die Wissenschaft (artes) gänzlich danieder, und die meisten Wunder und Taten Gottes wären ohne sie unbekannt. M i t Hilfe von Arithmetik und Geometrie durchmißt der Mensch die Räume des Kosmos und gelangt so zur Erkenntnis der Werke Gottes. Die Naturwissenschaft (rerum naturalium scientia seu Physica) gibt sodann Kunde vom Wesen und von den Eigenschaften, die Gott dem Menschen, den Tieren und allen übrigen Wesen verliehen hat, und sie lehrt, welche K r a f t (virtus) und Wirkung (operatio) jeweils als natürlich (naturalis) und welche als außernatürlich (praeternaturalis) angesehen werden muß. 50 Daß i n dieser, hier harmlos gebrauchten dichotomischen Unterscheidung eine folgenreiche, das biblischaristotelische Weltbild allmählich auflösende, zersetzende Sprengkraft enthalten war, hat Althusius nicht geahnt. Für ihn stand es fest, daß die Möglichkeit der Einsicht i n den Zusammenhang der Natur ganz so, wie vom Apostel Paulus in Römer 1 und 2 beschrieben, auf den Willen Gottes und auf seine Offenbarung zurückzuführen war: diese ihre vernünftige Einsicht führte die Heiden nur eben dahin, ihnen die Augen für den 48 A r t i u m cognitionem peculiar! Dei beneficio, p r i m i i l l i homines hauserunt ex immotis naturae principiis, sensu, observatione, inductione et experient i a . . . , ebd., S. 971. 49 Ebd., S. 972—977. 50 Haec r e r u m naturas et proprietates docet, quae sit hominis, quaeque bestiae et caeterarum rerum omnium, quae caelo, m a r i terraque continentur, natura a Deo Ulis indita, quae virtus, quae operatio naturalis, quae praeternaturalis, ebd., S. 975.
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Willen Gottes zu öffnen, so daß ihnen die Unentschuldbarkeit ihres gottwidrigen Verhaltens bewußt werden mußte. Die Gläubigen aber, an ihrer Spitze David und Salomo und andere Weise, haben darüber hinaus voll Bewunderung für die Herrlichkeit, die Nützlichkeit und die Notwendigkeit der Schöpfung das Lob der Weisheit und Macht ihres Schöpfers gesungen.51 Theologie und Jurisprudenz, die beiden obersten Wissenschaften, erscheinen Althusius schließlich notwendiger für die Welt als selbst die Sonne und die Elemente. Ja, er greift hier zum Stilmittel der rhetorischen Frage und der Personifikation: „ D u heilige, verehrungswürdige Theologie, was wären wir, was wäre das Leben der Menschen ohne dich gewesen? Du hast uns erstmals wieder zur Gottesverehrung berufen .. ." 5 2 „Du aber, Politik und Jurisprudenz" — wie Althusius mit dem für ihn bezeichnenden Hendiadyoin sagt — „hast Städte begründet und hast die zerstreuten Menschen zum Leben in der Gemeinschaft (societas vitae) berufen, . . . du bist die Erfinderin der Gesetze und die Meisterin der Sitten gewesen." 53 Leben und Gemeinschaft der Menschen sind demnach ohne Wissenschaften undenkbar. 54 Das glücklichste und seligste Leben ist ein solches Leben, in dem w i r — das ist hier von Althusius ganz i m Sinne Calvins zum Ausdruck gebracht — Gott und uns selbst erkennen und unserer göttlichen Berufung gemäß leben. Ein Leben solcher A r t ist aber nicht möglich ohne Schule und ohne zuverlässigen Unterricht, der die Heilige Schrift zur Grundlage hat. Das Studium der Heiligen Schrift wiederum verlangt, ebenso wie das der Wissenschaften, das Erlernen der alten Sprachen, die Kenntnis der Philosophie, „dieses Gottesgeschenks", wie Althusius erneut sagt, der Philologie und der Geschichte, und es verlangt auch die Lektüre der heidnischen, nichtchristlichen Schriften. Es gilt also, nach dem Vorbild Augustins, die weltliche mit der geistlichen Bildung zu vereinen. 55 51
Ebd. . . . quid non modo nos, sed omnino vita hominum, sine te esse potuisset? T u nos p r i m u m ad Dei c u l t u m revocasti, t u ab animo nostro, tanquam ab oculis caliginem dispulisti, t u v i t i a extrahis, et praeparas animos ad satus percipiendos, ebd., S. 976. 58 T u urbes peperisti, t u dissipatos homines i n societatem vitae convocasti . . . T u i n v e n t r i x legum, t u magistra m o r u m et disciplinae fuisti, ebd. 54 excellentissima bona, sine quibus vita et societas humana nunquam stetit neque imposterum ne per momentum quidem stare potest, ebd., S. 977. 55 Sine fideli institutione scholastica et a r t i u m cognitione quis praeter Apostolos i l l u d facere potuit? Discendae sunt linguae veteres, i n quibus doctrina de Deo traditur. Addenda est Philosophiae cognitio, quam Dei donum veteres Theologi etiam dixerunt. Addenda ratio disserendi, tropicas locutiones a propriis cognoscendi et distinguendi, notitia historiarum et a n t i quitatis conjungenda, cognoscenda judicia aliorum doctorum, ethicorum scripta etiam legenda . . . exemplo A u g u s t i n i . . . Mosis, Josephi, Salomonis, Danielis, q u i mundanam eruditionem cum divina conjunxerunt, ebd., S. 978. 52
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Althusius schätzt damit, bei aller seiner Betonung der Priorität der Heiligen Schrift, die gesamte geistige Tradition hoch ein, und zwar sowohl die theologische Tradition von Augustin bis auf Bernhard von Clair vaux, als auch die juristische Tradition, als deren Vertreter er Papinian, Ulpian, Scaevola, Paulus Africanus, Modestinus und Pomponius mit Namen nennt. Und was wäre die Medizin ohne Galen und Hippokrates? Die Konzilien von Toledo und Vienne haben recht daran getan, die Hohen Schulen zu fördern. 56 Nach einem eindrucksvollen Katalog von gelehrten antiken und biblischen Wohltätern und Regenten der Menschheit und von königlichen Förderern der Wissenschaft und der Gelehrten 57 erinnert Althusius schließlich an das Beispiel Deutschlands: I n der Reformationszeit wurden zugleich mit den Wissenschaften (bonae artes et disciplinae) auch das Studium der Hl. Schrift, der richtige Gottesdienst und die wahre Lehre wiederhergestellt, die unter dem Papsttum i m Reich der Finsternis viele Jahre hindurch unterdrückt und entstellt worden waren. 58 Dies alles läßt den allgemeinen Schluß zu: Sobald die Schulen zerfielen, hatte auch die staatliche Gemeinschaft keinen Bestand; wurden sie aber gepflegt, dann gelangten die Reiche zu höchster Blüte.5® Wo der Schulunterricht, die Keimzelle der Frömmigkeit und der Tugend und der Pflanzgarten des Staates und der Kirchen, fehlt, dringen der Atheismus, der Epikureismus und das Reich der Finsternis vor. 6 0 Das alte Herkommen der Schulen, auf das Althusius i m zweiten Hauptteil seiner Rede zu sprechen kommt, begründet er erneut mit einem Rückgriff auf die Bibel, die für i h n unbezweifelbar die älteste und zuverlässigste Geschichtsquelle der Menschheit darstellt. 61 Die religiöse Unterweisung Abels durch seinen Vater Adam bezeichnet er als die erste häusliche und private Schule. Unterricht und Unterweisung sind von großer Bedeutung. Denn nach dem Apostel Paulus (Römer 10,14) kommt 56
Ebd., S. 978 f. Ebd., S. 979—982, 982—984. 58 Quando Ecclesia Romana ad tantam defecit barbariem doctrinae, m o r u m et religionis? N i m i r u m , postquam scholae aut penitus neglectae fuerunt, aut sane barbaris sophistarum literis corruptae . . . Adhuc est ob oculos exemp l u m Germaniae: i n hac simul cum bonis artibus et disciplinis, p a t r u m nostror u m memoria Studium sacrarum l i t e r a r u m etiam restitutum et integritas cultus d i v i n i et Veritas, quae sub Papatu i n regno tenebrarum per multos annos pressa corruptaque erat, ebd., S. 984 f. 69 N i m i r u m , u t deletis vel neglect is scholis, nulla Respublica d i u stetit aut stare potuit, sie excultis illis regna florentissima plurima extiterunt, ebd., S.985. 80 Si doctrina scholarum est officina pietatis et v i r t u t u m , seminarium Reipublicae et ecclesiae, q u i d a l i u d privatio harum, quam atheismus, epicureismus, et regnum tenebrarum?, ebd., S. 985. 81 ex sacra scriptura, quae o m n i u m historiarum antiquissima et certissima est, ebd. 57
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der Glaube aus dem Hören des Wortes Gottes und aus dem Unterricht; der Glaube ist nichts, was uns angeboren ist. 62 Althusius ist hier weit davon entfernt, über die Möglichkeit positiver natürlich-vernünftiger Gotteserkenntnis zu reflektieren, geschweige denn ihr eine solche Bedeutung beizumessen, wie es Hugo Grotius zwei Jahrzehnte später in seiner weitverbreiteten kleinen Schrift „De veritate religionis Christianae" tat. Die ersten öffentlichen Schulen wurden nach Althusius von Mose und Aaron eingerichtet. I n der Folgezeit wurden die Leviten zu ordentlichen, die Propheten zu außerordentlichen Lehrern bestimmt; beide lehrten Theologie und Jurisprudenz. 68 Und wiederum so, als läge i n dieser Doppelheit kein fundamentaler Gegensatz, bestanden nach Meinung des Althusius auch die Schule der Pharisäer und die Schule Jesu und der Apostel nebeneinander: hier wie dort wurden Mose und die Propheten unterrichtet. 64 I n weitem Bogen schlägt Althusius schließlich die Brücke von den Schulen der apostolischen und nachapostolischen Zeit über die Kathedralschulen des frühen Mittelalters bis zur Gegenwart 65 , da Gott in seiner Barmherzigkeit auf außerordentliche Weise andere Lehrer erwählt hat, durch die er dem eingerissenen antichristlichen Mißbrauch der Schule entgegenwirkt, — bedauerlich nur, daß den von den frommen Kaisern eröffneten Akademien nicht sogleich auch gehörige Kirchengüter zugewiesen worden sind! I n Summa: Gott hat dem Menschengeschlecht nichts Besseres, Vorzüglicheres und Blühenderes geschenkt als Schulen, in denen wir, von allen übrigen Dingen abgesehen, uns selbst und unseren Gott, den Schöpfer, Erhalter, Erlöser und Heiligmacher, kennenlernen. Wissenschaft und Tugend sind wahre Reichtümer, wie sie Indien, Ägypten und Amerika, ja die ganze Welt nicht liefern können. I n demselben Maß wie die Güter der Seele die Güter des Leibes übertreffen, sind die Schulen wertvoller und wichtiger als alle übrigen Dinge. 66 Darum müssen w i r Schulen eröffnen und erhalten, sind sie doch 82 Fides enim non nobiscum nascitur, sed ex auditu verbi Dei et institutione generatur, Rom. cap. 10.14., ebd., S. 986. 83 quid aliud illo tempore scholas quam officinas pietatis et v i r t u t u m et seminarium Ecclesiae et Reipublicae fuisse existimabimus? . . . Fuerunt ergo Scholae et Synagogae illae Theologicae et Juridicae: i n quibus etiam quae nunc philosophica vocamus, tradebantur, ebd., S. 992. 64 I n hisce utrisque scholis Moses et Prophetae, hoc est, lex moralis, forensis, judicialis et ceremonialis, una cum historiis legebantur ex explicabantur, ebd., S. 994. 05 Ebd., S. 997—1002. 88 Scholis a Deo generi humano n i h i l melius, n i h i l praestabilius, n i h i l florentius datum est. I n Scholis enim una nos, t u m caeteras res omnes, t u m quod difficillimum, didicimus, u t nosmetipsos nosceremus, imo et ipsum Deum nostrum creatorem, conservatorem, redemptorem et sanctificatorem . . . Sunt i g i t u r haec bona vera bona, sunt tales divitiae et opes, quas non India, neque Aegyptus, vel America, imo ne totus quidem mundus dare potest. Quanto enim animi bona sunt praestantiora bonis corporis, tanto etiam Scholae sunt praestantiores et rebus omnibus caeteris excellentiores, ebd., S. 1002.
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„die Tür, durch die Christus bei uns Eingang findet". 8 7 I n seinem Gebetsvotum faßt Althusius Begründung und Zwecksetzung von Wissenschaft und Schule schließlich zusammen: „ A u f diese Weise w i r d dein Bild, das durch den Fall Adams zerstört ist, wiederhergestellt, und dein Reich wird erweitert. Laß nicht zu, daß über der Wut und dem Toben deiner Feinde der Schlüssel der Erkenntnis i n Gestalt frommer Schulen verlorengeht und daß die reiche, heilbringende Lehre von Christus deinem Sohn in I r r t u m und Finsternis begraben wird, während die Zügellosigkeit der Sünde und das Reich des Teufels zur Herrschaft kommt. Schaffe vielmehr, daß dem Teufel und deinen Feinden zum Trotz durch diese deine Werkstätten der Pflanzgarten der Kirche und des Staates, welcher die Herberge der Kirche ist, erhalten b l e i b t . . ."®8 Die einzelnen Elemente dieser Theorie fügen sich glatt aneinander: Die enge Verknüpfung des Schulwesens mit Kirche und Staat und der Wissenschaft mit Frömmigkeit und Tugend, die ungebrochene Überzeugung von der Priorität der Heiligen Schrift und der göttlichen Offenbarung als Grundlage menschlicher Erkenntnis, die entsprechende Bewertung der Theologie als der höchsten unter allen Disziplinen, die Hochschätzung der Tradition und das Verständnis der außerbiblischen Erkenntnis als eines Gottesgeschenks — gleichsam einer Offenbarung zweiten Ranges —, die Anschauung vom Unterricht als einem Prozeß zur Heilung des Schadens, den die Menschheit beim Sündenfall erlitten hat, und der Weg, auf dem sie zur Selbsterkenntnis, zur Gotteserkenntnis und zur Wiederherstellung ihres göttlichen Ebenbildes gelangen kann, die ungebrochene, kaum variierte Ordnung der alten sieben freien Künste, die Einheit des gleichermaßen vom Alten wie vom Neuen Testament bestimmten Geschichtsbildes, das Verständnis der Reformation als des Aktes der Reinigung der Lehre und der Wiederaufrichtung der Kontinuität der guten, alten Tradition und schließlich die Auffassung vom geistigen Ringen der Gegenwart als der letzten Runde im Endkampf zwischen Gott und dem Teufel, — alle diese Elemente weisen i n dieselbe Richtung. Wie es bereits der breite äußere Rahmen seiner akademischen Arbeit vermuten ließ, der von der allgemeinen politischen und kirchlich-konfessionellen Lage seiner Heimat bestimmt war, und wie 67 scholas, scholas, inquam, harum o m n i u m officinam et portam, qua Christus ad nos ingreditur, aperiamus et conservemus atque hisce totos nos excolendos et sanandos tradamus . . . , ebd., S. 1003. 80 Ita imago tua per lapsum A d a m i corrupta restaurabitur, et regnum t u u m amplificabitur. Ne permittas i n hac u l t i m a m u n d i senecta, furore et rabie hostium tuorum, u t sublata clave cognitionis, scholis piis, pura et salutaris doctrina de Christo filio tuo erroribus et tenebris involvatur, licentia peccatorum et regnum diaboli vigeat. Fac potius, ut per has tuas officinas, i n v i t o Diabolo et hostibus tuis, seminarium Ecclesiae et Reipublicae, quae illius hospitium est, conservetur . . e b d . , S. 1003.
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es auch der vom Geist und von den Gesetzen der Hohen Schule bedingte engere, innere Rahmen seiner Lehrtätigkeit i n Herborn forderte, war Althusius i n seiner Theorie von Wissenschaft und Schule durch und durch von den Anschauungen seiner Zeit geprägt, des Zeitalters der Orthodoxie und des Konfessionalismus. Bis über die Mitte des 17. Jahrhunderts hinaus, solange seine Politica und mit ihr zusammen auch die Admonitio panegyrica nachgedruckt und gelesen wurden, blieb diese Theorie, die er sich problemlos zu eigen gemacht hatte, lebendig und anerkannt. Erst als sich mit dem Vordringen des natürlich-vernünftigen Denkens Wissenschaft und Schule von der Tradition und den Autoritäten zu lösen begannen, verfiel sie allmählich dem Verdikt, altertümlich und rückständig zu sein.
H A T A L T H U S I U S I N MARBURG STUDIERT? Von Heinz Holzhauer, Münster I n dem A r t i k e l „Althusius (Althaus, Alphusius), Johannes" der 1964 erschienenen 1. Lieferung des „Handwörterbuchs zur Deutschen Rechtsgeschichte" 1 gibt Frau G. Schubart-Fikentscher zum Werdegang folgende Stichworte: „Ausbildung: imm. Marburg 1578, Artistenfakultät Köln, RWiss. Basel 1581 ff., Genf 1586, Promotion Basel 1.7.1586". I m selben Jahr 1964 erschien i n der Festschrift für Hans Liermann aus der Feder von Hans Thieme der Beitrag „Die Basler Doktorthesen des Johannes Althusius" 2 . Darin heißt es: „Uber den Bildungsgang von Althusius ist nur soviel bekannt, daß er sich erstmals 1578 in Marburg immatrikulieren ließ, daß er 1581 i n K ö l n Aristoteles studierte . . . " usw. Schubart-Fikentscher und Thieme sind die frühesten Autoren, die einen Marburger Althusius kennen. Dagegen beginnt Erik Wolf i n der 1963 erschienenen 4. Auflage seines Standardwerkes „Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte" den Bericht über den Bildungsgang noch wie folgt: „Nach absolvierten Vorstudien an der Kölner Artistenfakultät ging der junge Althusius 1581 nach Basel." Die Quelle der zuerst 1964 verbreiteten Nachricht dürfte das bereits 1904 bei Elwert in Marburg erschienene „Personen- und Ortsregister zu der Matrikel und den Annalen der Universität Marburg 1527 bis 1652" sein, das Wilhelm Falckenheiner bearbeitet hat. I n dem Personenregister ist auf Seite 3 ein „Althaus, -hus, -husius Joh. (Ditentzhausensis) P. 1578" aufgeführt. M i t „ P " hat Falckenheiner diejenigen Namen gekennzeichnet, für die aus seiner Quelle hervorgeht, daß der Träger unter dem angegebenen Datum am Pädagog immatrikuliert wurde. Danach wäre also Joh. Althusius aus Diedenshausen i m Jahre 1578 i n das Marburger Pädagog eingetreten. Dieses war von Philipp dem Großmütigen i m Jahr 1527 zugleich mit der Universität gegründet und dieser sozusagen vorgegliedert worden. Der an der Spitze stehende Pädagogiarch hatte nach den Statuten ein Professor zu sein. Die enge Verbindung des Pädagogs mit der Universität erklärt die Erfassung der Neuzugänge in ein und demselben Register. 1 Herausgegeben von A. Erler u n d E. Kaufmann, mitbegründet von W. Stammler , I. Bd., B e r l i n 1971, Sp. 142. 2 Erlanger Forschungen Reihe A, Bd. 16, 1964, S. 297 ff.
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Der erste Schritt zur Überprüfung von Falckenheiners Angabe mußte zu der Matrikel selbst führen, aus der Falckenheiner sein Register gearbeitet hatte. Die alte Matrikel der Universität von 1527—1628 war von 1872 an i n 14 Einzelheften als „Universitätsprogramm" zu den Gedenktagen Kaiser Wilhelm I. von dem damaligen Professor der Eloquenz und Philologie K a r l Julius Caesar unter dem Titel „Catalogi Studiosorum Scholae Marpurgensis antiquissimi", Marburg 1872—86, herausgegeben worden 3 . Die Elwertsche Verlagsbuchhandlung (W. Braun) i n Marburg veranstaltete außerdem noch eine Ausgabe dieser 14 Programme i n vier Teilen mit dem Gesamttitel: „Catalogus studiosor u m scholae Marpurgensis per annos 1527—1628 descriptus ed. Jul. Caesar, Marb. 1875—1887"4. Von dieser Edition erschien mit dem Titelblatt „Catalogus studiosorum scholae Marpurgensis edidit Julius Caesar, pars prima" — also ohne Gesamttitel — „Marburgi 1875" ein fotomechanischer Nachdruck i m Jahre 19805. Pars tertia dieses Nachdruckes enthält die Jahre 1571—1604 und auf Seite 33 zum Jahr 1579 die Eintragung, wonach sich am 11. Juni ein Ioannes Althusius immatrikuliert hat, aber mit der Ortsangabe „Monasteriensis". Dies ist natürlich nicht der bekannte Althusius. N u n ist der Nachdruck von 1980 ebenso wie seine Vorlage, die Caesarsche Edition, deswegen keine zuverlässige Quelle, weil sie ihre Vorlage bewußt nicht vollständig wiedergibt. I n seiner Einleitung zu pars I I I sagt Caesar: „ . . . quod nomina puerorum in paedagogium receptorum inde a medio anno M D L X X V I paucis insignioribus exceptis omisimus"®. Demgemäß ist zum Jahr 1577 den Namen der ins Pädagog Aufgenommenen die redaktionelle Bemerkung vorangestellt: „E paedagogicorum numéro, ne nominum moles nimis accresceret, iam eos tantum afferre constitusmus, qui aut ob patriam aut ob familiae nobilitatem aut ob ipsorum famam insigniores esse videntur. Huius generis e centum viginti sex hoc loco inscripti sunt" 7 . Für das Jahr 1578 stehen 88 Namen solcher, die i n die Universität aufgenommen wurden, 87 pädagogici gegenüber, unter denen sich ein Althusius nicht befindet. Dagegen findet sich i m Original der i m Staatsarchiv Marburg erhaltenen Matrikel 8 zum Jahre 1577 unter den „Paedagogici oblati clarissimo et praestantissimo Viro D. M. Paedagogiarcha 8 Vgl. Hermelink-Kaehler, Die Philipps-Universität zu Marburg, 1527 bis 1927, M a r b u r g 1927, N D 1977, S. 1. 4 So die Angabe bei Falckenheiner, a.a.O., S. X I . 5 Reprint, Nedeln/Liechtenstein. • Neudruck, pars I I I , v o r S. 1 (nicht paginiert). 7 Neudruck, S. 22. 8 StA M R 305 a I I 4.
Hat Althusius i n Marburg studiert?
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Iohanne Ferinario" unter dem 13. A p r i l ein „Johannes Althaus Ditentzhausensis". Von biographischem Interesse dürfte es sein, daß Althusius offenbar mit seinem späteren Schwager zusammen nach Marburg gekommen ist, denn auf den Eintrag seines Namens folgt in der Matrikel unter demselben Tag: „Johannes Cunradus Neurad Heuchelhemensis". Der bekannte Althusius war also jedenfalls i m Sommersemester 1577 Schüler des Marburger Pädagogs. Wie lange er in Marburg war, kann aus Marburger Quellen nicht entnommen werden, weil Abgänge ebensowenig verzeichnet sind wie Übertritte vom Pädagog zur Akademie. A n dem Zustandekommen der irrtümlichen Datierung ist vielleicht noch dies von Interesse, daß K a r l Julius Caesar i m Jahr 1882 Althusius nicht zu den „ob ipsorum famam insigniores" gerechnet hat, die er von seiner Kürzung ausnehmen wollte; wahrscheinlich hat er Althusius gar nicht gekannt. Da Falckenheiner die Auslassungen Caesars nicht grundsätzlich ergänzt hat, sondern nur aus gegebenem Anlaß hinter dessen Edition auf das Original zurückgegangen ist, zeigt die Aufnahme eines „Althaus Joh. (Ditentzhausensis)" an, daß ihm unser Althusius inzwischen bekannt geworden war. War doch 1882 die Biographie Otto von Gierkes erschienen, die auf Althusius erst wieder aufmerksam gemacht hat". Nur verwechselte Falckenheiner die beiden Eintragungen der Jahre 1577 und 1578, indem er sie durcheinanderwarf und den bekannten Althusius fälschlich dem Jahre 1578 zuordnete.
9 Otto von Gierke , Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorie, Gierkes Untersuchungen, Bd. 7, 1880.
STUDENT SEIN — VOR 400 JAHREN Ein Dokument der „Hohen Schule" Herborn Von Heinrich Janssen, Melle Die Stadt Herborn begeht i n diesem Jahr das 400jährige Bestehen ihrer „Hohen Schule", nach ihrem Begründer, dem Grafen Johann VI. von Nassau-Dillenburg (1536—1606) auch „Johannea" genannt. 1818 wurde diese Akademie i n ein Theologisches Seminar der Ev. Kirche i n Hessen und Nassau umgewandelt. Sie war eine unprivilegierte Anstalt, d. h. sie konnte keine akademischen Grade vergeben. Und das hatte folgenden Grund: Johann V I . (ein Bruder übrigens Wilhelms von Oranien, des Befreiers der Niederlande) war zum Calvinismus übergetreten, und dieser war bekanntlich .in der Zeit nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555 und vor dem Westfälischen Frieden 1648 reichsrechtlich nicht mit dem Luthertum und dem Katholizismus gleichberechtigt. Trotzdem wurde die Johannea eine der bedeutendsten Akademien dieser Zeit i n Europa und genoß internationales Ansehen. Berühmte Wissenschaftler standen bei der Gründung dem Grafen zur Verfügung: der Theologe Wilhelm Zepper, Verfasser der 1595 erschienenen „Politia ecclesiastica", der Grundlage reformierter und auch puritanischer Kirchenrechtswissenschaft, Johann Piscator, der langjährige Rektor der Hohen Schule, Verfasser vieler Bibel-Kommentare und der „Piscator-Bibel", einer eigenwilligen deutschen Übersetzung der Heiligen Schrift, und Caspar Olevian, Mitverfasser des „Heidelberger Katechismus" (1563), der einzigen Bekenntnisschrift der Reformierten i n Deutschland. Dazu kam dann als wohl bedeutendster Gelehrter der Jurist und Theologe Johannes Althusius, dessen „Politica methodice digesta" (erste Auflage 1603 in Herborn) weltberühmt wurde — das erste politikwissenschaftliche Werk der Moderne, dessen Gedanken der Volkssouveränität und Repräsentation die Voraussetzung unserer modernen Demokratie sind. Diese Herborner Akademie wurde dann das Vorbild mancher anderer protestantischer Anstalten, etwa i n Burgsteinfurt, Bremen, Danzig, Wesel und Hanau. Sie selbst nahm sich als Vorbild neben der Genfer Akademie Calvins das Straßburger „Gymnasium Illustre" des bekannten Pädagogen Johannes Sturm (1507—1589). So hat die Johannea mit 8 RECHTSTHEORIE, Beiheft 7
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dieser gemeinsam die Verbindung des universitären Bereichs mit einer A r t gymnasialer Oberstufe (dem sog. Pädagogium) — i n gewisser Weise also vergleichbar mit der Bielefelder Laborschule von Hartmut von Hentig, mit dem Unterschied freilich, daß i n Herborn beide Bereiche stärker voneinander abgegrenzt waren als i n Straßburg. Übrigens studierte hier i n Herborn von 1611—1613 auch Jan Arnos Comenius. Über i h n schreibt der Marburger Archivrat Dr. Gerhard Menk: „Vieles von dem, was bei Comenius bisher für neu oder gar als Utopie angesehen wurde, hatte er i m Herborner Schulalltag praktisch erlebt und dieses lediglich beschrieben." Wie sah nun konkret ein solcher Schulalltag an der Hohen Schule i n Herborn aus? Darüber erfahren w i r einiges aus einem Dokument, das ich nachstehend in Übersetzung aus dem Lateinischen vorlege. Und zwar handelt es sich dabei u m das Vorlesungsverzeichnis der Herborner Hohen Schule aus dem Jahre 1598. Dazu muß man wissen, daß die Johannea mehrfach aus verschiedenen Gründen nach Siegen verlegt wurde, so zum ersten Male schon zehn Jahre nach ihrer Gründung 1594. I m Jahre 1596 wurde der gesamte Universitäts- und Schulbetrieb durch eine Pest i n Siegen völlig lahmgelegt. Und jetzt das Dokument aus dem Jahre 1598: „Der Rektor und die Professoren der berühmten Nassauisch-Siegener Schule den Lesern zum Gruß! W i r glaubten, w i r müßten jetzt dem Vorlesungsverzeichnis zwei Punkte vorausschicken, einen über die Wiederherstellung unserer Schule, den zweiten über ihre Reform. Die Pest, die durch einen Urteilsspruch Gottes i m vorigen Jahre Siegen überfiel, sprengte die Schule auseinander. Indes war der erlauchte und barmherzige Graf von Nassau und Herr, Johann der Ältere, unser allergnädigster Herr, entsprechend seiner einzigartigen Fürsorge um Schulen und Kirchengemeinden besorgt und bemüht, irgendwie die Schule zu erhalten. Etliche Grundbestandteile zur Wiederherstellung der Siegener Schule ließ er teils i n Dillenburg, teils i n Herborn festhalten. Durch die einzigartige Barmherzigkeit Gottes hat nun die Pest vor einigen Monaten Siegen verlassen. Also sind die Reste der Schule auf Anweisung unserer erlauchten und allergnädigsten Herren nach Siegen zurückgekehrt. W i r machen demgemäß bekannt und bezeugen es allen, daß die Siegener Schule und Kommunität wiederhergestellt ist. Die Studenten und Schüler, die sich dorthin begeben, werden die gebührende Fürsorge und Sorgfalt der Professoren und Lehrer erfahren. A u f das die Ansteckungsgefahr geringer sei, ist jede nur menschenmögliche Sorgfalt und Vorsicht angewandt worden. Unser
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erlauchter und allergnädigster Herr hat den Auftrag gegeben: die Studenten sollen i n den Häusern, die von der Pest befallen waren, nicht eher aufgenommen werden, bevor nicht feststeht, daß diese und die Betten ausreichend gesäubert sind. Jetzt einiges zur Reform: Es w i r d das eine Reform sowohl der Lehrweise als auch der Disziplin sein. Ausführlicher sprechen darüber die Gesetze, die w i r i n Kürze veröffentlichen werden. Zum Zweck dieser Reform werden vornehmlich untersucht: die Auswahl der Bücher, die durchgenommen werden — der weltlichen, versteht sich —, die Gewandtheit der Lehre und Auslegung sowie die Häufigkeit der Übungen. Betreffs der Bücher muß man eine größere Sorgfalt anwenden als gemeinhin üblich. Es ist eine Pest für die Schulen, wenn die Lehrer der Jugend nicht so sehr nützliche Dinge vortragen als vielmehr Mythen (fabulae). Die Sprachkenntnis w i r d zwar von einer Fülle von Vokabeln und Phrasen bereichert, aber der Geist w i r d nicht über die Qualität (bonitas) der Gegenstände unterwiesen. Es müssen deshalb Schriftsteller ausgewählt werden, die nicht allein angefüllt sind mit Wörtern, sondern auch m i t naturwissenschaftlichen, ethischen, politischen und historischen Inhalten. Menschen, die die Schulen verlassen, sind fast für jede Rolle (pars) i m Leben ungeeignet — was Wunder! U m unnütze Dinge kümmert man sich i n den Schulen mit großer Sorgfalt, aber nützliche bleut man nicht ein. Mythenreiche und geschwätzige Autoren liebt man, aber moralische und politische Schriften vernachlässigt man. Über den A b stieg des Aeneas i n die Unterwelt wissen die Schüler, die aus einer klassischen Schule entlassen sind, viel zu schwätzen, über moralische, politische, ethische und historische Gegenstände nicht einmal zu sprechen. Wahrhaftig, man irrt, wenn man sagt, ernsthafte Stoffe dürften den Jungen nicht vorgetragen werden! W i r wünschen, daß unsere Schule endlich ganz und gar von diesem Übelstand befreit sei. Schulen sollen Werkstätten sein, um Menschen zur Gesellschaft des Lebens (societas vitae) richtig vorzubereiten. Diejenigen Schriften werden w i r akzeptieren, die zur Aufrechterhaltung dieses Ziels besonders geeignet sind, ohne Rücksicht auf Zeit und Verfasser. Was w i r vorhatten, das konnten w i r wegen mannigfacher Hindernisse jetzt nicht vollkommen vollenden. Aber jetzt ist es ein Anfang, später die Durchführung. Über die Disziplin: Sie w i r d strenger sein als bisher. Strenger, nicht grausamer! Lehrer, die prügeln, lehnen w i r ab, aber w i r wollen solche, die eifrig darauf bedacht sind, die Jugend bei ihren Sitten und Studien genau zu beobachten und sie ernstlich zu leiten und zu verbessern. Wie erwünscht ist das für fromme Eltern und für junge Leute, welche die Ehrbarkeit lieben! Eine Laschheit i n der Disziplin bringt folgendes β*
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Ergebnis hervor: Die Schulen schwelgen (luxantur), die Schüler verfallen i n Ausgelassenheit (luxuriantur). Gegen so viele Übel gibt die Disziplin ein Korrektiv. Es gibt eine doppelte Kraft, die Disziplin zu lenken und beizubehalten: die private Inspektion und die öffentliche Zensur. W i r wollen, daß alle Schüler des Pädagogiums private Lehrer und Inspektoren haben. Die Aufgabe eines Inspektors soll nicht allein darin bestehen, die i h m anvertrauten Schüler zu festgesetzten Stunden zu unterrichten, sondern auch ihren Lebenswandel und all ihre Handlungen zu Haus und draußen soweit wie nur möglich zu beobachten. Ein Inspektor soll nicht zulassen, daß seine Schüler ihre Zeit verbringen mit unangemessener Freizeit, mit Schlaf, Gelagen, Zechereien und mit Hinundherfliegen bei Tag und Nacht. Ohne Zustimmung des Inspektors dürfen die Schüler kein Geld ausgeben. Diejenigen, für die die Eltern keine Pädagogen beköstigen können, sollen sich anderen anvertrauen, nämlich bescheidenen und vom Rektor oder von den Lehrern i n den Klassen gebilligten Studenten. Die Eltern werden diese Aufwendungen nicht zu bereuen haben. Denn von dem Geld, das eine unbesonnene Jugend sonst ganz unnütz ausgibt, davon einen kleinen Teil für einen Pädagogen zu zahlen, das w i r d ja ein großer Gewinn sein für den Erwerb von Ehrbarkeit und Bildung. Um Unbemittelte w i r d sich der Senat der Schule kümmern. Die zweite Säule der Disziplin ist die zweimal jährlich abzuhaltende Zensur. Da w i r d gewissenhaft untersucht, mit welchen zusammen die einzelnen Schüler leben, sich aufhalten und wohnen und welches Maß und welche Ordnung sie bei ihren Studien beachten. Betreffs der öffentlichen Vorlesungen muß man folgendes festhalten: Alle öffentlichen Professoren werden je Dreiviertel einer Stunde der Textauslegung widmen; die restliche Zeit der Stunde werden sie den Hörern zur Verfügung stellen, damit diese bescheiden und ohne Erbitterung Fragen stellen nach dem, was unverständlich vorgetragen, noch nicht verstanden oder ausgelassen wurde. Daraus w i r d den Professoren keine Zeit verloren gehen, wenn sie nur Nützliches und Nötiges (utilia et necessaria) vortragen und dabei eitle Subtilitäten und pedantische Vergleiche weglassen. Wenn er eine Lehrmeinung vorgetragen hat, w i r d jeder Professor sofort ihren Gebrauch (usus) und ihre Anwendung (applicatio) aufzeigen. Wissen nützt ja gar nichts, wenn w i r es nicht richtig zu gebrauchen wissen. Praxis, nicht Theorie ist das Ziel der Studien!
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Verzeichnis der Vorlesungen der Nassauischen Schule in Siegen, die im Sommersemester des Jahres 1598 abgehalten werden I . Öffentliche Vorlesungen 1. In der Theologischen
Fakultät
Vorlesungen: Das 4. Buch Moses Der Brief des Paulus an die Römer Die Behandlung von theologischen Allgemeinplätzen (loci communes) Hebräisch Ausführliche Darlegung praktischer Regeln über die Erbauung u n d L e i t u n g einer Kirchengemeinde Übungen: Je einmal i m Monat werden zwei Disputationen abgehalten werden, geschrieben oder gedruckt. Ubungshalber werden wöchentlich zwei Predigten gehalten werden. A n Feiertagen u n d gelegentlich an Sonntagen w i r d einer auf Lateinisch predigen, und zwar aus dem Gedächtnis. A n Sonntagen w i r d eine Zusammenk u n f t (collatio) abgehalten werden über irgendein Buch der Schrift, eingerichtet besonders zum Zweck, daß außer einer vertrauten Kenntnis der biblischen Texte dunklere Stellen d a r i n ausgelegt werden und daß die Jugend lernt, sichtbar werdende Widersprüche (antilogiae) zu verbinden. 2. In der juristischen
Fakultät
Vorlesungen: Das erste und zweite Buch der „Institutiones Imperiales". Bei der Auslegung der Pandekten schließt sich ordnungsgemäß an Buch I, Tit. 3. Übungen: I n jedem Monat wenigstens eine Disputation. Wieder anfangen w i r d auch die Ü b u n g eines öffentlichen Prozesses vor Gericht; i h r w i r d i n jeder Woche ein Gerichtstag dienen. 3. Philosophische
Fakultät
Vorlesungen: Naturwissenschaft Politik Die D i a l e k t i k des Ramus Eine historische Abhandlung (tractatio) Das erste Buch der Ilias des Homer Übungen: Disputationen i n der Logik, i n den Naturwissenschaften u n d solche gemischten Inhalts, öffentliche u n d private. Redeübungen (declamationes) j e nachdem, wie Zeit dafür ist.
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I I . Lektionen in den Klassen 1. Gemeinsame Lektionen
für alle Klassen
Bibellektüre zugleich m i t einer Untersuchung der Sachen u n d Worte, sodann der theologischen Gemeinplätze der christlichen Lehre Der Heidelberger Katechismus, entweder vollständig oder i n einer K u r z fassung Die Sonntäglichen Evangelien auf Griechisch und Lateinisch, bevor das Gotteshaus an den Sonntagen besucht w i r d Musik Arithmetik Lateinische Stilübungen entsprechend dem Auffassungsvermögen der Schüler, sowohl i n Prosa als auch i n gebundener Rede, i n den höheren Klassen auch auf Griechisch. 2. Besondere Lektionen
der Prima
Die D i a l e k t i k des Ramus Grundlagen des Hebräischen Z w e i Abendmahlspredigten des Nathanael Nesekius Die historische Synopse des Beurer(us) Der Brief des Paulus an die Hebräer auf Griechisch Buchanan Grammatik, Rhetorik u n d L o g i k w i r d ausgiebig i n allen Lektionen u n d Repetitionen geübt werden Disputation über die Gesetze der L o g i k u n d m i t Hinzufügung von leichteren naturwissenschaftlichen, ethischen, politischen u n d historischen Fragen Eine Redeübung muß wenigstens einmal i m Monat vorgetragen werden V o n den Kundigeren w i r d irgendeiner aus dem Gedächtnis und ohne Vorbereitung (ex tempore) einen kleinen Vortrag halten über ein Thema, das i h m vertraut ist, das er den vorher gehaltenen Lektionen e n t n i m m t 3. Besondere Lektionen
der Sekunda
Die D i a l e k t i k des Ramus Die Rhetorik des Talaeus Griechische G r a m m a t i k Briefe Ciceros ad familiares Buch I I I Die Paraphrase der Psalmen des Buchanan A u f Griechisch der Brief des Paulus an Titus 4. Gemeinsame Lektionen
der Tertia und Quarta
Die Lateinische Philippo-Ramaea-Grammatik Der Nomenciator des Adrianus Junius
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der Tertia
Spinaeus, De t r a n q u i l l i t a t e a n i m i Praktische Paraphrase des Heidelberger Katechismus Rhetorische Grundlagen aus dem ersten Buch des Talaeus Buch V der Colloquia des Corderius Grammatik : Griechische Formenlehre (etymologia) 6. Besondere Lektionen
der Quarta
Buch I I der von Sturm ausgewählten Briefe Die „Disticha Catonis" m i t den Anmerkungen von Sturm Buch I I der Colloquia des Corderius Das griechische Alphabet u n d die Schreibweise 7. Klasse
Quinta
Die Flektionen der Wörter aus dem Erstunterricht der Lateinischen Grammatik Leichtere von Sturm ausgewählte Briefe Leichtere colloquia aus Buch I der Colloquia des Corderius Der Nomenciator des Adrianus Junius Fragstück aus dem Heydelbergischen Catechismo Sonntägliche Evangelia etc. Außerhalb dieser Ordnung: L e k t ü r e auf Französisch"
Dazu noch einige Bemerkungen: I n der Mitte des Vorspruchs ist die Rede von „Gesetzen, die w i r i n Kürze veröffentlichen werden". Falls diese heute noch auffindbar wären in den Archiven (z. B. i n Wiesbaden), könnte man aus ihnen sicherlich mehr über die 1598 beabsichtigte Schul- und Universitäts-Reform erfahren. Soviel ist jedoch schon jetzt deutlich: Die Herborner wollen weg von einem „humanistischen" Schulbetrieb i n dem Sinne, daß man die klassischen Schriftsteller liest aus rhetorischen und aus aesthetischen Gründen oder aus Interesse an antiken Mythen; man w i l l vielmehr eine Schule, die den Schülern nur das beibringt, was „der Nutzen und die Notwendigkeit" erfordern („necessitas et utilitas" — diese Redewendung findet sich bei Althusius dutzende, wenn nicht hunderte Male!). Die übliche „klassische" Schule macht die Menschen untüchtig zu jeder „vitae societas"; zu jeder „vita symbiotica" w i r d Althusius einige Jahre später schreiben. Dazu einige Fragen: Ist diese Wendung zum Utilitarismus und zur Praxis das Ergebnis der Ramistischen Philosophie, die, wie das Vorlesungsverzeichnis bezeugt, diese Hohe Schule (und darüber hinaus weite Teile des Calvinismus überhaupt) beherrscht mit ihrer Betonung der Praxis und der Wendung zur induktiven Methode? Oder kündet sich hier auf dem
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Gebiet der Pädagogik langsam schon der Pietismus an? Wie verhalten sich die Erziehungsziele der Herborner Akademie zu denen des Comenius? Wie verhalten sie sich zu den gerade damals sich so prächtig entwickelten Jesuiten-Schulen? Wichtig scheint m i r i n dem Vorspann auch das Monitum an die Professoren, wie sie dozieren sollen. Ob ich alles richtig übersetzt habe, weiß ich nicht. Zum Beispiel lautet der letzte Satz des Verzeichnisses „Lectio Gallicae linguae exraordinaria", Das könnte man auch übersetzen: „außer der Reihe Vorlesung in französischer Sprache" (es studierten sehr viele Ausländer i n Herborn!). Die i m Vorspann erwähnten „praeceptores classici" habe ich mit „Lehrer i n den Schulklassen" (im Gegensatz zu den Professoren des universitären Bereichs) übersetzt. Oder ist etwas anderes gemeint? Die Unterrichtssprache war i n allen Klassen Lateinisch. Nur i n der Quinta — heute etwa unserer Klasse Obertertia entsprechend — wurde wohl zuerst Deutsch gesprochen. Darauf weisen i m Vorlesungsverzeichnis dieser Klasse die deutschen Worte hin „Fragstück aus dem Heydelbergischen Catechismo. Sonntägliche Evangelia etc.". Von den i m Text erwähnten Wissenschaftlern konnte ich wegen meiner unzureichenden Bibliothek nicht finden den Nathanael Nesekius, den Beurer(us), den Talaeus und den Adrianus Julius. Ramus ist der damals berühmte antiaristotelische (besser wohl: anti-scholastische und anti-metaphysische) Philosoph Petrus Ramus (Pierre de la Ramée), geb. 1515, als Anhänger Calvins 1572 in der Bartholomaeusnacht ermordet, bekannt wegen seiner Dialektik — die mit der Hegels nur den Namen gemein hat — und der Betonung der induktiven Methode. Buchanan (Gregorius Buchananus, 1506—1582) gehört zu den sog. Monarchomachen". Berühmt war besonders sein 1579 i n Edinburgh erschienenes Buch „De jure regni apud Scotos dialogus". Johannes Spinaeus (1505?—1597) (l'Espine) schrieb das i m Vorlesungsverzeichnis für die Tertia vorgesehene Buch „De tranquillitate animi" i m Jahre 1591 — sieben Jahre später war es schon Schullektüre. Man sieht (wie auch bei der Buchanan-Lektüre), wie modern diese Schule war! Bei den Briefen Sturms, die i n den Klassen Quarta und Quinta gelesen werden sollen, handelt es sich sicherlich nicht um solche des Jakob Sturm, des führenden Straßburger Politikers und Freundes Calvins (1489—1553), sondern um Briefe von Johann Sturm, dem großen Humanisten und Begründer der Straßburger Hohen Schule. Als diese Anstalt zur Akademie erhoben wurde, verfaßte Sturm programmatisch „epistulae classicae". I n der Quinta, also i m Lateinischen Anfangsunterricht, sollen auch Sturms A n merkungen zu den „Disticha Catonis" durchgenommen werden. Dieses Buch (heute meist unter dem Titel „Dicta Catonis" zitiert) ist eine Sammlung vulgärethischer Verse mit verbindender Prosa aus der Spät-
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antike, i m Mittelalter viel gelesen und viel kommentiert. Maturinus Corderius (1479—1561) lehrte am Collège de la Marche i n Paris — auch Calvin war da sein Schüler — und verfaßte „Colloquia" für den lateinischen Elementarunterricht, die in den nächsten Jahrzehnten an vielen Schulen benutzt wurden. Die altsprachlichen Anforderungen des Pädagogiums i n Siegen und Herborn waren übrigens sehr hoch: es konnte, wie ein früherer Schüler der Herborner Hohen Schule am Ende seines Lebens in seiner Autobiographie schrieb, nur der von der Prima in den universitären Bereich „promoviert" ( = versetzt) werden (also gleichsam das A b i t u r bestehen), der sich fehlerfrei der lateinischen und griechischen Sprache zu bedienen wußte.
D I E NIEDERLANDE I N DER „ P O L I T I C A " DES JOHANNES ALTHUSIUS Von O. Moorman van Kappen, Nijmegen I . Z u r Einführung
Z u seinen Lebzeiten hat Althusius so zahlreiche und vielgestaltige Verbindungen mit den Niederlanden unterhalten — beruflich-politische und kirchliche, aber auch wissenschaftliche und private, wie z. B. die mit seinem Freund Ubbo Emmius (1547—1625), der zwar aus Ostfriesland gebürtig war, seit 1595 jedoch ständig i n der Stadt Groningen wohnte und arbeitete —, daß das Thema „Althusius und die Niederlande" sich demzufolge i n sehr verschiedenen Richtungen ausarbeiten ließe. Angesichts der Tatsache, daß anläßlich dieses Symposions die politische Theorie des Althusius im. Mittelpunkt steht, wurde dieser Beitrag auf die Rolle der Niederlande i n seiner Politica beschränkt. I n welchen Abschnitten dieses Werkes erscheinen die Niederlande auf der Bildfläche, in welchem Rahmen und zur Illustration welcher Bestandteile der i n dieser Darstellung entfalteten politischen Theorie werden sie vom Verfasser angeführt? Aus welchen Quellen schöpfte Althusius dabei und i n welchem Maße wurde das politische Gedankengut des Althusius durch die politischen Ereignisse i n den Niederlanden seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, namentlich durch ihren sog. Freiheitskampf, beeinflußt? Schon wegen des Mangels an eingehenden Vorstudien wäre es eine Illusion zu meinen, alle diese Fragen grundlegend beantworten zu können. I m allgemeinen wurde i n der niederländischen Literatur bisher vor allem dem „Nachleben" der Politica Aufmerksamkeit gewidmet 1 . I m folgenden w i r d daher nur beabsichtigt, einige erste Überlegungen zu den oben genannten Fragen auszuführen. I I . D i e Niederlande i n der „Praefatio" der zweiten und dritten Auflage der Politica
Was die Rolle der Niederlande in der Politica anbetrifft, wurde schon mehrmals auf das den Provinzialständen der niederländischen Provinz 1 Vgl. z. B. E. H. Kossmann, Politieke theorie i n het zeventiende-eeuwse Nederland, Amsterdam 1960 (Verhandelingen der K o n i n k l i j k e Nederlandse Akademie van Wetenschappen, afdeling Letterkunde, nieuwe reeks, deel L X V I I no. 2), S. 104 s. ν. „Althusius, J.".
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Friesland gewidmete Vorwort verwiesen, welches Althusius der zweiten (1610) und dritten (1614) Ausgabe seiner Politica hinzufügte 2 . Dies geschah nicht nur aus verständlichen politischen Gründen 3 , sondern auch als eine A r t Dankbezeugung für den Ruf an die friesische Akademie zu Franeker, den er einige Jahre zuvor erhalten, jedoch höflichst abgelehnt hatte 4 . I n diesem Vorwort behauptet er unter anderem, der Fürst sei nur Verwalter und Lenker der Hoheitsrechte (jura majestatis), deren Eigentum und Nießbrauch dem ganzen Volke — im Sinne eines symbiotischen, aus mehreren kleineren Gesellschaften zusammengesetzten Körpers — zustehe. I n diesem Zusammenhang w i r d von ihm sodann das „lobenswerte Beispiel" der genannten und der übrigen konföderierten niederländischen Provinzen angeführt, weil diese, als sie den Krieg gegen den sehr mächtigen König von Spanien aufnahmen, keineswegs der Meinung gewesen seien, daß die Hoheitsrechte letzterem so untrennbar anhafteten, daß sie außerhalb seiner Person gar nicht existierten. Indem die niederländischen Provinzen dem König, der mit diesen Rechten Mißbrauch trieb, ihren Gebrauch und ihre Ausübung wegnahmen und sie als die ihrigen zurückforderten, hätten sie, so fährt Althusius fort, gerade zum Ausdruck gebracht, daß die genannten Rechte „der vereinigten Volksmenge" (consociata multitudo) — d.h. der zu einer politischen Lebensgemeinschaft zusammengeschlossenen Volksmenge — und dem Volke der einzelnen Provinzen zuzurechnen seien. Man könnte sich bereits hier fragen, ob und inwieweit diese Vorstellung der acta et gesta der (Stände der) aufständischen niederländischen Provinzen — welche der politischen Lehre des Althusius, besonders hinsichtlich der Stellung des summus magistratus als mandatarius des Volkes 5 , tatsächlich sehr wohl entspricht — durch den Einfluß eines späteren, i m Anfang des 17. Jh. vorherrschenden Bildes des Aufstandes überformt worden ist. Auf diese Frage w i r d jedoch später eingegangen werden®. Althusius gibt in demselben Vorwort kurz darauf noch einen weiteren Grund an, der ihn dazu bewogen habe, die zweite und dritte Auflage 2 Vgl. zuletzt: Theo Veen, Van Vranck tot K l u i t . Theorieën over de legitimatie van de soevereiniteit der Staten Provinciaal (1587—1795), i n : Freonen om ds. J. J. K a l m a hinne. Studzjes, meast oer Fryslân, foar syn fiifensantichste jierdei, L j o u w e r t [Leeuwarden] 1982, S. 302—324, besonders S. 305. 3 Dazu: H.W. Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden, A u r i c h 1955 (Abhandlungen u n d Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands, Heft 32), S. 143 (auch erschienen als Dissertation K ö l n 1954). 4 „ . . . quando ante aliquot annos me ad illustris et percelebris vestrae Academiae Franequeranae professionem j u r i d i c a m honestis sane conditionibus vocare dignati estis". 5 Vgl. u. a. Politica X I X , 12, X X I V , 40 u n d X X X V I I I , 126. 6 Vgl. infra § I X .
Die Niederlande i n der „Politica" des Althusius
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seiner „politischen Überlegungen" an die friesischen Stände zu adressieren. Da heißt es, daß er i n diesem Werke „sehr oft" (saepissime) versucht habe, zur Aufhellung politischer Vorschriften auch „von Euch" — d. h. von den Friesen — Beispiele anzuführen, welche er ihren Städten, Verfassungen (constitutiones), Gewohnheiten und historischen Überlieferungen ebenso wie denen der übrigen konföderierten „belgischen", d. h. niederländischen, Provinzen entnommen habe. Jeder, der die zweite und insbesondere die dritte Auflage der Politica auch nur durchgeblättert hat, weiß, daß es sich i n diesem Punkte nicht bloß um eine Höflichkeitsphrase handelt. I I I . Dichotomie der die Niederlande betreffenden Beispiele
Es ist meines Wissens indessen bisher noch nie versucht worden, alle diese den Niederlanden entnommenen Beispiele systematisch nachzuprüfen und zu analysieren. Aus einem ersten flüchtigen Versuch i n dieser Richtung, dem die dritte und verbreitetste Ausgabe der Politica zugrunde gelegt wurde, ergab sich, daß man diese Beispiele, deren Zahl sich auf etwa zwanzig beläuft, i n zwei Gruppen einteilen kann: einerseits diejenigen, welche zur Unterstützung wesentlicher Elemente der i n diesem Werke niedergelegten politischen Lehre des Althusius dienen, andererseits diejenigen, bei denen das nicht der Fall ist und die sich prima vista nur auf Nebensächlichkeiten oder doch auf Einzelheiten beziehen. Die letzteren mögen hier außer Betracht gelassen werden 7 . Bei allem Vorbehalt, dem eine solche konkrete subjektive Einteilung unterliegt, lassen sich meines Erachtens die bezüglich der Grundzüge der Althusischen Lehre wichtigsten den Niederlanden entnommenen Beispiele vorwiegend i n den Kapiteln V I I I , X V I I I , X I X , X X X I , X X X I I I und X X X V I I I finden. I m nachstehenden w i r d erst eine Kurzübersicht über diese Stellen gegeben (§ IV—VII), worauf noch einige bewertende Bemerkungen folgen (§ V I I I — X ) . I V . Verhältnis zwischen Landesherren und Provinzialständen
I m achten Kapitel, wo Althusius die Provinzialverfassung behandelt, werden die Niederlande i n den Paragraphen 5, 40, 50, 51, 60, 65, 66 und 69 erwähnt, meistens mittelbar i n der Form einer Verweisung auf das bekannte, unter mehreren Titeln erschienene Werk über die 7 So z.B. Politica X I I I , 8, w o die niederländischen Umsatzsteuern (sog. „imposten" u n d „accijnsen") bezüglich bestimmter Verbrauchsgüter als Beispiel einer „außerordentlichen" Steuer genannt und von Althusius sogar empfohlen werden. Z u diesen Steuern: J. G.van Dillen, Van r i j k d o m en regenten. Handboek tot de economische en sociale geschiedenis van Nederland tijdens de Republiek, Haag 1970, S. 272 ff. Andere — noch weniger bedeutendere — Beispiele bieten Politica X V I I , 32 u n d 43 dar.
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Ο. Moorman van Kappen
Geschichte der Niederlande des Emanuel van Meteren (1535—1612)8. Die Paragraphen 51 und 60 können hier übrigens wiederum außer Betracht bleiben, weil sie i n beiden Fällen eine Einzelheit bzw. eine Nebensächlichkeit betreffen. I m ersteren Fall nennt er die Stadt Groningen unter den Hauptstädten, denen „einst" (aliquando) die „Präfektur" und Verwaltung einer ganzen Provinz aufgetragen war 9 . I m letzteren lobt Althusius beiläufig die öffentlichen Werkstätten für arme Bürger und deren Kinder i n Brabant, Flandern, Holland, Seeland und anderswo i n den Niederlanden — womit zweifelsohne die damals i n den Niederlanden aufkommenden sog. Zucht-, Spinn- und Rasphäuser gemeint sind — als musterhafte und nachahmenswerte Institutionen 1 0 . Wie sehr diese Stelle i m Hinblick auf die Geschichte der Strafen auch von Bedeutung sein mag, angesichts der politischen Lehre des Althusius betrifft sie nur eine Nebensache. I n den übrigen genannten Paragraphen handelt es sich um die Provinzialstände, ihre Zusammensetzung, ihre Aufgaben und i h r Verfahren sowie um ihre Zusammenarbeit mit dem „Präses" einer Provinz (praeses provinciae) und dessen Befugnisse und Aufgaben i m Hinblick auf den Landtag. I n diesem Zusammenhang sei namentlich auf Paragraph 50 verwiesen, wo Althusius behauptet: „ I n schwierigen Geschäften, die das Gefüge der ganzen Provinz betreffen, nämlich von Krieg und Frieden, der Auflage von Kontributionen, der Veröffentlichung allgemein gültiger Gesetze und Dekrete sowie in anderen" — angeblich gleichbedeutenden — „Fällen w i r d dieser Präses ohne Zustimmung und Zusammenkunft der Stände der Provinz nichts unternehmen." Unter Hinweis auf Van Meteren 11 fährt er fort: „Ein Beispiel dafür bieten die belgischen Provinzen . . . Der Präses pflegt mit diesen Ständen Frieden und Eintracht; auf diese Weise stärkt er seine Stellung." 8 Vgl. § V I I I . Daneben verweist Althusius gelegentlich auch auf die „Beschreibung aller Niederlande" von Guicciardini (vgl. ebd.) und auf den „De agro Frisiae" des Emmius (vgl. F N 42). 9 Dazu hinsichtlich der Stadt Groningen: W. J.Formsma, De w o r d i n g van de Staten van Stad en Lande tot 1536, Assen 1930; ders., De Ommelander s t r i j d voor zelfstandigheid i n de 16e eeuw (1536—1599), Assen 1938. 10 Dazu: A. Hallema, Geschiedenis van het gevangeniswezen, hoofdzakelijk i n Nederland, Haag 1958, S. 128 ff.; D.V. Coornhert, Boeventucht, hrsg. u n d kommentiert von einer Arbeitsgruppe Utrechter „Neerlandici", Verlag v o m I n s t i t u t „De Vooys" der Reichsuniversität zu Utrecht, 1980 (Neuausgabe der Erstauflage Amsterdam 1587); W. H. A. Jonkers, Het penitentiair recht. Straf rechtelijke sancties i n Nederland, A r n h e i m o. J., S. V I I I — 3 ff.; H.Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte Bd. I I , Karlsruhe 1966, S. 424, nach dessen M e i nung „das kalvinistische Arbeitsethos" dabei „einen maßgeblichen Einfluß ausübte". Hinsichtlich Althusius t r i f f t dies jedenfalls auch zu (vgl. Politica V I I I , 59 i n fine). 11 Auch hier werden wieder — wie fast i m m e r — die Bücher 14 u n d 20 dieses Werks angeführt. Vgl. infra § V I I I .
Die Niederlande i n der „Politica" des Althusius
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A l l e i n schon dieser Paragraph deutet darauf hin, daß Althusius i m Rahmen seiner Konzeption von der dualistischen Verwaltungsstruktur der Provinz den Provinzialständen verfassungsrechtlich eine ziemlich „gewichtige", dem Präses (caput oder praeses provinciae) hingegen eine — i m Vergleich zu den größeren Landesherren i m damaligen Reich, i n dessen Territorialstaaten sich seit Anfang des 17. Jahrhunderts der fürstliche Obrigkeitsstaat und der landesherrliche Absolutismus immer deutlicher durchsetzten 12 — ziemlich „geringe" Stellung zumißt. Dies u m so mehr, als Althusius davon ausgeht, daß der praeses provinciae dasjenige, was einmütig oder auch nur von der Mehrheit der Stände beschlossen ist, bestätigen und mit Gesetzeskraft versehen solle 18 . I n seiner Kölner Dissertation aus dem Jahre 1954 hat Antholz schon darauf hingewiesen, daß „diese A r t Gewaltenteilung" u m 1600 durchaus nicht die allgemeine verfassungsrechtliche Situation aller deutschen Territorien gewesen sei, daß dieses Muster einer Territorialverfassung von Althusius „aus der Wirklichkeit des ostfriesischen Ständekampfes" konzipiert wurde, daß er folglich sein Idealbild der zukünftigen Verfassung der Grafschaft Ostfriesland wiedergebe und schließlich, daß dieses Idealbild sein Vorbild „ i n den niederländischen Provinzen" habe 14 . V . D i e Niederlande Inspirationsquelle der Althusischen dualistischen Verfassungsstruktur?
Für die letztere These bringt Antholz am angeführten Ort keine unmittelbaren Belege bei. Es ist jedoch Althusius selber, der uns die Belege gibt; nicht i m achten, sondern i m dreiunddreißigsten Kapitel. Nachdem er dort von den Reichstagen, von den Kreistagen, vom K u r kolleg usw. gehandelt hat, kommen i n diesem Kapitel die „Parlamente" (comitia) außerhalb des Reiches zur Sprache 15 . I n diesem Rahmen werden schließlich auch die ständischen Versammlungen verschiedener niederländischer Provinzen (Groningen, Friesland, Holland und Seeland) sowie die Generalstaaten als oberste gesetzgebende und Exekutivbehörde des niederländischen Staatenbundes erörtert 18 . Offenbar war damals die durch den Augsburger oder sog. Burgundischen Vertrag vom 26. Juni 1548 geförderte Loslösung der Niederlande vom Reich 12 Vgl. H. Mitteis/H.Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 11. Aufl. M ü n chen 1969, Kap. 42 („Die Länder"), S. 218—221. 13 Politica V I I I , 65. Vgl. auch V I I I , 1 i n fine. 14 Antholz (FN 3), S. 141—143. 15 Politica X X X I I I , 111 ff. 1β Politica X X X I I I , 130—136. Vgl. auch ibid. 122 i n fine, 125, 128 und 129
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schon so weit fortgeschritten, daß Althusius sie als vom Reiche getrennt betrachtete 17 . I m Abschnitt über die Provinzialstände und die Verfassung der Provinz Holland heißt es ζ. B., die Grafen von Holland und ihre Nachfolger hätten zu Olims Zeiten jedesmal, wenn eine wichtige Landessache zu behandeln war, die beiden Stände, d. h. Adel und Städte, zusammengerufen, und keine der wichtigeren Sachen sei je ohne deren Beratung und Zustimmung (!) von diesen Grafen in Angriff genommen und behandelt worden 18 . I m selben Kapitel gibt es noch weitere derartige Belege, und zwar i n den Paragraphen 20 und 118. Beide Stellen beziehen sich offenbar auf die Epoche der habsburgischen Fürsten i n den Niederlanden — welche unter der Regierung der burgundischen (15. Jh.) und habsburgischen (16. Jh.) Landesherren eine Personalunion von ständig wachsendem Umfang bildeten —, denn i n beiden Passus ist von einem „König" (rex) die Rede, was sich ja nur auf den — genau genommen mehrfachen — spanischen Königstitel Karls V. (1500—1558) und Philipps II. (1527—1598) beziehen kann 1 9 . A m Ende des erstgenannten Paragraphen behauptet Althusius, der König oder Fürst könne „ i n Belgien" (in Belgio) — d. h. i n den sämtlichen Niederlanden — gegen den Willen der Stände nichts beschließen, und ein Beschluß der Ständeversammlung werde nicht für gültig gehalten, wenn nicht sämtliche und alle einzelnen „belgischen" — lies: niederländischen — Stände darin einwilligten, letzteres unter Bezugnahme auf Van Meteren und Guicciardini 20 . I m zuletzt genannten Paragraphen, i n dem der Autor die Zusammensetzung und die A r t der Beschlußfassung der „belgischen" Generalstaaten unter der Regierung 17 Z u r Loslösung der Niederlande vom Reich grundlegend: R.Feenstra, A quelle époque les Provinces-Unies sont elles devenues indépendantes en droit à l'égard d u Saint-Empire? i n : Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 20 (1952), S. 30—63, 182—218, 479—480; vgl. Conrad (FN 10), S. 109. Z u m territorialen Umfang des burgundischen Kreises u n d den Konsequenzen des B u r g u n d i schen Vertrages m i t Rücksicht auf die Gerichtsbarkeit des Reichskammergerichts i n Theorie u n d Praxis neuerdings: P. L. Nève, Het Rijkskamergerecht en de Nederlanden, Assen 1972 (Maaslandse Monografieën Nr. 14; auch erschienen als Dissertation Univ. von Amsterdam). Z u den Beziehungen der südlichen — sog. spanischen u n d später österreichischen — Niederlande zum Reich: E.de Borchgrave, Histoire des rapports de droit public entre les provinces Belges et l'empire d'Allemagne, Brüssel 1871 (Mémoires couronnés de l'Académie Royale des sciences, des lettres, et des beaux-arts de Belgique, tome 36). 18 Politica X X X I I I , 134. 19 Verfassungsrechtlich w a r dieser Königstitel hinsichtlich der Niederlande übrigens ohne Bedeutung, w e i l diese Fürsten i n den Niederlanden eigentlich n u r Landesherren der einzelnen Provinzen waren, u n d zwar m i t unterschiedenen Titeln, w i e Herzog von Brabant, Graf von Holland und Seeland, Herr von Utrecht usw. 20 Politica X X X I I I , 20 i n fine.
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Philipps II. beschreibt, wiederholt er nochmals, der König könne i n dieser Generalversammlung der Stände nichts gegen deren Willen beschließen. Wenn jedoch alle einhellig zustimmen, sei dasjenige beschlossen, was allen gefällt (quod omnibus placuit) 21. Anscheinend hat Althusius sich i n beiden Fällen eng an die Beschreibung Guicciardinis der Generalstaaten zur Zeit Philipps II. angelehnt und zwar an den Passus, i n dem es heißt: „Wenn der Landesherr oder sein Gouverneur mit diesen Antworten" — nämlich denen der unterschiedlichen Provinzialstände oder deren Deputationen auf seine Propositionen — „nicht zufrieden ist, so versucht er, dieselben mit vielen Gründen und Rechten zu seinem Willen und Verlangen zu bringen, denn dem Inhalt ihrer Privilegien nach darf er sich ihnen gegenüber nur guter Begründungen bedienen. Denn es ist hier nicht — wie i n anderen Ländern — der Brauch zu sagen: sic volo, sie jubeo, d. h. so w i l l ich es haben, so gebiete ich es. Und wenn es schon so wäre, daß alle übrigen i n etwas eingewilligt hätten, so könnte eine Stadt allein, wie Antwerpen, dasselbe rückgängig machen und brechen. Denn die Stände oder deren Mitglieder geben ihre Zustimmung gewöhnlich unter der Bedingung, daß alle anderen Stände i n gleicher Weise, jeder nach seinem Anteil, in die Sache einwilligen sollen. Daher ist es gewöhnlich nötig, daß nicht nur die Stände, sondern auch deren Mitglieder einträchtig zusammen einen Beschluß fassen" 22 . Zusammenfassend kann man zu dem Schluß kommen, daß die am Ende des vorigen Paragraphen erwähnte These Antholz', daß das A l t husische Idealbild einer dualistischen Provinzialverfassung — wie i m achten Kapitel der Politica geschildert — sein Vorbild habe „ i n den niederländischen Provinzen", durch die oben erwähnten, dem 33. Kapitel entnommenen Belege keineswegs abgeschwächt, sondern vielmehr bestätigt wird. Zwei Bemerkungen sollen dennoch hinzugefügt werden. Gewarnt sei an erster Stelle vor dem Irrtum, die spätmittelalterliche Verfassung der niederländischen Provinzen, wie von Althusius beschrieben, als seine einzige praxisbezogene Inspirationsquelle zu betrachten. Dank seiner imposanten Belesenheit war es für ihn, Eklektiker par excellence, gar keine schwierige Aufgabe, andere Beispiele solcher 21
Politica X X X I I I , 118 i n fine. Giucciardini, Beschrijvinghe van alle de Nederlanden etc. (FN 49), S. 44. Wegen der Schwierigkeiten dieser A r t von Beschlußfassung rät Guicciardini dem Fürsten, Weisheit u n d Geduld an den Tag zu legen. Denn obwohl die Beschlußfassung manchmal eine ganze Weile anstehe, so w i r d er sich auf die Dauer bestimmt m i t allen Ständen u n d deren Mitgliedern über alle Sachen verständigen. Danach fährt er fort: „Dasjenige, was schließlich von den sämtlichen Ständen — v ö l l i g oder n u r zum Teil i m Einklang m i t dem Verlangen des Landesherrn — einträchtig beschlossen w i r d , w i r d sicher u n d fest sein u n d zu gelegener Zeit v ö l l i g zur Ausführung gebracht werden". 22
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„dualistischen" Verfassungen anzuführen. I m 33. Kapitel läßt er sich ζ. B. auch aus über das englische Parlament und dessen „sehr große Gewalt" sowie über die m i t - und sogar alleingesetzgebenden Repräsentativversammlungen i n Polen und Venedig 23 . Zweitens stellt sich die Frage, ob und inwieweit die von Althusius an den oben genannten Orten erweckte Vorstellung, derzufolge den spätmittelalterlichen niederländischen Provinzialständen und den niederländischen Generalstaaten ihrem gemeinsamen Landesherrn gegenüber ein bedingtes — wie man heutzutage sagen würde — „Mitbestimmungsrecht" i n Sachen der Gesetzgebung und Landesverwaltung zukomme, m i t der nachprüfbaren geschichtlichen Wirklichkeit übereinstimmt. I m Grunde gilt diese Frage freilich auch seinen bedeutendsten Quellen: Van Meteren und Giucciardini. A u f diese Frage w i r d später eingegangen 24 . V I . Niederländische „Ephori" und ihr Verhältnis z u m Landesherrn; der brabantische „Fröhliche Einzug"
I m 18. Kapitel, worin von den „Ephoren", d. h. von den Volksrepräsentanten i m Althusischen Sinne die Rede ist, begegnet man den niederländischen Ständen (Ordines) ebenfalls, wie übrigens auch i m 19., das von der Betrauung mit dem Herrscheramt handelt. Nachdem er i m erstgenanten Kapitel die bemerkenswerte Hintanstellung der „belgischen" Stände in Sachen von Krieg und Frieden betont hat 2 5 , nachdem er sodann i m Hinblick auf die Niederlande die Stellung der Generalstaaten als — seiner Anschauung nach — ephori generates und die der verschiedenen Provinzialstände als ephori speciales hervorgehoben hat2®, werden i m 19. Kapitel unter den Beispielen von HerrschaftsVerträgen zwischen Ständen und Königen in ausländischen Staaten beiläufig auch die zwischen den „belgischen" Ständen und deren „Königen" — lies: Fürsten oder Landesherren — genannt 27 . Leider findet man des weiteren i m selben Kapitel hinsichtlich der Niederlande nur ein Beispiel eines derartigen Herrschaftsvertrags. A n scheinend hat das diesbezügliche Defizit seiner Hauptquellen — Van Meteren und Giucciardini 2 8 — den Verfasser fehlgeleitet; denn die spät23
Politica X X X I I I , 112—118, 119 und 121. Vgl. infra § I X . 25 Politica X V I I I , 80 i n fine. Bemerkenswert — und i n geschichtlichem Sinne angemessen — ist übrigens i n diesem Rahmen die W o r t w a h l usurparunt des Althusius. 26 Politica X V I I I , 110 und 122. Vgl. dazu infra § I X . 27 Politica X I X , 22. 28 Vgl. infra § V I I I . 24
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mittelalterliche politische und Verfassungsgeschichte der Niederlande stellt i n dieser Hinsicht eine wahre Fundgrube dar. Das einzige von Althusius genannte Beispiel, der brabantische „Fröhliche Einzug" (Laetus Introitus, Joyeuse Entrée, Blijde Inkomste), ist allerdings i m Rahmen des Aufstandes der niederländischen Provinzen gegen Philipp II. von großer Bedeutung gewesen; denn dieser „Herrschaftsvertrag" hat sowohl i n der Ansprache, welche Philipp von Marnix, Herr von St. A l degonde (1540—1598) als Deputierter der Generalstaaten auf dem Reichstag zu Worms am 7. M a i 1578 hielt, als auch anläßlich der Kölner Friedensverhandlungen, welche i m Jahre 1579 durch Vermittlung kaiserlicher Kommissare zwischen Deputierten Philipps II. und der Generalstaaten geführt wurden, eine i n politischer Hinsicht sehr wichtige Rolle gespielt. Auch i n der damaligen Flugschriftenliteratur („Pamflettenliteratuur") ist von diesem Vertrag häufig die Rede 29 . Althusius gibt i m 46. Paragraphen des 19. Kapitels eine A r t „ K u r z fassung" dieses „Fröhlichen Einzugs" i n elf Punkten, dies leider ohne Quellenangabe. Leider, denn von diesem Vertrag gibt es seit der Erstfassung vom Jahre 135630 viele Versionen, weil über den Inhalt dieses Vertrags jedesmal, wenn ein neuer brabantischer Herzog in spe antrat, vor dessen Regierungsantritt zwischen i h m und den brabantischen Ständen erneut verhandelt wurde. Anläßlich des Regierungsantritts Karls V. als Herzog von Brabant (1515) wurde der Text durchgreifend „modernisiert". A m 5. J u l i 1549 beschwor dessen Sohn Philipp II. antizipando einen nur wenig geänderten Text 3 1 , der für seine Nachfolger maßgebend werden sollte. Da die — nicht numerierte — Originalfassung von 1356 schon 34 unterschiedliche Bestimmungen zählt, die späteren nicht weniger, und die Texte der Urkunden, welche von K a r l V. (1515) 29 P. A. M. Geurts, De Nederlandse opstand i n de pamfletten 1566—1584, 3. Auflage Utrecht 1983, S. 151—153; H. De la Fontaine Verwey, De B l i j d e I n komste en de opstand tegen Filips I I , i n : Anciens Pays et Assemblées d'Etats/ Standen en Landen, Bd. X I X (Löwen—Paris 1960), S. 97—120, besonders S. I l l — 1 1 5 ; ders. t Het beroep op de B l i j d e Inkomste i n de pamfletten u i t de Tachtigjarige Oorlog, ibid. Bd. X V I (1959), S. 3—15. 30 Dazu: E. Poullet, Histoire de la Joyeuse-Entrée de Brabant et de ses origines. Mémoire sur l'ancienne constitution brabançonne, Brüssel 1863 (Mémoires couronnés de l'Académie Royale des sciences, des lettres, et des beauxarts de Belgique, tome 31); Ria van Bragt, De B l i j d e Inkomst van de Hertogen v a n Brabant Johanna en Wenceslas (3 Januari 1356). Een inleidende Studie en tekstuitgave, i n : Anciens Pays et Assemblées d'Etats/Standen en L a n den, Bd. X I I I (Löwen—Paris 1956), S. 1—126; E. housse, L a Joyeuse Entrée brabançonne d u 3 j a n v i e r 1356, i n : W. Näf (Hrsg.), Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte, Bd. 10 (1952), S. 139—162; R. van Uytven, De rechtsgeldigheid van de Brabantse B l i j d e Inkomst van 3 januari 1356, i n : T i j d schrift voor Geschiedenis 82 (1969), S. 39—48. 31 Textausgabe beider Versionen i n : J.Mennes, De Staten van Brabant en de B l i j d e Inkomst v a n kroonprins Filips I I i n 1549, i n : Anciens Pays et Assemblées d'Etats Bd. X V I I I (Löwen—Paris 1959), S. 49—165 (Urkundentexte 1515 und 1549, S. 56—165).
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und von Philipp II. (1549) beschworen wurden, sogar 64 bzw. 58, muß es sich i n der Politica um eine Zusammenfassung handeln, deren Herkunft m i r bisher noch unklar ist 32 . Wenn man die „Althusische" Fassung i n elf Punkten m i t derjenigen vergleicht, welche i m Jahre 1549 von Philipp II. und — kaum geändert — am 24. November 1599 von den Erzherzögen Albrecht und Isabella beschworen wurde 8 3 , so kann man zu der Auffassung kommen, daß die erstere eine stark vergröberte, partielle Zusammenfassung der letzteren darstellt 84 . V I I . Widerstand der Niederlande gegen die „Tyrannei" Philipps I I .
Es ist nicht erstaunlich, daß die Niederlande schließlich erneut i m Rahmen des 38. Kapitels über die Tyrannei und die M i t t e l dagegen auftauchen; denn gewiß war der sog. Freiheitskampf der (nördlichen) Niederlande gegen Philipp II. i n calvinistischen Kreisen allbekannt. Überdies hat Althusius sich i m territorialen sowie i m personalen Sinne ständig an der Peripherie der Niederlande bewegt, deren Freiheitskampf zu seinen Lebzeiten noch immer fortdauerte. Schon i m 31. Kapitel erwähnt er unter den dort aufgeführten Ursachen von Aufständen zweimal beispielhaft die Niederlande, und zwar erstens die Unterdrückung und fiskalische Ausbeutung der Niederlande durch den Herzog von Alba 3 5 , gegen dessen Regiment sie sich demzufolge erhoben 36 , und zweitens die Religionswirren i n den Niederlanden, welche er den Papistae in Belgio vorwirft 8 7 . 32 Eine Kurzfassung i n elf Punkten ist weder bei Van Meteren noch bei Guicciardini anzutreffen. Keineswegs i m voraus auszuschließen ist die Möglichkeit, daß eine Zusammenfassung nach dem Muster des Althusius sich irgendwo i n der Flugschriftenliteratur („Pamflettenliteratuur") von „aufständischer" Seite aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorfindet. 33 Vgl. M.Ch. Faider, Études sur les constitutions nationales (Pays-Bas Autrichiens et Pays de liège), Brüssel 1842, S. 40. 34 Die Aufstellung einer A r t „Konkordanz" würde die Grenzen dieses A u f satzes überschreiten. Die Anfertigung einer derartigen Aufstellung wäre übrigens keine leichte Aufgabe, w e i l die Althusischen „Bestimmungen" mehrmals mehrere A r t i k e l des „Fröhlichen Einzugs" übergreifen (vgl. f ü r eine Kurzübersicht des Inhalts der späteren Fassungen des „Fröhlichen Einzugs": Faider [FN 33], S. 43 ff.). Andererseits gibt es i m „Fröhlichen Einzug" etliche nicht von Althusius erwähnte A r t i k e l , von denen er dennoch i m Rahmen seiner politischen Lehre guten Gebrauch hätte machen können — z. B. die Vorschrift, daß auch alle landesherrlichen Beamten den „Fröhlichen Einzug" beschwören sollen, die Garantie der Freiheit und Unabhängigkeit der A b stimmungen der Stände usw. —, was meinen Eindruck verstärkt, daß er den eigentlichen Text dieses Vertrags nicht gesehen oder wenigstens nicht gründlich studiert hat. 35 Dazu neuerdings Ferdinand H. M. Grapperhaus, A l v a en de Tiende Penning, Zutphen—Deventer 1982. 38 Politica X X X I , 14. 37 Politica X X X I , 20.
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I m 38. K a p i t e l f ü h r t er s o d a n n die n i e d e r l ä n d i s c h e n Stände u n t e r d e n B e i s p i e l e n v o n E p h o r e n auf, die, d a d e r j e w e i l i g e T y r a n n sich „ u n h e i l b a r " (insanabilis) zeigte u n d i n d e m i h n e n k e i n anderer W e g m e h r o f f e n stand, diesen absetzten u n d aus i h r e r M i t t e ausschlossen: „ S o w u r d e d e r K ö n i g v o n S p a n i e n 3 8 , P h i l i p p I I . , i m J a h r e 1581 v o n d e n n i e d e r l ä n d i schen S t ä n d e n w e g e n dessen T y r a n n e i z u m F e i n d d e r N i e d e r l a n d e e r k l ä r t u n d seines Rechtes auf d i e belgischen P r o v i n z e n b e r a u b t " 3 9 . A l t h u s i u s e r w ä h n t sogar die s c h r i f t l i c h e F e s t l e g u n g dieser f e i e r l i c h e n A b s e t z u n g P h i l i p p s I I . , w o m i t er sicherlich a u f das H a a g e r M a n i f e s t (sog. Plakkaat van Verlatinge) v o n 26. J u l i 1581, abzielt, i n d e m die G e n e r a l s t a a t e n sich m i t e i n e r a u s f ü h r l i c h e n , d e n E i n f l u ß d e r L e h r e d e r calvinistischen Monarchomachen 40 verratenden Begründung v o n Philipp, i h r e m g e m e i n s a m e n L a n d e s h e r r n , lossagten 4 1 . 38
Vgl. F N 19. Politica X X X V I I I , 45 (vgl. 52, 54 und 55). I m wesentlichen geht dieser Ausspruch auf einen früheren i m 18. K a p i t e l zurück, wo Althusius behauptet, es sei eine der wichtigsten Aufgaben der Ephoren, die „Reservatrechte" des Volkes zu wahren u n d zu verteidigen gegen alle Schänder, nötigenfalls sogar gegen den summus magistratus selbst: „ w o v o n die belgischen Kriege Beispiele bieten u n d alles was i n diesen Gebieten 40 Jahre lang gegen den spanischen K ö n i g unternommen worden ist" (Politica X V I I I , 83 i n fine). Die eigentliche Begründung dieses Widerstandsrechts der Ephoren findet man sodann i n den nachfolgenden Paragraphen 84 u n d 85. 40 Dazu eingeführend: P. J. Winters, Die „ P o l i t i k " des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen. Zur Grundlegung der politischen Wissenschaft i m 16. u n d i m beginnenden 17. Jahrhundert, Freiburg i. B. 1963, S. 79 ff., vgl. auch F N 41. 41 Moderne Textausgaben: Z.W.Sneller, Unie van Utrecht en Plakkaat van Verlatinge. De w o r d i n g van den Nederlandschen Staat, Rotterdam 1929, S. 59 ff.; M.E.H.N.Mout, Het Plakkaat van Verlatinge, Haag 1981. Z u diesem Manifest und seinen Hintergründen : P. F. Ch. Smit, Enige opmerkingen over de considerans van het Placaet van Verlatinge van 26 J u l i 1581, Diss. Leiden 1952; J. P. A. Coopmans, Het Plakkaat v a n Verlatinge (1581) en de Declaration of Independence (1776), i n : Bijdragen en Mededelingen betreffende de geschiedenis der Nederlanden 98 (1983), S. 540—567; A. C. J. de Vrankrijker, De Motiveering van onzen Opstand. De theorieën van het verzet der Nederlandsche opstandelingen tegen Spanje i n de jaren 1565—1581, Utrecht 1979 (Nachdruck der Erstausgabe Nijmegen—Utrecht 1933). Unrichtig ist die Meinung, daß die Generalstaaten oder die Stände der Provinzen, welche seit 1579 die Utrechter U n i o n bildeten, P h i l i p p bei dieser Gelegenheit „abgeschworen" haben sollen (vgl. H. Lademacher, Geschichte der Niederlande. P o l i t i k — Verfassung — Wirtschaft, Darmstadt 1983, S. 76; richtig jedoch S. 78). Dies geschah seitens der unter seiner Regierung ernannten u n d vereidigten landesherrlichen Amtsträger u n d Beamten, damit sie dem „verlassenen" Landesherrn nicht länger Gehorsam schulden sollten. Z u diesem Zweck wurde von den Generalstaaten am 29. J u l i 1581 — und also nach der „Verlassung" — eine neue Eidesformel festgelegt, w o m i t sie P h i l i p p ihren Gehorsam aufkündigten u n d an seiner Stelle den Vereinigten Niederlanden Treue versprachen. Die neue Vereidigung wurde danach von den verschiedenen Provinzialständen (oder deren Deputierten) vorgenommen. Der „ A b schwur" w a r also eine Vollstreckungsmaßnahme der (vorhergehenden) „ V e r lassung". Vgl. J. Ph. de Monté verLoren, Hoofdlijnen u i t de o n t w i k k e l i n g der rechterlijke organisatie i n de Noordelijke Nederlanden tot de Bataafse Omwenteling, 6. Aufl. bearb. v. J. E. Spruit, Deventer 1982, S. 203—204. 39
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Ο. Moorman van Kappen V I I I . D i e von Althusius benutzten Quellen bezüglich der Niederlande: Guicciardini u n d V a n M e t e r e n
Soweit die Kurzübersicht über die angesichts der Grundzüge der politischen Lehre des Althusius wichtigsten, die Niederlande betreffenden Stellen in seiner Politica, welche sich aus einer ersten, versuchsweise unternommenen Auswahl ergeben. Anschließend noch einige Bemerkungen i m Hinblick auf die von ihm benutzten Quellen und deren Einfluß auf das Bild, das Althusius von der Verfassungsgeschichte der Niederlande i m Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit entwirft. Wenn Althusius in diesem Werk von der politischen und Verfassungsgeschichte der Niederlande handelt, beruft er sich — wenn er überhaupt Belege anführt, was nicht immer der Fall ist — fast jedesmal auf die „Beschreibung aller Niederlande" des Ludovicus Guicciardini (1521— 1589) oder auf die „Belgische oder Niederländische Geschichte unserer Zeiten" des Emanuel van Meteren (1535—1612) bzw. auf beide. Daneben verweist er nur gelegentlich auf das 1605 zu Groningen erstmals erschienene Werk seines Freundes Emmius ,De agro Frisiae' 42 , zumal wenn er die seinerzeit existierende Verfassung der Republik der Vereinigten Niederlande und die der einzelnen Provinzen — besonders die nördlichsten: Friesland und Groningen — zur Sprache bringt 4 3 . Hinsichtlich der beiden erstgenannten, i n der 3. Auflage der Politica häufig beigezogenen Autoren stellt sich die Frage, welche Edition der genannten Werke Althusius benutzt hat; denn von beiden Werken gibt es eine Menge Ausgaben unter veschiedenen Titeln und i n mehreren Sprachen 44 . I n beiden Fällen steht der terminus ante quem (1614) jedenfalls fest. 42
Ubbo Emmius, De agro Frisiae inter Amasum et Lavicam f l u m i n a deque urbe Groninga i n agro eodem et de j u r e utriusque cum serie magistratuum praecipuorum, Groningen 1605 (2. Aufl., Groningen 1646). 43 ζ. B. i n Politica V I I I , 66 u n d X X X I I I , 130 u n d 132 i n fine. 44 Z u Guicciardini: P.A.M. Boele van Hensbroek, Ludovico Guicciardini, Descrittione d i t u t t i i Paesi Bassi. De oudste beschrijving der Nederlanden i n hare verschillende uitgaven en vertalingen beschouwd, i n : Bijdragen en Mededeelingen v a n het Historisch Genootschap gevestigd te Utrecht, I (Utrecht 1877), S. 199—286; R.Fruin, Guicciardini's beschrijving der Nederlanden, i n : ders., Verspreide Geschriften, Bd. V I I , Haag 1903, S. 193—203. Z u Van Meteren: P. C. Molhuyser u. a. (Hrsg.), Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek, Bd. V I I , Leiden 1927 (unveränderter Nachdruck Amsterdam 1974), Sp. 868—870; L.Brummel, De eerste Nederlandse editie van V a n Meteren's geschiedwerk und: V a n Meteren als historicus, i n : ders., Twee b a l l i n gen 's lands tijdens onze opstand tegen Spanje. Hugo Blotius (1534—1608). Emanuel v a n Meteren (1535—1612), Haag 1972, S. 81—116 und 117—172; W.D. Verduyn, Emanuel van Meteren (Diss. Leiden), Haag 1926; R. Fruin, De Historiën van Emanuel v a n Meteren, i n : ders., Verspreide Geschriften Bd. V I I , S. 383—410; L.Brummel, A manuscript of van Meteren's Historie, i n : Quaerendo 5 (1975), S. 246—262; J. L. Nevinson, Emanuel van Meteren, 1535—1612, i n : Proceedings of the Huguenot Society of London 19 (1952—1958), S. 136— 145; Z.W. Sneller, Brieven van Emanuel van Meteren en van Pieter Bor, i n :
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I m Hinblick auf Guicciardini gibt es insofern einen Anhaltspunkt, als Althusius beim Verweisen auf dieses Buch neben Guicciardini vereinzelt einen gewissen Pet(rus) Montanus als Mitautor nennt 45 . Dieser aus der Stadt Gent i n Flandern gebürtige Pieter van den Berghe ( ± 1560—1625), der 1585 mit seinen Eltern von dort nach London flüchtete und später zu Amsterdam als lateinischer Lehrer wirkte, bearbeitete dort die „Beschreibung" Guicciardinis, wobei er viele Erweiterungen anbrachte. Die erste von ihm erweiterte Edition war eine französische Übersetzung, welche 1609 zu Amsterdam erschien 48 . Andere vor dem Jahre 1614 erschienene Editionen, welche seine Addenda enthielten, waren zwei weitere französische Übersetzungen (Calais 1609 und A r n heim 1613) und eine — von Cornelius Kilianus angefertigte — niederländische (Amsterdam 1612)47. I n Anbetracht der Tatsache, daß Althusius i n seiner Politica hinsichtlich Frankreichs nach wie vor nur auf i m Lateinischen geschriebene Werke verweist, wäre die Annahme, daß Althusius bei seiner Bearbeitung der dritten Ausgabe 48 der Politica die 1612 zu Amsterdam erschienene niederländische Übersetzung der „Beschreibung" Guicciardinis 49 verwendet hat, m. E. durchaus haltbar. Denn die beiden deutschsprachigen Editionen der „Beschreibung" Guicciardinis (Basel 1580 und Frankfurt a. M. 1582), denen die Erstausgabe i n italienischer Sprache (Antwerpen 1567) zugrunde liegt 5 0 , enthalten die Erweiterungen des Petrus Montanus noch nicht. Zudem w i r d der Emder Syndikus keine Mühe Bijdragen en Mededelingen v. h. Historisch Genootschap 56 (1935), S. 261— 281; L.Brummel, Emanuel van Meteren als historicus, i n : P. A. M. Geurts u. A. E. M. Janssen (Hrsg.), Geschiedschrijving i n Nederland, Bd. I, Geschiedschrijvers, Haag 1981, S. 1—18 (mit herzlichem Dank an Herrn Dr. A. E. M. Janssen zu Nijmegen f ü r seine bibliographischen Nachweise). 45 Vgl. z. B. Politica V I I , 40: „ . . . Pet. Montanus i n descriptione Belgii. Guicciardinus". Wahrscheinlich liegt hier ein Druckfehler vor. Die Originalfassung hat w o h l gelautet „Pet. Montanus i n descriptione Belgii Guicciardini"; denn eine Separatausgabe der Beschreibung des Montanus gibt es meines Wissens nicht. 48 Vgl. Boele van Hensbroek (FN 44), S. 233—236. 47 Ibid., S. 238—241 und 245—247. 48 I n der ersten und zweiten Edition der Politica w i r d überhaupt nicht auf Guicciardini verwiesen. 49 Beschrijvinghe v a n alle de Neder-landen, anderssins ghenoemt NederDuytslandt, Door M. L o w i j s Guicciardijn, Edelman van Florencen: Oversien ende vermeerdert meer dan de helft b i j den selven Autheur: Met alle de Landt-Caerten der voorseyde Landen, ende vele Contrefeytselen der Steden natuerlijck ghetrocken. Overgheset i n de Nederduytsche spraecke, door Cornelium K i l i a n u m . N u wederom met verscheyden Historien ende aenmerckinghen vermeerdert ende verciert door Petrum Montanum. Met een seer w i j t loopighe Tafel van de Ghedenckweerdichste dingen, 't Amsterdam, Ghedruckt b i j W i l l e m Jansz. woonende op het Water, i n de vergulde Sonnewijser. Anno 1612 (Folioformat). •r>0 Vgl. Boele van Hensbroek (FN 44), S. 215—219.
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gehabt haben, die „niederdeutsche Sprache" zu lesen. Diese Annahme ist insoweit nicht ohne Bedeutung, als es seit 1582 zwei verschiedene Versionen der „Beschreibung" Guicciardinis gab: eine „ A l Gran He Cattolico" gewidmete "spanischfreundliche" für die südlichen Niederlande und eine zum Gebrauch der Vereinigten Niederlande bearbeitete Fassung 51 . Es war die letztere, welche von Montanus erweitert wurde 5 2 . Was die Geschichtswerke Emanuel van Meterens anbetrifft, gibt es i n der dritten Auflage der Politica ebenfalls einen Anhaltspunkt, der es ermöglicht, die von Althusius anläßlich der Abfassung der dritten A u f lage 53 verwendete(n) Edition(en) des „Meteranus" wenigstens zeitlich etwas näher zu bestimmen. W i e gesagt, g i l t als terminus
ante quem i n
dieser Frage das Jahr 1614. Demnach kann die bekannte Edition in niederländischer Sprache aus dem Jahre 1614, welche im Auftrag der Generalstaaten von Gillis van Ledenberg und Hugo Grotius überarbeitet wurde und welche für alle späteren Ausgaben maßgebend war, außer Betracht bleiben 54 . Andererseits können auch alle bis einschließlich 1603 erschienenen Editionen Van Meterens — darunter die deutschsprachigen von 1593—1596, 1597 und 1598 sowie die 1598 zu K ö l n erschienene lateinische und die Delfter Ausgabe (in niederländischer Sprache) von 1605, welche ein bloßer Nachdruck der Delfter Edition von 1599 ist — unberücksichtigt bleiben, und zwar deshalb, weil Althusius i n der dritten Auflage der Politica fast immer auf die Bücher 14 und 20 der „Historia" Van Meterens verweist, aber keine dieser früheren Auflagen ein zwanzigstes Buch enthält 5 5 . 51
Ibid., S. 228—229. Die 1612 zu Amsterdam erschienene niederländischsprachige Edition wurde von Montanus den Herren Generalstaaten der Vereinigten Niederlande gewidmet (vgl. ibid., S. 239). Montanus wurde demzufolge von seiten der Generalstaaten f ü r seine Bearbeitung belohnt (vgl. Fruin [ F N 44], S. 201 Anm. 2). 53 I m Gegensatz zur Erstausgabe der Politica, w o r i n „Meteranus" überhaupt nicht erwähnt w i r d , verweist Althusius i n der zweiten Auflage seiner Politica (1610) m i t u n t e r — jedoch v i e l weniger als i n der dritten Auflage — auf Meteranus' Historia, dies aber entweder ohne nähere Angabe bestimmter Fundstellen oder n u r unter Angabe des vierzehnten Buches. Schon hieraus ergibt sich, daß Althusius die Historiae Belgicae Van Meterens anläßlich der d r i t t e n neubearbeiteten Auflage seiner Politica aufs Neue und gründlicher studiert hat als zuvor. 54 „Emanuels v a n Meteren Historie der Nederlandscher ende haerder Naburen Oorlogen ende geschiedenissen. Tot den jare M. V I C. X I I . N u de laestemael b i j hem voor sijne doodt merckelijck verbetert ende i n X X X I I boecken voltrocken. Is mede hier b i j gevoegt des Autheurs leven . . . " , 2 Bde., Haag, bei H i l l e b r a n t Jacobsz, 1614 (Folioformat). Die Erwähnung der V e r besserungen des — inzwischen am 18. A p r i l 1612 verstorbenen — Autors stellen übrigens n u r die halbe Wahrheit dar, w e i l die von Ledenberg, Grotius u. a. vorgenommenen Revisionen, Erweiterungen und Textanpassungen nicht genannt werden. 62
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Betreffs der dritten Auflage seiner Politica muß Althusius also eine (oder mehrere?) der damals jüngeren zwischen 1604 (Deutschland) bzw. 1608—1609 (Niederlande) und 1614 erschienenen Van Meteren-Editionen, welche ein zwanzigstes Buch enthalten, verwendet haben. I n niederländischer Sprache erschienen solche Editionen i n den Jahren 1608— 1609, 1609, 1610, 1611 und 1611—161256. Diese darf man nicht unberücksichtigt lassen, w e i l sich hinsichtlich der „Beschreibung" Guicciardinis schon herausstellte, daß Althusius höchstwahrscheinlich mit dem Lesen der (damaligen) niederländischen Sprache keine Mühe gehabt hat. Es gibt i n diesem Zeitraum jedoch auch deutschsprachige Ausgaben der „Historien" Van Meterens, welche ein zwanzigstes Buch enthalten, wie z. B. die „Niederländische Historien oder Geschichten Aller deren Händel / so sich zugetragen von Anfangs dess Niederländischen Kriegs / biss auff das Jahr 1611 . . . v e r f a s t . . . " (ο. Ο., 1612)57. Abgesehen von dieser ungefähren zeitlichen Begrenzung w i r d eine genauere Bestimmung der von Althusius anläßlich der Abfassung der dritten Auflage seines politischen Hauptwerks verwendeten Van Meteren-Ausgabe eine sehr schwierige Aufgabe sein, allein schon deshalb, weil die Numerierung der „Bücher" i n diesen zeitlich in Betracht kommenden Editionen mehrmals wechselt. Der zweite Band der 1611 erschienenen niederländischsprachigen Ausgabe enthält z. B. sogar zwei zwanzigste Bücher 58 ! Schon von den in bezug genommenen Editionen 55 Die ausführlichsten dieser früheren Drucke, nämlich die i n der niederländischen Sprache zu Delft bei Jacob Cornelisz. Vennecool m i t Privileg der Generalstaaten der Vereinigten Niederlande 1599 u n d 1605 (Nachdruck) erschienenen Editionen, zählen n u r 19 Bücher. 58 Genaue Titelbeschreibung u n d nähere Einzelheiten bezüglich dieser A u f lagen, deren Format, Einteilung usw. bei Brummel (FN 44), S. 152—163 (mit ausführlichen bibliographischen Verweisungen). Vgl. auch Fruin, De Historiën van Emanuel van Meteren (FN 44), S. 390 ff. 57 Freundliche briefliche Auskunft des H e r r n Dr. M. Tielke, Bibliothekar der (ostfriesischen) Landschaftsbibliothek zu A u r i c h (Brief v o m 4. A p r i l 1984, Nr. 10/4/12). Diese Ausgabe enthält die Bücher 20—30, und sie könnte folglich eine Übersetzung des zweiten Teils der niederländischen Ausgabe von 1611 sein (vgl. Brumme I [ F N 44], S. 159). I n einem nicht weniger freundlichen Brief v o m 29. März 1984 (Nr. 84/E 496) nennt Prof. Dr. Friedhilde Krause, Generaldirektor der Deutschen Staatsbibliothek zu Berlin, verschiedene andere deutschsprachige i n dem genannten Zeitraum erschienene Van MeterenAusgaben, welche vor dem Kriege dort vorhanden waren, wie z. B. einen Arnheimer bis 1604 „kontinuierten" Druck v o m Jahre 1604 (auf dem Titelblatt fälschlich „1404", ehem. Sign. 2° T k 4498), eine Kölner Ausgabe von 1609 („Niderländische Historien ander T h e i l . . . " , ehem. Sign. 2° T k 4499) und eine Arnheimer von 1614 (wahrscheinlich ein Nachdruck der schon genannten Edition von 1612, ehem. Sign. 2° T k 4502). Ob diese ein zwanzigstes Buch enthalten ließ sich anhand der Katalogeintragungen nicht mehr ermitteln. Ausgeschlossen ist dies m. E. jedoch nicht, w e i l schon der Arnheimer Druck von 1604 inhaltlich bis zu diesem Jahre reicht. 58
Brummel
(FN 44), S. 159.
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i n niederländischer Sprache gilt, daß sie nicht nur qua Numerierung der Bücher und „kompositorische" Zusammensetzung, sondern auch inhaltlich erhebliche Unterschiede aufweisen, dies um so mehr, als verschiedene geldgierige Drucker-Verleger ohne Mitwissen des Autors Neudrucke dieses — seit 1607 nicht mehr durch ein Druckprivileg der Generalstaaten geschützten — Werks auflegten und damit wenig sorgfältig umsprangen 59 . M i t den deutschsprachigen Ausgaben w i r d es nicht anders bestellt gewesen s e i n . . . N u r eine weitergeführte bibliographische Forschung hinsichtlich der niederländisch- und deutschsprachigen Van Meteren-Ausgaben, ergänzt um einen eingehenderen Vergleich der Verweisung auf „Meteranus" i n der dritten Auflage der Politica mit den Texten der zwanzigsten Bücher der unterschiedlichen zeitlich zu berücksichtigenden Editionen des Werkes Van Meterens, könnte vielleicht mehr ans Licht bringen 80 .
I X . M i t dem Blick des Althusius auf die Niederlande zusammenhängende Gefahren
Gemäß einem althergebrachten niederländischen Sprichwort zählt ein gewarnter Mann für zwei. Diese Redensart muß man beim Lesen derjenigen Stellen der Politica i m Gedächtnis behalten, welche sich auf die politische und Verfassungsgeschichte der Niederlande beziehen. Daß Althusius sich i n diesen Punkten i n hohem Maße auf Guicciardini und Van Meteren verlassen hat, ist nämlich nicht ohne Folgen geblieben. Erstens hat die Tatsache, daß keiner dieser beiden Autoren Jurist war, Althusius an mehreren Stellen i n die Irre geführt. Selber Autodidakten, versuchten sowohl Guicciardini als Van Meteren möglichst gemeinverständlich für gebildete Laien zu schreiben. Daher läßt die juristische Schärfe ihrer Formulierungen — besonders die von Guicciardini — mitunter zu wünschen übrig. So gibt es ζ. B. mehrere Stellen in der Politica, i n denen Althusius Guicciardini an sich zwar richtig „nachschreibt", gerade dadurch jedoch zur nachprüfbaren verfassungsgeschichtlichen Realität in K o n f l i k t gerät. Als Beispiel kann Politica X V I I I , 110 (in jine) angeführt werden, wo Althusius unter Bezugnahme auf Guicciardini behauptet, die Generalstaaten der Niederlande bestünden aus drei Ständen: dem geistlichen 59
Vgl. F N 56. I m beschränkten Rahmen dieses Aufsatzes mußte von bibliographischen Forschungen bezüglich deutschsprachiger Meteranus-Editionen abgesehen werden. E r w ä h n t sei noch, daß die zwanzigsten Bücher der niederländischsprachigen Editionen von 1608—'09 u n d 1610 sich auf (den größten T e i l des Jahres) 1598 beziehen. 60
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Stand, dem des Adels und dem der größeren Städte 61 . Da Althusius diesen Passus fast wörtlich der „Generale Beschrijvinghe der Nederlanden", d. h. dem einführenden Abschnitt des Werkes Guicciardinis entnommen hat 6 2 , gibt er an dieser Stelle eine nicht weniger unklare und unrichtige Darstellung als Guicciardini selbst, ja eine i n noch höheren Maße unklare und unrichtige als jener, der immerhin auf den zwei Seiten seiner Beschreibung der Generalstaaten etliche nähere Einzelheiten anführt, die die genannte Aussage wenigstens etwas abschwächen, nuancieren und richtigzustellen suchen. Denn erstens handelt Guicciardini an dieser Stelle nicht von den Generalstaaten der Republik der Vereinigten Niederlande, sondern von den älteren Generalstaaten, wie sie sich am Ende des 15. und i m 16. Jh. unter den burgundischen und habsburgischen Fürsten darstellten; und zweitens setzten diese „älteren" Generalstaaten sich rechtlich nicht aus drei Ständen, sondern aus Deputationen der Ständeversammlungen der einzelnen Provinzen zusammen, welche auch separat tagten 63 . Obgleich die Ständeversammlungen der Provinzen sich aus Mitgliedern der genannten drei — manchmal jedoch nur zwei (Adel und Städte) — Stände zusammensetzten und obwohl die provinziellen Deputationen demzufolge stets ständisch gegliedert waren, war es sicherlich nicht so, daß alle aus den verschiedenen Provinzen stammenden Geistlichen bzw. alle Adligen oder Städtevertreter anläßlich einer Tagung der Generalstaaten wie ein einziger den jeweiligen Provinzialständen übergeordneter Stand i n Erscheinung traten, wie a. a. O. von Althusius (und, obwohl nuancierter, von Guicciardini) suggeriert. Es gibt aber noch eine zweite mögliche Fehlerquelle i m Hinblick auf die Mitteilungen des Althusius über die politische und Verfassungsgeschichte der Niederlande, zumal für denjenigen Leser der Politica, der m i t der frühneuzeitlichen Geschichte dieser Länder nicht vertraut ist. I n einem kürzlich erschienenen Aufsatz hat der Groninger Historiker Kossmann als eine der inhärenten Schwächen der Politica den Umstand genannt, daß dieses Werk zwar eine objektive Beschreibung und Ana61 „ B e l g i u m habet très ordines: ecclesiasticum, nobilitatis et c i v i t a t u m maj o r u m " etc. Daß i n diesem Zusammenhang m i t ordines nicht die Ständeversammlungen der einzelnen Provinzen, sondern die Generalstaaten der Niederlande gemeint sind, ergibt sich k l i p p u n d k l a r aus der Tatsache, daß der ganze Paragraph 110 über ephori generates handelt. 62 Vgl. L. Guicciardijn, Beschrijvinghe van alle de Nederlande etc. (FN 49), S. 43 Sp. 2: „Dese Staten z i j n ghemaeckt van drie ordenen . . . : Den eersten is den Gheestelijcken staet, den tweeden den Edeldom, den derden de Hooftsteden". 88 Vgl. J. Gilissen , Les États généraux en Belgique et aux Pays-Bas sous l'ancien régime", i n : Gouvernés et Gouvernants, Troisième partie : Bas Moyen Age et Temps Modernes (I), Recueils de la Société Jean Bodin pour l'histoire comparative des institutions 24 (Brüssel 1966), S. 401 ff.
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lyse der politischen Wirklichkeit der damaligen Gegenwart und Vergangenheit beabsichtige, zugleich jedoch i n nicht geringerem Maße normativer und dogmatischer Natur sei 64 . I n Anbetracht seiner Wiedergabe der politischen Geschichte der Niederlande hat diese Mischung von Zielsetzungen Althusius mitunter dazu geführt — oder verführt? —, bestimmte der von i h m beschriebenen historisch-politischen Vorgänge i m Lichte einer späteren, seinerzeit — wenigstens i m Kreise seiner Geistesverwandten — vorherrschenden „Doktrin" oder Ideologie zu interpretieren und darzustellen. Als Beispiel sei auf das schon erwähnte 6 5 Vorwort der Politica hingewiesen, w o r i n es heißt, die Stände der aufständischen Provinzen hätten von ihrem Fürsten die Hoheitsrechte „als die ihrigen", die im wesentlichen den Völkern 6 6 der einzelnen Provinzen zugehörten, zurückgefordert. Ich fürchte, es handelt sich an dieser Stelle u m die Wiedergabe einer späteren Theoriebildung, deren Entstehung man sogar genau nachweisen kann. Denn um 1580 hatten die Stände der in der Utrechter Union (1579) vereinten Provinzen noch gar nicht die Absicht, die sog. Regalien an sich zu ziehen. Eine Provinz ohne Landesherrn konnte man sich damals noch gar nicht vorstellen 67 . Was man an Stelle Philipps II. wünschte, war ein Fürst, der mit dem althergebrachten Komplex landesherrlicher Rechte zufrieden sein und überdies bereit sein würde, diese Rechte unter M i t w i r k u n g der Stände und unter Achtung der Rechte und Privilegien seiner Provinzen, deren Glieder und Eingesessenen, auszuüben, m. a. W. einen Schirmherrn der überlieferten Provinzialverfassungen. Erst als man meinte, einen derartigen Fürsten in spe gefunden zu haben — nämlich Herzog Franz von Alençon (später von Anjou), Bruder des französischen Königs, mit dem die Generalstaaten i m September 1580 einen Geheim vertrag schlossen, wobei sie ihn wählten „pour prince et seigneur desdits pays à telz titres, assavoir ducq, conte, marquis et aultrement, avecq telles superioritez et prééminences comme les seigneurs précédens les ont possédez"68 — wurde Philipp II., der sich 84 Ε. H. Kossmann, Volkssouvereiniteit aan het begin van het Nederlandse ancien régime, i n : Bijdragen en Mededelingen betreffende de geschiedenis der Nederlanden 95 (1980), S. 19. 85 Vgl. § I I . 88 I m Althusischen Sinne eines „corpus universalis consociationis". Vgl. Kossmann (FN 64), S. 18. 87 Vgl. ibid., S. 12, w o Kossmann darauf hinweist, daß die Stände der aufständischen Provinzen anläßlich ihrer „Verlassung" Philipps I I . als L a n desherrn „dahin gestellt sein ließen, was es m i t der sozusagen frei gewordenen Souveränität auf sich habe". 88 Vgl. J. K . Oudendijk, Het „contract" i n de wordingsgeschiedenis van de Republiek der Verenigde Nederlanden, Leiden 1961, S. 40—41, besonders
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als „prince absolut et souverain" der Niederlande betrachtete, dem seine Untertanen „de droit d i v i n et humain" gehorchen sollten 89 , durch die schon erwähnte 7 0 gemeinsame Erklärung der Generalstaaten „verlassen", d. h. als Landesherr abgesetzt. Darin heißt es denn auch wörtlich, daß die Stände einen Fürsten, der wie ein Tyrann versucht, seinen Untertanen ihre Rechte und Privilegien zu nehmen, verlassen dürfen und daß sie sodann einen anderen an seiner Stelle wählen d ü r f e n . . . 7 1 . Auch hieraus ergibt sich, daß die Stände der i n der Utrechter Union vereinten Provinzen damals wenigstens „offiziell" noch nicht die Absicht hatten, ihre althergebrachte „dualistische" Regierungsform aufzugeben. Dies änderte sich später in den achtziger Jahren nach dem mißlungenen Experiment mit A n j o u anläßlich großer Differenzen zwischen den Ständen und dem Grafen von Leicester, der zwar als Generalgouverneur — i n wessen Namen sei dahingestellt — gekommen war, bald danach jedoch wiederholt mit den holländischen, von den städtischen Vertretern beherrschten Ständen in K o n f l i k t geriet, da er sich ziemlich autokratisch verhielt und immer wieder versuchte, die von den holländischen Ständen dominierten Generalstaaten auf ein Abstellgleis abzudrängen. Als er sich zudem für die politischen Gedanken der streng calvinistischen Utrechter „Volkspartei" zugänglich zeigte, denen zufolge die Souveränität nach der Absetzung Philipps ans „ V o l k " (und nicht an die Stände) gefallen sein sollte — mit der Konsequenz, daß „das Volk" berechtigt sei, die Autorität Leicesters über die der Ständeversammlung zu stellen —, war für die holländischen Stände das Maß voll 7 2 . S. 41 Anm. 1. Anfänglich hatten die Unterhändler von Seiten des Herzogs versucht, i n den zu schließenden Vertrag die Worte „prince et seigneur souverain " aufzunehmen. Darauf antworteten die Delegierten der Generalstaaten aber: „ . . . que le mot souverain estoit ambigu, pour ce que, estant prins pour suprême, auquel sens nous disons ,opperste heere'" — d. h. L a n desherr — „ i l ne signifioit aultre chose que le premier; et, estant prins pour u n mot signifiant puissance absolute, les pays, qui se gouvernoient par leur loix, coustumes et privilèges, ne le pouvoient tenir sinon pour suspect et que nous nous tenions asseurez, qu'ilz ne le voudroient passer . . . " . Demzufolge wurde das A d j e c t i v „souverain" i m E n t w u r f gesprochen. Vgl. De Monté verhören (FN 41), S. 205 u n d 215. 69 Die französischen Ausdrücke sind dem Verbannungsedikt Philipps I I . gegen W i l h e l m von Oranien v o m Jahre 1580 entnommen (Ban et edict en forme de proscription, fait par la Maiesté d u Roy nostre Sire alencontre de Guillaume de Nassau, Prince d'Oranges, comme chef et perturbateur de Testât de la chrestienté, Douay, chez Jean Bogard, 1580). Vgl. P. van Peteghem , Politieke Ideologie i n de Apologie, in: Apologie van W i l l e m van Oranje. H e r taling en evaluatie na vierhonderd jaar, 1580—1980, Tielt—Amsterdam 1980, S. 42—43. 70 Vgl. § V I I . 71 Vgl. F N 41.
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Sie beauftragten den Syndikus („pensionaris") der Stadt Gouda, Francois Vranck ( ± 1555—1617)78 damit, eine „Deduktion", d . h . ein juristisches Gutachten zur Darlegung der Tatsache anzufertigen, daß die holländischen Grafen seit mehr als acht Jahrhunderten ihre Befugnisse von den holländischen Ständen hergeleitet hätten, daß die Grafen stets unter Beratung und jedesmaliger Genehmigung der Stände Gesetze gegeben und regiert hätten, ferner, daß die Stände i n Ermangelung einer legitimen Ausübung der fürstlichen Gewalt diese stets selbst ausgeübt hätten und daß folglich die gräflichen Rechte und damit die Souveränität des Landes seit der nach dem Natur- und positiven Recht legitimen Absetzung Philipps II. der holländischen Ständeversammlung zukämen, welche aus Beauftragten der beiden holländischen Stände, d. h. der Ritterschaft und der Städte, also aus Repräsentanten des Volkes im verfassungsrechtlichen Sinne zusammengesetzt sei. Diese Deduktion wurde am 16. Oktober 1587 durch eine Resolution der holländischen Ständeversammlung genehmigt und demzufolge zur offiziellen Lehre erhoben 74 . Bald darauf wurde sie auch i n den übrigen Provinzen der Vereinigten Niederlande zur herrschenden verfassungsgeschichtlichen und verfassungsrechtlichen Doktrin. Angesichts der Tatsache, daß diese „Lehre" i m Jahre 1610 von niemand anderem als Hugo Grotius in seinem ,Liber de antiquitate reipublicae Batavicae' (Leiden, 16101)75 näher ausgearbeitet wurde — der dadurch wie F r u i n behauptet hat, „den I r r t u m seiner Zeit angesichts der A r t und der Grenzen der frühen landesherrlichen Gewalt klassisch machte" 78 — kann nicht erstaunen, daß Althusius sie i n seiner oben 72
Vgl. I. H. Gosses/ N. Japikse, Handboek tot de Staatkundige Geschiedenis van Nederland, 3. Aufl. bearb v. R. Post u. N. Japikse, Haag 1947, S. 414—421; Veen (FN 2), S. 303—304. 78 Uber diesen: J.Huges, Het leven en bedrijf van mr. Franchois Vranck (Diss. Leiden), Haag 1909. 74 Es gibt verschiedene ältere u n d jüngere Textausgaben dieser Deduktion. Sie wurde auch von Van Meteren publiziert, so z. B. i n der niederländischsprachigen Edition v o m Jahre 1608—'09: „Commentarien Ofte Memorien Van-den Nederlandtschen Staet, Handel, Oorloghen ende Gheschiedenissen van onsen tyden, etc. Mede vervattende enige haerder Ghebueren handelinghen. Beschreven door Emanuel van Meteren. Ende B i j hem voor de tweede ende leste reyse oversien, verbetert ende vermeerdert. Oock soo verre ghebrocht totten af-standt van Wapenen ende Vrede i n 't Jaer 1608. Ghedruckt op Schotlandt buyten Danswijck by Hermes van Loven. Voor den A u t h e u r " (o. J.), fol. 37vo—4iro (Buch 14). Jüngere Textausgaben i n englischer Sprache bei I. Leonard Leeb, The Ideological Origins of the Batavian Revolution. History and Politics i n the Dutch Republic 1747—1800, The Hague 1973, p. 283—288 u n d bei Ε. Η. Kossmann/ Α. F. Mellink, Texts concerning the Revolt of the Netherlands, Cambridge 1974, p. 274—281. 75 Wie auch i n der niederländischen Ubersetzung: Tractaet van de oudtheyt van de Batavische n u Hollandsche Republique (Haag 1610). 76 Robert Fruin, Geschiedenis der Staatsinstellingen i n Nederland tot den val der Republiek, hrsg. von H. T. Colenbrander, 2. Aufl., Haag 1922 (Unver-
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genannten Vorrede erwähnte; dies um so mehr, weil diese „aristokratische" Lehre — i m wesentlichen die der Staatssouveränität 77 — sich seinem System so gut, ja beispielhaft einfügte 78 . I m Gegensatz zu Van Meteren, der — wenigstens i n den vor dem Jahre 1614 erschienenen, von i h m selbst bearbeiteten Editionen seines Werks — klar hervortreten läßt, daß es sich i n diesem Punkte um ein innenpolitisch bedingtes „Manöver" der holländischen Stände Leicester gegenüber handelte, orientiert Althusius sich kritiklos an der damals i n der niederländischen Republik „offiziellen" Lehre 79 . Es bleibt offen, ob es sich hierbei um eine „unbewußte Voreingenommenheit für derzeitige Ideale" 8 0 oder um eine doktrinäre Interpretation der Geschichte handelt. X . Herrschaftsverträge und Widerstandsrecht in den Niederlanden
Finiri oportet. Schon aus den erwähnten Beispielen geht hervor, daß die Niederlande i n der dritten Auflage der Politica — neben anderen europäischen Staaten, vom Reich abgesehen, und neben den schweizerischen Stadtrepubliken 8 1 — eine nicht unwichtige Rolle spielen, namentlich als Quelle praxisbezogener Illustrationen wichtiger Elemente des diesem Werke zugrunde liegenden politischen Systems. Wäre anderes zu erwarten gewesen von einem Mann, der die Stadt, welcher er als Syndikus diente und welche Antholz einen „Klient(en) der Generalstaaten" nannte 82 , als eine hervorragende unter den niederländischen Handelsstädten bezeichnete 85 , von einem Mann, dessen „reformierte" Gemeinde zu Emden sich kirchlich eng mit den calvinistischen Gemeinänd. Nachdr. Haag 1980), S. 34. Vgl. Veen, V a n Vranck tot K l u i t (FN 2), S. 305; ders., De legitimatie v a n de souvereiniteit der Staten b i j Huber en K l u i t , i n : Bijdragen en Mededelingen betreffende de geschiedenis der Nederlanden 97 (1982), S. 185—215, besonders S. 187—188. 77 Vgl. Kossmann (FN 64), S. 5 u n d 15—18; Veen, De legitimatie (FN 76), S. 188; ders., V a n Vranck tot K l u i t (FN 2), S. 305—306. 78 Vgl. Winters (FN 40), S. 219 ff. u n d 259—260. 79 Nicht n u r i n seiner Vorrede — was j a aus Höflichkeitsgründen hätte geschehen können —, sondern auch i m Text, z. B. i n Politica X V I I I 80, 86 u n d 87. Die dortigen Verweisungen auf „Meteran. üb. 14 histor." beziehen sich gerade auf den Passus der dort wiedergegebenen Deduktion Vrancks! 80 Z i t a t aus E. H. Waterbolk, Zeventiende-eeuwers i n de Republiek over de grondslagen van het geschiedverhaal. Mondelinge of schriftelijke overlevering?, i n : Bijdragen en Mededelingen betreffende de geschiedenis der Nederlanden 12 (1957), S. 37; auch erwähnt von Veen, De legitimatie (FN 76), S. 187. 81 Vgl. Antholz (FN 3), S. 19. 82 Ibid., S. 227. 88 Vgl. Politica V 78: „Hac excellunt urbes Flandriae, Brabantiae, Hollandiae, Zelandiae, Frisiae, inter quas Embda eminet".
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d e n i n d e n N i e d e r l a n d e n zusammenschloß 8 4 u n d d e r d e n spanischn i e d e r l ä n d i s c h e n K r i e g als E m d e r Gesandter i m H a a g „ o f t aus d e r Nähe" verfolgte? 85 A b s c h l i e ß e n d sei i m ü b r i g e n noch d a r a u f h i n g e w i e s e n , daß d i e p o l i tische u n d Verfassungsgeschichte d e r N i e d e r l a n d e v i e l m e h r z u r U n t e r s t ü t z u n g essentieller B e s t a n d t e i l e d e r A l t h u s i s c h e n L e h r e v o r z u w e i s e n hat, als i n d e r P o l i t i c a herangezogen. E r w ä h n t w u r d e ζ. B. schon 8 6 , daß es i m späteren M i t t e l a l t e r i n v i e l e n n i e d e r l ä n d i s c h e n L a n d e s h e r r l i c h k e i t e n „ H e r r s c h a f t s v e r t r ä g e " zwischen d e n j e w e i l i g e n L a n d e s h e r r e n u n d S t ä n d e n gab, u n t e r a n d e r e m i m H e n n e g a u 8 7 , i m a l t e n H e r z o g t u m von L i m b u r g 8 8 , i m B i s t u m Lüttich89, i m B i s t u m Utrecht (Ober- u n d N i e d e r s t i f t ) 9 0 s o w i e i m H e r z o g t u m G e l d e r n u n d i n d e r Grafschaft Z u t p h e n 9 1 . I n diesen u n d a n d e r e n 9 2 T e r r i t o r i a l s t a a t e n d e r N i e d e r l a n d e 8i
Antholz (FN 3), S. 28. Ibid., S. 70; vgl. A. Th. van Deursen (Hrsg.), Resolutiën der Staten-Generaal, nieuwe reeks 1610—1670, eerste deel 1610—1612, Haag 1971 ('s Rijks Geschiedkundige Publicatiën, grote serie Nr. 135), S. 104 und 264. 86 Vgl. § V I . 87 Dazu: A. Scuf flaire, Les serments d'inauguration des comtes de Hainaut (1272—1427), i n : Anciens Pays et Assemblées d'États/Standen en Landen 1 (1950), S. 79—133; J. M. Cauchies, L a Constitution, le serment et le prince dans le Hainaut ancien, i n : Code et Constitution, Mélanges historiques/ Wet boek en Grondwet i n historisch perspectief. Liber amicorum John Gilissen, Antwerpen 1983, S. 51—60, besonders S. 58 Anm. 39. 88 Dazu: M. Y ans, Joyeuses Entrées et serments d'inauguration au duché de Limbourg, i n : B u l l e t i n de la Société Verviétoise d'archéologie et d'histoire 42 (1955), S. 149—176; L. (E. M. A.) van Hommerich, Korte verhandeling over den corporatieven staatsvorm i n het hertogdom L i m b u r g en de Landen v a n Overmaas tijdens de late Middeleeuwen, o. O. (Löwen) ο. J. (1937). 89 Dazu: A. Wohlwill, Die Anfänge der landständischen Verfassung i m Bist h u m Lüttich, Leipzig 1867; M. Deschamps, Essai sur le pays de Liège et sur ses lois fondamentales, L ü t t i c h 1867; J. Lejeune, Liège et son Pays: naissance d'une patrie ( X l I I e — X V I e siècle), Liège 1948. 90 Dazu neuerdings: Van Standen tot Staten. 600 Jaar Staten van Utrecht 1375—1975, Utrecht 1975 (Stichtse Historische Reeks Nr. 1); D. Th. Enklaar, De Stichtse Landbrief van 1375, Amsterdam 1950 (Mededelingen d. Kon. Akad. v. wetensch., afd. letterkunde, Nieuwe Reeks 13, 8); A.J.Maris, V a n Voogdij tot maarschalkambt. Bijdrage tot de geschiedenis der Utrechts-bisschoppelijke staatsinstellingen, voornamelijk i n het Nedersticht, Utrecht 1954, S. 131—135 u n d 152. 91 Dazu: W.J.Alberts, De Staten van Gelre en Zutphen tot 1459, Groningen—Djakarta 1950; ders., De Staten van Gelre en Zutphen (1459—1492), Groningen—Djakarta 1956. Uber den Venloer Vertrag (1543) zwischen K a r l V. und den geldrischen Ständen u n d dessen mühsame Ausführung: ders., Gelderland van 1566—1609, i n : P. J. M e i j u. a., Geschiedenis van Gelderland 1492— 1795, Zutphen 1975, S. 79—96. 92 Z u den südlichen Niederlanden i m allgemeinen (veraltet): Ch. Faider, Etudes sur les constitutions nationales (Pays-Bas autrichiens et Pays de L i è ge), Brüssel 1842; J. Gilissen, Le régime représentatif avant 1790 en Belgique, Brüssel 1952. Handliche Textausgabe vieler dieser „capitulations", „serments" u n d anders genannten Herrschaftsverträge i n : A. Lallemand/W. de Vreese, Documents Fondamentaux de l'histoire de Belgique, L ü t t i c h 1913. 85
Die Niederlande i n der „Politica" des Althusius
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gab es i m späteren Mittelalter tatsächlich mehr oder weniger fortgeschrittene Ansätze zu einer „dualistischen" Regierungsform, gab es tatsächlich ein mehr oder weniger weitgehendes Mitgesetzgebungs- und Mitbestimmungsrecht der Stände sowie unantastbare „Freiheiten" der Landsassen dem Fürsten gegenüber, welche sogar schriftlich in „Herrschafts Verträgen" 98 niedergelegt waren, wie z. B. die „Paix de Fexhe" (1316) i m Bistum Lüttich, der „Srichtse Landbrief" (1375) im Bistum Utrecht und der Vertrag zwischen Reinald II. von Geldern und den geldrischen Städten vom 31. J u l i 131994. Von allen diesen Verträgen, wie immer sie auch genannt seien („capitulation", „serment", „landbrief", „keur", „verbondsbrief" usw.) gibt Althusius nur eine Kurzfassung des brabantischen „Fröhlichen Einzugs" 95 , wahrscheinlich w e i l dieser — auch von Philipp II. 1549 noch beschworene — Vertrag i m Rahmen des Aufstandes der Niederlande gegen Philipp II. zunächst eine wichtige Rolle gespielt hat 9 6 . Glücklicherweise enthält diese Kurzfassung jedenfalls auch eine Andeutung der berühmten Klausel bezüglich des Widerstandsrechtes 97 , derzufolge den brabantischen Untertanen („Prälaten. Bannerherren, Rittern, Städten, Freiheiten und allen anderen unseren vorbenannten Untertanen") i m Falle einer ernstlichen Verletzung dieses Vertrags von Seiten des Fürsten ein Widerstandsrecht i m Sinne eines Dienstverweigerungsrechts zugestanden wurde 9 8 . 93 Z u Herrschaftsverträgen i m europäischen Rahmen: R. Vierhaus (Hrsg.), Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze, Göttingen 1977; W.Näf (Hrsg.), Herrschaftsverträge des Spätmittelalters, Bern 1951. I m deutschen Raum: F. Härtung, Herrschaftsverträge u n d ständischer Dualismus i n deutschen Territorien, i n : W . N ä f (Hrsg.), Schweizer Beiträge zur A l l g e meinen Geschichte Bd. 10 (1952), S. 163 ff. 94 W o r i n er u. a. zusagte: „ . . . n i h i l ordinabimus seu disponemus nisi sit de consensu scabinorum nostrorum c i v i t a t u m et oppidorum" (Alberts , De Staten v a n Gelre en Zutphen tot 1459 [FN 91], S. 51.) 95 Vgl. F N 29—31. 98 Vgl. De la Fontaine Verwey, De B l i j d e Inkomste (FN 29) u n d Geurts, Het beroep op de B l i j d e Inkomste (FN 29). „Pamflettisten" von aufständischer Seite behaupteten i n den siebziger Jahren des 16. Jhts. mehrmals, der „ F r ö h liche Einzug" sei nicht n u r f ü r Brabant, sondern auch für die übrigen niederländischen Provinzen verbindlich. I m „Plakkaat van Verlatinge" (1581) w i r d noch auf den „Fröhlichen Einzug" Brabants Bezug genommen. 97 Politica X I X 46 sub 11. 98 Das von Althusius ebd. erwähnte Recht der Untertanen, i n einem solchen Falle einen zeitweiligen Regenten zu wählen, kommt n u r i n älteren Fassungen des „Fröhlichen Einzugs" vor. Die von K a r l V. (1515) u n d Philipp I I . beschworenen Fassungen kennen n u r das Recht zur Dienstverweigerung u n d zum zeitweiligen Ungehorsam (vgl. Mennes [ F N 31], S. 162—163). Es gibt übrigens noch andere niederländische Herrschaftsverträge, welche ein W i derstandsrecht kennen, w i e der „Stichtse Landbrief" von 1375. Vgl. De Monté verhören (FN 41), S. 214 Anm. 33.
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Dem Wortlaut und der Tradition nach war den (brabantischen) Untersassen i m Falle einer Tyrannei seitens des Landesherrn nur ein zeitweiliger Ungehorsam gestattet, jedoch bei Aufrechterhaltung des Untertanenverbandes. „Neu" war demzufolge die Entwicklung, welche sich 1581 i n den nördlichen Niederlanden vollzog: vom zeitweiligen Dienstverweigerungsrecht zum endgültigen „Verlassimgsrecht", vom rechtlich erlaubten vorübergehenden Ungehorsam zur radikalen Aufhebung des Untertanenverbandes qua talis**. Diese Entwicklung wurde — wie auch Althusius' Lehre vom Widerstandsrecht (ius resistentiae et exauctorationis) — von protestantischen Monarchomachen calvinistischer Prägung beeinflußt 100 . So sieht man Praxis und Lehre in der Politica zusammenfließen 101 .
99 Diese E n t w i c k l u n g wurde m i t Hecht stark betont von Oudendijk S. 38—39. îoo v g l < winters (FN 40), S. 86 ff. u n d 260 ff. 101
(FN 68),
A m Ende dieses Aufsatzes möchte ich Fräulein J. J. Verbeek, studentische Assistentin am Gerard N o o d t - I n s t i t u t für Rechtsgeschichte der U n i versität zu Nijmegen, f ü r ihre zahlreichen bibliographischen Recherchen herzlich danken, w i e auch H e r r n D. Wyduckel zu Münster für seine äußerst genaue sprachliche Überprüfung meines Manuskripts.
ALTHUSIUS UND BURGSTEINFURT Von Hans Jürgen Warnecke, Steinfurt Nur wenige Jahre weilte Johannes Althusius i m Münsterland. Die Zeit seines Aufenthalts i n Burgsteinfurt und seine Lehrtätigkeit an der dortigen Hohen Schule sind der Gegenstand dieser Studie. Ferner gilt es, dem Lebenslauf des Gelehrten einige genauere Daten hinzuzufügen. A m 27. Februar 1592 schreibt Johannes Althusius noch aus Herborn 1 , daß den Grafen von Nassau sein Weggehen verdrieße und es dieser möglicherweise durch ein Schreiben an den Grafen Arnold IV. von Bentheim (1554—1606) zu verhindern suche. I n einem Brief 2 des Althusius von Ende A p r i l 1593 ist dann zu lesen, er sei vor einem Jahr vom Grafen von Bentheim zur Übernahme der juristischen Professur an die Steinfurter Hohe Schule berufen worden. Aus diesen Zeitangaben läßt sich die Aufnahme der Lehrtätigkeit des Althusius an der Hohen Schule i n Burgsteinfurt zu Beginn des Sommersemesters 1592 erschließen. Die Hohe Schule i n Burgsteinfurt war i m Jahre 1588 i n Schüttorf in der Grafschaft Bentheim gegründet und bereits 1591 i n die Grafschaft Steinfurt verlegt worden 3 . Ihre Vorbilder waren die Hohe Schule in Straßburg, an der Graf Arnold von Bentheim studiert hatte, und die 1 Carl Joachim Friedrich, Politica Methodice Digesta of Johannes A l t h u sius (Althaus), Cambridge 1932, S. C X X X I f . : Althusius schreibt an den damaligen Prorektor der Hohen Schule i n Burgsteinfurt, Hermann H(a)usmann, u n d k ü n d i g t sein Eintreffen zu Ostern an. E r schreibt weiter: „ . . . Generosus et illustris Dominus Comes Nassoviae m e u m discessum moleste fert, et forte eum impedire tentabit litteris apud illustrem et Generosum D o m i n u m nostrum Arnoldum. Sed boni v i r i est pacta servare . . 2 Friedrich (FN 1), S. C X X : „ . . . Ego ante annum ap illustris Domino Comité Bentheimensi ad professionem j u r i d i c a m i n schola Steinfurtensi vocatus relicta Herbornensi schola i n qua per sexennium jus docueram, j a m Steinf u r t dego." s Georg Heuermann, Geschichte des reformierten gräflich Bentheim'schen Gymnasium Illustre A r n o l d i n u m zu Burgsteinfurt, Burgsteinfurt 1878; Rudolf Rubel, Das Gymnasium A r n o l d i n u m i m Wandel der Zeiten, Burgsteinf u r t 1953; Peter Veddeler, Das Testament des Grafen A r n o l d von Bentheim v o m Jahre 1591, i n : Jahrbuch des Heimatvereins der Grafschaft Bentheim 1973 (Das Bentheimer Land, B a n d 76).
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n u r v i e r J a h r e z u v o r g e g r ü n d e t e H o h e Schule i n H e r b o r n , m i t der nach A u s w e i s d e r H e r b o r n e r M a t r i k e l 4 die b e n t h e i m i s c h e G r a f e n f a m i l i e besonders eng v e r b u n d e n w a r . D e n m i t d e n F ü r s t e n - u n d G r a f e n h ä u s e r n v o n K u r p f a l z , Nassau, S o l m s u n d W i t t g e n s t e i n n a h v e r w a n d t e n G r ü n d e r d e r H o h e n Schule i n S t e i n f u r t , d e n Grafen Arnold von Bentheim — durch Erbschaft u n d H e i r a t auch L a n d e s h e r r d e r G r a f s c h a f t e n S t e i n f u r t , T e c k l e n b u r g u n d ( H o h e n ) - L i m b u r g — h a t t e Johannes A l t h u s i u s sicherlich i n H e r b o r n k e n n e n g e l e r n t , w o die d r e i ä l t e s t e n noch sehr j u n g e n Söhne des G r a f e n seit 1586 s t u d i e r t e n 5 . I n B u r g s t e i n f u r t , d e m „ E r t z - K e t z e r - N e s t , welches i n A n s e h u n g des h e r u m b l i e g e n d e n S t i f f t s M ü n s t e r nichts anders ist alß e i n schwartzer Flecke i n e i n e m schönen P u r p u r m a n t e l " ® , t r a f Johannes A l t h u s i u s aber a u c h e i n e n F r e u n d aus K ö l n e r S t u d i e n t a g e n w i e d e r , d e n L i z e n t i a t e n der Rechte Johannes Block, d e r i n M ü n s t e r 7 aufgewachsen w a r u n d w o h l noch w ä h r e n d der S t e i n f u r t e r Z e i t des A l t h u s i u s juristische V o r l e s u n g e n g e h a l t e n h a t . A l t h u s i u s n e n n t i h n i n d e m schon e r w ä h n t e n B r i e f 8 v o n E n d e A p r i l 1593 a n J o h a n n Jacob G r y n a e u s i n Basel „ m e u s o l i m i n A c a d e m i a C o l o n i e n s i c o n d i s c i p u l u s 9 et collega charissi4 Die M a t r i k e l der Hohen Schule und des Paedagogiums i n Herborn, hrsg. v. Gottfried Zedier u. Hans Sommer, Wiesbaden 1908 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission f ü r Nassau V). 5 E b e r w i n W i r i c h (* 14.1.1576), A d o l p h (* 7.7.1577) u n d A r n o l d Jobst (* 4. 4. 1580) von Bentheim sind m i t ihrem Praeceptor Johannes Sodingius u n d dessen Helfer Johannes Molanus 1586 (Nr. 16—20) i n der Herborner M a t r i k e l verzeichnet. I m Jahre 1590 w a r der junge Eberwin Wirich von Bentheim (Ehren-)Rektor der Herborner Schule. Vgl. auch Hans Jürgen Warnecke, A l t husius i n Steinfurt. Sein W i r k e n — Seine Umwelt, i n : 125 Jahre wiederbegründetes Gymnasium A r n o l d i n u m (1853—1978), Burgsteinfurt 1978, S. 19— 40, hier besonders S. 22. 8 Fürst zu Bentheim'sche Bibliothek, Burgsteinfurt, Sammelband A 50, Nr. 63: A n einen guten Römisch-Catholischen Freund zu Bentheim, 1669. 7 Johann Block hatte m i t seinen Eltern Johann Block aus Horstmar u n d A n n a Hoppenbrouwer (aus Burgsteinfurt) sowie seinen Geschwistern am 2. 4.1582 das Bürgerrecht der Stadt Münster erhalten, am 18.1.1597 wurde Johanns F r a u Elske Hesseling aus Warendorf i n Münster eingebürgert (Enrst Hövel, Das Bürgerbuch der Stadt Münster 1538 bis 1600, Münster 1936, Nr. 523 u n d 1377). Die Chronik des Jesuitenkollegs i n Münster (Staatsarchiv Münster (STAM), Münsterischer Studienfonds Nr. 2917, Historia Collegii Monasteriensis SJ. 1585—1618) hat zum 18.1.1611 die Eintragung: „Eiecti e senatu L(icentiatus) Block et Statuarius Lack Calvinistae". Johannes Block starb i n Münster i m Dezember 1629 u n d wurde i n Burgsteinfurt begraben. Die Inschrift seines dortigen Grabsteins lautete: „ A n n o 1629 Dec. Monasterii pie i n Christo defunctus Joannes Bloccius I . U. L . et advocatus civitatis causa religionis ipsa terra 2. Januarii honorifice hic sepultus." 8 Friedrich (FN 1), S. C X X . 9 I n die K ö l n e r Universitätsmatrikel haben sich Johannes Althusius u n d Johannes Block nicht eingetragen! Dabei läßt sich der Aufenthalt von Jo-
Althusius u n d Burgsteinfurt
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mus". I n Burgsteinfurt hat Johannes Althusius zweifellos auch die Bekanntschaft von zwei Namensvettern gemacht, die ganz i n der Nähe auf ihren Wasserburgen wohnten und wie die meisten Adligen i m Stift Münster i n jener Zeit der Lehre Calvins folgten. Es waren das Johann v. Althaus auf Haus Welbergen 10 bei Metelen und dessen gleichnamiger Vetter auf Haus Althaus i n Nordwalde 11 . Von diesen beiden hatte sich der jüngere, i m Jahre 1561 geborene Johann v. Althaus am 11. Juni 1579 als „Johann Althusius Monasteriensis" i n die Marburger Universitätsmatrikel 1 2 eingeschrieben oder einschreiben lassen. Dieser Eintrag hat zu Überlegungen Anlaß gegeben, ob sich dahinter vielleicht der gleichnamige Herborner und Steinfurter Professor verbergen könnte. Martin Rudolph hat i n seiner Studie „Althusius-Althaus. Fragmente zur Geschichte einer wittgensteinischen Familie und ihrer Verzweigungen" versucht, die an sich sinnverwandten Ortsbezeichnungen „Monasteriensis" und „Monachusanus" gleichzusetzen, was aber nicht angeht 13 . A n eine zeitlich befristete, sozusagen „leihweise" Überlassung des Johannes Althusius an den Grafen Arnold IV. von Bentheim zum Zweck des Aufbaues der juristischen Fakultät an der Hohen Schule i n Steinfurt läßt sich entgegen früheren Erwägungen 14 wohl nicht denken. I n Kenntnis des Hauptwerkes von Althusius kann man vielleicht sagen, daß der Gelehrte die Steinfurter Professur ganz bewußt angestrebt haben mag. Verständlich w i r d jetzt auch der Verdruß und die tiefe Verärgerung des Grafen von Nassau über den Weggang des Althusius von Herborn nach Steinfurt und später von Herborn nach hannes Althusius i n K ö l n eindeutig nachweisen: I n das heute i n der Schulbibliothek zu Herborn befindliche Buch „Aristotelis l i b e l l i q u i parva naturalia vulgo appellantur", K ö l n 1514, t r u g er eigenhändig auf dem Titelblatt ein „ E x libris Joannis A l t h u s i i Diedenhusani Colonia Apr. (15)81". 10 Johann v. Althaus (Oldenhues) starb kinderlos am 1. 5.1604. Sein aufwendiges Grabmal i n der alten Kirche zu Welbergen schuf der calvinistische Bildhauer Hans Lake (vgl. F N 7) aus Münster. E i n Sohn des Schwagers u n d Erben von Johann v. Althaus, Johann Ernst v. Scheie (1618—1633) w u r d e an der Großen (ev.) Kirche i n Burgsteinfurt beigesetzt, wo sich sein Grabstein noch heute i n der Kirchenwand befindet. 11 I n einem Wegerechtsprozeß (Sammlung G. Kramann, Nordwalde) sagt ein Zeuge am 9. 6.1661 aus, er könne sich nicht erinnern, „daß die von Altenhaus nach der Kirchen gefahren noch geritten, dieweilen sie calvinisch oder reformiert gewesen". 12 Julius Caesar, Cat. stud. Schol. Marp., M a r b u r g 1882; Wilhelm Falckenheiner, Personen- u n d Ortsregister z. d. M a t r i k e l u. d. Annalen der U n i v e r sität M a r b u r g 1527—1652, M a r b u r g 1904, T e i l I I I , p. 33. 18 Martin Rudolph, Althusius-Althaus, Fragmente zur Geschichte einer wittgensteinischen Familie u n d ihrer Verzweigungen, i n : Archiv f ü r Sippenforschung, 44. Jg., Heft 69, Febr. 1978, Heft 72, Nov. 1978, Heft 76—77, Febr. 1980, hier besonders Heft 73, S. 52. 14 Warnecke (FN 5), S. 23.
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Emden 15 . Ein Briefkonzept Johanns VI. von Nassau an die Stadt Emden macht dies besonders deutlich: Johann der Elter, Grave zu Naßaw, Catzenelnbogen, Vianden u n d Dietz, H e r r zu Beilstein Unsern günstigen grüß zuvor. Ersame, besonders liebe u n d t gute gönnere, E w e r schreiben, so den 8ten hujus datirt, haben w i r den 20 ejusdem w o h l empfangen u n d t daraus verstanden, daß D. Althusius sich erklert, den von euch i h m angebottenen Syndicatum w i l l i g l i c h ahnzue nemen u n d t zu v e r tretten, da er zuvor sein profession u n d t dienst bei uns resignirt undt unsere b e w i l l i g u n g darüber erlangt. Wie w o h l w i r uns n u n zue ihm, dem D(octor) versehen, er w ü r d e den gemeinen nutzen u n d t Religions werck, w i e auch uns, unsere landt undt leuth, sein p a t r i a m sambt weib u n d t kinderen beneben den empfangenen guthertzigen erinnerungen, vermahnungen i n mehrer acht u n d t respect als seinen eigenen nutzen u n d köpf gehabt u n d t genommen haben, so wissen w i r uns doch seinethalben weiters nicht zue bemühen noch einzuelaßen, noch i h m deßwegen einigen consens u n d t v e r w ü l i g u n g zue geben, sondern wollen ihnen hierinnen u f sein ebentewr u n d t eigenen w i l l e n handien laßen, u n d t dorfft i h r deßhalben bei S(eine)r Ex(cellenc)a unserm gnedigen H e r r n Grave Moritzen noch unserm Sohn Grave Wilhelmen oder den H e r r n General Staten, als welche i n diesem f a l l m i t unserer schulen undt diesem Doctor nichts zue t h u n noch uns hierinnen ziehl u n d maas zue geben u n d t vorzue schreiben haben, noch daßelbig ohn zweifei auch nicht begehren werden, u m b keine intercession ahnsuchen, sinthemal w i r es bei unser vorigen meinung undt gethanen erclerung beruhen u n d t bleiben laßen, u n d t darinnen nichts zu endern wißen. Auch unsere schul nicht so gering schetzig u n d t wenig als er, der Doctor , oder andere achten u n d t halten können. Günstiges fleißes gesinnendt, I h r w o l l e t als Christ liebende L e u t h unser hinfürter m i t abspannung unserer Dhiener w i e auch betrubung unserer 15 ST AM, Fürstentum Siegen, Landesarchiv l a , 14: 28 Briefkonzepte Graf Johanns V I . von Nassau an die Stadt Emden wegen des Fortgangs v o n A l t husius, davon n u r fünf datiert: 21., 22. u. 24. 5.1604 sowie zwei Konzepte v o m 20. 6.1604. Auszug aus dem 1. Konzept (S. 6): „ . . . „ . . . Da w i r n u n diesen guten Mann, welcher zum Schulwerck gewünscht, von Herborn verlieren sollen u n d nicht alspalt eine ebenmeßige tugliche persohn, welche w i r dan i n warheit dieser zeit nicht zu finden wissen, ahn seine statt bekommen solten, so würde (und dardurch nicht allein diese Schul einen harten stoß u n d riß erleiden, sondern der gemeine nutz) gedachte unsere schuel darüber nicht einen geringen stoß u n d riß erleiten u n d dardurch nicht allein das Schulwerck fast gantz u n d gahr scheitern u n d ubern häufen gehen . . . " . A l l e U m - u n d Neuformulierungen der gräflichen Briefe an die Stadt E m den haben den erhofften Erfolg nicht gebracht. Johannes Althusius hat sich von seinem gefaßten Entschluß nicht abbringen lassen, die i h m von den Bürgermeistern u n d dem Rat der Stadt Emden angetragene Stelle als Syndikus anzunehmen. Es muß i h n w o h l sehr gereizt haben, f ü r ein stadtstaatähnliches Gemeinwesen zu arbeiten, das sich erst kurz zuvor i n der „Emder Revolution" von 1595 m i t Hilfe der Niederlande die Unabhängigkeit von seinem Landesherrn, dem Grafen von Ostfriesland, erkämpft hatte u n d dessen Bedeutung als nichthansischer Hafen durch den Spanisch-Niederländischen K r i e g (1566—1609) besonders hervorgehoben worden war.
Althusius und Burgsteinfurt
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kirchen undt schulen undt einführung solcher bösern Exempell u n d t Consequentz verschonen u n d pleiben auch sonsten m i t allem gutem w i l l e n w o h l gewogen, euch damit i n gnadreichen schütz undt schirm des A l l e r höchsten bevehlendt. D a t u m Dillenberg den 20ten J u n i i Ao. 1604."
I m Hinblick auf sein möglicherweise schon damals konzipiertes Hauptwerk, w i r d er ein starkes Interesse daran gehabt haben, die ständisch gegliederte Gesellschaft i m Stift Münster, die Einrichtung der Landtage und die urtümliche Rechtsprechungspraxis der Frei- und Gogerichte des Münsterlandes 10 kennenzulernen und zu studieren. Hierfür boten sich i h m i n Burgsteinfurt hervorragende Möglichkeiten. Graf Arnold IV. von Bentheim gehörte als Graf zu Steinfurt zu den Landständen des Stiftes Münster, die auf dem Laerbrock bei Bösensell unter freiem Himmel ihren jährlichen Landtag abhielten. Außerdem war der Graf als Landesherr der Grafschaften Steinfurt, Bentheim und Tecklenburg sowie der Herrschaft Rheda für die Ausschreibung der Landtage in diesen Territorien zuständig. Die Edelherren und späteren Grafen zu Steinfurt besaßen seit 1279 die Freigrafschaft m i t dem Haupstuhl i n Laer „unter den seven L i n den" am Heidenkreuz und den Freistühlen i n Leer, Wettringen, Holtwick und Havixbeck als kaiserliches Lehen 17 . Während der Steinfurter Zeit des Althusius hatte der Freigraf Johann Beifang seinen Wohnsitz in dieser Stadt. A u f dem Rüschenfelde bei Laer wurde das jährliche Landgoding des Gogerichts Rüschau m i t den Kirchspielen Burgsteinfurt, Borghorst, Laer, Holthausen und einigen Darfelder und Billerbecker Bauerschaften abgehalten. I m 17. Jahrhundert war der Inhaber des juristischen Lehrstuhls der Steinfurter Hohen Schule gleichzeitig auch Stadtrichter zu Burgsteinfurt und Gograf zu Rüschau. Der Gerichtsplatz des Gogerichts zum Sandwell, das für sämtliche Gogerichte i m Stift Münster die oberste Berufungsinstanz war, lag nur wenige hundert Meter außerhalb der Grafschaft Steinfurt in der Metelener Heide. Das hier gesprochene Recht wurde i m Jahre 1585, also nur wenige Jahre vor der Ankunft des Althusius i n Burgsteinfurt, erstmals kodifiziert 16 Friedrich Philippi, Landrechte des Münsterlandes, Veröffentlichungen der Historischen Kommission f ü r Westfalen, Münster 1907, Ewald Schmeken, Die sächsische Gogerichtsbarkeit i m Raum zwischen Rhein u n d Weser. Inaug. Diss. Münster 1961. 17 Westfälisches Urkundenbuch I I I , Nr. 1069; Inventare der nichtstaatlichen Archive, Bd. 1, Heft I V , Kreis Steinfurt, Fürst zu Bentheim'sches Archiv, Burgsteinfurt, Kaiserl. Belehnungen Nr. 2, S. 82.
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und dürfte i h m i n einer der zahlreichen Abschriften, die auch i n die Hände der Bauerrichter und Amtsschulzen kamen, vorgelegen haben 18 . Da Anwesenheitslisten nicht geführt wurden, läßt sich nicht sagen, ob Johannes Althusius an einem Landtag, einem Landgoding oder an den Sitzungen des Frei- und Gogerichts einmal teilgenommen hat. I n den i m Steinfurter Stadtarchiv aufbewahrten Protokollen des Gogerichts Rüschau 19 haben sich aber zwei eigenhändige Schreiben von Johannes Althusius erhalten, m i t denen er jeweils ein am Gogericht gesprochenes Urteil als rechtmäßig ergangen bestätigte. I n den beiden Schreiben vom 26. Mai und 27. Oktober 1594 w i r d ein Johann Bitters von Raesfeld genannt, das eine Mal als Beklagter, das andere M a l als Kornote (Kurgenosse) des Gerichts. Er w a r als Sohn des ehemaligen Wiedertäufers A r n d Bitters von Raesfeld i n einem Patrizierhaus am Markt i n Emden aufgewachsen, ist i m Jahre 1579 als Fernhändler i n dieser Stadt nachweisbar, als er türkische Tapeten nach Danzig verfrachtete, und wohnte seit 1580 wieder auf Haus Konerding bei Billerbeck i m Gogericht Rüschau, dem Stammsitz der Familie. Die Frau des Freigrafen Johann Beifang war seine Halbschwester 20 . Noch nicht auszumachen ist, ob sich Johannes Althusius und der m i t den Emdener Verhältnissen bestens vertraute Johann Bitters von Raesfeld persönlich gekannt haben, es ist aber anzunehmen. Als Johannes Althusius i m Frühjahr 1592 nach Burgsteinfurt kam, hat er die Auswirkungen des Spanisch-Niederländischen Krieges auf das Münsterland und die Grafschaften Steinfurt und Bentheim aus nächster Nähe miterleben können. A m 6. Januar dieses Jahres hatten 100 spanische Reiter das nahegelegene Damenstift Borghorst restlos ausgeplündert. Dabei war die Pröpstin Anna v. Strick bei der Verteidigung der Archivkiste m i t einem Messer erstochen worden 21 . Kurz darauf lag ein Haufen Spanier i n Laer und verursachte dort große Schäden. A m 15. April, als Graf Arnold die Pfarrkirche i n Bentheim von allen päpstlichen Reliquien reinigen und die Altäre und steinernen Kruzifixe auf dem Kirchhof abbrechen ließ 22 , zog spanisches Kriegsvolk plündernd durch die Grafschaft Bentheim. 18
Kopie i m Besitz des Verfassers. Stadtarchiv Steinfurt, (noch) ohne Signatur. 20 ST AM, Reichskammergericht R 44, R 45, R 46, Β 654, G 522. 21 Stadt Borghorst 1950, Festschrift zur Feier der Stadtwerdung von Borghorst am 21. 5.1950, S. 5, hrsg. von der Stadtverwaltung und Heimatverein Borghorst. 22 Karl Georg Döhmann, Das Leben des Grafen A r n o l d von Bentheim (1554—1606), i n : Fürstl. Bentheim. Gymnasium zu Burgsteinfurt, Programm 1903, Burgsteinfurt 1903, S. 33. 19
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I m B r i e f 2 3 v o n E n d e A p r i l 1593 aus S t e i n f u r t an Johann Jacob Grynaeus b e k l a g t Johannes A l t h u s i u s die B e d r ü c k u n g der „ n o s t r a t e s " , sein e r L a n d s l e u t e , d u r c h die b e n a c h b a r t e n S p a n i e r u n d das H e e r der Generalstaaten. U n d sein B r i e f 2 4 v o m 13. A p r i l 1597 l ä ß t e r k e n n e n , w i e sehr er d e n G e n e r a l s t a a t e n e i n e n Sieg ü b e r d e n K ö n i g v o n S p a n i e n wünschte. I m R a t s p r o t o k o l l 2 5 des G r a f e n A r n o l d w i r d Johannes Althusius erstm a l s a m 12. S e p t e m b e r 1592 e r w ä h n t , als die E i n r i c h t u n g des Senats d e r H o h e n Schule beschlossen w u r d e . U m die gleiche Z e i t h a t t e sich A l t h u s i u s z u m Sprecher der S t e i n f u r t e r S t u d e n t e n gemacht, die die A b l ö s u n g des u n f ä h i g e n Professors der Theologie, Johannes Piscatorius — n i c h t z u v e r w e c h s e l n m i t d e m b e k a n n t e n H e r b o r n e r Professor u n d Olevianus-Schwiegersohn Johann Piscator 26 — forderten u n d m i t U n t e r s t ü t z u n g des A l t h u s i u s auch durchsetzen k o n n t e n . W e i l sie z u r E r h e l l u n g des W e r d e g a n g s v o n A l t h u s i u s b e i t r a g e n k ö n n e n , w e r d e n die E i n z e l h e i t e n dieses höchst b e m e r k e n s w e r t e n V o r g a n g s nach d e n A k ten27 in protokollartiger Kürze mitgeteilt: Es sei hievor f ü r ratsam angesehen worden, einen professorem publicum, der zugleich ein guter Theologus wäre, zur Schulen zu bestellen, u n d der Graf habe daher auf G r u n d einer kommendation des D. Pezelii (in Bremen) den Magister Johannem Piscatorium als einen gelehrten Hebräum, Graecum et L a t i n u m angenommen u n d erwartet, daß derselbe solches munus cum laude w o h l vertreten würde. Jetzt aber beklagen sich die 23 Friedrich (FN 1), S. C X X : „ . . . Quam misere nostrates a vicinis Hispanis et Belgico exercitu affligantur, hic t i b i prolixxe referre p o t e s t . . 24 Ebd., S. C X X : „ . . . Res o r d i n u m Belgicorum contra regem Hispaniae i a m apud nos felicem successum habere dicuntur . . . " 25 Fürst zu Bentheim'sches Archiv, Burgsteinfurt, Bestand A , Nr. 1541, Ratsprotokoll des Grafen A r n o l d von Bentheim 1585—1600: „ A n n o 1592 den 12 Septembris haben der Lie. Brewer und Jacobus Müntz, Secretarius, nachfolgende Sach verlesen, erwogen u n d sich darauf (über die Schule zu Steinfurt) erclert w i e folgt: Erstlich die Schriften wegen anstellung deß Senatus Scholastici zu Steinfurt belangendt, darauff ist i h r meinung u n d erclerung, daß sie sich H e r r n Dr. (Heinrich) Pottgießers (t 21.12.1603 auf der B u r g Bentheim, begraben i n seinem Heimatort Hamm) bedencken durchauß gefallen laßen, u n n d stehe allein bey meinem gnedigen Herrn, ob und waß I h r Gnaden dem D. Althusio, Rectori u n d Conrectori für Persohnen ex Theologia et Politicis zuordnen wollen, doch hielten sie es dafür, daß es diesen Winter m i t vorberurten dreyen professoribus allein anzusehen. Es sollen aber I h r Gnaden sich außtrücklich vorbehalten, so w o l l die leges scholasticas alß denn Senatum jederzeit nach gelegenheit zu verendern, zu mindern oder mehren u n d zu verbessern." S. D. Fürst Christian zu Bentheim danke ich an dieser Stelle herzlich für die jederzeit gewährte Benutzung seines Archivs. 26 Wie Anm. 25, Bestand A, Nr. 1151, Professur der Theologie und deren Besetzung. Brief von Johann Piscator an Graf A r n o l d I V . von Bentheim v o m 16.11.1593. 27 Warnecke (FN 5), S. 26—28 (Fürst zu Bentheim'sches Archiv, Bestand A, Nr. 1151, 27. Aug. 1592).
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studiosi, daß er perperam male et non methodice docire, u n d Piscatorius beklagt sich seinerseits über das Verhalten der Studenten. E r w ä h n t w i r d Rutgerus, der jüngsten Herren (Grafen) paedagogus. Der Graf fürchtet, die Schule, die er zu Gottes Ehre gestiftet, könne durch solchen Streit Schaden leiden, u n d er ersucht die vorgeladenen Herren, die Studenten zu versammeln, ihnen vorzuhalten, daß es ihnen nicht gebühre, ihrem Lehrer modum docendi vorzuschreiben, u n d von ihnen gründlich Gericht zu fordern, weshalb sie den Professor nicht hören wollten. Es w i r d darauf hingewiesen, daß der Rektor den Piscatorius früher dem Grafen gegenüber als einen sehr gelehrten M a n n gerühmt habe. Althusius w a r f i n die Debatte ein, es seien schon früher beide Parteien darüber gehört u n d zwischen ihnen v e r m i t t e l t worden, er bedauere es, daß dem Grafen jetzt wieder Klagen vorkommen. Der Rektor hatte den Studenten m i t der A u t o r i t ä t des Grafen gedroht, worauf sie den Piscatorius bis zur disputationem nuperimam gehört, dann aber wieder sich geweigert, w e i l ihnen seine lectiones nicht dienlich, nützlich noch erbaulich seien, obwohl sie i h n als einen gelehrten M a n n gelten lassen wollen. Graf A r n o l d fügte hinzu, er halte es f ü r unziemlich, daß die Studenten eigenmächtig handeln. Der Rektor meinte, w e n n der Senatus Scholasticus erst angeordnet sei, würde dem Grafen keine weitere Klage vorkommen. E r und Althusius hätten kein M a n d a t zur Einmischung i n dieser Sache gehabt; m i t den „classici" (Gymnasiasten) w ü r d e er sich der Gebühr nach verhalten haben, m i t den Studenten sei er überall zufrieden gewesen. Die Studenten hätten m i t dem Ausdruck „perperam" nicht beleidigen wollen. Auch habe der Rektor sie nicht zur Beschwerde angestiftet, wie es dem Grafen vielleicht hinterbracht worden sei. Dafür verbürge er sich m i t seiner ganzen A r m u t ( = Habe). Er achte es w o h l f ü r nützlich u n d nötig, daß ein guter, gelehrter, ansehnlicher u n d erfahrener Theologus diesen Orts bestellt würde, der den adversarii, i m Falle dies not täte, wüßte zu begegnen. Wenn Piscatorius ein solcher sei, so hätte der Graf keine Ursache, i h n abzudanken. Wenn nicht, so stehe dies beim Grafen. Hierauf wurde beschlossen, die Studenten anzuhören. Der Graf schickte daher die drei Professoren u n d die übrigen Anwesenden zur Schule. Die anwesenden „publici", also die Studenten, wurden zusammengerufen, der Rektor t r u g ihnen die Ansicht des Grafen vor u n d forderte sie auf, eine schriftliche Begründung ihres Verhaltens einzureichen. Der Wortführer der Studenten antwortete umgehend i n lateinischer Rede: Die Studenten seien nicht alle gegenwärtig, weshalb sie Zeit zur Überlegung bis morgen oder übermorgen forderten. Sie seien als „ p u b l i c i " nicht verpflichtet, die fruchtlosen lectiones Piscatorii zu hören, sie wollten aber an den Grafen über die merkwürdigen, von Piscatorius zur Disputation vorgelegten theses berichten. Rentmeister Heinrich Münnich erklärte anschließend, die Grundfrage sei, ob die Studenten berechtigt seien, über ihren Professor zu urteilen. Aber die Studenten blieben bei ihrer Erklärung. Die Professoren baten dann die Räte, beim Grafen zu betreiben, daß dieser Streit noch ante finem lectionum, also vor Semesterschluß, beigelegt würde, damit die Studiosi nicht v o r den K o p f gestoßen würden u n d darüber etwa m i t ihren discipulis ausbleiben, sich an andere Orte begeben und dadurch
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die Schule einen Rückschlag bekommen möchte. Das wurde dem Grafen berichtet. Dieser ließ die Sache zunächst auf sich beruhen u n d erwartete die schriftliche A n t w o r t der Studenten. Die „Klage der Studenten der berühmten Bentheimer Schule gegen M . Johannes Piscatorius", über acht Seiten lang u n d i n lateinischer Sprache, ließ nicht lange auf sich warten. Sie erzählt den ganzen Verlauf des Streits, der schon i m Sommer begonnen hatte. I n ihrer Eingabe erhoben die Studenten den V o r w u r f „obscuritatis, novitatis et falsitatis" gegen Piscatorius. Graf A r n o l d legte diese Beschuldigungen den Gelehrten und Predigern zur Prüfung vor u n d ließ auf G r u n d des Urteils derselben dem Piscatorius den Schuldienst i n Gnaden aufkündigen. Piscatorius wandte sich daraufhin direkt an den Grafen und bat u m M i t teilung der Gründe u n d Ursachen der Bezichtigungen, er wolle sich auch der Zensur unterwerfen u n d b i t t e u m erneute Beratung i n der Hoffnung, der Schule doch noch m i t Nutzen dienen zu können. Graf A r n o l d unterbreitete dieses Schreiben dem Hofmeister Bucholtz, dem Hofprediger Johann K e m n e r u n d den Professoren Althusius u n d Casmannus u n d besprach sich nochmals m i t ihnen. Althusius, dem die übrigen beipflichteten, hielt die Klage der Studenten f ü r nicht unvergeblich, w e i l die zur Disputation vorgelegten Thesen des Piscatorius i n der T a t zum Teil unannehmbar, unbrauchbar, absurd u n d dem W o r t Gottes gewissermaßen widersprechend seien. Ebenso könne er die dictata lectiones nicht billigen. Der Graf beharrte auf G r u n d der Ausführungen von Althusius auf der Dienstentlassung des Piscatorius u n d ließ dann über den weiteren I n h a l t des Briefes beraten. F ü r die A n t w o r t an Piscatorius wurden schließlich acht Punkte festgelegt. I n P u n k t 1 wurde erklärt, der Graf sei nicht verpflichtet, i h m die Gründe f ü r seine Entlassung anzugeben. I n den Punkten 2 u n d 8 heißt es, Piscatorius habe der Kirche u n d Schule nicht erbaulich vorgestanden. Auch eine Eingabe an die Gemahlin des Grafen m i t der Bitte u m Wiedereinstellung konnte an der Entlassung nichts mehr ändern.
I n der Sitzung des gräflichen Ratskollegiums am 28. Februar 1593 beratschlagten Graf Arnold IV. von Bentheim und seine Räte i n Anwesenheit von Johannes Althusius über die weitere Ausbildung der Grafensöhne und deren Verschickung zu Theodor Beza nach Genf 28 : 28 F N 25 (vgl. auch Warnecke [ F N 5], S. 29 f.): Noch ein letztes M a l w i r d Johannes Althusius i m Regierungsprotokoll des Grafen A r n o l d genannt, und wiederum geht es u m die Erziehung und das Studium der jungen Grafen, denen der Vater eine umfassende und sorgfältige Ausbildung zu vermitteln suchte: „ A n n o 1594 den 22 Augusti zu Steinfurt Rhat gehalten durch den wolgebornen pp. meinen gnedigen H e r r n i n n beysein deß Lie. Brewer und Jacobi Müntzen . . . Punct 7: Einen Praeceptoren vor die jüngste Herren an Rütgeri statt zu bestellen, ist für rhatsamb angesehen, derwegen m i t D. Althusio, dem Rector u n d Conrector zu sprechen, auch an die prediger der heimlichen (reformierten) Gmeind zu Collen derhalben zu schreiben, wie der Lie. Brewer zu t h u n sich erbotten."
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„28. 2.1593 sein nachfolgende Puncte zu Steinfurt i n n beisein deß w o l gebornen pp. meines gnedigen herren u n d I h r e r Gnaden rhäte, nemblich des Drosten (Bertram v.) Lützerath, Lie. Brewers , Jacob Müntz u n d Rentmeister Münnichs berhatschlagt worden . . . Punct 4: Ist der Punct wegen Verschickung des einen jungen H e r r n Arnoldus Jobsts (t 10.2.1643, Erbe der Grafschaften Bentheim u n d Steinfurt; i n seiner Leichenpredigt heißt es über seinen Studiengang: „ . . . so ist derselbe m i t dero H e r r n Brüdern Adolphen [Erbe der Grafschaft Tecklenburg] von den gräflichen Eltern durch Teutschland u n d Schwitz auff Geneva abgefertigt w o r den, da wolgemelte Herren m i t dem weitberühmten gotseligen H e r r n Doctore Theodoro Beza solche gemeinschaft gehabt, daß sie ein zeitlang dessen hauß u n d tisch genossen gewesen seyen . . . " ) oder desselbigen behaltung alhie u n d Zuordnung eines nottürftigen paedagogi. Den Rhäten, Hoffmeister Buchholtz, praeeeptori Sodingio und Schuirhat, absente domino comité a meridie allein vorgelesen u n d daß ein jeglicher sein v o t u m darüber geben wolle, durch den H e r r n Lie. Brewer ermant worden pp., daruff der Hoffmeister Bucholtz anfengklich sein bedencken vermeldt, daß seins erachtens nützlich, daß Graf Everwin Wirich vorerst auff Genff geschickt würde, u n d A r n o l d Jobst (* 4. 4.1580) noch zu jungk, an solche ort zu v e r reisen, und da eß etwan unsicher zu Genff sich ansehen lassen möchte, wehre besser m i t einen alß beeden an ander örter zu verreisen. . . . D. Althusius sieht f ü r rhatsamb an, daß m i t Grave Everwins Verschickung auff Genff, angesehen derselben schulen u n d andere gelegenheit m i t zusammen pp, w e i l aber A r n o l d Jobst noch so w e i t n i t khommen sein soll (welchs er n i t wisse), so hielte ers dafür, daß selbiger etwan auff eine particular schul gesandt würde, w e i l eß ihme vielleicht alhie bey hoff n i t dienlich (sei)." I n derselben S i t z u n g w u r d e d e m G r a f e n v o n B u r c h a r d v. W e s t e r h o l t , d e m B e n t h e i m e r L a n d d r o s t e n , u n d d e m g r ä f l i c h e n Landschreiber Jacob M ü n t z , e i n e m U r g r o ß v a t e r des späteren Danckelman'schen „ S i e b e n g e s t i r n s " a m k u r b r a n d e n b u r g i s c h e n H o f , der V o r s c h l a g u n t e r b r e i t e t , den b i s h e r i g e n Domscholaster u n d S t a t t h a l t e r des B i s t u m s M ü n s t e r , Conrad v. Westerholt, als „ H a u p t d e r R ä t e " , d. h. als K a n z l e r e i n z u stellen, w e i l er „ k e i n g e r i n g e r noch g e m e i n e r , sondern e i n ansehnlicher, v o r n e h m e r u n d w o l l g e ü b t e r M a n n " sei. I n der S i t z u n g selbst e r k a n n t e m a n die F ä h i g k e i t e n Conrads v. W e s t e r h o l t z w a r a u s d r ü c k l i c h an, w o b e i dessen genaue K e n n t n i s der m ü n s t e r i s c h e n V e r h ä l t n i s s e v o n g r o ßem V o r t e i l f ü r den G r a f e n sei, doch w u r d e die A n s t e l l u n g d a n n doch n i c h t beschlossen. V i e l l e i c h t h a t Johannes A l t h u s i u s , der a n d e r S i t z u n g t e i l n a h m , d e m G r a f e n , der j a erst w e n i g e Z e i t z u v o r i n seinen G r a f schaften das r e f o r m i e r t e B e k e n n t n i s e i n g e f ü h r t h a t t e , v o r g e s t e l l t , e i n L u t h e r a n e r w i e C o n r a d v . W e s t e r h o l t eigne sich n i c h t als K a n z l e r der reformierten bentheimischen Regierung29. 29 Wolfgang Schöningh t Westfälische Einwanderer i n Ostfriesland 1433— 1744, i n : Westfälische Forschungen, 20. Band, 1967, S. 19—21. Warnecke (FN 5), S. 24—26.
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Die beim reformierten Grafen Arnold von Bentheim vergeblich angestrebte Anstellung als Kanzler bekam Conrad v. Westerholt dann nur wenige Monate später beim lutherischen Grafen Edzard II. von Ostfriesland. Noch i m Jahre 1602 erscheint Conrad v. Westerholt als Droste in den ostfriesischen Ä m t e r n Norden und Berum, wo er am 28. Januar 1600 einer der Mitunterzeichner des für Ostfriesland wichtigen Teilungsvertrages 30 zwischen dem Grafen Enno III. und seinen Töchtern Sabina Catharina und Agnes gewesen ist. M i t dem Inhalt des Vertrages und m i t seinen Folgen hat sich i m Verlauf des Geschehens wohl auch Johannes Althusius i n seiner Eigenschaft als Syndikus der Stadt Emden i n der Zeit von 1604 bis 1638 auseinanderzusetzen gehabt. Über den Zeitpunkt des Weggangs von Johannes Althusius aus Burgsteinfurt hat es bis vor kurzem keinerlei Anhaltspunkte gegeben. Man hat allgemein angenommen, er sei am 4. Oktober 1594, von Graf Johann VI. von Nassau gerufen, nach Herborn zurückgekehrt. Erst der zufällige Fund eines Blattes aus dem Geschäftsbuch eines münsterischen Tuch- oder Kaufhändlers i m Staatsarchiv 31 i n Münster brachte zutage, daß diese Annahme falsch war. Der mit Namen unbekannte Kaufmann berechnete dem „ehrenvesten und hochgelarten Heren Johanni Althusio, doctor und Professoren zu Steinfurdt" zum 24. und 28. M a i 1595 die Lieferung von 4 8 A Ellen allerbesten schwarzen Doppelsamtes, 6 Ellen schwarzen Streifensamtes, 3V2 Lot Gold-Posamenten und 1 Dtzd. platten Knöpfen. Eine weitere Tuchlieferung, dazu Nähseide und Hornknöpfe, für Johannes Althusius trug der Kaufmann am 23. August 1595 in sein Geschäftsbuch ein. Diese Warenlieferungen an Johannes Althusius sind der eindeutige Beweis dafür, daß der Gelehrte zu dieser Zeit noch i n Burgsteinfurt lebte! Dieser Befund w i r d durch die Widmung des Buches „Philosophiae Practicae Pars Tertia et Ultima complectens Politicam Integram" des Steinfurter Professors für Philosophie, Clemens Timpler, untermauert, in der Timpler Johannes Althusius seinen „amicus et collega olim meus" nennt. Da Timpler 3 2 erst i m J u l i 1595 seine Stelle als „regens primus" am Collegium Casimirianum an der Universität Heidelberg aufgegeben hatte, u m als Professor an die Hohe Schule i n Burgsteinfurt zu gehen und i m selben Jahr dort noch eine Disputation geleitet 80 Wolf gang Leesch, Die Grafen von Rietberg, i n : Westfälische Zeitschrift, 113. Band, 1963, S. 3755 ff. 31 ST AM, Msc. V I , Nr. 253. 32 Bibliothek des Gymnasiums A r n o l d i n u m Ε 3, Philos. Oktav, erschienen i n Hanau 1611. Vgl. jetzt auch J.S. Freedman, Clemens Timpler (1567 bis t 28. 2.1624), Inaug. Diss. Mainz, 1983.
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hat, muß er Johannes Althusius noch als Kollegen erlebt und sich m i t ihm angefreundet haben. Aber auch von Johannes Althusius selbst wissen w i r , daß die Dauer seines Aufenthalts i n Burgsteinfurt länger war als bisher angenommen. I m Brief 8 3 vom 13. A p r i l 1597 schreibt er an Johann Jacob Grynaeus u. a.: „Den letzten B r i e f . . . habt I h r aus Westfalen von m i r empfangen, wohin mich damals der Herrgott gerufen hat, diesen erhaltet I h r aus dem Nassauer Land, i n das mich neulich (nuper) derselbe Herrgott zur juristischen Professur und zu anderen Dingen (zurück-)gerufen hat". Aus dem Wort „nuper" i m Brief vom 13. A p r i l 1597 an Grynaeus ist zu schließen, daß Althusius erst ganz kurze Zeit vorher an die Hohe Schule i n Herborn zurückgekehrt war. Dem entspricht der Zeitpunkt seiner Heirat 3 4 und die erstmalige Erwähnung seines Nachfolgers auf dem juristischen Lehrstuhl i n Burgsteinfurt, Wilhelm Sturio, zu Beginn des Sommersemesters 1596. Die Lehrtätigkeit von Johannes Althusius in Burgsteinfurt hat also nicht nur zwei Jahre, sondern vier Jahre gedauert! Abschließend ist noch ein Wort zum Kupferstichporträt des Althusius zu sagen, das i h n ausdrücklich als Steinfurter Professor ausweist. Da auch das Sterbealter von 81 Jahren i n der Umschrift des Kupferstichs angegeben ist, muß das Porträt nach 1638, dem Todesjahr von A l t husius, angefertigt worden sein. Vorlage für den Kupferstich war eindeutig das Ölbildnis des Gelehrten i m Besitz der Ev.-Ref. Kirchengemeinde i n Emden, das diese Inschrift aufweist: A N N O 1563 A N N O 1623 I. A L T H U S I U S J. C. SYNDICUS REIP. EMBD. Ganz offensichtlich wurde dieses B i l d zum 60. Geburtstag von A l t h u sius gemalt. Der Kupferstecher hat sich dann nach 1638 beim Stechen der Altersangabe vertan: Statt einer römischen V hat er eine römische 33
Friedrich (FN 1), S. C X X . Rudolph (FN 13), Heft 69, S. 352: Margarethe Naurath, die F r a u von Johannes Althusius, wurde am 18. 3.1574 i n Siegen geboren. I n erster Ehe w a r sie m i t Johannes Keßler verheiratet u n d hatte m i t i h m eine Tochter Maria Clara. I h r e 2. Ehe m i t Johannes Althusius ging sie w o h l — entgegen der A n nahme von Julius v. Gierke, der das Jahr 1595 nennt — i m Jahr 1596 ein. Die erste Tochter Maria Magdalena Althaus wurde am 21.12.1597 i n Siegen geboren. 34
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X gestochen, w a s b e i einer u n d e u t l i c h geschriebenen V o r l a g e ganz l e i c h t passieren k o n n t e . Setzt m a n die römische V j e t z t s t a t t r ö m i s c h X ein, e r g i b t sich e i n L e b e n s a l t e r v o n 76 J a h r e n u n d als G e b u r t s j a h r des A l t h u s i u s 1562. M ö g l i c h e r w e i s e h a t t e Johannes A l t h u s i u s a n seinem Todestag, d e m 12. A u g u s t 1638, sein 76. L e b e n s j a h r noch n i c h t ganz v o l l e n d e t , w o r a u s sich d i e k l e i n e D i f f e r e n z z w i s c h e n 1562 u n d 1563 als G e b u r t s j a h r ergeb e n mag. A u f j e d e n F a l l p a ß t das G e b u r t s j a h r 1563 w e s e n t l i c h besser z u a l l e n a n d e r e n L e b e n s d a t e n 8 5 des A l t h u s i u s als das b i s h e r meistens angegebene J a h r 1557. Exkurs: Die Familie Althaus in Wittgenstein A u f Seite 128 des Wittgensteiner Salbuchs von 1572 ist der M ü l l e r Hans Althaus i n Diedenshausen m i t den Erträgen seiner Wiesen an Heu verzeichnet : Diedentzhausen Hanß Altthaus M ü l l e r I t e m bei der Muelen an die Muele u n d an Veltten daselbsten 4 stoßend zu I t e m i m Eychbach, stöst an Simons Heyntzen u n d das wasser zu 2 2 I t e m das saur wißegen zwischen Tieler zweyen wiesen zu I t e m i m Laudenbach die new Wiese oben an M u d e r n Hennen zu 4 I t e m i m Golttbach an Velttens Hauß u n d den wegk stoßend zu 5 3 I t e m i n der Saal an S t i l l Johenchens Wiese zu 1/2 I t e m f u r der Hellen eyn Brunckel zu I t e m an der Wietten seitten eyn Brunckel an L u d w i c h Wagner 1/2 zu
Wagen Wagen Haufen Haufen Haufen Wagen Haufen Haufen
Da dieser Hans Althaus der einzige Namensträger i n Diedenshausen ist u n d darüber hinaus i n allen Dörfern i m T a l der Elsoff, dem Grenzflüßchen zwischen der Grafschaft Wittgenstein u n d Hessen, kann n u r er als Vater des Johannes Althusius i n Frage kommen. Der M ü l l e r Hans Althaus i n Diedenshausen dürfte ein Bruder von Curd Althaus, dem Schreiber u n d Schwiegersohn von Jost, dem letzten Edelherrn von Grafschaft, i n Ober-Ense bei Korbach gewesen sein. Curds Sohn Philipp Althaus-Althusius, f 30. 3.1602, nennt den Johannes Althusius seinen „patrue35 L t . freundlicher M i t t e i l u n g von H e r r n Eberhard Bauer, Bad Laasphe, v o m 6. 7.1984, f ü r die herzlich gedankt sei, w i r d i m „Verzeichnis der Untertanen des Amts Rüschstein i n der Grafschaft Wittgenstein v o m löten Jul. 1572" (Zs. „Das schöne Wittgenstein i n Vergangenheit u n d Gegenwart, 1. Heft, 1930) i m Wittgensteinschen Archiv, Signatur W 51, als einziger Namensträger ein Hans Althaus i n Diedenshausen, das aus n u r 12 Häusern bestand, genannt. Als Vorlage f ü r dieses Verzeichnis diente das Salbuch von 1572 (Wittgensteiner Archiv [WA] S 1 I I , Laasphe). Vgl. hierzu den Exkurs.
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Iis", d. h. Sohn des Vatersbruders (Patruus) (vgl. M. Rudolph, w i e A n m . 13, H e f t 73, S. 59). Das Dorf Diedenshausen lag lange Jahre wüst. Es w u r d e erst i m Laufe des 16. Jahrhunderts neubesiedelt. Nach Wilhelm Classen, Die kirchliche Organisation Althessens i m Mittelalter, M a r b u r g 1929, u n d Günther Wrede, Territorialgeschichte der Grafschaft Wittgenstein, M a r b u r g 1927, gehörte Diedenshausen von 1508 bis 1569 kirchlich zum benachbarten hessischen Bromskirchen, was bedeutet, daß Johannes Althusius zwar i n Diedenshausen geboren, aber i n Bromskirchen getauft wurde. H i e r i n Bromskirchen lassen sich seit dem frühen 17. Jahrhundert zwei A l t h a u s - F a m i l i e n nachweisen: A m 7. 4.1625 starb dort ein Johannes Althaus, dessen Söhne Justus u n d Jacob i n diesem Jahr auf dem Paedagogium i n M a r b u r g waren. Jacob Althaus heiratete als Berleburger Diakon am 8.11.1637 i n Berleburg Elisabeth, eine Tochter des Landschultheißen Johannes Pletzsch, u n d amtierte ab 1646 als Pfarrer i n Girkhausen, der ab 1569 f ü r Diedenshausen wieder zuständigen Taufkirche. E i n Bruder des 1625 gestorbenen Johannes Althaus w a r der Bromskirchener Kastenmeister Cord Althaus, der dort am 24.12.1636 starb. Möglicherweise sind Johannes u n d Cord Althaus Söhne eines älteren Jacob u n d E n k e l eines Samuel Althaus, dessen Almosenstiftung das i m Jahre 1593 angelegte Bromskirchener Salbuch ohne Datumsangabe nennt (Mitteilungen aus Geschichte u n d Heimatkunde des Kreises Biedenkopf, 11. Jg., 1917, Sp. 17/18): „ . . . Z u wissen, daß heut dato unten gemelt weiland Samuel Althausen selig sämtliche Erben, Gott zu Ehren u n d dem A r m u t zum besten nach vorhergegangener allgemeiner Verordnung ihres Vettern ( = Vattern?) sei., daß die A r m e n etwas v o n ihnen haben sollten, 5 fl. verwidmet, die bei Hermann Auben sei. W i t w e n sie, die Erben, ererbet u n d forters legiret; u n d nachdem sie zur Verordnung der Kirchen- und Armenvorsteher gestellet, wozu m a n dies legatum anwenden wolle, als ist v o r gut angesehen worden (hier bricht der T e x t ab)" Samuel hieß bekanntlich auch der älteste Sohn von Johannes Althusius (* Siegen 10. 2.1600). I n Berleburg schloß am 27.8.1627 der Oberförster ( = Forstmeister) der Grafschaft Wittgenstein Johannes Althaus, Sohn des verstorbenen Conrad A. i n Girkhausen, die Ehe m i t Johannetta, Tochter des Kaspar Küster zu A m t s hausen. Die Paten ihrer i n Berleburg getauften K i n d e r waren zumeist M i t glieder der Wittgensteiner Grafenfamilie. Conrad Althaus i n Girkhausen könnte ein weiterer Sohn des Diedenshauser Müllers Hans Althaus gewesen sein. Nach M i t t e i l u n g von Herrn Klaus Homrighausen i n Diedenshausen v o m 16.11.1984 — auch i h m sei an dieser Stelle f ü r die Auszüge aus den 1608 beginnenden Kirchenbüchern v o n Elsoff herzlich gedankt — wohnten i n Elsoff u n d i m Nachbardorf Alertshausen u m 1600 je zwei Familien Althaus, die es i m Jahre 1572 dort noch nicht gab. Möglicherweise entstammte auch i h r A h n herr der Diedenshausener Mühle. Die genealogischen Unterlagen über die verschiedenen Althaus-Familien i n Wittgenstein, Waldeck u n d Hessen sind inzwischen so umfangreich geworden, daß eine gesonderte ausführliche Publikation angebracht erscheint.
I I I . Politische Theologie als politische Theorie
C A L V I N U N D ALTHUSIUS Analogie und Differenz ihrer politischen Theorien Von Hans Helmut Eßer, Münster
Einleitung
Wer als Theologe, der notorisch m i t dem Werk Calvins beschäftigt ist, sich kurzfristig i n das Werk Althusius' einzulesen und das übernommene Thema vorzubereiten hat, steht vor einer Reihe methodischer Schwierigkeiten. Sie lassen sich zusammenfassen i n die Zielfrage: Wie ist die Beziehung der „Politica" des Althusius auf das Werk Calvins analytisch zu erheben und zu bestimmen und zugleich i n einem Kurzvortrag informativ zu vermitteln? Wer hat recht: Jene Autoren, die die Theologie Calvins als die Grundquelle für Althusius* Hauptwerk ausgeben1, oder jene, die Althusius ganz allgemein einem schon calvinistisch bestimmten Fluidum zuordnen, das sie nicht näher bestimmen? 8 Wieweit versteckt und verdeckt Althusius' Gebrauch der induktiv dichotomischen ramistischen Dialektik völlig den Rekurs auf den deduktiven Aufbau der politischen Theorie Calvins? 8 Es ist jedenfalls erstaunlich, daß eine Grundquelle, nämlich die Institutio Calvins, nur 18mal i n der P. zitiert wird 4 , also i n der Fülle von mehr als 2000 biblischen und Tausenden von rechts- und philosophiegeschichtlichen Belegen fast untergeht. Ein Aufbau der Tendenzanzeige der politischen Theorie des Althusius direkt aus einzelnen Quellenstücken würde die Gesamtansicht eher verstellen als fördern. So bietet sich folgende Vorgehensweise an: Die Tendenzen beider politischen Theorien, der Calvins und Althusius', schrittweise zu vergleichen, wobei der Staatslehre Calvins jeweils die Vorordnung zukommt*. Für die Gesamtdarstellung 1 Cf. P. J. Winters, Die «Politik» des Johannes Althusius u n d ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg i. Br. 1963, S. 37 ff. 2 z. B. C. J. Friedrich, J. Althusius u n d sein Werk i m Rahmen der E n t w i c k l u n g der Theorie von der Politik, B e r l i n 1975. 3 Z u P. Ramus, s. u. a. Winters (FN 1), S. 29, auch C. J. Friedrich (FN 2), S. 58 ff. 4 Cf. Winters (FN 1), S. 26. * I n den Teilen I — I V des Referates haben die inhaltlich parallelen A b schnitte j e die gleiche Ordnungszahl. Die Abschnitte, die sich auf die Theorien Calvins beziehen, sind jeweils vorgeordnet. Sie sind gekennzeichnet
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der Theorie Calvins habe ich die Gesamtdarstellung J. Baurs 5 zugrundegelegt, für die des Althusius die P. J. Winters* und den Überblick v. G. Möbus sowie die Arbeit C. J. Friedrichs®. Beide Theorieüberblicke habe ich an den Quellen überprüft, den zu Calvin umfassend, den zu Althusius eklektisch. Die Vergleichsabschnitte mußte ich auf die wesentlichsten Argumente beschränken. Manche Differenzierung (auch solche, die hier i m Symposion schon gewonnen wurde,) mußte dabei unberücksichtigt bleiben. I a) Calvins politische Theorien 7 I a) Calvins Staatsauffassung Grundsätzliches: Bei Calvin fehlt eine ausdrückliche Erklärung über das Wesen des Staates. Die i n seinem Seneca-Kommentar aufgenommene Definition Ciceros: „Concilium coetusve hominum iure sociatus" = „ein Zusammenfinden oder ein Zusammenschluß von Menschen, der rechtmäßig gemeinschaftlich (bestimmt) ist" 8 , taucht beim Reformator Calvin nicht wieder auf®. Der Ursprung des Staates ist der Wille Gottes (ordo divinitus sancitus = von Gott her bestimmte, geheiligte Ordnung). Die Lehre vom Ursprung des Staates w i r d damit inhaltlich i n die Lehre von der Providentia Dei einbezogen, nicht, wie immer wieder fälschlich behauptet, i n die Prädestinationslehre 10 . — Ziüeitursachen des Staates liegen in durch den Buchstaben „ a " an erster Stelle nach der Ordnungszahl. — Bei den Abschnitten, die sich auf Althusius beziehen, steht statt dessen jeweils ein „ b " an erster Stelle hinter der Ordnungszahl. 5 J. Baur, Gott, Hecht u n d weltliches Regiment i m Werke Calvins, i n : Schriften zur Rechtslehre u n d Politik, Bd. 4, Bonn 1965; hingewiesen sei außerdem auf das Standardwerk: A. Bieler, L a pensée économique et sociale de Calvin, Genf 1961. β G. Möbus, Die politischen Theorien i m Zeitalter der absoluten Monarchie bis zur Französischen Revolution 2, K ö l n u. Opladen 1966; dort: Johannes Althusius, S. 76 ff. u. S. 278 ff.; Friedrich (FN 2). 7 Nach H. H. Eßer, Demokratie u n d Kirche am Beispiel Calvins, Zeitschrift für Religionspädagogik 10/1971, S. 319—333, hier S. 323 ff. 8 Senecae Comm., Opera Calvini, Braunschweig 1863—1900 (Zitiert: OC), Bd. 5, S. 96. 9 Cf. Baur (FN 5), S. 104. 10 Cf. Baur, S. 11 ff. u. 101 f. Erst sekundär kann die Prädestinationslehre (cf. Institutio I I I , 21 m i t I V , 20) auch m i t der Staatslehre verbunden werden, s. ζ. Β . I V , 20, 3 u. 4. — Das H a u p t w e r k J. Calvins: „ I n s t i t u t i o Christianae Religionis" w i r d zitiert nach der letzten lat. Ausgabe des Verf. aus dem Jahre 1559 i n der Reihenfolge: Buch der Institutio ( = Inst.) (lat. Zahl), Kapitel, Section. Maßgeblich f ü r die heutige lat. Zitations weise sind die „OPERA SEL E C T A " (hrsg. ν. P. B a r t h / W . Niesei, München 1926—36; zit.: OS), Bd. I I I — V .
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der Natur des Menschen, i n seinem auch post lapsum nicht völlig zerstörten Geselligkeitstrieb und der ihm verbleibenden Verstandesfähigkeit, staatliche Ordnungen zu schaffen. Calvin unterscheidet sie jedoch als «ordinatio» von menschlicher Erfindung, sie ist dem Menschen nur eigentümlich (propria) 11 . 1 a) Der Staat, eine organische Gemeinschaft
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Bilder für Calvins organische Staatsauffassung sind sowohl die patriarchalische Familie als auch die Zuordnung Haupt-Leib i m menschlichen Körper, wie er ja auch die Kirchenordnung aus dem Kapitel vom Leibe Christi, 1. Kor. 12, ableitet. Aufschlußreich für Calvins Denken ist dabei, daß er für den Staat nicht primär das Herrschaftsverhältnis betont, sondern die wechselseitige Bezogenheit der Menschen aufeinander (vgl. u. 3 a b des Teiles I a). Es genügt i h m eine freiwillige Vor- und Unterordnung 18 . Vorordnung und brüderliche Gleichheit schließen einander nicht aus. Ideales geschichtliches Beispiel für den Organismusgedanken ist i h m das Volk Israel: „Hier haben w i r ein Volk vor uns, das nichts anderes ist als ein Leib . . . , es zeigt uns deutlich, daß man nichts anderes zu haben braucht als wahre Eintracht und Einigkeit" 1 4 . Bemerkenswert ebenso, daß Calvin den Organismusgedanken nicht i n biologische Analogien hinein ausspinnt; er beachtet die Geschöpflichkeit des Menschen, dem die Gemeinschaft zur Wesensvollendung seiner Person dient und der darum innerhalb seiner Aufgaben i n der Gesellschaft notwendig anderen Gliedern der Gesellschaft zugeordnet sein muß 15 . — Die modernen Staatstheoretiker, die sich bewußt den blinden Fleck gegenüber einem transzendent orientierten Organismusgedanken (Geschöpflichkeit, Christusherrschaft) erhalten, verurteilen diese Denkweise als unwissenschaftlich 16 . 11 Cf. K o m m . Kathol. Briefe (Jakobus, 1. u. 2. Petrus, 1.—3. Johannes; Judas), OC 55, Sp. 243 (zu 1. Petr. 2, 12 f.); cf. Baur, S. 103. 12 Cf. J. Bohatec, Calvins Lehre von Staat u n d Kirche, Aalen 1961, S. 5; das Werk trägt den U n t e r t i t e l „ m i t besonderer Berücksichtigung des Organismusgedankens"; vgl. ferner Baur, S. 106 u. 239. 13 Neben seiner Abhängigkeit von den Staatstheoretikern der Antike, vor allem Aristoteles, Cicero, Seneca, dessen berühmtester humanistischer K o m mentator Calvin war, muß die besondere Fundierung seiner Staatslehren i m A T hervorgehoben werden, s. v. a. seinen Genesis ( = 1. Mose)-Kommentar, den zu Jesaja u n d seine Samuelis-Predigten. Stellen bei J. Baur. Einen geschlossenen Abriß seiner Staatslehre gibt Calvin i n Institutio I V , Kap. 20; s. o. F N 10. 14 Samuelis-Predigten, = Predigten ü. d. 2. Buch Samuelis = Supplementa Calviniana, Bd. 1, hrsg. v. Hanns Rückert, 1936—1961, S. 32, 8 (vgl. Baur, S. 107) (zu 2. Sam. 2, 4). 15 Cf. Baur (FN 5), S. 240. 18 Cf. die A b w e h r des mechanischen Rechtsdenkens durch E. v. Hippel, Mechanisches u n d moralisches Rechtsdenken, S. 371 ff.: V o m christlichen Staatsbilde, Meisenheim a. Glan 1959.
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I b) Johannes Althusius' politische Theorien im Vergleich mit denen Johannes Calvins I b) Althusius' Staatsauff assung
1 b) Der Staat als umfassendste öffentliche
Lebensgemeinschaft
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Gegenstand der politischen Theorie ist für Althusius das gesellschaftliche Zusammenleben, wie es natürlich = geschichtlich vorgegeben ist 1 8 . Er beginnt also seine Staatstheorie anthropozentrisch „von unten". „Mitleben ist das Aufeinander-angewiesen-Sein von ungleichen Teilen eines geordneten Ganzen. Dieses Ganze heißt consociatio. Die Teile oder Glieder dieses Organismus sind die «symbiotici»" 19 . Die Lebensgefährten (symbiotici) verpflichten sich durch ein stillschweigendes Übereinstimmen oder eine ausdrückliche Übereinkunft ( = Vertrag; pactum) zur gegenseitigen Gemeinschaft (communicatio mutua) 20 dessen, was zum Gebrauch für das Zusammenleben und die an i h m Teilhabenden nützlich und notwendig ist 2 1 . Ziel des Menschen ist das heilige, gerechte, angenehme und glückliche Zusammenleben (symbiosis) 22 . „Jede Lebensgemeinschaft ist ein soziales Ordnungsgefüge, das gekennzeichnet ist durch das Verhältnis der Über- und Unterordnung" 2 3 . Als kleinste natürlich-private Lebensgemeinschaft w i r d die Familie, als Beispiel kleinerer bürgerlich-kollegialer Lebensgemeinschaften werden die Zünfte angesehen. „Die Bürgergemeinde (civitas) ist ein corpus, dessen Glieder die Familien und Zünfte sind, und man gehört jener an auf Grund der Zugehörigkeit zu diesen." 24 Es findet eine organische Entwicklung von den engeren zu den weiteren Lebensgemeinschaften statt. Jede weitere Lebensgemeinschaft ist eine Einheit mehrerer engerer Lebensgemeinschaften, die ihre Glieder sind. Die Glieder verlieren nicht ihre Selbständigkeit... Jede größere Lebensgemeinschaft zeichnet sich daher aus durch die Einheit in der Unterschiedenheit. Sie ent17 Die zusammenfassende Wiedergabe der politischen Theorien Althusius* erfolgt nach: Möbus (FN 9) sowie Winters (FN 1); dort bes. die „Zusammenfassung" ( = 25 Thesen), S. 267 ff. [ Zit.: Winters (FN 17)]. Als Quelle liegt zugrunde: J. Althusius, Politica Methodice Digesta Atque Exemplis Sacris et Profanis Illustrata, 2. Neudruck der 3. A . Herborn 1614, Aalen 1981 (Zit.: Pol.) 18 Cf. Möbus (FN 6), S. 77. 19 Winters (FN 17), These 2. 20 E i n Schlüsselterminus, den Althusius vollinhatlich von Calvin übernimmt! 21 Cf. Möbus t S. 77. 22 Ebd. 2a Winters, These 7. 2i Möbus, S. 77.
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hält ein zentralistisches und ein föderatives Element." 2 5 Stufen dieser Entwicklung bilden die Körperschaften (corpora universitatis), Provinzen und Landschaften, die sich dem Recht einer Regierung (ius regni) unterstellen. Die Angehörigen der consociationes privatae werden also nicht direkt, sondern auf korporativem Wege zu symbiotici publici 2 8 . Vom Staat als der „umfassendste(n) öffentliche(n) Lebensgemeinschaft" 27 kann dann als „politia, imperium, regnum, res publica, populus i n corpus unum" geredet werden 28 . Auch er ist wie alle Lebensgemeinschaften „Gesinnungs-, Rechts-, Pflichten- und Gütergemeinschaft". Auch er zeichnet sich als Organismus aus durch Eintracht und kann darum nach dem Modell der Person verstanden werden 29 . Zum Vergleich: Wenn hier schon mitbedacht wird, daß Althusius i n die universalis major consociatio auch die Kirche einbezieht (c. 9) und die Grundlegung des öffentlichen Rechts i m göttlichen Recht (c. 10) — s. u. zu den jeweiligen Unterthemen — 3 0 und auch schon sehr bald (in 1, 13) die Analogie Haupt-Glieder aus 1. Kor. 12 für das weltliche Regiment heranzieht, bleibt zwischen Calvin und Althusius nur eine methodische Differenz, bedingt dadurch, daß der Reformator das bürgerliche Regiment theozentrisch angeht als letztes „der äußeren Mittel, mit denen uns Gott zu der Gemeinschaft mit Christus einlädt und i n ihr erhält" 3 1 , während Althusius eine allgemein einsichtige Politikwissenschaft entfaltet, die ihre Begründungskategorien nachstellt, aber eindeutig ausspricht. Daß Althusius in den 38 Kapiteln seines Hauptwerkes differenzierter argumentieren kann als Calvin i n den 33 Sektionen seines Abschlußkapitels, versteht sich von selbst. — Analogie und Differenz bestehen i m Organismusdenken, das Calvin prinzipiell einsetzt als Interpretament der Kleinst- und Universalgemeinschaften, Althusius aber darüber hinaus zum Begründen der komplexen Lebenszusammenhänge des korporativen Ständestaates m i t heranzieht und noch stärker zur Betonung der Abhängigkeit der Staatsgewalt vom Gewalteigentum des Volkes als corpus symbioticum 3 2 .
25 Winters, These 15 — (A. wendet hier bewußt oder unbewußt ein i m manent-trinitätstheologisches Modell an.) 28 Cf. Möbus, S. 77 f. 27 Winters, These 16. 28 Möbus, S. 78. 20 Winters, These 13 (cf. F N 25). 30 s. die Thesen 8—12 bei Winters. 31 Überschrift des Buches I V der Inst. 32 Cf. Winters, These 17; auch Möbus, S. 78 f.
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2 a) Die durch das Recht gefügte
Ordnung 88
Ordnendes Recht ist ein Wesensmerkmal des Staates. Die Gesetze nennt Calvin die „kräftigsten Sehnen des Gemeinwesens" 84 . Sie schützen die Glieder des Staates ebenso, wie sie Machtinstrument der Obrigkeit sind. Der gegenteilige unheilvolle Zustand sind Gutdünken und W i l l k ü r . Objektivation und Bekanntheit der Gesetze bleiben unerläßlich. Immer wieder begegnet uns bei Calvin das Lieblingswort „legitimus". Er spricht von rechtmäßiger Herrschaft, von rechtmäßiger Form des Regierens, rechtmäßigem Urteil der Obrigkeit i n allen Rechtsangelegenheiten ihrer Zuständigkeit. Gerichtsverfahren dürfen nur auf Grund eines legitimen Anlasses begonnen werden, bei ihrer Durchführung ist auf legitime Tatbestandsaufnahme und legitimes Vorgehen (ratio) zu achten. Eine rechtmäßige Ordnung i m Staate dient dem Schutz des Friedens. — Calvin nähert sich i n dem allen einem frühen Rechtsstaatsprinzip. „Subjektive Grundrechte des einzelnen Bürgers sind aber Calvin" noch „nicht bekannt" 3 5 , i m Sinne der modernen sogenannten Grund- oder Menschenrechte. Der Gedanke der Autorität kann ebenso dem des Rechtes gleichwertig an die Seite treten. „Wo Leute, die nach der Ordnung des Rechtes oder der Natur an der Spitze stehen sollten, keine Autorität besitzen, w i r d die Masse sofort zügellos und frech" 36 . — Die Betonung der Rechtsstaatlichkeit liegt i m moralischen Anspruch an die Vertreter der hohen und der niederen Gewalt, indirekt ist damit aber die Idee der das Volk schützenden Legitimität gesetzt. 2 b) Die durch das Recht gefügte Ordnung (nach Althusius) Das Recht des Staates über seine Glieder ist dieses, daß er die allgemeine Zucht und Ordnung i m Staatsgebiet aufrichtet, die Glieder des Staates (s. o. vor FN 2 e ) gleichsam zu einem Volk vereinigt und dieses zu einem Körper m i t einem Haupte verbindet 3 7 . Dieses Recht des Staates w i r d auch ius maiestatis genannt, „als Bezeichnung für das Recht des höheren status und der größeren potestas, als sie dem Recht der Bürgergemeinde oder der Provinz zukommt. Dieses ius regni lenkt die Handlungen aller i m politischen Gesamtkörper (consociatio universalis) vereinten einzelnen Genossenschaften und auferlegt ihnen 33
Cf. Baur, 108 ff. u. 241 ff. J. Calvin, Unterricht i n der christlichen Religion, Institutio Christianae Religionis, nach der letzten Ausgabe übers, u. bearb. v. O. Weber, N e u k i r chen 1955 (im folgenden: Inst ./Weber), S. 1044 (IV, 20, 14). 35 Baur (FN 5), S. 242. 38 Ubers, η. K o m m . z. d. Kathol. Briefen, OC 55 (ζ. 1. Petr. 5, 5) Sp. 287. 37 Cf. Möbus, S. 284, These 13. 34
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die angemessenen Pflichten" (s. u. Abschn. 3 b b) 38 . Eine irdische höhere oder ihr gleiche Gewalt gibt es nicht, darum w i r d sie auch potestas imperandi universalis genannt 39 . Sie ist zeitlich unbegrenzt und an das göttliche Gesetz ebenso gebunden (s. u. 3 b c) wie an das positive Recht 40 . „Absolute Gewalt kommt nur Gott zu; er ist souverän, und von i h m ist alle Macht und Herrschaftsgewalt abgeleitet." 41 „Der Schutz" (des Staates als corpus unum) „(protectio) besteht aus der durch Gesetze geregelten Verteidigung gegen Ungerechtigkeiten . . . Durch ihn w i r d von den Höherstehenden den Untergebenen Sicherheit geleistet gegen jede Beeinträchtigung des Eigentums (laesio), Gewalt und Unrecht, das begangen werden soll gegen deren Person (corpus), den Leumund oder deren Güter; und w i r d das Unrecht, wenn es begangen worden ist, m i t erlaubten M i t t e l n bestraft und wiedergutgemacht." 42 „ E i n gehorsamer Untergebener ist der, welcher nach dem Willen seines Vorgesetzten, oder Vorstehers, der nicht i n gottloser oder ungerechter Weise Befehle erteilt, die Geschäfte eines gesellschaftlichen Lebens durchführt und sich sein Leben und seine Handlungen i n Unterordnung zurechtlegt (componit)" 43 . Als Grundregeln der Regierungsautorität schärft Althusius ein: Sie entsteht aus Bewunderung und Furcht; jede von beiden wiederum aus der A r t des Regierens: der K r a f t oder dem Ethos des Regierenden. Die Gestalt des Regierens soll gewissenhaft (severus), fest und bündig (adstricta) sein, u m Autorität zu gewinnen 44 . 3 a) Stellung, Rechte und Pflichten von Regierenden und Regierten
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3a) a) Berufung und Legitimation Calvin teilt Luthers charismatischen Berufsbegriff. Auf die göttliche Berufung der Menschen zu ihrem Beruf gründet Calvin die Forderung, die Grenzen des Berufes nicht zu überschreiten 46 . Der Privatmann 38
Möbus (FN 6), S. 78. Cf. ebd. 40 Cf. Winters, These 17a. 41 Winters , These 18. 42 Pol. 1, 17. 43 Pol. 1, 18. 44 Nach Pol. 25, 3 u. 4. 45 Cf. J. Baur (FN 5), S. 114 ff. u. 247 ff. 40 Brief an K ö n i g Sigismund v. Polen, in: Johannes Calvins Lebenswerk i n seinen Briefen (hrsg. v. R. Schwarz, 2. Α. 3 Bde., Neukirchen 1960ff.; (zit.: Briefe/Schwarz) hier: 2/S. 730 (5.12.1554). 30
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hat sich nicht i n staatliche Angelegenheiten zu mischen. Die Regierenden haben i n Achtung der Grenzen ihres Amtes w i l l i g ihrer Amtspflicht nachzugehen. — Die göttliche Berufung, die nicht zur Diskussion steht, ist für den Inhaber eines Amtes zugleich seine Legitimation. Der äußere Anlaß, durch den die Regierenden i n ihr A m t gekommen sind, ist uninteressant. Unrechtmäßige Amtsenthebung bedeutet Verletzung des Legitimitätsgrundsatzes. — „Durch die Vorsehung Gottes werden auf der Welt nicht nur Ränge und Stände unterschieden sondern Er (Gott) verlangt i n seinem Wort auch deren Erhaltung" 4 7 . „Denken w i r uns einmal, w i r nähmen alle denselben Rang ein — was würde w o h l bei einer solchen Anarchie herauskommen? Niemand würde dem andern nachgeben, jeder würde versuchen, sich selbst durchzusetzen, und so würde jeder rauben, stehlen und morden, soviel er könnte, und alle Laster walteten frei" 4 8 . Ein gegliedertes Ständesystem erscheint Calvin auch deshalb sinnvoll, weil die Vorrechte und Würden für deren Inhaber auch zugleich erhöhte Pflichten bedeuten 49 . 3 b) Stellung, Rechte, Pflichten von Regierenden und Regierten 3b) a) Berufung und Legitimation Für Althusius „ist Macht immer von Gott, ist Ausübung von Macht durch Menschen über Menschen" Dienst Gottes und „Dienst am Nächsten" 50 . Er stellt vier Voraussetzungen auf für das gottwohlgefällige Ausüben von öffentlichen Dienstverrichtungen (functiones/vocationes/ officia/munera): 1. Sie müssen legitim, erlaubt und ehrenvoll sein und darin Gott gefallen, den Symbioten und i h m selbst nützlich sein. Die Erkenntnis einer solchen Begabung stammt aus dem Gefühl des Wählenden, seiner Erfahrung und seinem Urteil, das er sich holt aus der natürlichen Zuneigung (inclinatio) und den von Gott gegebenen Gaben. 2. Jeder hat sich innerhalb der Grenzen seines Berufes und Dienstes zu halten und die besonderen Pflichten und Arbeiten seiner Dienst Verrichtung zu kennen. 3. Die Werke unserer Dienst Verrichtung müssen bezogen werden auf den Ruhm Gottes und auf das Wohl der Kirche und des Gemeinwesens, in dem w i r leben. 4. Die Dienstverrich47
Übers, n. K o m m . 1. K o r i n t h e r (7, 21), OC 49, S. 416. Vorlesungen zu Daniel, zit. n. J. Calvin, Auslegung der Hlg. Schrift Neue Reihe 9. Bd. (im folgenden: Auslegung NR), S. 428 (zu Daniel 4, 10 ff.). 49 Cf. Deuteronomium (5. Mose)-Predigten, OC 25, S. 629 (zu 5. Mose 1, 9—15). 50 P. J. Winters, Johannes Althusius, i n : Staatsdenker i m 17. u. 18. Jahrhundert, hrsg. v. M. Stolleis, F r a n k f u r t a. M. 1977, S. 29—50; hier S. 44. 48
Calvin und Althusius
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tung hat i n Treue und Sorgfalt zu geschehen.51 (Die Fortsetzung des Kp. 7 behandelt dann die ständischen Arten der dem Gemeinwesen nützlichen Dienstverrichtungen.) Zum Vergleich: Haben w i r bislang uns i n den Bahnen konsequenter Analogie der Gedanken des Althusius zu denen Calvins bewegt, ist nun m i t dem typisch althusischen Repräsentationsgedanken eine in ihrer Differenzierung über Calvin hinausgehende institutionelle Variante der wechselseitigen ethischen Verpflichtung von Regierenden und Regierten 52 anzusprechen [Althusius entwirft sie i n Auseinandersetzung m i t J. Bodin (1530—1597), der die Lehre von der absoluten Souveränität des Fürsten vertritt.] 5 3 : Die Lehre von der höchsten Gewalt ist nicht primär Gegenstand der Jurisprudenz, sondern ausschließlich Gegenstand der Politik. Diese lehrt, daß die höchste Gewalt vom Volke ausgeht, denn sie ist dem politischen Ganzen eigen. Fürsten oder andern Trägern w i r d sie jeweils nur als ihrem Verwalter, Förderer oder Haushalter anvertraut. Das Eigentum und die Nutzung an dieser Gewalt bleibt aber völlig dem Volke, dem sie zusteht. Sie kann vom Volk nach dem Tode dessen, der sie wahrnimmt, wieder neu vergeben werden. Ein einzelner kann diese Macht niemals für sich beanspruchen. Ihre Natur als repräsentative schließt es aus, daß von einem einzelnen darüber verfügt werde. Täte er es dennoch, würde er dadurch zu einem bloßen Privatmann, ja zum Tyrannen herabsinken (hier liegt die Brücke zum reglementierten Widerstandsrecht des A l t husius) 54 . U m auch pragmatisch institutionell den Repräsentationsgedanken zu sichern, lehrt Althusius: Jede öffentliche Lebensgemeinschaft w i r d repräsentiert durch ihren Vorsteher und die Vorsteher der i n ihr vereinigten Lebensgemeinschaften. Repräsentanten des Staates sind summus magistratus und Ephori 5 5 . Ersterer repräsentiert die Einheit des Staates (zentralistisches Prinzip); letztere repräsentieren seine Glieder (föderales Prinzip). Die Repräsentation der Glieder geschieht immer durch ein RepräsentantenfcoHegium 59, das üblicherweise vom Volke gewählt sein sollte, aber keinesfalls ohne Zustimmung des Volkes ernannt werden darf. — „Die Epho51 Cf. Pol. 7, 14 u. 19—25 (Belegstellen sind vor allem 1. K o r i n t h e r 7 u n d die n.t.lichen Haustafeln). 52 Cf. dazu H. Hofmann, Repräsentation. Studien zur W o r t - u n d Begriffsgeschichte von der A n t i k e bis zum 19. Jh., B e r l i n 1974, S. 355—74. 58 Cf. Möbus, S. 281 ff. u. Winters (FN 50), S. 43 ff. 54 Nach Möbus, S. 281 f. 55 Cf. Calvin, Inst. I V , 20, 31. so Cf. Winters (FN 17), These 21.
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ren übertragen i m Namen des Volkes, das sie repräsentieren, dem Herrscher die Verwaltung des ius maiestatis unter gewissen Bedingungen mittels des Herrschaftsvertrages" 57 — Der Herrschaftsvertrag, der als Auftragsvertrag zwischen dem Volk bzw. den Ephoren und dem Herrscher dargestellt w i r d und der das Volk nur unter der Bedingung der frommen und gerechten Regierung zum Gehorsam verpflichtet, stellt eine notwendige Ergänzung des pactum religiosum 58 dar und ist ohne dieses für Althusius nicht denkbar." 5 9 Diese politischen Vorstellungen des Althusius sind sicherlich auch zugleich eine Analogie zum reformierten Amtsverständnis der gegliederten Gemeindeleitung, i n der die einzelnen Ämter zwar i m Auftrage Christi i n actu ihres amtlichen Handelns der Gemeinde vollmächtig gegenüberstehen, aber durch ihre Einbindung i n das Presbyterium dessen Visitationsrecht unterstehen. — Die Interpretation der politischen Theorie des Althusius hat dieses Modell für den Gedanken der Volkssouveränität i m modernen Sinne oder als Wurzelgrund neuzeitlicher Demokratie oder als Urtyp des Gesellschaftsvertrages i n A n spruch genommen oder als Vorform der gegenseitigen Gewaltenkontrolle (Legislative, Exekutive, Justiz) i m modernen Rechtsstaat. Aber das hieße absehen vom organisch-korporativen Charakter des Repräsentationsgedankens und von seiner göttlich-naturrechtlichen Bedingtheit. Bemerkenswert bleibt das durchreflektierte System der „Machtbalance" 00 . 3a) b) Die wechselseitige Verpflichtung von Regierenden und Regierten Die Regierung steht für Calvin „ i n der Mitte zwischen G o t t . . . und den Menschen" 81 . Beiden ist sie verpflichtet. Ihr Dienst soll den Regierten zugute kommen; „darum ist sie deren Schuldner" 82 . Andererseits muß i m wechselseitigen Pflichtenverhältnis jeder Regierte das auferlegte Joch tragen und Gott i n der Person der Regierenden die Ehre geben 83 . Faktisch bedeutet das eine wechselseitige Unterwerfung um der Erhaltung der Staatsordnung willen 6 4 . Allerdings sind die Regierten ihrer Pflicht gegenüber den Regierenden nicht ledig, wenn diese ihrer 57
Winters, These 22. D. h. des Gedankens, daß das V o l k als zugleich religiöse Gemeinde i m Bunde m i t Gott steht. Anm. d. Verf. dieses Referats. 59 Winters (FN 17), These 23. 60 Winters (FN 50), S. 42. 91 Jesaja-Kommentar, Auslegung NR 7, S. 40 (zu Jes. 37, 15—16). 82 Römer-Brief-Komm., Auslegung NR 16, S. 258 (zu Rom. 13, 4). 83 Cf. Samuelis-Pred., S. 103, 4 (zu 2. Sam. 5, 3). 64 Komm. Kathol. Briefe, OC 55, Sp. 287 (zu 1. Petrus 5, 5). 58
Calvin und Althusius
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Pflicht nicht nachkommen (!!). Alleiniger Maßstab für die wechselseitige Verpflichtung ist die Liebe 8 5 . 3a) c) Die Pflichten der Regierenden Calvin ordnet die Pflichten der Regierenden beiden Tafeln des Dekalogs zu, also auch der ersten, damit ergibt sich für sie, auch i n der Reihenfolge der Dringlichkeit α) der religiöse 88 ß) der politisch-moralische Pflichtenkreis. I m ersten ( = α) hat die Sorge u m die Gottesverehrung an erster Stelle zu stehen, denn ohne deren Vorrang hat die Schöpfung ihren Zweck eingebüßt 87 . Weitere Aufgabe der Regierung ist der Schutz der wahren Religion, auch dann, wenn daraus Unruhen entstehen könnten 6 8 . Andersgläubige sind durch das W i r k e n der Regierung der evangelischen Lehre zu gewinnen, diejenigen jedoch, die sich auf das „Wesen des römischen Antichrists versteifen", „verdienen unterdrückt zu werden durch das Schwert" 8 0 . — W i r sehen, eine dritte Möglichkeit, die des religiösen Neutralismus, liegt außerhalb des Blickfeldes Calvins, aber auch seiner Zeit, und innerhalb des christlichen Glaubens gibt es für i h n nur die eine Wahrheit, die des reinen Evangeliums; i h m ist ebenso unzweifelhaft w i e allen anderen Reformatoren, daß sie i n der Römischen Kirche seiner Zeit nicht zu finden ist. Dennoch unterscheidet er zwischen aktivem Angebot des Evangeliums und Regierungsmaßnahmen gegen hartnäckig bleibende Katholiken. Mission m i t dem Schwert ist hier nicht gemeint. Aber das Zeitalter der Glaubenskriege hat schon begonnen (daß der Rat zur Unterdrückung Andersgläubiger keine Wurzel i m Evangelium hat und daß keine Regierung dazu von Christen einen Freibrief bekommen darf, müßte 450 Jahre nach der Reformation und i m Zeitalter der ökumenischen Bewegung sich von selbst verstehen, auch gegen die Ansicht vieler Glaubensväter). — Den Regierenden obliegt nach Calvin nicht minder als nach Luther u n d anderen Reformatoren das W o h l der ganzen Kirche durch fördernden Einfluß überall, wo die Regierung Zuständigkeit besitzt. 65
Epheser-Komm., Auslegung NR 17, S. 200 (zu Eph. 6, 9). Musterbeispiele f ü r die Behaftung der Regierenden bei diesem Pflichtenkreis sind die Widmungen seiner großen theologischen Werke, vor allem der Kommentare, an jeweils einen der europäischen Herrscher seiner Zeit und auch ein ausgedehnter Briefwechsel m i t europäischen Regierungen zugunsten der Reformation [s. Baur (FN 5), S. 122 ff.]. 87 Cf. Psalmenkommentar I I , OC 32, Sp. 192 (zu Ps. 115, 17 f.). 88 A n Johann von Tarnow, Briefe/Schwarz 3, S. 986 (19.11.1558). 69 Briefe/Schwarz 2, S. 440 (an Eduard Seymour) (22. 10. 1548). ββ
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Untersteht ihr das Schulwesen, so muß es „rein und sauber von allem Unkraut" (gemeint ist der Unglaube) „gehalten werden" 7 0 . ß) Der politisch-moralische Pflichtenkreis umfaßt die Sorge für den Frieden und die öffentliche Ehrbarkeit. Gefordert werden von der Regierung Gerechtigkeit, Ordnung, Eifer für Recht und Billigkeit, enthalten soll sie sich der Grausamkeit, des Raubes, der Gewalttätigkeit u. a. Auch sie soll wie ein H i r t e sein 71 . Ihre Aufgabe ist es vor allem, die zu schützen und notfalls zu rächen, „deren Leben keinen anderen Schutz hat als die öffentliche Ordnung" 7 2 . Das aber sind die „ A r m e n und Bedürftigen", die „den rücksichtslosen Übergriffen der Reichen ausgesetzt sind". I n diesem Sinne stellt Calvin die staatliche geordnete Fürsorgepflicht der Gemeinde an die Seite. Die liebste Weise ist i h m die, daß sie den Ämtern der Gemeinde alle Möglichkeiten eröffnet, für die Armen zu sorgen und keinen Bettel als Schande für die Gemeinde zu dulden. Wo sie, die Regierenden, Schulen errichten, die Lehrer besolden, den Studenten Unterstützung bestimmen, Krankenhäuser und Herbergen bauen 78 , tun sie ihre Pflicht. Nach innen bedarf die Regierung des Rates und der Klugheit, nach außen bedarf sie der Stärke und der Kriegsmacht. Durch ihre Tapferkeit hat sie jede von außen kommende unrechte Gewalt zu unterdrükken, doch m i t dem Ziel, den Frieden wiederherzustellen 74 . Die Brücke zur Genfer Zuchtordnung schlägt die Sorge der Regierung um öffentliche Ehrbarkeit, „daß sich die Menschen nicht tierischen Schändlichkeiten hingeben oder sich unanständig gehen lassen, sondern daß vielmehr Bescheidenheit und Mäßigkeit i n Ansehen stehen" 75 . 3b) b) Die wechselseitige Verpflichtung der Regierenden und Regierten Nach der Darstellung des Repräsentationsgedankens des Althusius läßt sich zu diesem Thema feststellen, daß die mutua obligatio der Regierenden und Regierten i m Rahmen des Gesamtsystems des A l t h u sius stärker instituiert ist als bei Calvin 7 6 . I m Blick auf den Gehorsam, der den Regierten geboten ist, scheint bei Calvin eine Akzentsetzung zu demütiger Unterordnung h i n gegeben. Aber auch Althusius rückt 70 71 72 73 74 75 76
Briete/Schwarz 2, S. 552 (an Eduard V I v. England, Januar 1551). Psalmen-Komm. I , Sp. 746 (OC 31) (zu Ps. 78, 70). Ebd., Sp. 666 (zu Ps. 72, 4). Cf. Jesaja-Komm. I I , Sp. 211 (OC 37) (zu Jes. 43, 28). Cf. Jesaja-Komm. I, Sp. 83 (OC 36) (zu Jes. 3, 4). Timotheus-Komm. Sp. 267 (OC 52) (zu 2. Tim. 3, 10—13). s. o. S. 172.
Calvin u n d Althusius
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nicht vom Über- und Unterordnungsprinzip ab, das m i t den neutestamentlichen Haustafeln auf consensus tendieren sollte 77 . 3b) c) Die Pflichten der Regierenden sind ganz entsprechend den beiden calvinischen Pflichtenkreisen geordnet 78 . Die Strenge gegen grundsätzliche Schismatiker, Haeretiker und Gottlose w i r d beibehalten. Zur göttlich begründeten und geschichtlich erfahrbaren symbiosis paßt nur die Glaubenseinheit. Die Mahnung, kleinliche Glaubensstreitigkeiten zu vermeiden oder eine uniforme und i n allem perfekte fides explicita nicht zu fordern, zeigt erste Anzeichen einer erst noch i n den nächsten Jahrhunderten zu gewinnenden Toleranz 79 . Die Einheit von religiöser und politischer Gemeinde als Prinzip resultiert zwar aus dem Ansatz eines christlichen Naturrechts, setzt aber dessen möglicherweise den Konfessionalismus überwindende Komponenten noch nicht frei bzw. hält sie gefangen. Das christliche Naturrecht des Althusius sei kurz skizziert 8 0 : Die geschichtlich erfahrbare Lebensgemeinschaft scheint ausgerichtet auf eine régula vivendi. Ihre Idee ist jedoch keine von Menschen geschaffene Norm, sondern als lex communis Ausdruck des göttlichen Willens. I h r Inhalt sind die Vorschriften der beiden Tafeln des Dekalogs, wie er durch Christus ausgelegt wurde. Der Dekalog w i r d als ius divinum oder ius naturale bezeichnet. Naturrecht ist aber nicht eine der Natur der Dinge entsprechende Seinsordnung, sondern eine von Gott dem Menschen aufgegebene Sollensordnung. Naturrecht ist göttlich verpflichtendes Recht. Es beruht auf der Wirklichkeit der Souveränität Gottes und seiner freien Vorsehung und Berufung, die seinen Bund konstituieren. Die Tafeln des Dekalogs sind die Tafeln des Bundes, den Gott zuerst mit den Juden, dann durch den Versöhnungstod Christi m i t der ganzen Menschheit schloß. Jede Lebensgemeinschaft, die ausgerichtet ist auf beide Tafeln des Dekalogs als ihre allgemeine Idee der Lebensführung, ist daher zugleich religiöse und politische Gemeinde 81 . Wieweit diese Konzeption i m Unterschied zu der Calvins eine christologisch-personalistische Ausrichtung durchhält, wäre über die Tendenzangaben hinaus zu prüfen. Die Gefahr, daß ein naturrechtlicher Ansatz natürlich-theologische und damit metaphysische Normativität gewinnt, ist bei Aufnahme außerhalb des weiterlebenden bundestheologischen Denkens nicht auszuschließen. 77 78 79 80 81
Cf. Pol. 1, 10 f.; Epheser 5, 21; Kolosser 3, 18. Cf. Pol. 8, 6 ff.; 9, 31 ff.; 28, 61 ff. = a); Pol. 16, 16 ff.; 30, 6 ff.; 35; 36 = ß). Pol. 9, 43. Nach Winters, Thesen 8—12 (aber m i t Änderungen vor allem i n These 11). Hier Ende der Wiedergabe der Thesen Winters.
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4 a) Die Beurteilung
der einzelnen Staatsformen
82
4a) a) Die Monarchie M i t zunehmendem Lebensalter w i r d bei Calvin die Abneigung gegen die Monarchie größer 88 . I m Vordergrund steht dabei die Ablehnung einer Universalmonarchie: „Großreiche sind große Räuberhöhlen", dieses auf Augustin zurückführbare Sprichwort kommt i n seinen Auslegungen wiederholt vor 8 4 . Das Streben nach Weltherrschaft, das i h m sowohl i m Kaisertum wie i m Papsttum abschreckend vor Augen stand, nannte er schlicht „Wahnsinn" und „Abweichen von der rechten Ordnung" 8 5 ; hier ergeben sich bedenkenswerte Parallelen etwa zu den modernen Gegenutopien oder zu C. F. v. Weizsäckers berühmter Friedensrede. Als Einzelmißstände der Regionalmonarchien nennt er: Das Streben der Könige nach Macht über andere Fürsten, die Tendenz der absoluten Regierungsausübung, der Vergesetzlichung einsamer Beschlüsse, die Erbnachfolge, die Einschränkung der Freiheit der Bürger. Wo Calvin positiv von den Regierenden redet, erwähnt er Könige und Fürsten überhaupt nicht oder nur zusammen m i t anderen Herrschaftübenden, z.B. Magistraten und Richtern. Wo er dagegen negativ von Regierenden spricht, müssen immer die Könige und Fürsten als Inbegriff der Korruptheit herhalten. Auch seine Entscheidung für eine Mischform von Aristokratie und Demokratie begründet er m i t einer K r i t i k an der Maßlosigkeit der Könige8®. Hinter der ganz massiven K r i t i k steht das Realbild der an Machiavellis „ I I principe" geschulten frühabsolutistischen Renaissanceherrscher: Sie geben „alle Rechte, Vorrechte, Urteile und Rechtsurkunden als feile Ware i n Verkauf, . . . rauben dem armen Volk alles Geld, das sie dann hernach i n sinnloser Freigebigkeit verschwenden. . . . plündern die Häuser aus, schänden Jungfrauen und Eheweiber, schlachten die Unschuldigen h i n und betreiben damit also reine Räuberei." 87 4a) b) Zur Demokratie Von der reinen Demokratie hält Calvin ebensowenig. Seine Urteile orientiert er an seiner reichen Kenntnis der Geschichte der Antike. Sie gehen von seinem Seneca-Kommentar aus durch seine Bibelaus82
Nach Baur (FN 5), S. 136 ff. u. S. 259 ff. Chronologische Belege n. Institutio-Editionen u. Predigten, ebd., S. 136 f. (s. o. F N 82). 84 s. ebd., S. 137, A n m . 293. 83 Daniel-Vorlesungen I, Auslegung NR 9, S. 396 (zu Dan. 2, 39). 86 Beispiele s. i n dem gen. Inst. Kapitel, Inst./Weber, S. 1038 f. (IV, 20, 8). 87 Inst./Weber, S. 1052 (IV, 20, 24). 83
C a l v i n u n d Althusius
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legung bis zum Späturteil der letzten Institutio weiter. Die Menge ist aufsässig, zum Regieren unfähig, ihre Handlungen sind unbesonnen. Der geringste Handwerker mischte sich i n die Geschäfte des griechischen Staates ein 88 . 4a) c) Zur Aristokratie Unter ihr versteht Calvin nicht die Herrschaft irgendeines bevorrechtigten Standes, sondern i m wörtlichen Sinne die Herrschaft der begabtesten Besten, also eine charismatische Aristokratie, etwa wie sie Mose (Num. 11, 16) i n der Auswahl der 70 Ratgeber oder (Exod. 18, 21) der Bestellung der Richter konstituiert 8 9 . Es gefällt i h m besonders, daß die Richter nicht durch Moses Entscheid ausgewählt wurden, sondern durch eine vorausgegangene Wahl vom Volke benannt worden waren 9 0 . Das Prae dieser Regierungsform sieht Calvin i n der Aufteilung der Staatsgewalt, durch die der W i l l k ü r eines einzelnen gesteuert werden kann. Einzelne Mitglieder der Regierung können einander gegenseitig beistehen, sich gegenseitig ermahnen und belehren 91 . Es besteht eine ständige Verantwortlichkeit der Regierung. Die Amtsnachfolge ist nicht an eine Familie gebunden 9 *. Entscheidungen werden nicht aus dem Affekt heraus getroffen, sondern sind das Ergebnis einer kontinuierlichen Entwicklung 9 3 . Insgesamt läßt das U r t e i l Calvins eine Relativierung aller Staatsformen erkennen und die Entscheidung für die eine oder die andere als von den historischen und gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig. Innerer Maßstab scheint i h m die Erreichung eines Höchstmaßes an Allgemeinwohl zu sein. — W i r wissen heute, daß Demokratie, auch heutige Repräsentativdemokratie, einen hohen Prozentsatz an urteilsfähiger Bevölkerung voraussetzt und daß manchem sogenannten Entwicklungsland durchaus m i t einer aristokratisch aufgebauten Staatsform besser gedient ist hinsichtlich der gegenwärtigen V e r w i r k lichung des Allgemeinwohls. Daß Calvin auch i n der Gemeindeverfassung bzw. Kirchenordnung das Mischprinzip von i m Rahmen der Königsherrschaft Gottes und der Bruderschaft vor Gott verantwort88
Cf. Kommentar zur Apostelgeschichte, OC 48, Sp. 407 (zu Apg. 17, 21). Cf. Kommentar zu 2 . - 5 . Mose, I. Bd., OC 24, Sp. 190 (zu Ex. 18, 13) u. Deuteronomium-(5. Mose-)Predigten, Bd. I I I , OC 27, Sp. 457 (zu Dtn. 17, 14 ff.). 90 Ebd. (zu den gen. Stellen). 91 s. Inst ./Weber, S. 1038 (IV, 20, 8). 92 Z u beidem, s. Deuteronom.-Predigten I I I (s. o. F N 89), OC 27, Sp. 459 f. (zu Dtn. 17, 14 ff.). 93 Cf. Inst./Web er, S. 732 f. (IV, 4, 11—13) (zur Bischof s wähl). 89
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licher und dem Nächsten verpflichteter Personen je verschiedener Leitungsgaben bevorzugte, zeigt die Genfer Kirchenordnung 04 . 4 b) Die Beurteilung
der einzelnen Staatsformen
Für Althusius sind Monarchie, Aristokratie und Demokratie „nicht drei Staatsformen, sondern nur verschiedene Formen der Herrschaft." 95 Da nach dem Repräsentationsgedanken Althusius* jede Form der Herrschaft i n eine Machtbalance genommen ist, relativiert sich von diesem umfassenden symbiotischen System her die Frage der besten Staatsform. Von einer reinen direkten Demokratie hält er ebensowenig wie Calvin und findet dafür i m Blick auf Natur und Charakter des populus universus vernichtende Urteile. Abgesehen von den moralischen Negativurteilen über die Masse verurteilt er die Wahrheitsfindung nach dem bloß numerischen Prinzip: „Das Volk neigt zur Mehrheit und mißt die Wahrheit an der Menge der Zustimmenden." 98 I I a) Calvins Lehre vom Verhältnis Kirche und Staat 97 1 a) Die Unterscheidung
von weltlicher
und geistlicher
Gewalt
Wie Calvin i m Menschen ein geistliches und ein bürgerliches Regiment unterscheidet 98 , trennt er auch nach außen zwischen diesen beiden Regimenten. Die inneren Regimente und die äußeren kommen aber nicht zur vollen Entsprechung. Calvin betont ausdrücklich, daß auch die notwendig zu haltenden Kirchengesetze nicht das Gewissen binden 99 (!), weil sie andernfalls die geistliche Freiheit beeinträchtigen müßten. Auch Kirchenordnungen müßten sich bei allem Vorzug der Orientierung an der Urkirche auf die geschichtlichen Verhältnisse einstellen 100 . Die Unterscheidung der äußeren Regimente w i r k t sich aus i n der Trennung der Amtsführung und der Ausübung der getrennten Gerichtsbarkeit, ferner auf die Lehrfreiheit der Kirche.
94
Cf. Eßer (FN 7), S. 320, A n m . 1. Winters (FN 17), These 25. 08 Nach Möbus (FN 6), S. 79, als Wiedergabe des Kp. 23 der Pol. 97 Cf. Baur (FN 5), S. 141 ff. u. S. 267 ff. 98 Cf. Inst./Weber, S. 561 f. ( I I I , 19, 15). 99 Cf. Inst./Weber, S. 806 (IV, 10, 5—6). 100 Cf. Apologie ( = Apologia illustris D. Jacobi a Burgundia ...), OC 10, 1, S. 269 ff.; hier: S. 289. 05
Calvin u n d Althusius
179
la) a) Die Unvereinbarkeit von weltlicher und geistlicher Amtsführung Calvin vertritt die Unvereinbarkeit beider m i t biblischen Beispielen: Den Königen gebührte es nicht, priesterliche Verrichtungen auszuüben 101 . Der Priester sollte des Lehramtes walten 1 0 2 . Die einzigen charismatischen Ausnahmen sieht er i n Mose und David 1 0 8 . Erbittert kämpft er gegen die Auslieferungsversuche der Konsistorialarbeit, d. h. der Arbeit des Genfer Kirchengerichts, an den Magistrat: „Die Toren sollen uns Obrigkeiten geben wie diese, d. h. Männer, die ausgezeichnet sind durch einen besonderen prophetischen Geist und beiden Rollen genügen... denen wollen w i r gerne überlassen, was sie verlangen!" 1 0 4 Daß jedoch eine Person zugleich ein weltliches und ein geistliches A m t bekleidet, schließt Calvin nicht aus: „Die Hauptsache ist, daß, wenn sie als tauglich zu solchem A m t gewählt werden, sie nicht die Gewalt des weltlichen Schwertes i n Dinge mischen, die davon wohl zu unterscheiden sind" 1 0 5 . la) b) Die Trennung von geistlicher und weltlicher Gerichtsbarkeit Die Strafgewalt des Kirchengerichts ist das „Wort und der Geist" 1 0 8 , die kirchlichen Strafen werden deshalb auch als „Zurechtweisung aus Gottes Wort" verstanden 107 . Zur Zuständigkeit der geistlichen Gerichtsbarkeit gehört auch die Absetzung eines Pfarrers 108 . Wenn Fälle vor das Kirchengericht gebracht werden, „deren Erkenntnis eine zivile Strafe oder Züchtigung erfordert", müssen die Parteien an den Magistrat verwiesen werden, „damit er nach seiner Auffassung die weltliche Rechtsprechung ausübe" 109 . „Denn die Kirche besitzt nicht das Schwertrecht, um damit zu strafen und zu z ü c h t i g e n . . . , sie hat keinen Kerker und auch keine anderen Strafen, wie sie gewöhnlich von der Obrigkeit verhängt werden" 1 1 0 . Calvin wendet sich gegen den 101
Cf. Hebräerbrief-Komm., OC 55, Sp. 60 (zu Hebr. 5, 6). Cf. Ermahnung an K a r l V., OC 6, Sp. 490 (1543). 103 Das Priesterkönigtum Melchisedeks hat f ü r Calvin ausschließlich typologischen Wert als Vorverweisung auf Christus hin. 104 Briefe/Schwarz 1, S. 217 (an Mykonius, 14. 3.1542). 103 Briefe/Schwarz 3, S. 1174 (an François de Morel, 10. 1. 1562). 106 Psalmenkomm. I I , OC 32, Sp. 440 (zu Ps. 149, 9). 107 Briefe/Schwarz 2, S. 664 (an die Pfarrer v. Zürich, 26.11.1553). 108 Cf. Briete/Schwarz 1, S. 204 ( I n s t r u k t i o n f. Viret, 29. 9. 1541). 109 OC 14, Sp. 679 (Anlage z. Sehr. a. d. Pfarrer v. Zürich, 26.11.1553). Die Äußerung ist wichtig zum Verständnis des Servet-Prozesses. 110 Inst ./Weber, S. 830 f. (IV, 11, 3). 102
12*
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Anspruch, daß dem Papst die oberste Gewalt beider Schwerter nach göttlichem Hecht zustehe 111 . Stolz schreibt Calvin i n der großartigen Verteidigung der Reformation gegen Kardinal Sadolet: „Haben w i r nicht den bürgerlichen Behörden das ihnen von den Bischöfen und Priestern unter der Maske der Unantastbarkeit entwundene und sich selbst angemaßte Recht der Todesstrafe und andere Gebiete bürgerlicher Rechtsprechung wieder zurückgegeben?" 112 — Die weltliche Gewalt darf den Spruch der kirchlichen nicht mißachten 118 . Ebensowenig darf sie eine bestehende Kirchenordnung umstürzen 114 . la) c) Die Lehrfreiheit der Kirche Den Inhalt der Glaubenslehre bestimmt allein die Kirche. Energisch h i l f t Calvin einen Versuch des Berner Rats abwehren, i n Glaubensstreitigkeiten zu entscheiden; er nennt das einen zu verhütenden ungeheuren Präzedenzfall, demgegenüber Schweigen Verrat am heiligen A m t (der Pastoren), Untreue vor Gott und den Menschen wäre 1 1 5 . Lebenslang vertritt Calvin die evangelische Predigtfreiheit, die keinen staatlichen Einschränkungen unterliegt (s. auch die Genfer Kirchenordnung A r t . 16 u. 19). Auch gegen eine Zensur seiner eigenen theologischen Bücher durch den Magistrat wehrt er sich 116 . Allerdings vermochte er sich gegen das Zensurrecht des Magistrates nicht durchzusetzen. 2 a) Die Zusammenarbeit
von Staat und Kirche
117
I m Sinne seines Organismusdenkens kann Calvin beide Regimente mit den Augen des menschlichen Körpers vergleichen, deren eines durch die Verletzung des andern ungemein leiden würde 1 1 8 . Die Kirche hat deshalb auf die weltlichen Behörden zu achten, „ m i t denen sie durch ein heiliges unlösliches Band vor Gott verbunden" ist, „ u m in gemeinsamer Arbeit dasselbe Ziel zu erreichen" 119 . Von der Strafgewalt des Staates zum Schutze der Religion sprachen w i r schon. Daraus folgt, daß auch das vom Staat zu strafen ist, was die Kirche gefähr111
Cf. Inst./Weber, S. 837 ff. (IV, 11, 11—14). Übers, n. OC 5, S. 389; vgl.: Mußte Reformation sein? Calvins A n t w o r t an K a r d i n a l Sadolet. Übers, v. G. Gloede, 1954, S. 12. 118 Cf. Briete/Schwarz 2, S. 653 f. (an Viret, 4. 9.1553). 114 s. ebd., S. 792 (an Jean Locquet, 8. 8.1555). 115 s. Briefe/Schwarz 1, S. 229 (an Viret, 23. 8.1542). 118 s. Briete/Schwarz 2, S. 735 (an Farel, 26.12.1554). 117 s. Baur (FN 5), S. 49 ff. 118 Cf. Samuel-Predigten, OC 29, S. 659 f. u. ö. (zu 1. Sam. 11, 6 ff.). 119 Briefe/Schwarz 3, S. 923 (an Bullinger, 15. 11.1557). 112
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det 120 . Das Recht der Exkommunikation muß „von Staats wegen" i n der Kirche bestehen bleiben 121 . Ein Pfarrer, der eine falsche Lehre predigt, darf gemeinsam von Kirche und Staat an der Ausübung seines Amtes gehindert werden 1 2 2 . Geht es um das Gesamtwohl der Kirche, so müssen Staaten und Obrigkeiten sich durch gegenseitige Ermahnungen unterstützen und sich m i t ihrer Macht einander bestärken 128 . I n der Frage des Kirchenvermögens vertritt Calvin die Auffassung, „daß die Obrigkeit die Aufsicht hat, die Kirchendiener aber die Verwaltung" 1 2 4 . Falls das nicht zu erreichen ist, bescheidet er sich auch dann, wenn die Obrigkeit das volle Recht der Verwaltung hat, falls „sie nur die jährlichen Einkünfte treu anwendet und nichts vom Kapital verlorengehen läßt" 1 2 5 . Hierbei geht es vor allem um den kirchlichen Grund- und Sachbesitz, der früher der Römischen Kirche gehörte. Die dargestellte Zusammenarbeit, also nicht die Herrschaft der K i r che allein, verdient insofern den Namen „Theokratie", als sowohl Kirche wie Staat i n ihrem Handeln verstanden werden als Exponenten göttlichen Willens, wie er i n der Offenbarungsquelle der Hlg. Schrift aufweisbar ist. Die uns ärgerlichen Kompetenzüberschreitungen vom Staat in die Kirche hinein sind nur relative i m Rahmen der Gesamtkonzeption, denn die Genfer Obrigkeit ist eine, die sich Gottes Willen sagen lassen muß 1 2 6 . Andererseits steht die Kirche nur insoweit über dem Staat, als es ihr zukommt, das Wort Gottes auszulegen, aber wie der Titel ,verbi D i v i n i minister' für die Pastoren es deutlich macht, sind sie nicht Herren, sondern Diener dieses Wortes. Calvin ist i m Unterschied zu Luther, der den tertius usus legis an das Rathaus ablieferte, fast wie i n der chalcedonensischen Formel das „unvermischt und ungeteilt" des Gewaltverhältnisses gelungen. Z w i n g l i konnte nur eine hierokratische Lösung finden, indem er sich selbst an die Spitze der Züricher Obrigkeit stellte und damit den Staat der Kirche unterordnete 127 . — Durch seinen Kampf gegen das Staatskirchentum begründete Calvin auch die Eigenheit der calvinistischen Gemeinden, z. B. am Niederrhein und i n Ostfriesland, die sich unabhängig vom einzelnen Staat, ja sogar gegen ihn zu entwickeln ver120
s. Β rief e / S chtü arz 1, S. 390 ff. (an Viret, 2. 7. 1547). Briefe/Schwarz 3, S. 1004 (an Menso Poppius, 26. 2.1559). 122 s. Briefe/Schwarz 1, S. 240 (an die Pfarrer v. Neuchâtel, 28. 5.1543). 128 Ebd., S. 242 ff. (an Genfer Rat, 1. 7.1543). 124 Ebd., S. 234 (an Viret, Ende Okt. 1542). 125 Ebd. 126 Cf. Α. de Quervain, Der theologische Gehalt des Genfer Pfarreides, Reform. Kirchenztg. 1938, Sp. 68 ff. 127 Cf. Α. Farner, Die Lehre von Kirche u n d Staat bei Zwingli, Diss. Z ü rich 1927, S. 123 f. 121
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mochten. „Diese Unterscheidung von Staat und Kirche bedeutet für alle staatliche Gewalt, daß ihrem Souveränitätsanspruch ein Gegengewicht gesetzt ist, das sie in die Grenzen rein weltlicher Machtausübung verweist Selbst darin ist sie nicht absolut, da sie unter dem Worte Gottes steht" 1 2 8 . Da aber dieses Wort als die höhere Ordnung für beide, für Kirche und Staat, i n seiner Auswirkung auf den weltlichen Raum dem Schutz des Staates anvertraut werden kann, besteht die von Calvin zugelassene Möglichkeit, daß auf Bitten der Kirche und i n Zusammenarbeit m i t ihr der Staat auch für die Einheit und Reinheit der Lehre sorgen kann. Dadurch w i r d vom Glauben her auch der Wert der staatlichen Ordnung bestätigt 129 . — Die Politisierung des Protestantismus ist eine Gefahr, die daraus resultieren kann — Calvin hat die französischen Protestanten lebenslang vor ihr gewarnt —, die aber nicht notwendig aus der Zusammenarbeit folgen muß. So sind für die Zeit nach Calvin beide Wege i n der Genfer Konzeption angelegt, der Kampfweg der Hugenotten und der „Weg der Gemeinden unter dem Kreuz". Beide schließen einander insofern nicht aus, als der letztere unerläßlich dem Scheitern des ersten folgt, also, wer den ersten wählt, zum zweiten bereit sein muß. I I b) D i e Lehre v o m Verhältnis Kirche und Staat (nach Althusius)
Von der 2. zur 3. Auflage seiner «Politica» w i r d durch Veränderung des Textes (Konfirmation der approbierten Prediger liegt nun beim Magistrat) „die Tendenz spürbar, dem Staat einen weitgehenden Einfluß auf die administrativen Angelegenheiten der Kirche zu ermöglichen und i h m dabei Rechte und Hoheiten zuzusprechen, die über die Hilfs- und Schutzpflichten, die i h m Calvin zugewiesen hatte, hinausgehen" 130 . I I I a) Calvins Stellung z u m Widerstandsrecht 1 3 1
Die Zulässigkeit eines Widerstandes gegen unrechtmäßige Gewalt macht Calvin von der Stellung des Widerstandsleistenden abhängig. Er unterscheidet dabei den Privatmann, die „niedere Obrigkeit" und die „öffentlichen Rächer".
128
Baur (FN 5), S. 269. Cf. ebd. 130 H. Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius i n E m den, A u r i c h 1955, S. 79; vgl. auch den Zshg. S. 76—80 u n d Pol. 8, 21 u. K p . 28. 131 Cf. Baur (FN 5), S. 126 ff., 252 ff. 129
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1 a) Der Privatmann I h m sind i m Widerstand gegen die Regierenden beinahe absolute Grenzen gesetzt. Er hat das Unrecht schlechthin zu leiden. Hier unterscheidet sich Calvin i n nichts von Luther. Geradezu komisch zu lesen, wie ihn die Prophetie des Jeremia quält, der den Einwohnern von Jerusalem gegen den Willen des Königs befiehlt, die Stadt den Babyloniern zu übergeben 182 . Ungerechte Obrigkeiten sind eben Geißel Gottes und als solche anzunehmen. Nur an einer Stelle ist die Gehorsamspflicht begrenzt, an der clausula Petri, Apg. 5, 29, d. h. i n Glaubensfragen, wenn der Inhaber des Amtes aus der Gottesfurcht fällt und die Furcht Gottes nicht mehr der Ehre des Königs vorangestellt wird. Der Ungehorsam gilt dann aber nicht dem Amt, sondern der Person des Inhabers 183 . „Wenn irdische Fürsten sich gegen Gott erheben, so berauben sie sich selbst ihrer Machtstellung, ja sie verdienen den Namen Mensch nicht mehr" 1 8 4 . Die Form des Widerstandes ist aber auch in diesem Falle nur die passive. „Geduld" ist der Tenor seiner Briefe an die verfolgten Hugenotten 135 . I n ausweglosen Fällen rät Calvin, sich dem Einflußbereich gottloser Regierung zu entziehen: „Gehe aus deinem Vaterlande, wenn w i r gezwungen werden, wider unser Gewissen zu handeln und nicht zur Ehre unseres Gottes leben können" 1 8 8 . Allerdings gilt für die Pfarrer die besondere Verpflichtung zum Bleiben auf Grund ihrer Berufung 1 3 7 . 2 a) Die „niedere Obrigkeit" Diese sogenannten „populäres magistratus" haben i n Calvins Widerstandslehre die offizielle Pflicht, die W i l l k ü r der Könige zu mäßigen. Sie dürfen Königen nicht durch die Finger sehen, denn sie verrieten ja „ i n schnödem Betrug die Freiheit des Volkes, zu deren Hüter s i e . . . durch Gottes Anordnung gesetzt sind" 1 8 8 . Usurpatoren oder Tyrannen sind von den „niederen Obrigkeiten" nicht zu dulden 1 3 9 . Allerdings 132 Z u Jeremia 38, 1—3; vgl. Jeremia-Vorlesungen I I I , Auslegung NR 8, S. 549 ff. 133 Cf. Komm. Apostelgeschichte, OC 48, Sp. 398 (zu Apg. 17, 7). 134 Daniel-Vöries. I I , Auslegung NR 9, S. 468 (zu Dan. 6, 22). 135 Briefe/Schwarz 3, S. 1018; 1021 ff. (jeweils a. d. Evangelischen i n F r a n k reich 1559); Briefe/Schwarz 2, S. 636 ff. (an die Gefangenen i n Lyon, Ende A p r i l 1553). 136 Briefe/Schwarz 1, S. 257 (an de Falais 14.10.1543), vgl. auch Briefe/ Schwarz 1, S. 366 (an eine unbekannte Dame i n Frankreich, 1546). 137 Cf. Briefe/Schwarz 3, S. 939 ff. (an Jean Macard, M a i 1558). 138 Inst./Weber, S. 1056 (IV, 20, 31). 139 Cf. Samuel-Pred., ed. H. Rückert, S. 458, 1 ff. (zu 2. Sam. 15, 34—37).
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haben sie keinen Aufstand anzuzetteln, das Recht der Revolte konzediert Calvin nur dem obersten der 3 Stände, denjenigen, die selbst die Herrschaft übernehmen können, d. h. i n Frankreich den königlichen Prinzen 1 4 0 . Aber auch i n diesem Falle soll allgemeines Blutvergießen vermieden werden. 3 a) Die „öffentlichen
Rächer"
Orientiert an den sogenannten Großen Richtern des A T (Gideon, Simson u. a.), sieht Calvin die Möglichkeit, daß Gott durch direkte Berufung „manifesti vindices" erweckt. Sie sind also nicht Träger eines öffentlichen Amtes. Aber sie haben durch eine „légitima Dei vocatio" die Pflicht zum Widerstand und den Auftrag, „eine mit Schandtaten beladene Herrschaft zur Strafe zu ziehen und das auf manch ungerechte Weise unterdrückte Volk aus seiner elenden Qual zu befreien" 141 . I n diesen rechtmäßig Berufenen regt sich etwas „Einzigartiges und Außerordentliches", „was nicht nach gemeiner Regel gemessen werden darf" 1 4 2 . Zugleich warnt aber der Reformator jeden Gläubigen vor dem Gedanken, ein i n diesem Sinne Berufener zu sein. Wer so handeln w i l l , muß die Gewißheit haben, ebenso berufen zu sein und den Geist jener Männer zu haben 143 . Die Freiheit Gottes kann nicht usurpiert werden. Zusammenfassend läßt sich zu dieser Frage, die bis in den RemerProzeß hinein eine Rolle gespielt hat 1 4 4 , sagen: Sie ist für Calvin ein Glaubens-, kein juristisch-kasuistisches Problem. Maßstäblich bleibt für ihn die göttliche Berufung, und zwar dann, wenn der Widerstand, — mehr ist gedacht an den persönlichen und öffentlichen Widerspruch —, durch die „niedere Obrigkeit" geschieht, wie auch dann, wenn er direkt auf den göttlichen Willen zurückgeht, der den öffentlichen Rächer treibt. I n jedem Falle hat das göttliche Recht den Vorrang, und Volkssouveränität o. ä. sind dabei ausgeschaltet, damit auch die ganze Breite einer naturrechtlichen Begründung des Widerstandsrechtes. Calvins Ansatz enthält den Grundgedanken, daß es ein Widerstandsrecht gegen die unrechtmäßige Ausübung der Staatsgewalt geben muß und damit ein M i t t e l zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Rechtsstaates. Diesen Gedanken als Mindestpostulat i n der vom gött140
Briefe/Schwarz 3, S. 1113 (an Coligny, 16. 4. 61). Inst./Weber, S. 1055 (IV, 20, 30). 142 Übers, n. Psalmenkomm. I I , OC 32, Sp. 128 (zu Ps. 56, 31). 148 Cf. Melchisedek-Predigten, OC 23, S. 645. 144 H.J. Iwand/E. Wolf, E n t w u r f eines Gutachtens zur Frage des Widerstandsrechts nach evangelischer Lehre, i n : H. Kraus (Hrsg.), Die i m B r a u n schweiger Remer-Prozeß erstatteten moraltheologischen und historischen G u t achten nebst Urteil, Hamburg 1953, S. 9 ff. 141
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liehen Willen bestimmten Rechtsordnung verankert zu haben, ist Calvins Verdienst, m i t anderen bzw. weniger klaren Begründungen kennen es auch Luther, Melanchthon und Zwingli 1 4 5 . Das besondere Merkmal der Vorschläge Calvins zur Ausübung des Widerstandsrechts liegt i n der Beschränkung dieses Rechts auf einen Kreis von Menschen, „die auf Grund ihrer Rechtsstellung dem Inhaber der Staatsgewalt näher stehen als andere Menschen" 146 . Ob damit, wie das Beispiel des 20. J u l i nahelegt, die Übertragbarkeit des Ständeprinzips auf das heutige Berufsbeamtentum die gewünschte aktuelle Analogie lieferte, 147 bleibt zu fragen. Die Übertragung der Widerstandspflicht auf heutige bestimmte Berufsgruppen bleibt zweifelhaft. Eine erhöhte Pflicht zum Widerstand für Vertreter des öffentlichen Lebens aus dem Bereich der Wissenschaft, der Kirche, der exponierten gesellschaftlichen Verantwortung insgesamt w i r d man allerdings auch für die Gegenwart aus Calvins Widerstandslehre ableiten können 148 . I I I b) Althusius' Stellung z u m Widerstandsrecht
„Nur Repräsentanten haben als Inhaber eines Amtes der Liebe das Recht und die Pflicht, einem tyrannisch gewordenen Herrscher aktiven Widerstand zu leisten. Die Grenzen der Herrschaftsgewalt, die einem Herrscher übertragen wird, sind Gott, das göttliche oder natürliche Recht und seine positive Ausprägung, das Volk und seine Repräsentanten" 1 4 9 . I V : Schluß I V a) Zusammenfassung der Position Calvins
Es konnte uns nicht darum zu tun sein, bei Calvin Klischees für den Rest unseres Jahrhunderts zu ernten. Aber schon unser Ausschnittsthema zeigte uns einen Reformator, der wie kein anderer die Konfrontation einer biblischen Theologie m i t einer geschichtlichen Gesellschaft suchte und erprobte. Dieses geschichtliche Beispiel mit seiner Größe und seinen Mängeln mag uns ermuntern, den Realismus einer biblischen Theologie i n allen Lebensbezügen wiederzuentdecken und mit ihm uns gehorsam den wechselnden Situationen der Gegenwart zu stellen, ohne perfektionistische Ideologien, ohne irgendeine revolutions Cf. Baur (FN 5), S. 254 f. 148 Ebd., S. 255. 147 So Herbert v. Borch, Obrigkeit u. Widerstand, Zur politischen Soziologie des Beamtentums, Tübingen 1954. 148 Cf. ν . Hippel (FN 16), S. 172. 149 Winters, These 24; cf. Pol. 38.
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näre Mystik. „Das theozentrische Denken Calvins ist nicht als Nachteil aufzufassen, denn nur so vermag die weltliche Ordnung erst echte innere Verbindlichkeit zu erhalten, die sie vom äußeren Zwang unabhängig macht", so schreibt 1965, also 400 Jahre nach Calvins Tod, ein Jurist nach intensiver Beschäftigung m i t dem Werk des Reformators 150 . Und K a r l Barth urteilte: „ W i r erkennen in Calvin ein Beispiel oder Modell nur in dem Maße, wie er i n unvergeßlicher Weise der Kirche seiner Zeit den Weg des Gehorsams gezeigt hat: Gehorsam des Denkens und Handelns, sozialen und politischen Gehorsam. Ein wirklicher Schüler Calvins kann nur einem Wege folgen: Nicht Calvin gehorchen, wohl aber dem, der der Meister Calvins war" 1 5 1 . I V b) Zusammenfassung der Position des Althusius
„Politik, wie Althusius sie versteht, ist eine normative Wissenschaft. Die Politica des Althusius ist ein auf der Theologie Calvins beruhendes Lehrbuch der politischen Wissenschaft." 152 Vergleich: Beiden gemeinsam ist das Verdienst, den geglaubten Glauben in eine praktikable Dimension auch i m Bereich des Politisch-Ethischen umgesetzt zu haben, Calvin näher an der fiducia 153 und unter Beibehalten ihrer Prärogative, Althusius näher an der fides quae154 und nicht ohne die Gefahren einer sich loslösenden Objektivation von Erfahrungswahrheiten.
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Baur (FN 5), S. 272. Übers, d. frz. Vorrede K. Barths zu Calvin, Textes choisis par C. Gagnebin, Paris 1948, S. 11; s. dazu Bieler (FN 5), S. X I I . 152 Winters, Fazit der Thesen. 153 = Glauben, als einem Grundvertrauen i m personalen Bezug Gott— Mensch—Gott/Mensch—Mensch, cf. Heidelberger Katechismus (1563), Fr. 21 und 86. 154 = Glauben, als Fürwahrhalten geoffenbarter Grunderkenntnisse, cf. Heidelberger Katechnismus (1563), Fr. 21 u n d 86. 151
THE CENTRALITY OF COVENANT I N THE P O L I T I C A L PHILOSOPHY OF JOHANNES ALTHUSIUS By Charles S. McCoy, Berkeley Though long neglected i n Europe and America, the thought of Johannes Althusius has been attracting renewed attention in recent decades. The covenantal or federal tradition of which he was a part has been central i n Reformed theology i n Switzerland, Germany, the Netherlands, Britain, and the United States. The federal political philosophy, to which he gave the first systematic exposition, has been vastly influential i n the shaping of republican governmental patterns in the modern world. Indeed, Professor Carl J. Friedrich has called federalism the fastest growing political system of the twentieth century 1 . So central and pervasive a place do human covenants and federal perspectives occupy i n the experience and action of persons i n contemporary western societies that our federalism may be invisible to us. People who wear spectacles do not look at the glasses but see everything through them. I n the same way, humans do not see the covenantal character of their lives together but see everything through their federal spectacles. I n order to understand the importance of Herborn and the federalism of Althusius, i t is necessary to recover the history of the federal theology, which has been for the most part forgotten even i n Germany. Althusius emerges, develops, and belongs w i t h i n the federal tradition of Reformed thought. Reformed theology is much more than Calvinism, to which Reformed thought has too often been reduced in histories of Protestant theology written i n the 19th and 20th centuries. Nowhere is this wider character of Reformed thought more evident than i n the federal theology in Germany, especially the covenantal theology that was nurtured at Herborn i n the sixteenth and seventeenth centuries. I t is a distortion of Enlightenment historiography that has for too many historians eliminated important elements of the Reformed tradition. 1 Carl J. Friedrich, 1968.
Trends of Federalism i n Theory and Practice, London
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Under the spell of this inadequate interpretation of Reformed doctrine, Karl Barth chides Heinrich Heppe's in Barth's Foreword to Heppe's Reformed Dogmatics for. suggesting the breadth of Reformed thought i n the 16th and 17th centuries. Barth even displays his own ignorance of the post-Reformation era by speaking of covenant theology as an incursion into the older line of Reformed dogma 2 . Barth is poking fun at Heppe. But Heppe, i n contrast to Barth who looked at the period mainly through the eyes of Gottlob Schrenk 3, examined the development of Reformed theology w i t h direct study of the primary sources and understands it more accurately than does Barth, who uses secondary sources blinded by the historiography of the Enlightenment. Heppe, I am convinced, is more nearly correct than Barth. The covenant or federal theology is no late "incursion" into Reformed thought. Its first clear exemplification is provided in Bullinger's 'De testamento seu foedere Dei unico et aeterno*, published in 1534, two years before the first edition of Calvin's Institutio christianae religionis' 4 . Perhaps Barth's own movement in the 'Kirchliche Dogmatik' from a Calvinist to a federal theological position confirms Heppe's judgment as to the strength of covenant thought. The Academy at Herborn, from its founding i n 1584, was a center of federal theological, ethical, and political thought. Olevianus , a covenant theologian and author w i t h Ursinus of the Heidelberg Catechism, was the founding rector. A distinguished group of federal thinkers was educated at Herborn, including those who migrated to Bremen and taught Johannes Cocceius, the greatest of the federal theologians. No figure illustrates the brilliance of the Herborn group in political and theological thought so well as does Althusius. I t is crucial to view Althusius i n cross-cultural and cross-disciplinary perspectives. The breadth of his impact cannot be appreciated unless we take a perspective more inclusive than German culture. Nor can the depth of his insight and contribution be understood unless his work is viewed from other disciplines than political philosophy alone. 2
Karl Barth , Foreword to Heppe, Reformed Dogmatics, London 1950, p. vii. Gottlob Schrenk, Gottesreich u n d B u n d i m älteren Protestantismus. Gütersloh 1923. 4 See Heinrich Heppe's Dogmatik des deutschen Protestantismus i m 16. Jahrhundert, Bd. 1, Gotha 1857; Ludwig DiesteVs 'Studien zur Förderaitheologie', Jahrbuch f ü r deutsche Theologie 1865, pp. 209 f.; Emanuel Graf von Korffs 'Die Anfänge der Föderaltheologie', Bonn 1908, and m y o w n 'The Covenant Theology of Johannes Cocceius', A n n A r b o r 1965, for details of this development. 3
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His importance as the founder of the federal political philosophy emerges when we look at his thought not only in his own immediate context but take note also of the growth and diversity of federalism i n the centuries since Althusius. A book that takes a position very close to that of Althusius is Samuel Rutherford's 'Lex Rex: The Law and the Prince; A Dispute for the Just Prerogative of Kings and People' (1644). Rutherford was a Scottish theologian and political leader of the Puritan and Scottish Reformed movement that overthrew K i n g Charles I. His book was influential both i n its immediate context and upon subsequent political thought. John Winthrop the federal theological and political thinker who was governor of the Massachusetts Bay Colony i n New England shows the impact of Althusian thought. A n d the first article of the New England Confederation i n 1643 has striking similarities to the opening of the Politica. The influence of his federalism can be seen directly or indirectly i n Hobbes, Locke, Hume, Witherspoon, Madison, and the development of various federal political orders, especially the Federal Constitution of the United States and the political system emerging from it. Examination of the subsequent development of federal political thought throws light on the core of federalism in Althusius. I shall look, first, at the sources of Althusius' thought, w i t h special attention to the context of the federal stream of Reformed theology and ethics. Second, I shall explain the notion of root metaphor from Stephen Pepper as a means for understanding the significance of covenant i n the political philosophy of Althusius. Third, I shall suggest that this perspective on the political thought of Althusius discloses dimensions of his federalism that insure its continuing importance. 1. The Sources of the Federal Politics of Althusius
Otto von Gierke says: "Unter allen eigentümlichen Charakterzügen des politischen Systems des Althusius ist vielleicht keiner so auffallend, als der es von der Sohle bis zum Scheitel durchwaltende Geist des Foederalismus" 5. Gierke says this even though it is not apparent that he is aware of the close relationship between covenant and federalism, of the strong federal tradition i n Reformed thought, or of the immersion of Althusius in this tradition. As Carl J. Friedrich notes, "Neither Plato nor Aristotle, nor the many political writers following i n their footsteps i n classical antiquity, including the Stoics, developed a concept of federalism. This failure 5 Otto von Gierke , Johannes Althusius u n d die Entwicklung der n a t u r rechtlichen Staatstheorien, 5th ed., Aalen 1958, p. 226.
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is as striking as the more frequently mentioned failure to elaborate the notion of representation" 6 . Though the concept begins to unfold i n the Middle Ages, "the consciously federal principle was asserted by Althusius" and he did i t "against the centralizing implications of the idea of sovereignty, especially as i t had been formulated by Bodin." Althusius draws on many sources. As he does so, he developes the first systematic, clearly-articulated federal political philosophy. First, Althusius draws on Greek sources. To a limited degree, A l t husius relies on Plato to confirm the view that harmony is necessary for society, though Plato is also criticized for being Utopian and unrealistic, like Thomas More. He makes more extensive use of Aristotle, especially i n understanding humanity as social and political by nature and viewing politics as a practical art focused upon achieving the good for humanity i n community. Second, Althusius draws on Roman sources, especially on Cicero w i t h reference to the nature of social life and the vocabulary of political thought, and on the tradition of Roman law, which he uses to illumine the nature of political covenants. The notion of mutual obligation (mutua obligatio) from Roman law demonstrates for Althusius that covenant involves partnership and allows a partner to call the other to account if the other is not f u l f i l l i n g the obligations of the compact. Third, Althusius draws on the biblical, Christian tradition of theological and political thought. What is not recognized sufficiently, however, is that i t is the covenantal or federal elements i n this stream of thought that influences Althusius most decisively and provides the framework of federalism into which all other elements and sources are drawn. Lack of knowledge of the federal tradition as a distinctive stream of biblical, Reformed thought has prevented political philosophers and historians from appraising adequately this important source of Althusian thought. I n the hands of Althusius, immersed as he is i n the federalism of Herborn, the covenant as fundamental political principle encompasses the contractualism of Roman Law and the centrality of politics for human l i v i n g found i n the Aristotelian and natural law traditions 7 . Fourth, Althusius i n developing his highly innovative federal political philosophy draws on the experience of covenants as the basis of human β Carl Joachim Friedrich, Preface to Frederick Carney, The Politics of Johannes Althusius, London 1964, p. V I I I . 7 Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, T ü b i n gen 1963, p. 186; see also Thomas O. Hueglin, Covenant and Federalism i n the Politics of Althusius, Philadelphia: Center for the Study of Federalism 1981.
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society. He builds, for example, on the medieval experience of social wholeness and on the experience w i t h alliances i n the Middle Ages such as the Hanseatic League. He has before h i m especially the examples of the Swiss Confederation and the recently formed federal union i n the Netherlands. He relies on the illustrations of covenantal political forms to be found i n the Bible and on the federal social organization exemplified i n Bullinger's Zurich, i n Calvin's Geneva, and i n other Reformed communities in Switzerland, Germany, and elsewhere. I t is not surprising, therefore, to find that "Althusius undertook . . . to interpret all political life i n terms of the pactum" 8. I t is, of course, important to remember that the Latin term that fits the biblical notion of covenant (berith) most closely is foedus. I t is from this L a t i n term that the w o r l d federal i n German and the word federal i n English are derived. A federal order is a covenantal order. I n the light of this background, I suggest that the covenant is the central notion, what I shall call the "root metaphor", by means of which Althusius understands human society. I t w i l l not be possible to investigate the many interesting dimensions and relationships of Althusius' thought when his federal background and context are understood. I shall suggest ways in which i t is i l l u m i nating to regard the Politica as shaped by the root metaphor of covenant. 2. T h e M e a n i n g of Root Metaphor
I n his book 'World Hypotheses: A Study i n Evidence' (Berkeley, 1959), Stephen Pepper proposes a way to understand comprehensive views of the world that 1) shows the connection of these theories w i t h common sense, 2) illumines the nature of these theories, 3) distinguishes them from one another, and 4) provides a means of criticism in order to explore their relative adequacy. Pepper calls this way of understanding comprehensive views of the world the "root-metaphor" method. Pepper explains the root-metaphor method as an explication of the traditional analogical approach to w o r l d views, w i t h certain decisive differences. Persons desiring to understand the world in its wholeness look about for a clue to its comprehension. They identify some area of common sense and attempt to understand other areas and the totality of experience in terms of this one area. The original sector becomes the basic root metaphor for understanding experience i n its wholeness. The 8 Carl Joachim Friedrich , Preface to Frederick Carney, The Politics of Johannes Althusius (FN 6), p. I X .
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characteristics of the initial area are then described and its structure articulated. Its structural characteristics become the set of categories for explaining and describing the world. Some root metaphors prove more fertile than others, w i t h great powers of expansion and adjustment. These survive as relatively adequate world hypotheses. Root metaphors that have been used to generate and shape prominent world views include: 1. the machine , the root metaphor of a mechanistic world hypothesis; 2. the historic event or act, the root metaphor of a contextualistic world view; 3. integrative world;
process , the root metaphor of the organic theory of the
4. dialogical social.
interaction , the root metaphor of world wholeness as
5. Parallel to these, I suggest covenant making or faithful as the root metaphor of the federal world view.
interaction
I n this series of alternative and distinctive root metaphors, i t is not necessary to think that the covenantal view excludes the others. A mechanistic w o r l d hypothesis cannot include a contextualistic, an organic, a societal, or a federal vision. Contextualistic, organic, and societal root metaphors tend to exclude the others in varying measure. Covenant as root metaphor, however, is inclusive. I t has room for social, dialogical interaction; for organic, integrative process; for historic event and action; and for a subsidiary level of mechanical movement. The federal understanding absorbs all these perspectives into a more comprehensive wholeness. Covenant as root metaphor affirms the meaning of each and at the same time supplants all of them as encompassing root metaphor. The common-sense experience from which the covenant arises is that of coming to agreement, making a compact, and remaining faithful. The categories of covenant that can be utilized to illumine the wholeness of experience include: bondedness, common perils, friendship, mutuality, interdependence, community, cooperative relationships, shared purpose, contract, compact, commitment, faithfulness, loyalty, trust, shared values, natural order, political order, religious faith. Though the concept of covenant i n highly articulated form derives especially from the study of ancient Hebrew religion as i t appears in the Old Testament, i t is not limited to the Bible but is fundamental i n the tribal character and organization of human society. As root metaphor, covenant provides adequate scope for comprehending the patterned
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wholeness of the w o r l d as humans experience i t and for dealing w i t h the primal network of relations, loyalties, and commitments that gives shape and structure to human living. 3. Covenant as the Basis of H u m a n Society for Althusius
The nature of politics and political association is viewed and understood by Althusius through the metaphor of covenant. "Politik ist die Fertigkeit (ars), Menschen politisch zu verbinden, damit sie m i t einander ein geselliges Leben begründen, pflegen und erhalten. Deshalb heißt sie auch 'Symbotike': Als Thema aufgegeben ist demnach der Politikwissenschaft die Gesellschaft (consociatio), i n der die Symbioten m i t einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Vereinbarung sich untereinander wechselseitig verpflichten zu einer gegenseitigen Teilhabe (communicatio) i n den Dingen, die zum Gebrauch und zur Gütergemeinschaft (consortium) eines gesellschaftlichen Lebens nützlich und nötig sind" (Politica, I, 1—2)°. I n these words, Althusius understands politics as based upon people being bound together i n social existence, upon common purpose, and upon a mutuality of communication that enhances their life together. The terms of agreement may be either implicit or explicit; i n either case, persons are committed to one another i n a covenant that establishes, builds, and sustains society. Those bound together in.covenant exist not as separate individuals but i n symbiotic relationship. Their lives interpenetrate one another, and they live i n interdependency. "Die 'symbiotici' sind also 'symboethoi , (zusammen Helfende). Sie sind durch das Band eines Paktes verbunden und vergesellschaftet, lassen gemeinsam Anteil nehmen und geben an ihren Möglichkeiten, welche förderlich sind, ein an Leib und Seele würdiges Leben zu führen und sind gegenseitig 'Koinonetoi', d. h. Teilhaber bzw. Teilnehmer der Gesellschaft" (Politica, I, 6). Humans are created by God as social, political, and covenantal beings. Gifts and abilities are distributed unevenly among humans so that they need each other and are bound together by mutual need. " A l l e also bedürfen des Verkehrs und des Dienstes anderer Menschen, und niemand lebt für sich allein (1. Kor. 10)" (Politica, I, 27). The efficient cause (causa efficiens) of political bonding is the covenant as the agreement and covenant among the citizens. The formal cause of society is the covenant as that bonding, "die durch Verbindung • Althusius, Politica, ed. tertia, Herbornae Nassoviorum 1614 [Anm. der Hrsg.: Die v o m Verfasser i m deutschen W o r t l a u t eingefügten Zitate sind der i m V o r w o r t erwähnten Rohübersetzung der ,Politica' ins Deutsche entnommen, die demnächst erscheinen w i r d ] . 13 R E C H T S T H E O R I E .
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und gemeinschaftliche Teilhabe hinüber und herüber zustande gekommen ist, m i t der die politischen Menschen die Gemeinsamkeit menschlichen Lebens einrichten, pflegen, fortsetzen und erhalten, und zwar durch die koinonia an zu diesem Leben nötigen und nützlichen Dingen" (Politica, I, 29). The final cause of political existence is the covenant as peace and piety and justice i n human society, "deren Ziel darin besteht, ein Leben zu führen, i n dem man ohne Abirren vom rechten Weg und ruhig Gott dienen kann" (Politica, I, 30). The means of symbiotic existence i n covenant are simple and private or multiple and public. A simple, private social entity, e.g. the family, is based on a covenant. This community and this symbiosis are begun, " u m ein besonderes Gut untereinander gemeinsam zu besitzen und zu vereinigen, je nachdem wie es ihre Lage und Lebensweise erforderlich macht, d. h. die Notwendigkeit und der Nutzen des eingerichteten symbiotischen privaten Lebens" (Politica, II, 2). The covenant is the basis of a political-civil society (civilis consociatio). The leader is elected by an overall vote of the members. "Die Vergemeinschaftung unter den Genossen ist diejenige, m i t der ein Genosse einem Genossen h i l f t und ihn bei seinem Lebensplan unterstützt gemäß den vereinbarten Abmachungen" (Politica, IV, 8). Althusius is also clear that the complex, public social entities are also based on the covenant. "Eine öffentliche Gesellschaft ist die, i n der mehrere private Gesellschaften sich gemeinschaftlich verbinden, um ein politeuma zu konstituieren" (Politica, V, 1). I f humans are gathered together without a covenant and without symbiotically held rights (jus symbioticum), there is then only a crowd, a mob, a collection of beings. For example, "Ein konföderierter Bürger w i r d der genannt, der i n gewissen Fällen das Bürgerrecht aufgrund eines Bündnisses erlangt hat. So besteht heute aufgrund eines gegenseitigen Bündnisses eine Gemeinschaft des Bürgerrechts und der Freundschaft zwischen den Einwohnern von Genf und Bern, dergestalt, daß der, welcher von den Bundesgenossen sein eigenes Bürgerrecht aufgeben und das der Bundesgenossen erwerben möchte, sofort ein Bürger und Untertan der verbündeten Gemeinde wird, ohne Ergänzungswahl oder besonderen Erlaß" (Politica, V, 20). The covenant is basic also for the larger, public universal society, i n which a great number of communities and provinces are united. The fundamental law of the realm (lex fundamentalis regni) is nothing else than the covenants by which cities and provinces come together and agree to establish and defend this commonwealth founded on covenant.
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When common consent is w i t h d r a w n and the covenant ceases to exist, the commonwealth also ceases to exist. The realm is established by covenant and united into one body and brought under one rule through covenant (Politica, X I X , 49).
4. T h e Covenant and Social Levels
I n contrast to political thinkers who focus on a centralized authority and those who focus on the individual, Althusius articulates a political structure w i t h ascending levels and affirms that the power of deciding issues for each level belongs to those i n the convenanted group on that level. Humans by nature belong to families as the smallest covenantal grouping. Through covenant, people also form private associations — craft guilds, academic societies, professional associations. The city or town as a political order is developed as private associations come together through a covenant to form an inclusive symbiotic grouping that provides for government w i t h laws and leaders. This community rests upon the consent of the private associations who participate i n the covenant that is its basis. When cities, towns, and villages join together i n a covenant to form a political association, i t is known as a province. A n d a covenant of provinces or regions provides the foundation of a commonwealth. The covenant creates the next level of political order. B u t the comprehensive level does not negate the meaning of the less comprehensive covenants at the next lower level. Each level is important and covenant partners at each level decide issues and carry out governance appropriate for that level. This aspect of federalism, k n o w n usually as the division of powers, is one of the most distinctive and effective aspects of federal government. Decisions are made and affairs governed at a level close to the persons and issues involved, yet the deciding and governing take place w i t h responsibility both to levels above and below.
5. H u m a n N a t u r e as Covenantal
I t is not only society and the various levels of social order that are seen by Althusius i n federal perspective. Humanity i n its inmost nature is understood by means of the root metaphor of covenant. Humans are not individuals for Althusius, but rather symbiotes, created by God i n the covenantal interdependency, interaction, and agreements of social existence and having such covenantal symbiosis as the basis and goal of political order. 13*
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He writes: "Das Ziel für einen politischen symbiotischen Menschen ist eine heilige, gerechte, würdige und glückliche Symbiose und ein Leben, dem nichts Nützliches und Nötiges mangelt. Aber um so zu leben, dazu ist ein Mensch für sich allein nicht unabhängig (autarkes) oder ausreichend oder von Natur genügend ausgestattet" (Politica, I, 3). Then follows the passage borrowed from Juan Mariana's 'The K i n g and His Education' that i n its existential poignancy reminds one of the opening of the Heidelberg Catechism: "Denn wenn ein Mensch geboren wird, jeder Hilfe beraubt, nackt und waffenlos, dann w i r d er gleichsam wie nach einem Schiffbruch und dem Verlust seiner ganzen Habe i n die Mühsale dieses Lebens hinausgeworfen, er, der weder die Mutterbrust erreichen noch die Unbilden der Zeit ertragen noch sich m i t seinen Füßen von der Stelle bewegen kann, wenn er losgelassen ist, nur dazu imstande, ein ganz unglückliches Leben m i t Jammern und Tränen zu beginnen h i n zu dem todsicheren Vorzeichen eines drängenden und drohenden Unheils" (Politica, I, 4). Humanity as created and as existing i n society is understood federally. "Die 'symbiotici' sind hier also 'symboethoi' (zusammen Helfende)," says Althusius. "Sie sind durch das Band eines Pakts verbunden und vergesellschaftet, lassen gemeinsam Anteil nehmen und geben an ihren Möglichkeiten, welche förderlich sind, ein an Leib und Seele würdiges Leben zu führen und sind gegenseitig 'koinonetoi', d. h. Teilhaber bzw. Teilnehmer der Gesellschaft" (Politica, I, 6). This fundamentally covenantal human nature finds its ordering and fulfillment i n the family, i n the society of citizens, in the State, and i n the other elements of a federal society. 6. Sovereignty
Nowhere is the federal political philosophy of Althusius more original and influential than i n his doctrine of sovereignty. His views have been given exposition i n many places, so i t is not necessary to explore them here i n detail. I t is crucial, however, to note that his notion of the sovereignty of the people is made possible through the root metaphor of covenant. "Es war daher i n der That ein kühner und origineller Wurf," says von Gierke , "als Althusius den Souveränitätsbegriff der Absolutisten i n seiner ganzen schneidigen Schärfe aufnahm und auf die Volkssouveränität übertrug. Er zuerst sprach das Wort von der 'Majestät' des Volkes a u s . . ." 1 0 . 10
O. von Gierke, Johannes Althusius (FN 5), p. 157.
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Von Gierke correctly perceives the importance of Althusius's conception of sovereignty, but he fails to understand the centrality of covenant for Althusius's federalism and therefore to reduce the covenantal unity of the people to a social contract. "Althusius führte den Gedanken, daß der Staat ein organisch geordneter und gegliederter gesellschaftlicher Körper m i t eigner Persönlichkeit sei, weit bestimmter und tiefer als seine Vorgänger durch. Und indem er öfter dieses 'corpus symbioticum' als Subjekt der Staatsgewalt bezeichnet, scheint er den Übergang zum Begriff der Staatssouveränität zu vollziehen. Allein alsbald treibt ihn die gerade von i h m so außerordentlich verschärfte Vertragslehre weit ab von diesem Ziel!" 1 1 I t is the covenant that gives the unity to the social group and, i n the symbiotic interpretation of A l t h u sius, maintains the significance of human individual existence w i t h o u t falling into individualism. The locus of sovereignty is the "universitas populi ", understood not as an aggregate of individuals connected by social contract but rather as "homines conjuncti, consociati, et cohaerentes " i n the symbiotic unity of covenant. 7. Covenant, Revolution, and Change
What is equally clear about the covenanted society and the sovereignty of the people is that both are based upon Divine and Natural Law. Sovereignty i n the federal meaning of Althusius is not absolute. The covenants of humanity exist w i t h i n the covenant of God and are limited by the Divine covenant. This view is to be anticipated and understood w i t h precision i n terms of the tradition of federal theology and ethics i n which Althusius was immersed at Herborn. Those who rule i n any covenanted association making up the various levels of a federal social order do so as representatives of that association and by its authority. Both people i n covenant and rulers i n covenant are bound also to the more comprehensive covenantal order of God. Because all are bound in the covenant w i t h other humans to the covenant of God, rulers lose their authority when they violate the covenant through which they are legitimate representatives of the people and exercise social sovereignty. Intermediate officials (ephori) are bound i n covenant to hold magistrates accountable to the covenant and to remove them from office i f they persist i n violating the covenant. The federal political philosophy thus makes room for revolution. Indeed, it enjoins overthrow of a ruler who acts against the covenant of the people and the covenant of God. This understanding of revolution is on behalf of the political, societal order, not designed to destroy and 11
Ibid., p. 161.
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replace i t w i t h another. By looking at Althusius* understanding of revolution by means of the root metaphor of covenant, a strikingly different view of revolution emerges from that exemplified i n Marxist thought. Hannah Arendt i n her book O n Revolution' points out a crucial aspect of the k i n d of revolution endorsed by Althusius, the notion of revolution that I call "federal revolution" as contrasted w i t h "Marxist revolution" 1 2 . She suggests that those who carried out the middle-class revolutions i n Europe and America always did so i n ways that protected the possibility of continuing change, whereas the proletarian revolutions have tended to be more violent, more destructive of the prior social order, and less likely to assure the possibility of further change. Speaking of the United States Constitution, James Madison declared: " I n framing a system which we wish to last for ages, we should not lose sight of the changes which ages w i l l produce." This understanding that political order must be able to change i n response to a changing world is i n agreement w i t h the views of Althusius. Indeed, federalism is a political system w i t h provision for continuing change at its core. This aspect of the political philosophy of Althusius is apparent at many points i n his work — i n the notion of revolution, i n the view that government rests upon the consent of the governed and must therefore be responsive to the changing consensus of the populace. That the covenant informs and underlies this emphasis on change becomes even clearer when we go behind the thought of Althusius and explore the meaning of change i n the federal theological tradition on which he relies so heavily. I n contrast to the Augustinian view that humans are created good, fall into sin, and are restored to their created goodness in Jesus Christ, the federal tradition contains the innovative view that humans are created mutable and incomplete, i n process toward their consummation i n God. To be created in the covenant of God means to be created for change and i n change13. 8. Conclusion
I n this paper, I have been able only to suggest how central the conception of the covenant is i n the political thought of Althusius and to illustrate its centrality in several aspects of his work. When we under12 Hannah Arendt , On Revolution, N e w Y o r k 1963. See also Ch. S. McCoy , Götter ändern sich. Hoffnung f ü r die Theologie, München 1983, pp. 213 f. 18 See Jürgen Moltmann, Geschichtstheologie u n d pietistisches Menschenb i l d bei Johann Cocceius u n d Theodor Untereyck, i n : Evangelische Theologie 19 (1959), p. 343—361.
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stand that covenant is the root metaphor shaping the thought of A l t husius, the federal character of his political philosophy assumes wider and deeper dimensions. Most of all its relation to change, to revolution, to human nature, to sovereignty and representation, as w e l l as to the nature of political order i n general emerge w i t h increased clarity and precision. Herborn has good cause to celebrate this distinguished thinker whose work has had such profound influence i n the modern world.
DIE E X E M P L A SACRA I N DER P O L I T I C A DES JOHANNES ALTHUSIUS Von K a r l Heinrich Rengstorf, Münster I.
Der biblisch-theologische Exeget, der sich der Aufgabe zu unterziehen hat, in einem Kreis vor allem von Juristen, Sozialwissenschaftlern und Philosophen über die Exempla sacra i n der Politica des Johannes Althusius kritisch zu berichten, sieht sich einigen ziemlich belangreichen Schwierigkeiten gegenüber. Um der gemeinsamen Sache willen hält er es für unerläßlich, sie auch zu nennen. Es sind i m wesentlichen drei; von ihnen teilt er die erste m i t allen anderen, die sich mit dem Lebenswerk von Althusius beschäftigen, während die zweite und die dritte ihm als Vertreter seiner eigenen Disziplin zuwachsen. Die erste Schwierigkeit ist m i t dem Umfang von Althusius' Politica und m i t der Tatsache gegeben, daß sein Latein zu verstehen Mühe macht und daß es bis jetzt eine greifbare verläßliche Übersetzung des umfangreichen Werks nicht gibt. Dankenswerterweise entsteht aber nun eine solche Übersetzung und liegt i n einer ersten Fassung zum Teil sogar schon vor und konnte, freundlicherweise zugänglich gemacht, auch benutzt werden. Dies i n Gang gebracht zu haben, ist ein großes Verdienst der Kollegen, die unser Symposium konzipiert und vorbereitet haben. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die AlthusiusForschung nun zu neuen Ufern aufbrechen kann und hoffentlich auch aufbrechen wird. Die zweite Schwierigkeit, die den Theologen als solchen betrifft, erwächst daraus, daß Althusius i n der theologischen Literatur leider ziemlich stiefmütterlich behandelt wird. Es mag noch hingehen, daß er i n der 1896—1913 i n 24 Bänden i n 3. Auflage erschienenen und von dem bedeutenden Leipziger Kirchenhistoriker Albert Hauck herausgegebenen „Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche" nicht nur keinen eigenen A r t i k e l erhalten hat, sondern auch i m Registerband nicht erscheint, daß er also i n diesem umfangreichen Nachschlagewerk nicht einmal erwähnt ist; denn um die letzte Jahrhundertwende hatte sich die Theologie für Probleme, wie sie ihn lebenslang auch als bewußten Christen beschäftigten, ihrerseits noch keineswegs erschlossen.
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Erstaunlich ist aber, daß er weder i m Evangelischen Staatslexikon 1 noch in dem Evangelischen Soziallexikon 2 berücksichtigt worden ist, obwohl seit mehr als einem Menschenalter grundlegende gesellschaftliche Probleme auch zum Gegenstand theologischer Arbeit und einschlägiger theologischer Veröffentlichungen geworden sind. I m Gegensatz dazu hat das bekannte Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft m i t dem Titel „Die Religion in Geschichte und Gegenwart" sowohl in der 2. Auflage (1927 ff.) als auch in der 3. Auflage (1957 ff.) Althusius in je einem eigenen kurzen A r t i k e l gewürdigt, im ersten Fall durch Leopold Zscharnack 3 , i m zweiten Fall durch Jan Remmers Weerda 4 , und dasselbe gilt von dem katholischen „Lexikon für Theologie und Kirche" 5 und dem Evangelischen Kirchenlexikon 8 . Indes ist das nicht tröstlich angesichts der Tatsache, daß die große und ohne Frage repräsentative, seit 1976 im Erscheinen begriffene „Theologische Realenzyklopädie" Althusius wieder keinen eigenen A r t i k e l gewidmet hat. Man sollte indes daraus nicht etwa schließen, daß er i m Bewußtsein heutiger führender Vertreter der Theologie immer noch nicht den selbstverständlichen Platz hat, der ihm, der sowohl Jurist als auch Theologe war und als der eine wie als der andere bahnbrechend gewirkt hat, aufgrund seines gesellschaftswissenschaftlichen Lebenswerks zukommt. Da mag i n der Planung eine Unachtsamkeit erfolgt sein; zum Glück ist es möglich, sie zu gegebener Zeit durch einen Nachtragsartikel unwirksam zu machen. Wurde Althusius soeben sowohl als Jurist als auch als Theologe charakterisiert, so stehen w i r nun bei der letzten der drei von m i r eingangs genannten Schwierigkeiten. Sie ist mit dem ungewöhnlichen Maß seiner Bibelkenntnis und deren Einbringung in seine Politica gegeben. U m die Lage, vor die sich jeder gestellt sieht, der sich m i t ihr befaßt, immerhin ein wenig zu veranschaulichen, mögen einige Zahlen genannt werden. Ich habe, um zunächst einmal mir selbst ein deutliches B i l d von seinem Bibelgebrauch und dessen Umfang zu machen, einfach angefangen, die Bibelzitate in der Politica 7 zu zählen und sie zugleich auch hinsichtlich des ihnen vom Verfasser beigelegten Gewichts zu bedenken. Dabei ergab sich: allein in den Kapiteln I — V I des 32 Kapitel umfassenden Werks finden sich — abgerundete Zahlen mögen genügen — mehr als 700 Zitate aus dem Alten Testament, über 300 Zitate aus dem Neuen 1
Stuttgart 1966; «Stuttgart 1975. ^(vollständig neu bearbeitet) Stuttgart 1980. 3 R G G 2 I, Sp. 274 f. 4 R G G 3 I, Sp. 294. * Band I (1957), S. 397 f. 8 Band I (1956), Sp. 90. 7 Politica methodice digesta, ed. 3, Herbornae Nassoviorum 1614. 2
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Testament und schließlich auch noch erheblich mehr als 50 Zitate aus den Apokryphen des Alten Testaments, also jenen Schriften, die nicht i n den offiziellen Kanon heiliger Schriften des Judentums aufgenommen, aber über die griechische Bibel, die sog. Septuaginta, und deren Rezeption durch die alte Kirche erhalten geblieben sind und von denen Luther gesagt hat, sie seien zwar der Heiligen Schrift nicht gleichzuhalten, aber doch nützlich und gut zu lesen. Unter ihnen — heute als Anhang zum Alten Testament i n so gut wie allen vollständigen deutschen Bibeln zugänglich — hat es ganz offensichtlich die unter dem Namen eines gewissen Jesus Sirach überlieferte Schrift wegen ihrer Weisheit und ihrer Kompromißlosigkeit in allen Lebensfragen dem lebenspraktisch orientierten Althusius besonders angetan. II.
Damit sind w i r nun natürlich bei unserem Thema. Es sind ja Schriftzitate m i t Einschluß der den alttestamentlichen Apokryphen entnommenen Abschnitte oder Einzelsätze, die Althusius als Exempla sacra der offenbarungsgeschichtlichen Begründung seiner politischen Theorie dienen. Kapitel u m Kapitel beginnt er m i t der Zusammenstellung und Klärung des einschlägigen begrifflichen Materials, so etwa i m Kapitel I I I hinsichtlich der Familie als der aus Verwandten und Verschwägerten sich bildenden oder bereits gebildeten gesellschaftlichen Urgemeinschaft. Danach veranschaulicht er das, was ihm i m Blick auf das reibungslose Funktionieren des Miteinanders und Zueinanders aller Beteiligten grundlegend zu sein scheint oder für i h n schlechthin konstitutiv ist, mittels häufig sogar umfassender Anführung von Bibelstellen. Diese sind es auch, die ihm das deutliche B i l d vermitteln, das er hinsichtlich der Rechte wie der Pflichten jedes einzelnen Angehörigen eines natürlichen Verbands von Menschen entwirft, dies m i t Einschluß einer geordneten wie ausreichenden Versorgung m i t allem, was zum Leben notwendig ist. Den nötigen Stoff bieten i h m i n diesem Fall vor allem die Berichte i m 1. Buch des Pentateuchs über die A r t und Weise, wie sich das M i t und Füreinander, aber auch das Gegeneinander der Glieder der ursprünglichen Abraham-Familie bzw. der späteren Nachkommen Abrahams überhaupt vollzogen hat. Dabei werden immer wieder an sich ganz zufällige Szenen zu Modellen idealen familiären Verhaltens. Das gilt z. B. hinsichtlich der Hilfe, die Jakob nach 1. Mose 29, 9 der m i t den Schafen ihres Vaters zur Tränke kommenden Tochter Labans, seines Onkels, leistete, indem er für sie nicht allein verschiedene schwere Steine an der Öffnung des Brunnens beiseite wälzte und ihr so den Zugang zum Wasser ermöglichte, sondern ihr auch die Tränkung ihrer
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Herde abnahm. Ebenso steht es auch mit dem Bericht über die Fürsorge Davids für seinen Vater und seine Mutter durch ihre Unterbringung im Haus und unter dem Schutz des Moabiterkönigs in einer Situation, die es i h m unmöglich machte, sich ihrer selbst so anzunehmen, wie er es ihnen als Sohn schuldete (1. Sam. 22, 3—4). Es ist bezeichnend für das Verhältnis von Althusius zur Heiligen Schrift, daß er i m 27. Abschnitt des Kapitels I I I seiner Politica zunächst nicht weniger als acht Exempla solcher A r t aus dem 1. Buch Mose zusammenstellt, dann eine Stelle aus dem Buch Jesus Sirach beibringt, die daran erinnert, daß Mühe, die ein Vater an die Erziehung des Sohnes wendet, letztlich i h m selbst wieder zugute kommt (30, 3 f.), darauf ein Psalmwort folgen läßt, das das vorbehaltlose Miteinander von Vätern und Söhnen als so von Gott gewollt und gesegnet herausstellt (Ps. 127, 3 ff.), und an dieses die bereits erwähnte Stelle, die David als sozusagen idealen Sohn schildert, anschließt, aber dies alles, so gewichtig es i n jedem einzelnen Fall für ihn ist, lediglich als Vorbereitung auf ein letztes und auf dem Hintergrund der bisher beigebrachten Exempla durchschlagendes Exemplum verwendet. Dies, m i t dem er den Abschnitt abschließt, ist m i t Joh. 19, 27 gegeben, also jener Szene, die allein i m 4. Evangelium berichtet w i r d und i n der der zum Sterben am Kreuz sich anschickende Jesus letztwillig seine Mutter i n die Fürsorge seines sogenannten Lieblingsjüngers übergibt und damit der Pflicht genügt, die nach dem Tod des Vaters hinsichtlich der verwitweten Mutter unabdingbar dem ältesten Sohn obliegt: ihre Versorgung zu sichern. Der hier näher ins Auge gefaßte Passus I I I 27 in der Politica ist geeignet, noch eine weitere Einsicht zu vermitteln. Er stellt es sicher, daß für Althusius, was die Exempla sacra betrifft, Altes und Neues Testament zwar auf derselben Ebene liegen, sofern sich hier wie dort, auf das M i t - und Füreinander der Menschen bezogen und angewendet, Gottes Wille erkennbar macht und als verpflichtend hingenommen werden w i l l und auch hingenommen werden soll, daß aber doch das Neue Testament das Alte nicht etwa nur ergänzt, sondern es so bestätigt, daß es i n seinen Exempla auch dann verpflichtende Kraft gewinnt, wenn ihnen eine Parallele i m Neuen Testament nicht zur Seite tritt. Althusius erweist sich somit als Biblizist von reinstem Wasser. Was Aussagen der Bibel als Heilige Schrift betrifft, gibt es für ihn keinen Zweifel, daß sie offenbarenden Charakter haben, sofern sich i n ihnen Gottes Wille mit der Welt als formender Wille ihres Schöpfers i m Blick auf sein Werk und hier vor allem i m Blick auf den Menschen als sein Ebenbild ausdrückt. Dies gilt uneingeschränkt auch dann, wenn lediglich Geschehenes berichtet wird. Allerdings handelt es sich i n jedem Fall um Geschehen, das im Bereich der Selbstoffenbarung des Gottes der Bibel als des einzigen
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bzw. alleinigen Gottes (5. Mose 6, 4) abgelaufen und m i t von i h m erleuchteten Augen beobachtet und i n einem an seinem Willen orientierten Herzen bedacht und dann registriert und als ein Stück Offenbarungsgeschichte auch kodifiziert worden ist. Dabei hat Israel als das von diesem Gott erwählte Volk sozusagen die Funktion des Offenbarungsraums und des Offenbarungsträgers, dies allerdings nicht etwa zum Zweck der Begründung eines besonderen Würdebewußtseins und seiner Zurschaustellung, sondern zum Zweck des Wirkens i m Dienst Gottes zu Wohl und Heil der gesamten Menschheit i m Sinn der an Abraham als den Urahn Israels gebundenen Verheißung universalen Segens (1. Mose 12, 1 ff. u. ö.). M i t dem, was damit angesprochen ist, hängt es nun natürlich zusammen, wenn Althusius i n der Lage ist, in seine Konzeption auch alles das einzuordnen, was i h m seine humanistische Bildung an Kenntnis der außerbiblischen Welt und ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse eingebracht hat, sofern i h m diese als geordnet und sachgemäß erscheinen. Das gilt i m Kapitel I I I seiner Politica bevorzugt gerade auch für die familiären Gepflogenheiten der alten Römer und die aus ihnen erwachsenen familienrechtlichen Regeln, dies m i t Einschluß familiär gebundener religiöser Institutionen und Akte einerseits, aber auch hinsichtlich der Entstehung, Zuweisung und Ausübung von Autorität i m Stammesverband sowie deren Respektierung wie auch deren Kontrolle durch seine einzelnen Glieder andererseits. Gerade dies letzte ist Althusius wichtig. Ohne daß er es beständig wiederholt, steht eben für ihn fest, daß menschliche Autorität nur da berechtigt ist, wo sie nicht nur verantwortlich ausgeübt wird, sondern sich auch an bestimmte Grenzen gebunden sein läßt. Da sie immer verliehene Autorität ist und letztlich i n Gottes Ordnung wurzelt und ihre Stabilisierung bezweckt, muß es der m i t ihr Betraute gegebenenfalls in Kauf nehmen, von denen, die sich i h m untergeordnet haben, an die i h m gesetzten Grenzen erinnert und, wenn er uneinsichtig ist, der i h m übertragenen Position wieder entkleidet zu werden. Eine Ausnahme bildet für i h n i n dieser Hinsicht lediglich die m i t der Ehe gegebene Urzelle aller Formen der Gesellschaft, und zwar deshalb, w e i l sie den Charakter natürlicher privater Symbiotik von Mann und Frau hat ( I I 37) und diese als Vater und Mutter, als Eltern, nicht auswechselbar sind. Über das, was sich daraus für die Führung in Ehe und Familie ergibt, hat sich Althusius i n I I 38 ff. unter Beibringung zahlreicher Exempla sacra, i n diesem Fall besonders auch aus dem Neuen Testament, ausführlich geäußert, so daß es des Eingehens darauf nicht bedarf. Ohnehin verlangt an dieser Stelle der Überlegungen etwas Beachtung, was gerade angesichts der heutigen Verhältnisse nicht übersehen
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werden darf. Es handelt sich darum, daß der dargelegte Entwurf der Regeln für das Funktionieren vertraglich begründeter menschlicher Gemeinschaften nichts m i t dem zu tun hat, was sich i n neuerer Zeit als Demokratie präsentiert. Da er jeweils des Vertrauens jedes einzelnen Gliedes der betreffenden Gemeinschaft bedarf, wenn der m i t ihrer Betreuung und Vertretung Betraute seiner Aufgabe wirklich genügen soll, so kann es nicht Sache der Gemeinschaft als solcher sein, etwa über Abstimmungen auf i h n einzuwirken, i h n zu korrigieren oder i h n auch abzusetzen und das damit so zu tun, daß das Verhältnis zu i h m letztlich den persönlichen Charakter verliert und anonym wird. So zu verfahren, steht der Gemeinschaft als solcher um so weniger an, als sie nicht dazu da ist, Ansprüche oder Erwartungen oder auch Sehnsüchte und Träume einzelner ihrer Mitglieder oder auch von kleineren oder größeren Zusammenschlüssen i n ihr über interne Verhandlungen und über sie zustandegekommene Mehrheitsbeschlüsse zu erfüllen oder durchzusetzen und dies auch gegen den Willen des m i t der Leitung Betrauten zu tun. Worauf es für Althusius ankommt, ist einerseits bewußter Gemeinsinn, der das Wohl des Ganzen über das eigene Wohl stellt, andererseits aber auch die Entschlossenheit, solchen Gemeinsinn gegebenenfalls auch i n Wort und Tat zu betätigen. Es beruht also auf der jedem Mitglied der Gemeinschaft obliegenden Mitverantwortung für das Ganze und der Verpflichtung, ihr zu genügen, wenn sie einem einzelnen Glied der vorgegebenen Gemeinschaft i n einem Umfang zugewandt werden, daß es für das Wohl aller — und nur darum geht es — verantwortlich wird, dies aber i m Sinn eines Verantwortlichwerdendürfens, also i m Sinn einer Bevorzugung nur zum Zweck selbstloser Fürsorge für alle anderen. Was Althusius i n erster Linie i n seiner Politica bestimmt und was er durch die von i h m herangezogenen Exempla sacra für sie absichert, ist also ein Menschenbild, das durch die Heilige Schrift geprägt ist und i m Grunde auf dem doppelten Liebesgebot des Pentateuchs (5. Mose 6, 5: Liebe zu Gott; 3. Mose 19,18: Liebe zum Nächsten) beruht, wie es auch von Jesus aufgenommen und bestätigt worden ist (Matth. 22, 34 ff.). Som i t verlagert sich von Kapitel V der Politica ab der Schwerpunkt der Zitation von Exempla sacra auf diejenigen Abschnitte, i n denen es u m menschliche Bewährung i m Sinn eben des doppelten Liebesgebots geht, nun aber unter dem Gesichtspunkt, daß i m Zusammenleben der Menschen über die selbstverständliche Achtung des Nächsten hinaus auch der ständigen Bekundung der Mitmenschlichkeit entscheidende Bedeutung zukommt. Das w i r d etwa i n I V 23 erkennbar, wo als eine A r t von unerläßlichen Bürgertugenden die prinzipielle Gutwilligkeit (benevolentia), die Verbundenheit (affectus) und die Erweisung von Liebe (Caritas) herausgestellt werden. Ähnlich steht es V 18 mit den Regeln
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für das Verhalten von Einheimischen gegenüber Fremden und V I 28. 31 und 36 f., wo es angesichts der unvermeidlichen Verschiedenartigkeit der Dienste in einem Gemeinwesen und ihrem unterschiedlichen Rang um die Bewährung der gemeinsamen Verantwortung aller für das Ganze geht. III. Es wäre nun durchaus möglich, weiteres Material zur Bestätigung dessen vorzulegen, was an Hand von Kapitel I I I der Politica, wenn auch nur sehr fragmentarisch, hinsichtlich der Rolle der Exempla sacra festgestellt werden konnte. Indessen dürfte es richtiger sein, nun die entscheidende Begründung der politischen Theorie des Johannes A l t husius ins Auge zu fassen und zu fixieren, soweit die von i h m angezogenen Exempla sacra darüber Auskunft geben. I n unseren Überlegungen zum Thema t u n w i r damit den zweiten Schritt. Soviel hat sich bereits gezeigt: Althusius' politische Theorie ist unablösbar von seiner Konzeption der menschlichen Gesellschaft. Diese Konzeption hat aber, gerade auch hinsichtlich ihrer Universalität, für Althusius ihre Begründung i n der A r t des Menschseins, wie sie jedem Menschen vorgegeben und damit seiner freien Verfügungsgewalt entzogen ist. Sie erweist i h m den Menschen als ein Wesen, das auf Gesellschaftlichkeit, also — u m es m i t i h m auszudrücken — auf consociatio, nämlich auf ein bewußtes Miteinander und ein entsprechendes „soziales" Verhalten angelegt und der bestmöglichen Verwirklichung eines so praktizierten Miteinanders auch bedürftig ist. Es ist nun allerdings für Althusius und sein Menschenbild bezeichnend, daß er i n dem für seine politische Theorie fundamentalen Kapitel I seines Werks den entscheidenden Hinweis hierauf nicht etwa einfach jener biblischen Erzählung 1. Mose 2, 18 ff. entnimmt, die den Menschen und i n i h m das Menschsein des einzelnen wie aller Menschen, also der Menschheit, i m Miteinander, Zueinander und Füreinander von Mann und Frau i n der Ehe zur Bestätigung und zur Erfüllung kommen läßt. Er geht vielmehr von einem Wort des Apostels Paulus aus, das i n dessen Brief an die Philipper steht. Hier ist i n 3, 20 davon die Rede, daß Christen ihr Gemeinwesen, ihre politische Bindung, ihr Bürgerrecht und damit auch ihren eigentlichen Aufenthaltsort, ihre Heimat, ihre conversatio, wie die lateinische Bibel, die Vulgata, das griechische Wort bei Paulus wiedergibt, i m Himmel haben und insofern auf der Erde und i m irdischen Leben i n der Fremde, i m Exil, sind. Das für Althusius Wichtige hieran ist, daß sich von da aus auch und gerade Christsein und christliche communicatio i m Zuge eines ein Gemeinwesen bestimmenden Rechts nicht voneinander trennen lassen. Es ist
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für seine Leser zwar nicht unerheblich, daß Althusius sich i n I 6 für diese Sicht auch sowohl auf den griechischen Historiker Plutarch als auch auf den griechischen Philosophen Aristoteles berufen kann; i n dem, was er bei ihnen als Stütze für seine Ansicht findet, liegt für i h n eben ein Stück nicht an die Bibel gebundenen natürlichen Gottesglaubens bzw. allgemeiner Offenbarung. Entscheidend für i h n ist indes, daß Paulus' Wort eine geordnete Symbiose i m unmittelbaren Bereich Gottes, also i m Himmel, als so von Gott gewollt, als i h m also gemäß, deshalb aber auch als jedem von Gott bestimmten Lebensbereich gemäß voraussetzt. Wie sich das dann auf Erden auswirkt, entnimmt Althusius wiederum dem Corpus Paulinum, diesmal 1. Kor. 12. I n diesem Kapitel stellt der Apostel für Althusius (s. I 13) die Einheitlichkeit des Wirkens des Heiligen Geistes i n der Gemeinde Jesu als der wahren und endzeitlichen Gemeinde Gottes i m Zusammenwirken aller ihrer Glieder m i t ihren je besonderen Gaben i n Leitung und Unterordnung, i n Fürsorge und Kooperation, i n Hilfe und Sichhelfenlassen i n der verschiedensten A r t und Weise als, von Gott aus gesehen, normal und deshalb auch als absolut notwendig h i n (s. I 13). Dabei soll, ja muß für den einzelnen immer nicht der eigene Vorteil, sondern das Wohl des anderen oder der anderen das Motiv des Denkens, Sagens und Handelns sein. Das w i r d von Althusius i n I 14 ff. i m einzelnen breit ausgeführt, bezeichnenderweise wieder unter Verweis auch auf allerlei außerbiblische antike Äußerungen, aber natürlich vor allem wieder unter Heranziehung zahlreicher Exempla sacra sowie i n diesem Fall zusätzlich unter ausdrücklicher Berufung auf Calvins Institutio Christianae religionis I V 3,1. Es ist dies der Abschnitt seines für die reformierte Dogmatik grundlegenden Werks, i n dem der Genfer Reformator darauf hinweist, daß wie alle Menschen auch die Christen ohne das Hören auf von Gott bevollmächtigte Lehrer seines Wortes i n der Heiligen Schrift zu ihrem Zusammenleben nur scheitern können und tatsächlich auch scheitern. W i r müssen aber i n der Politica nochmals zurückblättern, und zwar auf 112. Hier verweist Althusius auf das erste menschliche Miteinander, wie Gott selbst es nach 1. Mose 1, 26 f. geordnet hat. Es bedarf nun allerdings einer sehr genauen Beachtung des Wortlauts des Texts. I n ihm heißt es bekanntlich, daß sich Gott entschloß, Adam nach seinem Bilde zu erschaffen, und daß er diesen Entschluß auch alsbald i n die Tat umgesetzt habe. Hier ist nun vor allem andern zur Kenntnis zu nehmen, daß das hebräische Wort für den Menschen, das eben mit dem Namen des ersten Menschen identisch ist, von Haus aus nicht ein bestimmtes Individuum oder jedes Individuum bezeichnet, sondern ein Kollektivum, also ein Sammelbegriff, ist und den Menschen als solchen ohne Rücksicht auf seine Individualität meint, ja sogar ohne Rücksicht auf sein Geschlecht. Deshalb ist i m Urtext i m folgenden auch nicht gesagt, daß
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Gott den Menschen als Mann und als Frau, sondern daß er i h n männlich und weiblich schuf. Darin liegt, daß für den alten Erzähler der Mensch als Geschöpf, das er ist, auf Gemeinschaft, eben auf consociatio hin, wie es Althusius auszudrücken pflegt, angelegt ist. Allerdings handelt es sich nicht u m eine Gemeinschaft zwischen gleichen Partnern, sondern u m eine Gemeinschaft, die es beiden Partnern überhaupt erst ermöglicht, das i n ihrer Individualität ganz zu sein und sogar immer mehr zu werden, was sie ihrer Anlage nach sind, Menschen i n ihrer Einmaligkeit. So ist es ihre Gemeinschaft i n ihrer Verschiedenheit, die die ersten Menschen fähig macht, Nachkommen zu haben und damit die Zukunft zu gewinnen. Es ist auch dies, was dann wiederum den Menschen, wie die Menschen, ja die Menschheit befähigt, sich gemäß dem Willen Gottes als Schöpfer nach 1. Mose 1, 26 f. die Erde Untertan zu machen und i n ihrer Verwaltung seine, des Schöpfers, Gehilfen zu sein. Es ist bezeichnend für Althusius, daß er die von ihm zitierte Stelle des ersten Schöpfungsberichts (1. Mose 1, 26 f.) nur i n Verbindung m i t Rom. 13 sowie auf dem Hintergrund von Eph. 5, 21 und Kol. 3, 18, also i n enger Zusammengehörigkeit m i t den sog. neutestamentlichen Haustafeln, zu sehen vermag. Ist das erste Menschenpaar zur Herrschaft über die ganze außermenschliche Schöpfung vom Schöpfer selbst bestellt, so besagt das also für Althusius, daß, wenn es so ist, alle Macht — sei es über die zunächst unmündige und auf Hilfe und Führung i n allem angewiesene Nachkommenschaft sowie über i n Abhängigkeit befindliche Mitmenschen, sei es über die außermenschliche Kreatur — Amtsgew a l t von Gott ist (vgl. Rom. 13, 1 ff.). Sie schließt auch Weisungsrecht gegenüber dem einzelnen ein. Dies setzt aber, soll es zu einem als glücklich empfundenen Dasein kommen, den Konsens der Geleiteten m i t den Befehlenden i n der Weise voraus, daß die Geleiteten gehorchen, w e i l sie den ihnen Vorgesetzten Vertrauen und Verständnis entgegenbringen, und zwar deshalb, w e i l sie nicht ihr eigenes Bestes, sondern das Beste derer suchen, für die sie aufgrund der göttlichen Ordnung die Verantwortung vor Gott, aber auch vor der Gesellschaft tragen. Sie stehen ja gerade nicht i m landläufigen Sinn über ihnen! Vielmehr sind und bleiben sie ihnen auch als Autorität für sie zugeordnet und zugehörig. Angesichts dessen verwundert es nicht, wenn der Eindruck entsteht und sich bei näherer Beschäftigung m i t Althusius auch bestätigt, daß für i h n i m Grunde nur an der Heiligen Schrift orientierte und durch sie geprägte christliche Gemeinschaften i m Unterschied von jedem anderen menschlichen Zusammenschluß der gegebene Boden für die Praktizierung seiner politischen Theorie sind 8 . Das ist einfach deshalb so, w e i l hier i n Christus letztlich Gott selbst Männer 8 Das w i r d sehr deutlich später etwa i n V I I u n d V I I I dort, wo es u m geistliche Dinge geht (vgl. auch V 12). 14 R E C H T S T H E O R I E .
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und Frauen, Hohe und Niedrige, Reiche und Arme, Freie und Unfreie und Alte und Junge und wen auch sonst immer zur consociatio/ Symbiose verbindet. Darauf verweist er auch selbst, wenn er i n 112 abschließend eben Eph. 5, 21 ins Gedächtnis ruft: „Seid untereinander Untertan i n der Furcht Christi!" und weiter an Kol. 3, 18 ff. erinnert, wo von Unterordnung innerhalb der Familie, aber nicht etwa von Unterwerfung die Rede ist, und das, weil alle Christus zum Herrn haben. Zum Abschluß dieses Teils nur noch eins, das aber grundlegend wichtig ist! Es sollte deutlich geworden sein, daß Althusius' politische Theorie nicht etwa auf einem bestimmten Menschenbild beruht oder daß sie gar lediglich aus der von i h m aufgenommenen biblischen Anthropologie erwachsen ist. Gezeigt haben sollte sich über die hier leider nur sehr fragmentarische Befassung m i t den Exempla sacra aber auch, daß bei Althusius die Bundesvorstellung nicht die zentrale Position hat, die ihr i m System von Johannes Calvin, dem einflußreichen Lehrer von Althusius, eignete; sie erscheint i n der Politica so spät, daß ihr konstitutive Bedeutung für seine politische Theorie gar nicht mehr zukommen kann. Was sie bestimmt, ist die von Gott selbst i n der Erschaffung der ersten Menschen so geordnete und daher alle Menschen für immer bindende consociatio, wie sie für die Heilige Schrift erstmals, vor allem aber als Modell für alle Arten menschlicher Gemeinschaft, i n der ehelichen Gemeinschaft des ersten Mannes und der ersten Frau und i n der aus i h r erwachsenden Familie Gestalt gewonnen hat. Schon i n ihr reflektiert sich also für ihn, wenn auch nur schattenhaft, die Ordnung für das Zusammenleben der Menschen. Sie aber ist damit gegeben, daß der Gott der biblischen Offenbarung zwar allein Gott und Herr ist, daß er aber seine Macht nicht eigensüchtig für sich reserviert, sondern sie, w e i l er den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, auf Menschen als seine Partner delegiert, dies allerdings unter der Voraussetzung, daß sie sich i h m verantwortlich wissen und sich von i h m auch leiten lassen. Althusius weiß natürlich, daß es dazu der Leitung durch den Heiligen Geist bedarf und daß dieser erbeten sein will. IV.
Einige wenige Worte mögen noch zum Abschluß gesagt sein! Erstens: Was Johannes Althusius i n seiner Politica anzielt, ist letztlich — wie seine Exempla sacra ausweisen — ein irdischer Abglanz der vollkommenen Gerechtigkeit und Harmonie in Gottes Reich. Das unterstreicht die Tatsache, daß die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments für ihn ein Ganzes und Einheitliches ist, so daß Gottes Wille als Heilswille immer und zugleich auch Ordnungswille ist. Von daher
Die Exempla sacra i n der Politica des Althusius
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ist für i h n alle Autorität, ohne die es Ordnung nicht geben kann, abgeleitete Autorität entsprechend dem Sinn von potestas i m lateinischen Text von Rom. 13, 1 ff. Es gehört für ihn einfach zum Wesen jedes Menschen als des Ebenbildes Gottes, daß er über Autorität verfügt, sofern er dafür mitverantwortlich ist, daß Menschen zugefallene oder zugeordnete Macht nicht mißbraucht, sondern i m Sinn Gottes ausgeübt wird, der seine Macht nur zum Wohl und zum Heil der Menschen einsetzt, wie die Geschichte Jesu zeigt. Das hat nichts m i t Demokratie zu tun, wie sie von jeher immer wieder als Forderung und Programm i n Erscheinung tritt. Zweitens: Johannes Althusius ist auch als politischer Theoretiker Biblizist. Er ist es allerdings nicht i m Sinn eines biblizistischen Fundamentalismus, schon deshalb nicht, weil er i n Verbindung m i t dem Exempla sacra seine umfassende humanistische Bildung i n die Begründung seiner Konzeption einbringt. Uns Heutigen erscheint allerdings das, was er an Exempla sacra bietet, weithin als reiner Ballast. Ich bin geneigt, ihre Fülle zunächst einmal als Herausforderung hinzunehmen. Die Bibelkenntnis, die aus ihr spricht, ist ebenso imponierend wie für uns Heutige beschämend. W i r sollten das zugeben, als Theologen wie auch als Nichttheologen. Drittens: Johannes Althusius kennt seine Welt und die Menschen seiner Zeit. Hätte er seine Politica verfaßt, wenn es nicht so wäre und wenn es ihm nicht am Herzen gelegen hätte, auf die Verbesserung der allgemeinen Zustände hinzuwirken? Verliert er, dem doch die Bartholomäusnacht von 1572 i n hautnaher Erinnerung geblieben ist, sich i n seiner Politica aber nicht i n weltfremde Träumerei? Auch zu dieser Frage nötigt sein Verfahren, m i t einer, wie es Emanuel Hirsch i n seiner „Geschichte der neueren evangelischen Theologie" 9 formuliert hat, „alles andere zurückdrängenden, den knappen logischen Aufbau allenthalben überwuchernden biblischen Bewährung jeder einzelnen Aussage", eben mittels der Unsumme seiner Exempla sacra, seine politische Theorie zu erhärten. Man w i r d sicher gut daran tun, i n i h m nicht einen Träumer zu sehen, wohl aber i n ihm einen Realisten zu erkennen, den das überkommen hat, was man am besten m i t einem Fremdwort als eine vision kennzeichnet 10 . Ein Mann wie Johannes Althusius, dem das widerfuhr, sollte uns, wie ich meine, gerade heute, fast 350 Jahre nach seinem Tod, zur Bewunderung, aber auch zu ehrlicher Selbstprüfung veranlassen angesichts dessen, wie sich Politik heute i n einer Welt darstellt, i n der Christen das B i l d der Menschheit und ihrer Ordnungen weithin bestimmen könnten, es aber eben 9 10
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B a n d I, Gütersloh 1949, S. 14. Das brachte i n der Diskussion G. A. Benrath m i t Recht zur Sprache.
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nicht tun. Liegt dies aber nicht etwa auch daran, daß die Bibel i m Bewußtsein der Christen von heute nicht mehr das Gewicht hat, das sie, erkennbar an seinem Exempla sacra, für Johannes Althusius gehabt hat?
ALTHUSIUS' POLITISCHE THEOLOGIE Von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Berlin I . D e r historische Rahmen: Rechtsverbindlichkeit und politische Theologie
Was verschafft dem Recht eigentlich Verbindlichkeit? Was eigentlich macht die Kraft, die Autorität, die Legitimität 1 (die m i t der Verbindlichkeit nicht identisch ist) des Rechts aus? A u f diese Frage — und wer erwartete eine plane Antwort — gibt es seit der Verhältnisbestimmung von Naturrecht und positivem Recht zwei Antworten: Entweder gilt das Recht schlechterdings, absolut, kraft innerer Autorität für alle, gilt also auch oberhalb von Staat und Kirche oder es gibt eine Herrschaft über das Recht. Normalerweise w i r d das absolute Recht als Naturrecht gefaßt und normalerweise wurde es theologisch begründet. Rechtsbegründung konnte dann, sollte das Recht für alle gelten, keine menschliche Setzung sein. Recht muß an sich gelten, wenn es für alle verbindlich sein soll. Als ein solches Recht, das keine Ausnahmen duldet, als Naturgesetz des Handelns, hat es moralische und theologische Qualitäten. Für den europäischen Bereich des 16. Jahrhunderts hieß das: Die göttliche Schöpfung und die Offenbarung begründete das Recht, denn i m göttlichen Heilsplan lag der Sinn des Menschen. War Recht nicht naturrechtlich legitimiert, wurde die Rechtsbegründung schwieriger. Da das Recht nicht mehr absolut gesehen wird, hat die Herrschaft über das Recht zusätzliche Verfahren zur Legitimation des Rechts nötig. Diese Zusatzverfahren können als Zweckmäßigkeitsordnung, als ständische Repräsentationsordnung, als Funktion des bonum commune, als Funktion des Glücks eines jeden einzelnen und auch anders gesehen werden. Die wichtigste neuzeitliche Konstruktion der Legitimation des Rechts ist der Gesellschaf tsvertrag. I n jedem Fall hat diese Legitimation von Recht keine prävalente theologische Dimen1 Vgl. die Uberblicksartikel zu „ L e g a l i t ä t / L e g i t i m i t ä t " von Hasso Hofmann, i n : Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, u n d von Thomas Würtenberger, i n : „Geschichtliche Grundbegriffe", Bd. 3. Hasso Hof mann, L e gitimität u n d Rechtsgeltung, B e r l i n 1977.
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sion. Ihrer Herkunft nach ist sie nämlich gegen den theologischen A n spruch auf politisches Supremat gerichtet. Der historische Ursprung dieser Kerndistinktion politischer Theologie liegt i m mittelalterlichen Streit zwischen Staat und Kirche; zwischen Gregor V I I . und Bonifaz V I I I . auf der einen, den feindlichen Souveränen Kaiser und französischer König auf der anderen Seite. Der Kampf wurde Anfang des 14. Jahrhunderts entschieden und endete m i t der nachhaltigen Schwächung der päpstlichen Position durch Philipp den Schönen. Die rechtsphilosophischen und politischen Konsequenzen: Trennung des Rechts i n Kirchen- und Staatsrecht, damit zugleich die Zementierung des juristischen Konflikts um die summa potestas. Dieser Streit zwischen Kanonisten und Legisten provozierte überhaupt die Begründungsbedürftigkeit des geistlichen Rechts und des Naturrechts, provozierte zugleich die neue Differenzierung zwischen positivem Recht und Naturrecht 2 . Wenn es also Sinn hat, von politischer Theologie zu reden, dann seit der Exposition des begrifflichen Feldes von summa potestas, Naturrecht, Legitimation und Gesellschaftsvertrag. Der theologisch-politische Konf l i k t um die summa potestas hatte Konsequenzen natürlich auch für die Untertanen. Das Problem hatte sich — anders und i n anderen Dimensionen — schon i m frühen Christentum gestellt. Daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen (Apg. 5, 29) — diese Freiheit eines Christenmenschen stand i n Konkurrenz m i t Rom. 13, wo den Untertanen Gehorsam gegenüber der Obrigkeit vorgeschrieben wurde. Aber die Lösung: christlich spirituelle Freiheit einer heidnisch-irdischen Realität gegenüberzusetzen, ließ sich auf die christlichen Reiche des Mittelalters nicht ohne weiteres übertragen. Die Obrigkeit war schließlich selbst christlich. Die Tatsache, daß geistliches und weltliches Regiment untereinander verwoben waren, provozierte Gehorsamskonflikte der Untertanen 3 . Die gemeinsame Glaubenszugehörigkeit von Untertanen und Obrigkeit machte es möglich, daß der theologisch-politische K o n f l i k t um den Supremat der Herrschaft zwischen Kirche und Staat verhältnismäßig klar blieb i n den Fronten: Angehöriger einer Glaubensgemeinschaft standen i m K o n f l i k t zwischen weltlicher und geistlicher Obrigkeit i m 2
Vgl. dazu Dieter Wyduckel, Princeps Legibus Solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- u n d Staatslehre, B e r l i n 1979. D o r t weitere L i t e ratur. 8 Das wichtigste mittelalterliche Beispiel dazu bilden die K o n f l i k t e i m Franziskanerorden i m Anschluß an Joachim von Fiore u n d an den theoretischen Armutsstreit. Vgl. dazu: Herbert Grundmann, Joachim von Fiore. Ausgewählte Aufsätze, T e i l 2, Stuttgart 1977 (Schriften der M G H , 25, 2); J. Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, B e r l i n 1969.
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Kampf u m Supremat und Gehorsam. Diese Situation änderte sich i m 16. Jahrhundert nachhaltig. Denn 1. verkomplizierte sich die juristische Situation m i t dem Verlust der Einheit des christlichen Orbis durch die spanisch-portugiesischen Entdeckungen. 2. ging die Einheit der Kirche i n der Reformation verloren. Beide Brüche mußten zunächst m i t den theologischen und juristischen Mitteln, die vorhanden waren, bewältigt werden. Das bedeutete für die Jurisprudenz eine Neubestimmung des Naturrechts, das jetzt über den christlichen Orbis hinaus Geltung beanspruchen mußte 4 . Es mußten schließlich Rechtsinstitute gefunden werden, die den Umgang mit Menschen regelten, die von der biblischen Offenbarung nichts wissen konnten. A u f der anderen Seite durfte der christliche Gott seine universale Geltung nicht verlieren: Dieses Dilemma verstärkte die Notwendigkeit einer Natürlichen Theologie. Darüber hinaus forderte die neue, reformatorisch bedingte Inhomogeneität der Religion eine theologische Neubestimmung des Reichs Gottes und des Reichs des Menschen i n ihrem Verhältnis. Das hieß konkret: Der Gehorsam der Untertanen ihrer jeweiligen Obrigkeit gegenüber mußte neu bestimmt werden. Und hier war erneut — nur erstmals unter neuer weltpolitischer Perspektive und gleichzeitiger Zersplitterung der Einheitsreligion eine Neubestimmung der summa potestas erforderlich. Die Souveränität stand neu zur Debatte. Dieser Komplex hatte zwei Dimensionen: 1. Das Völkerrecht mußte neu begründet werden, um nicht-christliche Völker als Rechtssubjekte faßbar zu machen. Das geschah i n der Kombination von Naturrecht, Natürlicher Theologie und dem jus gentium der römischen Tradition durch die Juristen der spanischen Spätscholastik 5 . 2. Die verfassungs- bzw. staatsrechtliche Dimension: Die Verfassung der politischen Einheiten wurde durch die Religionskonflikte legitimationsbedürftig. Die Verfassungsbegründung mußte der neuen reformatorisch bedingten Situation angepaßt werden. Erst aus diesen beiden Voraussetzungen entwickelte sich das neuzeitliche Staatensystem: Die säkulare Verfassungsbegründung bestimmte die staatlichen Einheiten, die als Souveräne miteinander umgingen. Damit verwandelte sich das jus gentium, das in der spanischen 4 Dazu besonders: Josef Höffner, Christentum u n d Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik i m goldenen Zeitalter, T r i e r 1947. Vgl. auch Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, K ö l n 1950. 5 Siehe vor allem Francisais de Victoria, „De Indis recenter inventis et de j u r e belli Hispanorum i n barbaros relectiones" von 1539; nebst Ubers, neu hrsg. von W. Schätzel, Tübingen 1952 (Klassiker des Völkerrechts, I I ) und Francisus Suarez, Tractatus de legibus ac Deo legislatore, Coimbra 1612.
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Spätscholastik zwischen dem römischen jus gentium (Cicero) und dem neuzeitlichen Völkerrecht gestanden hatte, endgültig zum staatlichen Recht. Soweit ich sehe, hat keiner der großen Juristen und Rechtsphilosophen des 16. und 17. Jahrhunderts das Verhältnis von Völker-, Staats- und Privatrecht insgesamt dargestellt — weder Grotius noch Suarez, weder Seiden noch Bodin, nicht Thomasius, Leibniz oder Pufendorf. Auch A l t h u sius' Politica deckt nur einen kleinen Bereich i n diesem Feld rechtsphilosophischer Probleme ab, den Bereich des öffentlichen Rechts und verfassungsmäßiger Legitimationsfragen. Hier allerdings ist er der erste,, der die streng calvinistische Variante politischer Theologie umfassend und nachhaltig zur Geltung brachte. I I . Z u r Geschichte von Althusius' Hauptargumenten
Für Althusius ging es u m die drei Hauptbereiche politischer Theologie, die die staatliche Legitimation bestimmten: 1. um den Begriff und die Geltung des Göttlichen Rechts bzw. des Naturrechts 2. um die Frage nach dem Gehorsam des Volks, nach seiner Definition und seiner Stellung zur Obrigkeit und damit 3. um den Begriff der summa potestas i m verfassungsrechtlichen, nicht i m völkerrechtlichen Sinne. 1. Das gottliche Redit oder das Naturrecht
Das Naturrecht war die Alternative der Rechtsbegründung ohne bzw. gegen die staatliche Souveränität. Daß es zugleich göttliches Recht war, war deshalb selbstverständlich, w e i l die göttliche Ordnung der Schöpfung unmittelbar einsichtig war, und weil die göttliche Offenbarung i m A l t e n Testament schon m i t dem Dekalog die allgemein verbindlichen Regeln des Naturrechts formuliert hatte, die, lt. Römer 2, 14 f., auch allen Heiden ins Herz geschrieben sind. Thomas von A q u i n hatte daraus i n den einflußreichen Quästionen über das Naturrecht S. Th. II, 1 Qu. 94 und 100 die Gewissensbindung des Naturrechts abgeleitet: Der Dekalog, die Ordnung der Schöpfung und das Gewissen gehörten seit Thomas zum Naturrecht. Dieses Naturrecht war freilich noch nicht auf den Streit zwischen Kaiser und Papst um den politischen Primat h i n geschrieben, setzte vielmehr die funktionierende Verteilung der Gewalt nach geistlichem und weltlichem Schwert voraus. Der päpstliche Anspruch auf die weit-
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liehe Macht bestand i m Anspruch auf die Entscheidungsgewalt in Rechtsfragen, wie sie Innozenz I I I . (1198—1216) am nachhaltigsten erhob, denn das Naturrecht wurde als geistliches Recht aufgefaßt und deshalb dem Lehr- und Entscheidungsbereich der Kirche vindiziert: Naturrecht wurde damit kirchliche Domäne — die politische Dimension des Naturrechts, nämlich die Legitimierung der Herrschaft, wurde von der Kirche beansprucht 8 . Diese Ansprüche auf Kongruenz von kirchlichem und natürlichem Recht blieben eine mögliche kirchenrechtliche Position, und diese Ansprüche waren natürlich auch Kandidaten einer Position politischer Theologie nach der Reformation. Einer solchen Naturrechtskonzeption, i n der natürliches Recht und biblische Offenbarung identisch waren, konnten die reformatorischen Konfessionen i n einer Beziehung durchaus zustimmen: die theologische Normierung des Naturrechts, das durch seine Gewissensdimensionen auch die Moral umfaßte, stand generell m i t der Orientierung an der Theologie, wie sie die Reformation ja auszeichnete, i m Einklang. Aber diese Theorie des Naturrechts hatte für die Reformatoren zwei nicht unbeträchtliche Pferdefüße: Erster Pferdefuß: Es war die Theorie der Papisten, der Guelfen, die damit ihren Anspruch auf die weltliche Herrschaft festigen wollten — diese Form des Naturrechts war gerade das politische M i t t e l der Hure Babylon. Zweiter Pferdefuß: Diese Theorie des Naturrechts berücksichtigte nicht den Kern der theologischen Aussagen des Römerbriefes. Es fehlte die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Deshalb konnte das mittelalterliche Naturgesetz so einfach nicht übernommen werden, sondern es mußte depotenziert und gewissermaßen unter Suspension der theologischen Errungenschaften der Reformation aufgenommen werden: Das göttliche Gesetz galt natürlich, aber die Aufhebung des Gesetzes i m Evangelium war selbstverständlich nicht juristisch zu fixieren. Luther hat deshalb kein Naturrecht entwickelt 7 . Die Tradition des protestantischen Naturrechts kommt vielmehr von Melanchthon, der i n einer Anzahl von Reden das Naturrecht theologisch zu bestimmen versuchte, als „radii divinae sapientiae i n nobis, ideo hanc lucem i n nobis transfusam esse, ut conditorem agnoscamus, et gratias ei agimus, qui nobis bona i n ipso summa impertit, vitam, intelligentiam, liberta8 Vgl. dazu vor allem das Decretum Gratiani des Corpus Iuris Canonici u n d Aegidius Romanus, De eccesiastica potestate (ed. Richard Scholz, Weim a r 1929, N D Aalen 1961). 7 s. Johannes Heckel, Lex Charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht i n der Theologie M a r t i n Luthers, 2. Aufl., hrsg. von M a r t i n Heckel, Darmstadt 1973, bes. S. 171 ff.
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tem, noticiam numerorum et ordinis, discrimina bonarum et malarum actionum. Beinde addidit etiam societatis honestra vincula, et multa vitae praesidia" 8 . Das reformatorische Naturrecht war ein Recht, das sich nur aufs äußere Gesetz beschränken mußte (in der ciceronianischstoischen Tradition deshalb auch theologisch begründet stehen durfte), das aber die Bestrebungen, das Naturrecht zur Herrschaftsbegründung der Kirche einzusetzen, als papistische Hierokratie nicht akzeptieren durfte. 2. Der Gehorsam des christlichen Volkes
Von der Freiheit eines Christenmenschen läßt sich, sieht man die reformatorische Theologie, nur i n spiritueller Dimension politischer Theologie reden. Die politische Theologie kennt nur den Gehorsam. Die politisch definierte Freiheit des Einzelnen ist nicht vor Locke 9 philosophisch faßbar. Der Begriff der christlichen Freiheit war mit dem Begriff von Gehorsam einerseits, mit dem biblisch-theologischen und obrigkeitlichpolitischen Anspruch auf der anderen Seite verbunden. Dieses Spannungsfeld von theologisch-politisch und Freiheit und Gehorsam haben Luther und Calvin zunächst ganz ähnlich bestimmt. Die Freiheit eines Christenmenschen bezieht sich nicht „auf den Leib", sondern es ist „eine Freiheit des Gewissens und i n der Seele" 10 . Luther hatte die Bauernkriege vor Augen, als er die strenge Trennung der zwei Reiche forderte, die den Gehorsam der Obrigkeit gegenüber m i t der inneren Freiheit des Christen vereinbar machte, und als er Aufruhr selbst gegen ungerechte Herrschaft nicht duldete 11 . Passiven Ungehorsam, also Gehorsamsverweigerung, ließ er freilich zu 12 . 8 Melanchthon, De Legibus, Corpus Reformatoren, Bd. 11, 908—916, Zitat, S. 908. 9 John Locke, T w o Treatises of Government (1690), hat folgende Grundrechte: Leben, Besitz, Gesundheit u n d Freiheit (II, § 5). 10 Luther, Predigt am 25. Nov. 1526 über Jer. 23, 5—8, W A 20, S. 579: „Wen i g sind yhr, die da wissen, was recht sey Christliche freyheit; der meyste hauff zeuhets heraus auf den leib u n d weys nicht, das es eine freyheit ist des gewissens u n d y n n der seele, nemlich das d u nach dem hertzen u n d gewissen nicht reyn noch gerecht seyest, sondern solstu reyn u n d gerecht werden, so mustu erkennen, das d u durch diesen K ö n i g Christum Jesum allein reyn, gerecht u n d selig werdest, vermittelst seinem blut, das er für dich am Creutze vergossen hat, das macht dich frey." 11 Luther, Eine treue Vermahnung zu allen Christen, sich zu hüten vor A u f r u h r u n d Empörung, 1522, W A 8, S. 680, 33 ff.: „Ich halt und w i l l s allezeyt halten m i t dem teyl, das auffruhr leydet, wie unrechte sach es ymmer habe, u n d w y d d e r seyn dem teyll, das auffruhr macht, w i e rechte sach es ymmer habe, darumb das auffruhr n i t kan on unschuldig b l u t t odder schaden ergehen." 12 Luther, V o n weltlicher Oberkeit, w i e w e i t man i h r Gehorsam schuldig sei, 1523, W A 11, S. 277: „Wie? wenn denn eyn fürst unrecht hette, ist y h m
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Auch Calvin, der die Erfahrungen des geistlichen Regiments der Wiedertäufer i n Münster vor Augen hat, ging davon aus, daß „spiritualis libertas cum politica Servitute optime stare potest" 13 . Calvin hat freilich nicht das landesherrliche Regiment im Auge, von dem Luther nach deutschen Verhältnissen ausgeht, sondern Calvin schaut auf die Presbyterialordnung seiner calvinistischen Gemeinde: während die „Homines privati" grundsätzlich den weltlichen Herrn zu fürchten und i h m zu gehorchen habe, haben die Amtspersonen, die Magistrate, das Recht, einem ungerechten König aktiv Widerstand zu leisten (intercedere, s'opposer et resister), denn, so die Begründung, „Dominus ergo rex est regum" 1 4 . Und die Magistrate sind schließlich zur Moderation des Königs eingesetzt. Widerstand — etwas stärker als bei Luther — ja. Tyrannenmord — nein. Damit, daß er die Gemeinde i n die Argumentation um die Legitimität der Obrigkeit einbrachte, geschah bei Calvin etwas ganz anderes als i n Luthers Verlegenheitskonzeption des landesherrlichen Kirchenregiments. Das Regiment definierte sich nicht mehr nach der Raumordnung einer Herrschaft, sondern theologisch, nach Bekenntniszugehörigkeit. Zwar bleibt die Trennung von himmlischem Reich und irdischer Obrigkeit, aber das Regiment selbst war von einer bekenntnispolitischen Einheit, von der Gemeinde her definiert. Das war i n der Umbruchsphase der deutschen Reformation unter Flacius Illyricus 1551 i n Magdeburg auch schon geschehen 140 , als diese Gemeinde sich zum Zentrum des lutherischen Widerstands gegen den Kaiser machte, aber dieses Faktum blieb, soweit ich weiß, reichsrechtlich ohne Folgen. Das prekäre, theologisch begründete Gleichgewicht zwischen geistlicher Freiheit und untertänigem Gehorsam, das Calvin i n der Institutio Christiana beschrieben hatte, zerbrach schon i n der Generation nach seinem Tode unter den politischen Belastungen des französischen Calvinismus. Die Trennung von himmlischem Reich und weltlicher seyn volck auch schuldig zu folgen? A n t w o r t t : Neyn. Denn w i d e r recht gepürt niemant zu thun, sondern man muß Gott (der das recht haben w i l l ) mehr gehorchen denn den menschen." 13 Calvin, Institutio Christianae religionis (1559), I V , 20, 1. Opera selecta, ed. Petrus B a r t h u n d W i l h e l m Niesei, München 1974, Bd. 5, S. 472. 14 Ebd., Bd. I V , 20, 31 f., S. 501. 14a Matthias Flacius I l l y r i c u s : Das alle Verfolger der Kirchen Christi zu Magdeburgk / Christi des H E R r n selbs Verfolger sind. Magdeburg: Lotter 1551, B l a t t Β I I , v : „So sie n u n f u r w a r wissen / das die Pfaffen u n d der Keyser sich auffs höchste bemühen / durch alle m i t t e l u n d wege / diese ware Religion unterzudrücken / U n n d dienen ihnen dennoch / damit sie uns unter i h r Joch u n d Gotttes Gebot zwingen / So erfolgt j a K l e r l i c h / das sie das Antichristent h u m b wissentlich fordern / u n d die wahre Religion JHESU C H R I S T I m u t w i l l i g verfolgen helfen."
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O b r i g k e i t ü b e r s t a n d die M a s s a k e r der B a t h o l o m ä u s n a c h t (1572) n i c h t . A l s T h e o d o r Beza die religiöse G e m e i n d e als das souveräne V o l k t h e o logisch u n d j u r i s t i s c h beschrieb, w u r d e der K e r n der p o l i t i s c h e n T h e o l o g i e der R e f o r m a t i o n , die Z w e i - R e i c h e - L e h r e , aufgegeben 1 5 . W e n n die F r e i h e i t e n eines V o l k e s u r s p r ü n g l i c h w a r e n , w i e das i n der mittelalterlichen politischen Theorie am nachhaltigsten Marsilius v o n P a d u a i m „ D e f e n s o r Pacis" (1324) 18 d a r g e s t e l l t h a t t e u n d w i e das b e i F r a n ç o i s H o t m a n i n der „ F r a n c o G a l l i a " (1573) 17 historisch belegt w o r d e n w a r , d a n n k o n n t e sich e i n V o l k auch nach seiner R e l i g i o n d e f i n i e r e n — das h e i ß t : es b e s t a n d die M ö g l i c h k e i t , den u r s p r ü n g l i c h p o l i t i s c h e n B e g r i f f des V o l k s theologisch n e u z u definieren. E t i e n n e de l a B o e t h i e , der F r e u n d M o n t a i g n e s , h a t t e die V ö l k e r , die i h r e F r e i h e i t v e r t e i d i g t e n , i n seinem ganz p a g a n i s i e r e n d e n f u r i o s e n T r a k t a t „ D e l a s e r v i t u d e v o l o n t a i r e " gepriesen 1 8 , D u p l e s s i s - M o r n a y 1 9 u n d Beza b e n u t z t e n nach d e r B a r t h o l o m ä u s n a c h t diesen B e g r i f f d e r F r e i h e i t eines p o l i t i s c h e n V o l k e s , u m auch die F r e i h e i t eines G o t t e s v o l k e s gegen die Staatsraison zu v e r t e i d i g e n 2 0 . 15
1574.
Theodor
Beza, D u Droits des Magistrats sur leurs subjets, ο. Ο. (Lyon?)
1β Marsilius von Padua, Defensor Pacis (1324), Ed. und Übers., auf Grund der Ubers, von Walter K u n z m a n n bearb. und eingel. von Horst Kusch, D a r m stadt 1958. 17 François Hotman, Franco Gallia, sive tractatus isagogicus de regimine regum Galliae et de iure successionis, Genf 1573. Kritische Ausgabe lat. u n d engl, von Ralph E. Giesey, Übers, von J. H. M. Salmon, Cambridge 1972. Deutsche Übers.: Beza, Brutus, Hotman, Calvinistische Monarchomachen. Ubers, von Hans Klingelhöfer. Hrsg. u n d eingel. von Jürgen Dennert, Opladen 1968 (Klassiker der Politik, Bd. 8). 18 Etienne de La Boethie, De la servitude volontaire. Zuerst i n lateinischer Übersetzung erschienen: Dialogi ab Eusebio Philadelphio Cosmopolita . . . , Edinburg (d. i. Basel) 1574, vollständig i m französischen Original zuerst i m B a n d 3 der „Mémoires de Testat de France sous Charles Neuviesme" 1577. Deutsch u n d lateinisch neu hrsg. von Horst Günther, F r a n k f u r t 1980. 19 Stephanus Junius Brutus (wahrscheinlich Philippe DuPlessis-Mornay), Vindiciae contra Tyrannos, E d i n b u r g 1579 (Ort und D a t u m unsicher, w a h r scheinlich Basel 1579). Deutsche Übers, wie F N 17. 20 Theodor Beza, Das Recht der Obrigkeiten . . . Kap. X behandelt und bej a h t die Frage, ob einer Tyrannis, „die die wahre Religion angreift u n d sie, soweit möglich, unterdrückt, . . . m i t bewaffneter Hand Widerstand zu leisten" ist. Die wahre Religion zeige sich durch Anciennität — aber es könne die alte wahre Religion verkommen sein u n d durch den Heiligen Geist neu reformiert werden. Diese eigentlich f ü r neue Religionsgemeinschaften ungewöhnliche These, die sich zugleich gegen die Schwärmer u n d Inspirierten m i t dem Argument der Anciennität richtet u n d gegen die alte Kirche deshalb das Argument der Verkommenheit, die eben reformiert werden müsse, gebraucht, findet sich zuerst bei Flacius Illyricus i n seinem nachhaltigen „Catalogus testium veritatis" (Basel 1556) u n d i n den Magdeburger Centurien (Basel 1559—1574). Die „Vindiciae contra Tyrannos" befürworten ebenso wie Beza, daß „benachbarte Fürsten Untertanen zu Hilfe eilen müssen, denen u m des reinen Glaubens w i l l e n Schaden geschieht." (Vierte Untersuchung).
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I n den Theorien der Monarchomachen geschah damit nichts Geringeres als die nachreformatorische Neudefinition des Begriffs eines Volks (und seiner Souveränität) vom Anspruch der Religion her. Während vorher der Begriff des souveränen Volks politisch war (seit Marsilius von Padua) wurde das souveräne Volk jetzt als Religionsgemeinschaft begriffen. Die Umdeutung der Rechtsbegründung entlegitimierte den Staat, beanspruchte die Summas potestas für eine nicht politisch definierte Gruppe. So etwas erfüllt die Definition von Bürgerkrieg: der Anspruch einer Gruppe, die vorher die Gewalt nicht hatte, auf die legitime Gewalt, verbunden m i t der Entlegitimierung der herrschenden Gewalt. 3. Souveränität
Es ist sinnvoll, beim wohl entscheidenden Moment politischer Theologie, bei der Souveränität, zwei Arten zu unterscheiden: die Volkssouveränität und die Souveränität der Staatsgewalt, die ein einzelner oder eine Gruppe innehaben können. Die Souveränitätstheorie liefert keine unmittelbare Begründung der Gesetze, wie die Theorie des göttlichen oder des Naturgesetzes, sondern nur eine mittelbare Theorie der Legitimierung von Recht. I m Gegensatz zur Theorie des normativen Naturrechts — wie sie bei Marsilius ausgearbeitet vorliegt — geht die Souveränitätstheorie von der rein politischen Funktion von Gesetzen aus, die i m Rahmen menschlicher Politik zweckmäßig erlassen werden können. I m Rahmen der Volkssouveränität werden Gesetze zum Glück der Bürger, zum εΰ ζην 21 , erlassen, und diesem irdischen Zweck allein dient der Staat, der zwar die Religion zu unterstützen hat, aber seine Gesetze aus eigener Machtvollkommenheit macht. M i t der „Norm der Gerechtigkeit" richtet er den entstehenden Zank und Streit der Menschen untereinander 22 ; die verschiedenen Techniken sichern Leben und Gutleben (das ist die Aufgabe der Stände). I m besten Falle w i r d durch Wahl eine Regierung 23 bestimmt, die nicht absolutistisch, sondern in 21
Aristoteles, P o l i t i k I, 2, 1252 b : ή δ' εκ πλειόνων κωνών κοινωνία τέλειος πόλις, ήδη πάσης Ιχουσα πέρας της αύταρκείας ώς ϊπος ειπείν, γινομένη μεν του ζην ένεκεν, ουσα δέ του ευ ζην. „Endlich ist die aus mehreren Dorfgemeinden gebildete vollkommene Gesellschaft der Staat, eine Gemeinschaft, die gleichsam das Z i e l vollendeter Selbstgenügsamkeit erreicht hat, die u m des Lebens w i l l e n entstanden ist u n d u m des vollkommenen Lebens w i l l e n besteht." Marsilius ü b e r n i m m t diese Definition wörtlich: „perfecta communitas, omnem habens t e r m i n u m per se sufficiencie, u t consequens est dicere, facta quidem i g i t u r v i v e n d i gracia, existens autem gracia bene vivendi". Vgl. Defensor Pacis ed. Kusch (s. F N 16) I, 4, § 1. 22 Ebd. I, 4, § 4: „ V e r u m quia inter homines sic congregatos eveniunt contenciones et rixe, que per n o r m a m iusticie non regulate causarent pugnas et h o m i n u m separacionem et sic demum civitatis corrupcionem, opportuit i n hac communicacione statuere istorum regulam et custodem sive factorem." 28 Ebd. I, 9, § 11: „De modis itaque institucionis principatum, et quoniam ipsorum simpliciter praestancior eleccio, determinatum sit hoc modo."
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Bindung an das Gesetz regiert. Die Begriffe der Summa potestas, des κύριον, auch majestas, kommen, soweit ich weiß, zwar nicht vor, Marsilius redet allerdings vom principatus 24 . Deutlich w i r d : Durch die Bindung des Königs ans Gesetz 25 und die Wahlhoheit des Volkes war die Souveränität i n dem Sinne beim Volk, daß von i h m alle legitime Gewalt ausging. Das ist ein säkulares Konzept, der Versuch einer strikten Aufgabentrennung von geistlicher Lehre und weltlicher Herrschaft, und dennoch kein Rezept der Staatsraison, w e i l nicht die Ratio status, nicht die Selbsterhaltung der Obrigkeit, sondern das Wohlleben der Bürger Ziel der Verfassung war. Die Frage, welche Kriterien, ob religiöse oder politische, die Zugehörigkeit zu einem Volk definierte, war i m Mittelalter überflüssig. Solange es nur eine einheitliche Religion gab, war Religion nicht definiens gegen Nationen, sondern nur gegen den Staat schlechthin. Genau diese Situation änderte sich nach der Reformation, und zwar i n doppelter Hinsicht: Der Anspruch auf die politische Durchsetzung einer Einheitsreligion i n den unterschiedlichen Territorien — cujus regio ejus religio (1530)28 — war a limine gegenläufig gegen den säkularisierten Staatsanspruchs Marsilius von Paduas. Natürlich wollten alle Konfessionen Obrigkeiten ihres Bekenntnisses; Calvins widerstandsberechtigte Ratsherren waren ebenso calvinistisch, wie Luthers Adelige protestantisch gedacht waren. Da aber eine Gesamtreformation der Kirche nicht zustande kam, die Reformation auf der anderen Seite zu erfolgreich war, um nicht wenigstens regional wirksam zu sein, ergab sich eine neue Situation. Das Volk definierte sich nicht mehr politisch. Es standen 24 Ebd. I, 17, § 2: „ H u n c autem solummodo pricipatum, supremum scilicet, dico u n u m numéro ex necessitate fore, non plures, si debeat regnum aut civitas recte disponi". 25 Ebd. I, 18, § 2: „Nos autem dicamus, quod principans per suam accionem secundum legem et sibi datam auctoritatem régula est atque mensura cuiuslibet civilis actus, quemadmodum cor i n animali". 28 Die Festlegung der Augsburger Konfession zeigte w o h l die Priorität der Religion vor der Einheit des Reichs, nicht vor der möglichen Einheit eines Territoriums. Der französische Jurist Loyseau beschrieb i n seinem Traité des seigneuries (Paris 1608) die Territorialbindung der Souveränität, die geeignet war, die Konversion Heinrichs I V . zu rechtfertigen. Hier kehrte sich das Prinzip der Augsburger Konfession u m : Nicht mehr die Religion bestimmte die Region u n d die Herrschaft, sondern die Region bestimmte die Religion u n d die Herrschaft. „ E t comme c'est le propre de toute Seigneurie d'estre inherente à quelque fief ou domaine, aussi la Souveraineté i n abstracto, est attachée à l'Estat, Royaume ou Republique. Pareillement comme toute Seigneurie est communiquée aux possesseurs de ce fief ou domaine, la Souveraineté selon la diversité des Estats se communique aux divers possesseurs d'iceux: à scavoir en la Démocratie à tout le peuple . . . E n L ' A r i s t o cratie la Souveraineté reside par devers ceux, q u i ont la domination . . . Finalement és Monarchies elle appartient au Monarque q u i pour ces te cause est appellé Prince ou souverain Seigneur." Traité des Seigneuries, Paris 1608, p. 25. Zit. nach: G. Jellinék, Allgemeine Staatslehre, B e r l i n 8 1922, S. 460.
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vielmehr unterschiedliche theologisch-religiöse Definitionen von K i r chenvölkern den alten politischen Definitionen von Volk entgegen und bestritten nun die Legitimität der alten politischen Verfassungen. Volkssouveränität hatte nur Sinn, wenn das Volk religiös homogen war und die Religion keine politischen Aufstände provozierte; war diese Voraussetzung nicht gegeben, war das Volk also religiös inhomogen, trat die Staatsraison i n Kraft: Das Recht konnte nicht mehr durch Volkskonsens gefunden werden, weil es ja nicht um Recht, sondern um Theologie ging und Recht Funktion der Theologie wurde. Recht mußte also erzwungen werden, damit der Bürgerkrieg unmöglich wurde. Und hier geschah die Identifikation von Staatsgewalt und Souveränität 27 . Es macht den Rang Bodins aus, diese neue Situation erkannt und verfassungspolitisch dargestellt zu haben. Die Verrechtlichung der Souveränität bestimmt seinen Unterschied zu Macchiavélli, der diese Differenzierung zwischen Souveränität als Notrecht und Souveränität als Usurpation nicht kennt. Macchiavéllis „Fürst" beschreibt Zustände, Bodins „République" schafft Rechtsnormen unter der Bedingung nicht mehr funktionierender naturrechtlicher und volksrechtlicher Normen. Deshalb ist Bodins Definition von Souveränität die erfolgreichste unter den Staatsrechtsnormen der religiösen Bürgerkriege gewesen: Wo naturrechtliche Normen versagten und Volkssouveränität aus theologischen Gründen ausfiel, blieb nur noch die Souveränität des absolutistischen Herrschers: „Unter Souveränität ist die dem Staat eigene absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt zu verstehen 28 ". Der Souverän ist für Bodin der irdische Vizegott, die Frage der kirchlichen Gewalt ist vollkommen aus dem Kalkül, die Konfession spielt keine Rolle mehr 29 .
27
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (FN 26), S. 461. Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat (zuerst 1576), nach der französischen Ausgabe von 1583 übers, u n d m i t Anmerkungen versehen von Bernd Wimmer, eingel. u n d hrsg. von P. C. Mayer-Tasch, München 1981, Buch I , Kap. 8, S. 205. 29 Bodin, Sechs Bücher über den Staat (FN 28), S. 284: „Da es auf Erden nichts Höheres gibt als die souveränen Fürsten und w e i l sie von Gott als seine Stellvertreter dazu berufen sind, den übrigen Menschen zu gebieten, muß man sich ihres Ranges bewußt sein, u m ihrer Majestät i n aller Ergebenheit die i h r gebührende Achtung u n d Ehrerbietung zu erweisen und ihnen i n Gedanken u n d Worten jegliche Ehrerbietung entgegenbringen. Wer nämlich seinen souveränen Fürsten schmäht, der schmäht Gott, dessen Ebenbild auf Erden er ist. Deshalb sprach Gott zu Samuel, von dem das V o l k einen neuen Fürsten gefordert hatte: ,Nicht dich haben sie verstoßen, sondern mich verwerfen sie 1 ." Der Souverän ist eben f ü r Bodin der irdische Vizegott, die Frage nach der kirchlichen Gewalt ist vollkommen außerhalb des Kalküls, die Konfession gar fällt ganz aus. 28
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W i l h e l m Schmidt-Biggemann I I I . Althusius' politische Theologie 1. Die konfessionelle Definition von Althusius' Politik
Eine konfessionelle Libertinage 30 , wie sie Bodin bei der politischen Hechtsbestimmung der Souveränität versuchte, war für Althusius unakzeptabel und deshalb ein Grund polemischer Auseinandersetzung. Die Alternative der politischen Theologie, Staat oder Religion als Legitimitätsträger der Souveränität anzusehen, war für ihn erst gar nicht vorhanden. Weil — weder in Herborn noch i n Emden — die Frage eines Naturrechts oberhalb der Konfessionen und mit einem Geltungsbereich sogar außerhalb der christlichen Territorien nicht zum Problem wurde, spielte das Völkerrecht keine Rolle. Denn es ging Althusius weder um das Verhältnis der Souveräne untereinander noch um ein jus gentium i m Sinne der spätscholastischen spanischen Rechtsschule. Seine Beschränkung aufs Staatsrecht, auf den Bereich, der seit Aristoteles den engeren Bereich der Politik ausmachte, brachte die calvinistische Kongruenz von politischer Einheit und konfessionell bestimmter Gemeinde ganz selbstverständlich i n die Voraussetzungen seiner Argumentation hinein. Die Präponderanz der eigenen Konfession war so etwas wie der blinde Fleck in der politischen Theorie des Johannes A l t husius. Eine prinzipielle Trennung von Theologie und Politik kam deshalb auch nicht zustande, nur eine — dann freilich originelle — neue Gliederung der Rechts- und Machtsphären i m Staat. Für Althusius war die Anwesenheit des christlichen Gottes i m Naturgesetz und i m biblischen Gesetz so deutlich, daß die Voraussetzungen der Alternative zwischen Theologie und Politik gar nicht erst gegeben waren. Deshalb war es gewiß schwierig für ihn, von einer unabhängigen Politik zu reden, und er hat die Unabhängigkeitserklärung der Politik, die er i n der Vorrede zur ersten Auflage seiner „Politica" versucht hatte, denn auch schnell zurückgezogen. „Die Theologen" heißt es i n der ersten Auflage der Politik von 1603, wo alle Ansprüche der verschiedenen Wissenschaften auf die Politik durchgegangen werden — „die Theologen endlich möchten der Politik die Grundsätze wahrer Frömmigkeit und Nächstenliebe zur Richtschnur machen; vor allem den Dekalog, den sie allein richtig auszulegen behaupten. Es gilt nun, alle diese ihrem Gegenstand fremden und unangemessenen Methoden aus der wissenschaftlichen Politik auszumerzen und ihr 80 Noch das Grotiussche Konzept einer durch Naturrecht definierten Souveränität w a r f ü r Althusius zu heidnisch. Vgl. insbesondere Grotius' „De imperio summarum potestatum circa sacra", Paris 1648.
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ureigenstes Gebiet zu erforschen." 81 M i t dieser, selbst noch von der theologischen Dekalog-Interpretation unabhängigen waghalsigen Emanzipationserklärung der politischen Wissenschaft hatte sich Althusius wohl zu weit vorgewagt, denn i n der Widmung zur endgültigen Ausgabe von 1614 heißt es nur noch — und dabei taucht das Naturrecht als Dekalog auf —: „ I n diesem Werk habe ich alles rein Theologische, Juristische und Philosophische hintangestellt und nur dasjenige ausgewählt, was dieser Wissenschaft und Disziplin essentiell und homogen 82 erschien. So habe ich unter anderem die Vorschriften des Dekalogs und des Königsrechts, über die bei anderen Politikern tiefes Schweigen herrscht, an ihre rechte Stelle gesetzt." 83 Nichts mehr also von einer Unabhängigkeitserklärung der Politik, sondern i m Gegenteil der Einbau der politischen Theorie in den Kontext des biblischen Gesetzes. Diese Orientierung am göttlichen (vornehmlich alttestamentarischen Gesetz) hob eine entscheidende Errungenschaft der reformatorischen Theologie auf, nämlich die Lehre von der Differenz zwischen innerer Freiheit durchs Evangelium und äußeren Gehorsams unter das weltliche Gesetz. Der Kern der theologischen Rechtfertigungslehre, die Gerechtigkeit durch den Glauben ans Evangelium, spielte keine Rolle mehr bei Althusius. Es galt nur noch das Gesetz als göttliches Gesetz. Vornehmlich orientiert an der Gestalt des Dekalogs, bildete es den Rahmen jeder legitimen Ordnung, war es die Bedingung jeder Gesetzmäßigkeit. I n diesen Rahmen mußte das positive Gesetz des Staates eingepaßt werden 84 . Althusius erreichte so zweierlei: Erstens blieb die Geltung des 81 Johannes Althusius, Grundbegriffe der Politik. Aus „Politica methodice digesta" (1603). Hrsg. u n d übers, von E r i k Wolf, F r a n k f u r t 1948, S. 6. 32 Homogeneität ist eine der methodischen Voraussetzungen für jedes ramistische Systema — u n d das galt natürlich auch für den überzeugten Ramisten Althusius. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer u n d barocker Wissenschaft, Hamburg 1983 (Paradeigmata 1), S. 47 ff. 88 Johannes Althusius, Politica, methodice digesta . . . , Herborn 1614, N D Aalen 1961, Praefatio, 2 v : „Quo i n opere, ad suas sedes, omnibus merè theologicis, juridicis, & philosophicis rejectis, selegi ilia tantum, quae huic scientiae & disciplinae essentialia, & homogenea m i h i esse videbantur. Atque inter alia etiam praecepta Decalogi, & j u r a majestatis, de quibus apud alios politicos a l t u m silentium, suis i n locis adspersi. Decalogi praecepta. quatenus n i m i r u m i l l a consociationi & vitae symbioticae, quam tradimus, s p i r i t u m vitalem infundunt, facem praeferunt & vitae sociali huic, quam quaerimus, viam, regulam, cynosuram atque sepem societati humanae constituunt & praescribunt." 84 Politica, X „De lege atque ejus exsecutione", 1, S. 190: „Secularis politica communio universalis regni est, quâ eadem media ad v i t a m eandem justam i n consociatione universali degendam idonea & necessaria, inter membra regni communicantur . . . A g i t ergo hoc ius regni, seu jus majestatis seculare, de v i t a justa secundum tabulam Decalogi posteriorem i n symbiosi u n i v e r sali instituendam, quomodo scilicet justè i n praesenti saeculo vivamus, u t dicit Apost. Tit. c. 2.12. atque sie p r a x i n tabulae secundae Decalogi hoc ius continet." (Die erste Tafel des Dekalogs enthält die Gesetze, die sich auf Gott
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göttlichen Hechts, das als Naturrecht interpretiert wurde, unangetastet. Die christliche Religion galt ganz prinzipiell und fundamental. Gerade dadurch wurde zweitens ein Freiraum geschaffen, in dem das Volk der Legitimitätsträger jeder Herrschaft war. Die Repräsentanten der Volksherrschaft schufen und garantierten eine zweckmäßige Ordnung, die ihrerseits den Anspruch der Konfession nicht antastete. Althusius nahm damit das Moment des principatus auf, das das Volk bei Marsilius von Padua hatte, vernachlässigte die antikirchliche Spitze, die dieser Topos bei Marsilius hatte und baute die Argumentation der Legitimität der Volksherrschaft i n seine reformierte Politik ein. Nicht mehr stand jetzt die Politik gegen die Kirche, sondern aufgrund der Gemeindehoheit war das Recht durch die politische Einheit Volk legitimiert und durch die religiöse Einheit der Konfessionsgemeinschaft bestimmt 35 . Deshalb definierte Althusius das Territorium eines Staates nicht transkonfessionell und politisch, sondern kirchlich. Sein Jus ecclesiasticum erstreckt sich „de vitâ piâ intra fines territorii regni vivenda, quomodo in praesenti saeculo Deum cognoscamus et colamus" 38 . Es war deshalb ganz selbstverständlich, daß der Geltungsbereich des Jus ecclesiasticum und des Jus civile übereinstimmte 37 . Die religiöse Bestimmung von Volk und Territorium zeigte sich besonders deutlich i n den Konfliktfällen der Repräsentation. Wenn Repräsentation das entscheidende Legitimitätsmerkmal bei Althusius war, dann mußte sich in der Konkurrenz der Repräsentanten auch der Kern der Legitimität zeigen: Für die Ephoren, das Führungskollegium, das Althusius vorsah, eine A r t Senat mit weitreichenden Befugnissen, das entweder als Kurfürstenkollegium oder als Parlament interpretiert werden konnte, für diese Ephoren galt, daß die rechtgläubige Minderheit prinzipiell das Ubergewicht über die andersgläubige Mehrheit haben mußte. „Definiendi autem veri cultores", setzte Althusius fest, „ & protegendi i n regno, etiamsi numéro pauciores sint & plures qui aliam profitentur religionem" 38 . selbst beziehen, die zweite regelt das Verhältnis der Menschen untereinander.) 35 D a m i t ist auch die antikisierende Eloge auf die Freiheit der Völker von L a Boethie überflüssig geworden. 36 Politica, I X „De iure majestatis ecclesiastico". 34, S. 182 f. 37 Politica, I X , 42, S. 187: „ N o n tarnen schisma faciendum, & separationem concedendam esse, existimandum est". Freilich solle man m i t Zeloten moderater umgehen als m i t den Urhebern von Schismen, dennoch solle w e gen Kleinigkeiten kein Staatsprozeß angestrengt werden. M i t der Schärfe des Gesetzes soll gegen Atheisten, Anarchisten (qui άτα£ίαν inducunt) u n d gegen diejenigen vorgegangen werden, die die Heilsartikel nicht anerkennen (qui articulos ad salutem necessarios negant, aut i n d u b i u m vocant. Ebd. I X , 44, S. 188). Außerdem ist eine nichtchristliche Bevölkerung untragbar. 38 Politica, I X , 41, S. 187.
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Die religiöse Definition bestimmt mithin die Grenzen der politischen Entscheidungen, der Schutz der Herrschaft der wenigen Rechtgläubigen ist mehr als ein Minderheitenschutz i m wichtigsten Gremium von A l t husius' Staat, auch mehr als eine kollegiale Unterstützungsklausel. Es zeigt sich vielmehr: Die Konfessionszugehörigkeit liegt außerhalb der Möglichkeiten der politischen Souveränität des höchsten Repräsentationsgremiums. Wenn Repräsentanz einen Sinti haben soll, dann muß sie in einem definierbaren Verhältnis zum repräsentierten Volk stehen. Ebensowenig wie die Ephoren den religiösen Konfliktfall wirklich lösen können, so wenig ist das Volk i n diesem Konflikt politisch souverän. Dieser Bruch i m Aufbau der „Politica" macht vielmehr deutlich, daß der konfessionelle Rahmen das definiens des politischen Denkens von A l t husius ist, hinter den er nicht zurückgeht. Die Konfession definiert den eigentlichen Träger der Souveränität, die Konfession ist der Rahmen von Herrschaft und Volk. 2. Althusius' Konzeption der Souveränität
Die konfessionelle Definition der Politik bei Althusius definiert auch seine Lehre von der Volkssouveränität. Diese Souveränität ist nicht lege absoluta, sie ist zunächst als begrenzter Herrschaftsvertrag beschrieben, der die Souveränität formal beim Volke beläßt und die Staatsgewalt als Administrationsauftrag dem Magistrat, resp. dem König übergibt. „Populus absolutam dominandi potestatem non dedit magistratui" bestimmt Althusius eindeutig 89 . Aber diese Vindikation der Souveränität ans Volk ist ganz formal. Der eigentliche Souverän sind die Ephoren. M i t der Trennung von Administration und Ephoren erreicht Althusius eine Trennung von Exekutive und staatlicher Gewalt, die an moderne Gewaltenteilung erinnert. Während die Administration das „vinculum consociationis" sein und ausschließlich dienende Funktion haben sollte, indem sie die Gesetze dem Rahmen des Dekalogs anpassen sollte 40 , hatten die Ephoren 89 Politica, X V I I I „De ephoris, eorumque officio", 9, S. 273, vgl. S. 279: „Nec est verosimile, cives universos, seu populum, se sua auctoritate penitus voluisse spoliare, & transferre i n a l i u m sine exceptione, sine consilio & ratione, quod necesse non erat effecisse, ut princeps corruptioni & p r i v a t i obnoxius, maiorem universalis haberet potestatem, foetus parente, rivus origine esset praestantior." 40 Politica, X „De lege atque ejus exsecutione", 1, S. 190: „Secularis politica communio universalis regni est, quâ eadem media ad v i t a m eandem justam i n consociatione universali degendam idonea & necessaria, inter membra regni communicantur: seu quae tractat ea, quae ad usum vitae h u j u s " 1. Cor. c. 6.3. seu regni negotia spectant. . . . (Der § geht m i t dem T e x t von A n m . 34 weiter). Vgl. auch Politica, X , 8, S. 193: „Aliae quoque leges singulis & universis regnicolis praescribuntur, quibus lex Decalogi moralis explicatur, & propter varias incidentes circumstantias loci, temporis, rei & personarum, Reipub. adcommodatur."
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das Amt, diese Administration — und an ihrer Spitze den König — einzusetzen bzw. zu kontrollieren. Wenn innerhalb des konfessionellen Rahmens die Souveränität des Volks beibehalten werden sollte, dann kam es auf zweierlei an: Erstens auf den Vertrag des Volks mit der Administration, zweitens auf die Legitimität der Ephoren. Der Vertrag des Volkes mit dem Magistrat, der an seiner Spitze einen König (auch Kaiser) haben konnte, legitimiert dieses Administrationsorgan zu so vielen Rechten wie ihm vom Volk („a Corporibus consociatis") bzw. den Mitgliedern der Herrschaft ausdrücklich überlassen sind. Was i h m nicht gegeben ist, ist Eigentum des Volks bzw. der allgemeinen Consociatio 41 . Das ist, i m Gegensatz zu Bodins Absolutismusmandat, ein zeitlich und materiell begrenzter Vertrag, der mit absolutistischer Souveränität nichts zu tun hat; der Vertrag entspricht etwa einer konstitutionellen Monarchie. Dagegen ist die Legitimität und die Rechtsstellung der Ephoren, die biblisch mit einem guten Dutzend Stellen abgesichert sind 42 , unvergleichlich besser. Sie sind die Repräsentanten des Volks 43 , ständisch zusammengesetzt, aus dem Consensus des gesamten Volks entweder zeitlich oder dauernd, aus Wahl, Bestimmung, Los ermittelt, je nach A r t der Herrschaft; und sie beanspruchen, repräsentativ zu sein 44 . Eine klassische Stände Vertretung, aber mit absoluten Vollmachten: Sie haben das Recht zur Einsetzung der Administration und zu deren Kontrolle gemäß dem Vertrag des Volks mit der Administration. Sie haben das 41 M i t diesem Begriff der Consociatio, den man zutreffend m i t Gesellschaft wiedergeben kann, hat man bei Althusius die Trennung von Gesellschaft u n d Staat. Vgl. Politica, X I X „De regni commissioned 7, S. 329: „ T a n t u m autem juris habet hic summus magistratus, quantum i l l i à corporib. consociatis, seu membris regni, est expressè concessum; & quod non datum ipsi est, ed penes populum, seu universalem consociationem, remansisse dicendum est. Vasqu. lib. I. C.47.n.l3. illust. controv. idque ex natura contractus mandati. Vid. c.37. & seq.38." 42 Politica, X V I I I „De ephoris eorumque officiis", 49, S. 292: „Ephori h i ratione officii i n j u n c t i & dignitatis suae, ab aliis vocantur patricii, seniores, Num.c.ll.16.17. 2 Sam.c.3.17.c.5.3. Deut.c.23.1. l.Reg.c.8.1& seqq. 2. Chron. c.32.3. Jerem.c.36.12.20. principes, Jon.c.3.8. Dan.c.3. Esth.c.1.11.14.16.18.21. l.Reg. C.8.1.C.20.7.8. 2.Reg. c.10.1. 2.Chron. c.36.14.18. Esa.c.1.23. l.Chron. c.22.20. c.23.1. Jer.c.26.10.11.16. & seqq. C.37.C.38. Mich, c.3.1.9.11. 43 Politica, X V I I I , 48, S. 292: „Ephori sunt, quibus populi i n corpus p o l i t i cum consociati consensu demandata est summa Reip. seu universalis consociationis, u t repraesentantes eandem, . . . potestate & iure illius utantur i n magistratu summo constituendo, eoque ope, consilio, i n negotiis corporis consociati, juvando, nec non i n ejusdem licentiâ coercendâ & impediendâ, i n causis iniquis & Reip. perniciosis, & eodem intra limites officii continendo, & denique i n providendo & curando omnibus modis, ne Resp. quid detrimenti capiat privatis studiis, odiis, facto, omissione vel cessatione summi magistratus. Num.c.11.16. & seqq. Deut.c.33.4.5. 44 Politica, X V I I I , 107, S. 314: „ E p h o r i i g i t u r sunt perpetui, haereditarii ex consensu universalis consociationis facti, vel temporales."
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Recht zur zeitweiligen Absetzung der Verwaltung bei Unfähigkeit oder Versäumnissen. Sie haben das Recht zur Entfernung eines tyrannischen Magistrats. Sie haben schließlich die Pflicht, die legitimen Aufgaben des Magistrats i m Notfalle selbst zu übernehmen und zu verteidigen 45 . Das sind ganz außerordentliche Befugnisse, die wohl noch über die Befugnisse unseres Parlaments hinausgehen, besonders in einen Fall, im Fall des Tyrannenmords. Tyrannenmord ist anders als bei den Monarchomachen beider Konfessionen, anders auch als i n den modernen Interpretationen, bei Althusius kein Konflikt zwischen Legalität und Legitimität, sondern ein reiner Legalitätskonflikt. Der Gesellschaftsvertrag ermöglicht es nämlich den Ephoren, die über dem Magistrat und dem König zu wachen haben, deren Amtsführung nach den Vertragsgrenzen zu bestimmen; das definiert die Tyrannis. Die Definition der Tyrannis bezieht sich dabei auf zwei Bereiche — einerseits auf den politischen Bereich des Vertrags — also die Einhaltung der Grenzen des Vertrags — zum anderen auf die theologischen Rahmenbedingungen, die Althusius auch durch einen Tyrannen nicht in Frage gestellt sehen kann. I m ersten Fall w i r d der Tyrann, weil sich der Vertrag bei Verletzung durch einen Partner auflöst (das ist das naturrechtliche A r gument: Pacta sunt servanda) 40 , zum Privatmann, der den Gesetzen unterliegt, mithin „ut privatus & plebeius est moriturus". I m anderen Fall vergeht sich der Tyrann gegen das göttliche Recht, das den naturrechtlichen und konfessionellen Rahmen der Politik bei Althusius ausmacht. Die Verletzung von fides und religio 47 sind ebenfalls Indizien der Tyrannis, und der Herrscher macht sich beim Vergehen gegen das gött45 Politica, X V I I I , 63, S. 296 f.: „ O f f i c i u m horum ephorum quinque potissimùm continetur. P r i m u m est, et constituant generalem summum magistratum. A l t e r u m est, u t i n t r a fines & limites officii sui eundem contineant, & sint custodes, defensores ac vindices libertatis & reliquorum j u r i u m , quae populus i n summum magistratum non transtulit, sed sibi reservavit. T e r t i u m est, u t constituant summo magistratui, ad Reipub. administrationem inepto, vel tempore interregni, curatorem, ad obeundam Reip. administrationem, donee alius summus magistratus eligatur. Quartum officium i l l o r u m est, u t removeant magistratum summum tyrannum. Q u i n t u m est i n summi m a gistratus defensione, & j u r i u m illius; I n quibus singulis peragendis ephoris omnia & singula, sine quibus officii sui partes expedire nequeunt, demandata esse censentur." 48 Politica, X X X V I I I : „De tyrannide ejusque remediis", 37, S. 897 „ . . . ratio est, quod tyrannus contra pactum cum populo initum, faciens, & ipsa f u n damenta Reip. convellens, ipso j u r e amittat omnem potestatem & fiat p r i vatus, u t rectè Vasquius asserit, qui u t privatus & plebeius est moriturus Psal. 82.7. Esa. c.14.10." 47 Politica, X X X V I I I , 3, S. 885: „Tyrannus i g i t u r est, qui obstinatè, violatâ fide & religione jurisjurandi, vincula & fundamenta consociati corporis Reip. convellere & dissolvere incipit. Sive is sit monarcha, sive polyarcha, q u i maxima Reip. bona, u t i pacem, virtutem, ordinem, legem, nobilitatem, avaritiâ. superbiâ, perfidiâ, crudelitate evertit & extinguit."
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liehe Gesetz vom „Diener Gottes zum Instrument des Teufels" 48 . Die K r i terien religiöser Tyrannei sind die Behinderung oder Veränderung der kirchlichen und weltlichen Verwaltung, die Veränderung der Ausübung der orthodoxen Religion und die Einführung einer Idololatrie — und das kann 1614 nur Katholizismus heißen 49 . Damit war klar, daß die Ephoren gleichermaßen für den Schutz der göttlichen Ordnung und des konfessionellen Rahmens der Politik zu sorgen hatten; das galt ebenso für die Einhaltung des Gesellschaftsvertrages. Die Ephoren hatten eine entscheidende Macht allein, die Macht, über Legitimität und Illegitimität einer Regierung zu entscheiden. Das ist die Judicationsgewalt, die Hobbes für die Instanz hielt, die über die Legitimität der Macht und mithin über ihre Durchsetzungsmöglichkeiten zu entscheiden hatte. Dann aber waren die Ephoren die Entscheidungsinstanz mit Legitimation und Autorität, die über den Ausnahmezustand zu entscheiden hatte. Der Rahmen der Verfassung blieb auch von den Ephoren unangetastet. Auch ihre Souveränität stand nicht außerhalb von göttlichem Recht und konstitutioneller Bestimmung, denn Althusius' Recht legitimierte sich theologisch. Und hier zeigt sich erneut ein Bruch i n der Argumentation von A l t husius' Politik; das ist ein Punkt, der noch immer einer der Hauptwidersprüche der modernen Staatskonzeption ist: Suprema potestas hat eine doppelte, widersprüchliche Bedeutung. Es gab keine Möglichkeit, die Volkssouveränität, die die Legitimität der Macht von unten garantieren sollte, m i t der Souveränität der Ephoren, die die Staatsgewalt als suprema potestas sozusagen von oben ausübten, zu vermitteln. Suprema potestas konnte nur eines von beiden sein: Staatssouveränität oder Volkssouveränität. Wenn auch für Althusius der Rahmen des göttlichen Rechts die Ephoren tatsächlich zu bestimmen hatte, wenn auch die Souveränität der Staatsgewalt theologisch und naturrechtlich begrenzt war: Ob das Naturrecht und das Konzept der Volkssouveränität einen Putsch der Ephoren gegen die Verfassung hätte verhindern können, ist zweifelhaft. Die Konstruktion der Ephoren löste das logische und politische Dilemma nicht, das die prinzipielle Gefährdung jedes neuzeitlichen Verfassungsstaats ist, das Dilemma zwischen Volkssouveränität und Staatssouveränität. 48 Politica, X V I I I , 51, S. 293: „ H i (i.e. Ephori) enim corpori politico caput constituunt, h i regem, seu summum magistratum legi & justitiae subjiciunt: & legem, seu Deum, d o m i n u m & imperatorem constituunt, quando j u g u m & i m p e r i u m legis & Dei rex abjicit & detrectat: & ex Dei ministro Diaboli instrumentum se facit." 49 Politica, X X X V I I I , 11, S. 887 f.: „Negotiorum ecclesiasticorum, vel secular i u m administrationi juste et recte contraria agit tyrannus, q u i membra regni u n u m vel plura, exercitio religionis orthodoxae privare, vel ad idololatriam subditos cogere v u l t . "
Althusius' politische Theologie
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Außer der inneren Widersprüchlichkeit der Konzeptionen von Volksund Staatssouveränität gab es einen dritten Kernbegriff, dessen Verhältnis zur Souveränität unklar war: Die Autorität und die Befugnis des Souveräns i m Bezug auf den konfessionellen Rahmen, der zugleich der Rahmen von Naturrecht sein sollte, blieb undeutlich. Wie immer man Souveränität faßte, als legitimierende Volkssouveränität oder als exekutierende Staatssouveränität: Wenn die Ephoren zwar die Macht, aber nicht das Recht hatten, den konfessionellen Rahmen zu sprengen, wenn das Volk — politisch gesehen — die Legitimität zur Religionswahl hatte, dann ging die politische Kompetenz beider über die Religion hinaus. Es gab dann i n der politischen Theorie einen Zuständigkeitsbereich, der jenseits naturrechtlicher und theologischer Normen lag und von den Voraussetzungen der politischen Theorie des Althusius her gesetzlich nicht normierbar war. Darin lag ein beträchtliches Defizit der politischen Theorie des Althusius, denn die Alternative von politischer oder theologischer Definition von Staat und Volk war nicht ausreichend beantwortet. Althusius ging nämlich auf den entscheidenden nachreformatorischen Streit nicht ein, auf die Inkonvenienz von Staatsgrenzen und Konfessionsgrenzen. Das Problem, daß das Volk entweder konfessionell oder politisch sich definieren konnte, eine Schwierigkeit, die als Konfliktfall den Bürgerkrieg provozieren konnte, den Fall, den Bodin mit seinem Souveränitätskonzept lösen wollte, setzt Althusius als gelöst voraus. Deshalb war sein Konzept — anders als Bodins Vorstellungen, noch anders als Grotius' Theorien — für die Lösung der großen politischen Fragen im Zeitalter der konfessionellen Theologie ungeeignet. Gerade deshalb aber war Althusius für die Zeit nach den konfessionell bedingten politischen Konflikten passend. Wenn Naturrecht als Vernunftrecht begriffen wurde, wenn konfessionelle Differenzen nicht mehr zu Bürgerkriegen führten, wenn die Definition von Volk nicht mehr zwischen konfessionell und politisch changierte, dann bekam das A l t husiussche politische Modell, das für kleine konfessionelle Einheiten passend war, unvermittelt eine Bedeutung auch für große Staaten. Und so hatte Althusius seit Rousseau, der ihn kannte 50 , vielleicht malgré lui-même eine Wirkungsgeschichte in Richtung auf einen von der Volkssouveränität her verfaßten, konfessionell gleichgültigen Rechtsstaat.
50 Rousseau, Lettres de la montagne, Lettre V I , gegen Ende (The political writings of J. J. Rousseau, ed. C. E. Vaughan, 2 Bde., Oxford 1962), Bd. 2, S. 206.
IV· Souveränität, Reich und Recht in den Reichsstaatsrechtslehren
ALTHUSIUS UND DIE SOUVERÄNITÄTSTHEORIE DER R E A L E N UND DER PERSONALEN MAJESTÄT* Von Rudolf Hoke, Wien I.
Zwei Ereignisse, die sich wie die Herborner Hochschulgründung des Jahres 1584 i n unserer Zeit zum vierhundertsten Mal jähren, werfen Licht auf den Hintergrund der Staatstheorie, um die es i n diesem Beitrag geht. Seit den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts funktionierte die Rechtsprechung des Kaiserlichen- und Reichskammergerichts i n Religionssachen nicht mehr. Die als Rechtsmittelinstanz tätige jährliche Visitationskommission trat infolge des konfessionellen Gegensatzes nicht mehr zusammen 1 . Der Konfessionskonflikt, i n den der Kaiser hineingezogen war, begann sich zum Verfassungskonflikt auszuweiten, der i m 16. Jh. die protestantischen Reichsstände und i n weiterer Folge allgemein das reichsständische Element i n der Reichsverfassung i n Opposition zum Kaiser brachte und der i n die Auseinandersetzungen des Dreißigjährigen Krieges ausmündete. 1576 und 1586 waren die Jahre, i n denen Jean Bodin seine Sechs Bücher über den Staat zuerst i n französischer 2, dann i n lateinischer Sprache 8 publizierte. Als erster präzisierte er den von der Staatslehre verwendeten Begriff der höchsten Gewalt, die er französisch als souveraineté , lateinisch als majestas bezeichnete. Die Souveränität oder Majestät, mittels deren ein Staat gelenkt wird, ist nach Bodin ein Wesensmerkmal des Staates, und sie bildet deshalb auch einen Bestand* Das Thema w a r auch Gegenstand des v o m Verf. an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität R o m a m 15.11.1984 gehaltenen Vortrags „ I I teorico tedesco della sovranitä popolare Giovanni Altusio e la teoria dominante della sovranitä nel Sacro Romano Impero nella prima meta del X V I I secolo". 1 Das w a r 1588 der Fall. Vgl. Rudolf Smend, Das Reichskammergericht, 1. Teil, Weimar 1911, S. 190; Martin Heckel, Deutschland i m konfessionellen Zeitalter ( = J. Leuschner [Hrsg.], Deutsche Geschichte, 5. Bd.), Göttingen 1983, S. 96. 2 Six livres de la république, Paris 1576. 3 De republica l i b r i sex, Paris 1586.
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Rudolf Hoke
teil der Bodinschen Staatsdefinition 4 . Sie manifestiert sich in der Praxis i n den staatlichen Hoheitsrechten, die daher als die Souveränitäts- oder Majestätsrechte apostrophiert werden 5 und die dem Subjekt der Souveränität oder Majestät nach Bodin zu eigen sind®. Wen Bodin als dieses Subjekt seines Souveränitätsbegriffes versteht, ist der Teil seiner Lehre, der für unser Thema die größte Bedeutung hat. Subjekt der Souveränität oder Majestät ist f ü r Bodin einzig und allein der jeweilige Herrscher i m Staat, sei dieser ein einziges I n d i v i d u u m oder eine Mehrheit von Individuen 7 . Die Bodinsche Souveränität ist Herrschersouveränität. Nach der Zahl der Individuen, die die Institution des Herrschers bilden, richtet es sich, ob der jeweilige Staat eine Monarchie oder eine Aristokratie bzw. Demokratie ist 8 . Wenn auch auf diese Weise Bodin theoretisch neben der Monarchie ebenfalls Aristokratie und Demokratie eine Existenzmöglichkeit zubilligt, hat nach seiner Überzeugung i n der Praxis die souveräne Gewalt doch n u r Bestand, wenn sie einem einzigen I n d i v i d u u m zusteht 9 . Der Normalfall des Subjekts der Souveränität ist f ü r i h n der Einzelherrscher, der Monarch. Die Bodinsche Herrschaftssouveränität ist i m Regelfall Fürstensouveränität. Z w a r ist es die Staats- und Souveränitätstheorie Bodins, die die Bedeutung seiner Bücher über den Staat ausmacht. Diese beschränken sich jedoch bekanntlich keineswegs auf theoretische Überlegungen, sondern setzen sich sehr w o h l auch m i t der zeitgenössischen Verfassungswirklichkeit auseinander. Gerade was das Heilige Römische Reich deutscher Nation der damaligen Zeit anlangt, meint nun Bodin einen Ausnahmefall zu seiner Regel über das Subjekt der Souveränität festzustellen: Die Majestätsrechte und damit die Majestät stünden hier nicht dem Kaiser, sondern den auf den Reichstagen versammelten Reichsständen zu 10 » 11 . Folglich sei das Reich keine Monarchie, sondern eine Aristokratie 1 2 . 4 Vgl. lat. Ausgabe, 2. Aufl. von Frankfurt 1591, I, 1, p. 1; franz. Ausgabe, Aufl. Paris 1583, die heute i n einem Faksimiledruck von Aalen 1961 vorliegt, S. 1. 5 I, 10. β I, 8, lat. Ausg., p. 127; vgl. Rudolf Hoke, Die Reichsstaatsrechtslehre des Johannes Limnaeus ( = Unters, z. dt. Staats- u. Rechtsgesch. N.F. Bd. 9), Aalen 1968, S. 58 f., 63. 7 I, 8, lat. Ausg., p. 124, 126; I, 10, lat. Ausg., p. 235. 8 I I , 1, lat. Ausg., p. 272 s. 9 VI, 4, lat. Ausg., p. 111; vgl. J. W. A. Allen, A history of political thought in the sixteenth century, London 51951, S. 414, 437 f. 10 I I , 6, lat. Ausg., 6. Aufl. Frankfurt 1622, p. 348; franz. Ausg., S. 321; I, 9, lat. Ausg., 2. Aufl., p. 191; franz. Ausg., S. 108. 11 Wenn der Kaiser dennoch Herrschaftssymbole verwendet, die der Majestät angemessen sind, sei dies eine bloße Äußerlichkeit, die aus den Zeiten
Althusius u n d die Souveränitätstheorie
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So erblickt Bodin i m deutschen Gesamtstaat seiner Zeit zwar keinen Fall einer Fürstensouveränität. Das heißt jedoch nicht, daß er die auf den Reichstagen versammelten Reichsstände als Repräsentanten des Reichsvolkes oder des Reiches auffassen und i n weiterer Folge dem Reichsvolk oder dem Reich die Souveränität zuschreiben würde. Vielmehr kommt den auf den Reichstagen versammelten Reichsständen die Souveränität oder Majestät nach Bodin als dem kollektiven Herrscher des Reiches zu. Bodins Souveränität ist eben Herrschersouveränität und hat mit Volks- oder Staatssouveränität nichts zu tun. Π.
A n diesem Punkt setzte die Theorie der realen und der personalen Majestät an. Es war die Theorie, die nicht nur der in der ersten Hälfte des 17. Jhs. als eigenständige juristische Disziplin entstehenden Reichspublizistik die Richtung wies, sondern darüber hinaus sogar auch der Positivierung des Verfassungsrechts des Reiches i n der Mitte des Jahrhunderts. Sie ermöglichte es, i n der Gesamtheit der auf dem Reichstag versammelten Reichsstände als den Repräsentanten der staatlichen Gemeinschaft des Reiches das Subjekt der Souveränität i n diesem Staatswesen zu erkennen. Soweit ich sehe, trug die Theorie unter Verwendung der Termini majestas
realis
u n d majestas
personalis
z u m ersten M a l d e r J u r i s t H e r -
mann Kirchner, Professor der Geschichte und der Redekunst an der Marburger Universität 1 3 , vor. I n seinem Respublica betitelten Buch aus dem Jahre 1608 definiert er die Majestät als die höchste Gewalt des Staates, die dem Herrscher gegenüber den Untertanen zukommt. Die Majestät ist Wesensmerkmal des Staates. Sie entsteht mit dem Staat und geht mit diesem unter. Ihre Existenz ist unabhängig davon, ob i m Staat eine oberste Herrschaftsinstanz besteht und wie diese beschaffen ist. Weil sie der res (publica), dem Staat, dauernd anhaftet, bezeichnet Kirchner sie als majestas realis. Dagegen gilt i h m die Majestät als personal, insoweit sie auf eine Person übertragen wird. Die als personale Majestät bezeichnete Gewalt, die diese Person dann hat, geht mit dieser Person unter. Die Schlußfolgerung, die Kirchner zieht, lautet: D i e majestas
personalis
h ä n g t v o n der majestas
realis
ab u n d ist dieser
untergeordnet 14 . beibehalten wurde, als der Kaiser über die Majestät verfügte — I, 9, lat. Ausg., 2. Aufl., p. 191; franz. Ausg., S. 180; I I , 6, lat. Ausg., 6. Aufl., p. 348, 352; franz. Ausg., S. 321, 324—326. 12 I I , 6, lat. Ausg., 6. Aufl., p. 351, 348. 18 Vgl. Ch. G. Joecher, Allg. Gelehrten-Lexikon, 1. Teil, Nachdruck Hildesheim 1960, Sp. 2103.
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Rudolf Hoke
Es überrascht n i c h t , daß K i r c h n e r d a m i t wissenschaftlich w i e p o l i t i s c h a u f d e r L i n i e seines M a r b u r g e r U n i v e r s i t ä t s k o l l e g e n , des Rechtslehrers 1 5 H e r m a n n V u l t e j u s lag, d e r k n a p p e i n J a h r z e h n t d a v o r die absolute M o n a r c h e n s t e l l u n g des E r w ä h l t e n Römischen K a i s e r s b e s t r i t t e n u n d d e m g e g e n ü b e r das a r i s t o k r a t i s c h e E l e m e n t i n d e r Reichsverfassung h e r ausgestellt h a t t e 1 8 . A u f f ä l l i g ist jedoch, daß K i r c h n e r s L e h r e u m g e h e n d an d e r U n i v e r s i t ä t G i e ß e n ü b e r n o m m e n w u r d e , w o d a m a l s G o t t f r i e d A n t o n i u s als professor primarius der Juristenfakultät 17 unter Polemik gegen V u l t e j u s die absolute M o n a r c h e n s t e l l u n g des K a i s e r s b e t o n t e 1 8 . R e i n h a r d K ö n i g 1 9 u n d J o h a n n C a m m a n n 2 0 v e r t r a t e n i n i h r e n Gießener D i s p u t a t i o n e n v o n 1608 u n d 1610, C a m m a n n schon damals, K ö n i g erst i n s p ä t e r e n P u b l i k a t i o n e n , u n t e r Z i t i e r u n g des K i r c h n e r als ihres G e w ä h r s m a n n e s , die T h e o r i e d e r r e a l e n u n d d e r p e r s o n a l e n M a j e s t ä t 2 1 . F ü r b e i d e ist d i e S t a a t s g e w a l t die reale M a j e s t ä t , die so l a n g e besteht w i e d e r S t a a t selbst. D e r H e r r s c h e r dagegen e r h ä l t seine G e w a l t v o m Staat, u n d diese g e h t m i t s e i n e r P e r s o n u n t e r . Sie ist die personale M a j e s t ä t . A u c h e i n Professor d e r U n i v e r s i t ä t Gießen, d e r d o r t seit 1616 praktische Philosophie u n d Redekunst lehrende Christian Liebenthal, t r u g s p ä t e r 2 2 d i e T h e o r i e der r e a l e n u n d d e r p e r s o n a l e n M a j e s t ä t v o r 2 3 . 14 Respublica, M a r b u r g 1608, disp. 2, thes. 3 a) und b); vgl. Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 6), S. 78. 15 Von 1581 bis 1627. 16 Commentarius ad titulos Codicis q u i sunt de jurisdictione et foro competenti, F r a n k f u r t / M . 1599, Vorrede. 17 Von 1607 bis 1618. 18 Die wichtigste seiner verschiedenen Schriften, die er i n dieser Sache gegen Vultejus richtete, ist die Disputatio apologetica de pot estate Imperatoris legibus soluta et hodierni I m p e r i i statu adversus Hermannum V u l t e j u m , Gießen 1608, abgedruckt bei M. Goldast, Politica imperialia, F r a n k f u r t / M . 1614, pars X I I I , p. 623—629. 19 Vgl. Ch. G. Joecher, Allgemeines Gelehrten-Lexikon, 2. Teil, Nachdruck Hildesheim 1961, Sp. 2138. 20 Vgl. ebd., 1. Teil, Sp. 1599. 21 Reinhard König, Disputatio politica de statu I m p e r i i Romani, abgedruckt bei M. Goldast, Politica imperialia, F r a n k f u r t / M . 1614, pars X I V , p. 645—651, berief sich dabei zwar nicht ausdrücklich auf Kirchner. Vielleicht w a r K i r c h ners Buch auch noch gar nicht i m Druck erschienen, als K ö n i g seine Disputation vortrug. Jedoch dürfte die Lehre des i n M a r b u r g dozierenden Kirchner dem von dort stammenden König, als er i m nahen Gießen studierte, i n jedem F a l l bekannt gewesen sein. Als er sich später, nachdem er die Universität Jena bezogen hatte u n d als er Professor an der Universität Rintelen war, wieder zur Theorie von der realen u n d der personalen Majestät bekannte, versäumte er es n u n nicht, Kirchner als einen der Urheber der Theorie namhaft zu machen. Vgl. König, De ma j estate et juribus Imperatori specialiter reservatis, bei Dominicus Arumaeus, Discursus academici de j u r e publico, I I . Bd., Jena 1620, disc. 17, thes. 7—9; ders., Theatrum politicum t r i p a r t i t u m , Jena 1622, pars 1, c. 23, nr. 11—13, p. 377. Johann Cammann, Disputatio politico-juridica de juribus majestatis seu regalibus i n genere, disp. 1, thes. 69 ss., i n : J. Cammann, Collegium p o l i t i c o - j u r i d i c u m seu disputationes regales de juribus majestatis seu regalibus tarn majoribus quam minoribus, Gießen 1612.
Althusius u n d die Souveränitätstheorie
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Trotz dieser Stellungnahmen behielt in Gießen die Lehre des Antonius die Oberhand, und die Gießener Universität wurde zur Hochburg für die von Antonius ausgehende streng monarchistisch gesinnte Richtung innerhalb der jungen wissenschaftlichen Disziplin des Reichsstaatsrechts. Sie erreichte unter seinem Nachfolger Theodor Reinkingk ihren Höhepunkt. Eine andere lutherische Universität übertraf jedoch Gießen i n der publizistischen Forschung und Lehre an Bedeutimg. I n Jena wurde durch den Rechtsprofessor Dominicus Arumaeus das Staatsrecht zum ersten M a l als eigenständiges Fach etabliert. Arumaeus gilt daher als der Begründer der eigentlichen deutschen Staatsrechtswissenschaft, und seinen Jenaer Hörerkreis hat man als die Pflanzschule der deutschen Publizistik bezeichnet 24 . Die Jenaer Universität wurde unter Arumaeus zur Hochburg für die andere, das reichsständische Element i n der Reichsverfassung betonenden Richtung innerhalb der Reichspublizistik der ersten Hälfte des 17. Jhs. Tenor der Staatsrechtslehre des Arumaeus und seiner Schule war, daß der Staat dem Herrscher vor- und übergeordnet ist und deshalb dem Kaiser die hoheitliche Gewalt nur i n dem Ausmaß zusteht, wie sie von den Kurfürsten als den Repräsentanten des Reiches in der Wahlkapitulation bestimmt wurde 2 5 . Einer solchen Sicht der Reichsverfassung bot die Theorie der realen und der personalen Majestät die griffige theoretische Begründung. Es ist daher verständlich, daß nicht nur Reinhard König, als er die Universität Jena bezogen hatte, seine bereits in Gießen vertretene A n schauung nochmals formulierte, sondern sich i n der von Arumaeus herausgegebenen Sammlung der unter seiner Ägide i n Jena entstandenen staatsrechtlichen Schriften, i n den Discursus academici de iure publico 2 6 des Arumaeus, auch andere Arbeiten seiner Schüler und Hörer finden, die die Theorie der realen und der personalen Majestät entwickeln 27 . Unter ihnen zeichnen sich zwei aus der Feder von Matthias Bortius stammende durch ihre Originalität aus 28 . Bortius subsumiert unter den 22 Collegium politicum, i n quo de societatibus, magistratibus, juribus m a jestatis et legibus fundamentalibus . . . tractatur, Gießen 1620, disp. 7, thes. 3—13, p. 130—132. 23 Vgl. Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 6), S. 90. 24 Vgl. Rudolf Hoke, Die Emanzipation der deutschen Staatsrechtswissenschaft von der Z i v i l i s t i k i m 17. Jh., i n : Der Staat 15 (1976), S. 211 ff. (219 f.). 25 Vgl. ebd. 2β V Bde., Jena 1615 bzw. 1620/1621/1623. 27 Allerdings waren die meisten dieser Arbeiten, bevor sie i n den Discursus publiziert wurden, schon selbständig erschienen. 28 De natura j u r i u m majestatis et regalium, Disc. acad. de jure publ. I, disc. 30, unter dem T i t e l De natura j u r i u m majestatis et regalium explicatio bereits selbständig erschienen i n Jena 1614; Discursus exhibens jurisprudentiae publicae Germanicae typum, Disc. acad. de j u r e publ. I, disc. 33, als Juris-
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Rudolf Hoke
Majestätsbegriff als zwei Unterbegriffe einerseits die verfassunggebende Gewalt, andererseits die Regierungsgewalt und bezeichnet i n Übernahme der Kirchnerschen Terminologie erstere als reale Majestät, letztere als personale Majestät. Die reale Majestät setzt einen Herrscher ein und trägt diesem unter Abgrenzung seines Kompetenzbereiches hoheitliche Funktionen auf. Sie begründet auf diese Weise die personale Majestät des Herrschers, die folglich an die von der realen Majestät aufgestellten Normen, an die Grundgesetze, gebunden ist. Subjekt der realen Majestät ist nach Bortius zwar die ganze staatliche Gemeinschaft des Volkes. I n Deutschland aber sei es i m Laufe der Geschichte dahin gekommen, daß nun das Kurfürstenkollegium das Subjekt der realen Majestät repräsentiert. I n dieser Eigenschaft wählt es den Kaiser und überträgt diesem die oberste Regierungsgewalt, deren Grenzen es i n der Wahlkapitulation festsetzt 29 . Auch Benedict Carpzov gehörte zum Schülerkreis des Arumaeus, und auch er vertrat, unter weitgehender Übernahme der Formulierungen Kirchners, die Theorie der realen und der personalen Majestät 30 . Die höchste irdische Gewalt schreibt Carpzov der ganzen staatlichen Gemeinschaft zu, worunter er ausdrücklich die Gesamtheit der Bürger und Optimaten des Staates versteht 31 . Als das Hauptargument für die Existenz einer der Gewalt des Herrschers übergeordneten Gewalt der staatlichen Gemeinschaft betrachtet er die Grundgesetze des Staates. Die Regelung der Gewalt des Herrschers, die i n den Grundgesetzen erfolgt, ist für ihn nur denkbar unter der Voraussetzung, daß die staatliche Gemeinschaft über eine höhere Gewalt verfügt, kraft welcher sie diese Regelung vornimmt. Diese Gewalt ist für Carpzov die reale Majestät. Er lehrt deshalb, daß die reale Majestät in den Grundgesetzen, das heißt für das deutsche Reich i n der Wahlkapitulation, zum Ausdruck kommt. Dagegen ist die Gewalt des Herrschers für i h n die personale Majestät 32 . prudentiae publicae Germanicae typus ebenfalls 1615 i n Jena auch selbständig erschienen. Z u Bortius vgl. Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 6), S. 84 A n m . 195. 29 Vgl. ebd., S. 84—88. 30 Seine Abhandlungen zum Reichsstaatsrecht wurden teils i n der Sammlung des Arumaeus, teils selbständig publiziert: De capitulatione Caesarea sive de lege regia Germanorum, 1623 i n E r f u r t selbständig erschienen u n d i m selben Jahr auch i n den Disc. acad. de j u r e publ. I V , disc. 43. Eine erweiterte Neuauflage k a m unter dem T i t e l Commentarius i n legem regiam Germanorum sive capitulationem Imperatoriam juridico-historico-politicus 1640 i n Leipzig heraus. 31 Vgl. B. Carpzov, Discussio historico-juridica v o t i Septemviralis, dogma IV, nr. 8, i n : Carpzov, Volumen disputationum historico-politico-juridicarum, Leipzig 1666, p. 121. 32 Vgl. Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 6), S. 88 f.
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Doch auch an der Universität Tübingen wurde die Theorie vertreten. Dort war es niemand geringerer als der Rechtsprofessor Christoph Besold, der i n zwei Publikationen aus den Jahren 161883 und 162584 unter dem Einfluß des Bortius, auf den er sich wie auf Kirchner und Cammann auch beruft, dem Begriff der realen Majestät den der personalen Majestät gegenüberstellt. Die majestas realis ist die Majestät der staatlichen Gemeinschaft, die mit dieser untrennbar verbunden ist. Sie ist die verfassunggebende Gewalt, die i n den Grundgesetzen zum Ausdruck kommt. Diese bilden das durch allgemeine Willensübereinstimmung gelegte Fundament des Staates. A u f der realen Majestät, d. h. i n der Praxis auf den Grundgesetzen, beruht demnach auch die Majestät des Herrschers, welche die oberste Regierungsgewalt i m Staate ist und welche, w e i l sie der Person des Herrschers verliehen ist und mit dieser auch untergeht, als majestas personalis bezeichnet wird. Sie ist der realen Majestät unterworfen und an die Grundgesetze gebunden 35 . Die Lehren der Arumaeus-Schule hat der aus ihr hervorgegangene Johannes Limnaeus mit seinen Werken gekrönt 36 . Limnaeus hat auch für die Theorie der realen und der personalen Majestät eine besondere Bedeutung, weil er i n seinem Jus publicum Imperii Romano-Germanici aus dem Ende der zwanziger und dem Beginn der dreißiger Jahre des 17. Jhs. 87 sowie i n seinem späteren Kommentar zu den Wahlkapitulationen 38 wie keiner vor i h m jene Theorie i n einer Dogmatik des Reichsstaatsrechts verarbeitet hat. Bei seiner Formulierung der Theorie schließt er sich weitgehend an die von i h m zitierten Autoren Kirchner und Besold an. I n erklärtem Widerspruch zu der i m Gefolge Bodins stehenden Staatstheorie faßt Limnaeus Majestät schlechthin nicht als summa potestas, sondern nur als eine hervorragende Gewalt auf, die es i n verschiedenen Abstufungen gibt und die daher auch nicht auf ein einziges Subjekt beschränkt ist. Ihre verschiedenen Spezifizierungen sind vielmehr bei verschiedenen Subjekten, nämlich bei der staatlichen Gemeinschaft und beim Herrscher i m Staat. Höchste, von keiner anderen irdischen Instanz abhängige Gewalt, Souveränität, ist nach Limnaeus aber nur diejenige der Spezifizierungen des Majestätsbegriffes, deren 83
Politicorum l i b r i duo, F r a n k f u r t / M . , 1.1, c. 2, nr. 2 ss., p. 54 ss. Dissertatio politico-juridica de majestate i n genere, Straßburg, sect. 1, c. 1, nr. 3 ss., p. 5 ss. u n d c. 2, nr. 1, p. 10. 35 Vgl. Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 6), S. 91 f. 36 Z u i h m vgl. Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 6); ders., Johannes L i m naeus, i n : M. Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker i m 17. u. 18. Jh., F r a n k f u r t / M . 1977, S. 100 ff. 37 Juris publici I m p e r i i Romano-Germanici l i b r i I X , 3 Bde., Straßburg 1. A u f l . 1629/1632/1634; dazu Additiones, 2 Bde., Straßburg 1. Aufl. 1650/1660. 38 Capitulationes Imperatorum et Regum Romanogermanorum, Straßburg 1. Aufl. 1651. 34
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Subjekt die staatliche Gemeinschaft ist. Sie bezeichnet er als reale Majestät. Die andere Spezifizierung des von Limnaeus vertretenen Majestätsbegriffes ist die personale Majestät, die deshalb „personal" genannt wird, weil eine individuelle Person, nämlich der Herrscher, ihr Subjekt ist. Sie ist nur, wenn man die Gewalten der einzelnen Machtträger i m Staat miteinander vergleicht, unter diesen Gewalten die höchste. Die personale Majestät w i r d von der realen Majestät konstituiert. Dabei w i r d von den Repräsentanten der staatlichen Gemeinschaft i n einem Grundgesetz die Potenz der personalen Majestät festgelegt. Dieses Grundgesetz steckt die Kompetenzen des Herrschers ab und ist damit die Norm, nach welcher sich die Herrschertätigkeit zu vollziehen hat. Die personale Majestät w i r d von der realen Majestät aber nicht nur konstituiert, sie hängt vielmehr dauernd von ihr ab 39 . Als in der neueren Literatur Otto von Gierke zuerst auf die Theorie der realen und der personalen Majestät aufmerksam machte 40 , rechnete er auch Arumaeus zu deren Vertretern 4 1 . Andere haben Gierkes Ansicht übernommen 42 . Doch ist Gierke hierin nicht zu folgen. Zwar haben, wie gezeigt wurde, eine Reihe der Schüler des Arumaeus i n ihren Abhandlungen, die Arumaeus i n seiner Sammlung publizierte, die Theorie vorgetragen. I h m selbst lag es aber fern, die sich aus seiner Lehre ergebende Unterscheidung der primären Gewalt des Staates und der sekundären des Herrschers mittels der T e r m i n i majestas realis u n d majestas 39 Andere Autoren, die der Theorie der realen und der personalen M a jestät ebenfalls anhingen, haben der Theorie nichts Neues mehr hinzugefügt. Z u nennen wären hier Johann Angelius Werdenhagen, Introductio u n i versalis i n omnes res publicas sive politica generalis, Amsterdam 1632, 1. 3, c. 3, nr. 7—9, p. 295, u n d Diodorus Tuldenus, De c i v i l i regimine l i b r i octo, L ö w e n 1702 — postum nach dem Tode des Autors 1645 gedruckt—, 1.1, c. 11 s., p. 9, sowie die Verfasser v o n Herborner und Marburger Disputationen Johann W i l h e l m Rövenstrunck — zu diesem s. unten bei F N 72 — u n d Johann Friedrich Zierenberg, Disputatio de j u r i b u s I m p e r i i sive de eius dignitate et majestate, tarn reali quam personali, cum utriusque majestatis juribus, i n : Justus Sinolt, gen. Schütz, Collegium publicum de statu Rei Romanae, 1. Bd. M a r b u r g 1640, disp. 3, p. 91—162. 40 Johannes Althusius u n d die E n t w i c k l u n g der naturrechtlichen Staatstheorien, 5. Ausg., Aalen 1958, S. 6 A n m . 9, S. 164—172, 284 f., 311, 352; Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4. Bd.: Die Staats- und Korporationslehre der Neuzeit, Nachdruck Graz 1954, S. 216—219, 230, 244, 290, 315—318. 41 Althusius, S. 6 A n m . 9; Genossenschaftsrecht, 4. Bd., S. 216 f. Gierke bezeichnete Arumaeus sogar als denjenigen, bei dem die Begriffe der realen u n d der personalen Majestät zuerst v o l l ausgebildet gewesen seien, u n d er vindizierte i h m das Verdienst, diese Theorie i n die deutsche Staatsrechtslehre eingeführt zu haben. 42 R. υ. Stintzing, Geschichte d. dt. Rechtswissenschaft, 2. Abt., hrsg. von E. Landsberg, München—Leipzig 1884, S. 40 f.; Johann Sauter, Die E n t w i c k l u n g der abendländischen Staatsphilosophie, i n : Arch.RSozPhil. 27 (1933/34), S. 200 f.; Erik Wolf, Idee u. W i r k l i c h k e i t des Reiches i m dt. Rechtsdenken des 16. u. 17. Jhs., i n : K a r l Larenz (Hrsg.), Reich und Recht i n der dt. Philosophie, 1. Bd., Stuttgart—Berlin 1943, S. 33 ff. (102).
Althusius u n d die Souveränitätstheorie personalis
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z u m A u s d r u c k z u b r i n g e n . D e n n u n t e r majestas
versteht
A r u m a e u s , d e r sich h i e r i n ganz i m B a n n e B o d i n s b e f i n d e t , e i n z i g u n d a l l e i n die G e w a l t Herrschers 43»44'
45
des Herrschers,
u n d z w a r die des
monarchischen
>4e.
Ä u ß e r u n g e n B o d i n s , die scheinbar eine R e c h t s s u b j e k t i v i t ä t des S t a a tes, d . h . k o n k r e t des deutschen Reiches, andeuten, d e m d e r K a i s e r u n t e r g e o r d n e t sei 4 7 , g a b e n A n l a ß , sogar d e n französischen T h e o r e t i k e r der Herrschaftssouveränität m i t der Theorie der realen u n d der pers o n a l e n M a j e s t ä t i n V e r b i n d u n g z u b r i n g e n . K i r c h n e r z i t i e r t e sie z u r S t ü t z u n g s e i n e r T h e o r i e . E r m e i n t e aus i h n e n außer d e r majestas regnantis eine majestas regni herauslesen z u k ö n n e n . R e i n h a r d K ö n i g 4 8 , B e n e d i c t Carpzov 4 ® u n d L i m n a e u s 5 0 h a b e n sich K i r c h n e r angeschlossen. 43 Disc. acad. de j u r e publ. I V , 2, u n d Commentarius juridico-historicopoliticus de comitiis Romano-Germanici Imperii, Jena 1630, c. I I I , thes. 20, p. 75, sowie an anderen Stellen. S. dazu ausführlich Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 6), S. 80—83. 44 Arumaeus w u r d e auch i m 17. Jh. niemals m i t der Theorie der realen u n d personalen Majestät i n Verbindung gebracht. K e i n Vertreter der Theorie beruft sich f ü r diese auf ihn, u n d auch die K r i t i k , die gegen Ende der ersten u n d i n der zweiten Hälfte des Jahrhunderts an der Theorie geübt wurde, läßt i h n außer acht. 45 Die von Gierke (FN 40) i m Zusammenhang m i t der Theorie genannten dt. Reichsjuristen Regner Sixtinus, Tractatus de regalibus, Kassel 1609, u n d Tobias Paurmeister, De Jurisdictione I m p e r i i Romani l i b r i duo, 1. Aufl. H a nau 1608, 2. A u f l . F r a n k f u r t / M . 1616, stimmen zwar inhaltlich m i t jener überein, insofern auch sie als das Subjekt der Souveränität die staatlich organisierte Volksgemeinschaft ansehen. Sixtinus, op. cit., 1.1, c. 1, thes. 23 u. 38, lehrt, daß sich die Herrschaftsgewalt (regnum) i m Besitz (possessio) der staatlichen Gemeinschaft (respublica) befindet, sie dagegen dem Herrscher n u r quasi gehört. Bei Paurmeister heißt es präziser, daß die Staatsgewalt (jurisdictio — vgl. die Definition dieses Begriffes, op. cit., 1. 1, c. 3, nr. 1) i m Eigentum (dominium) der staatlichen Gemeinschaft (respublica), d . h . i m konkreten Falle des Reiches ist (op. cit., 1.1, c. 18, nr. 10; c. 19, nr. 5; c. 21, nr. 19; 1.2, c. 1, nr. 11), was bedeutet, daß dem Kaiser die Gewalt n u r zur rechtmäßigen Ausübung w i e einem Usufructuar zusteht (op. cit., 1.1, c. 21, nr. 19 u. 42; 1.2, c. 1, nr. 11). A u f diese Unterscheidung Paurmeisters stützt sich übrigens Althusius, Politica methodice digesta, 3. Aufl., c. X I X , 3. Der T e r m i n i reale u n d personale Majestät bedienen sich Sixtinus u n d Paurmeister aber nicht. 48 Ebenfalls nur eine gewisse inhaltliche Übereinstimmung m i t der Theorie der realen u n d personalen Majestät, ohne Verwendung der dieser eigenen Terminologie, weist die Lehre des Jacob Lampadius, Tractatus de Republica Romano-Germanica, Leiden 1634, S. 50—52, auf. 47 I, 7, lat. Ausg., p. 120 s. Der Sinn des n u r schwer verständlichen lateinischen Textes w i r d erhellt durch die entsprechende Stelle i n der französischen Ausgabe, S. 119 f.; s. auch I, 7, lat. Ausg., p. 122 s.; franz. Ausg., S. 121. Vgl. dazu Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 6), S. 61 ff. 48 Theatrum politicum t r i p a r t i t u m , Jena 1622, pars 1, c. 23, nr. 15, p. 377. 49 De capitulatione Caesarea sive de lege regia Germanorum (FN 30), c. 1, thes. 25. 50 Jus publ. I, 12, nr. 24.
16'
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Vermutlich ebenfalls Kirchner folgend, behauptete Althusius i n der d r i t t e n Auflage seiner Politica 161451, daß Bodin außer der Majestät des i n einem Staate herrschenden Fürsten, der majestas regnantis oder regis , eine dieser übergeordnete Majestät des Staates selbst, eine majestas regni, kenne. Offenbar unter dem Eindruck der Worte des Althusius vertreten i n der neueren L i t e r a t u r auch L u d w i g Waldecker 5 2 und Carl Joachim Friedrich diese Auffassung, von denen der letztere deshalb glaubt, daß sich die Theorie von der realen und der personalen Majestät auf Bodin zurückführen lasse 53 . Dem ist entgegenzuhalten, daß Bodin nirgendwo expressis verbis eine Unterscheidung von majestas regnantis u n d majestas regni t r i f f t . Der Bodinsche Majestätsbegriff läßt die Existenz einer Gewalt, die über der Souveränität des Herrschers stünde, auch gar nicht zu. I m übrigen ist zu den auf das deutsche Reich abzielenden Äußerungen Bodins zu sagen, daß Bodin hier m i t dem „Reich" nicht etwa den deutschen Staat meint, sondern gerade den Herrscher i n diesem Staat. M i t „Reich" bezeichnet er m i t einem zu seiner Zeit aufkommenden Sprachgebrauch die Gesamtheit der Reichsstände. Dies geht eindeutig daraus hervor, daß i n einer seiner Aussagen, w o i m lateinischen Text v o m Imperium Germanicum die Rede ist 5 4 , zu dem sich der Kaiser i n einem Abhängigkeitsverhältnis befindet, die französische Version von den estats de VEmpire spricht, denen der Kaiser unterworfen ist 5 5 . Die Gesamtheit der Reichsstände aber, u n d nicht der Kaiser, stellt nach der Auffassung Bodins bekanntlich das Subjekt seines Souveränitätsbegriffes i m deutschen Reich dar. Aus den vorgeführten einzelnen Fassungen der Theorie der realen u n d der personalen Majestät dürfte ersichtlich sein, daß diese gerade gegen die Souveränitätslehre Bodins gerichtet ist. Sie stellt den Versuch dar, Bodin zu unterlaufen. Das geschieht durch eine eigenartige Verbindung der Bodinschen Herrschersouveränitätslehre m i t der zu dieser konträren Staatssouveränitätslehre, nach der Subjekt der Souveränität das staatlich organisierte V o l k ist, der Herrscher dagegen nur als oberster Funktionär i m A u f t r a g des Souveräns die diesem eigene Gewalt ausübt. Gegenüber den beiden monistischen Souveränitätslehren der Herrschersouveränität einerseits u n d der Staatssouveränität andererseits ist die Lehre von der realen und der personalen Majestät scheinbar eine dualistische. Sie wurde deshalb auch als Lehre von der 51
I X , 23 s. Allg. Staatslehre, B e r l i n 1927, S. 650. 53 I n der Einführung seiner Althusius-Ausgabe (FN 58), S. X X X I u. X C Anm. 5. 54 I, 7, p. 120. 55 S. 119. 52
Althusius u n d die Souveränitätstheorie
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doppelten Souveränität bezeichnet 56 . Jedoch ist diese Bezeichnung, was den Inhalt der Lehre anlangt, unzutreffend. Ihrem Inhalt nach ist die Lehre von der realen und der personalen Majestät nämlich nichts anderes als eine Variante der Staatssouveränitätslehre. Die von ihr vorgenommene Verknüpfung der Lehren von der Herrscher- und der Staatssouveränität ist lediglich eine äußerliche, und zwar eine terminologische. Sie versucht die beiden gegensätzlichen Souveränitätslehren in des Wortes buchstäblicher Bedeutung auf einen Nenner zu bringen. Sie bezeichnet deshalb nicht nur die staatliche Gemeinschaft, der nach ihrer Auffassung die höchste Gewalt eigen ist, als Subjekt der Majestät und macht damit eine Aussage i m Sinne der Staatssouveränitätslehre. Sie bezeichnet vielmehr auch den Herrscher i m Staat, den sie wie die Staatssouveränitätslehre als denjenigen auffaßt, der die der staatlichen Gemeinschaft eigene Gewalt ausübt, als Subjekt von Majestät. Damit aber formuliert sie genauso wie die Vertreter der Bodinschen Lehre von der Herrschersouveränität. I m ersten Fall spricht sie von realer Majestät, i m zweiten von personaler Majestät. M i t dieser Terminologie hielten sich die Vertreter der Theorie an die Maxime, die einer der ihren, der Patriarch der Reichspublizistik Limnaeus, für diese damals entstehende Wissenschaft derart formuliert hatte, daß man sich bei der juristischen Untersuchung der Stellung der höchsten Instanzen i m Staat, w e i l dies zu jener Zeit heikel und persönlich riskant war, einer gemäßigten Ausdrucksweise befleißigen solle 57 . Bei Verwendung der traditionellen Terminologie wäre in den Werken der für die Theorie genannten Gelehrten nur die staatliche Gemeinschaft als Subjekt der Majestät erschienen. Dem Herrscher wäre damit die Majestät abgesprochen gewesen — eine Konsequenz, vor der vor allem wegen der Verquickung des Majestätsbegriffes mit dem Herrschertitel der Majestät die vorsichtigen Juristen zurückschreckten. Zu beachten ist, daß die Terminologie der Theoretiker der realen und der personalen Majestät eine Parallele in der späteren Staatslehre erhielt, die die Termini der Staatssouveränität und der Organsouveränität verwendete. Die reale Majestät ist die Staatssouveränität. N u r sie ist echte Souveränität. Die personale Majestät ist die Organsouveränität, die man nur dann als Souveränität ansprechen kann, wenn man i n Analogie zu dem weiteren Majestätsbegriff der Theorie der realen und der personalen Majestät von einem weiteren Souveränitätsbegriff ausgeht. 58 So schon von Christian Thomasius, Disputatio politica de duplici majestatis subjecto, Leipzig 1672. Vgl. Rudolf Hoke, Die Staatslehre des j u n gen Thomasius, i n : G. F r o t z / W . Ogris (Hrsg.), Festschrift für H. Demelius, Wien 1973, S. 111 f. 57 Jus publ. I, 2, nr. 5.
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Die alte Lehre, welche die höchste irdische Gewalt dem Volk zuschreibt, war für das 17. Jahrhundert von Johannes Althusius 5 8 i n seiner Staatssouveränitätslehre neu aufbereitet worden 59 . Althusius hatte damit für seine Zeit die Antithese zu Bodins Lehre von der Herrschersouveränität formuliert. Wie Bodin so faßt auch Althusius die höchste Gewalt als ein Wesensmerkmal des Staates auf. Nach seiner Lehre ist sie das jus regni, durch das die einzelnen menschlichen Lebensgemeinschaften zu einer sie alle umfassenden politischen Gemeinschaft, zur consosiatio publica universalis, d. i. zum Staat, zusammengeschlossen sind 60 . Ohne das jus regni kann der Staat nicht existieren 61 . I m diametralen Gegensatz zu Bodin aber sieht Althusius als das Subjekt dieser souveränen Gewalt nicht den Herrscher an 62 , sondern einzig und allein die staatliche Gemeinschaft. Dieser ist das jus regni eigen 63 . Da die staatliche Gemeinschaft die i h r eigene höchste Gewalt aber nicht selbst ausüben kann 6 4 , muß sie eine Instanz einsetzen, der sie die Herrschaftsgewalt zur Ausübung überträgt 6 5 . Bei der Konstituierung einer solchen Instanz und der Übertragung der Herrschaftsgewalt auf diese w i r d die staatliche Gemeinschaft durch ein Kollegium von Optimaten repräsentiert. Diese Repräsentanten der staatlichen Gemeinschaft bezeichnet 58 Politica methodice digesta, H e r n b o r n ^δΟδ, 81614, Groningen 21610. Die dritte Auflage liegt m i t den Vorreden des Althusius zu den beiden vorausgegangenen Auflagen i n einer v o n Carl Joachim Friedrich besorgten u n d m i t einer E i n f ü h r u n g versehenen Neuausgabe vor: Politica methodice digesta of Althusius w i t h an Introduction ( = H a r v a r d Political classics, vol. II), Cambridge (USA) 1932. I m folgenden w i r d i n der Regel die dritte A u f lage der Politica zitiert. Dabei w i r d die Angabe der Auflage weggelassen. Wo die erste Auflage zitiert w i r d , w i r d dies eigens hervorgehoben. 59 I n der Deutung der Souveränitätslehre des Althusius als einer solchen der Staatssouveränität stehe ich i m Widerspruch zu O. v. Gierke, Johannes Althusius, S. 161 f., 336; Genossenschaftsrecht, 4. Bd., S. 313, der das von A l t husius abwechselnd als consociatio publica universalis, als populus i n corpus u n u m regni seu rei publicae unitus oder auch n u r als populus, regnum oder respublica bezeichnete Subjekt der Souveränität nicht als Staat i m Rechtssinn gelten läßt u n d daher Althusius w o h l als Volkssouveränitätstheoretiker, nicht aber als Vertreter der Staatssouveränität anspricht Siehe dazu ausführlich Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 6), S. 66 ff. Ich befinde mich dam i t i n Übereinstimmung m i t H. Rehm, Gesch. d. Staatsrechtswiss. ( = Handb. d. öff. Rechts, Einleitungsbd., 1. Abt.), Freiburg i. Br.—Leipzig 1896, S. 231 f., 236 f., u n d Friedrich (FN 58), Introduction, S. X C I I Anm. 3, sowie P. J. Winters, Die P o l i t i k des Johannes Althusius u n d ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg i. Br. 1963, S. 260; ders., Johannes Althusius, i n : M. Stolleis, Staatsdenker i m 17. u. 18. Jh., F r a n k f u r t / M . 1977, S. 7 ff. (41, 45). 80 Vgl. Politica I X , 1 u. 12. 61 Politica I X , 17. Vgl. auch die Vorreden zur 1. u. 2. Aufl. 82 Vgl. Politica I X , 22; Vorreden zur 1. u. 2. Aufl. 83 Politica I X , 22; Vorreden zur 1. u. 2. Aufl.; 1. Aufl. X V , p. 167 = 3. Aufl. X I X , 2. 84 Politica X V I I I , 10. 65 Politica X V I I I , 16 u. 20; X I X , 21; X V I I I , 10.
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Althusius u n d die Souveränitätstheorie
Althusius als Ephoren 86 und den von ihnen eingesetzten Herrscher als den summus
magistratus.
D e r summus
magistratus
e r h ä l t die
Herr-
schaftsgewalt nicht zu eigen 67 , sondern wie ein administrator nur zur Ausübung 68 . Das rechtliche Verhältnis zwischen der staatlichen Gemeinschaft und dem summus magistratus ist ein Mandatsverhältnis 69 . Die Konstruktion der Übertragung höchster Gewalt durch die staatliche Gemeinschaft auf den Herrscher als eines Mandatsvertrages setzt Althusius i n den Stand, die Beschränkungen des summus magistratus zu rechtfertigen. Wie der Mandant die Befugnisse des Mandatars abgrenzt, so setzt die staatliche Gemeinschaft, repräsentiert durch das Ephorenkollegium, der Ausübung der ihr eigenen Gewalt durch den summus
magistratus
nach B e l i e b e n S c h r a n k e n 7 0 . D e r summus
magistra-
tus ist folglich der staatlichen Gemeinschaft untergeordnet 71 . M i t seiner Souveränitätslehre nahm Althusius den gedanklichen Inhalt vorweg, den die Theorie der realen und der personalen Majestät hatte. Die Aszendentenstellung, die er zu dieser Theorie einnimmt, dokumentiert sich am deutlichsten i n seiner Formulierung, i n der er das Recht des Herrschers — das jus regis — von dem des staatlich o r g a n i s i e r t e n V o l k e s — d e m jus populi
(in corpus
unum
regni
seu rei
publicae uniti) — unterscheidet und die beiden Rechte folgendermaßen charakterisiert: Das jus regis ist temporär und personal. Das jus populi dagegen besteht ewig. Das jus regis steht dem König als ein widerruflicher Auftrag zu. Das jus populi dagegen ist seinem Subjekt eigen und unveräußerlich bei diesem. Das jus populi ist deshalb dem jus regis übergeordnet 72 . Althusius wurde daher zu seiner Zeit und i n der zweiten Hälfte des 17. Jhs. verschiedentlich m i t der Theorie der realen und der personalen Majestät i n Verbindung gebracht oder sogar als einer ihrer Vertreter angesehen. A n einer Stätte, wo man mit seiner Lehre besonders vertraut gewesen sein muß, nämlich an der Universität Herborn, an der Althusius noch 1602 zum zweiten M a l das A m t des Rektors bekleidete, referiert 1612 ein Johann Wilhelm Rövenstrunck in seinem Discursus
ββ
Politica X V I I I , 48 ss.; X I X , 21 ss. Politica X V I I I , 28; I X , 23. 68 Politica, 1. Aufl., p. 167; vgl. die entsprechende Stelle i n der 3. Aufl. X I X , 2; vgl. ferner die Vorreden zur 1. u. 2. Aufl. sowie i n der 3. Aufl. I X , 4 u. 23; X X X V I I I , 122 u. 126. 69 Politica X I X , 12. 70 Politica X V I I I , 40, 48; X I X , 7. 71 Vgl. Politica X I X , 13. 72 Politica, X V I I I , 104. 87
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Rudolf Hoke
politicus de statu rerumpublicarum 7 3 die Unterscheidung von majestas realis und personalis. Dabei führt er zu deren Kennzeichnung an, daß n a c h A l t h u s i u s die jura
majestatis
n i c h t n u r d e m summus
magistratus,
sondern auch der consociatio universalis rei publicae zustehen 74 » 75 . Reinhard König, der ehemalige Gießener Student, der dort selbst die Theorie der realen und der personalen Majestät vorgetragen hatte 7 6 , bezeichnet später, als er i n zwei weiteren Publikationen wieder die Theorie vertritt, neben Kirchner auch Althusius als einen der Autoren, auf welche die Unterscheidung von realer und personaler Majestät zurückgeht 77 . Der andere Gießener Disputant, der 1610 die Theorie der realen und der personalen Majestät verteidigt, Johann Cammann, bezieht sich bei der für die Theorie spezifischen Unterordnimg des Herrschers unter die Souveränität der staatlichen Gemeinschaft und seine daraus folgende Bindung an die Grundgesetze des Staates auf Althusius 7 8 . I m Hinblick auf die Grundgesetze als Manifestationen der realen Majestät führt auch der Gießener Professor Liebenthal 7 9 A l t h u sius 80 als Gewährsmann an. Das gleiche t u t Christoph Besold i n seinen beiden Publikationen, i n denen er die Theorie der realen und der personalen Majestät vertritt 8 1 . Die Gebundenheit des Subjekts der personalen Majestät an jene vom Subjekt der realen Majestät aufgestellten Normen besteht nach Limnaeus auch i m Falle des Staatsnotstandes 82 . Dafür beruft sich der A u t o r auf Althusius 8 3 und dessen Lehre, daß der summus magistratus nur diejenigen Hoheitsrechte i n Anspruch nehmen kann, die i n den f ü r seine Herrschaft aufgestellten leges et conditiones genannt sind 8 4 , an welche letzteren der Herrscher 73 Die Schrift, deren W i d m u n g von Rövenstrunck als A u t h o r et Respondens unterschrieben ist, hat v. Gierke , Johannes Althusius (FN 40), S. 5 A n m . 7, fälschlich Johann Heinrich Aisted zugeschrieben. 74 L . c., p. 13 s. Rövenstrunck bezieht sich auf die Formulierungen i n den Vorreden zu den Politica-Auflagen. 75 Die A r b e i t ist i m übrigen nicht durchdacht u n d m i t Ausnahme der Z i tierung des Althusius uninteressant. 76 s. oben F N 21. 77 s. oben F N 21, bei Arumaeus, Disc. acad. de j u r e publ. I I , 17, thes. 7; Theatrum politicum, pars 1, c. 23, nr. 11. E r bezieht sich auf c. 6 der 1. Aufl. der Politica, dem i n der 3. A u f l . c. 9, m i t allerdings teilweise geänderter M e i nung, entspricht. 78 s. oben F N 21, thes. 76. Auch sein Bezugspunkt ist c. 6 der 1. Aufl. der Politica. 79 s. oben F N 22, thes. 6, p. 131. 80 Wiederum m i t c. 6 der 1. Aufl. 81 s. oben F N 33 u. 34, Politicorum l i b r i , 1. I, c. I I , nr. 4, p. 55 = De majestate, sect. I, c. I, nr. V, p. 6. E r bezieht sich außer auf c. 6 auch auf c. 1 der 1. Aufl. der Politica. 82 Capitulationes, p. 25 ss.; vgl. Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 6), S. 137. 83 Capitulationes, p. 26, nr. 40. 84 Politica X I X , 7 u. 47.
Althusius und die Souveränitätstheorie
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deshalb, so interpretiert Limnaeus, unter allen Umständen gebunden sei 85 » 8ß . Bortius verweist für Fragen bezüglich der Kompetenzen und der Bindung des Kaisers an die Grundgesetze allgemein auf den Mandatscharakter der Herrschereinsetzung, den Althusius herausgestellt hat und woraus sich vieles beantworten lasse87. Das K u r fürstenkollegium als den Repräsentanten des Subjekts der realen Majestät apostrophiert er wie Althusius, ohne ihn i n diesem Zusammenhang allerdings zu nennen, als die Ephoren 88 . I n seiner Lehre über das Widerstandsrecht gegenüber dem Herrscher schließt sich Bortius an Bartholomäus Keckermann und dessen Danziger Vorlesung über Politik vom Jahre 1606 an, die 1608 i n Hanau erschien 89 und die ihrerseits weitgehend Althusius 9 0 folgt. Diese mittelbare Verbindung zu Althusius über das Buch von Keckermann besteht auch bei Benedict Carpzov, der 9 1 für die reale Majestät der staatlichen Gemeinschaft Ausführungen Keckermanns 92 zitiert, welche die leges fundamentales als Grundlage der Herrscherstellung zum Gegenstand haben und die sich auf A l t h u sius 93 berufen. Außer der unmittelbaren ist eine indirekte Verbindung zu Althusius auch bei Besold gegeben. Bindeglied ist hier die Universität Herborn mit ihrem Professor der Pandekten und der Politik Philipp Heinrich Hoenonius 94 . Hoenonius hatte i n seinen 1608 in Herborn 85
Vgl. Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 6), S. 138 f. Auch Besold (FN 33 u. 34), Pol. 1.1. c. I I , nr. 36—38, p. 85 s. = De majestate, sect. I, c. V I I , nr. 5—8, c. 62 ss., versteht den Althusius so, t r i t t aber für den Notstandsfall unter Ablehnung der Meinung des Althusius für eine gewisse Ermessensfreiheit des Herrschers i m Interesse der Staatsräson ein. 87 Bei Arumaeus, Disc. acad. de j u r e publ. I , 33, c. 2, thes. 36. Bortius verweist auf Politica X I X , 7. 88 Bei Arumaeus, Disc. acad. de j u r e publ. I, 33, c. 2, thes. 4. 89 Unter dem T i t e l disciplinae politicae, hrsg. v. Georg Pauli, s. dazu Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 6), S. 159. Die genannten Orte Danzig u n d Hanau wie das gleich noch zu erwähnende Herborn waren jeder Sitz einer k a l v i nistischen Hochschule. Die i m T e x t getroffenen Feststellungen werfen damit Licht auf die rege wissenschaftliche Kommunikation, die zwischen den k a l vinistischen Hochschulen der Zeit herrschte, vgl. Gerhard Menk, Die Hohe Schule Herborn i n ihrer Frühzeit (1584—1660), Wiesbaden 1981, S. 268; ders., Die Hohe Schule i n Herborn i m 16. u. 17. Jh., i n : J. Wienecke u. a. (Hrsg.), Von der Hohen Schule zum Theologischen Seminar Herborn 1584—1984, Festschrift zur 400-Jahrfeier, Herborn 1984, S. 22 ff. (23). 90 Politica X I V der 1. Aufl., dem i n der 3. Aufl. X X X V I I I entspricht. Es handelt sich insbes. u m jene von Althusius, 1. Aufl., p. 152, 3. Aufl., nr. 46, herausgestellten Punkte, die bei der Ausübung des Widerstandsrechts zu beachten sind. 01 De capitulatione Cesaraea sive de lege regia Germanorum, bei Arumaeus, Disc. acad. de jure publ. I V , 43, c. I, thes. 25 = 2. Aufl., c. I, sect. X I V , thes. 8, p. 26. 92 L. I , c. V I , p. 137. 93 Politica V I der 1. Aufl. 94 = Hoen. Z u i h m s. Henning Witte, D i a r i u m biographicum, 2. Bd. Riga 1691, S. 62; Menk, Die Hohe Schule Herborn i n ihrer Frühzeit (1584—1660) 8β
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erschienenen L i b r i duo disputationum 9 5 eine Sammlung von an der Herborner Hochschule gehaltenen Disputationen vorgelegt, deren Autor anscheinend er selbst war. Die Ausführungen lehnen sich durchgängig an Althusius an. Besold 98 zitiert sie für die Unterscheidung von realer und personaler Majestät mit der bei Hoenonius 97 unter Berufung auf Althusius 9 8 vorgenommenen Differenzierung zwischen dem Eigentumsrecht an der Staatsgewalt, das die staatliche Gemeinschaft hat, und der bloßen Ausübung der Staatsgewalt durch den obersten Magistraten. Wie einerseits die Anhänger der Theorie der realen und der personalen Majestät und diejenigen, welche die Theorie referierten, für diese Althusius i n Anspruch nahmen, so sahen andererseits auch die K r i t i k e r der Theorie in Althusius einen von deren Vertretern. Das war bei Johann Thomae, dem Onkel des Christian Thomasius, in seiner Jenaer Disputatio juridico-politica de Majestate von 1649" der Fall, und auch Balthasar Cellarius 100 , Johann Paul Felwinger 1 0 1 sowie Christian Thomasius, der dem Thema der doppelten Majestät 1672 seine von seinem Onkel beeinflußte akademische Erstlingsschrift widmete 1 0 2 , rechneten Althusius zu den Autoren, die sich zu den Begriffen der majestas realis und majestas personalis bekannt haben. Deshalb zeichnet auch Otto von Gierke den geistesgeschichtlichen Entwicklungsgang richtig, wenn er schreibt 103 , daß die Theorie von der realen und der personalen Majestät i n direkter Provenienz aus der Politica des Althusius stammt. Dagegen i r r t Friedrich 1 0 4 , wenn er meint, es sei falsch, mit Gierke die Theorie von der realen und der personalen Majestät auf Althusius zurückzuführen. Friedrich gelangt zu seiner irrigen Meinung, weil er sich wie viele andere durch die i n der Theorie (FN 89), S. 54 m i t weiteren Literaturangaben i n A n m . 54, und S. 267; ders., Die Hohe Schule Herborn i m 16. u. 17. Jh. (FN 89), S. 30, 32. Der 1576 geborene Hoen, der nach Studien i n Herborn u n d Jena 1604—1608 die Professur i n Herborn bekleidete u n d danach i m reichsständischen Dienst i n der P o l i t i k tätig war, lebte bis 1648 (Witte) bzw. 1649 (Menk). 95 Lib. 1 disputationum politicarum, lib. I I disputationum juridicarum. 06 s. oben F N 33 u. 34, Pol. 1.1, c. I I , n. 2, p. 54 = De majestate, sect. I, c. I, nr. 3, p. 5. 97 Lib. I, Disp. I I I , thes. 36 — bei Besold, w o h l irrtümlich, w e i l i m K l e i n druck als Erläuterung, als thes. 37 angegeben. 98 Politica X V der 1. Aufl., dem X I X , 2 der 3. Aufl. entspricht. p ° § 34. 100 Politicae succinctae l i b r i duo, 6. Aufl., Jena 1661, c. V I I , nr. 18, p. 180. 101 Dissertatio politica de majestate, thes. 41, i n : Felwinger, Dissertationes politicae, A l t d o r f 1666, Diss. 26, p. 848. 102 s. oben F N 56, §§ 4, 19; vgl. dazu Hoke (FN 56). 103 Johannes Althusius, S. 164. 104 s. oben F N 58, Introduction, S. X C m i t Anm. 5.
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vorgenommene Bezeichnung der Herrschergewalt als personaler Majestät täuschen läßt und annimmt, damit werde die Existenz einer neben der realen Majestät bestehenden zweiten höchsten Gewalt behauptet. Er übersieht, daß auch die Theoretiker der realen und der personalen Majestät nur unter dem Begriff der realen Majestät die höchste irdischc Gewalt verstehen, die sie der staatlichen Gemeinschaft zuerkennen und die sie i n der Gewalt des Herrschers, i n der personalen Majestät, verwirklicht finden. Außerdem mißversteht Friedrich die i n diesem Zusammenhang von i h m herangezogene Althusius-Stelle 1 0 5 . Althusius knüpft dort an seine vorhin 1 0 6 wiedergegebene Behauptung, Bodin k e n n e n e b e n d e r majestas
regnantis
oder regis
eine majestas
regni,
die Frage, welche dieser beiden Gewalten die höhere sei. Er beantwortet sie, indem er feststellt, daß nur die Gewalt die höhere sein kann, welche ewig beim Volk als ihrem Subjekt ist und welche die andere, die sich bei einer Einzelperson befindet und m i t dieser erlischt, konstituiert. M i t seiner Äußerung w i l l Althusius nicht etwa eine Unterscheidung v o n majestas
regni
u n d majestas
regnantis
ad a b s u r d u m f ü h r e n ,
wie
Friedrich glaubt. Er w i l l damit vielmehr zum Ausdruck bringen: Selbst Bodin, der doch den Herrscher als das Subjekt der Majestät bzw. Souveränität bezeichnet, gibt zu, daß außer der Gewalt des Herrschers auch eine Gewalt des Staates existiert. Wenn das aber so ist, folgt aus einem Vergleich der beiden Gewalten zwangsläufig, daß nicht die Gewalt des Herrschers, sondern die des Staates die höchste irdische Gewalt darstellt. Nicht der Herrscher ist also Subjekt der höchsten irdischen Gewalt, sondern der Staat selbst. Angesichts ihrer Argument a t i o n m i t d e n B e g r i f f e n d e r majestas
regni
u n d majestas
regnantis
möchte ich diese Althusius-Stelle sogar als ein Bekenntnis zu der Lehre werten, für die diese Unterscheidung spezifisch ist. Bezeichnenderweise erblickten i n ihr auch die erwähnten K r i t i k e r der Theorie der realen und der personalen Majestät eine der für die Theorie repräsentativen Äußerungen. III.
Der Theorie der realen und der personalen Majestät setzten manche von deren Vertretern, um den i n der Verfassungswirklichkeit der frühen Neuzeit allenthalben vorhandenen Dualismus von Fürst und Ständen theoretisch i n den Griff zu bekommen, eine weitere Theorie auf: die vom status mixtus f von der gemischten Verfassung. Aus eben diesem Grunde hatte auch schon Bodin von der nach seiner Lehre durch das Subjekt der Souveränität bestimmten Staatsform — 105 106
Politica I X , 24 der 3. Aufl. s. oben bei F N 51.
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Rudolf Hoke
Monarchie, Aristokratie oder Demokratie — die Regierungsform abgehoben, die nach seiner Auffassung eine andere sein k a n n als die Staatsform 1 0 7 . Da für die Theoretiker der realen und der personalen Majestät Subjekt der souveränen Gewalt, der realen Majestät, i n jedem F a l l die staatliche Gemeinschaft war, konnten sie die Unterscheidung von Monarchie, Aristokratie und Demokratie jedoch n u r als eine solche der Regierungsform verstehen. Limnaeus 1 0 8 lehnte daher die Bodinsche Differenzierung von Staats- und Regierungsform ausdrücklich ab. Staatsform und Regierungsform sind f ü r i h n ein und dasselbe 109 . Nach Limnaeus handelt es sich dabei u m die Organisationsform der obersten Organgewalt i m Staat, also u m die Organisationsform der personalen Majestät. Sie versteht er unter dem Begriff des status. Sie ist die von dem Subjekt der realen Majestät i m Grundgesetz geschaffene Verfassung des Staates. Die personale Majestät kann von dem Subjekt der realen Majestät einem oder mehreren Individuen zugewiesen sein, und je nachdem ist die Organisationsform der personalen Majestät, also der status des Staates, monarchisch oder polyarchisch 110 . Auch i n diesem Punkte erweist sich die H e r k u n f t der Theorie der realen und der personalen Majestät aus der Souveränitätslehre des Althusius. Da es auch für diesen i m Bodinschen Sinne n u r eine einzige Staatsform gibt 1 1 1 , nämlich diejenige, bei der die staatlich organisierte Volksgemeinschaft selbst Subjekt der souveränen Gewalt ist, sind auch für Althusius Monarchie u n d Polyarchie n u r verschiedene Organisationsformen der obersten Magistratur, verschiedene species magistratuum 112. Althusius hatte folglich die Bodinsche Unterscheidung von Staats- und Regierungsform verurteilt 1 1 3 . So konnte sich Limnaeus bei seiner diesbezüglichen Auseinandersetzung m i t Bodin ausdrücklich auf das negative U r t e i l des Althusius berufen u n d sich i h m anschließen 114 . Neben den reinen status-Typen Monarchie, Aristokratie und Demokratie billigten n u n von den Theoretikern der realen und der personalen Majestät Besold, Benedict Carpzov und Limnaeus i n Übernahme der alten, zu Anfang des Jahrhunderts von dem erwähnten Bartholo107
I I , 2, lat. Ausg., 6. Aufl., p. 295; franz. Ausg., I.e., S. 272; ebenfalls I I , 7 u. VI, 6. 108 Vgl. Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 6), S. 165 ff.; ders., Johannes Limnaeus (FN 36), S. 107. 100 Jus publ., Additiones 1. Bd., Straßburg 4650, zu I, 10, p. 101 s. 110 Vgl. Dissertatio apologetica de statu Imperii Romano-Germanici, Ansbach 1643, sect. 1, nr. 9, sect. 6, nr. 15 s.; Jus publ., I, 10, nr. 10; ibid., Additiones 1. Bd., zu I, 10, p. 97. 111 Vgl. Winters, Die Politik des Joh. Althusius (FN 59), S. 259. 112 Politica X X X I X , 3. 113 Ibid. 114 Jus publ., Additiones 1. Bd., zu I, 10, p. 101.
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mäus Keckermann neu vorgetragenen Lehre vom status mixtus auch Mischtypen, die aus Elementen von zwei oder allen drei Grundtypen bestehen, Existenzmöglichkeit zu 1 1 5 . Nach ihrer Theorie kann die Verfassung eines Staates so beschaffen sein, daß die oberste Organgewalt, die personale Majestät, hinsichtlich mancher Staats aufgaben von einem einzelnen, also auf monarchische Weise, hinsichtlich anderer dagegen von diesem einzelnen i n Gemeinschaft mit den Optimaten des Staates, also auf aristokratische Weise, wahrgenommen wird. I n diese Kategorie des status mixtus stuften die genannten Autoren die Verfassung des damaligen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation ein. Indem sie derart das i n der Verfassungswirklichkeit des Reiches bestehende Nebeneinander des monarchischen und des aristokritischen Prinzips zu einer theoretischen Figur erhoben, trugen die auf der Souveränitätslehre des Johannes Althusius fußenden Theoretiker der realen und der personalen Majestät m i t dazu bei 116 , daß der Dualismus von Kaiser und Reichsständen i n der Reichsverfassung für die Zukunft konserviert wurde: Z u Ende der ersten Hälfte des Jahrhunderts wurde das Recht der Reichsstände auf Mitbestimmung i n Reichsangelegenheiten i n den Westfälischen Friedensverträgen 117 völkerrechtlich und reichsverfassungsrechtlich auf Dauer verankert.
115 Vgl. Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 6), S. 158 ff., 165 ff.; ders., Johannes Limnaeus (FN 36), S. 104 f. 116 Andere Faktoren als die Lehre v o m status mixtus des Reiches waren solche der Staatspraxis w i e das Interesse der Reichsstände u n d das der auswärtigen Mächte. 117 A r t . X V I I I § 2 I. P. O., § 63 I. P. M.
JOHANNES ALTHUSIUS UND D I E REICHSSTAATSRECHTSLEHRE Ein Beitrag zur W i r k u n g der Althusianischen Staatstheorie* Von Gerhard Menk, Marburg Als Otto von Gierke 1880 i m Umfeld seiner umfangreicheren Abhandlung zum deutschen Genossenschaftsrecht 1 eine Monographie über „Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien" vorlegte, stellte er den Herborner Politiktheoretiker i n die Reihe jener Männer, „deren Leistungen uns das Recht geben, dem deutschen Geist einen ebenbürtigen Antheil an der modern-europäischen Entwicklung der politischen Ideen zu vindiciren" 2 . Zugleich gab der Rechtshistoriker dem Gedanken Ausdruck, daß Johannes Althusius und sein Werk überhaupt erst einmal habe wiederentdeckt werden müssen, und dies nach einem längeren Zeitraum „der fast räthselhaften Vergessenheit, i n die er versunken" gewesen sei8. Die Bemerkung Gierkes hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Fortan galt der Deutschrechtler als der eigentliche „Wiederentdecker" des Herborner Politiktheoretikers. Nicht nur das Werk über die Althusianische Staatslehre wurde damit i n eine gehobene Bedeutung gerückt, die trotz mancher Korrekturen unbestritten bleibt, sondern zugleich erhielt sein Verfasser einen Nimbus, der i n der Althusius-Forschung bis heute ungebrochen ist. Einerseits die bisher recht unterentwickelte Erforschung des deutschen Calvinismus i m Rahmen der Reichsgeschichte, die wohl durch die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges stärkstens * Erweiterte Fassung des Herborner Vortrags, der i n einer größeren Studie über Althusius aufgehen soll. Der Anmerkungsapparat ist bewußt knapp gehalten. — Z u danken habe ich insbesondere der Universitätsbibliothek Marburg, die bei der nicht immer einfachen Identifizierung von T i t e l n und der Beschaffung der L i t e r a t u r großzügige H i l f e leistete. 1 O. von Gierke , Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde., B e r l i n 1868— 1913, jetzt Nachdruck Darmstadt 1954. — Z u m K o n t e x t der Althusius-Studie siehe O. v. Gierke , Johannes Althusius u n d die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, Breslau 21902, Abdruck des Vorworts zur 1. Aufl. 1880, hier S.V. 2 Ibid., S. [ I I I ] . 3 Ibid., S V I
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beeinflußt wurde 4 , andererseits aber auch der Glaube an die Autorität Gierkes haben dazu geführt, daß bisher eine umfangreichere Wirkungsgeschichte der „Politica methodice digesta" nicht in Angriff genommen worden ist. Auch Carl Joachim Friedrich, dessen Lebenswerk i n ganz wesentlichem Maße der Erforschung des Althusianischen Œuvre, zugleich aber auch seiner Einbettung i n die Zeit galt, hat für die Wirkungsgeschichte der „Politica methodice digesta" nur Versatzstücke liefern können 5 . Dies gilt vor allem auch für sein letztes Werk, i n dem er noch einmal den Versuch unternahm, dem Althusianischen Hauptwerk ein Denkmal in der europäischen Wissenschaftstradition der Politiklehre zu setzen. Hingegen schien Friedrich Hermann Schubert auf dem Wege, über den Brückenschlag zwischen der Lehre des Reichsstaatsrechts und den — grob gesprochen — i n den westeuropäischen Ländern angestellten Überlegungen zur Reichsverfassung, insbesondere aber zum Reichstag, eine Althusius-Renaissance zu bewirken. Die Forschungen Schuberts, die zuletzt insbesondere um die Figur der Volkssouveränität und den damit i n enger Verbindung stehenden Reichstag kreisten, führten zu einem verstärkten Maß an Aufmerksamkeit für die Rolle des Herborner Professors und zu einer Herausstellung seines Werkes über die Politik 6 . Schuberts Bemühungen blieben freilich i n Ansätzen stecken. Der Aufsatz über die „Volkssouveränität und das Heilige Römische Reich", der eine erste Skizze der umfangreicheren Kenntnisse darstellte, blieb so das einzig sichtbare Ergebnis eines hoffnungsvollen Beginns. Gleichwohl 4 Vgl. zur Rolle des Calvinismus i m Dreißigjährigen K r i e g F. H. Schubert, L u d w i g Camerarius (1573—1651). Eine Biographie, K a l l m ü n z (Opf.) 1955 (zur Kurpfalz); zur Situation der calvinistischen Wissenschaft jetzt G. Menk, Die Hohe Schule Herborn i n ihrer Frühzeit (1584—1660). E i n Beitrag zum Hochschulwesen des deutschen Kalvinismus i m Zeitalter der Gegenreformation, Wiesbaden 1981; zur unmittelbaren Reaktion kalvinistischer Wissenschaftler auf das Restitutionsedikt siehe ders., Das Restitutionsedikt u n d die kalvinistische Wissenschaft. Die Berufung Johann Heinrich Alsteds, P h i l i p p L u d w i g Piscators u n d Johann Heinrich Bisterfeld nach Siebenbürgen, i n : Jahrb. der hess. kirchengesch. Vereinigung 31 (1980), S. 29 ff. (auch unter Berücksichtigung der R ü c k w i r k u n g auf die niederländischen Universitäten). 5 Vgl. hierzu u. a. C. J. Friedrich (Hrsg.), Politica methodice digesta of Johannes Althusius (Althaus). Reprinted from the t h i r d edition of 1614. Augmented by the preface of the first edition of 1603 and by 21 hitherto unpublished letters of the author. W i t h an introduction by C.J. Friedrich, Cambridge (Mass.) 1932. Der Bogen spannt sich von dieser auch heute noch wichtigen Publikation zu seinem letzten größeren Werk, das 1975 erschien: C. J. Friedrich, Johannes Althusius u n d sein Werk i m Rahmen der E n t w i c k l u n g der Theorie von der Politik, B e r l i n 1975 (vgl. hierzu auch meine Rez. i n Nass. Annalen 1976). 8 F.H. Schubert, Die deutschen Reichstage i n der Staatslehre der frühen Neuzeit, Göttingen 1966, hier S. 383 ff,; ders., Volkssouveränität u n d Heiliges Römisches Reich, i n : H Z 213 (1971), S. 91 ff. Eine umfangreichere Fassung zu dieser Problematik befindet sich aus dem Nachlaß Schuberts i n Bearbeitung durch J. Kunisch
Althusius u n d die Reichsstaatsrechtslehre
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lassen sich i n diesem Beitrag jene weitgespannten Horizonte erkennen, in die die Wirkungsgeschichte der „Politica methodice digesta" einzubetten ist, w i l l man ihrer Bedeutung gerecht werden 7 . Daß vor allem Johannes Althusius und seine Staatstheorie es erfordern, nicht nur i m — freilich recht oft verkannten — weiten Rahmen der Reichsstaatsrechtslehre Interesse zu beanspruchen, sondern darüber hinaus auch und gerade die „westeuropäische" Komponente seiner Nachwirkung der Beachtung bedarf, geht ganz eindrücklich aus der vorliegenden Literatur hervor — sie ist für den genannten Bereich, aber auch etwa für die Rezeption i n Nordeuropa sehr viel umfangreicher als für jenes Land, i n dem er gelebt und gewirkt hat 8 . Daß beide Bereiche freilich kaum zu trennen sind, wenn man das Œuvre des Herborner Politiktheoretikers untersucht, könnte schon der Lebensgang des Althusius nahelegen. Dessen Stationen machen nämlich deutlich, daß er i n vielfacher Weise an den geistigen und auch geographischen Nahtstellen zwischen dem Reich und Westeuropa zu verorten ist, legt man die i m frühen 20. Jahrhundert aufgekommene ideelle Trennungslinie zugrunde. Schon die Studienaufenthalte machen den intellektuellen Umkreis deutlich, dem Althusius sich später i n seinen Werken verpflichtet wußte. Die Universitäten zu Marburg 9 und Köln, dann das calvinistische Genf 10 und schließlich Basel, wo er seine Studien abschloß11, lassen den weiten Bildungshorizont des späteren Professors erkennen. Der gebürtige W i t t gensteiner dürfte freilich schon i m Umkreis seines Landesherrn, des überaus gebildeten Grafen Ludwig von Wittgenstein und dem von ihm eröffneten Möglichkeiten innerhalb des ansonsten kleinräumigen Terri7
Ibid. Z u m Stand der Forschung siehe Menk, Hohe Schule Herborn (FN 4), S. 282 ff. 9 Vgl. hierzu jetzt — über die älteren Arbeiten hinausreichend — A. Friedrich, Die Gelehrtenschule i n Marburg, Kassel u n d Korbach zwischen M e lanchthonianismus u n d Ramismus i n der zweiten Hälfte des 16. J a h r h u n derts, Darmstadt-Marburg 1983; zur Kennzeichnung des intellektuellen K l i mas i m Umfeld der beiden Landgrafen L u d w i g und W i l h e l m I V . siehe auch G. Menk, Landgraf W i l h e l m I V . von Hessen-Kassel, Franz Hotman u n d die hessisch-französischen Beziehungen vor u n d nach der Bartholomäusnacht, i n : Zeitschr. des Vereins f ü r hess. Geschichte 88 (1980/81), S. 55 ff. sowie ders., Konfessionelle H a l t u n g i m K o n f l i k t . Eine Fallstudie am Beispiel des Pfarrers Johannes Croll aus Wetter, i n : Monatshefte f ü r evang. Kirchengeschichte des Rheinlandes 33 (1984), S. 229 ff. 10 Die Genfer M a t r i k e l (S. Stelling-Michaud [Hrsg.], Le l i v r e du recteur de l'Académie de Genève, Bd. 1, Genève 1959) verzeichnet Althusius zwar nicht unter den Immatrikulationen, gleichwohl ist v o m Genfer Studium auszugehen. 11 Vgl. hierzu H. Thieme, Die Basler Doktorthesen des Johannes A l t h u sius, i n : Festschrift für Hans L i e r m a n n zum 70. Geburtstag, Erlangen 1964, S. 297 ff. 8
17 R E C H T S T H E O R I E ,
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toriums wesentliche Grundlagen der späteren geistigen Formung erhalten haben 12 . Die Übernahme der philosophischen bzw. juristischen Professur an der prononciert calvinistischen Hohen Schule zu Herborn bzw. zu Siegen, wohin die nassauische Johannea mehrfach verlegt wurde, stellte Althusius dann in einen Umkreis, der nicht zuletzt auch durch Ludwig von Wittgenstein bestimmt wurde. Die in Herborn entwickelte Staatslehre ist weithin bedingt durch die dynastischen und persönlichen Verbindungen, die der Gründer der Hohen Schule, Johann VI. von Nassau-Dillenburg, sowie sein gleichnamiger Sohn in die Niederlande besaßen18. Zu gleicher Zeit gingen jedoch hier die Erfahrungen auf, die Ludwig von Wittgenstein aus seiner Korrespondenz mit den Schweizer Theologen nach der Bartholomäusnacht gewonnen hatte, wobei politische Theorie und reformierte Kirchenverfassungslehre i n enger Beziehung standen 14 . Die monarchomachischen Zirkel i n der Schweiz, den Niederlanden und Frankreich haben jedenfalls nicht unwesentlich zur Ausbildung der staatstheoretischen Momente beigetragen, die i m Rahmen des deutschen Territorialstaates reformierter Prägung eine besondere Ausformung erhielten 15 . Die Merkmale der Politik und zugleich auch der politischen Kultur, die — von der Hohen Schule Herborn und ihrem Juristen Johannes Althusius mit geprägt — die Territorien des Wetterauer Grafenvereins am Ende des 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts bestimmten 15 , glichen freilich vielfach jenen, die der Emdener Syndikus 1604 bei seinem Wechsel von der nassauischen Hohen Schule an den Dollart unbesehen übernehmen konnte. Auch die Verwendung monarchomachischer Muster, die i n der wetterauisch-territorialstaatlichen bzw. regional-bündischen Prägung ihre besondere Variante gefunden hatten, blieb am neuen Wirkungsort eine wichtige Matrix politischer Theorie und Praxis 16 . 12
V g l vor allem F. W. Cuno, L u d w i g der Ältere von Sayn, Graf zu W i t t genstein, i n : ders. (Hrsg.), Gedächtnisbuch deutscher Fürsten u n d F ü r s t i n nen reformierten Bekenntnisses, 5. Lfg., Barmen (1884), S. 44 ff.; E. Neweling, L u d w i g von Sayn, Graf zu Wittgenstein (1558—1605), i n : Wittgenstein I, hrsg. von F. Krämer, 1965, S. 223 ff.; J. v. Gierke , Neues über Johannes A l t husius, K ö l n 1957. 13 Z u beiden siehe zuletzt G. Menk, „ Q u i trop embrasse, peu estreind." P o l i t i k u n d Persönlichkeit Graf Johanns V I . von Nassau-Dillenburg 1580— 1606, i n : Jahrb. f ü r westdt. Landesgesch. 7 (1981), S. 119 ff.; zuvor siehe vor allem G. Oestreich, Grafschaft u n d Dynastie Nassau i m Zeitalter der k o n fessionellen Kriege, i n : B l l . f ü r dt. Landesgesch. 96 (1960), S. 22 ff. 14 Nachweise jetzt bei G. Menk, Die politische K u l t u r i n den Wetterauer Grafschaften am Ende des 16. u n d zu Anfang des 17. Jahrhunderts. E i n Beitrag zur W i r k u n g monarchomachischer Theorie auf den deutschen T e r r i torialstaat, i n : Hess. Jb. f ü r Landesgesch. 34 (1984), S. 67 ff., hier S. 73 ff. is programmatisch Menk, Politische K u l t u r (wie vor).
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Selbst die ganz wesentliche Rolle Spaniens als Vormacht der gegenreformatorischen Bestrebungen i m Westen des Reiches, zugleich aber auch — zumindest i m Selbstverständnis des Althusius und seiner Umgebung — die von Philipp II. ausgehenden Initiativen für eine Aushebelung der Reichsverfassung i m katholisch-kaiserlichen Sinne, veränderte sich mit dem Wechsel von Herborn nach Emden nicht 17 . Vielmehr verdichtete sich mit der geographischen Nähe zu den äußerst bewegenden Vorgängen i n den Niederlanden jene Unmittelbarkeit zu dem großen Konzept anti-absolutistischer, unionistisch-föderaler und das Legitimationstheorem der Volkssouveränität benutzender Staatlichkeit, wie sie die Niederlande als territoriales Gebilde schon nach außen hin zu verwirklichen schien — von der Staatstheorie ganz abgesehen, die längst die monarchomachischen Muster für sich reklamiert und selbst in so wichtigen Akten wie dem „Plakkaat van Verlatinge" oder der Apologie Wilhelms von Oranien benutzt hatte 18 . Waren auch die Grenzen zwischen dem Reich und den Niederlanden — und dies zumal aus völkerrechtlicher Sicht — völlig fließend, so saß Althusius nun wirklich an der Nahtstelle zwischen dem Reich und Westeuropa, benutzt man die beiden Komplexe hier lediglich i n der Begrifflichkeit, die bisher überwiegend als Gegensatz, ja gar als weltanschauliche Pole aufgefaßt worden sind 19 . Gerade die Wirkungsgeschichte des Althusius zeigt jedoch auf, wie eng beide staatliche Gebilde — selbst in der institutionellen Figürlichkeit, etwa i n der Parallelität zwischen Generalstaaten und Reichstag — auch nach der völkerrechtlichen Ausgliederung der Niederlande aus dem Reich mit dem Westfälischen Frieden nicht nur geographisch zueinander standen. Die Wirkung der „Politica methodice digesta" weist außerdem darauf hin, wie wichtig die Mittlerfunktion der Niederlande für den 18 Vgl. vor allem H. W. Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius i n Emden, Leer 1954 (Diss. phil. K ö l n ) ; zuletzt H. Wiemann, M a terialien zur Geschichte der Ostfriesischen Landschaft, Aurich-Leer 1982, hier insbes. S. 146 ff. Die hier erstmals versuchte Berücksichtigung auch der größeren Archive (Haus-, Hof- u n d Staatsarchiv Wien und Algemeen R i j k s archief Den Haag) bedürfte freilich zur quellenmäßigen A b r u n d u n g der E m dener Zeit eines erheblich breiteren Rahmens — auch jener der publizierten Literatur. 17 Hierauf werde ich i n der eingangs erwähnten Studie ausführlicher zurückkommen. 18 Vgl. hierzu Z. W. Sneller, Unie v a n Utrecht en Plakkaat v a n Verlatinge. De w o r d i n g van den Nederlandschen Staat, Rotterdam 1929; 5. Groenveld/ H. L. Ph. Leeuwenberg (Hrsg.), De Unie van Utrecht. Wording en Werking van een verbond en een verbondsakte, Den Haag 1979; J.H. Kluiver (Hrsg.), De Correspondentie tussen W i l h e l m van Oranje en Jan van Nassau 1578— 1584, Amsterdam 1984, Einleitung. 19 Dem schon m i t Nachdruck entgegenwirkend H. Maier, Ältere deutsche Staatslehre und westliche politische Tradition, Tübingen 1966 sowie Schubert, Volkssouveränität u n d Heiliges Römisches Reich (FN 6).
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Austausch der Ideen und staatstheoretischen Modelle war — bereits Johann Huizinga hat zu Recht hierauf verwiesen. Vornehmlich etwa i m Blick auf England, dessen tieferreichende Beeinflussung durch die Reichsstaatsrechtslehre i n der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts letzthin gerade von Friedrich Hermann Schubert und Julian H. Franklin betont wurde 2 0 , stellten die Niederlande und das breite Spektrum der an den dortigen Universitäten vertretenen Theoreme einen wichtigen Zwischenträger dar. So sehr auch das Heilige Römische Reich nach dem Westfälischen Frieden bis hin zu seinem Ende 1806 ein Gebilde sui generis innerhalb der europäischen Staatenwelt darstellte, das zugleich nur schwer in das Raster der gängigen Verfassungsformen zu passen schien21, so wirkte es doch zusammen mit dem besonderen Zuschnitt seiner Institutionen nicht nur belebend auf die Erörterungen der deutschen Staatsrechtler, sondern nicht minder auf diejenigen i n Westeuropa. Johannes Althusius wiederum, der früh schon mit der Spannbreite staatstheoretischer Muster und offensichtlich auch der Kommensurabilität von Institutionen vertraut gemacht worden ist, hat sein Interesse an einem möglichst weitreichenden Anwendungsbereich der „Politica methodice digesta" bereits i n deren erster Auflage erkennen lassen — die häufiger benutzte dritte Auflage läßt dieses Moment noch deutlicher hervortreten. Dies hat sich i n ganz natürlicher Weise auch auf die Kommensurabilität der Institutionen niedergeschlagen, m i t denen in ihr operiert wurde. Diese Breite der Anlage und der gedanklichen Spannung, die das Althusianische Hauptwerk auszeichneten, hat auch in ganz wesentlichem Maße dazu beigetragen, daß der frühere Herborner Jurist sich trotz heftiger Anfeindung zu keinem „vergessenen" Autor entwickelte, wie dies Gierke für die deutschen Verhältnisse anklingen läßt. Erst im frühen 19. Jahrhundert nämlich w i r d die Wirkung der „Politica methodice digesta" i n sichtbarem Maße eingeschränkt, ganz freilich bricht sie nicht ab. Immerhin läßt sich auch daran sehen, wie eng das Althusiani20 J. H. Franklin , John Locke and the Theory of Sovereignty. M i x e d Monarchy and the Right of Resistance i n the Political Thought of the English Revolution, Cambridge U P 1978, S. 5 sowie vor allem S. 64 ff. (auch unter Berücksichtigung Besolds). 21 Vgl. u.a. Schubert, Die deutschen Reichstage (FN 6); zuletzt P. Moraw, K . O. Frhr. v. Aretin, N. Hammer stein (u. a.), Reich, in: Geschichtliche G r u n d begriffe. Historisches L e x i k o n zur politisch-sozialen Sprache i n Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 423 ff., hier insbes. S. 456 ff. (Beitrag Hammerstein); siehe ebenfalls zuletzt zur L i t e r a t u r über das Reich u n d dessen Rechtsform N. Hammer stein, Jus P u b l i c u m Romano-Germanicum, i n : D i r i t t o e Potere nella Storia Europea, A t t i del quarto Congresso internazionale della Società Italiana d i Storia de Diritto, i n onore d i Bruno Paradisi, Firenze-Florenz 1982, S. 717 ff.; D. Wyduckel, lus Publicum. Grundlagen u n d Entwicklung des öffentlichen Rechts und der deutschen Staatsrechtswissenschaft, B e r l i n 1984.
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sehe Œuvre an die Institution angelehnt ist, mit deren Ende gleichsam auch die eigene Wirkungsmächtigkeit Schaden l i t t : das Heilige römische Reich deutscher Nation. Dessen enge Einbindung i n die europäische Staatenwelt, die allein schon von der Lage vorgegeben war, darüber hinaus die wichtige Stellung i n ihr, die auch durch den Dreißigjährigen Krieg nicht verlorenging, erhob es schon i m Kampf um die europäischen Kräfteverhältnisse zu einem wichtigen Verteilungs- und Ausgleichsfaktor, dessen Bedeutung und zugleich Problematik noch durch die innere Austarierung der Kräfte gesteigert wurde 2 2 . Darüber hinaus stellte es allerdings als Institution sui generis mit seinen Eigenheiten und der Komplexität der Organe wegen einen Gegenstand hohen Interesses für die Staatstheorie dar — und dies nicht nur i m Reiche selbst, wo sie eine bisher kaum ausgelotete Breite besaß. Vielmehr hat man sich auch außerhalb des Reiches während der gesamten frühen Neuzeit mit einer Institution beschäftigt, i n der — bis auf zeitlich befristete Ausnahmen — die Stärke der Reichsstände und insbesondere der Kurfürsten, die eingeschränkte Stellung des Kaisers als gewähltem Oberhaupt des Reiches, aber auch die in seiner Geschichte „gewachsenen" Reichsgrundgesetze wichtige Komponenten für eine konstitutionalistische Interpretation des Reichs darstellten 23 . Daß etwa die Rolle des Reichstags, der hier als Vertretungsorgan der Reichsstände — neben weiteren Organen 24 — überdies eine herausragende Rolle spielte, wurde bereits erwähnt. Die Rolle der Reichsstände und ihrer Vertretungsorgane hatte freilich ihre Entsprechung i n den Landständen, die i n den verschiedenen Territorien des Reichs eine unterschiedlich starke Position besaßen. Die Literatur zur landständischen Frage kann allerdings ebensowenig als 22 Siehe u. a. M. Braubach, V o m Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution, Stuttgart 51981; K . O. Frhr. v. Aretin, Die Kreisassoziationen i n der P o l i t i k des Mainzer K u r f ü r s t e n Johann P h i l i p p u n d L o t h a r Franz Schönborn 1648—1711, i n : ders., Der K u r f ü r s t von Mainz u n d die Kreisassoziationen 1648—1746, Wiesbaden 1975, S. 31 ff.; R. Vierhaus, Deutschland i m Zeitalter des Absolutismus (1648—1763), Göttingen 1978. 23 Z u m Begriff des „Konstitutionalismus" siehe Qu. Skinner , The Foundations of Modern Political Thought, Bd. 2: The Age of Reformation, Cambridge 1978, S. 195 ff.; siehe auch J. H. Franklin, Constitutionalism and Resistance i n the Sixteenth Century. Three Treatises by Hotman, Beza & Mornay, New Y o r k 1969. Lediglich bei Carl Joachim Friedrich, der nicht n u r i n der angloamerikanischen Tradition lebte u n d dachte, sondern sie auch durch eigene Publikationen nicht ganz unwesentlich beeinflußte, ist bisher eine Übertragung des Begriffs i n die deutsche Sprache zu finden. Siehe C. J. Friedrich, Konstitutionalismus gegen Absolutismus. Hauptströmungen i m politischen Denken 1610—1660, i n : Z u r Theorie u n d P o l i t i k der Verfassungsordnung, Heidelberg 1963, S. 36 ff. 24 Siehe hierzu jetzt H. Neuhaus, Reichsständische Repräsentationsformen i m 16. Jahrhundert. Reichstag — Reichskreistag — Reichsdeputationstag, B e r l i n 1982.
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erschöpfend ausgewertet gelten wie jene zu der Reichsverfassung — und zumal dann, wenn der gegenseitige Bezug, die Parallelen angesprochen sind 25 . Einen gemeinsamen Bezugspunkt besitzt die genannte Publizistik gleichwohl: die „Politica methodice digesta" etwa umfaßt m i t ihrem Ganzheitsanspruch, der der ramistischen Philosophie zu verdanken ist2®, beide Bereiche gleichermaßen. Auch dies zeichnet das Werk des Herborner Professors als einen W u r f aus, der vieles von dem kommensurabel zu machen versucht, was für seine konstitutionalistischen Zwecke dienlich erscheint. I m folgenden sollen die wechselnden Schicksale, die das Œuvre des bedeutendsten Herborner Juristen, zugleich aber auch politischen Praktikers während der frühen Neuzeit besaß, zumindest in groben Umrissen nachgezeichnet werden. Die Darstellung versucht — wenn auch schon allein durch die Vorgabe des Umfangs nur i n mehr überblicksartiger Weise — konstitutionalistische Züge i n der Reichspublizistik aufzuzeigen. Sie nimmt dabei jenen Gedanken auf, den Otto von Gierke mit der schon eingangs zitierten Bemerkung über den Beitrag des deutschen Geistes zur gemeineuropäischen Entwicklung umschrieb, ohne freilich — auch schon von der zeitlichen Erstreckung seiner Untersuchung — den gesetzten Anspruch voll einlösen zu wollen oder zu können. Die Rezeptionsgeschichte der „Politica methodice digesta", die hier in größeren Schritten entfaltet werden soll, berücksichtigt bisher freilich nur i n begrenztem Ausmaß jene europäischen Dimensionen, die Gierke zu Recht bereits als Untersuchungsfeld herausstellte. Es soll hier nun der Versuch unternommen werden, die überaus große Breite der Reichspublizistik auf die Rückwirkungen der Althusianischen Staatslehre zu untersuchen. Dabei wurden weniger die größeren und zugleich bekannteren Traktate als Gegenstand herangezogen, sondern mehr oder weniger das Kleinschrifttum — insbesondere die akademischen Disputationen und Dissertationen — als Grundlage für die Wirkung der Althusianischen Staatslehre benutzt. Dieses Literaturgenre ist zwar i n seiner Bedeutung erheblich geringer einzustufen als jenes der größeren Traktate, wobei hier nur die Publikationen eines Thomasius und Pufendorf 25 Vgl. bislang G. Birtsch, Die landständische Verfassung als Gegenstand der Forschung, i n : D. Gerhard (Hrsg.), Ständische Vertretungen i n Europa i m 17. u n d 18. Jahrhundert, Göttingen 21974, S. 32 ff. Der Kreis der zu berücksichtigenden L i t e r a t u r ist freilich umfassender als bei Birtsch erkennbar. 26 Vgl. hierzu bislang die zusammenfassenden Bemerkungen bei Menk, Hohe Schule Herborn (FN 4), S. 203 ff. — Z u r W i r k u n g des Ramismus neuerlich W. Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte h u manistischer u n d barocker Wissenschaft, Hamburg 1983; auf das Reichsstaatsrecht siehe B. Roeck, Reichssystem u n d Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches i n der politischen Publizistik des 17. u n d späten 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1984, S. 90 ff. (für Kulpis).
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oder aber die sehr umfangreichen Auseinandersetzungen m i t der Grotianischen Staatslehre genannt seien. Gleichwohl fanden auch die kleineren Abhandlungen ihre Leserschaft, und dies nicht nur i n akademischen Zirkeln, sondern gleichfalls auch an den Höfen, wo man mit Interesse entsprechende Spezialabhandlungen zu Rate zog. Gerade auch die Rezeptionsgeschichte der akademischen Schriften, die sich wie Flugsand über einen doch recht beachtlichen Umkreis verbreiteten, macht unübersehbar deutlich, wie wenig eigentlich i n Partien zumindest von der so ausufernd scheinenden Publizistik zur Rechtsform des Reiches, zu seinen Institutionen und zur Wirkung der Reichsverfassung bekannt ist. Nimmt man noch die Veröffentlichungen hinzu, die außerhalb des Reiches erschienen, dann eröffnet sich ein Bild, das allein schon von der Dichte der Farbtupfer beeindruckt. Aber auch die keineswegs vergessene Rolle, die Althusius i n ihm spielt, ist ebenso heraushebenswert. Die Wirkungsgeschichte der „Politica methodice digesta" 27 setzt zeitlich unmittelbar an jener Bildungseinrichtung ein, in deren Mauern und für deren unmittelbare Zwecke sie entstanden war: die Hohe Schule Herborn mit ihrer prononciert calvinistischen Programmatik. Die Grundzüge des Althusianischen Œuvre scheinen freilich schon früher festgelegen und darüber hinaus auch in der akademischen Praxis der nassauischen Akademie Anwendung gefunden zu haben, wie die „Theses philosophicae" beweisen, die der schottische Student Robert HowieHovaeus 1587 unter Althusius disputierte 28 . Stärker aber noch schlug sich das theoretische Substrat des politiktheoretischen Werkes nach dessen Erscheinen an der „Johannea" nieder. Nimmt man die folgenden Publikationen des Nachfolgers auf dem Althusianischen Lehrstuhl, dem späteren Dillenburger Rat Philipp Heinrich Hoen(onius) 20 oder aber des 27 Der letzte Versuch C. J. Friedrichs, eine Wirkungsgeschichte des „ P o l i tica methodice digesta" i m Rahmen der „politischen Wissenschaft" zu erarbeiten, scheitert freilich an der Bestimmung des Begriffs u n d dessen U m fang — die Ergebnisse sind deswegen auch w e n i g fruchtbar. Siehe Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk (FN 5), S. 127 ff. 28 Johannes Althusius (Praeses), Theses philosophicae: Quas Deo opt. max. favente, praeside. . . . Domino Iohanne Althusio, I. V. L . i n inclyta Schola Herbornensi Nassoviana disputandas proponit Robertus Hovaeus Scotvs, Herborn (Christoph Rab bzw. Corvinus) 1587 (Exemplar i n U B Glasgow). — Z u Howie sie J. K. Cameron, Letters of John Johnston . . . and Robert H o wie . . . , Edinburgh-London 1963; kurze Charakteristik des Inhalts der Disputation bei Menk, Hohe Schule Herborn (FN 4), S. 257 ff. 29 Z u i h m bisher am ausführlichsten W. Burchardi, Versuch einer Lebensbeschreibung H e r r n P h i l i p p Heinrich Hoens, i n : Dillenburger Intelligenznachrichten 1784, S. 630 ff. Dieser Darstellung folgt i m wesentlichen E. Becker, Dr. j u r . utr. Philipp Henrich von Hoen, i n : Heimatjahrbuch f ü r den D i l l kreis 1958, S. 44 ff. Siehe auch H. Heck, Die nassauische Beamtenfamilie Hoen, in: Nass. Annalen 78 (1967), S. 93 ff. Z u r späteren Tätigkeit i n den Diensten Georgs u n d L u d w i g Heinrichs von Nassau-Dillenburg siehe p u n k t u e l l G. Menk, Restitutionen vor dem Restitutionsedikt. K u r t r i e r , Nassau u n d das
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g r o ß e n B a r o c k e n z y k l o p ä d e n Johann Heinrich Aisted 30 als Maßstab, so f i n d e n sich h i e r ebenso w i e i n den D i s p u t a t i o n e n der w e n i g e r b e k a n n t e n Professoren w i e Wolfgang Ficinus 31 oder aber Johannes Matthaeus 82 jene staatstheoretischen L i n i e n gezogen, w i e sie die „ P o l i t i c a m e t h o d i c e digesta" v o r g a b . T r o t z des Weggangs v o n H e r b o r n nach E m d e n bereits ein J a h r nach d e m Erscheinen der „ P o l i t i c a " i n i h r e r ersten A u f l a g e b l i e b die L e h r e des Staatsrechts u n d der P o l i t i k w i s s e n s c h a f t an der „ J o h a n n e a " — so g e n a n n t nach i h r e m G r ü n d e r — ganz e n g a n den großen W u r f des A l t h u s i u s angelehnt. B e l e g t w i r d dies d u r c h die D i s p u t a t i o n e n , d i e a n der nassauischen H o h e n Schule i n n a h e m B e z u g z u r akademischen L e h r e a b g e h a l t e n w u r d e n 3 3 . D e u t l i c h w i r d dies beispielhaft d u r c h d i e w i c h t i g s t e u n d bekannteste P u b l i k a t i o n Philipp Heinrich Hoens, des Nachfolgers Johannes A l t h u s i u s ' auf d e m j u r i s t i s c h e n L e h r s t u h l a n der Johannea. D i e keineswegs u n b e k a n n t gebliebenen „ L i b r i duo d i s p u t a t i o n u m " lassen n ä m l i c h schon i m T i t e l die N ä h e zu A l t h u s i u s ' sehr v i e l u m f a n g reicheren A b h a n d l u n g erkennen. D e r erste T e i l der P u b l i k a t i o n des Reich 1626—1629, i n : Jb. für westdt. Landesgesch. 5 (1979), S. 103 ff.; ders., Rechtliche u n d staatstheoretische Aspekte i m waldeckigen Herrschaftskonf l i k t 1588—1624, i n : Geschbll. f ü r Waldeck 72 (1984), S.45ff.; die A b h a n d lungen R. Schinzers (Philipp Heinrich Hoenonius und die P o l i t i k i n Herborn, i n : Jb. der hess. kirchengesch. Vereinigung 23 [1972], S. 65 ff.) w i e auch H. Grüns (Politische Diskussionen an der Hohen Schule Herborn während ihrer Blütezeit, ebd. 14 [1963], S. 261 ff.) geben die Hoenschen staatstheoretischen M a x i m e n n u r unvollkommen u n d bisweilen falsch wieder. 80 Z u i h m siehe H. Schlosser, Johann Heinrich Alstedt, in: Nass. Lebensbilder 2, Wiesbaden 1943, S. 28 ff.; W. Michel, Die Theologie des Herborner Professors Johann Heinrich Aisted als Systema Harmonicum, i n : Archiv für mittelrh. Kirchengesch. 22 (1970), S. 169 ff.; Schmidt-Big g emann, Topica U n i versalis (FN 26), S. 100 ff. (nahezu durchgängig); F. Hof mann, Der enzyklopädische Impuls J. H. Alsteds u n d sein Gestaltwandel i m Werk des Jan Arnos Komensky, i n : K . Schaller (Hrsg.), Comenius. Erkennen — Glauben — H a n deln, St. Augustin 1985, S. 22 ff.; Menk, Hohe Schule Herborn (FN 4), S. 274 ff. 81 Vgl. J. Wienecke, Die gesellschaftlichen Lehren der Herborner Hohen Schule zur Studienzeit Comenius', i n : Studia Comeniana et Historica 5 (1973), S. 73 ff. ; zur W i r k u n g auch auf die Herborner Theologen siehe M. Martinius, Idea methodica, Herborn 1606, S. 320 ff., insbes. S. 335 sowie M. Martinius, Disputatio philosophica de symbiotica, hoc est sociali v i t a i n genere et i n specie de oeconomica seu societate domestica, Resp.: Johann Georg Rosinus à Jawornik, Herborn 1606. 82 Z u r herbornischen Staatstheorie i m Umfeld des Restitutionsedikts siehe Menk, Restitutionsedikt u n d kalvinistische Wissenschaft (FN 4). 88 So etwa ist das Abhängigkeitsgefälle zwischen P o l i t i k u n d Jurisprudenz bei Althusius u n d Aisted unterschiedlich. W i r d bei Althusius noch die P o l i t i k als eine der Rechtswissenschaft untergeordnete Disziplin angesehen, so ist dies bei Aisted umgekehrt. Siehe J. H. Aisted, Encyclopaedia Septem tomis distincta . . . , 2. Bd. Herborn 1630, S. 1389. Z u r früheren Interpretation des Politik-Begriffes bei Aisted siehe J. H. Aisted, Decuria quaestionum p o l i t i carum illustrium, Resp.: Arnoldus Hondt von Newenhofen, Herborn 1612; J.H. Aisted, Disputatio politica, Resp.: Samuel Domaradzki, Herborn 1617.
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Ph. H. Hoenonius, einer 1608 in erster und bereits 1615 i n dritter Auflage erschienenen Sammlung von Disputationen, ist mit „Politicarum methodice digestarum" i m Untertitel erläutert — nichts könnte den Vorbildcharakter der großen „Politica" deutlicher machen, die hier lediglich in verkürzter Form dargeboten wird. Doch nicht nur Hoens staatstheoretischer Entwurf wirkte trotz seines geringen Eigenständigkeitswerts i m Reichsstaatsrecht nach, wie Gierke bereits nachwies, sondern auch Johann Heinrich Aisted darf Gleiches beanspruchen. Die von ihm vornehmlich in der dritten und zugleich umfangreichsten Enzyklopädie entwickelten politiktheoretischen Grundsätze, die freilich schon i n den frühen Disputationen zu finden sind, blieben ebenfalls in der deutschen Tradition unvergessen, auch wenn dies auch weniger stark der Fall war als bei Althusius selbst und Hoen. Die Wirkung der Alstedschen Staatstheorie blieb jedenfalls nicht nur auf den schwedischen Bereich begrenzt, für den Nils Runeby einen entsprechenden Nachweis geführt hat 3 4 . Weitergetragen wurden die Ideen des Johannes Althusius nach 1604 aber auch durch die nach Herborn und Siegen kommenden Studenten, unter denen die Böhmen und Mährer besondere Aufmerksamkeit verdienen. Nicht nur der bekannteste unter ihnen, Johann Arnos Comenius als späterer Vater der Pädagogik, sondern vor allem jene Studierende, die später am Aufstand gegen Ferdinand II. beteiligt waren, bedürfen der Erwähnung. Es darf daher kaum als Zufall angesehen werden, daß in den zahlreichen ständischen Deduktionen und Parteischriften, die bisher i n viel zu geringem Ausmaß auf ihren staatstheoretischen Gehalt und die jeweiligen Bezugsfelder abgeklopft sind, die „Politica methodice digesta" eine wesentliche Rolle spielt 35 — gerade an den entscheidenden Nahtstellen w i r d zumindest in den größeren und theoretisch tieferreichenden Publikationen auf sie zurückgegriffen. Das naturrechtlich unterlegte Widerstandsrecht, die Repräsentation der Stände auf dem Boden der Volkssouveränität, nicht zuletzt aber das Konsoziations34 N. Runeby, Monarchia mixta. Maktfördelningsdebatt i Sverige under den tidigare stormaktstiden, Uppsala 1962, S. 18 ff. u. ö. Z u r Lehre des A l t husianischen „ P o l i t i k " i n Uppsala u n d Dorpat siehe ibid., S. 450 ff. sowie J. Vasar (Hrsg.), Quellen zur Geschichte der Universität T a r t u (Dorpat), T a r t u 1932, S. 65. — Z u r W i r k u n g des Ephorats als ständischem Kampfbegriff i n Schweden siehe jetzt G. Barudio, Absolutismus — Zerstörung der ,libertären Verfassung'. Studien zur ,Karolinischen Eingewalt' i n Schweden zwischen 1680 u n d 1693, Wiesbaden 1976, S. 174 ff. 35 Vgl. etwa: Deductio, Das ist: Nothwendige Außführung / Bericht u n d Erzehlung / deren Ursachen u n d Motiven, w a r u m b Kayser Ferdinandus I I . nach tödtlichem Abgang weyland Kaysers Matthiae deß Regiments i m K ö nigreich Bôheim / u n d dessen incorporirten Länder verlustigt. . . s . 1. 2 1620 (1. Aufl. gedruckt zu Prag), S. 124 f. (Zitat aus 38. Kap. der „Politica"). Auch weitere Merkmale der Schrift deuten auf eine gute Kenntnis der H e r borner Politiklehre hin.
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moment stellten Rechtsfiguren dar, die in den böhmischen Nebenlanden — wie auch schon in der Begrifflichkeit der Konföderationsakte sichtbar wird 3 6 — überaus bereitwillige Rezeptionsfelder fanden. Auch wenn die Herborner Staatsrechtslehre sicherlich nicht allein auf die Verhältnisse i n den böhmischen Nebenlanden eingewirkt hat, sondern auch die niederländischen Einflüsse sowie die Rolle der französischen Universitäten der Berücksichtigung bedürfen 37 — die „Politica methodice digesta" war wie kaum eine andere Schrift geeignet, das Programm der Stände mit einem in jeder Weise zureichenden theoretischen Fundament zu versehen. Außer i n Ostfriesland, wo Althusius ja als Syndikus der Stadt Emden seit dem Sommer 1604 unmittelbar auf die Absicherung der ständischen Position Einfluß nahm, dürfte wahrscheinlich nur noch in Böhmen und Mähren ähnlich stark auf jenes Arsenal an theoretischen Mitteln zurückgegriffen worden sein, das die „Politica methodice digesta" zur Unterstützung der ständischen Interessen bereithielt. Althusius wurde jedoch beileibe nicht nur als territorialer Ständetheoretiker verstanden, sondern eigentlich bis kurz nach Ende des Dreißigjährigen Krieges blieb die „Politica methodice digesta" mehrheitlich eine Schrift, deren Bezug zum Reich sehr viel stärker hervortrat als zu den Territorien. Die zweifelsohne in ihr vorhandenen herrschaftskritischen Momente, wie sie etwa in der hochentwickelten Figur des Widerstandsrechts lagen, fanden hingegen weniger Beachtung. Hier zog die katholische Seite viel eher Werke wie diejenigen des Heidelberger Theologen Daniel Paraeus heran, wobei die Rahmenbedingungen der pfälzischen Politik ja durchaus schon längerfristig Anlaß für eine entsprechende Interpretation gaben 38 . Die „Politica methodice digesta" 38 Vgl. R. Stanka, Die böhmische Conföderationsakte von 1619, B e r l i n 1932. Neuerlich J. Polisensky, Nizozemskâ politika a Bilâ hora, Praha-Prag 1958, S. 128 ff.; ders., Der K r i e g und die Gesellschaft i n Europa 1618—1648, PrahaPrag 1971, S. 47 f. I n Kürze auch schon O. Odlozilik, Political Thought of Bohemia i n the early 1 7 t h Century, i n : V i l e Congrès International des Sciences Historiques, Zürich 1938, Communications, Bd. I I , Paris 1938, S. 635 ff. 37 Hierzu zuletzt N. Mout, Bohemen en de Nederlanden i n de zestiende Eeuw, Leiden 1975 (reicht bis i n das frühe 17. Jahrhundert); die Verbindungen zu den französischen Protestanten F. Hruby, F i l i p DuPlessis-Mornay a K a r e l Zerotin ν letech 1611—1614, i n : Od Pravëku k dnesku. Sbornik praci z dëjin Êeskoslovenskych k sedesâtym narozezinâm Josefa Pekafe, PrahaPrag 1930, S. 39 ff. — Z u den kalvinistischen Verbindungen siehe Ο. Odlozilik, Bohemian Protestants and the Calvinist Churches, i n : Church History 8, 1939, S. 342 ff.; M. Beckovâ, Zur Calvinisierung der Brüderunität i m Hinblick auf J. A. Comenius, in: Schaller (FN 30), S. 73 ff. 38 Vgl. u.a.: Conversation zwischen zweyen Studenten /' einem Catholischen u n d Calvinisten. Ob die Jesuiter an allerley Empörungen / so anjetzt i m Römischen Reich / u n n d sonderlich auch an dem Auffstandt i n Bôhemb schuldig seyen? Gar lustig u n d nutzlich zu lesen, Prag 1620 (zu Paraeus, S. 18). Zur politischen Publizistik der Zeit vor dem Dreißigjährigen K r i e g siehe R. Krebs, Die politische Publizistik der Jesuiten und ihrer Geg-
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erschien hingegen i n jenem breiten Strom an Publikationen, die das Recht der Reichsstände gegenüber dem Kaiser hervorhoben. So war es durchaus möglich, daß lutheranische Reichspublizisten wie Dietrich Reinkingk auf Verfassungsinstitute zurückgriffen, die — wie etwa das Ephorat — ganz zentrale Bestandteile der Althusianischen Erläuterungen waren, zugleich aber sehr gut in die Reichsverfassung eingepaßt werden konnten. I n den äußerst bewegenden Jahren nach dem Restitutionsedikt, als die Reichsverfassung auf eine „absoluta potestas" des Kaisers hinauszulaufen schien 30 , hat sich die reichsständische Publizistik unter Führung des Jenenser Juristen Johannes Limnaeus erneut der Vorarbeiten des Johannes Althusius, zugleich aber weiterer Reichsstaatsrechtler bedient, um die Unterscheidung zwischen der „maiestas realis" und „maiestas personalis" in ihrer Anwendung auf den Kaiser fruchtbar zur Untermauerung der reichsständischen Position zu verwenden 40 . Aus der großen Zahl weiterer Publikationen, die eine sehr viel schärfere K r i t i k an den Absichten Ferdinands II. üben, dafür aber nicht ganz so theoretisch subtil wirken wie Limnaeus' Darlegungen, ragt insbesondere der „Gantz newe Postillon an alle und jede Evangelische Könige, Potentaten, Chur-Fürsten, Stände Stätte, auch Privatos im H [eiligen] Römischen Reich Teutscher Nation" heraus 41 . Hier sind zwar keine ner i n den letzten Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen K r i e ges, Halle 1890; Schubert, Camerarius (FN 4). 39 Siehe: E i n außfürhlich Bedencken / Wie es umb die Kirchen Güter geschaffen / und w i e m i t denselben umbgegangen werden solle? I n fûnff folgende A r t i c k e l abgetheilt u n d Mânniglich zur Nachrichtung i n Druck geben, s. 1. 1631, S. D I I v ° : „ U n d wie Keys. May. absolutam potestatem ein Macht, die an kein Gesetz und Räthe gebunden sey / zugibt / w i e man dann von solcher Macht w o l etliche anzeige i n den Keys. Gesetzen findet / welche aber die Keyser gemacht haben / die ein solchen Gewalt hatten / derselben unterstehet sich / die Ordnug [!] Gottes / die Gott dem Reich Teutscher Nation / n u n etlich hundert Jahr verliehen / i n vorgemelter Mässigung Keys. Macht / zu brechen u n d ein Tyranney einzuführen." — Vgl. auch D. Böttcher, Propaganda und öffentliche Meinung i n Deutschland 1628—1636, i n : Archiv für Reformationsgesch. 44 (1953), S. 181 ff. sowie 45 (1954), S. 83 ff.; M. Gruenbaum, Über die Publizistik des Dreißigjährigen Krieges von 1626—1629, Halle 1880. 40 Ausführung: R. Hoke, Die Reichsstaatslehre des Johannes Limnäus. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft i m 17. Jahrhundert, Aalen 1968; ebenso Schubert, Deutsche Reichstage (FN 6), S. 476 ff.; im Uberblick Hammerstein, Reich (FN 21), S. 468 f. 41 Erschienen s. 1. 1632. Die i m „Postillion" vorhandenen Vorschläge zur V e r w a l t u n g des Reichs reichen hingegen sehr viel weiter als etwa die i m Vergleich vorsichtigen Erwägungen eines Limnaeus. So w i r d eine V e r w a l tung durch die Kurfürsten alleine „oder m i t zuthuung anderer Fürsten / oder aber durch eine Generalitet (wie die Herren Staden der verenigten N i d e r landt t h u n / etc. zu regieren", propagiert, (ibid., S. 8 f.) — I n Fällen, wo auf die Monarchomachen verwiesen ist (siehe etwa: Bey Gott und Menschen w o l verantwortliche Defension / N o t h - Schutz und Gegenwehr. Das ist: G r ü n d liche Resolution der uberaus schweren und hochwichtigen Frage: Ob u n d wie w e i t denen Ständen eines Keyserthumbs oder Königreichs / als u n m i t -
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Hinweise auf benutzte Vorlagen gegeben, doch beruhen weite Teile der Darstellung auf dem theoretischen Fundament, wie dies in den prononciert antiabsolutistischen Schriften bis 1620 gelegt worden war — und Althusius stand hier obenan. Aufgegriffen wurde das Althusianische Staats- und Gesellschaftsmodell und die in der „Politica methodice digesta" vorhandenen Verfassungsinstitutionen und -instrumente während des Dreißigjährigen Krieges jedoch i n den Niederlanden, wo nicht nur — im Gegensatz zum Reich — die Universitäten die Kriegsläufte unbeschadet überstanden, sondern gerade jetzt eine große Blüte erlebten. Neugründungen — wie etwa das 1636 ins Leben gerufene und rasch aufblühende Utrecht 4 2 — zeigten an, welche Rolle die niederländischen Hohen Schulen zu diesem Zeitpunkt über die Grenzen der sieben Provinzen hinaus spielten. Die der „Politica" beigegebene Rede „De utilitate, necessitate et antiquitate Scholarum" wurde etwa in Utrecht, wo der einflußreiche Vertreter reformierter Orthodoxie, Gisbert Voetius 49, bei der Gründung eine herausragende Rolle spielte, als Bezugspunkt für die Rolle der Bildungseinrichtungen im Staat herangezogen. Voetius ermöglichte aber ganz offensichtlich auch für die weitere wissenschaftliche Entwicklung Utrechts gerade i n der Staatstheorie bis in das späte 17. Jahrhundert hinein eine durchdringende Rezeption des Althusius 4 4 . Deutlicher freilich w i r d die Rolle der Althusianischen Staatslehre noch in Groningen, wo das politiktheoretische Programm Herborner Zutelbarer Obrigkeit / Göttlichen und Weltlichen Rechten nach / zugelassen / sich und ihre Untertanen wider ihre höchste Obrigkeit oder fûrgesetzt Hâupt armata manu zu defendiren., s. 1. 1633), finden sich allerdings „ n u r " die „ V i n diciae contra tyrannos" u n d der katholische Monarchomach Rossaeus zitiert (ibid., S. 4 f.). 42 Hierzu G. W. Kernkamp, De Utrechtsche Akademie 1636—1815, Utrecht 1936; zu Leiden siehe Th. Lunsingh Scheurleer/G. H. M. Posthumus Meyjes (Hrsg.), Leiden University i n the Seventeenth Century. A n Exchange of Learning, Leiden 1975; zu dem — zumindest i n theologischer Hinsicht — sehr v i e l „orthodoxeren" Franeker neuerlich G. Th. Jensma/F. R. H. Smit/ F. Westra (Hrsg.), Universiteit de Franeker 1585—1811. Bijdragen tot de geschiedenis van de Friese hogeschool, Leeuwarden 1985. 45 Z u i h m siehe A. C. Düker, Gisbert Voetius, 3 Bde., Leiden 1897—1914. 44 Vgl. als Uberblick E. H. Kossmann, Politieke Theorie i n het zeventiendeeeuwse Nederland, Amsterdam 1960. — Z u r Entwicklung der „ P o l i t i k w i s senschaft" in Leiden bis rd. 1650 siehe H. Wansink, Politieke wetenschappen aan de Leidse universiteit 1575—±1650, Leiden 1975; zu Franeker jetzt R. Feenstra, De Franeker juridische Faculteit i n nationaal en internationaal perspectief, i n : Jensma/Smit/Westra, Universiteit te Franeker (FN 42), S. 289 ff.; zu Ulric Huber und die Verbindung zwischen deutscher u n d niederländischer Staatstheorie i n der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts siehe T. J. Veen, Recht en nut. Studiën over en naar aanleiding van U l r i k Huber (1636—1694), Zwolle 1976. Als Uberblick zuletzt H. Schilling, Der libertärradikale Republikanismus der holländischen Regenten. E i n Beitrag zur Geschichte des politischen Radikalismus i n der frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 498 ff.
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schnitts etwa bei Matthias Pasor ungebrochen überlebte 45 . Der Sohn des früheren Herborner Graecisten Georg Pasor, der 1626 nach Franeker gewechselt war, hatte kurze Zeit noch in Heidelberg zu Anfang der 20er Jahre gelehrt, ehe er mit der Besetzung der Unterpfalz durch die Spanier die kurpfälzische Universität verließ, um nach einem kurzen Zwischenaufenthalt i n seiner Vaterstadt Herborn eine Lehrtätigkeit in Oxford zu übernehmen. Als er 1629 den Lehrstuhl für praktische Philosophie in Groningen erhielt, begann er recht rasch eine rege Disputationstätigkeit, wobei die gewählten Themen ganz deutlich den Zeitbezug erkennen lassen. Die 1632 von dem Emdener Studenten Joannes Fabricius verteidigte „Disputatio politica continens quaestiones illustres sex" etwa stützt sich i n ihrer monarchomachischen Beweisführung, die ihren Hintergrund i n den Folgen des Restitutionsedikts für den Calvinismus besaß, ganz auf die Althusianische „Politica methodice digesta", nachdem vorher schon Bartholomäus Keckermann und Lambert Danaeus als Referenzen in anderen Disputationen aufscheinen. Noch deutlicher w i r d der monarchomachische Grundtenor i m „Discursus politicus de Ephoris Rerumpublicarum" (1639) sowie i n der „Disputatio politica de tyranno" (1640), die von dem Alzeyer Studenten Johann Wolfgang Brunck angefertigt und verteidigt wurde 4 6 . Auch 1650 i m Rahmen der Auseinandersetzungen zwischen Claudius Salmasius in Leiden und John Milton um die Frage der Absetzung und Enthauptung König Karls I. von England meldete sich Pasor noch einmal durch entsprechende Disputationen zu Wort, ohne freilich die vorherige theoretische Höhe seiner Beweisführung zu erreichen. Die von Pasor begonnene Tradition hat später Martin Schoockius — wenn auch schon gebrochener — fortgeführt, wobei hier ebenfalls die Beziehungen zu Gisbert Voetius unübersehbar sind 47 . 45 Z u Pasor siehe H. Grün, Das Flüchtlingsleben eines nassauischen Gelehrten i m 17. Jahrhundert (Matthias Pasor 1599—1658), i n : Jahrb. der hess. kirchengesch. Vereinigung 10 (1959), S. 42 ff.; Menk, Restitutionsedikt u n d kalvinistische Wissenschaft (FN 4); ders., „Omnis novitas periculosa". Der frühe Cartesianismus an der Hohen Schule Herborn (1649—1651) u n d die reformierte Geisteswelt nach dem Dreißigjährigen Krieg, i n : Schaller, Comenius (FN 30), S. 135 ff.; zur Staatstheorie bisher knapp Kossmann, Politieke Theorie (FN 44). 4β Siehe M. Pasor, Disputatio politica continens quaestiones illustres sex, Resp.: Joannes Fabricius Embdanus, Groningen 1632; Matth. Pasor, Discursus politicus de Ephoris Rerumpublicarum, Resp.: Georgius Henricus L u d o l f Erffurt., Groningen 1639; Matth. Pasor, Disputatio politica de tyranno, A u t h . & Resp.: Joh. Wolfgang Brunck Alzena Palat., Groningen 1640. — Die hier genannten Drucke stellen n u r einen ausgewählten Bereich der Groninger Disputationstätigkeit dar, die bereits 1629 einsetzt u n d einen großen Themenkomplex umfaßt. 47 M. Pasor, Disputatio politica de electione et successione, A u t h . & Resp.: Gotofredus Zamelius Elbinga-Prussus, Groningen 1649; M. Pasor, Disputatio politica de subditorum officio, Resp.: Balthazar ab Hagen Dotichemia Gelrus, Groningen 1650; Matth. Pasor, Disputatio politica de majestate, Resp.: Her-
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Unmittelbar nach Abschluß des Westfälischen * Friedens, der die zumindest kurzfristig gehegten reichsabsolutistischen Pläne der habsburgischen Kaiser ins Gegenteil hatte umschlagen lassen und den Reichsständen ihre zwischenzeitlich gefährdeten Rechte zurückgab 48 , schien sich eine Althusius-Renaissance anzudeuten. Nicht nur die Neuauflage der „Dicaeologicae", die 1649 bei den Erben des früheren Herborner Universitätsdruckers Christoph Corvin i n Frankfurt am Main erschien, sondern mehr noch eine zwei Jahre später publizierte umfangreiche Disputation, die den Helmstedter Juristen Hermann Conring als Praeses ausweist, zeigt dies an. Die von Johann Fichlau-Fichlovius verfaßte „Consideratio juridico-politica de imperio absolute et relate", 1651 i n Leipzig gedruckt, knüpft dabei unmittelbar an jene Tradition an, die über die antiabsolutistischen Traktate gegen Ferdinand II., darunter vor allem den schon genannten „Postillion", auf die Monarchomachen zurückführt und jene konstitutionalistische Variante deutscher Reichsstaatslehre verkörperte, die freilich in der hier vorhandenen Schärfe nur noch höchst gebrochen zum Ausdruck kommen sollte4®. Johannes Limnaeus mit seiner Lehre von der doppelten Souveränität, damit — wie schon erwähnt — auf die Vorarbeiten in der „Politica methodice digesta" zurückgreifend, sollte fortan sehr viel stärker das Feld in der Reichsstaatslehre beherrschen als die jetzt bekämpften monarchomachischen Zuspitzungen und Widerstandstheoreme, die zumal für den Territorialstaat der Zeit eine höchst gefährliche theoretische M i x t u r darstellten. Für das Reich wiederum kamen sie schon allein desmannus Bresserus Clivo Ves., Groningen 1650. — Es wäre eingehender zu untersuchen, inwieweit die holländische Herrschaftskrise 1650 auch auf die Disputationen des Jahre 1650 einen mildernden Einfluß nahmen, zumal etwa die i n den späten 40er Jahren publizierten einen „traditionellen" Charakter besaßen. Vgl. etwa auch Matth. Pasor, Disputatio problematica X X I de T y ranno, Resp.: Ozias Vibranda, Groningen 1645. — Z u M a r t i n Schoock siehe (J.C.) van Slee, M a r t i n Schoock, i n : A D B 32 (1891), S. 324 f. (mit weiteren Verweisen auf ältere niederländische Literatur); C.L. Thijssen-Schoute, Nederlands Cartésianisme, Amsterdam 1954, S. 476; Kossmann, Politieke Theorie (FN 44), S. 26 ff.; F. Palladini, Discussioni seicentesche su Samuel Pufendorf. Scritti l a t i n i : 1663—1700 (Urbino), 1978, S. 129 ff.; knappe W ü r d i gung auch bei Schilling, L i b e r t ä r - r a d i k a l e r Republikanismus (FN 43). — Z u Voetius siehe dessen: Redenvoering van de nuttigheid der Academien ende Schoolen, mitsgaders der Wetenschappen en Konsten, die i n dezelve geleert werden, Utrecht 1636, S. 47. — Z u r Salmasius-Kritik bei dem früheren H e r borner Studenten und Professor der Jurisprudenz i n Franeker siehe jetzt Feenstra, De Franeker juridische faculteit, S. 302, F N 69. 48 Vgl. F. Dickmann, Der Westfälische Frieden, Münster 1959. 49 Johannis Fichlau, Consideratio juridico-politica de imperio absolute et relate considerato, ejusque jure. Dissertationi de summae petestatis (!) subjecto ab Hermanno Conringio i n lucem proditae opposita, Leipzig 1651. Außer Althusius, der an allen zentralen Stellen zitiert ist, findet sich auch gleich mehrfach die Hoensche Disputationensammlung als Beleg aufgeführt, darüber hinaus die ganze Breite der Monarchomachen und Teile der antikaiserlichen Publizistik des Dreißigjährigen Krieges.
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wegen nicht in Frage, weil der Westfälische Frieden Gegebenheiten geschaffen hatte, die ihre Applikation schlechthin unnotwendig machten. Die Reaktion des Hermann Conring auf die Schrift seines vorgeblichen Schülers Fichlau ist denn auch auf dem Felde der Souveränitätslehre typisch für jene Rolle, die Johannes Althusius zumindest i m Verlaufe des nächsten halben Jahrzehnts spielen sollte: mehrheitlich die des Außenseiters, des an den Rand abgedrängten Theoretikers. Allein schon die Ausführungen Conrings, der auf die scharfzüngigen Bemerkungen Fichlaus mit noch schärferer Feder reagierte, waren dazu angetan, um Althusius' wichtigste Schrift zu diskreditieren 50 . Denn bei der K r i t i k an Fichlau setzt sich der Helmstedter Staatsrechtler — neben John M i l t o n — vor allem mit der „Politica methodice digesta" auseinander, die er aus der Zahl der monarchomachischen Schriften heraushebt. Conring als gebürtiger Ostfriese, der Johannes Althusius noch aus eigenem Erleben gekannt haben dürfte 51 , charakterisiert den früheren Emdener Syndikus nämlich in folgender Weise: „Omnibus illis quantumvis palmam praeripit Iohannes Althusius, Reip. Emdensis quondam Syndicus, i n sua (ut loquitur) Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata 5 2 ." Unter Bezug auf die genannte Schrift beschreibt er diese i n mehr als negativer Weise: „qui pestilenti velut sidere quodam afflatus, eo impudentiae est progressus, ut ipsa ilia seditiosorum hominum deliramenta i n formam artis redigere, sacraeque testimoniis scripturae incrustare atque sie pro veris & genuinis prudentiae civilis prineipiis venditare non erubuerit" 5 3 . Die zeitlich unmittelbar 50 Naaman Bensen, Exercitatio politica de summae potestatis subiecto vindicata a Ioannis F i g l o v i i aliorumque ineptiis & calumniis, quas parturit liber Der imperio absolute & relate considerato. oppositus V. Cl. Hermanno Conringio. Praemissa est ejusdem Conringii Epistola de hoc ipso negotio, Helmstedt 1651 (später wiederabgedruckt i n der von Goebel besorgten Gesamtausgabe der Conringschen Werke). — Z u Conring siehe zuletzt D. Willoweit, Hermann Conring, i n : M. Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker i m 17. u n d 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht, F r a n k f u r t a. M. 1977, S. 129 ff.; H. Dreitzel, Hermann Conring u n d die Politische Wissenschaft seiner Zeit, i n : M. Stolleis (Hrsg.), Hermann Conring (1606—1681). Beiträge zu seinem Leben u n d Werk, B e r l i n 1983, S. 135 ff. (hier auch S. 143 zur Conring-Fichlau-Kontroverse); M. Stolleis, Machiavellismus und Staatsräson: E i n Beitrag zu Conrings politischem Denken, ebd., S. 173 ff.; N. Hammerstein, Die Historie bei Conring, ebd., S. 217 ff.; zur W i r k i n g Conrings auf Johann Stephan Pütter siehe dessen: Kurzer Begriff des Teutschen Staatsrechts, Göttingen 1764: „Eine merckliche Verbesserung der Lehrart hat das Staatsrecht Hermann Conringen . . . zu danken, u n d denen, die sowohl i n seiner Zeit als i n der nächsten Zeit nach i h m i n seine Fußstapfen getreten." 51 Siehe H. Schmidt, Hermann Conring und Ostfriesland, in: Stolleis, Conr i n g (wie vor), S. 303 ff. 52 Bensen, Exercitatio (FN 50), S. C 2. 53 Ibid. — Ebenfalls werden Althusius und auch Hoen i n einer weiteren Disputation Conrings: „Dissertatio politica de c i v i l i philosophia eiusque optimis ac praeeipuis scriptoribus" i n entsprechender Weise charakterisiert.
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vorausgehenden Ereignisse in England, die Conring natürlich als Hintergrund für solche Bemerkungen benutzte, gaben seiner Charakteristik noch verstärkte Bedeutung. Bei den Bemühungen, die Monarchomachen unter Führung des früheren Herborner Juristen i n engen Zusammenhang mit der Revolte gegen K a r l I. zu bringen, stand Hermann Conring freilich nicht alleine. Schon unmittelbar vor Conrings Antwort auf Fichlau, Althusius und Milton hatte ein anderer, in seiner Wirkung mit Conring kaum vergleichbarer Publizist die Monarchomachen in Verbindung mit dem calvinistischpuritanischen Konfessionskomplex gebracht: der „Puritanische Glaubensund Regimentsspiegel" des Peter Gartzius, der 1650 i n Leipzig erschien, führt Johannes Althusius, Lambert Danaeus und auch Philipp Heinrich Hoen(onius) als Geistesverwandte der englischen Puritaner auf und prangert sie zugleich als Vorläufer der Miltonschen Ausführungen an 54 . I m zweiten Teil der Schrift gegen Fichlau hat sich Conring der Vorarbeit des Gartzius geradezu genüßlich bedient, um seiner eigenen Beweisführung das entsprechende Kolorit zu verleihen. Verwendung fand der Gedanke freilich später auch noch bei Pufendorf, der die „demokratischen" Momente insbesondere in der Staatstheorie des Kalvinismus angesiedelt sehen wollte — die Rolle der katholischen Monarchomachen i n Spanien wie in Frankreich war inzwischen i n Vergessenheit geraten oder an den Rand der Betrachtung abgedrängt. Die Schriften des Gartzius und mehr noch die des sehr viel einflußreicheren Conring — schließlich auch i n ihrer Nachfolge Boeder und Hertius — haben die Stellung, die Johannes Althusius und seine „Politica methodice digesta" bisher i n der Reichspublizistik innegehabt hatte, i n ganz grundlegender Weise verändert. Während der frühere Herborner Professor trotz seiner herausgehobenen Rolle i n den Auseinandersetzungen zwischen Landständen und Territorialherrn als Verteidiger der reichsständischen Libertät angesehen worden war und insofern selten als Gegenstand konfessioneller Polemik diente, rückte er — kaum drei Jahre nach der Anerkennung des reformierten Glaubens als reichsverfassungsrechtlich abgesicherter Konfession — i n den Mittelpunkt auch religiös gefärbter K r i t i k . Jetzt wurde er — unter der Einwirkung der englischen Ereignisse — als Kämpfer gegen die Fürstenherrschaft jedweder A r t angesehen und damit von der Höhe jenes Olymp gestoßen, i n den der Rahmen des Reichsstaatsrechts ihn zuvor als Verteidiger der reichsständischen Libertät gerückt hatte. Freilich stellt die Souveränitätslehre nur einen Bereich dar, i n dem die „Politica methodice digesta" nach 1648 ihre Anwendung innerhalb der Reichsstaatslehre finden konnte. Ein bisher sehr viel weniger beach54
P. Gartz, Puritanischer Glaubens- u n d Regimentsspiegel, Leipzig 1650.
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tetes, gleichwohl aber sehr wesentliches Feld ist die Literatur über das Unions- und Föderationswesen, das mit dem Aufleben der Forschung über die dezentralen Merkmale der Reichsverfassung in das Blickfeld geriet. Dies gilt insbesondere für die Rolle, die die Reichskreise als wichtige Träger und Beförderer des regionalen Gedankens innerhalb des Reichsganzen spielten 55 . Bereits Anfang der 50er Jahre konnte i n einer Publikation über die Entwicklung des föderalen Moments im A l t e n Reich auf die Figur Georg Friedrichs von Waldeck hingewiesen werden, der — außer seiner Bedeutung für den Aufstieg Brandenburgs unter dem Großen Kurfürsten, seiner Dienste für das Reich i m Kampf gegen die Türken und für Wilhelm III. von Oranien i n der Eingrenzung der französischen Hegemonialbestrebungen 58 — als Motor für die Durchsetzung regionaler Bünde wirkte und sich dabei zugleich des i n der Reichskreisverfassung angelegten föderalen Elements bediente 57 . Während seine Bemühungen auf Reichsebene während der 80er Jahre des 17. Jahrhunderts schon länger bekannt sind, soll hier noch auf die erfolgreichen Bestrebungen zuvor hingewiesen werden, die 1679 i n Form der Wetterauer Union ein positives Ergebnis fanden 58 . Georg Friedrich von Waldeck, 1682 vom Kaiser seiner Verdienste wegen mit der persönlichen Fürstenwürde versehen, hat sich auf Reichs55 Vgl. v. Aretin, Die Kreisassoziationen (FN 22), hier auch weitere L i t . ; Ν. Hammerstein, Z u r Geschichte der Kreis-Assoziationen u n d der Assoziationsversuche zwischen 1714 u n d 1746, ebd., S. 79 ff. 58 Vgl. etwa P. L. Müller, W i l h e l m I I I . von Oranien u n d Georg Friedrich von Waldeck. Ein Beitrag zur Geschichte des Kampfes u m das europäische Gleichgewicht, 2 Bde. Den Haag 1873—1880; P. Havelaar, Der deutsche Libertätsgedanke u n d die P o l i t i k Wilhelms I I I . v o n Oranien, B e r l i n - B o n n 1935. 57 Der „Waldeckische Unionsplan" von 1653, der freilich n u r einen kleinen Ausschnitt aus der Plänewerkstatt Waldecks darstellt, neuerlich ediert bei Ε. v. Puttkamer (Hrsg.), Föderative Elemente i m deutschen Staatsrecht seit 1648, Göttingen-Berlin-Frankfurt 1955, S. 30 ff. — Z u r praktischen K o n k r e tion der waldeckischen Pläne auf regionaler u n d reichischer Ebene siehe H. Philippi, Landgraf Carl von Hessen-Kassel. E i n deutscher Fürst der B a rockzeit, M a r b u r g 1976, S. 45 ff. (Reunionen u n d Assoziationen); R. Fester, Die armierten Stände u n d die Reichskriegs Verfassung (1681—1697), F r a n k f u r t a. M. 1886; ders., Die Augsburger Allianz von 1886, Habil.-Schrift U n i versität München 1893; P. Dirr, Zur Geschichte der Reichskriegs Verfassung u n d der Laxenburger Allianz, Diss. Erlangen 1901; siehe auch A. Leiss, Das Laxenburger Bündnis v o m Jahre 1682 u n d dessen Apologie, i n : Geschichtsblätter f ü r Waldeck 24 (1927), S. 79 ff. — Z u Georg Friedrich von Waldeck i m territorialen Bezugsrahmen jetzt G. Menk, Absolutismus u n d Regierungsform i n Waldeck. Der Zugriff Graf Georg Friedrichs u n d seines Kanzlers Johann Viëtor auf Staat u n d Stände 1665—1676, in: Hess. Jb. f ü r Landesgeschichte 35 (1985), S. 69 ff. 58 Ansätze zur W i r k u n g des Althusius auf Waldeck, insbesondere i m H i n blick auf die Übernahme staatstheoretischer Muster und deren politischem H i n t e r g r u n d jetzt bei Menk, Rechtliche u n d staatstheoretische Aspekte (FN 29); ders., Politische K u l t u r i n den Wetterauer Grafschaften (FN 14). 1
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ebene vornehmlich jenes Instrumentariums bedient, das die Anlage der Reichsverfassung zur Durchsetzung seiner Ideen bereithielt. Er hat jedoch zugleich auf jenem Fundament aufbauen können, das vor allem i m regionalen Rahmen des Wetterauer Grafenvereins von Johannes Althusius und seiner „Politica methodice digesta" gelegt worden war — seine Anregungen stellten geradezu die Matrix für die politische Tätigkeit des Waldeckers dar, auch wenn dieser i m territorialen Rahmen ganz anderen Maximen folgte. Die Wirkung der Althusianischen Staatstheorie bei den Vorgängern Georg Friedrichs 58 dürfte die Wege zur Anwendung bündisch regionaler Prinzipien, die insbesondere für die kleineren Reichsstände zur Sicherung ihrer schwachen Position sowie als Zusammenschluß von Reichskreisen i m Kampf gegen auswärtige Gefahren in Frage kamen, bei ihm geebnet haben. Wie stark das bündisch-assoziative bzw. foederale Gedankengut, das die „Politica" ja schon i n der Grundkonzeption durchzog, auch i n der Begrifflichkeit weiterlebte, läßt sich am besten an den Definitionen ersehen, die zumindest in Teilen des Reichsstaatsrechts auch nach 1648 aus der „Politica methodice digesta" übernommen wurden. Bereits bei dem Polyhistor Martin Zeiller, der 1660 eine Abhandlung „Von den zehn Kreisen" schrieb 59 , scheinen die den Reichskreisen zugemessenen Funktionsbestimmungen dem 33. Kapitel der „Politica" entnommen. Noch deutlicher w i r d die Übernahme der Althusianischen Begrifflichkeit in Peter Müllers „De conventibus circulorum i n Sacro Romano Imperio, von Crayß-Tägen", einer Schrift, die 1734 bereits i n 3. Auflage erschienen war. Aber auch noch Gabriel Schweder, der Tübinger Lehrer Johann Jacob Mosers, hat i n seiner 1681 erstmals aufgelegten „Introductio in Jus publicum Romano Germanici novissimum" die Althusianische Begrifflichkeit für den Kreis verwandt — ebenso wie zuvor eine Altdorfer Disputation. A n all den genannten Beispielen zeigt sich freilich auch die vom Ramismus herrührende Beförderung der Begrifflichkeit, wie sie das Althusianische Hauptwerk weitgehend prägte und später überaus stark nachzuwirken vermochte. Die Möglichkeiten, die die begriffliche Prägnanz, wie sie die „Politica", aber auch alle anderen Herborner Publikationen auszeichnete, für die Nachwirkung i m Reichsstaatsrecht und dessen Lehre besaß, scheinen m i t den angegebenen Beispielen freilich kaum ausgeschöpft 60. Ebensowenig allerdings dürfte mit den Publika59 I m weiteren w i r d gefolgt P.-Chr. Storm , Der Schwäbische Kreis als Feldherr. Untersuchungen zur Wehr Verfassung des Schwäbischen Reichskreises i n der Zeit von 1648 bis 1732, B e r l i n 1974, S. 57 f. — Z u Schweder siehe E. Schömbs, Das Staatsrecht Johann Jacob Mosers (1701—1785). Z u r E n t stehung des historischen Positivismus i n der deutschen Reichspublizistik des 18. Jahrhunderts, B e r l i n 1968, S. 92 ff. 80 Z u K u l p i s vgl. Roeck, Reichssystem u n d Reichsherkommen (FN 26); vgl. aber auch f ü r das späte 18. Jahrhundert den Rückgriff auf die mnemotech-
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tionen Zeillers, Müllers und Schweders schon jener Rahmen abgesteckt sein, der für die Wirkung der „Politica methodice digesta" auf das regional-föderale Gedankengut i m Alten Reich i n Frage kommt. Doch nicht nur i m Konföderationswesen ist der Name Althusius der Reichsstaatsrechtslehre erhalten geblieben. Die breite Auseinandersetzung mit den Theoremen des Thomas Hobbes und Niccolo Macchiavellis, die nach 1650 gleichfalls einsetzt und sich recht oft zugleich den Lehren der Monarchomachen zuwendet, hat sich nicht immer so scharf von den Lehren der Volkssouveränitätstheoretiker abgesetzt, wie dies bei Hermann Conring, Johann Heinrich Boeder oder aber Johann Nicolaus Hertius der Fall war. Vielfach muß man jedoch hier auf die Disputationen zurückgreifen, die keineswegs nur als Gelegenheitsschriften anzusehen sind. Nimmt man einmal die Erwähnung der „ J u r i s p r u d e n t Romana" bei dem Jenenser Professor Georg Adam Struve i m Jahre 1659 aus 81 , dann findet sich ein erster weitergehender Bezug auf die „Politica methodice digesta" 1665 i n der zu Wittenberg publizierten „Disputatio politica de legibus fundamentalibus", die unter dem bisher weithin unbekannten, gleichwohl aber ein Jahrhundert später in Göttingen noch zitierten Theologen Michael Wendler verteidigt wurde". Der Verfasser der Disputation ist freilich nicht Wendler, der sich zuvor schon durch die Publikation einer „Philosophia practica" einen Namen gemacht hatte, sondern der Respondent Johann Georg Pflug aus Meißen — ein nicht gerade untypischer Fall für den akademischen Betrieb der deutschen Universitäten. Pflug weist zwar die Althusianische Souveränitätsauslegung zurück, weiß aber ansonsten die „Politica methodice digesta" in ihrer Bedeutung nischen Systeme, die dem Ramismus auch eigen waren, bei [D. Nettelbladt], Schematicus Conspectus universi iuris positivi, sistens celeberrimi Profesoris D. Danielis Nettelbladt systema elementare universae iurisprudentiae positivae communis i m p e r i i Romano Germanici usui fori accomodatum, Halle 1750. Als Motto ist eine Bemerkung Christian Wolffs angegeben, die auf das Nützlichkeitsmoment u n d zugleich das Ganzheitselement des mnemotechnischen Systems abhebt — beides Gesichtspunkte, die auch i m Ramismus i m Vordergrund standen: „Per tabulas mnemonicas obtinere licet, quod i m possibile alias habetur, u t r e r u m u t i l i u m n o t i t i a m conserves" aus: Hora subseciva Marburgensium 1723). 81 Georg Adam Struve, Dissertatio juridica de publicis judiciis, Resp.: Rudolf Steinow, Jena 1659, § Nr. X X X X V I I . — Z u Struve siehe R. Stintzing, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 2. Abt., München-Leipzig 1884, S. 246 ff.; G. Kleinheyer/J. Schröder, Deutsche Juristen aus fünf J a h r h u n derten, Heidelberg 21983, S. 353 (in Zusammenfassung). 82 Michael Wendler, Disputatio politica de legibus fundamentalibus . . . , Johannes Georg Pflug . . . A [ u t o r ] & R[espondens], Wittenberg 1665, insbes. S. A 3 v ° ff. sowie (in A n k n ü p f u n g an Besold), S. D. — Z u r W i r k u n g Wendlers siehe R. Wedekind, Dissertatio iuris naturalis et politica de obligatione c i v i u m erga principem tyrannum, A u t h . et Respondens: P h i l i p p Iacob Henricus Wiering, Göttingen 1748, S. 13. Vgl. hierzu auch unten. IB*
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für die Rolle der Fundamentalgesetze i m Reich zu würdigen. Auch 1668 w i r d i n einer Disputation unter Wilhelm Leiser in Wittenberg abermals Althusius als wichtige Referenz angeführt — diesmal i m Zusammenhang mit dem Huldigungseid und damit dem weiteren Feld des Vertragscharakters, in den die Herrschaft hier hineingestellt ist 63 . Die Frage der Fundamentalrechte, die i m Umfeld der Wahlkapitulationen regelmäßig zu wichtigen und wichtigsten Diskussionsgegenständen wurden 8 4 , ist abermals 1671 i n einer Rostocker Disputation angeschnitten. Auch diesmal schöpfte der Autor aus jenem Arsenal, das die Althusianische „Politica methodice digesta" hierfür bereitstellte, um seine eigenen Thesen zu untermauern. Es darf dabei nicht als Zufall angesehen werden, daß gerade an der Rostocker Universität auf solche Fragen zurückgekommen wird: die mecklenburgischen Stände, die im Verlaufe des 18. Jahrhunderts die Landesherrschaft mehrfach herausforderten, ließen die theoretische Problematik des Herrschaftsverhältnisses wie von selbst i n die akademische Diskussion gelangen. Die entsprechende Parallele zum Reich, die seit den Festlegungen des Instrumentum Pacis sich als Analogie geradezu aufdrängte, konnte dabei ebenso problemlos wie durchschlagend auf die landständischen Verhältnisse übertragen werden. Die genannte Disputation, unter Johann Sibrand verteidigt und von dem mecklenburgischen Adligen Jaspar Friedrich v. Lehsten verfaßt 04 , darf als Modellbeispiel dafür angeführt werden, wie die Vertragslehre auch für die landständischen Rechte i n der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Reich benutzt werden konnte. M i t jener Unterstützung, die durch die Verfügung Kaiser Leopolds I. i m Jahre zuvor gegen die Ausweitung der landesherrlichen Rechte auf die finanzielle Belastung der Landstände vorgenommen worden war 8 5 , hat Lehsten ein theoretisches 63 Wilhelm Leiser, Dissertatio inauguralis de juramento fidelitatis subdititio, Resp.: Franciscus Mühlmann Witebergensis, Wittenberg 1668, These 31 (unter Bezug auf Kap. X X der „Politica"). 64 Vgl. beispielsweise M. Göhring, Kaiserwahl u n d Rheinbund v o n 1658. E i n Höhepunkt des Kampfes zwischen Habsburg u n d Bourbon u m die Beherrschung des Reiches, i n : M. G ö h r i n g / A . Scharff (Hrsg.), Geschichtliche K r ä f t e und Entscheidungen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Otto Becker, Wiesbaden 1954, S. 65 ff.; zum Wiederaufleben 1711 siehe G. Pich, Das Bemühen der Stände u m eine beständige Wahlkapitulation u n d i h r Ergebnis 1711, Diss. iur. Mainz 1969; ebenso G. Kleinhey er, Die kaiserlichen W a h l kapitulationen. Geschichte, Wesen u n d Funktion, Karlsruhe 1968. 65 Joh. Jacob Moser, Betrachtungen über die Reichstagshandlungen 1670 wegen Ausdehnung des § 180 des Reichsabschieds 1654 u n d über die kaiserliche Resolution v o m 19./29. Oktober 1670, i n : ders., Rechtsmaterien, Stück 8, U l m 1775, S. 732—770; siehe hierzu jetzt auch ergänzend Menk, Absolutismus u n d Regierungsform i n Waldeck (FN 57); zum § 180 siehe ebenfalls J.J. Moser, Geschichte des § 180 Reichsabschieds vom Jahr 1654 der Land-Stände u n d Unterthanen Beytrag zu der Militar-Verfassung ihrer Landes-Herren
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Gebäude entworfen, das auch weiterhin in der Reichsstaatslehre Beachtung fand. Es unterschied sich nur i n einer, freilich nicht unerheblichen Position von der Althusianischen Staatstheorie: Lehsten geht von der Staatssouveränität, nicht von der Volkssouveränität aus. Geschickt nutzt der mecklenburgische Adlige jedoch die Verfassungsform des Reiches, um diese für die landständischen Verhältnisse fruchtbar zu machen. Daß die Althusianische Staatslehre zu Beginn der 70er Jahre wieder stärker in das Blickfeld des Interesses rückte, zeigt auch die Inauguraldisputation des jungen Christian Thomasius, die in ganz zentraler Weise eine Auseinandersetzung mit der Althusianischen Souveränitätslehre darstellt 66 . Der frühere Herborner Professor bildete jedoch nicht nur zu diesem Zeitpunkt einen Gegenstand der K r i t i k , sondern blieb weiterhin, wenn auch in Ausnahmefällen, ein Autor, auf den etwa in ständischen Auseinandersetzungen zurückgegriffen wurde. I m Falle der Stadt Lübeck läßt sich dies beispielhaft nachweisen 67 . Aber auch ganz generell behielt er i m theoretischen Umfeld der ständischen Auseinandersetzungen ein beachtliches Gewicht. Deutlich w i r d dies etwa in einer Rostocker Disputation, in der 1695 der Sohn des oben schon erwähnten Johann Sibrand, Joachim Heinrich Sibrand, als Präses fungiert 68 . Der künftige Professor der Rostocker Universität, später auch als Konsulent der Universitätsstadt i n den Auseinandersetzungen mit dem mecklenburgischen Landesherrn tätig, ließ durch den Respondenten Hans Albrecht Butzmer die verschiedenen Auffassungen der bekannteren Reichspublizisten über die Verfassungsform des Reiches zusammenstellen. Die Schrift des Butzmer ist eher eine Sammlung von Meinungen, als daß sie sich selbst zu bebetreffend. Aus denen Reichs- und Wahl-Tags-Handlungen, in: ders., Nebenstunden von Teutschen Staats-Sachen . . 5 . Teil, Frankfurt-Leipzig 1758,
S. 727 ff. und 6. Teil, Frankfurt-Leipzig 1758, S. 747 ff. (Fortsetzung des Vorigen).
86 Christian Thomasius, Disputatio politica & D u p l i c i majestatis subjecto, Resp.: Henricus Hofferus Neostad. Varisco, Leipzig 1672; hierzu jetzt R. Hoke, Die Staatslehre des jungen Thomasius. Seine Erstlingsschrift aus dem Jahre 1672, i n : Festschrift H. Demelius, Wien 1973, S. 111 ff. Z u Thomasius siehe N. Hammerstein, Jus u n d Historie. E i n Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten i m späten 17. und i m 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, S. 43 ff.; K . Luig, Christian Thomasius, i n : Stolleis, Staatsdenker i m 17. u n d 18. Jahrhundert (FN 50), S. 228 ff. Wenig beachtet geblieben sind bislang die Reaktionen Thomasius' auf die Glorious Revolution sowie seine scharfzüngigen Bemerkungen gegenüber den Monarchomachen zu einem späteren Zeitpunkt. 87 Ausführlich J. Asch, Rat u n d Bürgerschaft i n Lübeck 1598—1669. Die verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen i m 17. Jahrhundert u n d ihre sozialen Hintergründe, Lübeck 1961, S. 142 ff. 88 Joachim Henricus Sibrandus, Dissertatio juris publici, varias auctorum sententias de statu seu forma S. R. I m p e r i i exhibentem, Resp.: Hans Albrecht Butzmer, Rostochiensis, Rostock 1695. Sibrandus ist hier als ,,U[triusque] Jfuris] doctorandus" genannt. Vgl. zur Disputation Palladini, Discussioni (FN 47), S. 161 f.
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stimmten Auffassungen bekennt — und hier scheint sie mehr an Luder Mencken denn an Johann Sibrand, die beiden Lehrer des jungen Rostokker Juristen, anzuknüpfen. Gleichwohl w i r d ein Panorama an mehr oder weniger prononcierten Auffassungen etwa zur Foederalisierung des Reichs — etwa i n Parallele zu den Niederlanden — vorgeführt, die ohne jeden Zweifel auch problematische Punkte nicht ausschloß. Die eher summarische denn sachlich-kritische Darstellung der Lehrmeinungen ließ es auch immerhin zu, daß Sibrand bzw. Butzmer i n der Souveränitätsfrage Bodins Auffassungen unmittelbar neben jene Philipp Heinrich Hoenonius' stellte — fraglos ein kühnes Unternehmen, vielleicht aber doch mit einem Hintersinn, der die Zitierung auch der diskreditierten Monarchomachen möglich machte. Neben den „Vindiciae contra tyrannos", die Sibrand ebenso wie Clemens Timplers Politiklehre i n seinem an zitierten Autoren reichen Opusculum zum Nachweis der eigenen Gelehrsamkeit aufführt, ist auch Johannes Althusius bemüht. Es scheint so kaum zufällig, daß Sibrand i n der Frage der Unterscheidung zwischen „status reipublicae" und „administratio reipublicae" auf eine Stelle i n der „Politica methodice digesta" verweist, die deutlich wie kaum eine andere die Lehre von der Volkssouveränität herausstellt: „Sed male, meo judicio, ita Bodinus distinguit. Nam ex sola administrandi potestate species magistratuum sumuntur, atque hac cognoscuntur, num Uli sunt polyarchici . . . Jura majestatis semper, in omnibus speciebus magistratuum & in omnibus administrationibus sunt populi .. ." β β Die Vorsicht, mit der in Rostock Fragen der Volkssouveränität berührt wurden, besitzt trotz — oder gerade wegen — der so bedeutsamen ständischen Frage i n Mecklenburg nicht den Rang der Einzigartigkeit. Ein weiteres Beispiel für die zurückhaltende Behandlung kritischer Auffassungen läßt sich auch an einer Helmstedter Disputation erkennen, die i m Jahre 1676 unter dem Titel „Dissertatio juridica de variis potestatibus Romani et Germanici Imperii, tum specularium [!], t u m ecclesiasticorum magistratuum" erschien 70 . Auch hier, an jenem Orte, wo Conring ja immer noch lehrte, sind Auffassungen i n äußerst vorsichtiger Form vertreten worden, die sicherlich nicht in jeder Hinsicht den Beifall des großen Gelehrten fanden. Freilich verlagert der Autor und Respondent zugleich das Problem i n der Weise, daß er — dem Moment des Historischen Rechnung tragend 71 — seine Handlungsszenerie ins Altertum ver69 Hoen ist m i t der Disputatio 9 — neben Bodin u n d Timpler — zitiert auf S. 6, Althusius S. 15, u n d die „Vindiciae" als Beispiel f ü r die begrenzte Rolle kaiserlicher Macht S. 27. — Die entsprechende Stelle i n der „Politica" H e r born 31614, S. 943 f. 70 Praeses der Disputation: Henricus Hahnen, A u t o r & Resp.: Jacobus A n d r . Crusius Hann. 71 Vgl. Hammerstein, Jus u n d Historie (FN 66).
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legt. Die Parallelen zur Gegenwart sind jedoch hier wie anderswo schlagend — der Praeses Hahnen bzw. der Respondent Crusius griffen jeweils auf Autoren zurück, die — wie etwa François Hotmans „Francogallia" — auf den ersten Blick unverfänglich waren, gleichwohl aber den monarchomachischen Kern in sich trugen 72 . Johann Heinrich Sibrand blieb nicht der einzige Publizist, der i n den 90er Jahren des 17. Jahrhunderts die „Politica methodice digesta" nicht mehr nur i n negativer Absicht oder aber an versteckter Stelle nannte, sondern als zentralen Beleg für seine staatstheoretischen Maximen benutzte. Bereits drei Jahre vor der Sibrandschen Disputation ist nämlich 1692 i n J. C. Manders „Antworts-Schreiben an Curiosum Sincerum" Johannes Althusius i n einer Frage zitiert, die die gegenseitige Bindung zwischen Fürst und Untertanen betrifft 7 3 . Zugleich mit Besold und Knichen, die ebenfalls an der entsprechenden Stelle bei der Erörterung des Huldigungseids genannt sind, versucht Mander den Vertragscharakter der Herrschaft zu erläutern, wobei die aus der Huldigung erwachsenden Verpflichtungen für die Untertanen ebenfalls deutlich herausgehoben sind. Indem die „Politica methodice digesta" auch für die Rechte der Untertanen gegenüber der Obrigkeit reklamiert wird, wie dies hier der Fall ist, w i r d sie zwar nicht verfremdet, ist doch die Gegenseitigkeit des Herrschaftsbezugs eine ihrer fundamentalen Interpretamente. Freilich ist der Verpflichtungscharakter stärker von der obrigkeitlichen Seite gesehen — sie läuft viel eher als die Untertanen Gefahr, dem Zweck der Herrschaft und dem geschlossenen Vertrag gerecht zu werden. Eine Intensivierung jenes Literaturgenres, das die Vertragsmomente der Herrschaft betonte, das Eingrenzung und Konsens nach vorne stellte, ergab sich jedoch erst nach der Jahrhundertwende im Reich. Sichtlich befruchtend wirkten sich dabei die Publikationen aus, die nach der englischen Glorious Revolution erschienen und geradezu als Paradigma für die Bindung und vertragsmäßigen Begrenzung herrschaftlicher Macht spielten: einerseits John Lockes „Two Treatises of Government", andererseits i n sehr viel gründlicherer Weise noch die hierzulande bisher unbeachtet gebliebenen „Discourses concerning Government", die aus der Feder des während der Stuart-Herrschaft hingerichteten Algernon Sidney rührten 7 4 . Die Anleihen, die die englische Staatstheorie schon 72 Hotmanns „Francogallia" findet sich zitiert bei Hahnen, Dissertatio j u r i dica, auf S. Β 2 v ° . 73 J. C. Mander , Antworts-Schreiben an Curiosum Sincerum, Betreffende I. den I n h a l t der Churf. Sächß. gnädigsten Landtags-Proposition de dato den 14. Feabr. 1692 U n d einige Anmerckungen darüber; Ingleichen I I . ein G u t achten über den i n Druck herausgekommenen Tractat De Comitiis P r o v i n cialibus, oder: Gründlichen Bericht V o n Land-Tagen . . . , s. 1. 1692, S. 7. 74 Z u m aktuellen Zusammenhang der Lockeschen Theorie, die vor der Glorious Revolution i n der Auseinandersetzung m i t Filmers Patriarcha ent-
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d u r c h John Milton , z u v o r aber d u r c h Henry Parker u n d später v o r a l l e m d u r c h George Lawson b e i der Reichsstaatstheorie u n d der I n s t i t u t i o n des Reiches m a c h t e 7 5 , w u r d e n j e t z t w i e d e r zurückbezahlt. Schon setzte eine überaus b r e i t e A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e n englischen T h e o r e t i k e r n ein, w o b e i die z u v o r d o m i n i e r e n d e n T h o m a s Hobbes u n d J o h n M i l t o n n u n m e h r an d e n R a n d oder i n d e n H i n t e r g r u n d abgedrängt w u r d e n . Z u diesem Z e i t p u n k t k a m f r e i l i c h n i c h t n u r die j ü n g s t e englische Staatstheorie w i e d e r zu v e r s t ä r k t e r W i r k u n g i m Reich, s o n d e r n auch die n i e d e r l ä n d i s c h e n U n i v e r s i t ä t e n w i r k t e n w e i t e r h i n v e r s t ä r k e n d auf die Reichsstaatsrechtslehre zurück. N e b e n Ulricus Hub er, e i n e m Schüler J o h a n n Jacob Wissenbachs 7 8 , u n d der d u r c h g ä n g i g w e s e n t l i c h e n R o l l e Hugo Grotiusdessen K o m m e n t a t o r e n i n n e r h a l b der deutschen P u b l i z i s t i k j a k a u m z u übersehen s i n d 7 7 , t r i t t j e t z t ein J u r i s t auch i n das R a m p e n l i c h t , der bisher ebenfalls k a u m beachtet ist: der i n F r a n e k e r , U t r e c h t u n d schließlich i n L e i d e n w i r k e n d e Gerard Noodt 78. D i e nach der W e n d e v o m 17. z u m 18. J a h r h u n d e r t einsetzende v e r s t ä r k t e K e n n t n i s n a h m e der englischen A u t o r e n , die B e r ü c k s i c h t i g u n g der niederländischen, insbesondere j e t z t der L e i d e n e r J u r i s p r u d e n z , zeigt stand, siehe P. Laslett (Hrsg.), John Locke: T w o Treatises of Government, Cambridge 1960; siehe — aus der breiten L i t e r a t u r — u. a. J. W. Gough, John Locke's Political Philosophy, Oxford 1950; J. Dunn, The Political Thought of John Locke, Cambridge 1969; Franklin , John Locke (FN 20); J. H. M. Salmon, A n Alternative Theory of Popular Resistance: Buchanan, Rossaeus and Locke, i n : D i r i t t o e potere nella storia europea (FN 21), S. 824 ff.; M. Goldie, John Locke and Anglican Royalism, i n : Political Studies 31 (1983), S. 61 ff.; J. Zvesper, The U t i l i t y of Consent i n John Locke's Political Philosophy, i n : Political Studies 32 (1984), S. 55 ff. (in den letztgenannten Publikationen auch die weitere, sehr umfangreiche englischsprachige L i t e r a t u r zur Staatstheorie Lockes und dessen Umfeld); zu Sidney siehe vor allem E. Reibstein, Volkssouveränität u n d Freiheitsrechte. Texte u n d Studien zur Politischen Theorie des 14.—18. Jahrhunderts, hrsg. von C. Schott, Bd. 1, Freiburg-München 1972, S. 404 ff. 75 Schubert, Volkssouveränität u n d Heiliges Römisches Reich (FN 6) ; Franklin, John Locke (FN 20). 78 Siehe Feenstra, Franeker juridische faculteit; ausführlicher Veen, Recht en Nut, auch zu den Studien u. a. auch i n Marburg u n d Heidelberg (beide F N 44). 77 Siehe hierzu E. Reibstein, Deutsche Grotius-Kommentatoren bis zu Christian Wolff, i n : Zeitschr. f ü r ausl. öff. Recht u n d Völkerrecht 15 (1953/54), S. 76 ff.; zu Grotius und zum Grotianischen Naturrecht zuletzt R. Tuck , Nat u r a l rights theories. Their origin and development, Cambridge U P 1979; vgl. auch H. Hof mann, Hugo Grotius, i n : Stolleis, Staatsdenker i m 17. u n d 18. Jahrhundert (FN 50), S. 51 ff. 78 Z u Noodt (1647—1725) siehe u.a. die Biographie J. Barbeyracs, i n : G. Noodt, Opera omnia, Leiden 1735 (zuvor auch erschienen i n K ö l n 1732); W. van der Twee, Twee Nederlandse meesters der rechtsgeleerdheid, Leiden 1916 (betr. Ulricus Huber u n d Gerard Noodt). Eine umfangreichere Monographie ist i n Vorbereitung durch den Utrechter Juristen G. C. J. J. van den Bergh.
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— trotz aller deutschen Besonderheiten — die immer noch engen Bindungen und Verbindungen der alteuropäischen Staatstheorie. Nach der Jahrhundertmitte öffnete sich das Spektrum weiterhin, indem Montesquieus „De l'esprit de Lois" rasch Beachtung und zugleich Berücksichtigung i n zumindest einem Teile der Reichsstaatslehre fand. Doch bereits schon durch Locke und Sidney traten wieder bekannte Figürlichkeiten in den Vordergrund, die zwischenzeitlich in der Reichspublizistik ganz an den Rand der Betrachtung abgedrängt worden waren: die Volkssouveränität und der Repräsentationsgedanke sowie die sich daraus ableitenden Formen einer ebenso balancierten wie institutionalisierten Machtbegrenzung. Das Heilige Römische Reich bot hierzu freilich einen Rahmen, der kaum schlechter als die englischen oder polnischen Gegebenheiten für die Applikation der entsprechenden Theoreme taugte. Die Frühaufklärung rückte darüber hinaus jetzt auch die Territorien i n einen Sinnzusammenhang, der bislang in der bekannten Weise undenkbar war. Die ständische Frage, wie sie etwa i n Mecklenburg, aber auch in Ostfriesland Gegenstand auch der theoretischen Betrachtung wurde, beförderte dabei sichtlich die fließenden Übergänge vom Reich zu dessen Territorien. Der unübersehbar sichtbare Wechsel der Parameter wäre jedoch kaum in der erfolgten Weise eingetreten, wenn nicht entsprechende personelle Konstellationen ihn in ganz erheblicher Weise unterstützt hätten. Einerseits ist dabei auf die Rolle des Göttinger Kanzlers Gerlach Adolph von Münchhausen zu verweisen 79 , der nicht nur in Halle unter Gundling und Thomasius und in Jena unter B. G. Struve und Christian Wildvogel studierte, sondern auch zwischenzeitlich die Niederlande bereiste und sich hier vornehmlich an der Universität Utrecht aufhielt. Münchhausen hat es später verstanden, nicht nur der von ihm später so deutlich mitgeformten Göttinger Universität geistige Freiräume zu verschaffen, wie er sie wahrscheinlich aus den Niederlanden kannte. Zugleich hat er vielmehr die Göttinger Staatstheorie an jene neuen Aspekte und Momente — schon durch die von ihm betriebene Personalpolitik — anzuschließen gewußt, wie sie sich i n England, aber auch den Niederlanden Bahn gebrochen hatten. Die Übernahme der englischen Krone durch K u r 79 Zu Münchhausen siehe F. Frensdorff, Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen, in: A D B 22, Leipzig 1885, S. 729 ff.; E. F. Rössler, Die G r ü n dung der Universität Göttingen. Entwürfe, Berichte und Briefe der Zeitgenossen, Göttingen 1855, S. 10 ff.; Hammerstein, Jus und Historie (FN 66), S. 312 ff. u. ö.; siehe jetzt auch — mehr am Gesamtbild Göttingens orientiert — Ch. Ε. McClelland, State, Society, and University i n Germany 1700— 1914, Cambridge U P 1980; zum universitätsgeschichtlichen Hintergrund siehe auch N. Hammerstein, Universitäten des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation als Ort der Philosophie des Barock, in: Studia Leibnitiana X I I I , 1981, S. 242 ff.; R.J.W. Evans, German Universities after the T h i r t y Years War, i n : History of the Universities, Bd. 1: Continuity and Change i n earlay modern Universities, A v e r b u r y 1981, S. 169 ff.
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hannover bot hierfür auch äußere Voraussetzungen, wie sie ansonsten nicht besser gegeben waren. I n enger Verbindung zu Münchhausen hat dabei der Hildesheimer Ständesyndikus und spätere Hannoveraner Vizekanzler David Georg Strube 80 jenen neuen und doch zugleich alten staatstheoretischen Merkmalen Kontur gegeben, die den Umkreis Münchhausens — sei es innerhalb, sei es außerhalb der Göttinger Universität — kennzeichnen. Strube, ein Schüler Gerard Noodts, läßt aber gleichfalls die Wirkung der Jenenser Tradition erkennen, die Christian Wildvogel repräsentiert. Der Ständesyndikus und Hannoveraner Vizekanzler steht zu gleicher Zeit für jene historisierende Schule, die Halle kennzeichnete 81 . Zudem werden aber i n Strubes Werk, das keine abgerundete Form enthält, gleichwohl bis i n die vormärzlichen Auseinandersetzungen Beachtung fand, die Impulse aus der englischen Staatstheorie Lockescher und Sidneyscher Prägung wie auch die schon die Wirkungen der Montesquieuschen Staatslehre erkennbar. Die Strubenschen Horizonte sind weit gefaßt und reichen sogar über den europäischen Kontinent hinaus — einer intellektuellen Verengung der Dinge, wie sie an kleineren Universitäten festzuhalten ist, unterlag der landständische Syndikus jedenfalls nicht. Bisher weit bekannter als Strube, in den staatstheoretischen Maximen ihm nicht fernstehend, sind sowohl der Göttinger Jurist Johann Stephan Pütter 82 als auch der Reichspublizist Johann Jacob Moser 83 geworden. Moser, wie Strube ein gewesener Ständesyndikus, hat dabei staatstheoretisch ebensosehr durch seine „Kleinen Schriften" wie durch die voluminösen größeren Editionen gewirkt, die ihm auch heute noch vielfach seinen Ruhm und Ruf sichern. Auch bei Pütter lohnt es sich, in die kleineren Werke zu sehen, um den von Münchhausen beförderten 80 Z u Strube siehe vor allem F. Frensdorff, David Georg Strube, in: A D B 36 (1893), S. 635 ff.; C. W. G. Wesenberg, Der Vizekanzler. G. Strube, ein hannoverscher Jurist des 18. Jahrhunderts. Seine staatsrechtlichen A n schauungen u n d deren Ergebnisse, Hannover 1907; Hammerstein, Jus u n d Historie (FN 66), S. 320 f., 324 f. u. ö. 81 Ausführlich Hammerstein, Jus u n d Historie (FN 66), S. 148 ff. (unter Berücksichtigung Joh. Peter v. Ludewigs, N. H. Gundlings, dem Lehrer Münchhausens). 82 Z u i h m siehe F. Frensdorff, Die Anstellung Pütters als Professor i n Göttingen, i n : Zeitschr. des hist. Vereins f. Niedersachsen (1883), S. 256 ff.; U. Schlie, Johann Stephan Pütters Reichsbegriff, Göttingen 1961; W. Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn, Göttingen 1975; J. Schröder, Wissenschaftstheorie u n d Lehre von der „praktischen Jurisprudenz" auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, 1979, S. 49 ff. u. ö.; zusammenfassend auch Hammerstein, Jus u n d Historie (FN 66). 83 Z u i h m siehe zuletzt vor allem R. Rürup, Johann Jacob Moser. Pietismus u n d Reform, Wiesbaden 1965; E. Schömbs, Das Staatsrecht Johann Jacob Mosers (1701—1785), B e r l i n 1968; M. Walker, Johann Jacob Moser and the H o l y Roman Empire of the German Nation, Chapel H i l l 1981.
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Zuschnitt Göttinger Staatstheorie zu erkennen. Freilich hat Pütter diesen nicht allein verkörpert: Gottlieb Samuel Treuer, von Helmstedt nach Göttingen berufen, bedarf ebenso der Beachtung wie etwa J. D. Köhler oder aber der ebenfalls i n der philosophischen Fakultät lehrende R. Wedekind, auf den später einzugehen ist 84 . Die hier gezogenen Linien schließen nur noch — bis auf die Ausnahme Wedekinds — mittelbar an die „Politica methodice digesta" an, benutzen jedoch fast ausschließlich jene Muster, die i n der wichtigsten Althusianischen Schrift auch vorhanden sind. So macht Treuer den Versuch, die rechtliche Beurteilung von Fällen, in denen die landesherrliche Macht übersteigert auftritt und hiergegen ein Rechtsmittel eingelegt wird, vom Reichshofrat an den Reichstag zu verlagern, wo Kaiser und Reichsstände gleichermaßen handeln: „ N u m autem iure territoriali quis abusus sit contra leges imperii, de eo iudex competens non est Caesar solus, non unus vel alter status imperii, non privatus quisque, se Caesar & imperium in comitiis rem dispiciens." 85 Nicht nur diese Forderung, die eine erhebliche Aufwertung des Reichstages bedeutet hätte, erinnert an Johannes Althusius, sondern das ganze System konsensualer Bindung von Macht, wie sie i m Reich als gegeben erachtet wird, deckt sich überaus weitgehend mit den Grundaussagen der „Politica methodice digesta". Geltung besitzen die Aussagen natürlich auch für die Rechte einer Landesherrschaft, die keineswegs übersteigerten Mustern verpflichtet sein dürfen, wollen sie dem Herrschaftszweck entsprechen: „Imperia ipsa, quae dicuntur absoluta et arbitraria, carent quidem conditionibus humanis, toto regimine & exercitio iurium summi imperii a civibus imperantis arbitrio sine ulla conditione relicto: habent tarn certos limites in legibus naturalibus & i n fine totius societatis civilis, secura nempe commodaque vita, ob quam cives se summo imperio subiecerunt 88 ." 84
Z u Köhler siehe Hammerstein, Jus und Historie (FN 66), S. 352 ff. Gottl. Samuel Treuer, M o n s t r u m a r b i t r a r i i I u r i s territorialis a legibus I m p e r i i e Germania profligatum, F r a n k f u r t - L e i p z i g 1739, S. 33. Die Schrift ist offensichtlich aus einer akademischen Rede oder Vorlesung an der Göttinger Universität hervorgegangen. 88 Ibid., S. 12. Vgl. auch schon die einleitenden Bemerkungen Treuers: „ T o tus fere orbis terrarum factus est Hobbesianus: adeo imperium, non dicam despoticum, saltem absolutum & a r b i t r a r i u m ubivis loci defendi, commendari exerceri solet. Non de officiis iustitiae, aequitatis, dementias summorum exolicantur scriota, sed de summo duntaxat iure eorum omnia personant: de iure c i v i u m subditorum a l t u m ubvis silentium, ac si i n numéro servorum hominumque propriorum habendi essent." (ibid., S. 3 f.) Siehe auch zuvor schon [G. S. Treuer], W i l h e l m Freyherrn von Schrödern Disquisitio politica v o m Absoluten Fürsten - Recht, M i t nôhtigen Anmerckungen versehen, L e i p zig-Wolfenbüttel 1719. — Z u m Gesamtrahmen vgl. Ch. Link, Herrschaftsordnung u n d bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt i n der älteren deutschen Staatslehre, W i e n - K ö l n - G r a z 1979. Der Rahmen der vorhandenen gedruckten Quellen ist hier jedoch nicht ausgeschöpft. 85
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Treuer stützt sich an dieser Stelle freilich nicht auf die Ausführungen eines Thomas Hobbes, mit denen der letzte Teil seiner Feststellungen übereinzustimmen scheint, sondern er bemüht hier Gerard Noodt, dessen Schriften ihm ebenso vertraut waren wie auch David Georg Strube, der ja unter Noodt studiert hatte. Die Einbindung auch der Landesherrn in ein System von Verträgen, wie es Treuer in seinen Schriften darlegt, erfährt eine ganz wichtige Ergänzung bei David Georg Strube: Bei ihm t r i t t nun auch das Prinzip der Volkssouveränität hinzu — jenes staatsrechtliche Institut, das ein knappes Jahrhundert zuvor und ganz überwiegend auch zu Anfang des 18. Jahrhunderts noch dem Verdikt größter Gefährlichkeit anheimfiel. I n der „Abhandlung von Landständen", die zeitlich nach der früheren Publikation „Observationum juris et Historiae Germanicae decas" erschien, kommt Strube auf die Rolle des Volkes zu sprechen, die er nicht nur für das Altertum, sondern auch für die Gegenwart zu umschreiben versucht. „Auch in diesen Zeiten", so Strube, „äußert sich die Freyheit des Volcks, und es sind solche Beweißthümer derselben fürhanden, die diejenige weit übertreffen, die dawider angeführet." Er schließt diese dann aus der Repräsentation des, „Volks": „Sogar auf den Reichs-Tagen findet man nicht nur Fürsten und Herren, sondern auch das Volck, mit dessen Zuziehung die wichtigsten Regiments-Geschäfte verrichtet wurden." 87 Strube läßt dabei keinen Zweifel, wen er unter dem Volk versteht: „Einige halten zwar dafür, die alten Gesetze und HistorienSchreiber verstünden dadurch den Hohen Adel, weil vielfältig allein dieser in den Reichsversammlungen und sogar i n den Placitis generalibus nur Optimates erschienen. Es lässet aber Taciti Bericht niemand zweifeln, daß in den ältesten Zeiten nicht bloß der Nobilium, sondern auch der Ingenuorum Einwilligung zu den Schlüssen erfordert worden." 8 8 Der hannoversche Vizekanzler i m engeren Umfeld Gerlach Adolph von Münchhausens legt dann dar, daß „das Wort Populus nicht den gemeinen Pöbel" umschließe — eine ebenso wichtige wie der Tradition der Volkssouveränitätstheorie entsprechende Definition. Als Beispiel hierfür dient ihm England, zugleich aber w i r d die Repräsentation auf dem Reichstag zum Kriterium für die Zugehörigkeit zum „populus": „Gleichwie in England das Hauß der Gemeinde, keine schlechte Leute, sondern diejenigen in sich fasset, welche die Gemeinde oder das Volck darstellen, so bestünde auch aus diesen der Populus, welchen man auf den alten 87 David Georg Struben, Nebenstunden, Zweyter Teil, Hannover 1747, Zehnte Abh.: „ V o n Land-Ständen", S. 424 ff., hier S. 437. Die „Nebenstunden" wurden 1789 i n Darmstadt nachgedruckt. Die „Observationum juris et historiae Germanicae decas" erschienen zuerst 1735, wurden dann aber mehrfach nachgedruckt und haben noch stärker nachgewirkt als die Nebenstunden. 88 Ibid.
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Teutschen Reichs-Tagen findet. Solche Männer werden, wenn man sie mit dem größten Hauffen armer und schlechter Einwohner des Landes, die ohne alle Würde sind, vergleichet, gar wohl optimates genannt." 89 Strubes Erörterungen, die hier nur i n Knappheit vorgetragen wurden, lassen ein Stück jenes intellektuellen Milieus erkennen, das Münchhausen früh schon geschaffen hatte und das i n den Disputationen der Göttinger Juristen und Philosophen einen theoretisch abgerundeten Charakter gewinnt. Die „Dissertatio inauguralis de legum Imperii fundamentalium et civilium differentia", die Samuel Jacob Mettingh 1763 unter Johann Stephan Pütter verteidigte 90 , enthalten beispielsweise alle Elemente des Vertragsrechts und der daraus zu ziehenden Folgerungen, wie sie zuvor bei Treuer oder bei Strube i n weniger großer Ausführlichkeit erörtert wurden. Das Reich und seine Territorien spielen dabei die zentrale Rolle, wobei die historische Seite in Pütters Argumentation nicht zu kurz kommt. Freilich blickt Pütter — wie zuvor schon Strube — über die Gegebenheiten des Reichs hinaus und eröffnet so einen Horizont, der der Göttinger Wissenschaftlichkeit insgesamt eigen ist. Sind i n der Pütterschen Disputation keine Quellenangaben — außer den unmittelbaren Belegen aus den Festlegungen des Reichsstaatsrechts — vorhanden, so finden w i r i n der 1748 unter dem Göttinger Professor der Philosophie Rudolf Wedekind verteidigten „Dissertatio iuris naturalis et politica de obligatione civium erga principem tyrannum" auch all jene Literatur, die bis auf das frühe 17. Jahrhundert die entsprechenden Titel aus dem Bereich der Reichsstaatsrechtslehre versammelt 9 1 . Der Respondent und zugleich der Verfasser der Abhandlung, Philipp Jacob Henricus Wiering, zeigt sich dabei nicht nur mit den Treuerschen Schriften vertraut, sondern greift auch auf Johannes A l t h u sius' „Politica methodice digesta" bei der begrifflichen Bestimmung des Tyrannen zurück 92 . Zugleich läßt die Dissertation alle jene Merkmale — 89
Ibid., S. 439. Joh. Stephan Pütter, Dissertatio inauguralis de legum i m p e r i i fundam e n t a l e m et c i v i l i u m differentia, Resp.: Samuel Iacob Mettingh, Göttingen 1763. 91 Rudolf Wedekind, Dissertatio iuris naturalis et politica de obligatione c i v i u m erga principem tyrannum, A u t h . & Resp.: Philippus Iacobus Henricus Wiering, Göttingen 1748. Wedekind (1718—1788) ist hier noch als A d j u n k t der philosophischen F a k u l t ä t angegeben, w i r d jedoch zwei Jahre später außerordentlicher Professor an der Georgia-Augusta und zusätzlich 1763 noch Pfarrer bei der dortigen Liebfrauenkirche. Außer der hier genannten Disputation ist noch eine Disputatio de maiestate von staatstheoretischem Belang, die unter i h m gehalten wurde (Joh. Steph. Pütter, Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-Augustus-Universität zu Göttingen, Teil 1, Göttingen 1765, S. 191 sowie Teil 2, Göttingen 1788, S. 62 f.). 92 Wedekind, Dissertatio naturalis (FN 91), S. 13 f. 90
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etwa den Verpflichtungscharakter der Herrschaft sowie die Vertragslehre mit all den aus dem Vertragsverhältnis erwachsenden Folgen 93 — staatstheoretischen Zuschnitts erkennen, wie er auch bei Pütter aufscheint. Bemerkenswert aber zudem, daß Wiering sich ausdrücklich von der Hallenser Tradition sowie auch — wenngleich nicht durchgängig — von der Grotianischen Staatslehre distanziert 94 . Bedeutete dies einen erheblichen Bruch mit scheinbar ehernen Prinzipien der Entwicklung des letzten halben Jahrhunderts, so verwundert freilich nicht die Absetzung von der monarchomachischen Doktrin, die Wiering als „crimen" bezeichnet 95 . M i t der Distanzierung von den monarchomachischen Schriften, zugleich aber der Übernahme zahlreicher Momente aus deren Gedankengut und überdies auch der Bezugnahme auf Autoren, die — wie Althusius und Timpler — diesem Kreis ohne Zweifel zugerechnet werden müssen, war der gordische Knoten durchschlagen, der zuvor Namen wie denjenigen des Althusius von vornherein diskreditierte. Der Umkreis der Göttinger Staatslehre, die hier nur sehr punktuell abgeleuchtet werden konnte und selbst die staatstheoretischen Traktate eines Rudolf Wedekind, geschweige denn die eines Johann Stephan Pütter i n ihrem ganzen Umfang berücksichtigt, läßt dennoch die neuen Maßstäbe erkennen, die an der hannoverschen Landesuniversität gesetzt wurden. Dabei bleibt freilich zu beachten, daß es sich hier nicht um ein theoretisches Gebilde um seiner selbst willen handelte, sondern daß die Göttinger Staatslehre i n eine Umgebung eingepaßt war, die über dieselbe Normenwelt verfügte. Den gemeinsamen Bezugspunkt bildete der Gründer Göttingens, Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen, dem eben nicht nur die Einrichtung einer neuen universitären Anstalt zu verdanken ist, sondern die Schaffung einer politischen Kultur, die Politik und Staatslehre i n weitgehendem Einklang sah. Insofern erinnert Göttingen i n starkem Maße an die Anstalt, an der Johannes Althusius nahezu zwei Jahrhunderte zuvor lehrte: das nassauische Herborn bzw. Siegen. Freilich zumindest mit einem gewichtigen Unterschied: Während 93
Ibid., S. 16 ff. Ibid., S. 24. 95 Ibid., A n m . y. Eine klare Absetzung erfolgt freilich auch von denjenigen Auffassungen, die festlegen, daß dem Fürsten immer zu gehorchen sei: „Sunt q u i principibus i n omnibus sine discrimnine obtemperandum esse docent, civiumque adeo obligationem ad extremum tyrannidis gradum extendendam esse asserunt. Praesidium suae sententiae potissimum ex eo repetunt, quod summus i n Republica imperans, q u i idem quoque summus legislator est, legibus nullis, nullique subsit obligationi; sed exlex plane sit censendus. U t taceam, petitionem p r i n c i p i i manifeste committi ab iis, q u i hanc ferunt sententiam, falsissima sunt, quae profitentur. Etsi v e l maxime enim summus i n Rep. imperans iisdem, quas subditis suis t u l i t , legibus non subest, nec subesse quidem potest, non omnibus tarnen, ideo statim legibus is solutus censendus est. N u l l a enim est tarn absoluta imperantium potestas, u t v i pact o r u m nullis adstricta sit limitibus." (ibid., S. 23). 94
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die Hohe Schule Nassaus ganz dem konfessionellen Geist verschrieben war, kann die hannoversche Landesuniversität doch weithin als dessen Überwinder gelten. Die Aufnahme eines so renommierten Mediziners wie Albrecht von Haller, einem Reformierten und zugleich guten Kenner der Herborner Wissenschaftsprinzipien 96 , macht dies ebenso deutlich wie die unbefangene Art, mit der etwa Namen wie Johannes Althusius entgegengetreten wurde. Bevor dies allerdings möglich war, mußte i n der ersten Jahrhunderthälfte ein mehr als intensiver Kampf um die Inhalte der monarchomachischen Doktrin und zugleich, freilich mit erheblich geringerer „ideologischer" Befrachtung, die Umschreibung der Verfassungsverhältnisse i m Reich geführt werden — beides zugleich ebnete den Weg für die Festlegung neuer Prinzipien und Maßstäbe, wie sie bei Wedekind bzw. Wiering sichtbar werden. Johannes Althusius und seine „Politica methodice digesta" spielen dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Hatte das späte 17. Jahrhundert in Form etwa der Lexika Pierre Bayles und Daniel Georg Morhofs 97 noch ganz den monarchomachischen Hintergrund des früheren Herborner Professors und Emdener Syndikus hervorgehoben, so setzte sich diese Tradition auch i m ersten Dezennium des 18. Jahrhunderts zunächst, wenn auch unter Abschwächung, fort. I n der „Disputatio politica-moralis de statu summorum imperantium ex lege", die in Leipzig unter dem Präsidium von Heinrich Ludwig Wernher verteidigt wurde, scheint die „Politica" noch ganz in jenen Zusammenhängen auf, wie sie von Conring bekannt waren: als gefährlich für die Herrschaft 98 . Daß ein Volk i n der Gesamtheit dem Herrscher i n staatsrechtlicher Qualität überlegen sei, w i r d von Wernher ebenso abgelehnt wie die Majestas-Duplex-Lehre. „Haec pessima & in perniciem Regum ruinamque civitatum nata sententia omni equidem aevo suos invenit patronos, suosque propugnatores", führt die Disputation hier unter Verweis auf Johannes Althusius, Reinhard König 99 und Johannes Limnaeus 06 Vgl. O. Weber, Albrecht von Haller. Rektoratsrede, Göttingen 1958 (Göttinger Universitätsreden Nr. 22). Der Schüler Leidens und Boerhaaves, des seinerzeit bedeutendsten Mediziners, zugleich ein Anhänger der „frommen A u f k l ä r u n g " , w i e Weber seine wissenschaftliche Haltung kennzeichnet, schrieb beispielsweise eine Vorrede zu der 1755 i n Bern neu aufgelegten PiscatorBibel (vgl. hierzu Menk, Hohe Schule Herborn [ F N 4], S. 302 ff.). — Bei der Zurückdrängung des konfessionellen Momentes ist gleichwohl zu beachten, daß gerade auch i m letzten D r i t t e l des 18. Jahrhunderts Probleme konfessioneller Provenienz die Göttinger Juristen — darunter Johann Stephan Pütter — i n nicht geringem Ausmaß beschäftigten. 97 F ü r Bayle siehe P. Bayle, L e x i q u e historique et critique, Rotterdam 8 1720, S. 126. Weniger umfangreich w a r e n die Bemerkungen i n der 1. Auflage von 1695. Althusius w i r d hier freilich als Syndikus der Stadt Bremen angegeben. 08 Henr. Ludovicus Wernher, De statu summorum imperantium exlege, Resp.: Frid. Wilh. Richter, Leipzig 1704.
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aus 100 . Wernher hat sich später noch ausführlich mit der Timplerschen Staatslehre auseinandergesetzt 101 und dieser — natürlich — eine Absage erteilt — für die Akzeptanz monarchomachischer Positionen war die Zeit noch nicht gekommen. Unvergessen war zu diesem Zeitpunkt freilich auch noch die Hoensche Disputationensammlung, auf die Wernher i n den Korollarien bezug nimmt — sicherlich stellvertretend für das Werk, dem Hoen so sehr verpflichtet ist: der Althusianischen „Politica". „Impius & injurius i n Summos Imperantes est Philipp. Hoenonius, dum eos ob legum violationem poena civili subjici posse", hält Wernher hier fest 102 . Bleibt man i n Leipzig, so fällt der Einfluß der englischen Theoretiker Locke und Sidney bereits i m Jahre darauf sinnfällig ins Auge, als Christian Erdmann Pfaffreuter mit Genehmigung der philosophischen Fakultät eine Untersuchung zu den Grenzen vorlegt, „quibus subditorum erga imperantes terminatur fides". Der „Inquisitio generalis", die Pfaffreuter 1705 publizierte, folgte i m Jahre darauf eine „Inquisitio specialis", i n der dieselbe Thematik abgehandelt ist 1 0 3 . Bereits in der ersten Abhandlung erfolgte, kaum daß die französische Übersetzung vorlag, eine ausführliche Auseinandersetzung m i t Algernon Sidneys „Discourses concerning Government" bzw. dem „Discours sur le gouvernement", zudem aber den älteren monarchomachischen Publikationen, wie sie durch die „Vindiciae contra tyrannos", Buchanans „De jure regni apud Scotos", ebenso aber durch die Miltonschen Schriften repräsentiert sind 104 . Johannes Althusius ist zwar weder hier noch in der zweiten Abhandlung Pfaffreuters genannt, doch hat Carolus Arndius, der gleichfalls 1705 i n seiner „Bibliotheca heraldica selecta" die monarchomachischen Schriften und die ihrer Gegner behandelte, den früheren Herborner Professor ausdrücklich den Monarchomachen zugerechnet 105 . Das hohe Interesse, das sich zu diesem Zeitpunkt an dem monarchomachischen 99 Z u König, der i n Gießen u n d H i n t e l n lehrte, siehe G. Schormann, der Frühzeit der Rintelner Juristenfakultät, Bückeburg 1977. 100 wernher, De statu summorum imperantium (FN 98), S. Β 2. 101
Aus
Ibid., S. D 2 ff. Ibid., Corollaria Nr. I V . 103 Christ. Erdmann Ρ faff reuther, L i m i t u m , quibus Subditorium erga Imperantes terminatur fides, Inquisitio generalis, Leipzig 1705; Idem, I n quisitio specialis, Leipzig 1706. Z u m Zeitpunkt des Erscheinens der zweiten Disputation hatte Pfaffreuter bereits einen Ruf als Rektor an das Gymnasium zu Regensburg. 104 Pf äff reuther, L i m i t u m , Inquisitio generalis (FN 103), § 11 ff. (zu Sidney), § 5 ff. (zu den älteren Monarchomachen). 105 Carolus Arndius, Bibliotheca politico-heraldica selecta, h[oc] e[st] Recensus Scriptorum ad Politicam atque Heraldicam pertinentium, RostockLeipzig 1705, S. 65. A r n d unterzieht hier die „Doctrina & Scripta Dogmatica" der Monarchomachen einer längeren Untersuchung (ibid., S. 63 ff.). 102
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Schrifttum erkennen läßt und auch durch die Edition der Hotmannschen Briefe zum Ausdruck kommt, die 1700 i n Amsterdam erscheinen 108 , kann auch durch das 1707 erschienene Buch des früheren Kieler Professors G. Paschius belegt werden, der „De variis modis moralia tradendi" handelte 107 . Einen gewissen Abschluß dieser Literaturgattung, die die machiavellistische Doktrin jener der Monarchomachen gegenüberstellt und dabei bisweilen auch die Staatslehre des Thomas Hobbes berücksichtigte, bildet Johann Heinrich Ackers „Commentatio de monarchomachis et antimonarchomachis", die 1716 in Rudolstadt erschien. Die Studie Ackers zeichnet sich durch eine außerordentlich umfassende Literaturkenntnis nicht nur der in Deutschland erschienenen Publikationen aus, sondern berücksichtigt — wie viele der Autoren zuvor — auch die in England, in Frankreich und i n den Niederlanden veröffentlichten einschlägigen Werke. I m Hinblick auf Althusius und Hoen, die vergleichsweise ausführliche Kommentierung finden, sind zwar auch die schärferen K r i t i ken Conrings und Boeclers aufgeführt, zugleich aber nennt Acker auch die weniger spitze, sondern mehr begütigende Betrachtung, die sowohl Hoen wie Althusius in Joh. Franz. Buddeus' „Historia juris naturalis" fanden 108 . Diese Abhandlung, 1695 in Halle erstmals erschienen und dort 1701, 1718 und noch einmal in Lausanne 1745 aufgelegt, war dem Grotius-Kommentar des Vitriarius beigegeben und zeigt nicht nur der raschen Nachdrucke wegen an, welche Rolle sie spätestens seit Anfang des Jahrhunderts zusammen mit dem bekannten Grotius-Kommentar spielte 109 . I n höchstem Maße abschätzig freilich hat Enno Rudolph Brenn106 Herausgegeben von J. C. Meel. — I n w i e w e i t die Edition der Briefe Ludwigs von Wittgenstein, die der Gießener Professor Immanuel Weber 1702 besorgte (Decades très epistolarum, H u b e r t i Langueti, Jo. Camerarii, Io. Cratonis et Casp. Peuceri, F r a n k f u r t am M a i n 1702), hieran anschließen, bleibt abzuklären. Zu Weber, der bisher i n seiner Bedeutung unterschätzt scheint, siehe ders., Disputatio de Regnis sub lege commissoria delatis, Resp.: Fridericus Thom, Gießen 1715. 107 Georg Paschius, De variis modis moralia tradendi liber, Accedit i n t r o ductio i n rem litterariam moralem sapientiae antistitum, K i e l 1707, S. 328 ff. Althusius ist hier nicht erwähnt, hingegen weitere monarchomachische T r a k tate, die ansonsten bisher keine Berücksichtigung fanden. 108 Joh. Heinrich Acker, Commentatio de monarchomachis et antimonarchomachis, Rudolstadt 1716, S. 27 ff. — Auch hinsichtlich Hoens führt Acker eine weitere, mildere Beurteilung an (S. 28). — Zu der Staatslehre des H a l lensers J. F. Buddeus siehe auch ders., Principem legibus humanis, sed non divinis solutum, Resp.: Georg Ernst Brand Preussensis Magdeburgicus, Halle 1695. Z u i h m siehe Hammerstein, Jus und Historie (FN 66), S. 118 u. ö. Sein Schwiegersohn ist der Lexikograph Walch, der seinerseits den Monarchomachen i n seinen L e x i k a weite Aufmerksamkeit widmete. 109 Nachweise bei H. U. Scupin/U. Scheuner (Hrsg.), D. Wyduckel (Bearb.), Althusius-Bibliographie. Bibliographie zur politischen Ideengeschichte und Staatslehre, zum Staatsrecht u n d zur Verfassungsgeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts, Bd. 1, B e r l i n 1973, S. 347 Nr. 5479. 19 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 7
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eysen, der ostfriesische Kanzler, 1720 in seiner „Ostfriesischen Historie und Landes-Verfassung" über den früheren Emdener Syndikus geurteilt 1 1 0 . Brenneysen druckt hier einen Passus aus der „Politica methodice digesta" m i t der ausdrücklichen Absicht ab, dem Leser zu zeigen, „was für schädliche Lehren dieser Mann gehabt habe" 111 . Die ebenso umfangreiche wie parteiliche Publikation Brenneysens bedeutet offenbar den vorläufigen Endpunkt einer sehr kritischen Auseinandersetzung mit den Monarchomachen, wie sie insbesondere auch an den Universitäten des Reichs geführt wurde. Die Tübinger Dissertation Johann Friedrich Cottas unter dem Vorsitz Johann Eberhard Roeslers aus dem Jahre 1718, die den dem ersten Anschein nach den unauffälligen Titel „Themata miscellanea ex jurisprudentia naturali desumta" trägt, aber eine Auseinandersetzung mit der monarchomachischen Doktrin darstellt, mag hier als Beispiel genügen. Autoren wie Johannes A l t husius und John Milton standen dabei seit der Mitte des 17. Jahrhunderts im Mittelpunkt des Interesses, ohne daß freilich andere Publikationen — vornehmlich die „Vindiciae contra tyrannos", Keckermanns Politiklehre oder aber Timplers einschlägige Publikation, nicht zuletzt aber die Hoensche Disputationensammlung — aus der K r i t i k ausgenommen gewesen wären. Mit der Nachwirkung der Glorious Revolution auf das Reich 112 , insbesondere in den Schriften Lockes und Algernon Sidneys, vollzog sich jedoch ein allmählicher Wechsel der Parameter, der freilich durch die Ereignisse i m Reich selbst Unterstützung fand: die beiden Kaiserwahlen Josefs I. und Karls VI. brachten die Rolle der kaiserlichen Wahlkapitulation und insbesondere die einer zu entwickelnden ständigen Kapitulation wieder nachdrücklich ins Gespräch 113 . 110 Gedruckt zu Aurich, Bd. 1, S. 437 ff. — Z u Brenneysen siehe I. Joester, E. R. Brenneysen (1669—1734) und die ostfriesische Territorialgeschichtsschreibung, Diss. phil. Münster 1963; G. Möhlmann, E i n Reskript des Fürsten Georg-Albrecht v. Ostfriesland an E. R. Brenneysen und die A n t w o r t des Kanzlers. E i n Beitrag zur Vorgeschichte der „Ostfriesischen Historie und Landesverfassung" und damit zur Geschichte der Ständekämpfe, in: Emder Jahrbuch 35 (1955), S. 96 ff. 111 „ E x t r a c t aus des Johannis A l t h u s i i Politica, von der Obrigkeit und Unterthanen / der Ordnung W i l l e n i n §§ verteilet: Daraus zu sehen ist / was für schädliche Lehren dieser M a n n gehabt habe" (Brenneysen, Ostfriesische Historie, Bd. I, S. 437). 112 Zu den politischen Verbindungen siehe R. Wiebe, Untersuchungen über die Hilfeleistung der deutschen Staaten f ü r W i l h e l m I I I . von Oranien i m Jahre 1688, Diss. phil. Göttingen 1939. 113 G. Kleinheyer, Die kaiserlichen Wahlkapitulationen. Geschichte, Wesen und Funktionen, Karlsruhe 1968, S. 96 ff. Die Rolle der kaiserlichen, aber auch der territorialstaatlichen Wahlkapitulationen ist allerdings erst i m vollen Umfang i n der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem Gegenstand breiterer literarischer Beschäftigung geworden, wobei vor allem die K o n t r o verse zwischen Johann Jacob Moser und J. A. v. Ickstatt zu nennen ist.
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I n Anknüpfung an die Traditionen, die sein Jenenser Vorgänger Johannes Limnaeus begründet hatte, zugleich aber im Vorgriff auf die umfangreichen Editionen und Kommentare Johann Jacob Mosers gelegentlich der Wahlen Karls VII. und Franz I. 1 1 4 ließ Christian Wildvogel 1710 eine Dissertation erstellen, die sich gerade dem Thema der beständigen Wahlkapitulation widmete. Der Verfasser der „Dissertatio iuris publici de capitulatione perpetua" war freilich kein anderer als Gerlach Adolph von Münchhausen, der spätere Begründer und Kanzler Göttingens. Die wissenschaftliche Qualität der Abhandlung und das Interesse, das den Wahlkapitulationen nicht nur auf Reichsebene zukam, führte schließlich auch dazu, daß sie 1742 — jetzt unter der Autorenangabe Münchhausens — nachgedruckt wurde 1 1 5 . Die von Münchhausen behandelte Thematik freilich ist im Lehrprogramm Wildvogels nicht neu, sondern läßt sich bis auf die fast 20 Jahre zuvor verteidigte Disputation „De probita magistratuum cum subditis conventione" zurückverfolgen. Das hier bereits erkennbare Leitmotiv ändert sich nämlich ebenso wie die hier nicht ausführlich zu behandelnde Begrifflichkeit nur unwesentlich: Das Verhältnis der in Mandatarstellung stehenden Obrigkeit, die Rolle institutioneller Machtbegrenzung steht jeweils im Mittelpunkt des Interesses, wenn auch auf verschiedenen Ebenen. Wildvogel darf so unter die wichtigeren konstitutionalistischen Theoretiker eingereiht werden, deren Bedeutung bisher nicht hinreichend gewürdigt ist. Bevor Münchhausen zum eigentlichen Thema seiner Publikation, der beständigen Wahlkapitulation, gelangt, nimmt sich die Abhandlung erst 114 Joh. Jacob Moser, Ihro Römisch-Kayserlichen Majestät Carls des Siebenden Wahl-Capitulation, m i t Beylagen und Anmerckungen versehen, Teil I u. I I Frankfurt a. M. 1742, Teil I I I ibid. 1744; Joh. Jac. Moser, Wahl-Capitulation Ihro Römisch-Kayserlichen Majestät Frantz des Ersten, m i t Beylagen und Anmerckungen versehen, 3 Bde. F r a n k f u r t a. M. 1745—1747. Moser hat gelegentlich der Wahl Josephs I I . „Betrachtungen" über die jetzt erstellte Wahlkapitulation angeschlossen, die ebenfalls i n Frankfurt a. M. 1777 erschienen. Siehe auch ders., Von der kaiserlichen Wahlkapitulation . . n e u bearb. von C. F. Häberlin, Nürnberg 1792. 115 Chr. Wildvogel, Dissertatio iuris publici de Capitulatione perpetua quam consensu Illustris Ictorum ordinis sub praesidio . . . Chr. Wildvogelii . . . publice proponit Auetor Gerlachus Adolphus de Münchhausen Eques T h u ring. Jena 1710. Nachweis der Ausg. 1742 bei Kleinheyer, Wahlkapitulationen, Literaturverzeichnis. Ein weiterer Nachdruck ist nach Ausweis der A l t husius-Bibliographie (FN 109) 1749 ebenfalls i n Jena erfolgt (Nr. 5783). — Z u Christian Wildvogel, der bereits m i t der 1692 gedruckten Disputation: „De prohibita magistratuum cum subditis conventione" auf sich aufmerksam machte, siehe Stintzing, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft I I I , 1, München-Leipzig 1898 (Nachdruck 1957), S. 105. Ein Hinweis auf i h n fehlt selbst i n der 1983 erschienenen Jenaer Universitätsgeschichte (S. Schmidt [Hrsg.], i n Verbindung m i t L. Elm und G. Steiger, A l m a mater Jenensis. Geschichte der Universität Jena, Weimar 1983). Ebenfalls nicht vertreten ist er in den Juristenbiographien, die Kleinheyer u n d Schröder bearbeiteten.
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einmal jener Frage an, die bereits i n der 1692 erschienenen Wildvogelschen Disputation das Zentrum der Darstellung bildete: die umfassende Beschreibung von Mitteln zur Beförderung jenes Wohls, das die Herrschaft für den Untertan zu besorgen hat, um so ihrem Zweck gerecht zu werden. So heißt es bei Münchhausen: „Hinc est, quod nullum propemodum videamus regnum, i n quo non varias reperire sanctiones liceat, quibus subditorum saluti prospicitur." 1 1 8 Die Fragestellung erweitert sich jedoch rasch auf die rechtliche Ebene, hin nämlich zu den Instrumenten, die die Freiheit des Untertans gegen die unrechtmäßige Herrschaft — in der alteuropäischen Staatslehre definitionsgemäß die der Tyrannei — sichern. Es sind dies nach Münchhausen die „pacta conventa", die Herrschaftsverträge: „Vocant illi, quod notum est, splendida libertatis suae munimina pacta conventa, quibus se adversus tyrannidem tutos praestent atque securos." 117 M i t diesen Feststellungen nähert sich Münchhausen ganz entschieden jenem Zentralthema, das auch die Althusianische Staatslehre bestimmt hatte, freilich noch nicht in jener stärker individualbezogenen Weise, wie dies mehr als ein Jahrhundert später in der Jenenser Disputation der Fall sein sollte. Das hohe Gewicht der Freiheit, das Münchhausen in der Abhandlung durchgängig betont, findet seine Erklärung in der polnischen Geschichte. Hier habe zuerst ein „dominatus principis" geherrscht, dessen Konsequenzen außerordentlich weit gereicht hätten: „Nullis propemodum legibus adstrictis, infinitam non modo omnium rerum, sed etiam vitae necisque in omnes potestaem habens." 118 Lange habe diese herrschaftliche Machtfülle vorgeherrscht, ehe unter dem König Sigismund August aus der Dynastie der Jagellonen in der Mitte des 16. Jahrhunderts eine Änderung vonstatten gegangen sei. Bereits dessen Nachfolger habe seine Machtausübung durch „pacta, quae vocant: conventa" begrenzt gesehen. Ebenso sei beschlossen worden, alle künftigen Thronprätendenten in der polnischen Wahlmonarchie für den Fall ihrer Wahl auf eine „dura formula" zu verpflichten. Die Konsequenz für den später Gewählten lag dabei offen zutage: Verstieß er gegen die Festlegungen, waren die Grundlagen für die Hechtmäßigkeit seiner Herrschaft nicht mehr gegeben: „Si contraveniat promissis conventionibus, eo ipso regno excideret, veluti Sigismundus III. Polonorum Rex solenni juramento corroboravit, quod si contra pacta conventa aliquid moliretur aut suscipe116
Chr. Wildvogel/G. A. Münchhausen, Dissertatio (Ausgabe 1710), S. 4. Ibid., S. 5. — Die Begrifflichkeit deutet auf den Anschluß an die polnischen ständischen Verhältnisse hin. Vgl. hierzu H. Roos, Ständewesen und parlamentarische Verfassung i n Polen, i n : Gerhard, Ständische Vertretungen (FN 25), S. 310 ff.; siehe ebenfalls f ü r den Einzelfall O. Krebs, Vorgeschichte u n d Ausgang der polnischen Königswahl i m Jahre 1669, in: Zeitschr. der historischen Gesellsch. f ü r die Prov. Posen 3 (1888), S. 151 ff. 118 Wildvogel/Münchhausen (FN 115), S. 5. 117
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ret, ac in aliquibus juramentum suum violaret, nullus incola regni, omniumque dominorum cujuscunque gentis obedientiam praestare debeat, imo facto ipso ab omni fide & obedientia Régi débita sit liberatus." 11® Bei der Erläuterung dieser Textstelle führt Münchhausen nicht nur den üblicherweise zitierten Martin Cromer als Gewährsmann an, sondern — neben Henning Arnisaeus 120 — auch die „Politica methodice digesta", diese allerdings erst an zweiter Stelle 121 . Wenn dieser Hinweis auf Johannes Althusius auch etwas versteckt scheinen mag, was der vorherige Bezug auf Arnisaeus unterstreicht, so war andererseits der an dieser Stelle passende Autor nicht verschwiegen — ein Autor, der nach dem Conringschen Verdikt immer noch mit einer gewissen Vorsicht in durchweg positiver Gewichtung benutzt werden dürfte. I m weiteren Verlauf der Abhandlung über die beständige Wahlkapitulation handelt Münchhausen Gegebenheiten der Reichsgeschichte ab, in denen sich der jeweilige Kaiser eines Bruchs der Reichsverfassung schuldig machte. Die Schrift würdigt schließlich die besondere deutsche Freiheitsliebe, die jeder Form von Knechtschaft und absoluter Herrschaft entgegengewirkt habe: „Germania enim per omnem seculorum memoriam ea afficiuntur laude, quod in tantum libertatis amantissimi fuerint, in quantum exhorruerint servitutem & imperia despotica." 122 Bezeichnenderweise rekurriert das Münchhausensche Traktat bei dieser Gelegenheit auf einen weiteren monarchomachischen Autor, dessen Zitierfähigkeit freilich geringeren Schwierigkeiten ausgesetzt war als die Althusianische „Politica": François Hotmans „Francogallia" w i r d zum Beleg angeführt. Bereits ein Jahr nach dieser Disputation ist unter Christian Wildvogel eine weitere Dissertation erstellt worden, in der all jene Bestimmungen und Kautelen, die Münchhausen im Reich zur Herrschaftsbegrenzung gegeben sah, nun auf die Territorien anwandte. M i t der „Dissertatio juris publici specialis de Statibus provincialibus. Von Land-Ständen", die Johannes Emmanuel Rudolphi unter Wildvogel verteidigte 123 , läßt sich der nur kurze Weg von der Hervorhebung der Rolle der Stände im Reich zu der Bedeutung der Stände in den Territorien ablesen — die Parallele zumindest in institutioneller Hinsicht lag freilich auch nahe. 119
Ibid., S. 6. Z u i h m siehe H. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus u n d absoluter Staat. Die „Politica" des Henning Arnisaeus (ca. 1575—1636), Wiesbaden 1970. 121 Wildvogel/Münchhausen (FN 115), S. 6, A n m . d. 122 Ibid., S. 25. Vgl. hierzu auch E. Hölzle, Die Idee einer altgermanischen Freiheit vor Montesquieu, München 1925 (Beiheft zur H Z 5). 123 Chr. Wildvogel, Dissertatio juris publici specialis de statibus p r o v i n cialibus. V o n Land-Ständen, Resp.: Johannes Emmanuel Rudolphi Leuchtenbergensis, Jena 1711. 120
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Wildvogel bzw. Rudolphi räumen den Ständen eine geradezu zentrale Rolle für jedes Staatswesen ein und knüpfen dabei in jeder Hinsicht an Auffassungen an, wie sie aus der „Politica methodice digesta" nur zu gut vertraut sind. So w i r d hier ausgeführt: „Sicuti nulla domus sine fulcris suis ac fundamentis potest consistere, ita quoque Respublica suis opus habet Ordinibus, quibus quasi columnis, juxta prudentiam Politicae architectonicam innitatur, quo Opus illud publicum justitia & prudentia fundatum sit durabile & opera ilia regiminis per plures dispensata melius consistât, cui ferendae unius Principis humeri pares esse non possunt." 124 Angesichts der Bedeutung, die Wildvogel bzw. Rudolphi den Ständen i m Staatsganzen zuweisen, um eine gerechte und zugleich dauerhafte Herrschaft gewährleistet zu sehen, ist es geradezu natürlich, daß sie sich bei der begrifflichen Klärung ihres zentralen Gegenstandes auch auf jenen Autor stützen, der — offensichtlich immer noch — in dieser Frage als Autorität galt: Johannes Althusius. Die Disputation greift dabei sogar auf jenen ständischen Kampf begriff zurück, der in der „Politica methodice digesta" weithin als Synonym für die Stände gebraucht wird: die Ephoren als i:i die Gegenwart übertragene Institution der spartanischen Verfassung 125 . Schon allein mit der Übernahme des Ephorats und dem Verweis auf das 18. Kapitel der Althusianischen Hauptschrift knüpft Wildvogel an die besten Traditionen ständischen Behauptungswillens an, der freilich i n der Folgezeit noch stärkere Fundamente erhalten sollte. Nichts könnte die Rolle der ständischen Literatur und deren Brisanz deutlicher machen als die Wirkung der Wildvogelschen Abhandlung und — stärker noch — diejenige von David Georg Strubes „Dissertatio historico-politica-juridica de origine nobilitatis germanicae et praecipuis quibusdam juribus", die beide mehrfache Nachdrucke erlebten 128 . Die Leidener Dissertation Strubes, die er — wie schon erwähnt — unter Gerard Noodt verteidigte, leitete auch direkt über zu der unmittelbar später 1719 in Leipzig und Wolfenbüttel gedruckten Treuerschen K r i t i k an Wilhelm von Schröders Abhandlung zum Fürstenrechte. Schon das Motto, das Treuer aus einer Arbeit über die französischen Religionskriege entnahm, durfte höchste Aufmerksamkeit erwecken, wurden doch hier die Volksrechte ganz unverblümt dargelegt: „Gleichwie der Fürst seine hohe Gerechtsahme, also hat auch dessen Volck seine Iura, welche so lange sie von beyden Seiten unver124
Wildvogel, Dissertatio (FN 123), S. 1. Ibid., S. 5. 126 1. Auflage Leiden 1717. Nach handschr. Nachtrag der Ausg. i n der Bayr. Staatsbibl. München erfolgte bereits 1718 ein Nachdruck i n Halle. Einen weiteren Druck nennt die Althusius-Bibliographie m i t der Auflage Jena 1745 (Nr. 6292). 125
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brüchlich beobachtet werden, durch ein unauflösliches Band verknüpfet sind." 1 2 7 Zwar werden im Anschluß hieran Befehl und Gehorsam als wichtige Grundgesetze eines funktionierenden Staats aufgeführt, doch die Betonung lag — wie dann auch später in anderen Treuerschen Abhandlungen — auf dem Vertragscharakter der Herrschaft und den Rechten der Untertanen gegenüber dem Regenten — so, wie es schon bei Wildvogel der Fall gewesen war 1 2 8 . Die 40er Jahre des 18. Jahrhunderts stellen noch einmal einen Höhepunkt jener publizistischen Bemühungen dar, die einerseits eine deutliche Betonung des ständischen Moments erkennen lassen, zum anderen aber — eng hieran anschließend — die Instrumente der Herrschaftsbegrenzung in noch verfeinerter theoretischer Form fortentwickelten. Die Grundlagen, die das Dreigestirn Wildvogel, Strube und Treuer in engem Zusammenwirken mit Münchhausen erarbeitet hatte, fand jetzt auch in Göttingen eine akademische Heimstatt, an der ein weiterer Reifeprozeß möglich wurde. Dabei lassen sich durchaus gewisse Momente der Kontinuität erkennen, wie sie etwa im Hinblick auf die Historisierung des Rechts aus Halle, zugleich aber auch aus der niederländischen Tradition übernommen wurden. Andererseits spitzt sich die Begrifflichkeit und der dahinter stehende theoretische Rahmen — etwa in der Frage der „leges fundamentales", die jetzt auch bei Pütter bereits im Singular gebraucht werden 1 2 9 — dermaßen zu, daß doch zugleich ein Abheben von den bisher sichtbaren Momenten deutlich wird. Göttingen hat jedoch bei der Öffnung gegenüber der englischen Staatstheorie nicht alleine gestanden. Auch Tübingen — um nur ein Beispiel aus der so breit gefächerten akademischen Welt innerhalb des Reiches zu nennen — läßt in den beiden unter Daniel Maichel gehaltenen Disputationen „Dissertatio de jure principis circa doctrinas publicas" (1743) und „De civi127
Treuer, Disquisitio (FN 86), Titelseite. Siehe insbesondere Treuer, Monstrum a r b i t r a r i i Iuris territorialis (FN 85); vgl. ders., De cautione i n tractando iure publico Rom. Germanico adhibenda, Göttingen 1737; ders., De origine nominis superioritatis territorialis ex Gallia arcessenda, Resp.: Joannes Christ. Zimmermann, Helmstedt 1732.— Z u m U r t e i l über Treuer siehe Pütter, Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte (FN 91), Bd. 1, S. 47. 129 pütter, Dissertatio inauguralis de legum i m p e r i i fundamentalium et c i v i l i u m differentia (FN 90), S. 12 u n d S. 18. — Vgl. zu begriffsgeschiditlichen Umstellungen i n sehr aufhellender A r t G. Stourzh, V o m Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit: Z u m Problem der Verfassungswidrigkeit i m 18. Jahrhundert, Graz 1974 (Kleine Arbeitsreihe des Instituts für europ. u n d vergleichende Rechtsgeschichte an der Rechts- u n d staatswiss. Fakultät der Universität Graz, Heft 6) sowie zur Parallelität der deutschen und der angloamerikanischen Entwicklung vgl. ebenfalls G. Stourzh, Staatsformenlehre und Fundametalgesetze i n England und Nordamerika i m 17. und 18. J a h r hundert. Zur Genese des modernen Verfassungsbegriffs, i n : R. Vierhaus (Hrsg.), Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze, Göttingen 1977, S. 294 ff. 128
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tatum saluberrimo instituto deque summi imperii justis limitibus" (1745) jene Einflüsse erkennen, die bereits unmittelbar nach der Jahrhundertwende so sichtlich spürbar waren. Darüber hinaus machen jedoch gerade die während der 40er Jahre des 18. Jahrhunderts auch in anderen Akademien vergebenen Disputationsthemen den Eindruck deutlich, wie stark das aufklärerische Gedankengut zusammen mit der Diskussion um die Begrenzung der kaiserlichen Macht Probleme in den Vordergrund spielte, die im weitesten Sinne die herrschaftliche .Position zum Gegenstand hatte. Dabei wurde in nicht seltenen Fällen die Ebene des Reichs verlassen und auch die Territorialstaaten in die Problematik mit einbezogen 130 . Johannes Althusius hat in den jetzt einsetzenden Erwägungen nur noch eine höchst geringe Rolle gespielt, nimmt man die unmittelbaren Zitate zum Kriterium des auf ihn zurückführenden Interesses. Die Bezugsstelle bei Wedekind ist oben schon genannt worden — doch darüber hinaus haben, soweit bisher übersehbar, nur wenige Autoren die „Politica methodice digesta" als Beleg für ihre Erörterungen angeführt. Rüdigers Regentenspiegel, der 1733 erschien 131 , nennt Althusius' wichtigste Publikation beispielsweise unter den Abhandlungen zum Naturrecht, hebt sie allerdings von den Erörterungen ab, die zur Staatsklugheit verhelfen 132 . Ansonsten aber rückt der frühere Herborner Professor jetzt mehr und mehr in eine Position, die ihn von der aktuellen Verwendung ausschließt und nur noch für lexikalische Artikel — etwa bei Jugler 1 3 3 — interessant erscheinen läßt. Bei den größeren Reichspublizi130 Y g i etwa Hier. Friedr. Schorch, Dissertatio juridica inauguralis de l i m i t i b u s superioritatis territorialis secundum leges fundamentales imperii, Resp. & Auetor Johannes Otte, E r f u r t 1744; siehe aber auch etwa für Göttingen Ge. Lud. Boehmer, Princeps S. R. I. Ius suum v i atque armis tuens, Resp.: Iul. Melchior Strube, Göttingen 1745; neu aufgelegt wurde beispielsweise die Lynckersche Abhandlung zum Widerstandsrecht, was zumindest indirekt auf die A k t u a l i t ä t des Literaturgenre hinweist: Nie. Chr. Lyncher, Tractatus juridicus de resistentia quae fit potestati, Wittenberg 21747). Hierzu zuletzt Chr. Link, Jus resistendi. Z u m Widerstandsrecht i m deutschen Staatsdenken, i n : Convivium utriusque iuris. A. Dordett zum 60. Geburtstag, Wien 1976, S. 55 ff. 131 [Rüdiger], K l u g h e i t zu leben und zu herrschen, m i t großem Fleiß zweyer wahrhafftig hochgelahrten Männer, i n zwey Theilen verfasseyt, LeipzigCöthen 1733. 132 Ibid., S. 30: „Joh. Chr. Becmannus hat Meditationes politicas, dem Nahmen nach, geschrieben: sie verdienen i h r großes Lob, sind aber nicht M a x i m e n der Staats-Klugheit, sondern des Rechts der Natur. Diesem ist beyzufügen Joh. A l t h u s i i politica, denn sie handelt auch mehr von der Schuldigkeit als von der Klugheit." 133 Joh. Friedrich Jugler, J. Althusen, in: ders., Beiträge zur juristischen Biographie, Bd. 2, Leipzig 1775, S. 270—276. Sehr viel knapper — und angelehnt an Bayle — fallen die Bemerkungen bei C. G. Jöcher, Allgemeines Gelehrten-Lexikon, Bd. 1, Leipzig 1750 (1. Aufl. 1715), S. 309 aus. Hier auch der Vermerk, daß Althusius Syndikus zu Bremen, nicht zu Emden gewesen sei.
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sten der z w e i t e n H ä l f t e des 18. J a h r h u n d e r t s herrschen v i e l m e h r jene A u t o r e n v o r , die i n der englischen D i s k u s s i o n d o m i n i e r e n d w a r e n . So g r e i f t e t w a die a u f g e k l ä r t e Z e i t s c h r i f t „ D e r Teutsche M e r k u r " 1777 auf P o r t u g a l zurück, u m d i e V o l k s s o u v e r ä n i t ä t zu e r k l ä r e n 1 3 4 . Gottlieb Hufeland n e n n t i n seiner A b h a n d l u n g z u m N a t u r r e c h t z w a r L o c k e u n d S i d ney als A u t o r e n , die f ü r die A b s i c h e r u n g einer k o n s t i t u t i o n a l i s t i s c h e n Verfassungsvariante i n Frage k o m m e n , n i c h t h i n g e g e n A l t h u s i u s 1 3 5 . I n das B i l d f ü g t sich gleichfalls Anselm Feuerbach, der i m „ A n t i - H o b b e s " z w a r die „ V i n d i c i a e c o n t r a t y r a n n o s " sowie M i l t o n u n d S i d n e y n e n n t , die g e n u i n deutsche monarchomachische T r a d i t i o n aber beiseite l ä ß t 1 3 6 . B e i s p i e l h a f t k ö n n t e n z u d e m der j ü n g e r e Moser g e n a n n t w e r d e n 1 3 7 oder aber die Ü b e r s e t z u n g v o n George Buchanans „ D e j u r e r e g n i a p u d Scotos", die 1796 i m r e f o r m i e r t e n A l t o n a erschien 1 3 8 — v o n A l t h u s i u s als w i c h t i g e r oder gar d o m i n i e r e n d e r F i g u r k a n n n i c h t m e h r die Rede sein. 134 [anonym], lieber das göttliche Recht der Obrigkeit oder: Ueber den Lehrsatz: „Daß die höchste Gewalt i n einem Staat durch das V o l k geschaffen sey". A n Herrn P . D . i n C.; nach dem Bezug auf Portugal und ein Manifest der portugiesischen Stände aus dem Jahre 1641 folgt der Vermerk: „das V o l k habe ein Recht durch seine Repräsentanten, über die A u f f ü h r u n g seines Königs zu erkennen, u n d sich von dessen Herrschaft loßzumachen, wofern er sich durch eine schlimme Staatsverwaltung des Amts u n w ü r d i g mache." Die Nutzanwendung, so der „Teutsche M e r k u r " , sei folgende: „Sollte man sich nicht schämen, noch zuweilen i n den aufgeklärten Ländern sich so auszudrücken, als w e n n das Volk u m des Monarchen, nicht dieser u m jenes w i l l e n da wäre; und als verkennte man die große Wahrheit, daß in einem Staat keine Gewalt von oben herab dem V o l k aufgedrückt, sondern allemal von unten herauf durch das V o l k (dem sie nutzen und frommen soll) geschaffen sey — Wahrheiten, die schon i m vorigen Jahrhundert und (sogar) in Portugal anerkannt wurden." (ibid., S. 120 f.) Vgl. hier auch den Verweis auf Algernon Sidney (S. 124) sowie auf dens., die „Vindiciae contra t y r a n nos", John M i l t o n und auf „Cato, oder die Briefe von der Freyheit und dem Glücke eines Volkes u n d einer guten Regierung", die 1756 nach der 5. engl. Auflage i n deutscher Übersetzung erschienen — bezeichnenderweise i n Göttingen bzw. Göttingen u n d Leipzig (2. Teil, 1756 und 3. Teil 1757); alle V e r weise auf S. 135. 135 Gottl. Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften zu Vorlesungen, Jena 1790, S. 174. 138 Paul Joh. Anselm Feuerbach, Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn, Gießen o. J. [1798] (1. Aufl. E r f u r t 1798), S. 52, 137 u n d 232. — Vgl. auch J. Hermand (Hrsg.), Von deutscher Republik. Texte radikaler Demokraten, F r a n k f u r t a. M. 1975; Z. Batscha (Hrsg.), A. Bergk, J. L. Ewald, J. G. Fichte u. a. A u f k l ä r u n g u n d Gedankenfreiheit. Fünfzehn Anregungen, aus der Geschichte zu lernen, F r a n k f u r t a. M. 1977. 137 Zu i h m siehe zuletzt N. Hammerstein, Das politische Denken Friedrich Carl von Mosers, in: H Z 212 (1971), S. 316 ff. 138 Das Königsrecht nach Georg Buchanan. E i n Beitrag aus dem sechszehnten Jahrhundert, zur Beurtheilung der Philosophie und Ereignisse unserer Tage. Nebst einer Biographie Buchanans u n d einigen historischen A n m e r kungen von Thomas Frey, Altona 1796. Z u dem Lehrer K ö n i g Jacobs I. von England siehe P. H. Brown, G. Buchanan, humanist and reformer, Edinburgh 1890; J. H. Burns, The Political Ideas of George Buchanan, i n : The Scottish
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Bei all dem darf jedoch nicht vergessen werden, daß der frühere Herborner Politiktheoretiker gerade in der englischen Traditionslinie, wohl aber generell in der westeuropäischen aufgegangen und aufgehoben ist — nur hat diese ihn jetzt an Aktualität überholt. I n welchem Lichte Althusius noch Mitte des 18. Jahrhunderts gerade in den außerreichischen Publikationen gesehen wurde, mag man aus einem Hinweis entnehmen, der sich i n Rousseaus „Lettres écrites de la Montagne" befindet. Das wahrscheinlich 1764 geschriebene Werk berührt die Schicksale jener Autoren, die — so stellt es Rousseau dar — der Herrschaft generell kritisch gegenüberstanden. Es ist wohl kein Zufall, daß Johannes Althusius hier in einem Atemzug mit Algernon Sidney genannt wird 1 3 9 . I n deutschen Publikationen erscheint der Name des Althusius — soweit erkennbar — erst wieder 1819 in Ersch-Grubers „Allgemeiner Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste", in der sich — anschließend an Jugler — ein ausführlicher A r t i k e l über den früheren Herborner Politiktheoretiker befindet 140 . Das Erscheinungsdatum und die Charakterisierung hätten unter besonders günstigen Umständen eine Renaissance der „Politica" bewirken können, w i r d ihr doch hier bescheinigt, daß sie „vorzüglich die freien demokratischen Grundsätze" als Kernprinzipien enthalte 141 . Doch wahrscheinlich hat sich selbst in den vormärzlichen Veröffentlichungen nur der hessische Publizist Friedrich Murhard 1 4 2 des früheren Herborner Professors erinnert und die „Politica" Historical Review 30 (1951), S. 60 ff.; H. R. Trevor-Roper, George Buchanan and the Ancient Scottish Constitution, London 1966; Skinner, Foundations (FN 4), S. 338 ff.; Salmon, A n Alternative Theory (FN 74). — Buchanan ist i m übrigen zusammen m i t M i l t o n 1821 noch einmal Gegenstand eigenständiger Betrachtungen geworden: Troxler, Fürst und Volk nach Buchanans u n d Miltons Lehre, A a r au 1821. 139 J. J. Rousseau, Lettres écrites de la montagne, i n : Oeuvres complètes I I I : D u contrat social, Ecrits politiques, Hrsg. Β. Gagnebin/M. Raymond u. a., Paris 1964, S. 683 ff., hier S. 812: „L'infortuné Sydnei pensoit comme moi, mais i l agissoit; c'est pour son fait et non pour son Livre q u ' i l eut l'honneur de verser son sang. Althusius en Allemagne s'attira des ennemis, mais on ne s'avisa pas de le poursuivre criminellement. Locke, Montesquieu, l'Abbé de Saint Pierre on traité les mêmes matieres, et souvent avec la même liberté tout au moins. Locke en particulier les a traitées exactement dans les mêmes principes que moi." — Vgl. zur W i r k u n g von Althusius auf Rousseau auch R. Derathé, Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temp, Paris 1950, S. 78 ff. sowie S. 92 ff.; Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk (FN 5), S. 135 ff. Z u Rousseau siehe auch I. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Z u r Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, NeuwiedBerlin 21968. 140 J. S. Ersch/J. G. Gruber, Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften u n d Künste . . . , 3. Tl., Leipzig 1819, S. 262—263. Gittermann korrigiert hier m i t bemerkenswerter Sachkenntnis die Fehler der älteren Literatur und verweist selbst auf die von Althusius verfaßten Deduktionen. 141 Ibid. 142 Z u M u r h a r d siehe W. Weidemann, F. M u r h a r d und der Altliberalismus, i n : Zeitschr. des Vereins für hess. Gesch. u n d Landeskunde 55 (1926), S. 229 ff.;
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als e i n W e r k gefeiert, i n d e m die V o l k s s o u v e r ä n i t ä t einen w i c h t i g e n B e s t a n d t e i l des theoretischen R a h m e n s d a r s t e l l t 1 4 3 . Ganz u n b e k a n n t b l i e b s o m i t der H e r b o r n e r Professor auch i m 19. J a h r h u n d e r t n i c h t , selbst w e n n die R o l l e seiner H a u p t s c h r i f t i m V o r f e l d der Gierkeschen U n t e r suchungen sicherlich n i c h t b e d e u t e n d w a r . D e r „ f a s t r ä t h s e l h a f t e n Vergessenheit", die Otto von Gierke i m H i n b l i c k auf A l t h u s i u s k o n s t a t i e r e n k o n n t e , ist er a u f g r u n d der h i e r offengelegten T e x t s t e l l e n aber n u r sehr b e d i n g t verfallen. N i m m t m a n n u r die immense Z a h l a n D i s p u t a t i o n e n j u r i s t i s c h e r u n d philosophischer Provenienz, die sich i n einer a u ß e r o r d e n t l i c h e n D i c h t e über das wissenschaftliche u n d politische D e u t s c h l a n d des A n c i e n Régime ausbreiteten, d a n n d ü r f t e g l e i c h w o h l h i e r n u r e i n bescheidenes S p e k t r u m erfaßt w o r den sein. I m m e r h i n w u r d e deutlich, daß t r o t z des Conringschen V e r d i k t s v o n einer v ö l l i g e n V e r d r ä n g u n g des A l t h u s i u s aus der Reichsstaatsrechtslehre n i c h t die Rede sein k a n n , w a r e n seine D a r l e g u n g e n doch auch v i e l zu sehr an die Reichsverfassung angelehnt, als daß m a n sie i m reichischen Jus p u b l i c u m v ö l l i g h ä t t e übergehen können. N i m m t m a n f r e i l i c h noch die äußerst s t a r k e Wirkungsgeschichte der „ P o l i t i c a m e t h o dice digesta" i n E n g l a n d 1 4 4 , i n S c h o t t l a n d 1 4 5 , i n Schweden, i n der Schweiz, Th. Wilhelm, Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus. Eine Darstellung und K r i t i k des Verfassungsbildes der liberalen Führer, Stuttgart 1928, S. 54 f. u. ö.; Th. Griewank, Die Brüder Friedrich u n d K a r l Murhard, i n I. Schnack (Hrsg.), Lebensbilder aus Kurhessen und Waldeck 1830—1930, 1. Bd., M a r b u r g 1939, S. 212—219 (hier auch vollständiges Schriftenverzeichnis) ; H. Brandt, Landständische Repräsentation i m deutschen V o r märz. Politisches Denken i m Einflußfeld des monarchischen Prinzips, Neuwied 1968, S. 266 ff. u. ö.; V. Hartmann, Repräsentation in der politischen Theorie und Staatslehre i n Deutschland. Untersuchung zur Bedeutung und theoretischen Bestimmung der liberalen Staatslehre des Vormärz . . . , B e r l i n 1979. us Friedr. Murhard, Die Volkssouveränität i m Gegensatz der sogenannten Légitimât, Kassel 1832, S. 98: „Die Lehre von der Volkssouveränität sieht man schon von Althus i n dessen Politica methodice digesta theoretisch aufgestellt und entwickelt." I n falscher zeitlicher Reihung fährt M u r h a r d dann fort: „Hub. Languet wandte sie späterhin i n seinem berüchtigten Buche V i n diciae contra Tyrannos (Lausanne 1579) auf praktische Fälle an . . . " (ibid.). Bereits hier ist — wie schon bei Zeitgenossen — Althusius stärker als Theoretiker bestimmt. Vgl. hierzu P. Münch, Göttliches oder weltliches Recht? Z u r Kontroverse des J. Althusius m i t den Herborner Theologen (1601), i n : F. Quarthal/W. Setzier (Hrsg.), Stadtverfassung — Verfassungsstaat — Pressepolitik. Festschrift für Eberhard Naujoks zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1980, S. 16 ff.; Murhard behandelt i m übrigen auch die Miltonsche Staatslehre i n der Auseinandersetzung m i t Salmasius (S. 100 ff.) u n d bezeichnenderweise auch Algernon Sidneys Discourses on Government (S. 102 f.). Selbst i n der Auseinandersetzung m i t Pufendorf (S. 273) k n ü p f t er an Vorbilder aus der Reichsstaatslehre an. 144 Außer Schubert, Volkssouveränität und Heiliges Römisches Reich (FN 6) sowie Franklin, Locke (FN 20) siehe zum H i n t e r g r u n d auch Margret A. Judson, Henry Parker and the Theory of Parliamentary Sovereignty, i n : Essays i n History and Political Theory. I n Honour of Ch. H. Mcllwain, Cambridge
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in den Niederlanden und auch in den nordamerikanischen Kolonien 1 4 8 hinzu, die hier nur gestreift werden konnte, dann ist Johannes Althusius in der Tat eine wichtige Holle unter jenen Männern einzuräumen, „deren Leistungen uns das Recht geben, dem deutschen Geist einen ebenbürtigen Antheil an der modern-europäischen Entwicklung der politischen Ideen zu vindicieren", wie es Gierke so trefflich formulierte. Nach den ersten ermutigenden Schritten Gierkes ist dieser Anteil freilich vornehmlich in der westeuropäischen Forschung aufgearbeitet worden. Das wissenschaftliche Schicksal des Rechtshistorikers selbst mag dafür stehen, wie sehr für längere Zeit jene Entwicklungslinien abgeschnitten, ja sogar verketzert wurden, auf die der Jurist hinzuweisen versucht hatte. Die perspektivischen Verengungen, die bis auf wenige Ausnahmen — wie etwa Otto Hintze — die deutsche Forschung beherrscht haben, stellen bis heute einen Ballast dar, der nur schwer abzuwerfen ist. Von den Anregungen, die Dietrich Gerhard, Gerhard Oestreich, Friedrich Hermann Schubert und auch Hans Maier i n den 50er und 60er Jahren der deutschen ideengeschichtlichen und zugleich verfassungsrechtlichen Forschung gaben 147 , könnten jene neue Impulse ausgehen, die freilich — wenn audi ohne durchdringenden Erfolg — bei Otto von Gierke nahezu ein Jahrhundert zuvor für die Bestimmung der „deutschen Staatsanschauung" 148 erkennbar sind.
(Mass.), 1936, S. 138 ff.; Winthrop S. Hudson, John Locke. Heir of Puritan Theorists, i n : H u n t / J . T. M c N e i l l (Hrsg.), Calvinism and Political Order, Philadelphia 1965, S. 108 ff. 145 Vgl. etwa I. M. Smart , The Political Ideas of the Scottish Convenanters 1638—1688, i n : History of Political Thought 1, 1980, S. 167 ff.; D. Stevenson, The ,Letter on sovereign power' and the influence of Jean Bodin on Political Thought i n Scotland, i n : Scottish Historical Review 61 (1982), S. 27 ff. (mit ausführlicher Berücksichtigung der W i r k u n g von Althusius); siehe auch J. B. Torrance, Covenant or Contract? A study of the Theological Background of Worship i n Seventeenth-Century Scotland, i n : Scottish Journal of Theology 23 (1970), S. 51 ff.; ders., The Covenant Concept i n Scottish Theology and Politics and its Legacy, i n : Scottish Journal of Theology 34 (1981), S. 225 ff . 146 Vgl. bisher Menk, Hohe Schule Herborn (FN 4), S. 315 ff. 147 D. Gerhard, A l t e u n d neue Welt i n vergleichender Geschichtsbetrachtung, Göttingen 1962; G. Oestreich, Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staatsvertrag, i n : ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates (Ausgewählte Aufsätze), B e r l i n 1969, S. 35 ff.; ders., Vom Herrschaftsvertrag zur Verfassungsurkunde. Die „Regierungsformen" des 17. Jahrhunderts als konstitutionelle Elemente, i n : Vierhaus, Herrschaftsverträge (FN 129); zu Schubert (FN 6); H. Maier, Ältere deutsche Staatslehre und westliche politische Tradition, Tübingen 1966 (zusammenfassend). 148 Der Begriff übernommen von W. Hennis, Das Problem der deutschen Staatsanschauung, i n : ders., P o l i t i k als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie u n d Regierungslehre, München 1968, S. 11 ff.
G E M E I N S A M K E I T E N UND UNTERSCHIEDE DER THEORIEN VON GESELLSCHAFT UND S T A A T DES JOHANNES A L T H U S I U S U N D DES JEAN B O D I N Von Hans Ulrich Scupin, Münster Es ist auf den ersten Blick erstaunlich, daß zwei sehr verschiedene wissenschaftliche Persönlichkeiten aus zwei sehr unterschiedlichen Nationen, aus christlichen Konfessionen, die sich damals zum mindesten antithetisch verstanden, zwei Männer, die zudem zwei Generationen angehörten, miteinander verglichen werden sollen. Dieser Vergleich w i r d jedoch ermöglicht nicht nur durch gleichlaufende, z. T. sogar parallele Entwicklungen in den europäischen Gesellschaftsstrukturen, sondern vor allem durch das gemeinsame abendländische Geistesgut als christliche Überlieferung oder als der tiefgreifenden Zeitströmung des Humanismus entstammend. So kann der Jüngere den Älteren leicht begreifen, dessen Erkenntnisse teils akzeptieren, teils modifizieren und jedenfalls nutzen und fortentwickeln. Sowohl Althusius wie Bodin sind spätestens ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tode in den Hintergrund des Bewußtseins Europas getreten. Bei ihrer Wiederentdeckung, Althusius durch O. v. Gierke (1883), Bodin durch Pierre Bayle, sind beide hinsichtlich ihrer politisch-literarischen Einordnungsmöglichkeit mißverstanden worden. Bodin war kein Wegbereiter des Absolutismus 1 und Althusius kein Monarchomach, wie Gierke angenommen hat. 2 Daß man heute das politische Anliegen der beiden, ihren politischen Stil, i h r Rechtsdenken anders beurteilt, ist bekannt. Wie das differenziert zu beurteilen ist, soll aus unserem Vergleich hervorgehen. Für einen solchen Vegleich genügt es nicht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede kasuistisch aneinanderzureihen und dann gar mit ziffernmäßiger Bewertung des Festgestellten ein Resultat zu suchen. Denn es 1 F ü r eine Beimischung von monarchischem Absolutismus G. Cardascia, Machiavel et Jean Bodin, B u l l e t i n d'Humanisme et Renaissance 3, 1943, S. 129 ff., 158; dagegen treffend K . T. Buddeberg, Gott und Souverän, in: AöR, N.F. 28, 1937, S. 257 ff., hier insbes. S. 282 ff. 2 O. v. Gierke, Johannes Althusius u n d die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 1883, hier benutzt 5. Aufl., Faksimile-Neudruck Scientia, Aalen 1958, S. 18 ff.
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ist fast selbstverständlich, welche Gemeinsamkeiten, wie ausgeführt, bestehen. Daß sie sich aus der abendländischen Bildung ergeben, liegt zwar auf der Hand, ist aber i m einzelnen zu untersuchen und zu differenzieren, weil diese Geistesgrundlagen bei jedem der beiden Autoren sich verschieden auswirken. Für die Abgrenzung der Lehren des Johannes Althusius i n seinem großen Werk, der Politica, zum Staatsdenken der Humanisten (Grotius und spätere) ist zunächst auf die letzten beiden Veröffentlichungen von Hendrik van Eikema Hommes 8 Bezug zu nehmen, i n denen er die Gesellschaftsstruktur bei Althusius als aus der göttlichen Schöpfungsordnung entspringend nachweist, während er sie bei den Humanisten aus der menschlichen ratio hervorgehen läßt. Das wäre eine Vereinfachung, wenn der Autor nicht auch die gemeinsame Grundlegung ihres Denkens i n der zeitgenössischen und überlieferten abendländischen K u l t u r mitbedächte. Allerdings ist der Auftreff- und der Brechungswinkel dieser Kulturbezüge bei dem Denksystem des katholischen Freidenkers Bodin entsprechend anders als bei dem Reformierten Althusius. Eine Denkschule jener Zeit, die den Denkstil beider Autoren erheblich mitgeprägt hat, ist schon hier hervorzuheben: Petrus Ramus mit seinen Dialecticae Institutiones, Paris 1543 (später Dialecticae partitiones). Das Denken des Ramus richtet sich gegen die herrschende Auffassung der aristotelischen Philosophie, wenn auch Ramus offenbar meint gegen Aristoteles Lehre an sich. Ramus bricht damit aus den üblichen Deduktionen aus und w i l l das an sich naturwissenschaftliche induktive Denksystem auch gesellschaftswissenschaftlich und rechtlich nutzen. Daß Althusius und Bodin — sogar ausdrücklich i n vielen Randnoten — diesen Denkstil gebrauchen, liegt daran, daß beide ihn während ihres Studiums kennengelernt haben, der eine in Paris, der andere i n Basel. Das ist eine wichtige Gemeinsamkeit beider Autoren. Auch i n der Sache sind sich beide wegen des Gegenstandes, den sie behandeln, ähnlich, wenn auch nicht gleich. Beide führen das von ihnen gedachte Gesellschaftssystem und sein Ergebnis, das Gemeinwesen, bei Althusius das politeuma, bei Bodin die république, auf Gott als wirkende Ursache zurück, doch fassen sie den Gottesbegriff verschieden. Bodin 3 H. J. van Eikema Hommes, Die Bedeutung der Staats- und Gesellschaftslehre des Johannes Althusius für unsere Zeit, in: Festschrift f ü r Hans Ulrich Scupin, B e r l i n 1983, S. 211 ff.; ders., Hugo Grotius. Einige Betrachtungen über die Grundmotive seines Rechtsdenkens. Der Unterschied zu dem Rechtsdenken des Johannes Althusius, in: Theologische, juristische und philologische Beiträge zur frühen Neuzeit, Münster 1986 (Schriftenreihe der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Heft 9), S. 56 ff.
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w i l l wegen der politischen Lage i n Frankreich zur Zeit des religiösen Bürgerkrieges überkonfessionell wirken. Man hat ihm rückblickend sogar einen dünnflüssigen Deismus angelastet, was sich kaum halten läßt, worauf am Schluß zurückzukommen ist. Althusius stützt seine Lehre auf die calvinistische Grundidee der göttlichen Schöpfungsordnung, jedoch so, daß er die von ihm selbst beobachteten Grundtatsachen menschlichen Zusammenlebens als von Gott gegeben ansieht. Die Ähnlichkeit des Aufbaus bei der Darstellung einer gegliederten menschlichen Gemeinschaft, ihrer Voraussetzungen und ihrer Inhalte ist bei Althusius in der Politica 4 wie in den Six livres de la République 5 Bodins wirklich bestechend. Bei beiden Autoren ist die Familie, die Bodin auch i m Ausdruck als mesnage (als Großfamilie oder als Haushaltung) kenntlich macht, die Grundlage jeder Ordnung menschlicher Gesamtheit, sie ist existentiell von Gott gegeben, damit ist sie wie in der Politica (Kap. II, insbes. III) consociatio privata und stellt zugleich die Basis jeder symbiotischen Gesellschaft dar. Bei Bodin ist nur die Ausdrucksweise eher nüchterner als bei Althusius. Bodin geht vom dynamischen Moment der Herrschaft des Familienoberhauptes, des Hausvaters aus und stellt dann, fast wie in einem Tatsachenbericht das Sein — nicht wie bei Althusius das Sollen — dar. Beide schildern die Zusammensetzung der Familie und die Funktionen ihrer Glieder fast übereinstimmend. Wenn man den Gottesbegriff Bodins nicht weiter hinterfragt, gleichen sich auf der alles tragenden untersten Gesellschaftsebene die Darstellungen beider Autoren sehr weitgehend. Auch die mesnage ist inhaltlich und terminologisch als natürliche Gemeinschaft, also mit dem Ausdruck des Althusius als consociatio naturalis zu bezeichnen, sie ist auch durch Bodin als von Gott gesetzt charakterisiert worden.® I m weiteren Stufenbau sozialer Vereinigungen sind Unterschiede — rein systematisch gesehen — nicht vorhanden, inhaltlich sind sie gering. Großfamilien, repräsentiert durch die Familienväter, schließen sich zu größeren Einheiten zusammen. 7 4 Johan. A l t h u s i i Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata, Herbornae Nassoviorum 1614. Die 1. und die 2. Auflage (1603 u. 1610) sind für die hier behandelte Problematik noch zu unergiebig, spätere Auflagen zu unwesentlich verändert. 5 Les six livres de la République de J. Bodin Angevin à Paris 1583. Faksimiledruck 1961 Scientia Aalen. Die 1. Auflage von 1576 stand nicht zur Verfügung, die von Bodin selbst redigierte lateinische Ausgabe von 1583 ergibt für den vorgegebenen Zweck nichts Wesentliches. β Six livres de la République, Buch I, Kap. I u. V I , passim. 7 Politica, Kap. IV, 1—5; République, Buch I I I , Kap. V I I , passim.
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Bei beiden Autoren gibt es für solche Zusammenschlüsse auch Zwangsmomente: gemeinsame Interessen i n einer sich differenzierenden Gesellschaft, sogar die Notwendigkeit gemeinsamer Verteidigung zwingen, unabhängig vom Willen zur Selbständigkeit der kleineren Verbände zur Vereinigung. Hier kommt ein deterministisches Element zur Geltung, was besonders bei Althusius betont wird. Aber auch die alte Denkform des pactum unionis, das auch als konkludent zustandegekommen gedacht wird, klingt bei beiden Autoren an. Sicherlich ist das pactum nicht zwingende Voraussetzung für das Entstehen einer größeren Einheit, ihr Entstehungsgrund kann sogar auch i n gewaltsamer Unterwerfung liegen. Althusius verweist insoweit ausdrücklich auf Bodin 8 . Dazu hat P. J. Winters richtig bemerkt, worauf H. van Eikema Hommes schon hingewiesen hat 9 , daß jedenfalls bei Althusius diese Vertragslehre nicht wegen der Entstehung der consociatio interessiert, sondern wegen der Beschaffenheit der entstandenen Vereinigung. 10 Original Althusianisch ist der Gedanke der Symbiosis, der vorgegebenen Lebensgemeinschaft in der Familie. Althusius schreibt der Symbiosis alle der Lebensqualität förderlichen guten Eigenschaften zu, was seinen Zeitgenossen wahrscheinlich unmittelbar einleuchtete, heute jedoch wohl nicht nur dem kritischen Gesellschaftswissenschaftler etwas einfach erscheint. Die auf der nächsthöheren Stufe der gesellschaftlichen Ordnung angesiedelten Zusammenschlüsse sind regionaler oder beruflicher Art, modern gesehen, etwa Dörfer, Weiler oder aber Berufsvereinigungen. Bodin geht nicht näher auf diese ein, während Althusius sie ausführlich behandelt als consociationes propinquorum oder, davon klar unterschieden, consociationes collegarum; er kennt sogar zeitlich begrenzte oder willensmäßig durchlässige Vereinigungen. Allerdings unterscheidet Althusius nicht zwischen diesen und denjenigen, bei denen ein Zwangsmoment die ausschlaggebende Rolle spielt, obwohl i h m die letzteren, nämlich die Zünfte, sowohl aus seiner Nassau-Dillenburgischen wie aus der Emder Verwaltung sogar in den Einzelheiten bekannt waren. I m 4. Kapitel 1 1 werden zur consociatio collegarum deren Struktur und die Funktionen ihrer Glieder der sozialen Wirklichkeit gemäß dargestellt, wobei zur konkreten Kennzeichnung die l i b r i collegii mit der ausnahms8 Politica, Kap. I V , 3; Bodin, Buch I, Kap. V I ; zur Ergänzung: es handelt sich u m S. 68, 69 sowie 99, 100 der Bodinschen Darlegungen. 9 Ebd., S. 217, F N 11. 10 P. J. Winters, Die »Politik 4 des Johannes Althusius u n d ihre zeitgenössischen Quellen, 1963, S. 334 ff. 11 Politica, Kap. I V , 1—25.
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weise deutschsprachigen Bezeichnung „Zunftbücher" versehen werden. 12 Dazu paßt es jedoch nicht, daß Althusius sie gleich eingangs als zeitlich begrenzt und von nicht so langer Dauer als ein Menschenleben beschreibt und ihre Auflösbarkeit i n gutem Einvernehmen der Partner ohne Ehrverlust hervorhebt. 13 Hier ist die niederländische Realität in ihrer Modernität (Handelsgesellschaften) wohl Vorbild gewesen, obwohl das von der Gesamtkonzeption her eine Systemdurchbrechung darstellt. Gemeinsam ist beiden Autoren, daß sie eine deutliche Trennungslinie legen zwischen die genannten schon höheren Zusammenschlüsse, die als private angesehen werden, und die consociationes publicas in der öffentlich-rechtlichen Sphäre, wie w i r heute sagen. Jene haben keine öffentliche Gewalt, sie sind also rein gesellschaftlich, keineswegs aber sind sie rechtlos. Althusius weist den privaten Vereinigungen, ob familiären oder regionalen oder kollegialen, eine eigene Rechtssphäre zu, die dem göttlichen Recht entstammt, also ein autonomes, nichtstaatliches Recht (leges propriae), 14 worin von vornherein Über- und Unterordnungsverhältnisse enthalten sind 15 , so daß dies Recht auch eine Befehlsgewalt begründet. Dies ist nach Althusius zugleich eine Erfahrungstatsache 18 , die i n verschiedener Ausprägung in jeder Gesellschaft feststellbar ist. — Bodin löst, wie gleich zu erörtern ist, diese Problematik derselben sozialen Erscheinungen anders. I n das Existenzrecht dieser (gesellschaftlichen) Vereinigungen dürfen die consociationes publicae nicht eingreifen. Zutreffend führt H. van Eikema Hommes 17 die Trennung des Rechtsbereichs der privaten Vereinigungen vom staatlichen Bereich auf die Lehre des Althusius von der Überordnung des göttlichen Naturrechts über das positive Recht zurück, dessen überpositive Rechtsprinzipien zu der inneren Begrenzung der Rechtsmacht des Staates gegenüber den nichtstaatlichen Gesellschaftsverhältnissen verpflichten, und sieht darin die ersten, noch unvollkommenen Anfänge des später entstehenden und viel später rechtstheoretisch begründeten Rechtsstaats. — Dazu könnte man etwas einschränkend sagen: Die Beschränkung des Staates als Rechtsschöpfers und Inhabers der öffentlichen Gewalt dient gemäß einer schon von Plato stammenden Idee der Gerechtigkeit oder andersherum — i m Sinne der Konstruktion der Politica —: Die selbständige Rechtssphäre der consociationes privatae dient der 12
Ebd., I V , 17. Ebd., I V , 2. 14 I, 19. 15 I, 11. 18 I, 12. 17 Die Bedeutung der Staats- und Gesellschaftslehre des Johannes A l t h u sius für unsere Zeit, i n : Recht u n d Staat i m sozialen Wandel, 1983, S. 211 ff., 230—232. 13
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öffentlichen Gerechtigkeit, indem sie die Sphäre der consociatio universalis begrenzt. Der nichtstaatliche Eigenrechtsbereich der privaten Vereinigungen begrenzt also bei Althusius nach göttlichem Recht die potestas publica. Auch Bodin trennt, wie gesagt, die Sphäre der unteren consociations von der öffentlichen Rechtsmacht. Dieser Gedanke ist in so scharfer Abstraktion bei beiden Autoren originär. Ob ihn beide Autoren jeweils selbständig gedacht haben oder ob Bodins zunächst mehr konkrete Formulierungen Althusius dazu angeregt haben, ist kaum zu entscheiden. Gegen die zweite Version spricht, daß Bodin zwar wie Althusius die regionalen Vereinigungen, die er coporations nennt, nur gesellschaftlich begreift, dabei aber die beruflichen Vereinigungen aus Kaufleuten und Handwerkern eher vernachlässigt 18 , die bei Althusius sogar auf zweierlei A r t als zwangsläufige oder willkürliche erscheinen. Merkwürdigerweise ordnet Bodin auch die Städte den corporations zu. Sie existieren und ihre Oberen fungieren also ohne öffentlich-rechtliche Gewalt nur mit einem auf Grund des Naturrechts selbsterzeugten Recht nach innen, obwohl er ihnen nach außen ihre überlieferten Rechte zugesteht 19 , zumal er selbst als Abgeordneter des Dritten Standes bei den Etats Généraux 1576 in Blois aufgetreten ist und somit in ihrem Namen die Bewilligung von Mitteln abgelehnt hat, die den Bürgerkrieg verlängert hätten 20 . Bodin erklärt sogar ausdrücklich die communautés als für einen état populaire notwendig und erstreckt deren Wirkung auch auf Aristokratien und auf justes Royautés. Er gerät i n ein gewisses Pathos, wenn er die Befriedigung der subjects bei Anwesenheit des Königs in den états généraux erwähnt. Das ist patriarchalisch gedacht, noch nicht demokratisch, stellt aber eine Vorstufe zur Demokratie dar, wie aus Bodins Hinweisen auf andere Staaten, insbesondere auf England hervorgeht. 21 I n der höheren Staffelung des organisatorischen Aufbaus setzt sich die Parallele zwischen beiden Verfassern also zwar fort, aber nur methodisch! Beide lassen die privaten Korporationen regional und funktional durch höhere Zusammenschlüsse heraus aus der gesellschaftlichen in die öffentlich-rechtliche Ebene eintreten. 22 Es entsteht eine rechtlich legitimierte öffentliche Gewalt. 18
lées. 19 20 21 22
République, Buch I I I , Kap. V I I , S. 499, wörtlich: communautés bien reigEbd. Ebd., S. 485. Ebd., S. 501. République, Buch I I I , Kap. V I I , S. 474; Politica, Kap. V, 10.
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Dann aber scheiden sich die Geister: Während Bodin in seiner neuartig gefaßten Souveränitätslehre die summa potestas oder majestas, die Souveränität dem König als der überliefert bestehenden Institution zuschreibt 23 , verbleibt nach Althusius alle Gewalt bei dem somit zusammengefaßten Gesamtvolk 24 ; Althusius erkennt jedoch dessen praktische, d. h. durch seine Größe bedingte Handlungsunfähigkeit und führt daher als Organe des Volkes die Ephoren 25 ein. Den Ephoren steht aus der summa potestas heraus das jus regni constituendi zu. Dieses Herrschaftsrecht müssen sie sogar bis zur eigenen Machtverminderung ausüben. Denn Althusius erkennt ferner die Notwendigkeit der alltäglichen Ausübung der summa potestas in der gegebenen Realität an, wie sie durch den Fürsten und seinen Apparat geschieht. Die öffentliche Gewalt gehört diesem aber nicht zu eigen, er hat sie nur auszuüben und w i r d deshalb in der Abstraktion, in die Althusius seine Darstellung auch hier erhebt, summus magistratus 28 genannt, ein deutlicher Kontrapunkt zu den Bestrebungen der Fürsten jener Zeit. Daß das Wirken dieses summus magistratus nur mandatarisch ist, ergibt sich daraus, daß nach Althusius den Ephoren, also den Landständen, Kontrollrechte gegeben sind. Darin liegt das zentrale Moment der Lehren der Politica, schon in deren erster Auflage von 1603, weshalb ihn wohl wegen des Dauerkampfes mit dem Grafenhaus die Emder ins Amt des Stadtsyndikus beriefen, nicht ahnend, wie sehr Althusius befähigt war, einem „ A u f tragsverhältnis", i n dem er in Zukunft zur Stadt Emden stehen sollte, praktisch zur Selbständigkeit von Entschluß und Handeln zu verhelfen. 27 Schließlich ist hier daran zu erinnern, daß Althusius auf dieser Grundlage: „Machtgebrauch des Summus Magistratus nur zur rechtmäßigen Ausübung unter Kontrolle der Ephoren" diesen ein Widerstandsrecht gegen den grob unrechtmäßig handelnden magistratus zugesteht. Vielleicht könnte Althusius seiner Emder politischen Praxis den Marsch der Emder Stadtsoldaten nach Aurich zum Grafenschloß 1625 auf diesen Gedanken gestützt haben, sehr zu Unrecht, wie Antholz hervorhebt. 28 23
Ebd., Buch I, Kap. V I I I , S. 122 ff., 131. Politica, Kap. I X , 16. " Ebd. 26 Ebd., Kap. X V I I I , 63. 27 H. Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius i n E m den, Aurich 1955. Antholz gibt sehr genaue historische Belege, hier insbesondere für die 1611 beginnenden Streitigkeiten u m den Stadtsyndikus. 28 Ebd., S. 190. 24
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Zu erwähnen ist der Vollständigkeit halber, daß Althusius den Fürsten nicht nur als summus magistratus sieht, sondern ihm entsprechend der Realität des Reiches auf einer höheren Ebene des Zusammenschlusses, auf der Reichsebene selbst als Ephorus, d. h. als Teil des — modern ausgedrückt — Reichsorgans der Reichsstände fungieren läßt. Das ist für unsere Thematik unwichtig, hat aber sonst erhebliche Bedeutung für die Anfänge des Reichsstaatsrechts 29, auch wenn keine Zusammenhänge zwischen Althusius und der Jenaer Schule, etwa des Arumaeus (aus Westfriesland) und damit zu Limnaeus, bestehen sollten. Ganz anders sieht das Verhältnis von Politik und Recht bei Bodin aus. Während dem König die summa potestas, die souveraineté, und damit das „droict gouvernement" zusteht, an das er seinem Inhalt nach strikt gebunden ist 30 , haben die consociations, die Stände, nur einige Rechte, die w i r als Grundrechte bezeichnen können, vornehmlich das schon erwähnte Steuerbewilligungsrecht und ein Eigentumsschutzrecht auch für ihre Glieder gegenüber dem Fürsten. 31 Sie besitzen keine summa potestas, weil nach Bodin die Souveränität unteilbar ist. 32 Bodin läßt die Königsmacht nicht etwa durch die Generalstände kontrollieren, die Bindung des Königs liegt für Bodin i m Ideenbereich, also im Naturrecht, das göttlichen Ursprungs ist 38 , wie er mehrfach sagt, und unmittelbare Geltung besitzt. Deshalb scheidet er es als „droict" von den bloßen „lois", den einfachen Gesetzen, wie man sagen könnte. Diese kann der König völlig selbständig erlassen; er vermag sie auch aufzuheben, nicht nur seine eigenen, sondern auch die seiner Vorgänger. Was er nicht aufheben kann, sind altüberlieferte Grundgesetze wie die lex salica, dies schon deshalb, weil das Salische Gesetz, das fränkische Stammesrecht, die Thronfolgeordnung enthält. Doch auch andere hierin überlieferte Rechtsgegenstände — auch solche i n anderen alten leges — fallen für den König unter ein Abänderungsverbot. Ob Bodin sie zum droict als droict gouvernement rechnet oder i n ihnen eine andere Kategorie hohen Rechts sieht, ist strittig. Die Grenzen königlicher Eingriffe i n den althistorischen Rechtsbestand sind demgemäß offenbar fließend.
sf l R. Hoke, Die Reichsstaatslehre des Johannes Limnaeus, 1968, hier 2. Teil, S. 54 ff., insbes S. 61 ff., vgl. auch ders., Bodins Einfluß auf die Anfänge der Dogmatik des deutschen Reichsstaatsrechts, Vortrag auf der Internationalen Bodin-Tagung, München 1971. Ebd. 1973. 80 République, Buch I, Kap. V I I I , S. 122, Buch I I , Kap. I I I , S. 279. 81 Ebd., Buch I, Kap. V I I I , S. 157, Buch I I , Kap. I I I , S. 280, Buch I I I , Kap. V I I , S. 500. 82 Ebd., Buch I, Kap. V I I I , S. 122. 38 Ebd., Buch I, Kap. I I , S. 15 und Kap. I I I , S. 21, Buch I I I , Kap. V I I , S. 476.
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Was aber geschieht, wenn ein König das ihn beschränkende Droict im konkreten Fall grob mißachtet? Auch dann steht nach Bodinscher Theorie den Ständen kein aktives Widerstandsrecht zu. Die Stände Frankreichs stritten, unterschiedlich nach Provinzen, in der Realität des Religionskrieges gegeneinander, ja auch innerhalb jedes konfessionell gespaltenen Standes. Da die komplexe Systematik des Bodinschen Denkens auch historisch-empirisch ist, so können die Generalstände kein Widerstandsrecht besitzen. Bodin hat ihnen in seiner theoretischen Konzeption auch keine Rechte zur Ausübung von Macht zugedacht. Er hoffte i m Gegenteil auf einen starken König, denn die Erinnerung an Franz I. und gewisse Erfolge Heinrich II. waren noch lebendig. Bodin hat die Persönlichkeit Heinrich IV. als möglichen Kronprätendenten vielleicht richtig gesehen, jedenfalls hat er einen starken König in ihm noch erlebt. Wenn dieser sich auch nach seiner politisch bestimmten Konversion noch nicht voll durchgesetzt hatte, als Bodin 1593 starb, so entsprach er doch seiner Vorstellung eines legitimen Herrschers. 34 Immerhin erwies sich Bodins politische Rechnung später als richtig. Man ist heute davon abgekommen, ihn als Wegbereiter des absoluten Königtums zu bezeichnen, ja man hat ihn sogar etwas überhöht als Vorläufer Montesquieus bezeichnet. 35 Das ist jedoch zu äußerlich gesehen, denn seine Lehre von der Souveränität ist von der tiefen Überzeugung getragen, daß diese ein „droict", keine bloße Summe von Rechten ist, die aus von Menschen gemachten Gesetzen stammt. 36 Deshalb ist die Souveränität unteilbar, so daß sie nicht auf zwei Institutionen, auf den König und die Stände verteilt werden darf. Es ist folgerichtig, daß Bodin jedes Widerstandsrecht auch gegen einen unrechtmäßig handelnden König ablehnt. Gegen einen Tyrannen ist es jedoch ein zulässiges Mittel, aber ein König kann offenbar kein Tyrann sein, auch wenn er die Veranstaltung einer Bartholomäusnacht zum mindesten duldet. Insoweit ist Bodin, und nicht nur er, i m überlieferten Denken befangen. Zusammenfassung M i t dem aus der politischen Pragmatik hergeleiteten Gedanken des Systems Bodins darf man die Darstellung nicht enden lassen. Die 34
République, Buch I I , Kap. I I , S. 302, Buch I I , Kap. I I I , S. 279. Es handelt sich nur u m gelegentliches abgeschwächtes Wiederaufgreifen der Thesen von E. Fournol, Bodin, prédécesseur de Montesquieu, 1896. 3e P. Mesnard, L'essor de la philosophie politique au X V I e siècle, 1951, S. 543 spricht von réalisme intégral. I n der Tat handelt es sich beim droit gouvernement u m ein real wirksames Wertsystem, das die souveräne Macht trägt und begrenzt. Ä h n l i c h K . Th. Buddeberg, Uber die Führung des Staates i m Zusammenhang rechtlichen u n d religiösen Denkens, AöR, N.F. 28, 1937, S. 257 ff., insbes. S. 282 ff. u n d ders., Souveränität u n d Völkerrecht bei Jean Bodin, ebd., N.F. 32, 1941, S. 193 ff. 35
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Antriebskräfte liegen tiefer. Bodin ist Zeit seines Lebens nicht nur formal ein katholischer Christ gewesen, wie weit er ein praktizierender war, ist für seine Lehre ohne Bedeutung. Aber, selbst wenn er das war, hat ihm das nicht geholfen, den Verdacht des Neutralismus zwischen den verfeindeten Konfessionen abzuschütteln. A m 23. August 1572 entging er nur mit Hilfe unverdächtiger Legisten seinen Mördern. Der Geist der Toleranz ist es, der ihn zu seinem Neutralismus auch in den Six Livres de la République führte. Deutlicher kommt das zum Ausdruck i n seinem 1566, zehn Jahre vor der République erschienenen Buch „Methodus ad facilem historiarum cognitionem". Hier wandte er die Methode des Ramus an, die auch, wie eingangs gesagt, von Althusius befolgt wurde. Er macht sich vom Schema des durch die mittelalterliche Überlieferung umgeprägten Aristotelismus frei sowie von der theologisch bestimmten, besonders i m protestantischen Teil Deutschlands noch herrschenden Vier-Reiche-Lehre und gestaltet das Werk zu einer umfassenden Rechtsgeschichte. Er sammelt alle i h m nur irgend zugänglichen Rechtssysteme und vergleicht sie kritisch. Dabei geht er vom Rechtsdualismus des zeitgenössischen Frankreich aus (im Süden das Römische Recht, i m Norden das überlieferte Gewohnheitsrecht, das droit coutumier) und greift den Gedanken einer nationalen Rechtsreform auf 37 , der i m Bürgerkrieg aus dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit erstarkte. Bodin trägt hier also Fakten zusammen und gewinnt daraus ein Resultat, denkt also induktiv und folgt damit der aufkommenden mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkmethode, die auch i m Titel der Schrift anklingt. Die Idee des droit gouvernement erhält schon hier ihre konkrete Prägung. I n der Wissenschaft von der Geschichte, die per se in den Bereich der Geisteswissenschaften fällt, kann Bodin jedoch auch der deduktiven Methode nicht entraten, was den Reiz der Darstellung ausmacht. Diese Methode w i r d dann noch stärker wirksam in seinem Hauptwerk, der République. Die Königswahl durch das Volk, die historisch, i m ursprünglichen Verständnis richtig, in die fränkische Zeit zurückverlegt wird, ist von Gott inspiriert. 3 8 „Le prince tient le sceptre et la puissance de Dieu seul" 39 . I n der Ausübung der Macht ist der König dann „lieutenant de Dieu" 4 0 . Der deutlich überwiegende monarchische Gedanke entstammt also dem Glauben Bodins, nicht bloß den durch 37 s. dazu: G. Roellenbleck, Z u m Schrifttum über Jean Bodin seit 1936, Teil I I , i n : Der Staat, Bd. 3, 1964, S. 227 ff., 231. 38 République, Buch I I I , Kap. V I I , S. 476. 39 Ebd., Buch I, Kap. V I I I , S. 143. 40 Ebd., Buch I, Kap. X , S. 211.
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ganz Europa hin i m öffentlichen Bewußtsein fest verwurzelten Vorstellungen vom königlichen oder fürstlichen, von Gott bestimmten Oberhaupt, wenn auch sein Weltbild unvermeidlich davon mitbestimmt gewesen sein dürfte. Diese monarchische Tendenz begründet weitgehend den Erfolg der Six livres de la République von 1576, denn die gebildeten Schichten Frankreichs wurden, abgesehen von als radikal geltenden Monarchomachen wie François Hotman, dadurch gewonnen. Erst das rationalaufklärerische und ein extrem liberales Denken des 19. Jahrhunderts hat diese Tendenz mißverstanden. Durch die lateinische Ausgabe von 1583 verbreiteten sich seine Gedanken über Frankreichs Grenzen hinaus. Selbst der religiös-konfessionell gebundene Althusius konnte, wie oben gesagt, aus dieser Quelle schöpfen. E i n weiteres Werk Bodins zeigt allerdings deutlich seine Neigung zu überkonfessioneller Ungebundenheit, das „Colloquium Heptaplomeres", das er kurz vor seinem Tode 1593 vollendete, wenn er es auch viel früher begann. Es handelt sich u m ein Gespräch unter sieben gelehrten Freunden, die jeder verschiedenen Glaubens sind und i m Ergebnis vergebens einen übergeordneten religiösen Standpunkt erstreben. 41 Heptaplomeres blieb zunächst eine ungedruckte Hinterlassenschaft, so daß sie Althusius nicht kennen konnte. Das Manuskript wurde vergessen und erst 1857 durch Noack herausgestellt, in Schwerin gedruckt. Das Werk stellt die Hauptgrundlage für die i n der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders bemerkbare Beurteilung Bodins als Deist dar. Abschließend darf man vielleicht sagen: Bodin dachte philosophisch mit den Mitteln seiner Zeit, aber über seine Zeit hinaus. Die Six livres de la République sind nicht nur pragmatisch-politisch konzipiert, sondern aus religiöser und philosophischer Überzeugung geboren. Daß das Werk des Althusius straffer und einheitlicher wirkt, liegt daran, daß er den ramistischen Pragmatismus i n der Methode anwendete, i n der Sache aber aus einer innerlich einheitlichen Glaubensüberzeugung dachte. So etwa darf man methodisch und inhaltlich den Hauptunterschied i m Werk der beiden Autoren kennzeichnen.
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Roellenbleck
(FN 37), Bd. 2, S. 339, Bd. 3, S. 227 ff.
MACHTSTAAT UND MACHTSTAATSGEDANKE I N D E N POLITISCHEN L E H R E N DES JOHANNES A L T H U S I U S UND DES JUSTUS LIPSIUS Von Carl Siedschlag, Bad Oeynhausen I m Rahmen der Würdigung von Leben und Werk des Herborner Rechtslehrers Johannes Althusius und insbesondere seiner politischen Theorie sollte die Aufmerksamkeit auf einen bereits vermuteten Tatbestand gelenkt werden, der unseres Wissens noch nicht genügend überprüft und gewürdigt wurde: daß es der Quellenbefund nicht abwegig erscheinen läßt, in Althusius auch einen ,deutschen Lipsius' wiederzuerkennen 1 . I m Hinblick auf Entwicklung und Ausgestaltung der politischen Lehre des großen deutschen Rechtsdenkers soll also der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit er, zusammen m i t vielen seiner Zeitgenossen, in den Bannkreis des niederländischen Universalgelehrten Justus Lipsius geraten ist und ob bestimmte Auffassungen der »Politik 4 des Althusius denjenigen des ,Theoretikers des neuzeitlichen Machtstaates' ähnlich und wesensverwandt sind. Das politische Anliegen von Justus Lipsius i n voller Breite zu w ü r digen kann nicht Aufgabe dieses Beitrages sein. Es ist das Verdienst von Gerhard Oestreich, den bedeutenden niederländischen Philologen und seine auflagenstarken, sensationell anmutenden Bucherfolge wiederentdeckt und i n zahlreichen Abhandlungen den außergewöhnlichen Einfluß erkannt und dargelegt zu haben, den seine politischen Hauptwerke Konstantia' und ,Politica' auf die praktische Staatswissenschaft und Regierungslehre des 17. Jahrhunderts ausübten 2 . 1 Vgl. Ernst Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, Karlsruhe 1955, S. 73; Peter Jochen Winters, Die »Politik' des Johannes Althusius u n d ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg 1963, S. 34, Anm. 41 ; Hans Ulrich Scupin, Demokratische Elemente i n Theorie u n d Praxis des Johannes Althusius, i n : A Desirable World. Essays i n honor of Professor Bart Landheer, hrsg. von A. M . C. H. Reigersman/Van der Eerden/G. Zoon, Den Haag 1974, S. 67—78 (69); Michael Behnent Herrscherbild und H e r r schaftstechnik i n der „ P o l i t i k a " des Johannes Althusius, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 11. Band, Heft 4, B e r l i n 1984, S. 426 f. hebt hervor, daß die Neustoa des Lipsius von außerordentlicher Bedeutung für Althusius war. 2 Gerhard Oestreich, Geist u n d Gestalt des frühmodernen Staates, Ausgewählte Aufsätze, B e r l i n 1969; ders., Strukturprobleme der Frühen Neuzeit,
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Der philosophische und politische Neustoizismus, der seinen Ausgangsort i m europäischen Humanismus hat, läßt sich als eine von den Niederlanden ausgehende geistige Bewegung und umfassende kulturelle Strömung bestimmen, die vor dem Hintergrund der aus der Glaubensspaltung resultierenden krisenhaften Zuspitzung i n vielen Staaten Europas ihre Faszination nicht verfehlte. Es war besonders das Römertum des Prinzipats, das einen nachhaltigen Einfluß auszuüben begann und mit dem 17. Jahrhundert ein beinahe ,neurömisches 1 Zeitalter heraufziehen ließ. Durch mustergültige Neuausgaben, Übersetzungen und Kommentare zu neuem Leben erweckt, werden Seneca, Epiktet und Marc Aurel zu philosophischen Führern einer neuen Weltanschauung der Gebildeten, und die von ihnen vertretenen stoischen Lebenswerte, vermittelt durch Montaigne, Guillaume du Vair, Charron und durch das Werk des Leidener Philologen, finden Anklang bei den der blutigen Auseinandersetzungen und dogmatischen Streitigkeiten überdrüssigen Zeitgenossen, weil sie einen möglichen Ausweg aus der politisch-geistigen Krise aufzeigen durch eine Zusammenführung von Christentum und Stoa sowie durch den festen Glauben an die Beherrschbarkeit der ,opinio' durch das Gegengift der ,ratio' 3 . Zur Verdeutlichung der eingangs aufgestellten Vermutungen über mögliche, aus den jeweiligen Hauptschriften des Niederländers und des Herborner Professors herauslesbare Übereinstimmungen in zahlreichen wichtigen Detailfragen der politischen Praxis, soll zunächst der Versuch unternommen werden, einige Anmerkungen zur Grundlegung der politischen Theorie des frühmodernen Macht- und Ordnungsstaates i n den politischen Hauptschriften von Justus Lipsius vorzutragen. M i t seinem 1584 erschienenen Werk ,De constantia l i b r i duo qui alloquium praecipue continent in publicis malis', von dem die Bibliographie Lipsienne bis zum 18. Jahrhundert 79 Auflagen, davon 15 in französischer Übersetzung nachgewiesen hat, leistete Lipsius einen vielbeachteten Beitrag zur weltanschaulichen Diskussion seiner Zeit, der der Begründung des philosophischen Neustoizismus weitgehend gleichzusetzen ist. Nach den Untersuchungen Diltheys gilt es als erwiesen, daß die Erneuerung der römischen Stoa, für die Lipsius, auch durch die philologische Aufbereitung und Analyse, die entscheidenden Voraussetzungen geschaffen hatte, ihre W i r k u n g auf Ethik und Anthropologie, die entscheidenden Stützen der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert, nicht verfehlt hat. Die Untersuchungen von Oestreich haben die Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von B r i g i t t a Oestreich, Berlin 1980; ders., Neostoicism and the early modern state, Cambridge University Press 1982. 8 Z u r Wirkungsgeschichte von Lipsius i n Frankreich s. Carl Siedschlag, Der Einfluß der niederländisch-neustoischen E t h i k i n der politischen Theorie zur Zeit Sullys u n d Richelieus (Historische Forschungen, Bd. 13), Berlin 1978.
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Verständnisdimension um ein wesentliches Element erweitert: durch den Nachweis der von Lipsius durchaus beabsichtigten Einbettung seiner Ethik i n einen über das Private hinausgehenden politischen Zusammenhang. Entgegen der Meinung Diltheys, der die Politik von Lipsius noch als „vielgelesene, doch recht unbedeutende politische Schrift" einstufte, muß die Wertung heute anders lauten. Konstantia' und ,Politica' sind nur als Einheit, als Bestandteile einer Gesamtidee zu begreifen. Die ,civilis doctrina', die die Strukturen und Organisation des zu errichtenden Machtstaates vorzeichnet, steht nicht nur äußerlich — die meisten Ausgaben enthalten beide Werke in einem Band — in einem intimen Abhängigkeitsverhältnis zur Morallehre der erneuerten Stoa. Die so erfolgte Rezeption der römischen Philosophie kam nicht von ungefähr. Neben dem humanistisch-wissenschaftlichen Interesse an der Rekonstruktion des ursprünglich antiken Textes, neben der sich verstärkenden Abwendung von mittelalterlich-scholastischer Philosophie, ist die Identität der politischen Konstellationen als entscheidendes Motiv i n Rechnung zu stellen. Bedingt durch die aus der Glaubensspaltung sich ergebenden Konflikte und Unruhen kommt es zu neuen Gewichtungen. Es ist die Neubesinnung auf die den Menschen Unabhängigkeit verheißenden, die Widerstandskräfte belebenden inneren Werte, die auf Christen aller Konfessionen und die Libertiner gleichermaßen eine wachsende Anziehungskraft auszuüben begannen. Was ist nun, in knappen Worten skizziert, das Anliegen der K o n stantia'? Gleich zu Beginn konfrontiert Lipsius den Leser m i t den Umständen, die zur Abfassung des Werkes geführt haben, dessen Lektüre der evangelische Theologe David Chyträus seinen Zuhörern m i t folgenden Worten ans Herz gelegt hat: „Kauffets ihr Studenten und lesets, dann in tausent Jharen ist dergleichen Buch in Philosophicis nicht geschrieben oder gesehen worden" 4 . Vor einigen Jahren, so berichtet Lipsius, verließ er sein von inneren Unruhen geschütteltes Vaterland. I n Lüttich legte er einen Zwischenaufenthalt ein, um einem Freund, dem Kanonikus und Humanisten Langius einen Besuch abzustatten. Das Gespräch zwischen dem jüngeren Lipsius, der vor möglicher persönlicher Verfolgung und politischer Unruhe sein Heil in der Flucht sucht und dem auf die Lehren der römischen Stoa eingeschworenen Freund, der zur Standhaftigkeit bekehren w i l l , bildet den äußeren Rahmen des aus zwei Teilen bestehenden Buches.
4 Justus Lipsius, Von der Bestendigkeit. Faksimiledruck der deutschen Ubersetzung des Andreas Viritius, hrsg. von L. Forster, Stuttgart 1965, V o r rede an den Leser.
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Der verständliche Wunsch eines empfindsamen Menschen, die Heimat aufzugeben, stößt bei Langius auf kategorische Ablehnung. Seine Gegenargumentation t r i f f t ins Schwarze, denn wo i n Europa, so fragt er seinen Gesprächspartner, gibt es die von ihm so sehnlichst herbeigewünschte Ruhe? Seine Schlußfolgerung erscheint zwingend: er solle nicht aus dem Vaterland flüchten, sondern vor den quälenden Leidenschaften; also: kein nutzloses Ausweichmanöver, sondern Festigung der Widerstandskräfte, lautet die Parole. Für diese Härtetherapie sprechen gute Gründe. Von entscheidender Wichtigkeit ist jedoch die Hinwendung zu Weisheit und Vernunft. Es gilt aus dem Dunstkreis der Meinungen herauszutreten, die uns etwa die Erfahrung vorenthalten, daß der Ursprung des uns bedrängenden Übels in uns selbst steckt und von dort her zu kurieren ist. Der neueinzuschlagende Weg zeichnet sich sehr deutlich ab. Die Überwindung der Krise ist nicht eine Frage der Orts-, sondern der Seinsveränderung. So begreift sich die Strategie der Selbstvervollkommnung als ein m i t Härte und Entschlossenheit geführter Kampf gegen die bedrückenden Leidenschaften. Hierzu ist also ,Bestendigkeit' vonnöten „und mit kempffen hat man jederzeit den Sieg erhalten, nicht m i t fliehen" 5 . M i t seiner Schrift Konstantia 4 hat Lipsius für den Begriff der „mala publica" eine neue Verständnisdimension erschlossen. Er definiert ihren Stellenwert i m Zusammenhang einer Weltanschauung, die ihre Sinngebung nicht mehr allein i n der Erstellung eines auf individuelle Bedürfnisse abzielenden, philosophisch unterbauten Normenkatalogs zur Lebensbewältigung findet, sondern in einer neuen Konzeption, die diesen Rahmen sprengt und den Durchbruch zu politischer Perspektive und Wertung anstrebt. Fortan ist der Neustoizismus als eine eminent politische Bewegung zu begreifen, die die Strukturen des neu zu errichtenden Staates vorzeichnet, aber nicht ohne zuvor das neue Rollenverständnis für den einzelnen umschrieben zu haben. Auf der Grundfolie der politisch-religiösen Krise seiner Zeit entwickelt Lipsius eine zu Praktikabilität und politischer Erkenntnis tendierende Ethik, die den einzelnen befähigen soll, die das Gemeinwesen bedrängenden Nöte zu durchschauen, sich ihnen nicht i n Resignation und Verzweiflung zu beugen, sondern sie standhaft zu ertragen und zu überwinden. Die pädagogische Ambition von Lipsius, neustoisch geprägt, ist damit auf römische Wertvorstellungen fixiert. Die sich hier auftuenden Möglichkeiten vernunftgemäßen Handelns und Denkens markieren Modernität und Erfolg dieser Weltanschauung. Diese auf Rationalität und Standhaftigkeit aufbauende politische Philosophie, die den Geboten des Schicksals w i l l i g zu folgen bereit ist, gewinnt ein zusätzliches, berei5
Vorrede, ebd.
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cherndes Profil. Es ist der unüberhörbare Appell zum tätigen, aktiven, kämpferischen Einsatz, zum Willensvollzug, der die Intensität des Wollens und der Handlungsbereitschaft in außergewöhnlicher Weise stimuliert, ,constantia' fortan als ,robur animi' begreifen läßt. So werden sich künftig Anthropologie und Staatsidee in idealer Weise ergänzen können, denn das die Persönlichkeitsbildung bestimmende Grundschema findet seine Entsprechung in der sich ausformenden Staatstheorie. Vernunftbezogenes Handeln, Beherrschung der Leidenschaften, Festigkeit, dem Gemeinwesen dienende Handlungs- und Kampfbereitschaft sind die Zierden des Bürgers, den ein nach rational-sittlichen Maßstäben zu organisierendes Gemeinwesen, der frühmoderne Staat, zu beherbergen hat. Das in der Konstantia' entwickelte, von neustoischer Ethik gesteuerte Leitbild für das Individuum und der dort deutlich erkennbar gewordene Trend, die politische Handlungsbereitschaft zu stimulieren und die Voraussetzungen für ein aktives Mitgestalten des neuzeitlichen Ordnungs- und Machtstaates zu umreißen, w i r d alsbald fester Bestandteil eines neuen, umfassenden politischen Ordnungsschemas, das Lipsius in den i m Jahre 1589 veröffentlichten ,Politicorum seu civilis doctrinae l i b r i sex', dem politischen Hauptwerk der Neustoa, ausgebreitet hat. Nicht zuletzt der Zusammenklang von Menschen- und Staatsbild ließ auch das Handbuch der Politik zu einem europäischen Bucherfolg werden, was durch 96 Auflagen und Teileditionen zwischen 1589 und 1806 anschaulich belegt wird. M i t der bewußten Hinwendung zum Aufgabenfeld der Politik, die eine unmittelbar einsetzende intensive Nachahmung an den führenden Bildungsstätten auslöste und in eine politisch-historische Bewegung einmündete, folgte Lipsius einer ebenfalls im Späthumanismus wurzelnden Strömung, die in den Werken von Machiavelli, Guicciardini, Muret und Bodin verkörpert ist. Lipsius widmet sein Werk den Kaisern, Königen und Fürsten. Ihre Macht erhebt sie über die Menschen und Dinge, sie hat gleichsam „das Ansehen einer Gottheit" 6 , d. h. eines wohlbegründeten Herrschaftsanspruchs, dem als gewichtiger Preis die Verantwortung für das Gemeinwohl zugeordnet wird. Vernunft und Erfahrung stellen jedoch die bei der Wahrnehmung des Herrschaftsauftrages auftretenden Schwierigkeiten klar vor Augen. Hier sind Hilfen vonnöten: Tugendhaftigkeit, 6 Die Zitate folgen der deutschen Ubersetzung des kurpfälzischen Rates Melchior Haganaeus: Von der Unterweisung zum weltlichen Regiment oder von bürgerlicher Lehr. Sechs Bücher Justi Lipsii, Amberg 1599. — Haganaeus hat offenbar i n Herborn studiert, wurde aber i m Jahre 1591 relegiert (Melchior Haganaeus relegatus est). Vgl. Gottfried Zedler/Hans Sommer (Hrsg.), Die M a t r i k e l der Hohen Schule und des Pädagogiums Herborn, Wiesbaden 1908, S. 13, Nr. 25.
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die wie ein Anker dem bedrängten Schiff Halt verleiht, Klugheit und Rat. Das gute Vorbild des Fürsten ist von großer Bedeutung, seine Tugendliebe erweckt zugleich diejenige seiner Untertanen. „Gehet uns w o l für m i t Tugend so folgen w i r auch recht nach." Das Aufgebot an Herrscherpflichten läßt der W i l l k ü r keinen Raum, denn „sie haben wol das Regiment über die Menschen: jedoch solches umb der Menschen willen und zu ihrem besten". Als Schutzbefohlene sind sie seiner Sorgfalt und Beflissenheit, seiner Zuneigung und väterlichen Liebe von Gott und den Menschen anvertraut. Die wohlverstandene Regierungskunst strebt nach einem gemäßigten Machtanspruch: „O wie ein rechtschaffener und frommer Regent ist das, der in solchem seinem hohen Stand . . . diese gantz unterschiedene ding: (gewalt und mässikeit) fein zu vermischen weiß". So sieht sich Lipsius i n voller Ubereinstimmung m i t den nachahmungswürdigen Geboten der Alten, damit die „Bücher unnd andere Schrifften meynend. Welche nemlich nicht schmeicheln . . . sondern . . . die lautere Warheit an tag geben" 7 . Zu Beginn des ersten Buches unternimmt Lipsius eine allgemeine Bestimmung des Gemeinwesens, das zum Ziel haben sollte, den gegenseitigen Vorteil und Nutzen zu wahren. Das politische Leben funktioniert aber nicht voraussetzungslos; zwei Anführer müssen seinen Gang bestimmen: ,prüdentia' und ,virtus'. Er besteht auf ihrem engen Zusammenwirken, denn ohne Tugend degeneriert die Klugheit zu Verschlagenheit und Bosheit. Der Tugend hingegen weist die Klugheit den rechten Weg. „Die ursach ist diese / Dieweil ein jedweder Tugend in der wähl und maß bestehet: Diese beede aber ohne die Klugheit nicht seyn können / und also viel weniger die Tugend" 8 . Die Klugheit als ein umfassender Leitbegriff der ,vita civilis' erfährt nunmehr ihre nähere Bestimmung: eine alles durchdringende, abwägende, ordnende Kraft, ist sie ein unerläßliches Regulativ, selbst für die Tugendliebe. Lipsius versäumt es nicht, den Weg zur Klugheit vorzuzeichnen: „Die Eltern der Klugheit aber seynd Erfahrung und ein Gedächtnis vieler Sachen." 9 Einen zuverlässigen Zugang zur Klugheit verschaffen auch die gesicherten Kenntnisse, der aufgespeicherte Erfahrungsschatz der Geschichte. Der Leser w i r d jedoch eindringlich ermahnt, die so gewonnene Weisheit nicht nur zu besitzen, sondern sie nach Kräften zu gebrauchen. „ M i t dem Poeten bin ich den Leuten Spinnen feind so zu einer Sachen ungeschickt und verdrossen seynd 7 V o n der Unterweisung zum weltlichen Regiment (FN 6), Vorrede Justi L i p s i i X V I I I u. X I X . 8 Ebd. I, 7. • Ebd. I, 8.
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und doch davon viel zu plaudern wissen . . . hingegen aber ist meine meynung, daß einer dieselbe nicht zum pracht oder schein haben solle" 1 0 so insistiert Lipsius und plädiert demgegenüber für Nutzbarmachung und Anwendung des zu einer bemerkenswerten Synthese verdichteten Begriffspaares von ,virtus' und ,prudentia'. Klugheit und Tugend, die Rectores der ,vita civilis', erfahren nun ihre Indienststellung i n das sich breit entfaltende politische Ordnungsschema des Niederländers. Seine Gestaltbarkeit hat den gesellschaftlichen Zusammenschluß zur bindenden Voraussetzung, denn „das bürgerlich Leben bestehet inn der Gesellschaft" 11 . Tragende Säulen menschlicher Gemeinschaften sind ,commercium' und ,imperium'. Letzteres w i r d von Lipsius einer weiträumigen Neuorientierung unterzogen; es umspannt die Bereiche von Befehl und Gehorsam, ,certum ordinem i n jubendo et parendo'. Das so eingeführte Wechselspiel von Befehlsgewalt und Gehorsamspflicht dient allerdings nicht dazu, etwa einer übersteigerten Machtfülle des Souveräns Vorschub zu leisten, sondern ist unerläßliche Voraussetzung lebenswichtiger und -notwendiger Ordnungsstrukturen, indem es erst die Möglichkeit zu menschlicher und menschenwürdiger Existenz eröffnet. „Dagegen aber fället alles zu grund, wo diese Seul und Grundfeste nicht ist: alles zergehet und w i r d zu Wasser, wo nicht diese zusammenhaltung vorhanden." 12 Eng verknüpft mit dem Bekenntnis zum Prinzipat als der ältesten, naturgemäßesten, vernunftähnlichsten, der Eintracht und dem Frieden dienenden Staatsform ist die Aufforderung, „der Unterthanen wolfahrt und bestes" zu befördern. Denn Herrschaftsrecht verschafft keinen Besitzanspruch am Gemeinwesen, vielmehr nötigt es unter das Joch einer schweren, väterlichen Verantwortung und unermüdlichen Pflichterfüllung, „ein frommer und rechtschaffener Regent ist sorgfältig und wacker als deme wol bewußt, daß bei grossem Regiment auch grosse Sorg unnd mühe vorhanden" 13 . Eine solch hochgesteckte Erwartung erheischt ihre Zurüstung. Zu sicheren Wegbereitern des nach Vollkommenheit strebenden Regenten ernennt Lipsius „Klugheit und Tugend" 1 4 , wobei letztere zum Ausgangspunkt und festen Bestandteil einer sich entfaltenden politischen Ethik auf stoischer Grundlage ausersehen ist. So entwickelt sich der Tugendbegriff zu einem Instrument der Herrschaftssicherung, ja zur 10 11 12 18 14
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
I, 10. I I , 1. I I , 1. I I , 6. I I , 7.
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unverzichtbaren Voraussetzung legitimer Machtansprüche überhaupt, deren Gültigkeit ohne sie erlöschen muß. Dieser Forderung kann aber nur Genüge getan werden, wenn der Tugendbegriff zu einer alles umfassenden Verbindlichkeit gelangt. Virtus, fortan als konstitutives Element der Machtidee begriffen, erfährt somit eine einzigartige und uneingeschränkt nachvollzogene Aufwertung. Der Tugendbegriff w i r d nun einer weiteren Differenzierung unterzogen. Den großen Tugendgestirnen wie der Sonne der Gerechtigkeit, dem Mond gütiger Nachsicht, der Treue und Bescheidenheit werden weniger glanzvolle, aber ebenso nützliche wie etwa die maßvoll praktizierte Freigiebigkeit zur Seite gestellt. Unzweifelhaft erwartet den verantwortungsbewußten Regenten eine schwierige Aufgabe, um so mehr erscheint es fortan angezeigt, den hier ausgebreiteten Anschauungen, der ,doctrina' i m Sinne eines römisch-stoischen Fürstenspiegels, ein gesteigertes Vertrauen entgegenzubringen. I m dritten Buch seiner Politik wendet sich Lipsius der das fürstliche Regiment nicht minder auszeichnenden politischen Klugheit zu. Denn erst Macht „gemässiget mit der M i x t u r der Klugheit" 1 5 verheißt Stabilität, verleiht dem politischen Anspruch Gestalt und Kraft. Dieser Verbindung wohnt eine überzeugende Zweckmäßigkeit inne, wie sonst noch wäre eine von Unvernunft und Leidenschaften sich speisende Kreatürlichkeit zu zähmen? Kluges Abwägen und die von ihm beflügelte Tat finden sich allerdings selten i n einer Person vereinigt. Die Last der Verantwortung überfordert die K r a f t des einzelnen. Die kluge Einsicht gebietet, nach Unterstützung Ausschau zu halten. „Derwegen er dann freylich gehülffen von nöten hat: und ist diß das vornemste stück der Klugheit an einem Regenten, daß er weise und kluge leute zu sich neme" 18 . M i t dem vierten, ausführlicheren Buch gelangt Lipsius von der allgemeineren zur stärker herrschaftsbezogenen Wesensbestimmung der Klugheit und damit zu ihrer festen Einbindung i n die Staatspraxis. Sie erfährt eine Unterteilung „ i n eine so in Friedens und eine andere, so i n Kriegszeit . . . bräuchlich", wobei die ,prudentia togata' göttliche Dinge (sacra et religio) und menschliche Sachen umfaßt, d. h. die nähere Bestimmung des Volkscharakters, Fragen, die den Machtausbau und Machtverfall, das Regiment, die fürstliche Autorität und die ,prudentia mixta' betreffen 17 .
15 18 17
Von der Unterweisung zum weltlichen Regiment (FN 6), I I I , 1. Ebd. I I I , 3. Ebd. I V , 13 u. 14.
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M i t Kriegswesen und Kriegführung setzt sich Lipsius i n den letzten beiden Büchern auseinander. Hier verkündigt er eine neue, wirkungsmächtige Wehridee, die i n ihren wesentlichen Anschauungen und Forderungen dem Geist der Neustoa unzweideutig verpflichtet ist. Aber, so scheut sich der Autor nicht zu fragen, darf sich der i n friedlicher Zurückgezogenheit wirkende Gelehrte zu dieser Aufgabe berufen fühlen? „Ich aber w i l es wagen. Nicht zwarn auß eignem Verstand oder Kräfften sondern vielmehr durch deren hülff, davon ich es von langen Jahren hero gelernt und genommen hab" 1 8 . Selbst Hannibal und Caesar, erfahrenen Praktikern, war es ein Bedürfnis, den Dingen auf den Grund zu gehen und sich dabei des Erfahrungsschatzes der Vergangenheit zu bedienen. I h n gilt es also auszubreiten und nutzbar zu machen, hier liegt die Kompetenz des Autors. Das derart gewonnene Verständnis läßt der Skepsis keinen Raum mehr, es zielt allein ab auf wohlbegründete und nützliche Entscheidungshilfe für den verantwortlich Handelnden, ja, die von der ,prudentia togata 4 vorgezeichnete innere Ordnung hat seine umfassende Ertüchtigung durch die ,prudentia militaris' geradezu zur Voraussetzung. „Dann was mag das Leben oder auch Fried haben ohne dieselbige? Das Vatterland, die Freyheit, die unterthanen, Ja auch die Regenten selbst müssen bey ihr Schutz und Zuflucht suchen" 19 . Nur auf ihrem harmonischen Zusammenklang w i r d eine realistische Staatsidee mit Überlebenschancen beruhen können — eine nach wie vor bedenkenswerte Lektion des Niederländers. Nunmehr beansprucht ein breites Spektrum militärischer Detailfragen die Aufmerksamkeit. Sie betreffen, stichwortartig angedeutet, den auswärtigen Krieg, den Bürgerkrieg, die finanziellen, materiellen, personellen und geistigen Voraussetzungen zur Kriegsführung. M i t seinem Bekenntnis zur militärischen Gewalt als realer Grundlage des Staates und der daraus hervorgehenden umfassenden Wehr- und Kriegslehre, die einen festen Platz innerhalb seiner politischen Theorie einnimmt, w i r d Lipsius zum „eigentlichen Philosophen des neuzeitlichen Machtstaates" 20 . Somit kann festgestellt werden: Es ist die hervorstechende Leistung des niederländischen Universalgelehrten gewesen, i n seinen politischen Schriften das Machtstaatsdenken machiavellistischer Provenienz an den Geboten neustoischer Moral zu messen und nötigenfalls zu modifizieren. Dieser Vorgang bedeutete 18
Ebd. V, 1. Ebd. V, 2. 20 Vgl. Gerhard Oestreich, Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates (1956), in: ders., Geist u n d Gestalt des frühmodernen Staates (FN 2), S. 35—79 (63). 19
21 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 7
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eine sittliche Verankerung des politischen Handelns, eine verbindliche Aufforderung an den politisch Verantwortlichen, sich trotz aller Verlockungen nicht von den Bahnen der Tugend abbringen zu lassen. ,Virtus' wurde zu einem Zentralbegriff, zu einem Prüfstein menschlichpolitischen Verhaltens schlechthin. Damit setzte Lipsius i m bisherigen politischen Wertsystem neue Akzente. Zwar bleibt auch für ihn die ,prudentia' weiterhin eine unverzichtbare Voraussetzung für erfolgreiches politisches Handeln, aber für sich allein birgt sie große Gefahren, in Verbindung mit der ,virtus' verheißt sie höchste Regierungskunst. Der Niederländer, dem die Systematisierung der philosophisch-weltanschaulichen Strömungen seiner Zeit zuzuschreiben ist, w i r d damit auch zur maßgeblichen Bezugsperson bei der nun umgehend einsetzenden, weitläufigen Rezeption neustoischen Gedankengutes durch die führenden Repräsentanten des geistigen und politischen Lebens in allen europäischen Staaten. I n der Tat besaßen die Persönlichkeit des Niederländers und die großartigen Leistungen, die er als Philologe und politischer Publizist hervorgebracht hat, eine einmalige Ausstrahlungskraft. Das bezeugen der mit allen namhaften Persönlichkeiten des europäischen Geisteslebens geführte Briefwechsel, der die stattliche Zahl von über 700 Korrespondenten umfaßt, und der an eindrucksvollen Auflagenhöhen ablesbare internationale Erfolg seiner Schriften. Zwar erwächst das philosophisch-politische Anliegen von Lipsius aus dem Gesamtzusammenhang der Niederländischen Bewegung, erfährt aber durch ihn seine eigentümliche, erfolgsträchtige, auf Einflußnahme und praktische Verwirklichung drängende pädagogisch-dynamische Ausrichtung. Abschließend soll nun noch die Frage nach möglichen Berührungspunkten zwischen der lipsianischen Politik und der kurz darauf (1603) erschienenen ,Politica' des Herborner Professors Johannes Althusius gestellt werden, die bei sieben Auflagen zwischen 1603 und 1654 und bei fehlender Übersetzung, ähnlich wie die 1576 erschienene République' von Bodin, eine wesentlich geringere zeitgenössische Breitenwirkung erzielt haben dürfte. Während Otto von Gierke zwischen Althusius und Lipsius nur eine beiläufige Beziehung vermerkt, die i n zwei Anmerkungen ihren Niederschlag findet 2 1 , meint Carl Joachim Friedrich, daß w i r nicht ohne weiteres annehmen dürfen, daß Althusius mit der lipsianischen Politik 21 Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der n a t u r rechtlichen Staatstheorien, 7. unveränd. Ausg. m i t V o r w o r t von Julius von Gierke, Aalen 1981 (Untersuchungen zur deutschen Staats- u n d Hechtsgeschichte, A. F., H. 7), S. 153, Anm. 91; S. 159, Anm. 109.
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wirklich vertraut war. Beide seien vielmehr i n mancher Hinsicht durch eine tiefe K l u f t voneinander getrennt 22 . Die verschiedentlichen Bezugnahmen auf das Werk des Lipsius dürften angesichts des mitunter sehr unbefangenen Umgangs mit Quellentexten der damaligen Zeit nicht überschätzt werden. Entsprechendes gelte für die von Althusius zitierten Vertreter der Staatsräson, Machiavelli und Botero. Es sei keineswegs sicher, ob Althusius diese Autoren wirklich gelesen habe 23 . Wenn auch ein davon abweichendes, anderslautendes Urteil einer ausführlichen, vergleichenden Analyse beider Werke vorbehalten bleiben muß, so sollen an dieser Stelle immerhin einige, auf eine teilweise enge Übereinstimmung abzielende Beobachtungen unterbreitet werden. Ich w i l l mich hierbei auf einige Andeutungen beschränken. Es hat den Anschein, daß Althusius, der deutsche Verteidiger ständischer Rechte, seinen niederländischen Kollegen als Staatsphilosophen von hohem Ansehen geschätzt und anerkannt hat. Denn er zitiert ihn oft und in manchen Kapiteln sehr weitgehend und ordnet sich i h m — bei aller Verschiedenartigkeit der Zielsetzung — auf den Gebieten, auf denen Lipsius maßgebend ist, durchaus unter 2 4 . Althusius übernimmt i m einzelnen als gültig und verbindlich namentlich die einschlägigen Äußerungen des Lipsius im Hinblick auf die staatliche Autorität, die Frage von Krieg und Frieden sowie auf Aufgaben und Organisation des Beamtentums und des Militärs. Seine Eigenständigkeit konzentriert sich demnach im wesentlichen auf die Lehre von der Volkssouveränität. Eine abschließende wörtliche Gegenüberstellung für die Bereiche des Beamtentums (Anlage 1) und des Militärs (Anlage 2) mag den Eindruck einer detailgenauen und breitgefächerten Übereinstimmung bekräftigen helfen, wie sie sich zwischen dem großen Althusius und dem magno Lipsio unschwer zu (erkennen gibt 2 5 .
22 Carl Joachim Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk i m Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, B e r l i n 1975, S. 42. 23 Ebd., S. 101. 24 Die Bereiche, i n die beide Gelehrte einzuwirken beabsichtigen, bleiben dabei unterschieden. Scupin (FN 1), S. 78, spricht i m Hinblick auf den tieferen, umfassenderen Geist Justus Lipsius' von einem weltmännischen Zug, der Althusius nicht eignet. 25 Vgl. f ü r Lipsius die Ausgabe: Politicorum sive civilis doctrinae l i b r i sex, Viennae Austriae 1752, f ü r Althusius: Politica methodice digesta, ed. Carl Joachim Friedrich, H a r v a r d 1932.
21'
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Anlage 1 Prudentia Civilis I . Species Prudentiae Civilis Lipsius, Politica,
III, 2, S. 49 f.
Sed duplicem prudentiam esse, a se, & ab aliis; i l l a m optari, hanc contingere. Jure hanc ergo P r i n c i p i nostro inesse volo, & multo magis adesse. . . . Et nostra Suada: Sapientissimum esse dicunt eum, cui, quod opus sit, ipsi veniat i n mentem: proxime accedere i l i u m , q u i alterius bene inventis obtemperet. Cumque iis, vel ab iis potius, historicorum uberrimus: Saepe audivi eum p r i m u m esse v i r u m , q u i ipse consulat, quod i n rem sit: secundum eum, qui bene monenti obediat: q u i nec ipse consulere, nec alteri parere seit, eum extremi esse ingenii. . . . Pauca enim aliqua unus videat, unus audiat. A t esse debent . . . m u l t i Regis oculi, & multae aures. Ibid., III, 3, S. 51 Itaque Adjutores ei capiendum: idque judicio. Eos duplices esse, Consiliarios & Ministros. N u l l u m enim majus boni i m p e r i i instrumentum, quam boni amici. . . . Adjutores m i h i duorum generum, Consiliarii & A d m i n i s t r i . U l i q u i lingua & mente i n primis j u v a n t : h i q u i manu & factis. Ibid., III, 4, S. 52 Appello Consiliarios, q u i fidi, rerum hominumque periti, salutaria suggerunt, pace sive bello. Althusius,
Politica,
cap. 27, Nr. 1, 3, 6, S. 243 f.
Prudentiae civilis species sunt duae: Est enim alia propria, alia m u t u a t i t i a & aliéna. U t loquitur Lipsius, allegans Ciceronem pro Cluent, dicentem: Sapientissimum esse dicunt eum, cui, quod opus est, ipsi veniat i n mentem: proxime accedere i l i u m , q u i alterius bene inventis obtemperat. Et L i v . dec. 22. Saepe audivi, eum p r i m u m esse v i r u m , q u i ipse consulat, quod i n rem sit; secundum, eum, q u i bene monenti obediat; q u i nec ipse consulere, nec alteri parere seit, eum esse extremi ingenii. . . . M u l t i regis oculi, & multae aures. Pauca enim aliqua unus videat, unus audiat. Vid. Lips. lib. 3. c. 2. pol. . . . Aliéna vel m u t u a t i t i a prudentia est, quae petitur & sumitur a consiliariis administris & amicis. . . . Consiliarii sunt, q u i fidi, rerum, hominumque periti, salutaria suggerunt, & v e l u t i p e r i t i nautae i n tempestatibus maris, clavum regere j u v a n t , sed tarnen absque potestate, imperio & jurisdictione. Bodin. lib. 3. de Repub. c. 1. Lipsius lib. 3. c. 4. . . . I n his consideranda 1. Qualitas consiliariorum. 2. Electio eorundem. 3. Consultatio.
Althusius u n d Lipsius
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I I . Consiliarii 1. Qualitas Consiliarii: Lipsius, Politica,
Probitas et Prudentia
III, 4, S. 52 f.
D e f i n i t i distinctius Consiliarii & p r i m a eorum munera explicata, Probitas, & Peritia rerum; denique ostensi i l l i , indice fama. Appello Consiliarios, q u i fidi, rerum hominumque periti, salutaria suggerunt, pace sive bello. D i x i fidos, i d est probos. . . . A d d i d i rerum hominumque peritos, i d est prudentes. . . . Prudentis enim hoc p r o p r i u m maxime munus arbitramur, recte consulere. Tales censeo, m o r u m animorumque provinciae gnaros. . . . I t e m Senes; quibus corpus annis i n f i r m u m , sit...
ingenium sapientia
validum
Tertio fortuna varia exercitos. . . . Quarto, quod satis sit, acutos. Althusius,
Politica,
cap. 27, Nr. 7 ff., 13 f., S. 244 f.
Qualitas consiliarii boni est, ut sit sapiens morum, animorumque regni subditorum & rerum politicarum gnarus, q u i sit amicus magistratus & imperii. . . . U t quisque maxime perspicit, quid i n quaque re verissimum sit, quique acutissime & celerrime potest & videre & explicare rationem, is prudentissimus & sapientissimus recte haberi solet. . . . Deinde, q u i cum scientia, experientiam & usum rerum habet. . . . A n n o r u m m u l t i t u d o docet sapientiam. . . . Requisita i g i t u r boni consiliarii sunt 1. p r u dentia. 2. affectus sincerus & fides i n Rempub. 3. mens libera. 4. t a c i t u r n i tas. . . . Primo itaque sit pietatis & integritatis amans, atque testimonio vitae probe actae ornatus. . . . I I . Consiliarius varios casus ipse sit expertus, & exercitatus i n prosperis & adversis rebus. . . . I I I . Sit acutus, promptus & bonus ex fama, & p l u r i m o r u m testimonio, & eloquens. . . . 2. Qualitas Consiliarii: Pietas, Liberias, Constantia, Modestia, Taciturnitas Lipsius, Politica,
III, 5, S. 54 f.
E x p l i c a t u m t e r t i u m munus, ut salubriter consulant: i d inclusum quinque m o n i t o r u m quasi l i n e i s . . . . Pietatem p r i m u m iis ingero, & ut consiliorum gubernaculum, Lex divina sit. . . . Libertatem secundo, u t fortiter, non obnoxie sententias dicant. . . .
Carl Siedschlag
326 Tertio C o n s t a n t i a m . . . .
Quarto Modestiam & placent i l l i , q u i specie obsequii regunt; ad omniaque, quae agenda sunt, quieta cum industria adsunt. A r t e enim & f l e x u quodam opus saepe, & obliqua via eundem, quo non licet recta. . . . Quinto Silentium; quia Taciturnitas o p t i m u m atque tutissimum r e r u m administrandarum vinculum. Nec res magnae sustineri possunt ab eo, cui tacere grave est. Althusius,
Politica,
cap. 27, Nr. 15 f., 21, S. 246
IV. Sit quoque fidus, fortis, liber lingua, constans & firmus i n bono negotio, sine veritatis occultatione vel suppressione, non mutans consilium bonum ad aliorum n u t u m & voluntatem. . . . V. Sit i n dicenda sententia sua & consilio dando modestus, placidus, humanus & affabilis, q u i specie obsequii regat, & ad omnia quae agenda sunt ducat, quieta industria, arte & flexo obliquo. . . . V I . Consiliarius sit ore presso, quia taciturnitas o p t i m u m & rerum aministrandarum praesidium & v i n c u l u m est.
tutissimum
Neque enim res magnae sustineri possunt ab eo, cui tacere grave est, ut Lips. d. c. 5. ex aliis probat.
3. Quae Vitanda Lipsius, Politica,
Consiliariis
III, 6, S. 55 f.
Quae vitanda Consiliariis: & p r i m u m quae impedimenta & velut vada bonae mentis? Ea quatuor notata. . . . Inter vada m i h i contumacia est, ad quam non semel obhaesit suasoria ista ratis. N a m quidam natura ita pugnaces, ut T a n t u m sententiis aliorum contradicant. Qui consilii quamvis egregii, quod non ipsi afferunt, i n i m i c i : Et adversus peritos pervicaces. Bis stulti, sive quod omnes sapere volunt ex suo ore. . . . Discordia item inter consuasores. . . . Tertio Affectus; a quibus sane omnes, q u i de rebus dubiis consultant, vacuos esse decet. . . . Quarto Avaritia, sive rei suae Studium. Ibid., III, 7, S. 57 f. Quae turbamenta, & velut Scopuli bonae Mentis? Très ostensi. A t inter Scopulos, quibus i l l i d i & frangi haec navis solet, prima m i h i Fiducia occurit: Quae profecto cum sapientia non commiscetur. Phoebaea vox est: Consilia calida & audacia prima specie laeta sunt; tracta t u dura, eventu tristia. . . . Scopulus alter, C u p i d i t a s . . . . Cui adjuncta Celeritas, infamis naufragiis i n hoc mari. N a m q u i cupit, festinat: q u i festinat, evertit.
Althusius und Lipsius Althusius,
Politica,
327
cap. 27, Nr. 22 //., S. 246 f.
V I I . Sit facilis, non contumax, contentiosus, pervicax, pertinax, o b s t i n a t u s . . . qui consilii, quamvis egregii, quod non ipse attulit, sit inimicus, & q u i omnes ex suo ore sapere v e l i t . . . . V I I I . Vacuus sit privatis affectibus, contrariis personae, vel negotio, de quo consilium dare rogatur; nec indulgeat irae, amicitiae, o d i o . . . . I X . Non sit confidens. N a m consilia callida & audacia, ambitiosa, prima specie laeta sunt, tractatu dura, eventu tristia. . . . X. Non laboret morbo cupiditatis, irae & festinationis praeproperae. Nam canis festinans, ut habet proverbium, caecos parit catulos: & q u i cito judicat, ad poenitentiam properat. Celeritas siqidem noverca consilii, & p r u dentiae pestis, & temeritatis mater; & festinatio improvida et caeca est, & infelix. Ideo Lipsius velocia ingénia non putat esse apta ad consilia. N a m semper movent aliquid, nec quieta quieta sinunt.
Anlage 2 Prudentia M i l i t a r i s I. Virtus Militaris Lipsius, Politica , V, 2, S. 146 Quae enim res v i t a m aut t r a n q u i l l u m usum habeat sine ista [virtus militaris]? Patria, libertas, cives, atque adeo ipsi Reges latent i n tutela ac praesidio bellicae virtutis. Althusius,
cap. 34, Nr. 3, S. 343
Et quae res v i t a m aut t r a n q u i l l u m usum habent, sine armorum cura? Cura, judicia, leges, religio omniumque rerum publicarum opes & potentia sub militaris disciplinae clypeo continentur. Patria, libertas, cives atque adeo ipsi reges latent i n tutela ac praesidio bellicae virtutis.
I I . Continentia, Modestia, Abstinentia Lipsius, Politica,
V, 13, S. 176
Tria sunt, sine quibus non robur i n exercitu, non ordo: Continentia, Modestia, Abstinentia. Althusius,
Politica,
cap. 34, Nr. 6, S. 343
Praeterea si disciplina m i l i t a r i s exercetur, commodum hoc sequetur, ut ex ignavo cive fortem, ex intemperante moderatum, e desidioso strenuum, e luxurioso frugalem, e libidinoso continentem efficiamus. I b i enim labor i n negotiis, fortitudo i n periculis exercetur, temperantia i n cupiditatibus, i n dustria i n agendo, celeritas i n conficiendo, consilium i n providendo.
Carl Siedschlag
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I I I . Miles Domesticus Lipsius, Politica , V, 9, S. 161 Domesticum m i l i t e m longe semper praeferam Externo. Althusius,
Politica,
cap. 34, Nr. 6
S. 343
I n bello etiam domesticus miles externo mercenario praeferendus est. . . . N a m apud mercenarios externos, fides exigua, v i x patientia: h i pugna frigidi, pavidi, civibus perniciosi, graves aerario, cum contra domestici fidi, obedientes, acres i n pugnam, reverentia, amore, & pacto magistratui obligati, amantiores patriae, u t i Lipsius late ex historiis probat I V . Bellum et Causa justa Lipsius, Politica,
V, 3, S. 146
M i l i t a r i s omnis Prudentia circa B e l l u m est: B e l l u m autem duplex, E x t e r n u m & Internum. I l l u d definio, v i m et arma i n principem aut populum alienum. De quo primo dicam, & universa, quae eo faciunt, praecepta ad t r i a haec capita redigam: suscipiendi, Gerendi, Finiendi. . . . I n Suscipiendo bello duo haec ferio moneo, ut I n j u s t i t i a omnis & Temeritas ab eo absint. Ibid., V, 4, S. 149 A t causa justa duplex, Defensio & invasio. . . . Defensionem autem dico duplicem, T u a m & Alienam. Tuam, cum v i m a te tuisque arces, & libertatem, patriam, parentesque armis tegis. Alienam i t e r u m duplicem : cum a Sociis, aut Oppressis. Althusius, Politica, cap. 35, Nr. 3, 5 f., S. 346 Actio ejusmodi bellica, constat membris duobus: susceptione scilicet, & gestione belli. . . . Causa belli justa esse censetur, quae j u r e n i t i t u r & summi magistratus autoritate. . . . Sed hae causae facile redigi possunt ad duas, quarum prior est defensoria, altera vindicatoria. . . . Defensionem autem intelligo duplicem, t u a m & alienam. Tuam, cum v i m a te tuisque arces & libertatem, patriam, parentesve armis tegis. Alienam, s i m i l i ter duplicem accipio: cum scilicet a sociis, aut oppressis defendis v i m & i n juriam. V. Temeritas et Deliberatio Lipsius, Politica , V, 5, S. 151 Satis . . . ab I n j u s t i t i a te arcui, nunc etiam a Temeritate . . . Magna res est: deliberationem postulat, eamque lentam. Althusius,
Politica,
cap. 35, Nr. 12, S. 348
Non igitur, nisi post longam deliberationen, bella sunt suscipienda, & rebus omnibus i n utrumque eventum paratis. . . . Lips. lib. 5. c. 5.
Althusius u n d Lipsius
329
V I . Disciplina Militaris Lipsius, Politica , V, 13, 5. 171 /f. Sed venio nunc ad praecipuum decus & stabilimentum Imperii, M i l i t a r i s Disciplinae tenacissimum v i n c u l u m : ex cujus sinu omnes t r i u m p h i manarunt. . . . Appello autem Disciplinam, severam conformationem m i l i t i s ad robur et virtutem. Partes ejus . . . facio quatuor: Exercitium, Ordinem, Coerctionem, Exempla. Priores duae ad Robur spectant m a x i m e ; tertia ad v i r t u t t e m ; quarta ad utrumque. Per E x e r c i t i u m intelligo, u t electum m i l i t e m assidue ad A r m a condocefacias & ad Opus. Ipsum nomen ita suadet; nam Exercitus dicitur, quod melior fit exercitando. . . . Nam i n omni praelio non tarn m u l t i t u d o & virtus indocta, quam ars & E x ercitium soient praestare victoriam. Althusius,
Politica,
cap. 36, Nr. 3 f., S. 349 f.
Disciplina militaris, est severa conformatio militis, ad robur & virtutem, a duce b e l l i instituta . . . u t Lipsius describit & Boter. lib. 9. c. 10. q u i hanc vocant praecipuum decus, & stabilimentum Imperii, & v i n c u l u m tenacissimum, ex cujus sinu omnes t r i u m p h i manarunt. . . . A d robur conformant milites, exercitium & ordo militaris. E x e r c i t i u m m i l i t a r e est, quo instruuntur milites assidue, & exercentur ad armorum usum, & ad opus. Unde exercitus dicitur, quod melior fiat exercitando, u t Varro docet. N a m i n omni praelio, non tarnen m u l t i t u d o & virtus indocta, quam ars & exercitium soient praestare victoriam.
V I I . Operis Exercitium Lipsius, Politica,
V, 13, S. 173 f.
Hoc armorum exercitium esto: sed addo & Operis, ut condiscat tiro assidue laborare, decurrere, portare pondus, et solem, pulveremque ferre. Indurant haec m i l i t e m : & exercitus labore proficit, otio consenescit. Sed usum quoque saepe habent, cum i n arduis expeditionibus necessitas i m m i n e t annonam pariter & arma portandi. Nec ista tantum, sed castrorum quoque munitionem debet tiro condiscere, Eoque fine fossam ducere, & sudes scienter f i g e r e . . . . Haec nova, inquiet aliquis? I m o pervetera: nec Romanis t a n t u m usitata, de quibus audi T u l l i u m : Q u i labor, & quantus agminis? Ferre plus d i m i d i a t i mensis cibaria, ferre si quid ad usum velint, ferre vallum. N a m scutum, galeam, gladium nostri milites i n onere non plus numerant, quam humeros, lacertos, manus. Sed etiam priscis Germanis: e quibus Catti m i l i t e m suum super arma ferramentis quoque & copiis onerabant.
Carl Siedschlag
330 Althusius,
Politica,
cap. 36, Nr. 5, S. 350
Opere milites exercentur, quando assidue laborare, decurrere, portare pondus, & solem, frigus, famen & sitim, & pulverem ferre discunt. N a m haec indurant m i l i t e m , & exercitus proficit labore, otio vero consenescit & languescit. Saepe etiam i n arduis expeditionibus nécessitas imminet, annonam pariter & arma portandi, castra muniendi, fossam ducendi, sudes figendi, munitiones parandi. Cie. 2. Tuscul. dicit, Milites Romanos scutum, galeam, gladium i n onere non plus numerare, quam humeros, lacertos, manus, quod seil, super arma, ferramenta, annona, aliaque instrumenta bellica quandoque illis sint portanda. V I I I . Ordo Militaris Lipsius, Politica,
V, 13, S. 174 f.
Jam pars altera Disciplinae Ordo: q u i m u l t i p l i c i t e r i n M i l i t i a servandus. P r i m u m i n digerendis copiis per legiones, cohortes . . . Eademque facilior ad imperia; cum miles scilicet centurioni, centurio tribuno obsequitur. Atque ita ordine i m p e r i u m Ducis simul omnes copiae sentiunt, Et ad n u t u m regentis sine t u m u l t u respondent. Certum enim & d a r u m est, non omnia omnibus imperanda, sed ita se Ducum auetoritas, sie rigor Disciplinae habet, ut multa Centuriones, Tribunosque t a n t u m j u b e r i expediat. Jam i d quoque videndum i n Itinere vel i n Acie, ut omnes milites incedendi Ordinem servent: U t aequali legitimoque spatio miles distet a m i l i t e : Nec ultra, quam expedit, aut conglobent agmen, aut laxent. Grande i n his rebus momentum, & saepe integri exercitus periere a t a l i aliqua confusione. . . . Quem i n Castris etiam mihe serva, ut illa habeant apta dimensione vias suas, portas, fora, & sint velut ad formam minutae urbis. . . . Sic ut facile cuique sit & locum suum & commilitones reperire. Althusius, Politica, cap. 36, Nr. 7, S. 350 Ordo militaris est i n bellicis actionibus, i n digerendis & distribuendis m i l i t i bus . . . ut n i m i r u m quilibet i n regimine suo, cohorte adsignata, sub suo centurione & praefecto i n contubernio suo inveniatur. I t a enim usus facilior, & expeditior, & effacior esse potest, & quilibet sui centurionis, & centurio t r i b u n i sui, tribunus vero sui ducis imperata exaudire, intellegere & facere possunt, ad n u t u m & voluntatem regentis, sine tumultu. Certum enim est, non omnia omnibus imperanda, sed ita se ducum autoritas, sie rigor disciplinae habet, ut m u l t a per centuriones tribunosque t a n t u m j u b e r i expediat, u t Lips, ex Tacito refert. . . . I n itinere quoque, vel i n acie videndum, ut omnes milites ordinem incedendi servent, ut aequali legitimoque spatio miles distet a milite, nec ultra quam expedit, aut conglobent agmen, aut laxent. Saepe enim integri exercitus ob confusione periere. . . . I n castris observandum, ut illa apta dimensione vias suas, portas, fora, ad formam urbis habeant, ut facile quisque locum suum & commilitones reperire possit.
Althusius u n d Lipsius
331
I X . Mores Militum: Coerctio Lipsius , Politica , V , 13, S. 176 Pars tertia, Coerctio: quae mores scilicet m i l i t u m coercet, ac frenat. . . . T r i a sunt, sine quibus non robur i n exercitu, non ordo: Continentia, Modestia, Abstinentia. . . . Continentiam primo i n Cibo & Venere: i d est, ne milites t u i effuse sint conviviis & v e n t r i dediti, & turpissimae p a r t i corporis. Utraque res enervat: & dégénérât a robore ac v i r t u t e miles assuetudine voluptatum.... Haud vane, o l i m dictum: Una A n n i b a l e m hiberna solverunt, & i n d o m i t u m i l l u m nivibus atque alpibus, enervaverunt fomenta Campaniae. A r m i s vicit, v i t i i s victus est. Quae t u cave: & arce severiter a castris tuis luxuriosos apparatus conviviorum, & instrumenta l i b i d i n u m . Althusius , Politica,
cap. 36, Nr. 7 ff., S. 351
A d v i r t u t e m milites conformât admonitio, coerctio & exempla. . . . Coërctio est, quae mores m i l i t u m coërcet & fraenat, atque robur & ordinem m i l i t a r e m i n exercitu conservât per continentiam, modestiam & abstinentiam m i l i t u m , et concordiam. Continentia i n cibo & Venere exigitur, ne milites effuse sint conviviis & v e n t r i dediti, & turpissimae p a r t i corporis. Utraque res enervat & dégénérât a robore ac v i r t u t e milites, assuetudine voluptatum. Ideoque a castris luxuriosos apparatus conviviorum, & instrumenta l i b i d i n u m arcebit dux belli, & leges de disciplina m i l i t a r i promulgabit & observabit. . . . Una Annibalem hyberna solverunt, & i n d o m i t u m i l l u m nivibus atque alpibus enervarunt fomenta Campaniae, armis vicit, vitiis victus est.
X . Mores Militum: Modestia Lipsius, Politica,
V, 13, S. 176 f.
Modestiam secundo exiges, eamque tripliter, i n Verbis, Vestibus, Factis. I n Verbis: ne sint vani, bucca turgidi, & quod dicitur, A t t i c i milites, qui i n conviviis & circulis, cum de hostibus mentio incidit, v i x manibus temperant: Sed iidem v i x v u l t u m eorum sustinent; n a m i d eventu semper f i r m u m : ignavissimus quisque, & i n periculo m i n i m u m ausurus, n i m i i verbis, linguae feroces. . . . V i r i fortes, i n opere acres, ante i d placidi. Quibus scilicet pectus animorum, iraeque tacitae plenum omnem ferociam i n discrimen ipsum certaminis differt. ... Lingua i n consilio valet, i n certamine dextra. I n Vestibus modestiam etiam quaero . . . Tamen servari m o d u m valde approbem, & sperni externum omnem l u x u m . M a g n i Duces sic statuerunt: H o r r i d u m m i l i t e m esse debere, non caelatum auro argentoque, sed ferro & animis f r e t u m . . . . M u l t o magis hoc vide, ut bene a r m a t i t u i sint, quam ut ornati
Carl Siedschlag
332
I n factis denique Modestiam exigo, ut obnoxii n i m i r u m parentesque sint, i n t e n t i ad ducis non Signum modo, sed nutum. Odi curiosos aut refractarios, quique jussa ducum interpretari malunt, quam exsequi. Bene Aemilius Paulus: M i l i t e m haec t r i a curare debere: corpus ut quam validissimum & pernicissimum habeat: A r m a apta: A n i m u m paratum ad subita imperia. Althusius,
Politica,
cap. 36, Nr. 10 ff., S. 351 f.
Modestia m i l i t u m exigitur i n verbis, vestibus & factis. I n verbis non sint contumeliosi i n hostem, insolentes, eumque contemnentes, non sint vani, & bucca turgidi, & quod dicitur, A t t i c i milites, q u i i n convivio & circulis, cum de hostibus mentio incidit, v i x manibus temperant, q u i jactabundi, v i x v u l t u m eorundem sustinent, & plerumque sunt ignavi, t i m i d i , & solis verbis feroces, nimii, i n periculis m i n i m u m ausuri V i r i fortes, i n opere acres, ante i d placidi, qui pectus animorum iraeque tacitae plenum habentes, omnem ferociam i n discrimen ipsum certaminis differunt. Lingua i n consilio valet, i n certamine dextra. I n vestibus m i l i t u m etiam modestia r e q u i r i t u r : & omnis splendor & jactantia illis vitanda. Horridus enim miles esse debet, non caelatus auro, argentoque, sed ferro & animo fretus. . . . Videndum i g i t u r potius, u t bene armatus miles sit, quam ut orantus. I n factis modestia exigitur, u t milites sint intenti ad ducis sui, non Signum modo, sed n u t u m quoque . . . non curiosi, vel refractarii, q u i ducum suorum jussa interpretari malunt, quam exsequi Miles haec tria curare debet: corpus ut quam validissimum & pernicissimum habeat; arma apta; a n i m u m ad subita imperia paratum, u t i ex L i v i o refert Lipsius.
ZUR KONTROVERSE ZWISCHEN HERMANN VULTEJUS UND GOTTFRIED ANTONIUS AUS DER PERSPEKTIVE DER POLITISCHEN THEORIE DES JOHANNES ALTHUSIUS Von Heinhard Steiger, Gießen I . A n l a ß und O r t der Kontroverse
Die hier zu behandelnde Kontroverse stellt das Präludium zu der die Reichspublizistik i m 17. Jahrhundert weithin prägenden Auseinandersetzung um die Stellung von Reich, Kaiser, Reichsständen, um die Souveränität im Reich dar 1 . Das Thema war zwar alt; aber durch die Theorie der Souveränität hatte Bodin ihm eine neue Qualität gegeben und durch seine Charakterisierung des Reiches als Aristokratie herausfordernd beantwortet 2 . Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, daß die Frage keine rein akademische war, sondern im höchsten Maße politische Bedeutung i m Kampf um die Macht zwischen Kaiser und Reichsständen hatte. Zwar nahm die Kontroverse das zentrale Problem Europas jener Zeit, die Entstehung des modernen Staates und die Stellung des Monarchen i n ihm auf, aber dieser erste Anlauf erreichte den Anschluß an die gesamteuropäische Diskussion weder i n den Formulierungen der Fragen noch in den Argumenten. Wenn auch die Fragestellung neu war, bedienten sich die Beteiligten der Kontroverse noch einer überkommenen Begrifflichkeit. Denn sie stritten sich um die Frage, ob der Kaiser princeps legibus solutus sei 3 , wenn auch Begriffe wie majestas, potestas suprema oder potestas absoluta i n der Argumentation selber verwendet wurden. Die ältere Formel versucht zwar, ähnliche Sachverhalte zu erfassen, wie der Begriff der Souveränität oder lateinisch 1 Dazu u. a. Roderich Stintzing/Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 1. Abt., München/Leipzig 1880, S. 462 ff. sowie 2. Abt., München 1884, S. 39 f.; Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, 3. Aufl., Münster 1972, S. 129 f.; Rudolf Hoke, Die Reichsstaatsrechtslehre des Johannes Limnaeus, Aalen 1972, S. 23—24. 2 Jean Bodin, Les six livres de da République, Ausgabe Paris 1583, 2. Neudruck Aalen 1977, S. 320 ff. 3 Z u dieser Formel nunmehr ausführlich Dieter Wyduckel, Princeps legibus solutus, Berlin 1979.
334
Heinhard Steiger
der suprema potestas; jedoch sind die strukturellen Unterschiede grundlegender Art. Sie wurden von den Kontrahenten nicht oder nicht immer bemerkt. Allenfalls wurden sie durch unreflektierten Begriffswandel überspielt; so blieb das Souveränitätsproblem als solches i n Wahrheit noch offen. Das aber führte zu Mißverständnissen und dazu, daß die Kontrahenten i n einigen zentralen Fragen aneinander vorbeiredeten. Auch die Argumente wurden jedenfalls teilweise aus der vergangenen Epoche des Reichsrechts entnommen und knüpften contra und pro eher an das Überkommene an, als daß sie das Neue in den Blick genommen hätten. Diese Beschränktheit der Argumentation mag ihren Grund i n den Umständen haben, in denen diese Kontroverse verlief. Sie begann eher beiläufig und ruhte über Jahre, bis sie dann plötzlich mit vollem Schwung losbrach, dann aber ebenso schnell wieder abbrach. Es begann mit einigen Sätzen des Marburger Professors der Pandekten Hermann Vultejus 4 in seiner Schrift „Ad Titulos Codicis, Qui sunt de Jurisdictione et Competently Commentarius", i n denen er dem Kaiser die legibus solutio absprach 5. Es geschah zunächst nichts. Die Sätze hatten keine Reaktionen; sie blieben offenbar unbeachtet. Erst acht Jahre später griff sie der Gießener Professor Gottfried Antonius® auf und an in den Corollarien zu einer „Disputatio De Augustissimae, Sacratissimaeque Camerae Imperialis Jurisdictione" 7. Nun ging es Schlag auf Schlag. Noch im selben Jahr antwortete Georg Martinius, ein Schüler des Vultejus 8 . Dieser selbst hielt sich aus dem Streit völlig heraus, was Antonius nicht wenig erboste. I n seiner „Disputatio Prima in Institutiones Iuris Civiles" betrafen mehrere Thesen das Thema de potestate Imperatoris legibus soluta, et hodierno Imperii statu, adversus Gothofredum Antonium 4 Zur Person: Johann Philipp Kuchenbecker, Vita Hermanni Vultei, Gießen 1731; 3.H.Zedier, Universallexikon, Bd. 51, Leipzig 1747, Spalte 1296 ff.; Friedrich Wilhelm Strieder, Grundlagen zu einer hessischen Gelehrten- und Schriftstellergeschichte seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten, Göttingen 1781, S. 351 ff.; Stintzing/Landsberg, Geschichte (FN 1), l . A b t . , S.452. 5 Erschienen i n F r a n k f u r t am M a i n i m Jahre 1599. β Zur Person: J.H. Zedier, Universallexikon, Bd. 2, Leipzig 1732, Spalte 707 f.; Christian Gottlieb Jöcher, Allgemeines Gelehrtenlexikon, 1. Teil, A bis C, Leipzig 1750, Neudruck Darmstadt 1960, Spalte 457; Strieder (FN 4), S. 79 ff. 7 Erschienen Gießen 1607, Antonius w a r Präses, Respondens w a r Christoph Kalt. Es w i r d jedoch i n der L i t e r a t u r allgemein angenommen, daß Antonius der Autor war, meines Erachtens auch zu Recht. 8 Z u r Person des Georg M a r t i n i u s konnte ich Näheres nicht feststellen. 9 Erschienen Marburg 1607. Die Disputatio ist wieder abgedruckt, auszugsweise jedenfalls, i n : Melchior Goldast, Politica Imperialia, F r a n k f u r t 1614, S. 630 ff. Dort steht allerdings die Jahreszahl 1609 angegeben. Das kann aber nicht richtig sein. Denn es ist ganz eindeutig, daß sich diese Disputatio
Zur Kontroverse zwischen Vultejus und Antonius
335
Waren bisher die gegensätzlichen Thesen in Werken zu anderen Fragen mehr nebenbei enthalten gewesen, und auch sehr knapp und ohne eingehende Begründung gefaßt, so änderte sich das jetzt. Martinius wendete immerhin 64 Thesen an die Fragen, die damit zusammenhingen. Nunmehr nahm auch der Ton der Auseinandersetzung sehr persönliche Züge an. Martinius geizte nicht mit Beschimpfungen seiner Gegner. Antonius zögerte nicht, sofort zurückzuschlagen, und zwar nunmehr i n einer Disputation, die ebenfalls unmittelbar zur Sache selbst Stellung bezog, „Disputatio apologetica, de Potestate Imperatoris legibus soluta et hodierno Imperii statu cum subjectis Corolariis adversus Herrmann Vultejum" 10. Sie umfaßt 67 Thesen und steht i m Ton der des Martinius nicht nach. Aber nunmehr ist der Streit auch schon wieder zu Ende. Eine Antwort erhielt Antonius nicht mehr. Er setzte den Streit gegen Vultejus zwar mit drei weiteren Disputationes AntiVultejana fort, nunmehr aber auf anderen Gebieten 11 . Aber andere hatten inzwischen das Feld entdeckt und führten den Streit weiter 1 2 . Man fragt sich natürlich, warum brauchte es acht Jahre, bis Antonius seinen Angriff auf Vultejus führte, und warum äußerten sich beide zunächst eigentlich so beiläufig. Eine Erklärung dafür liegt wohl i n den äußeren Umständen, die mit der Sachp nur mittelbar zusammenhängen. Denn die Kontroverse war verflochten i n den hessischen Erbstreit um Marburg zwischen den landgräflichen Häusern Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt. Daraus entstand ein äußerer, aber wohl auch persönlicher Gegensatz zwischen den beiden Hauptkontrahenten 13 . Dieser Erbstreit und die damit zusammenhängende Neugründung der Universität Gießen hatten die beiden Professoren, die 1599 noch gemeinsam auf die Schrift über die Gerichtsbarkeit des Reichskammergerichts und die dort enthaltenen Thesen bezieht, und nicht etwa auf die sogleich zu besprechende zweite Disputation. Das Original habe ich leider nicht einsehen können. 10 Erschienen Gießen 1608. Antonius w a r wiederum Präses, und Christoph K a l t wiederum Respondens. Aber auch hier ist w o h l Antonius als Verfasser anzusehen, auch abgedruckt i n Goldast (FN 9), S. 623—629. 11 Disputatio A n t i - V u l t e j a n a Secunda Iurisprudentiae Romanae ab H e r mano Vultejo, Gießen 1609; Disputatio A n t i - V u l t e j a n a Tertia, P r i m a m partem examinis precepuarum disceptationum iuris scholasticarum Hermann Vultei, Gießen 1609, und Disputatio A n t i - V u l t e j a n a Quarta, Gießen 1610. 12 Dazu unter anderem Christoph Link, Dietrich Reinkingk, in: Staatsdenker i m 17. und 18. Jahrhundert (hrsg. v. Michael Stolleis), F r a n k f u r t 1977, S. 78 ff.; Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 1); ders.: Hippolithus a Lapide, i n : Stolleis, Staatsdenker, S. 118 ff.; Dietmar Willoweit, Kaiser, Reich und Reichsstände bei Herrmann Conring, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Herrmann Conring (1606—1681), B e r l i n 1983, S. 321 ff. Eine kurze Gesamtdarstellung bei Stintzing/Landsberg (FN 1), 2. Abt., S. 40 ff. 18 Den Zusammenhang zwischen dem Erbstreit und dem Gelehrtenstreit heben auch hervor Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 1), S. 24 Anm. 29, Stintzing/Landsberg (FN 1).
336
Heinhard Steiger
i n Marburg lehrten, Antonius allerdings noch ohne Professur, i n die entgegengesetzten Lager geführt; Vultejus stand auf Seiten des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel; Antonius hatte sich i n diesem territorial-konfessionellen Streit auf die Seite des Landgrafen L u d w i g V. von Hessen-Darmstadt geschlagen. Er war maßgeblich an der aus dem Erbstreit erwachsenen Gründung der Universität Gießen beteiligt, deren Rektor i m Gründungs jähr 1607, langjähriger Kanzler und erster Primarius der Juristischen Fakultät er war 1 4 . Nicht von ungefähr fällt sein später Angriff auf die Thesen des Vultejus aus dem Jahr 1599 mit dem Jahr der Erteilung der kaiserlichen Privilegien für die Universität Gießen i m Jahr 1607 zusammen. Man mußte eben in Hessen-Darmstadt und Gießen kaisertreu sein und war es offenbar mit Hingabe, unbeschadet der konfessionellen Verschiedenheit 15 . Wenn auch die spätere Auseinandersetzung um die Souveränität des Kaisers sich von diesem Anlaß löst, so bleibt doch die Frontstellung von daher auch weiterhin geprägt. Die Position des Kaisers w i r d von Gießen aus am stärksten verteidigt, insbesondere von Reinkingk, der nicht nur ein Schüler des Antonius war, sondern auch seine Nichte geheiratet hatte 18 . Da es sich bei unserem Streit um das Präludium der generellen Auseinandersetzungen um den Träger der Souveränität i m Reich handelt, ist ihre Einbindung i n das wissenschaftliche Umfeld von besonderem Interesse, insbesondere die Frage nach den Beziehungen zu den großen Staatstheoretikern der Zeit, Jean Bodin und Johannes Althusius. Der Einfluß Bodins ist ziemlich deutlich auszumachen. Martinius und Antonius zitieren ihn, zustimmend der erste, teils zustimmend, teils ablehnend der zweite. Aber auch bei Vultejus ist sein Einfluß spürbar. Bei keinem der drei Autoren findet sich aber ein Hinweis auf Althusius. Für Vultejus ist er schon rein zeitlich ausgeschlossen17. Aber auch Antonius und Martinius berufen sich nicht auf ihn. Bei Antonius kann eine Vermittlung über Keckermann vorliegen. Eine grundlegend und nachhaltig prägende Kraft ist er aber auch für diesen keinesfalls gewesen. So w i r d eine Beleuchtung der Kontroverse zwischen Vultejus 14 Z u r Spaltung der hessischen Gesamtuniversität Marburg u n d zur Neugründung i n Gießen neuestens Peter Moraw, Kleine Geschichte der U n i v e r sität Gießen 1607—1982, Gießen 1982, vor allem S. 11 ff.; Manfred Rudersdorf, Der Weg zur Universitätsneugründung i n Gießen, i n : Academia Giessensis, Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte, M a r b u r g 1982, S. 45—82. 15 Moraw (FN 14), S. 14, 19 f. 1β L i n k , Reinkingk (FN 12), S. 79 f. 17 Berührungen, j a Ubereinstimmungen gab es hingegen zwischen Vultejus und Althusius auf dem Gebiet der Darstellung der Jurisprudentia Romana; beide gründeten i h r System des römischen Rechts auf der D i a l e k t i k des Petrus Ramus; Althusius zitiert V u l t e j u s anerkennend, i. e. Stintzing/Landsberg (FN 1), 1. Abt., S. 460 f.
Zur Kontroverse zwischen Vultejus und Antonius
337
und Antonius durch das Licht des Althusius also eher Unterschiede als Übereinstimmungen hervortreten lassen. Zunächst soll nun der Inhalt der Kontroverse dargestellt werden, und in dem dritten Hauptabschnitt ist auf das Verhältnis zu Althusius näher einzugehen. I I . D e r I n h a l t der Kontroverse 1. Die Thesen des Vultejus
a) Die Sätze des Vultejus, die sich, wenn auch mit Verzögerung, als Sprengsätze erweisen sollten, finden sich zum einen i n der epistola dedicatoria und zum anderen i n dem Kommentar zum titulus X X I V Ubi senatores vel clarissimi civiliter vel criminaliter conveniantur der genannten zivilprozessualen Schrift. Zum Status des Reiches lauten die maßgeblichen Sätze Etsi vero ex longo post intervallo Carolus Magnus I m p e r i u m Occidentis restitueret, aliam/tarnen eius formam et faciem esse voluit quam fuerat olim.
und weiter Hinc factum est, ut cum ante Carolum Magnum I m p e r i u m Romanum fuisset Monarchicum, idemque Monarchice gubernatum, i d quidem a tempore Caroli M a g n i hue usque Monarchicum manserit, sed cuius gubernatio sit Aristocratica, quae ab ipso statu I m p e r i i est alia 1 8 .
Die Stellung des Kaisers w i r d so beschrieben: Non i g i t u r ut olim, ita hodie Princeps legibus solutus est, u t de eo, an Princeps legibus teneatur, neene, sollicite inquirere non admodum sit necessarium 1 ".
Welches war der Grund für diese Ausführungen, deren Sinn an dieser Stelle i n diesem Buch, gerade auch wegen ihrer Neuheit und Gewagtheit, nicht ohne weiteres einsichtig ist? b) Es ging, wie gesagt, i n dieser Schrift um zivilprozeßrechtliche Fragen, nicht etwa um verfassungs- oder reichsstaatsrechtliche, nicht um Kaiser und Reich. So ist der wissenschaftliche Anlaß dieser reichsrechtlich weitreichenden These die Auseinandersetzung mit und die Entfaltung der genannten Titel des Codex über die iurisdictio. Es geht dabei aber nicht etwa u m einen weiten Begriff derselben, i m Sinne einer umfassenden Herrschaftsgewalt oder ähnlichem, sondern, wie der Zusatz sagt, um einen engeren, auf die Rechtsprechung bezogenen Be18
Vultejus, Titulos, Epistola, p. 2 verso et p. 3 verso seq. » Ibid., Titulus X X I V , U b i senatores § 8 p. 511. 22 R E C H T S T H E O R I E ,
Beiheft 7
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griff. Ohne auf die Problematik des iurisdictio-Begriffes hier i m einzelnen eingehen zu können, ist festzuhalten, daß Vultejus jedenfalls keinen Traktat über die Reichsgewalt als solche geschrieben hat. Warum aber sind sie i n diesem Zusammenhang nötig? Vultejus sieht sich bei der Behandlung seines Themas vor großen Schwierigkeiten res hodie quidem per se obscura 20. Warum? Zwar enthalten die Digesten und der Codex Titel zur Rechtsprechung. Aber diese alten Texte oder Gesetze waren nicht ununterbrochen i n Geltung, denn das Römische Recht ist i n den Ruinen des Weströmischen Reiches mit untergegangen 21 . Es blieb daher i m Westen lange Zeit unbekannt und außer Gebrauch 22 . Erst im 12. Jahrhundert ist dieses Römische Recht, Justinianus Ν oster, das Vultejus ja selbst kommentiert, durch Irnerius wieder entdeckt worden und imperante Lothario saxone restitutus est 23. Vultejus nimmt hier also die insbesondere von Melanchton geförderte, vielleicht sogar von ihm stammende „lotharische Legende" auf 24 . Aber, und dies soll die These von dem durch K a r l den Großen in anderer, neuer Form wiederbegründeten Reich besagen, dieses alte Römische Recht trifft nunmehr auf eine verfassungsrechtlich anders strukturierte Zeit. Das aber hätten diejenigen nicht bedacht, die sich nunmehr mit dem Römischen Recht beschäftigten. Sie hätten keine Kenntnis der alten Zeiten. Sie hätten es daher auf ihre Zeit zurechtgebogen und es dadurch verdunkelt 2 5 . Vultejus bemüht sich, diese Dunkelheit zu lichten. Dem braucht hier nun nicht näher nachgegangen zu werden. Wichtig ist in unserem Zusam20
Ibid., Epistola p. 1, Satz 1. Ibid., p. 2: Atque hinc obscuritas istius i n hac, quae est de iurisdictione, doctrina, de qua tantopere conqueruntur omnes, occasio: principium autem et origo illius ex ruina I m p e r i i Romani i n Occidente, cumquo hoc etiam ius nostrum Romanuum i n Occidente t u m interiit. 22 P. 4: Quemadmodum igitur iurisdictio illa antiqua omni hoc tempore fuit incognita, ita et, quae de ea erat doctrina, ut et omnis alia, quae est iuris Iustinianii, obliterata fuit, atque ab hominum memoria et usu i n Occidente receßit. 23 P. 4 verso. 24 Diese sogenannte „lotharische Legende" findet sich zum ersten M a l i n der Chronica Carionis, die erstmals 1532 erschienen sein soll. M i r lag ein Exemplar von 1573 vor, i n deutscher Fassung, Von Anfang der Welt / bis uff Keiser Carolum den Fünfften, dt. von Philipp Melanchton und Caspar Peucer, Wittenberg 1573, dort S. 357 und 676 ff.; dazu Ernst von Moeller, Hermann Conring, der Vorkämpfer des deutschen Rechts 1606—1681, Hannover 1915, S. 67 ff. v. Moeller vermutet i m Anschluß an Leopold von Ranke, Deutsche Geschichte der Reformation, 4. Aufl., Bd. 5, S. 532 Anm. 1, daß Melanchton der eigentliche Urheber dieser These, jedenfalls i h r eifrigster Förderer sei, S. 68; gegen die lotharische Legende Friedrich v. Savigny, Geschichte des römischen Rechts i m Mittelalter, Bd. 3, Heidelberg 1822, S. 83 ff.; dazu nunmehr auch Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 145. 25 Titulos, Epistola, p. 4 verso. 21
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menhang jedoch, w o r i n denn nun der Unterschied der forma oder des status des von K a r l dem Großen wiederbegründeten Reiches gegenüber dem Alten Römischen Reich besteht. c) Nach Vultejus unterscheidet sich vor allem das Verhältnis des Kaisers und der Großen zueinander. Vor K a r l sei der Kaiser Alleinherrscher gewesen; die Magistraten waren nicht etwa seine Genossen. K a r l hingegen habe die von i h m geschaffenen oder eingesetzten Magistrate quodamodo consortium angenommen. Er habe den von i h m eingesetzten Magistraten die Provinzen iure ferme gegeben; für sich habe er nur gehabt, was er für sich zurückbehalten habe, sowie tmiV er sum ipsum. Darin liegt dann die Begründung für die These, aus der Monarchie, die auch monarchisch regiert wurde, sei eine aristokratisch regierte Monarchie geworden, und der status des Reiches sei ein anderer als früher 2 6 . Der Kaiser ist zwar auch nach Vultejus Haupt und Fürst des Reiches geblieben. Aber die Bindung mit den Magistraten beruht wesentlich auf der Treue, also dem Lehnsverhältnis. d) Diese neue forma des Reiches hat eine wesentliche Folge für die Frage, ob der Kaiser legibus solutus sei. Diese w i r d i n Zusammenhang gebracht mit dem Problem, ob der Kaiser einem Richterspruch unterworfen sei. Gerade hier zeigt sich nach Vultejus aber ein fundamentaler Unterschied zwischen dem A l t e n Römischen Reich und dem Reich in der Ordnung nach K a r l dem Großen. Zu Justinians Zeiten sei der Kaiser keinem Richter unterworfen gewesen 27 . Mit der Wiederherstellung des Westlichen Reiches durch K a r l den Großen in geänderter forma entwickelte sich jedoch die Gewohnheit, die dann auch von der Goldenen Bulle in Cap. V § 3 bestätigt, also nicht etwa erst begründet wurde, daß der Kaiser i n zivilrechtlichen Angelegenheiten vor dem Pfalzgrafen und Kurfürsten bei Rhein als Reichstruchseß, Reichsvikar und Stellvertreter des Kaisers in der Rechtsprechung zu erscheinen und sich zu verantworten habe. Allerdings habe er nur in der curia imperialis vor dem Pfalzgrafen zu erscheinen, braucht sich also nicht zum Pfalzgrafen nach auswärts zu begeben 28 . I n Strafsachen und wegen Angelegenheiten der schlechten Handhabung 26
s. oben S. 337. Titulus X X I V , commentarius, § 3, p. 510. 28 Titulus X X I V , commentarius, §§ 4—6, p. 510—511. Cap. V § 3 der Goldenen Bulle lautet: Et quamvis Imperator sive Rex Romanorum super causis, pro quibus impetitus fuerit, habeat, sicut ex consuetudine introductum dicitur, coram Comité Palatino Rheni, sacri I m p e r i i Archidapifero, Electore Principe, respondere: i l l u d tarnen j u d i c i u m Comes Palatinus, ipse non alibi praeterquam i n Imperialia Curia, u b i Imperator seu Romanorum Rex praesens extiterit, poterit exercere. 27
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der Regierung seien alle sieben Kurfürsten gemeinsam zuständig, wie sich bei der Absetzung König Wenzels gezeigt habe 29 . Aus dieser Unterwerfung des Kaisers unter die Gerichtsbarkeit des Pfalzgrafen bzw. der Kurfürsten folge nun aber, daß der Kaiser, anders als früher, nicht legibus solutus sei. Es sei deshalb auch nicht etwa notwendig, genauerh i n zu untersuchen, ob der Kaiser durch die Gesetze gebunden werde 30 . e) Wie bereits erwähnt, sind die Ausführungen des Vultejus von ihrem Zweck her nicht darauf gerichtet, die reichsrechtlichen Verhältnisse als solche zu erörtern. Sie stehen in dem Zusammenhang der Erörterung der Probleme der iurisdictio. Sie haben einerseits einen allgemeinen Charakter und weisen auf eine fundamentale Schwierigkeit des Themas überhaupt hin, die darin liegt, daß die überlieferten Rechtstexte auf von ihrer Entstehungszeit grundverschiedene Verfassungslagen angewandt werden sollen. Zwar steckt i n dieser These von der Verschiedenheit des status des Reiches nach K a r l dem Großen eine auch politisch höchst brisante Aussage. Aber i m ganzen des Buches gesehen hat sie, wie auch ihr Ort i n der epistola dedicatoria zeigt, eher beiläufigen Charakter. Auch die Bemerkungen über die Stellung des Kaisers selbst ergeben sich aus einem bestimmten Problemkreis der Rechtsprechung, greifen also nicht, wie bei Bodin und i n späteren Phasen der Auseinandersetzung, das Problem als solches und i m ganzen auf. Aber Vultejus fand wohl die Gelegenheit günstig, gleichsam nebenbei und verpackt einen solchen Sprengsatz i m Sinne der Politik der Reichsstände, insbesondere der protestantischen, gegenüber dem Kaiser und seinen auf die Souveränität gerichteten Bestrebungen zu legen. Es bleibt allerdings gerade wegen ihrer hochpolitischen Bedeutung überraschend, daß er sie nie weiter entfaltete. Die Würdigung kann nicht aufdecken, was Vultejus bewog, so knapp und apodiktisch zu reden. Immerhin war er, soweit bisher zu sehen ist, i m Reich der erste, der diese weitreichenden Thesen zur neuen forma und neuem status des Reiches schon für die Zeit Karls des Großen vertrat. Ich habe insofern keine Vorläufer, aber auch keine Nachfolger feststellen können. Wohl vertrat vor ihm Caspar Peucer im dritten, von ihm bearbeiteten Teil der Chronica von Johannes Carion die Auffassung, durch das Erscheinen der Kurfürsten nach der Regierungszeit Friedrich II. und dem interregnum sei „die Monarchie in occident einer schönen Aristocratia 20 Titulus X X I V , commentarius, § 7, p. 511: Si enim c r i m i n u m sive flagifiorum, vel male administrari i m p e r i i arguatur Imperator, cognicionem eius non esse solius electoris palatini; sed omnium septinorum sive electorum imperii, constat excententia ex auctorationis et privationis Wenzeslaii I m peratoris, ab electoribus i m p e r i i latae anno Christi 1400. 80 doc. c i t § 8, p. 511.
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gleich" geworden, „darinnen wohl nur einer das Regiment füret/aber was er schleusst und ordnet das geschieht also/daß er zuforn anhöret den Rath und Meinung der sieben Kurfürsten" 8 1 . Auch Bodin hatte seine Kennzeichnung des Reiches als Aristokratie auf eben diese Entwicklung gestützt; aber für die Zeit Karls des Großen spricht er noch von einer „pure Monarchie par droit successif" 82 . Vultejus bezeichnet i m übrigen das Reich auch nicht etwa als Aristokratie, wie Bodin, sondern als aristokratisch regierte Monarchie. Dabei bedient er sich zwar der bodin'schen Unterscheidungen von Staats- und Regierungsformen 38 . Aber er wählte unter den Angeboten Bodins zur Kennzeichnung des status des Reiches ein monarchisch orientiertes. Er bediente sich, wie erwähnt, auch nicht des Begriffs der suprema potestas, sondern der Formel princeps legibus solutus. Auch ist seine Argumentation von der Bodins verschieden. Für Bodin umfaßt die vom Kaiser auf die Stände übergegangene Souveränität die Macht, Gesetze zu geben, über Krieg und Frieden zu entscheiden, Steuern einzuführen, Gerichte einzusetzen, und schließlich auch pour juger des biens de l'honneur et de la vie de l'Empereur 34. Für Vultejus hingegen war allein das letzte Element maßgebend. Seine Thesen sind von dem neuen Begriff der Souveränität her unvollständig. Sie nehmen i h n gar nicht auf; er interessiert w o h l nicht. Man kann also i n Vultejus nicht etwa einen Nachfolger Bodins sehen. Schwierig ist wegen der Beiläufigkeit und Knappheit der Thesen des Vultejus auch die Frage zu beantworten, worauf sich die Stellung des Kaisers nach seiner Auffassung gründet. Dickmann ist der Meinung, Vultejus habe „einen scharfen A n g r i f f gegen die mittelalterliche Lehre von der translatio imperii und gegen die Folgerung, die man aus i h r zu ziehen pflegte" geführt. Er habe das Römische Recht verworfen und damit an die Grundlagen der kaiserlichen Machtvollkommenheit gerührt und diese auf die bloße Lehnshoheit reduziert 3 5 . Eindeutig ist das alles nicht. Zur translatio imperii äußert er sich nicht ausdrücklich. Dabei war dies beherrschendes Thema der Zeit, insbesondere seit ablehnenden Äußerungen Luthers und Calvins und dem Buch des Flacius 36 . Er hätte sich also dazu äußern können. Sein Schweigen ist vielleicht nicht unbeabsichtigt. I n der Debatte um die translatio imperii werden 31
Chronica Carionis (FN 24), p. 777. Bodin (FN 2), S. 321. 33 Bodin (FN 2), S. 272. 34 Ibid., S. 321. 35 Dickmann (FN 1), S. 130. 38 Matthias VI actus Illyricus, De Translatione I m p e r i i Romani ad Germanos, Basel 1566; neuestens dazu i n Verbindung m i t der Lehre von den vier Weltreichen Gertrude Liibbe-Wolff, Die Bedeutung der Lehre von den vier Weltreichen für das Staatsrecht des römisch-deutschen Reichs, i n : Der Staat Bd. 23 (1984), S. 369 ff. m i t weiteren Quellen und sonstiger Literatur. 32
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von ihren Gegnern i m übrigen ganz andere Argumente vorgebracht. So beruft sich Flacius darauf, daß die Reiche durch Gott vergeben würden und daß konkret sich der Wille Gottes gegenüber K a r l dem Großen darin gezeigt habe, daß er Italien und Rom erobert habe und ihn dann die Römer als ihren Kaiser angenommen hätten. Vultejus sieht i m übrigen i n dem A k t Karls des Großen durchaus die Wiederbegründung des Reiches i m Westen, nicht etwa eine Neugründung, er spricht mehrfach von restitutio. Die These von der neuen „forma" des wiederhergestellten Reiches läßt sich i m übrigen mit der translatio imperii durchaus verbinden. Denn Vultejus läßt die Frage, woher denn K a r l dem Großen die Kaiserliche Würde und Gewalt zugewachsen sei, ebenso offen, wie die nach dem Ursprung des Imperiums. M. E. darf in die unvollständigen, weil beiläufigen Thesen des Vultejus nicht zuviel von dem hineingelegt werden, was i n der späteren reichspublizistischen Literatur ausführlich vertreten und begründet wird. Aber indem er behauptet, dieses Reich habe eine neue Form durch K a r l den Großen erhalten, diese also auf ihn selbst zurückführt, ist der Weg über ihn zurück doch wohl abgeschnitten. Unklar ist aber auch die Frage, worauf die kaiserliche Macht beruht. So heißt es zwar Hoc m a l u m Carolus Magnus Imperio Occidentis restitutio cavere volens, sapienti consilio de iure Imperatorio tarn quoad potestam, quam quoad reditus provinciarum aliquid ceßit, satius esse, existimans magistratus a se constitutos, omnibus cupiditatum illecebris praecisis, id remittendo et in illos transferendo arctius sibi devincire, seque eo defraudare, quam omnia illa absolute sibi retinendo, singulis fere momentis de rerum summa periclitari, reservato sibi iure dominii, quod vocant, directi, et fidelitate sibi ab his, quibus utile dedit, praestanda, i n t e r i m ipso universaliter manente capite et Principe Imperii, a quo iura sua ceteri recognoscerent 37 .
Das mag im Sinne Dickmanns gedeutet werden können. Aber dem steht gegenüber, daß durch kaiserliche Entscheidung das Römische Recht i n diesem Reich wieder eingeführt wurde. Das bedeutet einerseits, daß das Römische Recht als „Kaiserrecht" gilt und somit keineswegs verworfen ist. Damit nahm Lothar die Rechtsetzung für sich in Anspruch, die aber selbst i n seiner kaiserlichen Machtvollkommenheit nicht i n der Lehnsgewalt beruhte 38 . Z u m anderen enthält dieses Römische Recht nicht nur private und zivilprozessuale Regelungen, sondern eben auch staatsrechtliche Positionen der kaiserlichen Stellung. Vultejus macht nirgendwo einen Unterschied zwischen diesen beiden Elementen des Römischen Rechtes, wie es i n der späteren Diskussion der Fall ist 39 . 37
Vultejus, Titulos (FN 5), Epistola, p. 3 verso. Z u I n h a l t u n d Grundlage des Kaiserrechts Hermann Krause, Kaiserrecht und Rezeption, Heidelberg 1952. 39 Z u r Ablehnung des römischen Staatsrechts zu Gunsten des Reichsstaatsrechts und seiner Quellen i n der Reichsstaatsrechtslehre, vor allem bei A r u maeus und Limnaeus, Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 1), S. 29 ff., 43 ff. 38
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Die „Lotharische Legende" ist nach Wieacker nur eine „spätere Fassung" der mittelalterlichen Überzeugung, „daß das Römische Recht die ursprüngliche Rechtsordnung des Abendländischen Reiches . . . ist" 4 0 . Sie ist eine juristische Rationalisierung durch Ersetzung einer eher „spirituellen Autorität" durch eine reale, befugte Kompetenz. Jedenfalls war Vultejus auch hier nicht konsequent, weil eben beiläufig und knapp. Seine Darlegungen haben nur einen engen Bezugsrahmen, den der Rechtsprechung und des Zivilprozesses. Vultejus hat, wie Dickmann zu Recht bemerkt, die neuen Gedanken nur „angedeutet". Deswegen blieb vieles noch unklar. Wahrscheinlich blieben seine Thesen auch deswegen über acht Jahre unbeachtet. Sie waren i m übrigen auch nicht, sieht man von unserer Kontroverse einmal ab, für die weitere Diskussion der Frage um die Stellung des Kaisers maßgebend. Tobias Paurmeister, der i n seinem einflußreichen, viel gelesenen Lehrbuch „De iurisdictione Imperii Romani libri duo " ebenfalls die These vertrat, daß der Kaiser nicht princeps legibus solutus sei und damit die Diskussion entschieden weitertrieb, beruft sich ebensowenig auf ihn, wie später z. B. Hermann Conring. Ihre Gründe sind jeweils andere 41 . 2. Die erste Stellungnahme des Antonius
a) Der erste Angriff des Antonius war nicht ausführlicher und bestand eigentlich nur aus zwei Sätzen. Es heißt i m Corollarium I : Invictissimum Romanorum Imperatorum Rudolphum I I . D o m i n u m nostrum o m n i u m clementissimum (cujus Majestati pro immensis i n nos collatis beneficiis et privilegiis Academicis v i t a m longuam, f i r m a m valetudinem, I m p e r i u m florentissimum, victoriam et felicitatem pereundem a Deo exercitium subinde animus precamur.) v e r u m Monarcham esse, defendimus constantissime.
Während er an dieser Stelle Vultejus nur als „aliter" zitiert, wendet er sich i m Corollarium I I unmittelbar gegen ihn. 40 41
Wieacker
(FN 24), S. 145.
Erschienen F r a n k f u r t 1607, und damit vor der Disputatio Apologetica von Antonius, die Paurmeister verschiedentlich zitiert. M i r lag allerdings nur die zweite Ausgabe von F r a n k f u r t 1616 vor, dort Lib. I cap. 6, § 23, p. I l l — 113. Zu Conrings Position siehe Hermann Conring , De Imperatore Romano Germanico, in: Opera (hrsg. von Johann W i l h e l m Goebel), Braunschweig 1730, Neudruck Aalen 1970, Bd. 1, p. 26 seq. Z w a r spricht er auch davon, daß m i t dem Übergang des Kaisertitels zu den Germanen nova quasi i m p e r i i Romani forma entstanden sei, cap. I, § 7, p. 29. Aber weder w i r d das näher i m Sinne des Vultejus ausgeführt, noch ist aus den weiteren Darlegungen irgendetwas zu entnehmen i n dieser Richtung. Diese nova forma spielt bei Conring keine Rolle, oder nur eine untergeordnete.
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Nefas sit cum Domino V u l t e j o i n 1. 1. nu. 8. C u b i Senat, vel Ciariss, (quod pace t a n t i v i r i , praeceptoris nostri observandi dictum volumus) assere Imperatorem hodie legibus non esse solutum 4 2 .
Der konkrete Hintergrund der These, die Neugründung Gießens, das gerade seine kaiserlichen Privilegien erhalten hatte, w i r d i m Klammersatz des 1. Corollariums ungeschminkt deutlich. Man wußte genau, was man dem Kaiser schuldig war. Aber auch die alte Beziehung des Antonius zu Vultejus blieb nicht unerwähnt, des, nunmehr wohl abtrünnigen Schülers zu seinem Lehrer. Aber „nefas" ist halt doch ein starkes Wort! b) Auch hier w i r d unmittelbar weder i m einzelnen begründet, noch weiter entfaltet. Lediglich einige Zitate werden herbeigeschafft. Jedoch können die Thesen der Disputation selbst in beschränktem Maße zur Begründung herangezogen werden, wenn das auch nicht ihr eigentliches Thema ist. Denn es zeigt sich bei näherem Zusehen, daß i n i h r bereits einige wesentliche Begründungen enthalten sind, allerdings auch einige Widersprüche, die Martinius nachher mit Genuß aufspießen wird. c) Die zentrale These der Disputatio in bezug auf die Rechtsprechung des Reichskammergerichtes geht dahin, daß es sich u m eine „Iurisdictio ordinaria ex conventione concessioneque Imperatoris et Imperii ipse competens" h a n d e l e u n d „ p e r universum Imperium
Ordinem nomine
Imperatoriae Majestatis" ausgeübt werde 43 . I n der Gründung der Zuständigkeit des Reichskammergerichtes auf eine vertragliche Bindung w i r d deutlich, daß der Kaiser nicht etwa schon durch die Reichsgrundgesetze dazu verbunden ist; andererseits folgt aber daraus, daß der Kaiser, soweit diese Zuständigkeit reicht, auch durch die Urteile des Reichskammergerichtes verpflichtet wird. Es sei i h m auch nicht möglich, dort anhängige Prozesse an sich zu ziehen 44 . Aber andererseits bleibt i h m doch neben der Zuständigkeit des Reichskammergerichtes eine eigene Rechtsprechungszuständigkeit 45 . Hier w i r d der Streit um die Rechtsprechungsgewalt des Reichshofrates als kaiserliches Gericht des Reiches sichtbar 46 . Es darf nicht vergessen werden, daß der hessische Erbstreit von Landgraf L u d w i g um Marburg nicht vor dem Reichskammergericht, sondern vor dem Reichshofrat anhängig gemacht wor42
Antonius, Disputatio de Augustissimae . . . (FN 7), Corollaria 1, 2. Ibid., Thesen 1, 6. 44 Ibid., These 8. 45 Ibid., These 9. 48 Dazu u. a. Rudolf Smend, Das Reichskammergericht, Weimar 1911, Neudruck Aalen 1965, S. 195 ff. Gerade unter Rudolf I I . wurde die Rechtsprechungstätigkeit des RHR erheblich ausgedehnt. Gegen den Reichshofrat z. B. Conring, dazu Willoweit (FN 12), S. 327. 48
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den war. Als Zuständigkeit per universum Imperium unterfallen der Rechtsprechungsgewalt des Reichskammergerichts alle Personen und Sachen, die der Rechtsprechungsgewalt des Kaisers und des Reiches unterliegen 47 . Es unterfällt ihr aber das nicht, was die Lehnshoheit des Kaisers und die causae reservatae Imperatoris angeht. Zu diesen letztgenannten gehören unter anderem die Erteilung von Privilegien, die Legitimierung natürlicher Kinder, die Erhebung in den Adelsstand, die Verlängerung der gesetzlichen Frist für die Erstellung des Nachlaßverzeichnisses, die Bestätigung nicht gesetzmäßiger Adoptionen und anderes. Über sie verfügt und entscheidet der Kaiser allein 48 . Insofern hat er eine „potestas absoluta"; nur soweit die Substanz der Privilegien nicht betroffen ist, besteht eine Zuständigkeit des Reichskammergerichts. A n diese hier noch causae reservatae genannten Elemente einer potestas absoluta w i r d Antonius später anknüpfen, um seine These, daß der Kaiser Princeps legibus solutus sei, zu begründen. 3. Die Entgegnung des Georg Martinius
a) M i t der unverzüglich folgenden Entgegnung des Martinius w i r d der Streit grundsätzlicher, die Argumentation ausgedehnter, der Ton schärfer. Dabei w i r d aber auch die Position des Vultejus zugespitzt und noch über ihn selbst hinausgetrieben. Denn zunächst spricht Martinius nie vom Imperium Romanum oder Imperium Occidentalis restitutum, sondern vom Imperium nostrum 49 oder vom Germanicum Imperium50, obwohl ja der offizielle Titel Sanctum Imperium Romanum lautete. W i r sind heute für die Wahl der Bezeichnungen, gerade was Deutschland angeht, sehr hellhörig geworden. Anscheinend wurde auch damals der Streit um den Rechtsstatus auf diese Weise ausgetragen. Es erscheint möglich, daß Martinius damit auch den letzten Strang von innerer Kontinuität des Reiches seiner Zeit mit dem römischen Reich aufgeben will. Zum anderen bestreitet er den Charakter des Reiches als Monarchie; vielmehr bestimmt er sie, eindeutig Bodin folgend 51 , als Aristokratie, quae monarchicum administrandi modum habet 52. Allerdings ist seine Position auf den ersten Blick unklar. Denn er wiederholt die These des Vultejus von der Monarchie mit aristokratischer Regierung 5 3 . Aber seine eigene Begründung vergleicht das Reich mit Venedig 47
Antonius, De Augustissimae (FN 7), These 10. Ibid., Thesen 25—27. 49 z. B. Martinius, De potestate (FN 9), Thesen X X X V I I , X L V . 50 Ibid., Thesen L I , L X I I . Er n i m m t damit die Terminologie Conrings, der sie i n der Tat bewußt verwendete, vorweg, dazu Willoweit (FN 12), S. 324. 51 République I I , 6 p. 320. 52 Martinius, De potestate (FN 9), These L X V . 58 These L X X X I . 48
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und Polen 54 . Der Unterschied ist darin begründet, daß Vultejus die mehr abstrakt-theoretischen Erörterungen Bodins zur Regierungsform, während Martinius dessen mehr konkrete Charakterisierung zum Verfasβ μ ^ β ά ^ ^ ^ β Γ des Reiches zugrunde legt. Seine Darlegungen wenden sich gegen den monarchistischen Charakter des Reiches in der Erörterung von drei difficultates, die einer solchen Bestimmung letzten Endes entgegenstehen 55 . b) Zunächst untersucht er die These, das Reich sei die vierte, und damit letzte Monarchie nach der Vision des Propheten Daniel (Dan. 7). Er lehnt sie aus verschiedenen, sowohl rechtlich-politischen als auch theologischen Gründen ab 56 . c) Die zweite Schwierigkeit entsteht ex legibus Regni. Er beruft sich
damit, unter ausdrücklicher Aufnahme der Thesen Bodins, auf die leges fundamentales
des Reiches 57 . N u r aus ihnen sei der Charakter
des
Reiches zu erkennen. Generell bestimmt er die Monarchie als eine Form der Republik, i n der die majestas u n d die potestas suprema durch dieses
Gesetz einem einzigen zugeordnet werden 58 . Wenn aber diese Rechte vielen zugeordnet werden, und nicht nur zur Beratung, sondern eben auch zur Innehabung, dann sei dies eine Aristokratie 5 9 . Diese habe eine monarchische Regierung, wenn die Würde der Praeeminenz einem überlassen bleibt. Für das Reich gilt nun nach Auffassung des Martinius, daß bereits vor der Goldenen Bulle die Kurfürsten und die übrigen Stände die Majestätsrechte, nämlich insbesondere Krieg zu führen und Gesetze zu machen, gehabt hätten, auch hierin Bodin folgend. Er wendet sich ausdrücklich gegen die These, die Kaiser hätten durch Vertrag und Konsens das Reich aus einer Monarchie i n eine Aristokratie verwandelt, indem sie ihre Rechte, jedenfalls zum Teil, auf die Kurfürsten 54
Thesen X X X I V sv., L X V I . These X X X V I I I . 56 Thesen X X X I X — L X I I . Zur Vier-Reiche-Lehre neuestens, Lübbe-Wolff. Bedeutung (FN 36) passim. 57 Thesen L X I I I — L X X I . 58 These L X I I I , quando enim leges illae u n i maiestatem et potestatem ita adiudicant, ut ipsi exercitiam eius plene concedatur, Monarchia eius Reipub. forma est. Auch These L X V I I Ea enim natura Monarchiae est, ut unum habeat, q u i clavum administrationis suo iure teneat, et Majestatem cum potestate suprema coniunctam ita solus habeat, ut a nemine legem accipere teneantur, nullis dictis administrationem Reip. concernentibus obediens esse cogatur, et Deum t a n t u m superiorem, t a n t u m iuris proportionaliter habeat, quantum ille, q u i habet mandatum cum libera. 59 These L X V : Quando autem leges Regni pugnant cum Monarchica forma, et Maiestas u n i débita plane, quamvis non plene, tarnen ab dicative multis communicant, ut non unus, sed m u l t i secundum regni leges iura maiestatis exerceant, dignitatis licet praeeminentia in uno manente, fit Prinicipatus et Aristoeratia, quae monarchicum administrandi modum habet. 55
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übertragen hätten. Das sei gar nicht möglich, da die Gewalt nicht dem Handel unterliege und nicht teilbar sei, ein klares Bodin'sches Argument 80 . Auch beruft er sich, wiederum mit Bodin, darauf, daß der Pfalzgraf Richter über den Kaiser sei, wie es i n der Goldenen Bulle, Titel 5 niedergelegt ist und wie es bereits Vultejus geltend gemacht hat. Auch dieses beruhe auf den Grundgesetzen und erschüttere somit die Natur der Monarchie 81 . d) Schließlich wendet er sich zum dritten, anders als Vultejus, ausdrücklich gegen die These von der Translatio Imperii. Weder habe K a r l der Große das Recht des Krieges gegen den Kaiser, gemeint ist von Ostrom, gehabt; vielmehr sollte er die Römer gerade verteidigen, nämlich gegen die Goten, nicht aber das Reich dadurch erlangen. Noch sei eine Translatio aus einer Erlaubnis des Papstes hervorgegangen, da dieser dazu gar keine Macht gehabt habe; noch sei es schließlich aus einer Zustimmung oder aus einer Überlassung durch das Volk zu einer Translatio gekommen, da nur durch die Reichsgesetze oder durch die Zustimmung der Fürsten oder Kaiser eine solche habe erfolgen können, nicht aber durch jemanden anderen 82 . e) Aber damit ist der Aufbau der Gegenposition nicht beendet. Jetzt beginnen erst die eigentlichen Angriffe. Zum Teil werden sie mit eigenen Argumenten der Gegner bestritten. So greift er auf Aussagen des Antonius zum Lehnsrecht zurück. Treu und Glauben der Großen (Principes) gelten dem Reich, nicht dem Kaiser. Auch machen die Lehnsbeziehungen den Kaiser nicht zum Monarchen; denn das Lehnsrecht gehört nicht zur Majestät. Was er bewilligen könne, das habe er ex reservatis et concessione procerum. Und wieder kommt das Beispiel Polen 83 . f) D a n n geht er auf die falsitas contractioni obnoxiae ein, die i n d e n A u s f ü h r u n g e n des K a l t — viperinus huius Academiae (Marburg?) malus
— zur Iurisdictio des Reichskammergerichts liege, zumal i n den Thesen 6, 10, 8 und 14 seqq. Vor allem lehnt er die These ab, diese sei durch Konvention begründet, als ob das ius Majestati Gegenstand des Handels sei und geteilt werden, weggeben und behalten werden könne. Certe qui dicunt voluntarie Imperatores i n hanc Camerae ordinationem consensisse, peregrinos i n historia hospites esse ostendunt 6 4 . eo
These L X I X . These L X X . ®2 These L X X I I . Er geht dabei noch über Flacius hinaus, der die Übertragung durch die Großen und das V o l k nach der Eroberung bejaht hatte, sich also nicht gegen die translatio als solche, sondern ihre kuriale Fassung gewandt hatte; dazu Lübbe-Wolff (FN 36), S. 372 ff. 63 These L X X I I I . 84 These L X X V I I I . 61
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g) Nachdem noch einmal die These des Vultejus wiederholt worden ist, daß das Reich zwar eine Monarchie, aber aristokratisch regiert sei 65 , geht Martinius auf die zentrale Frage ein: An Princeps legibus sit solutus et quaestio haec de summo principe concepta est. Tu affirma tivam quaestionis etiam de nostro Imperatore veram esse asserts , probandum igitur tibi eum absolutam potestam habere, et supra leges esse, easdem ferre et abrogare leges et solum quidem posse66. Martinius legt also, anders als Vultejus, ganz offenbar den Bodin'schen Begriff der Souveränität als Maßstab zugrunde. Er beruft sich nun auf die Reichsgesetze, die Goldene Bulle und die Praxis des Kaisers, um die Bindung des Kaisers bei der Gesetzgebung an Kurfürsten und Stände nachzuweisen 67 . Er beschimpft K a l t als Lügner. Ja, er bezieht sich noch einmal auf eine These des Antonius, praeses tuus, i n dessen Disputatio I. über das Lehnsrecht, These 1, Buchstabe c, wo dieser gesagt habe: Dominandi legibus, qua Principem qua Princeps est, immediate concernunt, et cum ipsa maiestate coniuncta sunt, solutus non est Princeps® 8.
Aber damit nicht genug. Er zitiert noch einen weiteren Satz des Antonius, der auch die von Vultejus behauptete aristokratisch regierte Monarchie stützen soll: Feudum vere absolute l i g i u m conféré potest Imperator noster, quem non dubitamus appellare monarcham et caput Romani Imperii. Etsi hodiernus I m p e r i i status mere monarchicus non est, sed aristocratia temperatus, praeminet tarnen Monarchia et potestas Imperatoris ita ut monarchae titulus ipsi merito t r i b u a t u r 8 9 .
Der Rest sind Beschimpfungen. I n diesen aber spielt der Vorgang der Abspaltung der Universität Gießen von der Universität Marburg eine nicht unerhebliche Rolle. Für Martinius erscheinen K a l t wie Antonius als Abtrünnige. Es hat den Anschein, als ob Martinius mehr deswegen als wegen der Sache seine scharfe Antwort formuliert hat. Wie auch immer, der Universitätsstreit ist jedenfalls als äußere Rahmenbedingung der Auseinandersetzung bei ihrer Beurteilung mit zu bedenken. 4. Die Antwort des Gottfried Antonius
a) Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß Gottfried Antonius sofort zurückschlug und dies nicht gerade zimperlich i m Ton. I n seiner 85 88 87 88 89
These These These These These
LXXXI. LXXXIII. LXXXIV. LXXXV. LXXXVI.
Z u r Kontroverse zwischen Vultejus und Antonius
349
Disputatio Apologetica 70 verteidigt er seine These, daß der Kaiser legibus solutus sei, nunmehr ausführlich. Durch die Präzisierung w i r d sie aber auch eingeschränkt. Auch muß er nunmehr auf die von M a r t i nius herangezogenen eigenen Zitate eingehen. Er gibt sie nicht auf. Er interpretiert, differenziert. Das Ergebnis ist für meine Einschätzung aus heutiger Sicht ein Balanceakt, der Versuch eines Mittelweges zwischen einer Souveränitätsbehauptung i. S. Bodins und der These des Vultejus. Aber kann ein Monarch ein „bißchen souverän" sein? Von der Theorie her gesehen w i r d man geneigt sein, die Frage zu verneinen; jedoch: wann hätte sich der konkrete Verfassungszustand Deutschlands jemals nach einer Theorie gerichtet! b) Zunächst bestimmt Antonius den Streitpunkt aus seiner Sicht genauer. E x t r a controversiam positum est, u t divino, n a t u r a l i aut gentium iure, sie et legibus imperandi, quaecum ipsa Maiestate conjunctae sunt, eamque immediate concernunt, sive tacite, sive expresse Principi datae sint, et o l i m obligatum P r i n c i p u m fuisse, et etiamnum illis teneri 7 1 .
Er bejaht also die Bindung des Kaisers an die herkömmlichen drei Kategorien des übergeordneten Rechts72, aber auch an die leges imperandi, die wohl als mit den leges fundamentales oder leges Regni gleichgesetzt werden können, die seine Herrschaft begründen. Antonius beruft sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch auf Bodins Ausführungen i n dessen Souveränitätskapitel 73 . Sie gelten ex conventione quadam, ohne daß allerdings klar wird, was mit conventio genau gemeint ist, ob Übereinstimmung oder Vertrag und zwischen wem die conventio besteht. Niemand komme zudem ohne bestimmte Bedingungen zur Herrschaft, die aus der Natur des guten Herrschens und Regierens sich ergeben 74 . Aus den leges et conditiones ergebe sich zwar eine aristokratisch gemäßigte Monarchie, in der jedoch die Monarchie vorherrsche. Damit w i r d eine differenzierte Position bezogen. Jedoch liegt darin eine erhebliche Schwierigkeit, die Antonius zu bewältigen hat 7 5 . Eine Bindung besteht auch, soweit sich der Kaiser zur 70
Giessae Hassorum, Excudebat Nicolaus Hampelius, Acad. Typogr. M D C V I I I , wieder abgedruckt i n Goldast (FN 9), S. 623—629. 71 These 10. 72 lus gentium bezeichnet hier das „bei allen Völkern geltende Recht", nicht nur das darin m i t eingeschlossene Völkerrecht i m heutigen Sinn als Recht zwischen Staaten. Dazu demnächst i. e. Heinhard Steiger, A r t i k e l Völkerrecht, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches L e x i k o n zur politisch-sozialen Sprache i n Deutschland, hrsg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhard Koselleck, Bd. 6. 78 Bodin, République I, 8 p. 133. 74 Antonius, Disputatio apologetica, These 11. 75 Thesen 12 ff.
350
Heinhard Steiger
E i n h a l t u n g d e r Gesetze ad quarum observationem publica cum Statibus Imperii inita conventione se devinxit. Nihil enim tarn congruum est fidei humanae, quam pacta servare et fidem datam non fallere 7β. H i e r
geht es um Verträge zwischen Kaiser und Ständen, und zwar genauer um die Wahlkapitulation, nicht u m die zuvor genannten conventiones. c) Die Kontroverse geht also über anderes, eingeschränktes. Contraversia igitur nostra est de aliis, quae supersunt, mere civilibus et positivis legibus an illis hodie Imperator omnio teneatur, nec ulla amplius soluta legibus potestate fruatur 7 7 .
Z u r Debatte stehen nur die einfachen staatlichen, positiven Gesetze. Das wäre j a nun schon sehr viel, ja fast alles. Aber w i r werden sehen, daß selbst hier noch Einschränkungen gemacht werden. Vultejus hat, nach der Meinung des Antonius, diese Unterscheidung von zwei Kategorien von Gesetzen oder Recht nicht gemacht. Seine These beziehe sich auf beide. Niemand aber habe gesagt oder geschrieben, daß der Kaiser nicht an die erste Kategorie von Gesetzen oder Recht gebunden sei. Dieses sei immer nur von der zweiten Kategorie behauptet worden 7 8 . d) Antonius versucht auch, das Argument aufzugliedern, daß der Kaiser vor dem Pfalzgrafen als seinem Richter erscheinen müsse. Vultejus habe daraus den allgemeinen Schluß gezogen, daß der Kaiser i n keiner Weise, überhaupt nicht legibus solutus sein könne. Das aber könne man nicht ausnahmslos anerkennen, sondern allenfalls teilweise7®. e) So hat sich Antonius den Weg frei gemacht, i n differenzierter Weise das Problem zu lösen, das er noch einmal formuliert: Ac proinde status controversiae sie est: A n Princeps legibus, quibus olim solutus erat hodie teneatur? Vultejus affirmat. Nos negamus 80 .
Durch die Differenzierungen hat er es aber schon von vorneherein auch i n seiner verfassungsrechtlichen Bedeutung entschärft. Denn die potestas absoluta des Kaisers w i r d auf einen sicher nicht unbedeutenden, aber doch nur einen Teil der Herrschaft umfassenden Bereich beschränkt. Auch zwingt dies letzten Endes, um gelingen zu können, zu einer weiter e n D i f f e r e n z i e r u n g d e r zwischen d e r potestas suprema u n d d e r potestas legibus soluta als duae qualitates d e r potestas prineipis. Z w a r sei diese 78
These 15. These 16. 78 These 17. 79 These 20. 80 These 22; er wendet sich damit ausdrücklich gegen Paurmeister, der die These des Vultejus novissime assentitur. Aber er setzt sich m i t ihm nicht weiter auseinander, s. aber unten F N 88. 77
Zur Kontroverse zwischen Vultejus und Antonius
351
zweite von der ersten abhängig. Diese reiche jedoch weiter und sei umfangreicher 81 . Dies erscheint als eine gewagte, wenn nicht gar verschleiernde Unterscheidung, jedenfalls für eine an Bodin maßnehmende Theorie. Aber nun zur Begründung. Auch sie zerfällt, wie bei Martinius, in zwei Teile. I m ersten baut Antonius i n acht Argumenten seine eigene Position auf; im zweiten weist er die Gegengründe zurück. f) I m Ausgangspunkt der Argumentation steht für Antonius wie für Vultejus das Verhältnis seiner Gegenwart zum alten Römischen Reich. Aber sein Ansatz ist grundverschieden. Quae iure romano Imperatoribus sunt concessa nec postea tacite vel e x presse adempta, illis etiam n u m gaudent et fruuntur. Iure autem Romano Imperatoribus soluta legibus potestas est concessa.
Als Beleg zieht er heran D I, 3, 31, 1. 23 de legat. 3 und andere Belegstellen. Nec doceri potest, quod illis unquam tacite v e l expresse i n t o t u m adempta fuerit. Ergo etiamnum illa potestate gaudent et f r u u n t u r 8 2 .
Antonius beruft sich also ausdrücklich auf das römische Recht, im Gegensatz zu Vultejus. Er geht somit von einer unbefragten, auch rechtlichen Kontinuität des Reiches seit dem römischen Kaiserreich aus. Ohne es ausdrücklich zu sagen, unterstellt er damit die translatio imperii. Antonius geht an dieser Stelle noch nicht, wie man erwarten sollte, auf das Gegenargument des Vultejus ein, K a r l der Große habe bei der Wiederherstellung des Reiches dessen forma verändert. Das greift er erst auf, wenn er die Gegenargumente behandelt, und zwar als letztes. g) Er gibt noch weitere Argumente, u. a.: Der Kaiser sei Träger der Majestät nach den Constitutiones Imperii , der Ordinatio Camerae, indies Imperii Proceres 8S. Er genieße die plenitudo potestas 84. Er könne Privilegien erteilen 85 . Er könne rescriptis suis ex certa scientia iuri communi mere positivo derogare et legis gratiam facere 86. Vor allem aber nennt er bestimmte Akte, die der Kaiser in Abweichung oder Durchbrechung 81
These 35. These 23. D I, 3, 31: Princeps legibus solutus est; Augusta autem licet legibus soluta non est, Principes tarnen eadem i l l i privilégia t r i b u u n t , quae ipsi habent. 83 These 24. 84 These 25. 85 These 26. 86 These 27. 82
352
Heinhard Steiger
der geltenden Gesetze setzen könne 87 . Dies sind nun weitgehend die bereits erwähnten causae reservatae: Potest autem Imperator noster tempus ad conficiendum i n v e n t a r i u m lege praescriptum u l t r a annum prorogare, u t comprobat experientia. Potest adolescenti 17 annorum aetatis veniam dare, u t evincit rursus experientia. Potest ex communi Doctorum sententia rescripto suo liberos naturales legitimos reddere, et si extent l i b e r i ex justis nuptiis suscepti. Potest reo criminis poenam a lege indictam non t a n t u m mitigare, sed et i n totum remitter e, u t similiter testatur experientia. Potest denique pactis de jure c i v i l i invalidis, sua auctoritate robur addere, quoditidem ostendit experientia. Non est i g i t u r legibus subjectus sed supra leges 88 .
Es fehlt aber i n diesen A r g u m e n t e n eines: leges solus facer e, derogare et abrogare. Denn die rescripta sind keine leges. Es hat fast den A n schein, daß Antonius auf die ältere Funktion der legibus solutio als Dispensation zurückgehen w i l l 8 9 .
h) Damit ist die Reihe der eigenen Argumente beschlossen. Es w i r d gerade auch i n den konkreten „Fällen", in denen der Kaiser supra leges ist, deutlich, daß es ein beschränkter Kreis ist, Fälle, an die w i r eigentlich nicht zu denken pflegen, wenn w i r von „Souveränität" oder gar „Absolutismus" u. ä. sprechen. Antonius geht an dieser Stelle nicht auf die Gesetzgebung selber ein. Seine Fälle sind Gesetzesdurchbrechungen. Aber die Frage, wer die Gesetze macht, erläßt, taucht an dieser Stelle nicht auf. Aber gerade sie hatte nicht nur Bodin zu einem K r i t e r i u m der souveraineté gemacht 90 , sondern auch Martinius hatte dem Antonius entgegengehalten, daß der Kaiser gerade nicht allein Gesetze aufheben u n d neu geben könne, hatte das supra leges esse somit weiter gefaßt, als es Antonius tut 9 1 . Dieser nimmt die Frage erst i n einem anderen Zusammenhang noch auf. Denn nun geht er auf die Gegenargumente ein. i) Dabei steht an erster Stelle die Gegenthese, daß der Kaiser allgemein — universaliter — nicht legibus solutus sei, w e i l er dem Pfalz87
Thesen 30—33. These 31 m i t vielfachen, hier nicht wiedergegebenen Belegen. I n diesem engen Sinne der Privilegienerteilung erkennt auch Paurmeister dem Kaiser eine legibus solutio zu; denn er unterscheidet innerhalb derselben zwei Begriffe. N u r soweit sie Machtvollkommenheit i. S. einer Souveränität bedeutet, spricht er sie dem Kaiser ab, s. o. F N 41. 89 Dazu m i t Verweisen Wyduckel (FN 3), S. 48 ff. 90 Bodin (FN 2), S. 221 : la première marque du Prince souverain, c'est la puissance de donner loy à tous en général et à chacun en particulier. Für Antonius scheint das letzte zu genügen, auch unten S. 355. 91 Martinius, De potestate (FN 9), Thesen L X X X I I I u. L X X X I V und oben S. 18. 88
Zur Kontroverse zwischen Vultejus und Antonius
353
grafen bei Rhein als Richter unterworfen sei 92 . Dagegen argumentiert Antonius auf verschiedenen Ebenen. Er bestreitet zunächst den Bedingungszusammenhang von Verantwortlichkeit vor einem Richter und der Ungebundenheit durch die Gesetze grundsätzlich. Denn er führt aus, daß die einseitige Gerichtsfreiheit der Principes nicht auf der Freiheit von der Bindung an Gesetze beruhe, denn sie waren nicht von der Bindung an alles Recht frei, sondern, weil die Kaiser die höchste Rechtsprechung innehatten, da sie weder einen Gleichen (parem) noch einen Höheren (superiorem) hatten, der Niedrige aber gegenüber dem Höheren nicht das Imperium ausüben und selbst Recht sprechen kann. Es ist also nach seiner Meinung eine Frage des Rangverhältnisses, nicht aber eine solche der Freiheit von oder der Gebundenheit an das Recht. I n diesem Zusammenhang steht die bereits erwähnte wichtige Unterscheidung der zwei Qualitäten der Gewalt des Kaisers: die höchste, potestas suprema, und die absolute, die potestas absoluta. Zwar hängt die zweite von der ersten ab, die aber ist weiter. Wenn auch durch die Fundamentalgesetze des Reiches der Kaiser einen Richter habe, so habe er trotzdem die höchste Rechtsprechungsgewait ; seiner potestas legibus soluta sei er insofern nicht beraubt 93 . Es w i r d wiederum deutlich, daß die legibus solutio, wie sich schon aus der vorhergehenden Unterscheidung ergibt, für Antonius einen viel engeren Sinn hat. Antonius fragt daher als nächstes, aus welchen Gründen der Kaiser vor den Pfalzgrafen als Richter geladen werden kann, was die Goldene Bulle an dieser Stelle selbst nicht darlegt 94 . Es seien, so behauptet er, eben nicht die oben genannten Materien, in denen der Kaiser nicht an das Gesetz gebunden sei 95 . Vielmehr seien es solche, wo die Bindung auf Vertrag beruhe 96 , und zwar, wenn ich recht sehe, zwischen Kaiser und Ständen. Durch Vertrag könne sowohl von der obersten Jurisdiktion als auch von der Gesetzesfreiheit einiges abgezogen werden, so daß der Kaiser insoweit auch, anders als früher, vor einem Richter zu erscheinen und sich zu verantworten habe. Das aber eben müsse genau untersucht werden, und es könne nicht allein aus der Tatsache der Unterwerfung in bestimmten Angelegenheiten schon geschlossen werden, der Kaiser sei überhaupt nicht legibus solutus 97. Es ist dies also für Antonius keine Frage, die sich aus Prinzipien beantworten ließe, sondern sie muß i m Detail beantwortet werden, anhand des jeweiligen Reichsfundamentalgesetzes selbst. Dieses wird von ihm als ein Vertrag (contractus) gedeutet. K a r l IV. aber 92 93 94 95 93 97
2
Antonius, Disputatio apologetica (FN 70), Thesen 34—48. These 35. These 37. These 38. These 39. These 40. R E C H T S T H E O R I E , Beiheft 7
354
Heinhard Steiger
habe selbst die potestas legibus soluta gebraucht, wie die ständige Wiederholung der Klausel de plenitudine imperialis potestates zeige. Dies hätten auch seine Nachfolger getan und das gelte auch für die gegenwärtige kaiserliche Majestät (gemeint ist Rudolph II.) 9 8 . Antonius entnimmt aber gemäß seines römisch-rechtlichen Ansatzes nicht nur die potestas legibus soluta, sondern auch deren mäßigenden Bedingungen dem römischen Recht. Seine Position ist grundsätzlich römisch-rechtlich, nicht bodinisch, steht also i n einer älteren Tradition, wie sie auch i n den verschiedenen Schulen des Mittelalters geprägt wurde 9 9 . Er erwartet vom Kaiser, daß er seine potestas legibus soluta aus Gründen der Majestät, der Gerechtigkeit, der Aequitas, des öffentlichen Nutzens oder der Notwendigkeit ausübt. Ein Gebrauch außerhalb solcher Rechtfertigung erscheint i h m als Mißbrauch 100 . Denn es sei der Herrschaft würdig, den Gesetzen, die sie mache, auch zu folgen, den Gesetzen gemäß sich zu verhalten und sich ihnen zu unterwerfen 1 0 1 . Aber offen ist, ob dies für ihn eine Rechtsfrage oder eine moralische Beurteilung ist. Jedenfalls stehen legibus solutio und Bindung bei ihm i n einer Spannung, die letztlich nicht aufgelöst wird. Der Kaiser sollte sich auch nach dem Rat der Ratgeber richten. Er könne nicht reinen Gewissens die potestas absoluta ohne denselben nutzen und sich allen Erkenntnissen seiner Ratgeber entziehen. Es sei zwar der Kaiser auch i n eigener Sache kraft seiner höchsten Gewalt selbst Richter. Aber es sei richtiger und schicklicher, wenn er seinen Ratgebern einen solchen Fall zum Richten übergebe 102 . Was aber nach der Meinung der Gelehrten ehrenvoll sei, sei durch Gewohnheit und durch die Goldene Bulle zur Notwendigkeit gemacht worden. Denn der Pfalzgraf bei Rhein ist Ratgeber und gewissermaßen Mitglied des Corpus. Der Pfalzgraf richtet nicht über den Kaiser als superior und unabhängiger Richter außerhalb kaiserlicher Herrschaft, sondern gerade innerhalb derselben, aus dieser heraus. Deshalb ordnet die Goldene Bulle auch an, daß das Urteil in der kaiserlichen Kurie zu verkünden sei, damit die kaiserliche Majestät selbst i n ihrer Kurie und durch ihre Räte in eigener Sache gewissermaßen zu urteilen scheine 103 . Aber damit ist nicht die potestas legibus soluta selbst weggenommen, wie auch die kaiserliche Majestas heil geblieben sei. Sondern die Pflicht, 98
99 100 101 102 105
These 41.
Dazu Wyduckel
(FN 3).
Antonius, Disputatio apologetica (FN 70), These 42. These 43. These 46. These 47.
Zur Kontroverse zwischen Vultejus und Antonius
355
vor einem Richter zu erscheinen, beruhe gleichsam auf Vertrag 1 0 4 . Die Antwort auf die Frage nach den Gründen der Unterwerfung unter die Richterschaft des Pfalzgrafen ist also eine Bindung veluti ex contractu. Der Kaiser hat fidem per contractum datam, aber eben, weil es richtiger und schicklicher ist. So ist es ein allerdings wohl nicht mehr rücknehmbares prozessuales Zugeständnis, nicht aber eine substantielle Herrschaftseinschränkung. Die Unterwerfung unter den Richter verliert damit für Antonius ihre Herrschaftsrelevanz, und damit auch die ihr von Vultejus beigelegte prinzipielle Bedeutung für die Frage, ob der Kaiser, wie früher, legibus solutus
sei.
j) Damit w i r d nun die bereits erwähnte, allgemeinere Frage in bezug auf die Gesetzgebung relevant, nämlich, ob der Kaiser deswegen nicht legibus solutus sei, weil es i h m nicht möglich sei 105 , Gesetze ohne die Stände zu machen oder aufzuheben. Antonius unterscheidet also zwei Problemkreise, die Gesetzgebungsmacht und die Durchbrechung für den Einzelfall. Antonius behauptet nun nicht etwa, der Kaiser könne ohne Zustimmung der Stände Gesetze machen oder aufheben, eine um diese Zeit noch nicht endgültig entschiedene, aber sehr umstrittene Verfassungsrechtsfrage. Er läßt die Frage offen. Er verlagert die Auseinandersetzung vielmehr ins Methodische. Zunächst führt er unter Berufung auf Accursius und seine Glossa Ordinaria die Unterscheidung ein, es sei eines zu untersuchen, ob der Kaiser geltende Gesetze aufheben und an ihrer Stelle andere machen könne, und ein anderes, ob er den geltenden Gesetzen gemäß vollständig zu leben gehalten sei. Gemeint ist damit wohl, ob sie i m Einzelfall durchbrochen werden können. Dies aber sei die hier zu untersuchende Frage. Nach Antonius ist derjenige legibus solutus, der es nicht nötig habe, den Gesetzen zu dienen und ihnen gemäß zu leben10®. Daraus ergibt sich, daß Antonius, anders als Bodin, das Gesetzemachen nicht zur potestas legibus soluta zählt. Er beruft sich hier nun auch seinerseits auf eine Stellungnahme des Vultejus. k) Wie ist es mit der Bindung des Kaisers an die Kammergerichtsurteile bestellt? Auch sie beruht, wie bereits i n der Disputatio über 104
These 48. These 49. ioe These 50: A l i u d enim est quaerere, A n Princeps leges latas tollere, i n earumque locum alias facere potest: aliud, an legibus latis et i n vigore suo permanentibus vivere teneantur. Et haec quaestio huius loci est propria. Sol u t u m autem legibus intelligimus eum, qui leges servare aut iis vivere necesse non habet. 105
2 *
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das Reichskammergericht ausgeführt, auf öffentlichen, mit den Reichsständen eingegangenen Konventionen 1 0 7 . Aber auch dies ist wiederum nicht die Frage, sondern nur, ob der Kaiser an die positiven Gesetze gebunden sei, an die er früher nicht gebunden gewesen sei. Nun sei es aber eine petitio principii, die Antwort in die Frage zu verlegen, indem aus der Bindung des Kaisers an die Staatsgrundgesetze die Unterwerfung unter alle Gesetze gefolgert werde. Es müsse vielmehr geprüft werden, ob die Staatsgrundgesetze eine derartige Unterwerfung auch enthielten 108 . Er fordert Vultejus auf, aus den Staatsgrundgesetzen, der Goldenen Bulle, aus den Ordnungen des Reichskammergerichtes nachzuweisen, daß der Kaiser nunmehr auch den Gesetzen unterworfen sei, von denen er nach Justinian frei gewesen sei 109 . Er selbst weist im übrigen die Ungebundenheit des Kaisers nicht nach; er braucht es nach seinem Ansatz auch nicht, da er ja inhaltlich wie methodisch davon ausgeht, daß das Frühere dann weiterhin gültig ist, wenn es nicht aufgehoben worden ist. Dann muß aber die Aufhebung nachgewiesen werden. Der Beweis dafür fällt dann notwendigerweise der behauptenden Seite zu. Für ihn ist der regierende Kaiser in Wahrheit Monarch und Haupt des Reiches, und zwar gegen Bodin. 1) Nun erst geht er auf die Verfassungsfrage ein. Dabei stellt er gegenüber einerseits seine frühere These, daß der Kaiser durch das Lehnsrecht gebunden werde 1 1 0 und andererseits die These des Vultejus, K a r l der Große habe bei der Wiedererrichtung des Reiches diesem eine andere forma gegeben, die zu einer aristokratisch regierten Monarchie geführt habe 111 . Anders als Martinius sieht er zwischen beiden aber fundamentale Unterschiede. Er weist die auf Bodin beruhende Unterscheidung von status und modus gubernandi zurück 112 . Es handelt sich beim status des Reiches um einen status mixus 113. Denn I n imperio nostro Proceres sive Status parte aliqua j u r i u m maiestatis, non u t singuli, sed u t universi, et quasi Collegium aliquod vere fruuntur, u t ex jure Comitiorum et I m p e r i i Ordinationibus manifestum est. Ergo absolute monarchicum non est 1 1 4 .
Die Bodin'sche Unterscheidung schließe hingegen die Vornehmen von der Teilhabe an der maiestas in Wirklichkeit aus. Die Unterscheidung 107 108 109 110 111 112 113 114
These 51. These 52. These 53. These 55. These 56. Thesen 57—62. These 62. These 61.
Zur Kontroverse zwischen Vultejus und Antonius
357
führe in Wahrheit zu einer absoluten, d. h. wohl reinen Monarchie 115 . Allerdings hätten innerhalb des status mixtus die monarchischen Elemente das stärkere Gewicht, neige er stärker der Monarchie zu — ad Monarchiam maiestatis,
magis de quibus
propendet Proceres
— , da der K a i s e r i n illis participant ,
integrum
ipsis
semissem
iuribus retinet
119
.
I m Grunde geht also Antonius i n der Verfassungs- oder Statusfrage jedenfalls teilweise weiter als Vultejus. Er versucht, so scheint mir, der konkreten Situation besser gerecht zu werden. Nun hat Dickmann eingewandt, diese Position wolle nicht viel besagen: „Indem er an der römischen Grundlage des Kaisertums festhielt, entzog er in Wahrheit den Ständen den Boden, auf dem ihr Eigenrecht gewachsen war. Denn was waren landesherrliche Rechte und Titel noch wert, die allein auf kaiserlicher Konzession beruhten?" 117 . M. E. übersieht Dickmann, daß nach der Auffassung des Antonius der status mixtus auf den leges fundamentales beruht, an die der Kaiser ex contractu gebunden ist. Die Rechte und Titel der Stände sind nicht aus frei verfügbarer kaiserlicher Konzession erwachsen, sondern aus den Gewohnheiten und aus Vertrag, denen auch der Kaiser unterworfen ist. Das ist auch eine Wirkung der differenzierten Sicht des Antonius. Sie gehören nicht zur potestas absoluta. M. E. ist es schon nicht zutreffend, von den „landesherrlichen Rechten und Titeln" zu sprechen. Von diesen, soweit sie von der Teilhabe am Reich und dem Lehnsrecht unterschieden werden müssen, ist bei Antonius überhaupt nicht die Rede. Diese beiden aber sind gerade unverfügbar und werden im Katalog der möglichen Durchbrechungen nicht genannt. I I I . Der Streit i m Lichte der Theorie des Johannes Althusius
1. Einflüsse a) Ein direkter Einfluß der politischen Theorie des Johannes A l t h u sius, sowohl als reine Theorie wie als Theorie über die Verfassungslage des Reiches, ist ausgewiesen durch entsprechende Zitate bei keinem der Autoren festzustellen. Für Vultejus gilt das schon aus zeitlichen Gründen, weil die erste Auflage der Politica erst 1603 erschienen ist. Auch über persönliche Bekanntschaft, früheres gemeinsames Diskutieren, ist ein solcher Einfluß nicht gegeben. Als Althusius i n Marburg 115 Antonius unterscheidet also hier zwischen der absoluten Monarchie und dem Imperator legibus solutus. Das ist aufgrund seiner engen Bestimmung der legibus solutio möglich. These 59. I m Grunde w i r f t Antonius hier dem Vultejus vor, Bodin nicht richtig verstanden zu haben und i m Grunde das Gegenteil von dem zu sagen, was er eigentlich habe sagen wollen. 118 These 62.
117
Dickmann (FN 1), S. 130.
358
Heinhard Steiger
war, war Vultejus in Basel und umgekehrt 118 . Aber auch für Martinius und Antonius ist nicht nachzuweisen, daß sie die ihnen allein zur Verfügung stehende erste Auflage herangezogen hätten. b) Läßt sich ein indirekter Einfluß nachweisen? Martinius ist eindeutig Bodin-Schüler. Daher sind auch seine Bestimmungen von Monarchie und Aristokratie geprägt. K r i t e r i u m ist, wem die maiestas zusteht; i m Reich sind es die Kurfürsten und Stände. Jedoch sagt Martinius nichts darüber, woher sie diese Macht haben, außer daß er eine kaiserliche Abtretung ablehnt und behauptet, diese Rechte hätten den Ständen schon vor der Goldenen Bulle zugestanden 119 . Das deckt sich i m übrigen mit der bereits zitierten These Peucers in der Carion'schen Chronica 120 , und auch der entsprechenden Stellungnahme Bodins 121 . Die Kurfürsten sind deshalb nicht Ephoren i m Sinne des Althusius, auch wenn dieser selbst sie als generalis Ephores des Reiches bezeichnet 122 . Denn auch die Ephoren sind nicht Träger der iura maiestatis, sondern wie der summus magistratus, nur zur Ausübung der potestas bestellt 123 . Schwieriger ist die Frage für Antonius zu beantworten. Die Politica und die Theorie des Althusius müssen i h m bekannt gewesen sein. Denn er beruft sich für seine Auffassung, der status des Reiches sei ex monarchia et aristocratica mixtum ausdrücklich auf die Theorie zum status mixtus von Bartholomäus Keckermann 124 . Dieser aber stützt sich, wie Hoke erstmals dargelegt hat, ausdrücklich auf Althusius und wendet auf die aristokratischen Glieder des status mixtus den Begriff der Ephoren an, wie ihn Althusius entwickelt hat 1 2 5 . Es ist kaum vorstellbar, daß Antonius die ausführlichen Zitate des Althusius bei Keckermann nicht zur Kenntnis genommen haben sollte und nicht selbst auch in die Politica hineingeschaut hat. Allerdings ist zweifelhaft, ob Antonius auch die Althusianischen Positionen i m ganzen übernehmen wollte, insbesondere auch die generellen theoretischen Grundlagen. Er geht selbst auf diesen Punkt nicht näher ein. Die Anhaltspunkte i n seinen Schriften sind widersprüchlich. Einerseits ist auch für ihn die 118
Dazu der Beitrag von Holzhauer i n diesem Band. Martinius, De potestate (FN 9), Thesen L X V , L X V I I , L X I X . 120 s. o. S. 340 f. 121 Bodin (FN 2), S. 321. 122 Johannes Althusius, Politica methodice Digesta atque exempli sacris et profanis illustrata, 3. Aufl., Herborn 1614, Neudruck Aalen 1961, cap. X V I I I , § 52. 128 Politica cap. X V I I I , § 48 seq. 124 Antonius, Disputatio apologetica (FN 70), § 62. 125 Bartholemaeus Keckermann, Systema Disciplinae Politicae, Hanau 1607; cap. I V . Dazu Hoke, Reichsstaatsrechtslehre (FN 1), S. 159, und ausführlicher dessen Beitrag i n diesem Band. 119
Zur Kontroverse zwischen Vultejus und Antonius
359
Stellung des Kaisers ex conventione bzw. ex contractu veluti die die conditiones
quae
ex communi
bene
imperandi
bestimmt,
sive
regnandi
natura dependent enthalten 128 . Das erinnert an die entsprechenden Grundlegungen der Macht des summus magistratus i n der Politica, die durch das pactum mandati begründet wird, die ebenfalls die conditiones und leges der Regierung enthalten gemäß recta ratio et natura 121. Aber diese äußerliche Übereinstimmung läßt sich nicht ohne weiteres als ein Einfluß des Althusius auf Antonius deuten. Denn nähere Ausführungen fehlen. Er sagt nicht, zwischen wem dieser contractus oder die conventio zustande kommt, so daß ihre Stellung im Gesamtgefüge der gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Ordnung schwer abzuschätzen ist. Allerdings w i r d ihre Funktion verdeutlicht omnes enim, omnes inquam, Principes, Imperatores et Reges, conditionibus, quibus ad I m p e r i u m vel regnum evecti sunt, ex conventione quadam, saltun tacita, quae ex aequo omnes mortales alligat, obstringuntur 1 2 8 .
Ist das aber der Herrschaftsvertrag, ein pactum mandati i m Sinne des Althusius? Da er ihn hier gerade nicht anführt, auch seine Terminologie nicht benutzt, nie ist von mandatum die Rede, auch nicht von administrate, ist das nicht anzunehmen. Die Theorie des Vertrages i m Staatsrecht ist ja auch schließlich älter. Es ist daher zu vermuten, daß auch die Vorstellungen des Antonius auf ältere Traditionen zurückgehen. Ich meine daher, daß Antonius kein verkappter Althusianer ist. Dagegen spricht auch, daß er das Reich ja in der Kontinuität mit dem Alten Römischen Reich sieht. Auch die theoretischen, theologischen, soziologischen, anthropologischen und juristischen Elemente der Lehre des Althusius sind auch nicht in Teilen bei Antonius aufzufinden. Aber er ist auch nicht Bodinist. Das weist er nicht nur selbst zurück; sondern er weicht i n wesentlichen Punkten, so insbesondere der Teilbarkeit der Majestätsrechte und seiner sehr beschränkten, gerade das legem facere
ausschließenden K o n z e p t i o n d e r legibus
solutio
v o n diesem
ab. Ist er ein Eklektiker, der sich für seine Zwecke dort bedient, wo es ihm paßt, und auch scheinbar Unvereinbares zusammenbringt? Dies, so scheint mir, muß offen bleiben. Auch die Disputatio apologetica ist letzten Endes keine systematische Abhandlung über Reich, Kaiser und Stände. Es ist doch eine A r t Gelegenheitsschrift, mit einem bestimmten, gerade auch politischen Ziel. Ebensowenig wie Vultejus war wohl auch Antonius an diesen reichsstaatsrechtlichen Fragen grundlegend inter12e
127 128
Antonius,
Disputatio apologetica (FN 70), These 11.
Althusius, Politica (FN 122), cap. XIX, § 6 seq. et al. Antonius,
Disputatio apologetica (FN 70), These 11.
360
Heinhard Steiger
essiert. Er hat sich an der späteren Diskussion auch nicht mehr beteiligt. Antonius dafür in Anspruch zu nehmen, die Souveränität des Kaisers i m Sinne Bodins begründen zu wollen, erscheint m i r jedoch unmöglich. War Antonius also der Gründer der Gießener reichsstaatsrechtlichen Schule? Die A n t w o r t ist sowohl j a als auch nein. Er war es insofern, als er das Reichsstaatsrecht i n Gießen einführte und i n Reinkingk einen Schüler fand, der dieses nun i n der Tat systematisch entwickelte. Aber er war es insofern nicht, als diese Gießener Schule durch Reinkingk die Bodin'schen theoretischen Grundlagen aufnahm. Zwar lehnt Reinkingk die Bodin'sche Kennzeichnung des Reiches als Aristokratie ab, aber mit Hilfe der Kategorien, die Bodin entwickelt hat, also anders als Antonius. Majestas est summa et legibus soluta potestas, i n cives ac subditos, (Bodin). Talem autem potestatem habet imperator 1 2 9 .
Unter Berufung auf Bodin w i r d festgehalten, daß die Majestät nicht teilbar ist 1 3 0 . Der summus princeps kann sie daher auch nicht ohne seine eigene Zerstörung abgeben 131 . Reinkingk akzeptiert die Unterscheidung von status und modus administrationis, die Antonius zurückgewiesen hat 1 3 2 . Daher ist auch der status des Reiches kein status mixtus, wenn auch die administratio sit mixta . . . etc. 133 . Natürlich hat Reinkingk damit Schwierigkeiten im einzelnen mit dem Verfassungsrecht, aber von ihm kann nicht auf Antonius zurückgeschlossen werden. 2. Die Position des Johannes Althusius
a) Es bleibt jedoch die Frage, warum Althusius keinen unmittelbaren und, wie m i r scheint, auch keinen mittelbaren Einfluß auf die Argumentation in diesem Disput hatte. Das kann seinen Grund letzten Endes nur i n seiner Theorie und i n seiner eigenen Position zu den dort aufgeworfenen Problemen haben. Nun besteht keine Notwendigkeit, die Theorie i m einzelnen hier darzulegen 134 . Aber seine Position zu einigen Fragen und 129 Theodor Reinkingk, Tractatus de Regimine seculari et ecclesiastico S. imperii Romano germanici, 1. Auflage Gießen 1619, m i r lag eine Ausgabe von 1717 vor, Lib. I, classis I I Cap. I I , § 54. 130 Ibid., § 231. 131 Ibid., § 234. 132 Ibid., § 242 und conclusio I I , p. 71. 133 Conclusio I I I , p. 73, p. 71. Er schließt sich dabei der Unterscheidung von Arrumaeus zwischen der forma maiestatis u n d eius effecta an. I m Grunde folgt er damit auch der Unterscheidung Bodins von Staats- und Regierungsform. Er wendet sich gegen Limnaeus. 134 Dazu neben den bekannten Untersuchungen von Gierke, Winters, Scupin, Friedrich u. a. vor allem die Einzelstudien i n diesem Band, die wesentliche neue Einsichten gebracht haben.
Zur Kontroverse zwischen Vultejus und Antonius
361
Problemen des Disputs, vor allem die Stellung zur zentralen Frage an Imperator princeps legibus solutus sit sollen jedenfalls noch skizziert werden. b) Eine gewisse Parallele scheint sich in der Funktion der Bindung des princeps a n die leges fundamentales
oder leges regni
Althusius benutzt neben dem Begriff lex fundamentalis die imperii
futuri
forma
et modo
z u ergeben.
195
, lex regiminis,
b e s t i m m e n . Sie w e r d e n b e i d e r W a h l
des summus magistratus vorgelegt und dann bei Annahme Inhalt des Herrschaftsvertrages 138 . Außerdem taucht der Begriff leges oder iura universalis consociationis auf 137 . Auch sie bedeuten Bindung für den Herrscher; denn sie sind die rechtliche Ordnung der consociatio universalis selbst, nach der sie sich gebildet hat, durch die sie konstituiert ist. Funktional scheinen die verschiedenen Begriffe bei den hier vorgestellten Autoren i n einer sehr allgemeinen Weise mehr oder weniger dasselbe zu bezeichnen, die forma der politischen Einheit, die Grundlagen der Macht. Aber der Ursprung ihrer Begründung, ihre Stellung i m jeweiligen theoretischen System sind bei den drei Autoren des Disputs einerseits und Althusius andererseits doch sehr verschieden. D i e B i n d u n g des summus
magistratus
a n die leges regiminis
beruht
auf dem pactum mandati, dem Einsetzungsakt, der aber nur Übertragung der Herrschaft zur Ausübung bedeutet. So ist Herrschaft gesetzlich konstituierte Amtsgewalt, modern ausgedrückt konstitutionelle Organkompetenz 138 . Das aber führt zurück auf die Bildung der consociatio universalis überhaupt, die bei den drei anderen Autoren keinerlei Widerhall oder Aufnahme findet. Wie oben bereits dargelegt, sind Ähnlichkeiten mit Antonius hier nur äußerlich 139 . Der Kaiser hat auch bei Antonius die oberste Gewalt nicht nur zur Ausübung übertragen erhalten; er ist Träger derselben, wie es eben die Kaiser seit alters her waren. Genau das bedeutet die These von der Kontinuität des Römischen Reiches von Augustus bis zu seiner Zeit. Die Bindung an die leges fundamentales bei Martinius, die auch bei ihm auf Eid beruht 1 4 0 , fügt sich ohne weiteres i n seine Übernahme der Bodin'schen Thesen, da auch dieser die Bindung an die leges funda135 138
z. B. Althusius, Politica (FN 122), cap. XIX, § 52.
Cap. X I X , § 29. 137 Cap. X I X , §§ 1 u. 2. 138 Cap. X V I I I , § 18 seq., wenn auch ohne Unterscheidung von Organ und Organwalter. 139 s. o. S. 359. 140 Martinius, De Potestate (FN 9), These L X I I I .
362
Heinhard Steiger
mentales bejaht. Z w a r t r i t t ein verfassungsrechtlicher Zug hervor, wenn es heißt: „Sie enthalten i n sich/(ut hodie loquuntur) die Verfassung der Policey"; aber auch die „verfassungsmäßig gebundene" Macht des Kaisers beruht für Martinius doch auf eigenem Recht und nicht auf Übertragung zur Ausübung. Vultejus führt die Bindung des Kaisers auf die von K a r l dem Großen dem wiederbegründeten Westreich gegebene neue, wesentlich lehnsrechtlich geprägte Verfassung zurück. Die Bindung liegt hier i n der fidelitas. c) Der scheinbaren funktionalen Parallelität der Bindung an die leges fundamentales, die aber i n den Begründungen abweicht, scheint eine gewisse Parallelität in den Folgen zu entsprechen. Vultejus, Martinius und auch Antonius anerkennen, daß der Kaiser der Gerichtsbarkeit des Pfalzgrafen unterworfen ist. Vultejus unterstellt ihn, wie erinnerlich, sogar der Gewalt der Kurfürsten, i h n abzusetzen st enim male administrai imperii 141. Er benutzt damit einen Begriff, den auch Althusius später zur Beschreibung der Aufgabe des summus magistratus verwenden w i r d 1 4 2 . Vultejus reduziert Herrschaft also auf eine A r t Vollzug. Die Wiedergabe mit „Verwaltung" wäre allerdings nach heutigem Verständnis wohl zu eng. Äußerlich, vom Ergebnis her gesehen, besteht zudem eine Parallele zu den Ephoren des Althusius, denen dieser ebenfalls das Recht zum „Widerstand" einschließlich der Absetzung gibt 1 4 3 , zumal auch er i m Reich den Kurfürsten die Ephorenstellung zuweist 1 4 4 . Aber auch hier sind die Begründungen grundverschieden. Vultejus führt die Funktion der Kurfürsten auf die consuetudo zurück 1 4 5 . Bei Althusius beruht die Stellung der Ephoren auf dem Gesamtsystem der consociatio universalis, sind auch sie nur Amtsträger m i t übertragener Gewalt, gewählt und eingesetzt von jener. I h r Aufgabenbereich ist i m übrigen auch wesentlich weiter 14 *. Allerdings ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, daß die Funktion der Kurfürsten, wie aber auch der übrigen Reichsstände, i m Reich Anlaß und Einfluß für die Entwicklung der Aufgabenstellung der Ephoren waren, die politische Theorie also eine Überhöhung der Verfassungswirklichkeit des Reiches darstellt, wie Althusius sie sah, oder sehen wollte. Auch Althusius, als ständisch gesonnener Autor, verfolgte natürlich reichspolitische Ziele mit seiner Theorie. 141
s. o. S. 339 f.
142
Althusius, Politica (FN 122), cap. XXV, § 1.
143
Cap. X V I I I , § 88; dazu der Beitrag von Winters in diesem Band. Cap. X V I I I , § 52. s. o. S. 337 ff. Althusius, Politica (FN 122), cap. X V I I I , § 48 seq.
144 145 14β
Zur Kontroverse zwischen Vultejus und Antonius
363
Da Ephoren einerseits ein notwendiges Element jeder Ordnung einer consociatio universalis, auch und gerade der monarchischen 147 , sie andererseits aber ministri und nicht Träger der iura maiestatis, sondern auch nur zur Ausübung von potestas bestellte Amtsträger sind 1 4 8 , w i r d eine Monarchie durch sie auch nicht zur aristokratisch regierten Monarchie oder gar zur Aristokratie. Da Vultejus dieses Problem nur knapp behandelt, läßt sich nicht feststellen, ob auch er, wie später Martinius, den Kurfürsten und Ständen mit Bodin die iura maiestatis zuweist. Die Lehre Bodins von den Staats- und Regierungsformen paßt für das Verhältnis des summus magistratus zu den Ephoren jedenfalls nicht. So unterscheidet Althusius daher auch nur Staatsformen und wendet sich gegen die Unterscheidung der Regierungsformen 149 . Somit sind sowohl das Deutsche Reich als auch etwa die französische Monarchie Monarchien licet
imp.
et
reges
potestas
sit
limitata
et
coarctata
parlamento
et
consiliis regni 1 5 0 . d) Das aber führt nun zu der zentralen Frage unseres Disputs „an princeps legibus solutus sit". Althusius äußert sich verschiedentlich dazu 151 . Anders als die drei Autoren bezieht er die Frage nach der legibus solutio aber nicht nur auf den Kaiser, ja nicht einmal nur auf den Fürsten, sondern erörtert das allgemeine grundsätzliche Problem, ob es ü b e r h a u p t eine potestas
absoluta
oder eine potestas
lege
soluta
geben könne. Aus der Antwort darauf w i r d abgeleitet, ob die ministri eine solche absolute Gewalt haben können, und dann, i n einem dritten Schritt, ob der Monarch als summus magistratus eine solche habe. Aber bereits die Grundfrage w i r d ausdrücklich gegen Bodin verneint, non est summa
potestas
non perpetua
neque
lege soluta 152.
Wesentlich sind
die Gründe. Sie werden immanent aus dem Verständnis irdischer Macht entwickelt. Diese steht unter der Gewalt und dem Gesetz Gottes, die die höchsten sind. Sie ist nicht lege soluta, weil sie an das göttliche und natürliche Gesetz gebunden ist. Die absolute Gewalt ist immer tyrannische Gewalt, und das heißt Gewalt zum Bösen 153 . Gewalt und Macht der consociatio universalis aber sind zum Guten, zum allgemeinen Wohl, zum Heil, zur Verwirklichung des Gerechten, nicht zum Belieben und Interesse desjenigen, der die Gewalt ausübt. Immer wieder w i r d der bekannte Satz des Augustinus wiedergegeben, daß ein Königreich 147
Cap. X I X , § 35 seq. Cap. X V I I I , § 47 seq. 149 Cap. X X X I X , §§ 2 u. 3. 150 Cap. X X X I X , § 8. 151 Die Hauptstellen sind cap. I X , §§ 20 seq.; cap. X V I I I , § 40; cap. X I X , § 9 seq. ; 35 seq. ; cap. X X I V , § 49 seq. ; cap. X X X I X , § 8 seq. 152 Cap. I X , § 20 seq. 153 Cap. X X X V I I I , § 9. 148
364
Heinhard Steiger
ohne Gerechtigkeit nichts sei, als eine große Räuberbande. Staatliche Macht w i r d aber nicht nur durch göttliches und natürliches Recht gebunden. Sie ist auch nicht gegenüber dem positiven Recht, der lex civilis, gelöst; denn dieses positive Recht ist die Verwirklichung des göttlichen und natürlichen Rechts, oder es nicht Recht 154 . Die Konsequenz für unsere Frage ist k l a r lege civili potestatem solvere , est etiam aliquatenus naturalis et divinae legis eandem exuere 155. W e n n aber die Ü b e r e i n s t i m -
mung nicht gegeben ist, dann besteht zwar für den, der summam potestatem,
nec
superiorem
nisi
deum
et naturalem
habet
aequitatem
et
iustitiam agnoscit keine Bindung 1 5 6 . Aber Inhaber dieser Gewalt ist, wiederum gegen Bodin, keinesfalls der König, sed iure illa tantum corpori
universalis
consociationis
tanquam
propria
est
adscrebenda
157
.
Damit ist die Frage i m eigentlichen Sinne schon beantwortet. I m folgenden soll jedoch auf die Begründung der Bindung des Monarchen noch eingegangen werden. Sie verläuft auf zwei Ebenen. Die erste Ebene w i r d durch die Herkunft der Amtsgewalt der Könige, aber auch überhaupt aller ministri gebildet. Sie ist abgeleitete Gewalt durch Wahl und durch das pactum mandati. Die übertragene Gewalt ist non infinita et absoluta 159. D e n n die Ü b e r t r a g u n g erfolgt secundum justas leges administrandi et regendi corpus et iura universalis huius consociationis.
Die Amtsträger erhalten die Macht nicht zu Eigentum 1 5 9 . Das gilt erst recht f ü r den summus
magistratus,
z u m a l dieser das pactum
mandati,
m i t dem eben die Bedingungen und Gesetze seines Amtes und seiner Gewalt festgelegt sind, beschworen hat. Absoluta potestas sive plenitudo potestates, quam vocant, summo magistrat e dari non potest 160 .
Althusius lehnt auch ausdrücklich die These ab, das Volk wolle vielleicht seine Macht auf den summus magistratus i n vollem Umfange sine omne reservatione
vel exceptione
et conditione
übertragen, so daß er
dann eben doch als Vollinhaber der gesamten Macht legibus solutus sei 181 . Es w i r d gewissermaßen vorwegnehmend gegen die These des Hobbes Stellung genommen, durch den Herrschaftsvertrag übertrage das Volk alle Gewalt dem Herrscher, ohne irgendetwas zurückzubehalten. Hier w i r d die bereits erwähnte, zweite wichtigere, weil funktio154
Cap. I X , § 20, p. 177; dazu näher van Eikema Hommes in diesem Band. Cap. I X , § 21, p. 177. 15β Loc. cit. 157 Cap. I X , § 23, p. 178. 158 Cap. X V I I I , § 40. 15 · Cap. X V I I I , § 30. 160 Cap. X I X , § 9. 1β1 Cap. X I X , § 35 et seq. 155
Zur Kontroverse zwischen Vultejus und Antonius
365
nal substantielle Ebene der Begründung für die Bindung der Amtsinhaber, und damit auch des summus magistratus, maßgebend. Natura vero magistratus et imperii et, ut utilitatem subditorum, non i m perantes commodum respiciat et secundum rectam rationem et iustitiam administret.
Wieder w i r d Augustinus zitiert und dann heißt es Denique nulla potestas est ad malum, vel nocendum, sed tantum ad bonum et ad iuvandum et ita ad subditorum utilitatem et salutem1®2.
Das sind die Voraussetzungen der Machtübertragung, sowie auch i h r Sinn und ihre Funktion. Schon früher hatte Althusius das Recht des Königreiches, ius regni, dahin bestimmt: Primum, quod ad salutem animae: A l t e r u m pertinet.
quod ad corporis
curam
Beides also gehört zum grundlegenden Recht der consociatio 1™. Aber anders als Hobbes, und w o h l auch aufgrund anderer Erfahrungen, verläßt sich Althusius nicht n u r auf den guten W i l l e n der Amtsträger, und insbesondere des summus magistratus u n d dessen Einsicht. Er geht, für unser Gefühl w o h l lebensnäher, davon aus, daß niemand darauf verzichten w i l l , gegen unrechtmäßig ausgeübte Gewalt, gegen Ungerechtigkeit sich verteidigen zu können. Er sichert dieses Widerstandsrecht institutionell durch die Einrichtung der Ephoren. Ihre Rechte w i l l und kann das V o l k nicht auf den summus magistratus übertragen 1 8 4 . So bleibt immer ein Dualismus der Machtträger, von denen keiner absolut werden kann. Dadurch w i r d nicht etwa der Monarchie als Monarchie Abtrag getan. Auch sie ist darauf gerichtet, jacere ea tantum quae natura et recta ratio conveniunt 1β5. Ebensowenig wie die Macht Gottes darunter leidet, daß er nicht am selben Ort und zur selben Zeit hell und dunkel, oder sonstige Gegensätze machen kann, daß er nicht lügen kann, leidet die Macht des Monarchen darunter, daß er das erfüllt, was natura et recta
ratio
entspricht, n ä m l i c h die Gesetze u n d das pactum
mandati
halten, den Rat und die Zustimmung der Vornehmen zu seinen Handlungen einzuholen. Wenn Althusius für das Reich die Wahlkapitulation Karls V. zum pactum mandati 166 erklärt, oder wenn er auf die Bestimmung der Goldenen Bulle, die den Kaiser der Rechtsprechung des Kurfürsten 182 1M 104 185 1ββ
Cap. X I X , § 37. Cap. I X , § 27. Cap. X I X , § 36. Cap. X X X V I X , § 8. Cap. X I X , § 39.
366
Heinhard Steiger
von der Pfalz unterwirft, verweist 1 8 7 , so sind dies nur Anwendungsfälle. Maßgeblich ist die allgemeine grundsätzliche Begründung. Sie aber geht weit über die konkrete Gestalt der Bindung hinaus, weil sie diese in dem Wesen der consociatio universalis ihrem Sinn und der daraus sich ergebenden Funktion der Macht und ihrer Übertragung auf den summus magistratus verankerten. Damit sind auch diese Parallelitäten i m Ergebnis rein äußerliche. e) In der Perspektive des Althusius ist der Streit zwischen Vultejus/ Martinius und Antonius bereits i m Ansatz verfehlt, jedenfalls vordergründig. Nach i h r erübrigt sich i m Grunde die Frage, ob der Kaiser legibus solutus sei, weil es eben eine absolute Gewalt in der consociatio universalis schon von ihrem Zweck und ihrer Funktion her nicht geben kann. Die Frage hat daher keinen sinnhaften Ort in einer Theorie, die auf dem theologischen Konzept des Bundes und einer biblischen Grundlegung der Macht, dem anthropologischen und soziologischen Konzept der consociatio
symbiotica,
d e m j u r i s t i s c h e n K o n z e p t des pactum
man-
dati und der repraesentatio aufbaut. Das ältere Problem des princeps legibus solutus wie das moderne, wer Träger der Souveränität sei, stammen aus einer herrschaftlich konzipierten Theorie, der alle am Streit verhaftet sind. Ihr gegenüber steht die genossenschaftlich konzipierte Theorie des Althusius. Damit stehen sich zwei Deutungssysteme der politischen Einheit gegenüber, über deren grundsätzliche Verschiedenheit w i r uns nicht durch die bestehenden Parallelen oder gar Übereinstimmungen in Teilergebnissen täuschen lassen dürfen 188 . Wenn auch für alle vier Autoren die Herrschaft letzten Endes ihren Grund in Gott hat, so ist das doch eine zu hohe, und daher für die konkreten Fragestellungen nichtssagende Ebene der Abstraktion. f) Die grundlegende Verschiedenheit der theoretischen Voraussetzungen zwischen den drei an unserem Streit Beteiligten und Althusius ist ein Merkmal der Zeit, in der der moderne Staat in Geburtswehen liegt. Für die unmittelbar folgenden Jahrhunderte hatte Martinius das richtige Konzept entwickelt. W i r heutigen neigen eher der Theorie des Althusius zu. Das Reich wurde von jenen Geburtswehen des modernen Staates in besonderer Weise geschüttelt. Sie gebaren ein politisches Gebilde, monstrum simile, u m den bis heute für Deutschland geltenden wissenschaftlichen und auch politischen Verzweiflungsschrei Pufendorfs 187
Cap. X V I I I , § 79. Z u m Verhältnis von Ähnlichkeiten und Unterscheidungen i m G r u n d sätzlichen bei Althusius und Bodin, H ans-Ulrich Scupin, Der Begriff der Souveränität bei Johannes Althusius u n d Jean Bodin, in: Der Staat, Bd. 4 (1965), S. 1—26 sowie den Beitrag i n diesem Band. Ähnliches gilt mutatis mutandis auch hier. 188
Zur Kontroverse zwischen Vultejus und Antonius
367
aufzunehmen. Aber, um die Frage nach der Stellung des Kaisers i m Reich zu lösen, war der Dreißigjährige Krieg mit seinem Chaos notwendig. Die politischen Theorien konnten ihn nicht verhindern, wenn sie nicht gar dazu beitrugen; denn sie vermochten nicht zu vermitteln, da sie ebenfalls parteilich waren. Das gilt wohl auch für den um 1610 eigentlich einsetzenden großen Streit der Staatsrechtslehre zu diesem Problem. Denn die Verfassung des Reiches war offen. Aus ihr war keine klare Antwort abzuleiten. Daher konnten die gelehrten Bemühungen die Frage nicht so klären, daß die politischen Gegensätze hätten ausgeglichen und befriedet werden können. Auch ist, wo es um die Macht geht, die Theorie ohnmächtig. Aber das führt nicht nur in den allgemeinen politischen Kontext der hier behandelten wissenschaftlichen Kontroverse, sondern auch zu der Rolle der Wissenschaft, und gerade der Staatsrechtswissenschaft i n der politischen Auseinandersetzung, die, so wichtig sie sind, hier nicht weiter behandelt werden sollen und können.
V. Theorien von Recht, Staat und Gesellschaft
NATURRECHT UND POSITIVES RECHT B E I JOHANNES ALTHUSIUS Von Hendrik J. van Eikema Hommes, Amsterdam 1. Grundgedanke dieses Beitrags
Als ich seinerzeit meinen Beitrag für die Scupin-Festschrift Recht und Staat im sozialen Wandel (1983) über das Thema schrieb Die Bedeutung der Staats- und Gesellschaftslehre des Johannes Althusius für unsere Zeit 1 , habe ich bereits einige Paragraphen der Lehre des A l t h u sius vom Natur- und positiven Recht gewidmet. Ich habe schon dort die Auffassung vertreten, daß diese Lehre des Althusius von Calvin beeinflußt worden ist und sich klar von der i m 17. Jahrhundert geläufigen humanistischen Lehre des Naturrechtä und des positiven Rechts unterscheidet. Auch Peter Jochen Winters hat in seinem ausgezeichneten Buch Die „Politik" des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen (1963) diesen Unterschied insoweit gesehen, als er feststellt, daß die christliche, auf die Natur der Schöpfung Gottes gegründete Naturrechtslehre des Althusius grundverschieden ist von einer Lehre des abstrakten oder profanen, in der natürlichen Vernunft des Menschen begründeten Naturrechts 2 . Auch ich war damals beeindruckt von der Tatsache, daß Althusius, soweit ich sehen konnte, keinen Dualismus von Naturrecht und positivem Recht vertritt, wie er in der traditionellen Naturrechtslehre geläufig ist und wonach das Naturrecht eine unabhängig vom positiven Recht bestehende, per se geltende Rechtsordnung darstellt. Vielmehr, so meinte ich, fungiert das Naturrecht bei i h m als das Ganze der materiellen Rechtsprinzipien, die nur in einer positiv-rechtlichen Form zu geltendem Recht werden können, während umgekehrt das positive Recht nur als geltendes Recht auftreten kann, wenn es auf dem Naturrecht aufgebaut wird. Diese, von Calvin in der Unterscheidung von „aequitas" und „constituto" angedeutete Auffassung des geltenden Rechts paßte 1 Vgl.: Recht und Staat i m sozialen Wandel. Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag, hrsg. von Norbert Achterberg /Werner K r a w i e t z / Dieter Wyduckel, B e r l i n 1983, S. 211—232. 2 Die „ P o l i t i k " des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen. Z u r Grundlegung der politischen Wissenschaft i m 16. und i m beginnenden 17. Jahrhundert, F r e i b u r g / B r . 1963, S. 166 f. 24*
372
Hendrik J. van Eikema Hommes
genau zu meiner eigenen Rechtsanschauung, in der die überwillkürlichen, materiellen Rechtsprinzipien und der dynamische Prozeß der positiven Rechtsbildung oder Formgebung des Rechts einander bedingen und gegenseitig aufeinander bezogen sind. Das bedeutet, daß schon A l t h u sius das m. E. unhaltbare Dilemma von Naturrechtslehre und Rechtspositivismus und den dazu parallel laufenden Dualismus von Naturrecht und positivem Recht, ebenso wie Calvin, überwunden hat. 2. D i e traditionelle Naturrechtslehre und ihr Dualismus i m Rechtsbegriff
Die traditionelle Naturrechtslehre, die bei Aristoteles und der römischen Stoa anfängt und die seitdem über die mittelalterlichen Naturrechtslehren (insbesondere des Thomas von A q u i n und der Spätscholastik) und die humanistischen Naturrechtstheorien des Grotius und seiner Nachfolger bis in unsere Zeit ihre Anhänger findet, betrachtet das Naturrecht als ein durch die natürliche Vernunft des Menschen aus einer metaphysischen natürlichen Ordnung oder aus einem mathematisch konstruierten rechtlichen Grundaxiom hergeleitetes System von allgemeingültigen und unveränderlichen Rechtsnormen bzw. Rechten und Pflichten, die rechtliche Geltung haben per se, unabhängig von der menschlichen Positivierung oder Formgebung. I n diesem traditionellen Naturrechtsbegriff liegt ein Dualismus zwischen dem per se geltenden Naturrecht und dem positiven Recht beschlossen, insofern das Naturrecht als ein an sich geltendes und verbindliches Recht betrachtet wird, in dem die menschliche Rechtsbildung keine Rolle spielt, während das positive Recht dagegen keine rechtliche Geltung und Verbindlichkeit ohne die menschliche Rechtsformung besitzen kann. Dieser Dualismus im Rechtsbegriff (der Begriff des positiven Rechts kennt das Element der menschlichen Formgebung, das i m Begriff des Naturrechts fehlt) führt folgerichtig zu einer rechtspositivistischen Auffassung des positiven Rechts. Die rechtliche Geltung des letzteren w i r d nämlich, soweit es nicht ganz mit dem Naturrecht übereinstimmt und nicht nur eine bloße Ableitung (derivatio) aus demselben ist, sondern dem Naturrecht eine nähere Bestimmung nach Ort und Zeit oder eine Strafsanktion hinzufügt (determinatio), in dieser Betrachtung ausschließlich auf die menschliche Formgebung (Gesetzgebung) gegründet. Es ist sehr erhellend, was Thomas von Aquin hierzu ausführt: „Soweit das positive Recht eine determinatio ist, entlehnt es seine Rechtskraft nur aus dem menschlichen Gesetz („ex sola lege humana vigorem habent") 5 . 8
Summa Theologiae I — I I , qu. 95, art. 2.
Naturrecht und positives Recht bei Althusius
373
Hans Kelsen hat in seiner Arbeit Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus (1928), darauf hingewiesen, daß dieser Dualismus i m traditionellen Naturrechtsbegriff eine logische Unmöglichkeit ist. Entweder ist das Naturrecht geltendes Recht, dann ist ein zu gleicher Zeit geltendes positives Recht mit demselben Geltungsbereich daneben logisch unhaltbar, oder das positive Recht ist geltendes Recht, und dann ist ein zu gleicher Zeit geltendes Naturrecht mit demselben Geltungsbereich neben dem positiven Recht logisch unmöglich 4 . Diese meiner Meinung nach richtige K r i t i k Kelsens am traditionellen Naturrechtsbegriff paßt aber nicht zur Naturrechts auf fassung des Johannes Althusius, weil der genannte Dualismus i n seinem Rechtsbegriff nicht vorkommt. Wie ich schon bemerkte, weicht Althusius von der traditionellen Naturrechtslehre ab, insoweit er das Naturrecht nicht als ein an sich bestehendes Recht mit Geltung per se unabhängig von menschlicher Positivierung, sondern als materiellen Inhalt des positiven Rechts betrachtet, der nur i n und durch die menschliche Rechtsbildung rechtliche Geltung erhält. Umgekehrt kann das positive Recht bei ihm keine Rechtskraft oder rechtliche Geltung haben, wenn es nicht den materiellen, naturrechtlichen Gehalt aufweist. 3. Naturrecht als ius commune bei Althusius. Ius gentium
Das Naturrecht w i r d von Althusius i n der Nachfolge der Digesten 1, 1, 9 ius commune genannt. Andere Bezeichnungen sind lex naturalis seu naturae, ratio universalis, lex tacita, ius quod cum genere humano natura prodidit, lex Dei, seu ius Dei, ius immutabile. Diese Andeutungen finden w i r i n dem 1617 veröffentlichten Werk Dicaeologicae libri très 5. Althusius gibt hier eine Analyse des· Naturrechts, die i n der Hauptsache mit derjenigen in seinem zuvor erschienenen Werk Politica methodice digesta 8 übereinstimmt. Anders als i n seiner Politica behandelt Althusius in der Dicaeologica das Verhältnis von Naturrecht und ius gentium. Während Hugo Grotius, sein berühmter Zeitgenosse aus Holland, in seinem De jure belli ac pacis libri très (1625) das ius gentium als positives Völkerrecht, als ius inter civitates, auffaßt, das sich unter allen oder doch den meisten Staaten durch Ubereinkommen bildet 7 , sieht Althusius das ius gentium als identisch mit 4 Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Charlottenburg 1928 (Philosophische Vorträge, 31), S. 31 ff. 5 Dicaeologicae l i b r i très, Herbornae Nassoviorum 1617, I, 13, 13. β Politica methodice digesta, ed. 3., Herbornae Nassoviorum 1614, X X I , 19 ff. 7 De jure belli, Prol. 17.
374
Hendrik J. van Eikema Hommes
dem Naturrecht an ( A l i i vero utrumque hoc rectius naturale vocant) 8 . Das ius gentium ist bei i h m das von der menschlichen Vernunft i m Hinblick auf das symbiotische Zusammenleben der Menschen entwickelte Naturrecht. Aus dieser Charakterisierung des ius gentium ergibt sich schon, wie Althusius das Naturrecht bzw. ius gentium auf das konkrete menschliche Zusammenleben bezieht, d. h. nicht, wie es i n der humanistischen Naturrechtslehre geläufig war, auf den abstrakten status naturalis der isolierten menschlichen Individuen. Der Unterschied in der Auffassung des ius gentium bei Althusius und Grotius läßt sich vermutlich aus der Doppeldeutigkeit des Begriffes des ius gentium bei den klassischen römischen Juristen erklären, die es manchmal als Naturrecht, bisweilen aber auch als positives Recht definiert haben 9 . Auch Thomas von A q u i n hatte auf Grund der Texte des Corpus Iuris eine unklare Auffassung vom ius gentium. Einmal rechnet er das ius gentium zum sekundären Naturrecht, soweit es von der menschlichen Vernunft i n bezug auf die menschliche Gesellschaft deduziert w i r d 1 0 ; zum anderen rechnet er es zum positiven Recht 11 . Althusius betrachtet, anders als Grotius, das ius gentium als Naturrecht, nicht als positives Recht. Obwohl er Thomas von A q u i n nicht zitiert, fällt auf, daß seine Umschreibung des ius gentium mit derjenigen des sekundären Naturrechts übereinstimmt. Althusius sagt dazu: „Ius gentium dicitur illis, quod per dianoiam, ratiocinationem, vel discursum mentis, homo, quatenus ille animal rationale et sociale, politicum, humanam societatem colens, colligit" 1 2 . 4. Naturrecht. Dekalog und lex Christi
Althusius unterscheidet i n der Dicaeologica zwischen den naturrechtlichen Prinzipien oder Verpflichtungen sich selbst gegenüber und denjenigen i m Verhältnis zu anderen. Die Prinzipien sich selbst gegenüber umfassen die Selbstverteidigung (nostri defensio), die Erhaltung des Lebens (conservatio vitae) und die Erzeugung der Kinder aus einer ehelichen Verbindung (propagatio per maris et foeminae conjunctionem). Die Verpflichtung anderen gegenüber betreffen das Verhältnis zu Gott 8
9
Dicaeologica, X I I I , 18.
Siehe hierüber meine Hoofdlijnen
van de geschiedenis der rechtsfilosofie,
2. Aufl. 1981, S. 32 ff. 10 Summa Theologiae I — I I , qu. 94, art. 5 ad 3: „per hominum rationem ad u t i l i t a t e m vitae" (es handelt sich hier u m die rechtlichen Institute der Sklaverei und des privaten Eigentums). 11 Ebd., art. 4: „ E t secundum hoc d i v i d i t u r ius positivum i n ius gentium et ius civile . . . " 12 Dicaeologica I, 13, 19.
Naturrecht und positives Recht bei Althusius
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und den Nächsten. Althusius identifiziert diese naturrechtlichen Prinzipien mit den beiden Tafeln des Dekalogs. Er geht hier aber nur sehr summarisch auf den Inhalt dieser beiden Tafeln ein. Er nennt als Grundprinzipien der zweiten Tafel nur „Quod tibi vis fieri, etiam alteri feceris, et contra" („die goldene Regel") und das „Honeste vivere, alterum non laedere, et suum cuique tribuere" des Ulpian 1 3 . I n seinem früheren Werk, der Politica, spricht Althusius nicht über die naturrechtlichen Verpflichtungen sich selbst gegenüber. Dagegen behandelt er i n diesem Buch die Gebote und Prinzipien der beiden Tafeln des Dekalogs gesondert, und er faßt sie unter dem zentralen religiösen Liebesgebot von Matthäus 22 zusammen. Damit hängt zusammen, daß er Christus als den Erfüller und Wahrer des Naturrechts betrachtet 14 . In diesem Sinne kann man das Naturrecht bei Althusius auch lex Christi nennen. Es ist selbstverständlich, daß Althusius den Dekalog als Inbegriff des Naturrechts nicht i m Sinne eines positiven Gesetz es für die Israeliten, sondern als die für alle Völker geltenden, naturrechtlichen Prinzipien betrachtet, die i m Dekalog nur verdeutlicht und von Christus wiederholt und bestätigt worden sind 15 . 5. Naturrecht und biblische Schöpfungsidee
Diese Beziehung des Naturrechts auf die Prnizipien der beiden Tafeln des Dekalogs und auf das zentrale, religiöse Liebesgebot Christi macht deutlich, daß Althusius von einer scharfen Unterscheidung zwischen dem Naturrecht i m eigentlichen, rechtlichen Sinne (ius strictum) und der natürlichen Moral, wie sie von Grotius durchgeführt wurde, nichts wissen w i l l 1 8 . Recht, Moral und eben Religion sind i n Althusius' Auffassung des Naturrechts miteinander verbunden. Auch w i r d bei ihm das Naturrecht i m Sinne der rechtlichen, moralischen und religiösen Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens nicht vom göttlichen Recht, dem ius divinum positivum, unterschieden. Soweit ich sehe, fehlt der ganze Begriff des ius divinum bei Althusius. Nach ihm ist das Naturrecht in Gottes Willen fundiert und von Gott dem menschlichen Gewissen (conscientia) und seiner sittlichen Neigung 13
Ebd., I, 13, 15. Politica, X X I , 22. 15 Politica, X X I , 29: „Omnibus vero hominibus haec lex praescripta est, quatenus cum lege naturae omnibus gentibus communi, consentit, eamque explicat, et a Christo nostro rege est repetita et confirmata." 1β Siehe meinen Beitrag: Grotius on Natural and International Law, i n : Netherlands International L a w Review 30 (1983), S. 61 ff., besonders S. 69 ff. 14
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(inclinatio innata) eingepflanzt. Hierdurch w i r d der Mensch, wie der Apostel Paulus i m Römerbrief, Kap. 2 sagt, unentschuldbar vor Gott. Der tiefere Grund dieser Fundierung des Naturrechts i m göttlichen Willen kann nur die biblische Schöpfungsidee sein. Ich habe seinerzeit schon in meiner Behandlung von Althusius' Lehre der Symbiose in der Scupin-Festschrift ausgeführt, daß diese Lehre i n der Idee der göttlichen Schöpfungsordnung verwurzelt ist. Auch Winters hat diese Fundierung betont. Er sagt darüber: „ F ü r Althusius ist die Lebensgemeinschaft ein notwendiges und ursprüngliches Verhältnis des menschlichen Lebens überhaupt, sie ist Stiftung Gottes und damit der menschlichen W i l l k ü r entzogen" 17 . Es liegt also nahe, anzunehmen, daß Althusius' Lehre des Naturrechts von der biblischen Schöpfungsidee getragen wird. Von dieser Idee ausgehend kann es keinen Unterschied zwischen dem Naturrecht und dem göttlichen Recht geben. Wenn Althusius das Naturrecht oder ius commune umschreibt, sagt er in der Politica „Communis (sc. lex) est, quae natura sua omnibus hominibus a Deo est ingenerata" 1 8 ; und in der Dicaeologica: „Commune igitur jus est, quod a natura, vel Deo immediate hominum mentibus est inscriptum, et ad quod faciendum, vel omittendum. i l l i ab eo moventur, quantum satis est ad publicum bonum societatis humanae ccnservandum, et ad peccati nocentes convincendum, vel innocentes excusandum" 19 . Gott oder Natur sind i n diesen Umschreibungen ein und dasselbe. M i t Recht hat Winters darauf hingewiesen, daß Althusius' Lehre des Naturrechts oder göttlichen Rechts i n die calvinische Lehre der Souveränität Gottes und der Prädestination eingebettet ist. Es ist deshalb m. E. richtig, wenn er von der Naturrechtslehre des Althusius folgende Zusammenfassung gibt: „Die Naturrechtslehre des Althusius, die eingebettet ist i n die Lehre von der Souveränität Gottes und der Prädestination, läßt das Naturrecht erscheinen als überpositives, allgemeines, von Gott zugleich mit der übrigen Natur geschaffenes, unveränderliches und ewiges Recht, das unberührt durch den Sündenfall Ausdruck der natürlichen Billigkeit und als ius gentium Inbegriff einer allgemeinen, vernünftigen, dem Menschen aufgegebenen Ordnung ist; das als Maßstab und Regel dessen, was zu tun und was zu meiden ist, dem menschlichen Gewissen eingestiftet ist und das erläutert w i r d durch das mit i h m übereinstimmende, von Christus anerkannte und bestätigte Sittengesetz, den Dekalog" 2 0 . Winters nennt die Naturrechts17
Winters (FN 2), S. 172. Politica, X X I , 19. 19 Dicaeologica I, 13, 11. 2 ® Winters (FN 2), S. 149 f. 18
Naturrecht und positives Recht bei Althusius
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lehre des Althusius auch eine christliche, weil sie das Naturrecht aus der göttlichen Schöpfungsordnung begründet 21 . 6. Das Naturrecht bei Althusius D i e Notwendigkeit des positiven Rechts
Das Naturrecht, wie es von Althusius aufgefaßt wird, ist m. E. grundverschieden von dem Naturrecht, wie es von der traditionellen Naturrechtslehre seit Aristoteles entwickelt wurde. Bereits oben habe ich bemerkt, daß die traditionelle Naturrechtslehre das Naturrecht als ein an sich oder per se geltendes Recht betrachtet, das unabhängig von der menschlichen Positivierung besteht. Meine These ist, daß das Naturrecht bei Althusius nur zu rechtlicher Geltung kommen kann, wenn es in das positive Recht der Lebensgemeinschaften aufgenommen und dort aktualisiert wird. Das Naturrecht braucht das positive Recht, um überhaupt real geltendes Recht werden zu können. Obwohl ich weiter unten über das positive Recht sprechen werde 22 , muß ich schon hier auf die Gründe hinweisen, die Althusius für die Notwendigkeit des positiven Rechts (ius proprium) anführt. A n erster Stelle führt er diese Notwendigkeit auf die verschiedenen Grade und Arten zurück, worin das Naturrecht von den einzelnen Menschen erkannt und beachtet wird. Er sagt: „Huius notitiae et inclinationis gradus quidem sunt. Nam hoc jus non ex aequo omnibus cordibus ins c r i b i t u r . . . Neque etiam Deus eodem et pari modo omnes excitât et impellit ad obedientiam hujus juris" 2 3 . Weiter ist das positive Recht (lex propria) notwendig, weil es vom Magistrat auf der Basis des Naturrechts i m Hinblick auf den Nutzen, den Zustand, die A r t und die besonderen Umstände des Landes konzipiert und festgestellt wird. Es lehrt uns die besonderen Mittel, den Weg und den Grund, wodurch dié natürliche Billigkeit (das Naturrecht) unter den Menschen eines bestimmten Staates verwirklicht, beachtet und befolgt wird 2 4 . Deshalb enthält dieses positive Recht (ius proprium) nichts anderes als die einer besonderen Staatsgemeinschaft angepaßte Praxis des gemeinen Naturrechts. Es deutet an, wie die einzelnen Bürger imstande sind, diese natürliche Billigkeit anzustreben und zu erreichen. Darum w i r d es eine Helferin und Dienstmagd des Naturrechts genannt und ein Zuchtmeister, der uns zu der Beachtung des gemeinen Rechts hinführt: „Unde famula et ancilla 21
Ebd., S. 166 f. Vgl. Ziff. 12. 23 Politica, X X I , 31. Siehe auch Dicaeologica, I, 13, 16 f. 24 Vgl. Politica, X X I , 30: „ U t doceat peculiaria media, v i a m et rationem, quibus liceat certae Reipublicae alicujus hominibus i l l a m aequitatem praestare, observare et colere". 22
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juris communis dicitur, et paedagogus nos ducens ad observationem communis juris". 2 5 7. Alles geltende Recht bei Althusius Recht der menschlichen Lebensgemeinschaften
Meine Behauptung, daß das Naturrecht bei Althusius nicht als ein an sich geltendes Recht unabhängig vom positiven Recht bestehen kann, sondern daß es das positive Recht braucht, um zu wirklicher rechtlicher Geltung zu kommen, stützt sich auf die Tatsache, daß Althusius kein Recht unabhängig von den realen menschlichen Lebensgemeinschaften oder Symbioses kennt. Er versteht unter Symbiosis eine soziale Gemeinschaft, in der die Mitglieder zu einer höheren solidarischen Einheit verbunden sind. Es geht in der Gemeinschaft (communio, koinoonia) um den gegenseitigen Zusammenschluß (communicatio illa mutua) von Sachen, Diensten und Rechten, wodurch die zahlreichen und verschiedenartigen Bedürfnisse eines jeden und aller Mitglieder befriedigt werden . .. und das soziale Leben zustande kommt und erhalten wird 2®. Das gemeinschaftliche Recht (iuris communio) betrifft zwei Arten des Rechts, nämlich dasjenige Gemeinschaftsrecht (lex consociationis et symbiosis , ius symbioticum), das dem sozialen Leben der Gemeinschaft Richtung gibt und es steuert, und dasjenige Gemeinschaftsrecht, das anordnet, wie und nach welchem System die Sachen und Dienste unter die M i t glieder verteilt werden sollen 27 . Darauf bemerkt Althusius, daß das Recht, das Richtung gibt und steuert (lex directioni et gubernationi symbiosis inserviens) allgemeines (communis) oder besonderes (propria) ist 28 . M i t dieser Unterscheidung zwischen dem allgemeinen und dem besonderen Teil des Gemeinschaftsrechts antizipiert Althusius die spätere Unterscheidung von Naturrecht und positivem Recht. Hier zählt er zu dem naturrechtlichen Moment des Gemeinschaftsrechts die Autoritäts- und Unterordnungsverhältnisse, die er auf die göttliche Schöpfungsordnung zurückführt 2 9 . Dies bedeutet m. E., daß alles geltende Gemeinschaftsrecht positives Recht auf einer naturrechtlichen Grundlage ist, während das naturrechtliche Moment nur als Teil des einheitlichen Gemeinschaftsrechts 25
Vgl. ebd. Vgl. Politica, I, 7: „Communicatio illa mutua . . . fit rebus, operis, juribus communibus, quibus indigentia varia et m u l t i p l e singulorum et universorum symbioticorum suppletur et . . . vita socialis constituitur et conservator." 27 Vgl. Politica, I, 10: „ L e x ejusmodi est duplex: quaedam enim socialis vitae directioni et gubernationi inservit: quaedam vero rationem, atque mod u m res et operas communicandi inter symbioticos praescribit." 28 Vgl. ebd. 29 Ebd., I, 12. 28
Naturrecht und positives Recht bei Althusius
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erscheint. Das ius symbioticum oder die lex consociationis ist das einzige geltende Recht der realen und konkreten Lebensgemeinschaften. Dann muß das Naturrecht oder ius communis nur innerhalb dieses Gemeinschaftsrechts seine rechtliche Geltung erlangen, so daß von einem per se geltendes Recht, unabhängig von dem positiven Gemeinschaftsrecht, nicht die Rede sein kann. Nur i n Verbindung mit dem positiven Recht, dem ius proprium oder der lex propria, stellt sich das gemeine Naturrecht als geltendes Recht dar. 8. Althusius und Thomas von A q u i n
Diese These möchte ich durch einen Vergleich des Naturrechts bei Althusius mit der Naturrechtsauffassung des Thomas von Aquin und des Hugo Grotius noch unterbauen. Bei Thomas von A q u i n w i r d das Naturrecht auf die lex aeterna gegründet. Die lex aeterna als kosmisches Gesetz für die ganze geschaffene Wirklichkeit ist bei ihm identisch mit dem Wesen oder der Ratio Gottes, soweit diese der geschaffenen Wirklichkeit zugewandt ist und allen zielgerichteten Handlungen und Bewegungen der geschaffenen Dinge Richtung gibt. Das Naturrecht ist derjenige Teil der lex aeterna, der von der sittlichen Tugend der justitia i n den äußeren Beziehungen der Menschen bestimmt wird. Wo nun bei Thomas die lex aeterna selbstverständlich Geltung an sich hat, unabhängig von dem Menschen und seiner Positivierung, muß dies auch hinsichtlich des ius naturale der Fall sein. Das Naturrecht hat seine reale Geltung per se kraft der Geltung der lex aeterna, von der es ein Teil ist. Wenn Thomas vom positiven Recht handelt, soweit es eine derivatio, eine logische Ableitung aus dem Naturrecht ist, sagt er (wie w i r oben schon sahen) 30 , daß dieses positive Recht seine Geltung aus dem Naturrecht schöpft 31 . Die Idee der lex aeterna fehlt jedoch bei Althusius. Sie würde mit der göttlichen Schöpfungssouveränität nach calvinistischer Ansicht nicht in Einklang stehen. Dadurch fehlt bei ihm zugleich die Möglichkeit der Fundierung der rechtlichen Geltung des Naturrechts per se i n der realen Geltung der lex aeterna. 9. Althusius und Grotius
Bei Grotius w i r d das Naturrecht aus einem abstrakten, prä-sozialen Naturzustand (status naturalis) konstruiert. Die abstrakten, isolierten 30
Siehe Ziff. 2. Summa Theologiae I — I I , qu. 95, art. 2: „Unde omnis lex humanitus posita i n t a n t u m habet de ratione legis, inquantum a lege naturae derivatur." 31
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Individuen sind i n diesem Naturzustand durch die Naturrechtsnormen gebunden, und zwar unabhängig von dem status civitatis und dessen positivem Recht. Es geht hier nach Grotius um ein Naturrecht in eigentlichem Sinne, das von der justitia commutativa, von ihm justitia expletrix genannt, beherrscht wird 3 2 . Dazu gehören z. B.: Jedem das Seine, Pacta sunt servanda, das Prinzip des Schadenersatzes usw. 33 . Dieses aus dem status naturalis konstruierte Naturrecht i m strikten Sinne muß eine reale, rechtliche Geltung per se für die abstrakten Einzelmenschen haben, weil die naturrechtlichen Regeln i m Naturzustand sonst keine normative Bedeutung haben würden. Haben sie aber keine normative, bindende Kraft — wie dies bei den leges naturales im a-normativen Naturzustand des Thomas Hobbes der Fall ist, bei dem diese Regeln nur als hypothetische Theoreme fungieren, um den Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen Rechtszustand zu ermöglichen — dann können sie rechtliche Geltung nur i m staatlichen positiven Recht erlangen. Aber das ist bei Grotius gewiß nicht der Fall. I n seiner Naturrechtsauffassung darf sich das positive Recht nur innerhalb der Grenzen des gebietenden und verbietenden Naturrechts bewegen, d. h. nichts gebieten, was das Naturrecht verbietet, oder nichts verbieten, was das Naturrecht gebietet 34 . Diese Auffassung des Grotius über das Verhältnis von (zwingendem) Naturrecht und positivem Recht hätte keinen Sinn, wenn das Naturrecht nicht ein per se geltendes Recht wäre. 10. K e i n Contrat social bei Althusius Althusius kein deutscher Rousseau
Bei Althusius finden w i r indessen keine Spur eines konstruierten status naturalis. Er kennt nur die realen positiven menschlichen Gemeinschaften, die Symbioses , mit ihrem eigenen, typischen Recht. Von einem Contrat social à la Rousseau kann deshalb bei ihm nicht die Rede sein. Ohne Zweifel spielt die Vertragsidee eine wichtige Rolle in Althusius' Lehre der Symbioses, aber, wie ich schon i n meinem Beitrag für die Scupin-Festschrift bemerkt habe 35 , ist die kontraktuelle Grund32
De jure belli, I, 1, 8. Ebd., Prol., 8. Siehe auch Prol. 10 und 41, wo Grotius das strikte N a t u r recht zusammenfaßt als: „ u t quae iam sunt alterius alteri permittantur aut impleantur" u n d „ea quae juris sunt stricte ac proprie dicti, unde restitutionis obligatio oritur." 34 „ L e x enim civilis quanquam n i h i l potest praecipere quod jus naturae prohibet, aut prohibere quod praecipit, potest tarnen libertatem naturalem circumscribere, et vetare quod naturaliter licebat . . . " Vgl.: De jure belli. I I , 2, 5. Siehe auch I I , 3, 6: „Sed n i m i r u m humana iura multa constituere possunt praeter naturam: contra naturam nihil." 85 Die Staats- und Gesellschaftslehre des Althusius (FN 1), S. 217. 38
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läge der Symbioses bei i h m nichts anderes als ein Mittel, die interne, normative Struktur der consociationes oder Symbioses zu fundieren. Da Althusius noch nicht über eine eigentliche philosophisch-soziologische Strukturtheorie verfügte, stand ihm keine andere Lösung zur Verfügung, die interne normative A r t der Lebensgemeinschaften zu erklären als die Form eines Vertrages (pactum), der als Quelle der sozialen Normen und Verpflichtungen fungiert. Da, wo Althusius über die kontraktuelle Grundlage des Staates spricht, meint er nicht einen Contrat social i m Sinne Rousseaus, bei dem die abstrakten Individuen mittels ihrer volonté de tous aus dem status naturalis i n den bürgerlichen Staat mit seiner volonté générale treten. Wenn die Idee des Naturzustands, wie w i r schon bemerkten, bei Althusius fehlt, ist natürlich auch ein kontraktueller Übergang aus diesem Zustand i n denjenigen des Staats unmöglich. I m Kapitel I X der Politica sagt Althusius: „Als Glieder eines Reiches oder der universalen symbiotischen Gesellschaft (d. h. des Staates) bezeichne ich nicht die einzelnen Menschen, auch nicht die Familien oder Körperschaften (collegia), wie im Falle der privaten und besonderen öffentlichen Lebensgemeinschaften (mit letzteren meint er wohl die Zünfte, worüber er i n Politica IV, 24 ff. spricht), sondern mehrere Städte, Provinzen und Landschaften, die unter sich übereinkommen, zusammen durch gegenseitige Verbindung und Vergemeinschaftung einen Körper zu bilden3®. Also nicht die Ubereinstimmung der abstrakten Individuen i m Naturzustande, sondern das Abkommen zwischen den bestehenden öffentlichen Körperschaften der Städte, Provinzen und Landschaften ist die Grundlage des Staates. Man könnte hier natürlich fragen, ob überhaupt Städte, Provinzen und Landschaften als öffentliche Körperschaften bestehen können, wenn ein Staatswesen, dessen niedere Teile sie sind, noch nicht gebildet ist. Das kann in der Tat nach unserer modernen Auffassung des Staates nicht der Fall sein. W i r sehen hier also, daß Althusius' Staatslehre noch ziemlich unentwickelt ist. Was jedoch aus dieser kontraktuellen Fundierung des Staates deutlich wird, ist, daß Althusius seinen Ausgangspunkt für die Staatslehre i n die realen, öffentlich-rechtlichen Gemeinschaften herübernimmt und sich ganz und gar von den nominalistischen Staatskonstruktionen der humanistischen Naturrechtslehre, die einen oder mehrere ursprüngliche Staatsverträge annehmen, distanziert. Eine Verbindung zwischen Althusius' Vertragslehre und Rousseaus Lehre vom „Contrat social", wie sie von Otto von Gierke angenommen wurde, 3e Vgl. Politica, I X , 5: „Membra regni, seu symbioticae universalis consociationis hujus voco, non singulos homines, neque familias, vel collegia, prout in privata et publica particulari consociatione, sed civitates, provinciae et regiones pliires inter se de uno corpore ex conjunctione et communicatione mutua constituendo consentientes."
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muß deshalb, wie bereits mein Lehrer Herman Dooveweerd deutlich gemacht hat, abgelehnt werden. Althusius ist kein deutscher Rousseau! 11. Nochmals Althusius und Grotius
Wenn w i r nun zu dem Unterschied zwischen Althusius' Lehre des Naturrechts und derjenigen des Hugo Grotius zurückkehren, dann können w i r die folgende Schlußfolgerung ziehen: Grotius konstruiert ein real geltendes Naturrecht, das eine rechtliche Geltung i m Naturzustande per se hat, unabhängig von der menschlichen Positivierungsarbeit. Er bewegt sich mit dieser Lehre i n den Bahnen des traditionellen Naturrechtsbegriffs. Althusius hingegen kennt keinen abstrakten Naturzustand, in dem abstrakte Individuen unabhängig von den realen Lebensverhältnissen gedacht werden, sondern er nimmt seinen Ausgangspunkt i n den realen menschlichen Lebensverhältnissen, i n denen die Menschen als Teile dieser Lebensgemeinschaften auftreten. Das i n diesen Gemeinschaften geltende Recht kann nicht unabhängig von der menschlichen Positivierung bestehen. Das Naturrecht kann deshalb bei Althusius keine rechtliche Geltung unabhängig vom positiven Recht haben. Das Naturrecht erscheint bei ihm nur i n Form überwillkürlicher, in der göttlichen Schöpfungsordnung fundierter, materieller Rechtsprinzipien, die an sich noch keine rechtliche Geltung haben, sondern diese erst i m Prozeß der menschlichen Rechtsformung oder Rechtspositivierung erlangen. 12. Das positive Recht Übereinstimmung m i t dem und Abweichung vom Naturrecht
Hiermit habe ich die erste zentrale These dieses Beitrags, nämlich die, daß Althusius das Naturrecht nicht i m Sinne der traditionellen Naturrechtslehre aufgefaßt hat, sondern vielmehr i m Sinne materieller Rechtsprinzipien, die an sich noch kein geltendes Recht sind, weil sie ihre rechtliche Geltung erst dann erlangen, wenn sie i n den dynamischen Prozeß der menschlichen Rechtsbildung aufgenommen werden, meiner Meinung nach hinreichend begründet. Die zweite These stellt eine Umkehrung der ersteren dar. Wie das Naturrecht bei Althusius hinsichtlich seiner rechtlichen Geltung völlig auf das positive Recht als famula et ancilla iuris communis angewiesen ist, so ist umgekehrt das positive Recht kein wesentliches, normativ bindendes Recht, wenn es nicht zur Anerkennung und Aktualisierung der materiellen Rechtsprinzipien des Naturrechts führt. Diese zweite These möchte ich jetzt noch begründen. Althusius lehrt, daß das positive Recht aus zwei Komponenten zusammengesetzt ist. Die erstere umfaßt dasjenige, was mit dem Naturrecht
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übereinstimmt; die letztere dasjenige, worin es von dem Naturrecht abweicht 37 . Die Ubereinstimmung mit dem Naturrecht betrifft all das, was dem Naturrecht und dem positiven Recht gemeinsam ist, nämlich das Prinzip oder den Ausgangspunkt, von dem beide das Rechtliche herleiten („Principium est recta et certa utriusque juris ratio, qua utrumque nititur, et justum concluditur vel dicitur"), den Gegenstand der rechtlichen Regelung („Subjectum occupans est idem negotium et actio, de quibus utrumque jus praecipit, et circa quae versatur utrumque") und den Zweck der Regelung, d. h. die Gerechtigkeit und Frömmigkeit oder Heiligkeit und die für beide gleiche Billigkeit bzw. das gemeine Wohl i n der menschlichen Gesellschaft („Finis utriusque est justitia et pietas, seu sanctitas, et aequitas eadem, bonumque commune in societate humana") 38 . Die Abweichung vom Naturrecht betrifft die Anpassung desselben an die besonderen Umstände der menschlichen Verhältnisse, wodurch der naturrechtlichen Vorschrift entweder etwas hinzugefügt oder aber etwas von ihr abgezogen werden muß. Dieses Hinzufügen oder Abziehen läßt jedoch das naturrechtliche Prinzip in seinem Ausgangspunkt, Gegenstand und Ziel unberührt 3 8 . Althusius nennt für diese Abweichung zwei Gründe. Der eine ist die bessere Information des Gesetzgebers über Grund und Nutzen einer Regelung, was ihn dazu veranlassen kann, angesichts der gegebenen Verhältnisse von einem Gesetz, das lange Zeit als b i l l i g erschien, abzuweichen 40 . Der andere Grund ist die Veränderlichkeit der Verhältnisse nach Ort und Zeit, was dazu führt, daß auch das positive Recht veränderlich und wandelbar wird, obwohl diese Veränderlichkeit der unveränderlichen Grundlage des Naturrechts keinen Abbruch tun darf 4 1 . 37 Vgl. Politica, X X I , 32: „Membra illius sunt duo, quaedam scilicet convenientia ejus cum jure communi, et quaedam discrepantia ab eodem." Siehe auch Dicaeologica, I, 14, 2. 38 Siehe Politica, X X I , 32. 39 Vgl. ebd.: „Discrepantia hujus a jure communi est, qua i n adcommodati ad particularia negotia, proprium jus a communi nonnihil recedit, aliquid addendo, vel detrahendo, ob circumstantias particulares et speciales." Siehe auch Dicaeologica, I, 14, 5, w o Althusius sagt: „sed dum haec (sc. das abweichende Recht) ad specialia negotia, eorumque circumstantias naturam et affectionem specialem applicat, cogitur i n quibusdam a jure communi discedere, idea, ut cum principio, subjecto occupante et fine ejusdem juris communis consentire possit." 40 Vgl. Politica, X X I , 32: „Una est melior informatio legislatoris, ex evidente ratione atque utilitate, obquam ab eo jure, quod d i u aequum visum est, recedit." Siehe auch Dicaeologica, I, 14, 7. 41 Vgl. Politica, X X I , 32: „ A l t e r a est conditio et affectio, seu natura i n negotii circumstantiis, personis, rebus, loco, vel tempore." Siehe auch D i caeologica, I, 14, 8: „ A l t e r a causa est conditio, natura et affectio negotii seu
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Hendrik J. van Eikema Hommes 13. Z w e i Bemerkungen des Althusius über das Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht
Althusius sagt ausdrücklich, daß das positive Recht mit dem Naturrecht nicht ganz identisch sein darf, weil es i n diesem Falle keine neue A r t von Recht konstituieren würde. Andererseits darf es auch nicht völlig zum Naturrecht i n Widerspruch stehen, weil es dann Unrecht sein würde 4 2 . Die erste Bemerkung könnte darauf hinweisen, daß Althusius das Naturrecht als ein reales Recht m i t Geltung per se, unabhängig von der menschlichen Positivierung, betrachtet. Er formuliert hier dasselbe Argument, das später von Kelsen gegen das Naturrecht i m traditionellen Sinne angeführt wird, nämlich, daß ein positives Recht mit demselben Inhalt und Geltungsbereich wie das Naturrecht neben dem letzteren keinen Sinn hätte. W i r sahen jedoch, daß Althusius von der traditionellen Naturrechtslehre abweicht, insoweit er das Naturrecht in Form überwillkürlicher, in der göttlichen Schöpfungsordnung fundierter, materieller Rechtsprinzipien betrachtet, die nur i m Prozeß der menschlichen Rechtspositivierung zu geltendem Recht werden können. Bei Althusius fehlt, so sahen wir, der dualistische Rechtsbegriff, der i n der traditionellen Naturrechtslehre impliziert ist. W i r können jedoch den Widerspruch, der hier aufleuchtet, vielleicht auf folgende Weise lösen: ein positives Recht soll immer etwas zu den materiellen, naturrechtlichen Prinzipien hinzufügen oder davon abziehen, insofern jedes positive Recht die materiellen Rechtsprinzipien i m Hinblick auf die besonderen Verhältnisse des menschlichen Lebens mehr oder weniger konkretisieren und positivieren muß. Ein positives Recht, das den materiellen Rechtsprinzipien nichts hinzufügte, auch nicht die positive Form und den spezifischen Geltungsbereich, wäre überhaupt kein positives Recht. Es wäre nur ein abstraktes Rechtsprinzip, das unabhängig von dem dynamischen Rechtsformungsprozeß kein verbindliches Recht sein könnte. Die zweite Bemerkung ist sehr wichtig für uns. Ein positives Recht, das den naturrechtlichen Prinzipien völlig zuwiderläuft, ist kein geltendes Recht, weil es die konstitutive Rechtsgrundlage jedes positiven Rechts leugnen würde. eorum quae ordinationi et imperio legislatoris subsunt, de quibus constituitur jus proprium, qualia sunt personae et res, atque his accendentes, vel utrasque comitantes circumstantiae." 42 Vgl. Politica, X X I , 32: „Nam, si haec n i h i l aliud praeciparet, quam communis lex, non constitueret speciem novam; si prorsus contrarium j u r i comm u n i statureret, iniqua esset, quae legem communem alias, i m m u t a b i l a m faceret mutabilam." Siehe auch Dicaeologica, I, 14, 9: „Si prorsus et in omnibus contrari j u r i communi sanciret, ius non esset . . . "
Naturrecht und positives Recht bei Althusius
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14. Althusius und Bodin. Positives Recht, losgelöst von Naturrecht, des Namens Recht u n w e r t
Auch im IX. Kapitel seiner Politica hat Althusius diesen Gedanken scharf ausgesprochen. Er kritisiert dort den Souveränitätsbegriff des Jean Bodin. Bodin definiert bekanntlich die Souveränität als die höchste, ursprüngliche, dauernde und unteilbare Macht i m Staate, die die einzige Quelle allen positiven Rechts innerhalb der Grenzen des Staates ist, ohne selbst daran gebunden zu sein (princeps legibus solutus). Zwar ist der Souverän nach Bodin an das göttliche Recht und das Naturrecht gebunden, ebenso wie an völkerrechtliche Verträge, an Vereinbarungen mit Untertanen und an die Grundgesetze (leges fundamentales) des Staates. Aber an das positive Recht, das er unter Ausschluß jeder anderen ursprünglichen Kompetenz direkt oder indirekt (mittels anderer) hervorbringt oder anerkennt, ist er nicht gebunden. Wir wissen, daß Althusius, anders als Bodin, die Souveränität i m Staate (jus regni, seu majestatis jus) nicht dem Fürsten zuschreibt, sondern dem ständestaatlich organisierten Volke („Hoc jus regni, seu majestatis jus, non singulis sed conjunctius universis membris, et toti corpori consociato regni competit . . ," 43 . Das ständestaatlich organisierte Volk, die consociato universalis, kann die Administration des Souveränitätsrechts auf den Fürsten delegieren, aber das Recht selbst, das unteilbar, unübertragbar und zusammenhängend ist (wer ein Element besitzt, hat das ganze Recht), bleibt der unveräußerliche Besitz des ständestaatsrechtlich organisierten Volkes 44 . Aber nicht nur Bodins Lehre vom Fürsten als dem Träger der staatlichen Souveränität wird von Althusius bestritten. Er lehnt auch sehr scharf Bodins Charakterisierung der Souveränität als „legibus soluta potestas" i n dem Sinne ab, daß die höchste Macht im Staat der Geltung des von ihr selbst hervorgebrachten positiven Rechts entzogen ist und davon nicht begrenzt wird. Denn, so lehrt Althusius hier, die Loslösung der höchsten Macht i m Staat vom positiven Recht (lex civilis), ist in gewissem Umfang die Loslösung von den Banden des natürlichen und göttlichen Rechts (lex naturalis et divina). Es gibt, so sagt er, kein positives Recht im Staat, noch kann es überhaupt ein solches Recht geben, das nicht etwas von der unveränderlichen natürlichen und göttlichen Billigkeit in sich aufgenommen hat. Wenn das positive Recht ganz von dem Urteil des natürlichen und göttlichen Rechts abweicht, kann es kein Recht genannt werden, sondern ist dieses Namens völlig 43
Vgl. Politica, I X , 18. Vgl. Politica, I X , 19: „Unde majestatis et regni jura individua, et incommunicabilia, atque connexa . . . ita ut qui habet unum, etiam reliqua habeat." 44
25 R E C H T S T H E O R I E ,
Beiheft 7
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unwert und kann niemand verpflichten, etwas zu tun, das der natürlichen und göttlichen Billigkeit widerspricht 45. 15. I n w i e w e i t der Fürst nicht „legibus solutus" ist
M i t diesen Worten hat Althusius klar und unmißverständlich ausgesprochen, daß das positive Recht seine rechtliche Geltung. nicht nur der menschlichen Positivierung i m Gesetz, sondern an erster Stelle den naturrechtlichen und göttlichen Rechtsprinzipien entlehnt, die die überwillkürliche Grundlage jedes positiven Rechts bilden und ohne die das letztere überhaupt nicht Recht genannt werden kann. Auf Grund dieser Auffassung gelangt Althusius zu der Schlußfolgerung, daß auch der Fürst dem billigen und gerechten Gesetz, d. h. dem von ihm hervorgebrachten positiven Recht, soweit es von den naturrechtlichen Prinzipien beherrscht ist, unterworfen ist. Er kann hier nicht „legibus solutus" sein. Althusius beruft sich dafür auf die goldene Regel in Matthäus 7, 12 und Lukas 6, 31 und formuliert folgende Variante: der höchste Gesetzgeber soll den Menschen gegenüber dasselbe tun, was er von ihnen erwartet, d. h. das Gesetz befolgen 40 . Er macht lediglich einen Vorbehalt zugunsten der strafrechtlichen Unverletzlichkeit des Fürsten 47 . 16. Die beiden zusammenhängenden Aspekte der Rechtslehre des Althusius
Hiermit haben w i r die beiden zusammenhängenden Aspekte der Rechtslehre des Althusius behandelt. Der eine Aspekt bringt zum Ausdruck, daß das Naturrecht oder göttliche Recht kein an sich bestehendes, real geltendes Recht unabhängig von der menschlichen Positivierung ist, 45 Vgl. Politica, I X , 21: „Quaestio igitur nobis est de civili lege et jure, an huic etiam imperium et fasces subjiciat, qui summam dicitur habere potestatem. Negat Bodinus et p l u r i m i alii cum eodem. E r i t igitur ex horum sententia summa potestas, quae c i v i l i lege non esse definita, sed illa soluta; quod ego non dixerim. Nam lege c i v i l i potestatem solvere, est etiam aliquatenus naturalis et divinae legis vinculis eandem exuere. Nulla enim est, nec esse potest, lex civilis quae non aliquid naturalis et divinae aequitatis i m m u t a b i lis habeat admistum. Nam si haec prorsus discedit a sententia juris naturalis et divini, non lex dicenda est, sed nomine hoc prorsus indigna . . . quae neminem obligare potest contra aequitatem naturalem et divinam." 46 Vgl. ebd.: „Quod si igitur lex civilis generalis a principe data, est aequa et justa, quis. eundum ab obligatione istius legis solvere potest? Imo quaecunque volumus ut faciant nobis homines, haec et nos iisdem facere teneri ex summi legislatoris sententia." 47 Siehe ebd.: „Quatenus vero lex illa civilis in quibus discedit a naturali aequitate . . . : fatebor, eum qui summam habet potestatem, nec superiorem nisi Deum et naturalem aequitatem et j u s t i t i a m agnoscit, illa lege non teneri, inprimis, quod poenae in se ipsum exsecutionem faciendam."
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sondern vielmehr die Grundlage der überwillkürlichen, materiellen Rechtsprinzipien für jedes mögliche positive Recht bildet. Diese Rechtsprinzipien erlangen erst im dynamischen Prozeß der menschlichen Rechtspositivierung ihre reale rechtliche Geltung. Der andere Aspekt verdeutlicht, daß das positive Recht kein wesentlich bindendes Recht sein kann, wenn es von der Grundlage in den überwillkürlichen, materiellen Rechtsprinzipien des natürlichen und göttlichen Rechts losgelöst würde. Naturrecht und positives Recht sind bei Althusius also keine Dualität, wie in der traditionellen Naturrechtslehre, sondern eine integrale Einheit. Wie w i r schon mehrfach bemerkt haben, hat Althusius auf diese Weise den Dualismus des traditionellen Naturrechtsbegriffs überwunden. 17. Althusius und Calvin Calvins Auffassung des Naturrechts Der Organismus- und Ordnungsgedanke, Naturrecht und positives Recht bei Calvin
I n meinem Beitrag für die Scupin-Festschrift habe ich die These verfochten, daß die hier gemeinte Einheit von Naturrecht im Sinne der überwillkürlichen, materiellen Rechtsprinzipien, und positivem Recht, vom Denken des Johannes Calvin und der in diesem Denken zentralen Idee der göttlichen Schöpfungsordnung beeinflußt ist. Obwohl Althusius Calvins Lehre vom Verhältnis der natürlichen Billigkeit und des positiven Rechts, wie sie von Calvin in seiner Institutio religionis christianae dargelegt wird 4 8 , nur in der Dicaeologica zitiert 4 9 , muß angenommen werden, daß er dieser Lehre auch in seiner Politica gefolgt ist. Als überzeugter Calvinist war Althusius, der während seines Aufenthalts in Basel unter Johannes Grynaeus Theologie studierte, ohne Zweifel mit Calvins Lehre vom Naturrecht und positiven Recht vertraut und zwar schon in der Zeit, als er an seiner Politica arbeitete. Es ist w i r k lich auffällig, wie die Rechtslehre des Althusius und diejenige Calvins in den grundlegenden Fragen übereinstimmen. Ebenso wie Althusius bewegt sich Calvin, obwohl er Anknüpfungspunkte in der stoischen Naturrechtslehre sucht, völlig außerhalb des Rahmens des traditionellen Naturrechtsbegriffs. Nicht die natürliche Vernunft des Menschen, sondern Gottes souveräner Schöpfungswille ist der Grund dessen, was er unter „Naturrecht" versteht. Aus den eminenten Untersuchungen der Bedeutung des Naturrechts bei Calvin von Josef Bohatec ist deutlich geworden, daß Calvin die von Gott der menschlichen Vernunft aner48 49
25*
Vgl. IV, 20, 16. Dicaeologica, I, 14, 6.
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schaffenen und durch seine allgemeine Gnade erhalten gebliebenen „Samenkörner des Rechts und der Billigkeit, den Sinn für Ordnung und den Zug zur Gemeinschaft" zum Naturrecht rechnet 50 . Es geht bei Calvin um die Prinzipien der Gerechtigkeit, der Humanität, der ordnungsgemäßen Gesellschaft, der persönlichen Freiheit, des Lebens und des Eigentums 51 , die i m natürlichen Gewissen des Menschen leben und durch den Sündenfall, dank Gottes allgemeiner Gnade, nicht völlig vernichtet worden sind, sondern die vielmehr durch das göttliche Moralgesetz im Dekalog vertieft und ausgeführt sind und der christlichen Nächstenliebe zugrunde liegen und dadurch abgedeckt und erfüllt werden. Calvin verbindet seine Auffassung des Naturrechts mit dem Gedanken des Organismus (dem Organismusprinzip), der seine ganze Lehre von der Gesellschaft durchzieht. Dieser Gedanke besagt, daß die menschliche Gesellschaft bzw. der Staat mit ihren bzw. seinen Autoritäts- und Unterordnungsverhältnissen von Gott als ein lebendiges und harmonisches Ganzes voneinander unterschiedener und gleichzeitig aufeinander angewiesener und einander ergänzender Teile 52 geschaffen wurde. Da nach Calvin keine menschliche Gesellschaft ohne Ordnung bestehen kann (Bohatec spricht von Calvins „Ordnungspathos") 53 , und weil die Ordnung im Staate als geistlich-sittlichem Organismus allein durch Gesetz und Recht zustande kommt, bedeutet dies, daß das Naturrecht im oben umrissenen Sinne innerhalb des Staates in das positive Recht des Staates aufgenommen und in diesem aktualisiert werden muß. Von einem abstrakten, durch die menschliche Vernunft konstruierten, natürlichen Recht mit einer reellen rechtlichen Geltung per se, losgelöst von und über dem positiven Recht stehend, ist bei Calvin keine Rede. Das Naturrecht ist auf das staatliche positive Recht angewiesen, während umgekehrt das positive Recht nur Recht sein kann, wenn es das Naturrecht als Inhalt aufgenommen hat. Bohatec schreibt: „ I n dieser Auffassung ist das naturrechtliche Moment mit dem positivrechtlichen verknüpft. Denn es ist ein positivrechtlicher Grundsatz, daß die Gesetze gelten, sofern sie durch die Obrigkeit bestimmt und durchgesetzt werden; es ist ein naturrechtlicher Grundsatz, daß die Geltung der Gesetze nicht durch bloße Autorität der Obrigkeit verbürgt ist, sondern daß sie gelten, da sie dem göttlichen Gesetz und dem Naturrecht entsprechen, ihrem Gehalt und Inhalt nach gerecht sind 54 ." Das Naturrecht und die positive, menschliche Rechtsformung, die „aequitas" und die „con50
Vgl. Josef Bohatec, Calvin und das Recht, Feudingen 1934, S. 92. Ebd., S. 10 f. 52 Vgl. Bohatec, Calvin und das Recht, S. 64, 85. Siehe auch ders., Calvins Lehre von Staat und Kirche. Neudr. der Ausg. 1937, Aalen 1961, S. 1—12. 53 Vgl. Bohatec (FN 50), S. 62. 54 Ebd., S. 126. 51
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stitutio", sind korrelativ und aufeinander angewiesen. M i t Kelsen könnte man hier von einem „denaturierten Naturrecht" sprechen. Dagegen braucht man keine Bedenken zu erheben. Bohatec bemerkt: „Wenn man dies alles ein »denaturiertes Naturrecht' nennen will, so ist dagegen nichts einzuwenden, und nur daran zu erinnern, daß auch die neueste Entwicklung der Rechtsphilosophie das »denaturierte Naturrecht' nicht mehr ausschalten kann, wie es der naturalistische Positivismus getan hatte, ferner, daß das positive Recht ein überpositives Rechtsprinzip voraussetzt und die Gesetzgebung sich von dem Einfluß einer »höheren Ordnung' nicht loslösen kann 5 5 ." 18. Die Bedeutung der Rechtslehre des Althusius für unsere Zeit. Generelle und typische, konstitutive und regulative Rechtsprinzipien
Hiermit greift Calvin und i n seiner Nachfolge auch Althusius denjenigen modernen, materiellen Rechtstheorien vor, die den unhaltbaren Dualismus des traditionellen Naturrechtsbegriffs ebenso wie das Dilemma von Naturrechtslehre und Rechtspositivismus zu überwinden suchen. Alles Recht ist nach diesen modernen Auffassungen positives Recht, aber nicht i m Sinne des Rechtspositivismus. Das positive Recht darf für seine rechtliche Geltung nicht nur von dem dynamischen Prozeß der Rechtspositivierung durch kompetente Rechtsorgane innerhalb ihrer Rechtsgebiete abhängig gemacht werden. Vielmehr ist dafür auch die Aktualisierung und Konkretisierung im Rechtsformungsprozeß der überwillkürlichen, materiellen Rechtsprinzipien notwendig. Beide Komponenten des positiven Rechts sind für seine bindende Kraft wesentlich. Sehr richtig hat Althusius bemerkt, daß ein sogenanntes positives Recht, das mit der natürlichen und göttlichen Billigkeit in flagranten Widerspruch gerät, des Namens Recht unwert ist. Umgekehrt dürfen die materiellen Rechtsprinzipien nicht an sich, unabhängig vom Rechtspositivierungsprozeß, als geltende Rechtsnormen betrachtet werden, wie in der traditionellen Naturrechtslehre angenommen wird. Sie können nur im Rechtsbildungsprozeß durch kompetente Rechtsorgane innerhalb deren Kompetenzbereiche zu geltendem Recht werden. Zugegeben werden muß, daß die Lehre von den überwillkürlichen, in der göttlichen Schöpfungsordnung fundierten, materiellen Rechtsprinzipien bei Calvin und Althusius noch ziemlich unentwickelt ist. Sie machen noch nicht den Unterschied zwischen den generellen, für alle typischen Rechtsgebiete geltenden Rechtsprinzipien und denjenigen typischen Rechtsprinzipien, die nur an bestimmte, typische Rechts55
Ebd.
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Sphären des öffentlichen und privaten Rechts gebunden sind. Auch unterscheiden sie nicht innerhalb der generellen bzw. typischen Rechtsprinzipien zwischen konstitutiven und regulativen Rechtsprinzipien, von denen die ersteren das positive Recht möglich machen und begrenzen, während letztere die Richtigkeit oder Gerechtigkeit des bestehenden Rechts bestimmen. Wie diese Rechtsprinzipien zusammenhängen und einander gegenseitig voraussetzen, läßt sich hier nicht weiter verfolgen. 19. V o m „Beruf unserer Z e i t "
Calvin und Althusius haben jedoch den richtigen Weg gezeigt, einen Weg, auf dem mein Lehrer Herman Dooyeweerd weitergegangen ist. Auch ich versuche, dieser Spur zu folgen und in meiner Rechtslehre die zentrale Rolle der materiellen, überwillkürlichen Rechtsprinzipien als Ausgangspunkt und dynamische Triebkräfte der Rechtsbildung aufzuzeigen. In Heft 2 des Archivs für Rechts- und Sozialphilosophie dieses Jahres habe ich die Hauptlinien meiner heutigen Auffassung der materiellen Rechtsprinzipien beschrieben'®. Meiner Meinung nach ist „der Beruf unserer Zeit" (von Savigny) nicht ein solcher zur System- und Argumentationstheorie (nur eine formale und äußerliche Betrachtung des Rechtsphänomens), sondern vielmehr ein solcher zur Erforschung der materiellen Rechtsprinzipien, d. h. für eine materielle Strukturtheorie des Rechts.
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172.
Positive L a w and Material-Legal Principles, in: ARSP 70 (1984), S. 153—
K O N T R A K T U A L I S M U S ODER KONSOZIALISMUS? Grundlagen und Grenzen des Gemeinschaftsdenkens in der politischen Theorie des Johannes Althusius Von Werner Krawietz, Münster I . Politische Konstitution der modernen Rechtsgemeinschaft
Nur wenige klassische Werke der politischen Theorie des neuzeitlichen Staates haben es ähnlich schwer gehabt wie diejenigen des A l t husius, trotz einer schon zu Lebzeiten ihres Verfassers ganz unstreitigen praktischen und theoretischen Relevanz die ihnen gebührende Anerkennung zu finden. Obwohl die mit dem menschlichen Handeln befaßten Wissenschaften wie die Philosophie nach Kräften bemüht sind, die i m praktischen Lebensvollzug der sozialen Welt von Recht und Staat schon gleichsam vorgegebene, in ihrem Geltungsgrund vor allem politisch-rechtliche Eigenart aller menschlichen Lebensgemeinschaften zu ergründen, d. h. deren Bedingungen und Möglichkeiten unter den verschiedenen Aspekten auf ihre Vernünftigkeit bzw. Rationalität hin zu untersuchen, haben die mit dem menschlichen Gemeinschaftsleben und Gemeinschaftsdenken befaßten Sozialwissenschaften unter Einschluß der Philosophie sich dieser Aufgabe mit Blick auf das vielschichtige Werk des Johannes Althusius (1563—1638) bislang eher etwas widerwillig unterzogen. Zwar hat es Althusius, wie neuere Forschungen deutlich gemacht haben, weder zu Lebzeiten noch in der an sein Werk und Wirken anknüpfenden Wirkungsgeschichte bis auf den heutigen Tag an einer vielfältigen und breiten Beachtung nicht gefehlt. Sie stützt sich gewöhnlich nicht nur auf sein reiches rechts-, staats- und gesellschaftstheoretisches Werk, sondern auch auf sein Wirken als Emdener (in Ostfriesland würde man wohl eher sagen: ,Emder'!) Politiker und Verwaltungsfachmann. Verglichen mit seinem berühmten Nachfolger Rousseau, der in Althusius — durchaus mit Grund! — nicht nur eine gewisse geistige Verwandtschaft erkannte, sondern in dessen Wirken und Werk auch bestimmte inhaltliche Gemeinsamkeiten im politisch-rechtlichen wie im theoretischen Anliegen erblicken wollte, ist letzterer jedoch ganz zu Unrecht von Wissenschaft und Philosophie insgesamt eher stiefmütterlich behandelt worden.
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Die heutige Suche nach den vielfältigen Gründen für die beträchtlichen Defizite, die trotz der theoretischen Aufarbeitung seines Werks vor allem in rechts- und gesellschaftstheoretischer, aber auch in moralphilosophischer und in erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Hinsicht nach wie vor bestehen, läßt erkennen, daß allem Anschein nach bei der noch immer verbreiteten Fehleinschätzung eine Reihe von i m Detail höchst unterschiedlichen Faktoren in unheilvoller Weise zusammengewirkt haben. Ich möchte hier wenigstens einige von ihnen ganz kurz streifen, um durch deren genauere Benennung und Bestimmung zugleich ihren bisherigen Stellenwert ein wenig zu relativieren. 1. Ganz sicherlich kommt der Tatsache, daß bis heute die beiden großen Hauptwerke des Johannes Althusius, seine Theorie der Gerechtigkeit (Dicaeologica)1 und seine Politik (Politica) 2 , wie übrigens seine sonstigen Schriften auch, im wesentlichen — abgesehen von einigen auszugsweisen oder abgekürzten Ubersetzungen der Politica ins Deutsche bzw. ins Englische — bis heute nur in lateinischer Sprache vorliegen 3 , letztlich wohl keine so entscheidende Bedeutung zu. Auch wenn dieses sprachliche Hindernis heute naturgemäß ein Handikap darstellt und einer weiten Verbreitung seines Gemeinschaftsdenkens entgegensteht, kann dieser Umstand für die mangelnde Berücksichtigung seiner wegweisenden Gedankengänge in der Vergangenheit kaum ausschlaggebend gewesen sein — zumindest nicht für Wissenschaften und Philosophie in Mitteleuropa, wo die lateinische Sprache wenigstens zu damaliger Zeit die weite Verbreitung eines Werks sicherstellte. Eher bieten die Gründe, die bisher eine authentische Übertragung ins Deutsche verhindert haben bzw. als eine nicht vordringliche Aufgabe erscheinen ließen, einigen Aufschluß darüber, warum eine adäquate Rezeption und Verbreitung von Althusius' Gemeinschaftsdenken bisher nicht erfolgen konnte. Offensichtlich fehlten bislang einige wesentliche Bedingungen dafür, die Eigenart der in ihm implizierten Theorie und Politik des Rechts überhaupt zu erkennen. Dies hat sich jedoch in den letzten Jahrzehnten sehr tiefgreifend geändert. Auch kann in naher Zukunft nun mit der Veröffentlichung der Politica in deutscher Sprache gerechnet werden, so daß zumindest diese Sprachschranke demnächst entfallen wird. 1 Johannes Althusius, Dicaeologica L i b r i Très, T o t u m et universum Jus, quo u t i m u r , methodice complectentes, zuerst Herborn 1617, zit. Neudruck der Ausgabe F r a n k f u r t a.M. 1649, Aalen 1967. 2 Ders., Politica, Methodice digesta et exemplis sacris et profanis illustrata, zuerst Herborn 1603, zit. 2. Neudruck der 3. Auflage Herborn 1614, Aalen 1981. 3 Vgl. hierzu die Bibliographie der Werke des Althusius am Ende dieses Bandes.
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2. Gewiß können die Verdienste, die Carl Joachim Friedrich durch die Neuauflage von Althusius' Politica im Jahre 1932 und seine seitherigen Bemühungen um deren verbindliche Interpretation erworben hat, kaum hoch genug veranschlagt werden 4 . Jedoch ist heute sehr viel deutlicher als bisher, daß die höchst eindrucksvolle Rekonstruktion und Reformulierung der politischen Theorie des Johannes Althusius i n der Form, die Friedrich ihr durch seine Interpretationen gegeben hat, dem Aufbau und dem immanenten Theoriedesign von Althusius' Gesamtwerk nicht ganz gerecht wird. Aus heutiger Sicht erscheinen einige kritische Korrekturen angebracht, die im folgenden freilich nur in Umrissen angedeutet werden können. a) Ein Defizit in den theoretischen Bemühungen, die Friedrich dem Werk des Althusius zuteil werden ließ, ist vor allem darin zu erblicken, daß er — plausibel genug, aber ein wenig zu vordergründig — die Grundlage der politischen Theorie des Althusius allein in dessen Politica erblickte und demzufolge nur diese einer „genaueren Prüfung" unterzog 5 . Letztere stelle, wie Friedrich ein wenig voreilig und fasziniert durch seine Wiederentdeckung dekretiert, „sein Hauptwerk" dar 6 . Infolgedessen bildete für ihn die Politik des Althusius „den Höhepunkt und zugleich den Abschluß seiner Gelehrtentätigkeit". Diese reichlich gewagte, der Sache nach wohl kaum zu rechtfertigende These muß vor allem deswegen als nicht zutreffend zurückgewiesen werden, weil man die lebenslange Tätigkeit eines im Umgang mit dem Römischen Recht und seiner Anwendung geschulten Juristen, der in der ständigen Orientierung an den alles Gemeinschaftsleben bestimmenden politischen und sozialen Lebensumständen der Rechtsgemeinschaft den Schwerpunkt seiner ganzen praktischen und theoretischen Arbeit erblickte, wohl kaum als eine bloße „Nebenbeschäftigung" oder gar ein „Hobby" bewerten kann, wie Friedrich — ein wenig abschätzig gegenüber dieser von ihm offensichtlich gering geachteten Juristenarbeit — dies tun wollte. Vor allem kann Friedrichs reichlich spekulative Annahme insbesondere deswegen nicht gelten, weil dieser Jurist mit sei4 Hierzu vor allem: Politica Methodice digesta of Johannes Althusius (Althaus). Reprinted from the 3. edition of 1614. W i t h an introduction by Carl Joachim Friedrich, Cambridge 1932. Vgl. ferner: The Politics of Johannes Althusius. A n abridged translation of Politica. Translated, w i t h an introduction by Frederick S. Carney. Preface by Carl J. Friedrich, Boston 1964. Carl Joachim Friedrich, On rereading Machiavelli and Althusius Reason, rationality and religion, in: Nomos 7 (1964), S. 177—196; ders., Polit i k als Prozeß der Gemeinschaftsbildung. Eine empirische Theorie, K ö l n Opladen 1970. 5 Carl Joachim Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk i m Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, Berlin 1975, S. 29. β Dazu und zum folgenden: Friedrich (FN 5), S. 29.
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ner Gerechtigkeitstheorie (Dicaeologica), wie Althusius es bekanntlich 7 getan hat, erst lange nach der Politica die Summe seiner rechtlichen bzw. juristischen Lebensarbeit vorlegte, die — wie bereits der Untertitel des Werks verkündet — das gesamte, im unmittelbaren Lebensvollzug praktizierte Hecht (totum et universum ius, quo utimur) enthält und in einer das Zusammenspiel von Fakten und Normen (factum & ius) berücksichtigenden, auch methodisch reflektierten Betrachtungsweise wissenschaftlich darzustellen sucht (His duobus membris, facto & iure, tota Dicaeologica constat et perficitur) 8 . b) Auch erscheint es verfehlt, wenn Friedrich den Inhalt und die Bedeutung der Dicaeologica des Althusius fälschlich auf eine „vergleichende Rechtsdogmatik" reduziert 9 , um dadurch ihren praktischen und theoretischen Stellenwert zu mindern, offensichtlich wohl deswegen, weil die Betonung ihrer vor allem rechts- und gesellschaftstheoretischen Relevanz seiner obigen, bezüglich der Politica geäußerten These widersprochen hätte. Man kann doch kaum ignorieren, daß die Gerechtigkeitslehre des Althusius — anders als seine hierzu als Vorarbeiten dienenden früheren Werke, nämlich sein lus Romanum (1586) und seine Jurisprudentia Romana (zuerst 1588), eine umgearbeitete und vermehrte Version des ersteren! — eine über die bloße Interpretation und Systematisierung des vorliegenden Rechtsstoffes weit hinausgehende, geradezu enzyklopädische Gesamtdarstellung allen geltenden Rechts (im weitesten Sinne) bietet. Sie weist die charakteristischen Züge einer Allgemeinen Rechtslehre auf, das heißt einer alle Normierungen des menschlichen Gemeinschaftslebens in ihren jeweiligen konkreten sozialen Lebensumständen erfassenden Theorie des Rechts und der Gerechtigkeit. Von einer gegenständlichen oder gar methodologischen Selbstbeschränkung nach der A r t „reiner Jurisprudenz" 10 kann daher ebensowenig die Rede sein, wie von einer Verengung der Rechtsbetrachtung auf bloße „Rechtssätze, also Rechtsnormen", wie sie Friedrich dem Rechtsverständnis des Althusius fälschlich zuzuschreiben sucht 11 . Ich gehöre ganz sicherlich nicht zu denjenigen Autoren, welche sich das Lebenswerk eines Wissenschaftlers und Philosophen unbedingt als 7 Althusius' Iuris Romani libri duo (1586), die zusammen m i t seiner erstmals 1588 veröffentlichten, gleichfalls zweibändigen Iurisprudentia Romana der Vorbereitung seines der Allgemeinen Rechtslehre gewidmeten Hauptwerks dienten, sind IV2 Jahrzehnte vor der Politica erschienen, sein i m m e r h i n 792 Seiten i n Großquart umfassendes, die gesamte Gerechtigkeitslehre enthaltendes M a g n u m opus wurde erstmals IV2 Jahrzehnte nach der Politica i m Jahre 1617 veröffentlicht! 8 Althusius, Dicaeologica, Lib. I, cap. 1, Nr. 4, p. 1. 9 Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk, S. 29. 10 Ebd., S. 29. 11 Ebd., S. 71.
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ein Ganzes oder gar als ein System verständlich machen müssen, um es selbst zu begreifen, doch darf und sollte andererseits auch nicht die zweifellos bestehende Einheit des rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Gesamtwerks des Althusius ignoriert werden, nur weil diese Einsicht nicht dem vorgefaßten Verständnis von Politik und Politikwissenschaft entspricht, das Friedrich von außen an dessen Werk herangetragen hat 12 . Das Werk des Althusius bleibt — auch anders gedeutet — politiktheoretisch interessant genug! 3. Dies alles bedeutet nicht, daß eine zureichende Interpretation von Althusius' Gemeinschaftsdenken zwangsläufig auf die Position zurückfallen müßte, die Otto von Gierke (1841—1921) ihm in der berühmten, bis auf den heutigen Tag maßgeblichen Deutung seiner politischen Theorie der modernen Rechtsgemeinschaft gegeben hat, indem er dessen Politica als ein bloßes Lehrbuch bezeichnete, das unter dem Namen der „Politik" das gesamte „allgemeine Staatsrecht mit begriff" und „nach systematischer Methode" herausgegeben habe 13 . Von diesem Standpunkt aus konnte und mußte bei aller immanenten K r i t i k innerhalb der deutschen Historischen Rechtsschule für den am Ausgang des 19. Jhdts. noch ganz unter dem Eindruck ihrer natur- bzw. vernunftrechtlichen Verirrungen stehenden Gierke und sein Bemühen, zu einem nicht bloß historisch-antiquarischen, sondern genuin geschichtlich-gesellschaftlichen Rechtsdenken durchzudringen, die politische Theorie des Althusius vor allem als ein Beitrag zur Entwicklung der natur- bzw. vernunftrechtlichen Staatstheorien erscheinen mit der Folge, daß diese vom Ansatz her verfehlte Deutung der Gerechtigkeitslehre wie der politischen Theorie des Althusius im ganzen wie im Detail auch bei der Darstellung von dessen Rechts- und Gesellschaftstheorie die Oberhand behielt. a) Dies wird besonders deutlich in dem Bemühen Gierkes, die epochale Bedeutung des Werks von Althusius in dessen Beitrag zum allgemeinen Staatsrecht bzw. zur allgemeinen Staatslehre zu erblicken, deren wesentliche Grundlagen er in den vornehmlich natur- bzw. vernunftrechtlich gedeuteten Lehren zum Gesellschafts- bzw. Herrschaftsund Staatsvertrag erblickte 14 . Auf diese Weise wurde das Gemeinschaftsdenken des Althusius — wie ich im folgenden darlegen werde, gänzlich zu Unrecht! — in die unmittelbare Nähe der bloß natur- bzw. vernunftrechtlich begründeten Vertragstheorien von Gesellschaft, Staat und Recht gerückt, die bis auf den heutigen Tag ein der politisch-recht12
Ebd., S. 70 f. Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der n a t u r rechtlichen Staatstheorien (1880), 7. unveränderte Ausgabe, Aalen 1981, S. 3. 14 Ebd., S. 76 ff., 99 ff. 13
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liehen Wirklichkeit des menschlichen Gemeinschaftslebens sehr viel eher gerecht werdendes, geschichtlich-gesellschaftliches Rechtsdenken behindern, zu dessen wirklichkeitsgerechter und erfahrungswissenschaftlicher Begründung, detaillierten Entfaltung und weiteren Entwicklung gerade Althusius in so hervorragendem Maße beigetragen hat. Auf diese Weise wurde das sehr viel originellere und eigenständigere, einer bloß natur- und vernunftrechtstheoretischen Fundierung vom Ansatz her durchaus nicht unkritisch gegenüberstehende Rechtsund Gemeinschaftsdenken des Althusius durch die Gierkesche Darstellung nicht nur arg deformiert, sondern es mußten auch der Kern und die Eigenart seiner Theorie von Gesellschaft, Recht und Staat verborgen bleiben, die vor allem wegen ihrer durchweg erfahrungs- und wirklichkeitswissenschaftlichen Fundierung auch die philosophische Reflexion — lange vor Montesquieu, aber auch vor Kant und Hegel! — erstmalig unter die erfahrungswissenschaftlichen Prämissen der heute üblichen modernen Wirklichkeitswissenschaft stellte. Man wird daher dem Gierkeschen „Resultat" kaum zustimmen können, daß Althusius in dem von ihm konzipierten „Rechtsgebäude" mit Hilfe seiner Systematik „ i m Grunde nur die letzten Konsequenzen der bald darauf zur Alleinherrschaft gelangten natur rechtlichen Lehre vom Socialvertrage im Voraus gezogen" habe 15 . Wäre dies wirklich der Fall, dann könnte man in der Tat Althusius mit gutem Grunde vergessen! b) Z u der Gierkeschen Fehleinschätzung 10 mag auch dessen mangelnde Beherrschung der und die fehlende Einsicht in die Grundlagen und Grenzen der ramistischen Logik 1 7 beigetragen haben, die von Althusius keineswegs in sklavischer, sondern in höchst eigenständiger und fruchtbarer Weise zur Darstellung seiner eigenen Beobachtungen und Gedankengänge sowie deren Begründung verwandt wurde. Ein derartiges Fehlurteil, wie es Gierke unterlief, entsprach freilich durchaus dem am Ausgang des 19. Jhdts. noch wenig gesicherten Wissen darüber, was die Logik überhaupt und mit ihr auch die antiaristotelische Logik des Pierre de la Ramée (1515—1572) im Bereich des Rechts und der mit ihm befaßten Wissenschaften praktisch und theoretisch zu leisten vermochte 18 . Angesichts der durchweg stringenten, durch Tabulae und vielfältige 15
Ebd., S. 46. Dazu und zum folgenden: Gierke (FN 13), S. 41. 17 E i n demgegenüber i m wesentlichen zutreffendes B i l d zeichnet: Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica universalis, Hamburg 1983, S. 31 ff., 39 ff., 47 ff. Hierdurch dürften auch allzu übertriebene Vorstellungen von den A n w e n dungsmöglichkeiten der ramistischen Logik im Bereich des Rechts ernücht e r t werden können. 18 Hierzu: Werner Krawietz, Juristische Logik, in: Joachim Ritter et al. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel-Stuttgart 1980, Band 5, Sp. 423—434, 430 ff., 432 f. 16
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Beispiele reich illustrierten, selten bloß formalen, sondern inhaltlichen Argumentation des Althusius, die seinem Judiz und seinem Blick für die praktische, politische und soziale Wirklichkeit allen Rechts das beste Zeugnis ausstellt, w i r k t es doch reichlich verwegen, wenn Gierke zu dem Resümee gelangt, Althusius habe in der Dicaeologica „die Systematisierung des Stoffs auf die Spitze getrieben" und seine Gedankenführung „mit unerbittlicher Konsequenz, man möchte sagen mit Fanatismus, durchgeführt". c) Ähnlich verfehlt muß es, methodologisch gewendet, erscheinen, wenn Gierke behauptet, Althusius habe die Begründung des Rechts „durch vernunftgemäße Ableitung" sicherstellen wollen1®. Dies heißt nun wirklich nicht bloß, die Möglichkeiten der ramistischen Logik, deren sich Althusius doch nur als eines Mittels zur Darstellung seiner Gedankengänge bediente, zu überschätzen; es bedeutet auch, daß Gierke die eigentlichen Geltungsgrundlagen der juristischen Argumentation des Althusius verkennt, der ja — in Orientierung an dem vielfältigen, im politisch-sozialen Handlungsbereich etablierten Gemeinschaftsleben und den hier ausdrücklich gesetzten oder doch zumindest implizierten Normen und Fakten — nicht bloß formal, sondern stets inhaltlich aus den Gründen des jeweils geltenden Rechts argumentiert. 4. Von den obigen Vorurteilsstrukturen hat sich die moderne, seit Beginn der 60er Jahre dieses Jhdts. vermehrt einsetzende AlthusiusForschung, die vor allem durch die von Hans Ulrich Scupin 20 und Ulrich Scheuner 21 begründete Johannes-Althusius-Gesellschaft maßgeblich vorangetrieben wurde, sehr weitgehend zu emanzipieren vermocht. Allerdings bildeten auch hier — ausweislich der Satzung dieser, auf die Erforschung der Grundlagen von Recht und Staat gerichteten Gesellschaft — vor allem „Bemühungen um die Erhellung der Zusammenhänge in der naturrechtlich bestimmten Staatslehre des 16. bis 18. Jahrhunderts" den hauptsächlichen Schwerpunkt 22 . M i t dessen wissenschaftlich-kritischer Behandlung, die auch auf die Ideen- und Verfassungsgeschichte, die Staatslehre und das Staatsrecht erstreckt wurde 2 3 , 19
Ebd., S. 43. Vgl. hierzu vor allem: Hans Ulrich Scupin, Vorwort, in: AlthusiusBibliographie. Bibliographie zur politischen Ideengeschichte und Staatslehre, zum Staatsrecht und zur Verfassungsgeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Dems./Ulrich Scheuner. Bearbeitet von Dieter Wyduckel, Berlin 1973, 1. Halbbd., S. X I — X V I I I . 21 Sehr eingehend zur Naturrechtsepoche als einer Grundlage neuer politischer Denkformen: Ulrich Scheuner, Einleitung, in: Scupin/Ders. (Hrsg.) (FN 20), S. X I X — X X X I I I , X X I ff. 22 Scupin, V o r w o r t (FN 20), S. X I . I m obigen Text kursiv von W. K . 23 Exemplarisch die überaus sorgfältigen, kenntnisreichen und richtungweisenden Untersuchungen zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre von: Dieter Wyduckel, Princeps Legibus Solutus, Berlin 1979, S. 19 ff., 166 f.; ders., 20
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ist vor allem die vermehrte Erörterung der über Althusius und dessen Zeit hinausreichenden Staatslehren und Staatstheorien in den Vordergrund gerückt 24 . a) Die verständliche, aber nach meinem Eindruck zu starke Staatszentriertheit der zeitgenössischen Althusiusf or schung verstellt den Blick darauf, daß es Althusius bei seiner Konzeption und seinem Begriff von Verfassung und Recht gerade nicht darauf ankam, der wachsenden neuzeitlichen Staatsbürokratie ein Monopol oder auch nur eine Prärogative für die Rechtserzeugung zuzuschanzen, sondern daß er — ganz im Gegenteil! — bestrebt war, die Vielzahl und Vielfalt der für die laufende Rechtsproduktion in der sozialen Wirklichkeit bestimmenden Faktoren durch seine demokratie- und gesellschaftstheoretischen Analysen aufzuzeigen und näher zu bestimmen. Eben dies rückt Althusius' Werk aber gerade nicht in die Nähe der natur- und vernunftrechtstheoretischen Staatsbegründungen, insbesondere der bloß vernünftigen 4 , aber jeder Übereinstimmung mit der sozialen Wirklichkeit allen Rechts entbehrenden Vertragskonstruktionen (Gesellschafts-, Herrschafts-, Staatsvertrag!), die — unangefochten von aller geschichtlich-gesellschaftlichen Erfahrung und Beobachtung! — sich selbst allenfalls rein vernunfttheoretisch zu rechtfertigen vermögen. Vielmehr läßt dies erkennen, daß Althusius — schon sehr viel früher als Montesquieu (1689— 1755), aber insoweit mit demselben durchaus vergleichbar! — die w i r k lichen Entstehungsgründe allen Rechts im zwischenmenschlichen Gemeinschaftsleben und seinen durch die jeweilige Umwelt bestimmten Bedingungen und Möglichkeiten erblickte. b) Ganz offensichtlich können alle derartigen Gemeinschaften, sozialen Gruppierungen und Organisationen auf Dauer nicht bestehen, wenn nicht in diesem Zusammenleben (vita symbiotica, vita socialis) — auch ohne Rekurs auf staatlich gesetzte und sanktionierte Rechtsnormen! — ein freilich nur partikular istische s (d. h. in seiner jeweiligen Geltung auf das konkrete Gemeinschaftsleben beschränktes), aber gleichermaßen höchst wirksames Recht (ius symbioticum) 25 erzeugt wird. Es regelt in elementarer Form die jeweilige Verteilung der Verhaltungszumutungen und Verhaltenslasten nach A r t einer Rechte-Pflichten-Struktur, indem lus Publicum. Grundlagen und Entwicklung des öffentlichen Rechts und der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin 1984, S. 129 ff., 137 ff., 182 ff., 186 f. 24 Dazu schon: Scupin, V o r w o r t (FN 20), S. X I f., der i n einer erneuten u n d umfassenden „Erforschung der Rechtslehre des in Deutschland am Beginn frühneuzeitlicher Staatstheorien stehenden Althusius und der über dessen Zeit hinausreichenden Staatstheorien und Staatslehren" m i t G r u n d die Aufgabe erblickt, eine noch immer bestehende „Dunkelzone" zu erhellen. 25 Althusius, Politica, cap. I, Nr. 31, p. 9 f.; cap. V, Nr. 5, p. 60; cap. I X , Nr. 17, p. 175.
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es im jeweiligen sozialen Lebenszusammenhang (Familie, soziale Gruppe, Nachbarschaft usf.) dementsprechende wechselseitige Verhaltenserwartungen normativ wirksam auf Dauer stellt. Selbstverständlich war eine derartige Rechtsauffassung kein Rückfall in einen, wie heutige Zeitgenossen vermuten könnten, für das Rechtsdenken perniziösen Naturalismus, sondern ganz i m Gegenteil eine Konzession der Rechtsund Gesellschaftstheorie des Althusius an die wohl kaum zu bezweifelnde Einsicht, daß alles symbiotische Erleben und Handeln in einer geschichtlich-gesellschaftlichen Rechtsgemeinschaft — unbeschadet der Vielzahl und Vielfalt der sozialen Formen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens — eine hier im weitesten Sinne verstandene, genuin politische Dimension besitzt, die sich nicht in dem politischen Gemeinschaftsleben im Rahmen eines Staates erschöpft, sondern stets auch außerhalb und unabhängig von demselben existiert (symbiosis omnis est politica) 26 . Dieser überaus fruchtbare und weite Begriff von Politik korreliert mit einem weiten Begriff des Rechts, das — verstanden als ius symbioticum und insoweit ganz in Übereinstimmung mit dem modernen, heute nicht mehr positivistisch verengten Rechtsdenken, aber zeitlich sehr viel früher als dieses! — nicht auf das vom Staat in förmlichen Verfahren gesetzte Recht reduziert werden kann und darf, sondern relativ autonom alle sozialen Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens reguliert. 5. Im Vordergrund meiner hier anzustellenden Überlegungen steht nicht in erster Linie der Versuch einer Reformulierung und Rekonstruktion der politischen Theorie und Philosophie des Johannes A l t husius. Vielmehr geht es mir vor allem um das kritische Anliegen, die Grundlagen und Grenzen seines Gemeinschaftsdenkens näher herauszuarbeiten mit dem Ziel, seinen eigentlichen Beitrag zum Aufbau einer normativen Strukturtheorie des Rechts zu erhellen, d. h. zur Analyse seiner politisch-gesellschaftlichen Theorie des Rechts beizutragen, in der Normen — aber nicht nur diese! — zu den maßgeblichen Elementen allen sozialen Zusammenlebens gehören. Ich werde deshalb in folgenden Schritten vorgehen: (1) Zunächst werde ich mich mit der näheren Charakterisierung des Rechtsbegriffs befassen, so wie er sich im Gemeinschaftsdenken und in der dessen Voraussetzungen und Implikationen reflektierenden Normentheorie des Althusius darstellt (Abschnitt II). (2)
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Ferner werde ich der Frage nachgehen, ob mit Bezug auf die von Althusius vertretene Rechts- und Staatstheorie (i) von einem politisch-rechtlichen Monismus gesprochen werden kann in dem Politica, cap. I I I , Nr. 42, p. 42.
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Sinne, daß der Staat — gewissen Tendenzen zu einem Entscheidungsabsolutismus und bürokratischen Etatismus folgend — die Oberhand, d. h. eine A r t Entscheidungs- und Gewaltmonopol, gewinnt oder ob hier stattdessen (ii) eher ein Pluralismus gesellschaftlicher Kräfte vorherrscht, der vor allem die — wenn auch stets relative — Autonomie der einzelnen sozialen Systembildungen begünstigt und in jeder Gesellschaft in einer Vielzahl verschiedenartiger sozialer Regelsysteme des Rechts zum Ausdruck gelangt, welche durch den Staat — wenn überhaupt — allenfalls partiell mitgesteuert werden (Abschnitt III). (3) Schließlich werde ich die mit diesen Vorstellungen verknüpfte Problematik erörtern, ob die in der politischen Theorie des A l t husius bereits ablesbare Differenzierung der Gesellschaft (vita symbiotica, vita socialis, societas humana) in einer Vielzahl von unterschiedlichen Gemeinschafts- und Sozialformen des menschlichen Zusammenlebens, so wie letzteres sich in seinem gesamten Werk darstellt, (i) expressis verbis oder zumindest implizit eine gewisse Hierarchie erkennen läßt oder (ii) nur eine mehr oder weniger zufällige, aber antagonistische Heterarchie sozialer Gruppierungen und Systembildungen aufweist (Abschnitt IV). I I . Recht als Geltungsgrund und emergente S t r u k t u r politisch-sozialer Gemeinschaften
Die Frage nach dem Geltungsgrund allen positiven, von Menschen für Menschen wie auch immer geschaffenen Rechts ist deswegen so prekär, weil dessen bloße Setzung, die gewöhnlich in politisch-rechtlich geregelten Entscheidungsverfahren erfolgt, als letzte Antwort naturgemäß nicht zu befriedigen vermag. Dies gilt auch und gerade dann, wenn man alles im Wege einer derartigen Gesetzgebung gesetzte (oder doch von ihr abgeleitete) Recht zu seiner Legitimation auf die gegenüber dem bloßen Gesetzesrecht ranghöheren Rechtsnormen der Verfassung zurückzuführen sucht, denn nun stellt sich die Frage nach dem Geltungsgrund allen Rechts als Frage nach dem Geltungsgrund der Verfassung, deren Geltung als verbindlich in dieser Antwort schon vorausgesetzt wird. Der konventionelle Kontraktualismus sucht diese Frage durch den Verweis auf bestimmte, mit jeder Verfassung schon gesetzte oder doch zumindest implizit von ihr vorausgesetzte Normen (Staatsfundamentalnormen, Grundnormen, Basisnormen o. ä.)27 zu beantworten, die — wenn schon nicht expressis verbis vereinbart und 27 Eingehend hierzu: Werner Krawietz, Grundnorm, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3, Basel-Stuttgart 1974, Sp. 918—922.
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gesetzt, doch z u m i n d e s t hypothetisch, das heißt m e h r oder w e n i g e r f i k t i v ! — als ein Gebot der V e r n u n f t vorausgesetzt werden können bzw. müssen, w e i l deren G e l t u n g i h r e r N a t u r nach jeden zu dieser E r k e n n t n i s f ä h i g e n Vernünftigen m i t a l l e n anderen v e r b i n d e t . Z u d e n j e n i g e n L e h ren, die den l e t z t e n G e l t u n g s g r u n d a l l e n Rechts i n e i n e m d e r a r t i g e n n i c h t gesetzten, s o n d e r n bloß vorausgesetzten „ S t a a t s v e r t r a g " (Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag) erblicken, w i r d üblicherweise — einer v e r b r e i t e t e n D e u t u n g 2 " f o l g e n d — auch die Theorie des Rechts gezählt, die Althusius seiner politischen Philosophie w i e seiner Gerecht i g k e i t s t h e o r i e z u g r u n d e gelegt habe 2 0 . 1. A u s h e u t i g e r Sicht erscheint v o r a l l e m erstaunlich, daß die lange maßgebende, aber i m wesentlichen u n z u t r e f f e n d e D e u t u n g , die Otto von Gierke der politischen T h e o r i e des A l t h u s i u s bereits a m A u s g a n g des 19. Jhdts. u n d noch ganz i m Sinne eines n a t u r - bzw. v e r n u n f t r e c h t s theoretischen Kontraktualismus :iü aufnötigte, sich bis auf den h e u t i g e n T a g zu h a l t e n vermochte, o b w o h l doch eine vertragstheoretische Geltung sbegründung der Positivität allen Rechts jedenfalls i n D e u t s c h l a n d spätestens m i t der W e n d e I h e r i n g s zu e i n e r soziologischen J u r i s p r u d e n z bzw. zu einer T h e o r i e u n d Soziologie des Rechts i m G r u n d e ausgespielt h a t t e 3 1 . W ä h r e n d n ä m l i c h die — v o r a l l e m auf Rousseau u n d Kant ge28 Hierzu vor allem: Gierke , Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (FN 13), vgl. insbesondere den zweiten T e i l und hier das berühmte zweite Kapitel, S. 76—122. 29 Das kapitale V o r u r t e i l und Mißverständnis Gierkes, das leider sehr viel mehr als Althusius' Theorie — bei allen seinen Verdiensten um deren Wiederentdeckung! — epochemachend wurde, kündigt sich gleich eingangs an, wenn Gierke (FN 13), S. 76 ebenso apodiktisch wie unrichtig u r t e i l t : „Ja Althusius hat überhaupt insofern, als er zum ersten Male ein wissenschaftliches System der gesamten Staatslehre auf logischem Wege aus der A n nahme bestimmter Urverträge herleitete, die Vertragslehre zur Theorie erhoben." Vgl. hierzu jetzt auch die materialreiche und hochinteressante Studie von: Michael Stolleis, De regno recte instituendo et administrando. Eine unbekannte Disputation von Johannes Althusius, in: Paul Raabe (Hrsg.), Wolfenbütteler Beiträge, F r a n k f u r t a.M. 1987, S. 167—173, 168 ff. M i t G r u n d zählt Stolleis die „Vertragslehre zu den immer wieder erörterten zentralen Fragen der Althusius-Forschung. Jedoch folgt aus dem von i h m vorgelegten reichen Material, das die Verwendung vertraglicher Rechtsinstrumente belegt, m. E. nicht, daß Althusius auch ein Anhänger der Vertragstheorie gewesen ist. 30 Gierke , Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (FN 13), S. 76 ff., 92 ff., 348 f. 31 Hierzu schon die treffende K r i t i k an der „Naturrechtslehre" bei: Rudolph von Ihering, Der Zweck i m Recht, Bd. 1, Leipzig 1877, S. 241 f., der m i t Bezug auf die bloße „Tatsächlichkeit" anmerkt: „Aber die A r t , wie sie (scilic. die Naturrechtslehre) das Problem löste, indem sie den historischen Staat aus dem Vertrage hervorgehen ließ, w a r eine verfehlte, eine reine Construction ohne Berücksichtigung der w i r k l i c h e n Geschichte, eine E n t wicklungsgeschichte, die sich nicht die Mühe nahm, die Entwicklung selbst zu erforschen, und gegen eine solche Lösung des Problems w a r der Widerspruch, den die moderne Rechtsphilosophie i h r entgegenstellte, ein v o l l kommen berechtigter."
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stützten — Vertragstheorien (Gesellschafts-, Staats-, Herrschafts- bzw. Unterwerfungsvertrag) lange Zeit dazu benutzt wurden, die Geltung allen Rechts als bindendes Vernunftgebot und demzufolge als eine mit den Mitteln staatlichen Rechts erzwingbare Rechtspflicht zu begründen, die jeder Vernünftige anzuerkennen habe 32 , ist eben diese Form einer Geltungsbegründung und Rechtfertigung des Rechts zunehmend in Ideologieverdacht geraten 33 . So konnte der — wie im folgenden darzulegen ist, falsche! — Eindruck entstehen, daß mit den natur- und vernunftrechtstheoretischen Vertragstheorien und der ihnen zugrundeliegenden Idee einer vertraglichen Begründung sozialer Normen auch die politisch-gesellschaftliche Rechtstheorie des Althusius hinfällig geworden sei. Dies ist jedoch ganz und gar nicht der Fall! a) Auch im Bereich praktischer und theoretischer Denkmöglichkeiten ist davon auszugehen, daß i m politisch-sozialen Gemeinschaftsleben ohne eine — hier schon vorausgesetzte, aber doch erklärungsbedürftige! — Gemeinschaft', die den ,Vertrag' respektiert und sanktioniert, der wie auch immer juristisch-konstruktiv gedeutete Vertrag als solcher noch kein zureichendes Instrument sozialer Vereinigung bzw. Vergemeinschaftung bildet 34 . Dies gilt auch dann, wenn man das maßgebliche Element des Vertrags in dem durch die Willenserklärungen der Kontrahenten bewirkten Einverständnis erblickt — oder bewirkt etwa, genau umgekehrt, das dabei schon vorausgesetzte Einverständnis, letzteres hier verstanden als Konsens (lat. consensus im Sinne eines sentire cum alio!), die abzugebenden, miteinander korrespondierenden Willenserklärungen? 32
Das rechtliche Dilemma der Natur- bzw. Vernunftsrechtslehre, die in einem Vertrag m i t „stillschweigenden oder fingirten Willenserklärungen", wenn schon nicht das politische Fundament, so doch wenigstens die „ j u ristisch-konstruktive Grundlage der Staatsexistenz" erblickte, kennzeichnet: Gierke (FN 13), S. 349, sehr treffend: „Gerade weil es dem bestehenden Staat an dieser Grundlage fehlt, besteht er nicht zu Recht und muß durch den Vertragsstaat ersetzt werden." 33 Wie die von Gierke verfaßten, von i h m nach mehr als 20 Jahren der zweiten Ausgabe seines Werkes hinzugefügten, selbstkritischen „Zusätze vom Jahre 1902" (FN 13), S. 323—366, 323 f. erkennen lassen, mögen ihn dabei auch Zweifel an der Richtigkeit der vertragstheoretischen Begründung von Recht und Staat beschlichen haben, denn er bemerkt: „Mochte die A n knüpfung einer Entwicklungsgeschichte der naturrechtlichen Staatstheorien an einen Bericht über Leben und Lehre des Johannes Althusius sich unter den damaligen Zeitumständen entschuldigen lassen, so wäre sie heute bei einer Neubearbeitung kaum noch erträglich." 34 Nicht ohne eine gewisse dogmatisch-konstruktive N a i v i t ä t dekretiert: Gierke (FN 13), S. 21: „ Z u r Vereinigung treibt das Bedürfnis: die Vereinigung selbst vollzieht sich durch stillschweigenden oder ausdrücklichen Vertrag. Durch den Vertrag werden die Teilnehmer zu Lebensgenossen (symbiotici), die einander gegenseitig zur Vergemeinschaftung (communicatio) des für das sociale Leben Nützlichen und Nothwendigen obligirt sind." Wer schützt den Rechtstheoretiker vor seinen Interpreten?
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b) Das Rätsel, was denn nun als Voraussetzung bzw. als Folge des Vertrags anzusehen ist, findet seine Lösung erst mit dem heutigen (und hoffentlich endgültigen!) Obsoletwerden der natur- bzw. vernunftrechtlichen Vertragstheorien. Erst damit wird nämlich erkennbar, daß der Vertrag selbst, hier verstanden als normativ-soziale Lebensform 35 , nicht wiederum vertragstheoretisch begründet werden kann, weil er sehr weitgehend von nicht kontraktuellen, im wesentlichen geschichtlichgesellschaftlichen Voraussetzungen abhängig ist. Zugleich wird damit erstmals ein unverstellter Zugang zu Althusius' allgemeiner Rechtslehre bzw. zu seiner Theorie und Soziologie des Rechts ermöglicht, in welcher die Vertragstheorien nachweisbar gar keinen prominenten Stellenwert einnehmen. Es ist vielmehr — ganz i m Gegenteil! — gerade das Verdienst von Althusius, in seiner Normentheorie lange vor Dürkheim (1858—1917) auf die genuin außervertraglichen, eben gerade nicht kontraktuellen Entstehungs- und Geltungsgrundlagen allen Rechts — und damit auch des Vertragsrechts! — hingewiesen und diese zum Ausgangspunkt seiner Rechts- und Gesellschaftstheorie gemacht zu haben. 2. Die ganz deutliche K r i t i k , die in der zeitgenössischen AlthusiusForschung schon früh an der These einer vertragstheoretischen Grundlegung seines Rechtsbegriffs geübt wurde, vermochte sich zunächst nicht durchzusetzen. Diese Ausgangssituation änderte sich jedoch zu Beginn der 70er Jahre, in denen die Auseinandersetzung mit den neuen Vertragstheorien von John Rawls (1971), Robert Nozick (1974), James M. Buchanan (1975) u. a. sehr rasch zu einer grundsätzlichen Überprüfung aller geläufigen Spielarten der vertragstheoretischen Begründung politisch-sozialer Institutionen führte 38 . Gerade die Diskussion dieser neuen Theorien des Sozialvertrags („New Contractarianism") 37 , die auch 35 Eingehend hierzu: Stig Jorgensen, Contract as a Social Form of Life, in: RECHTSTHEORIE 16 (1985), S. 201—216, 202 f., 208 ff. 36 John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1971; Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopia, New York 1974; James M. Buchanan, The L i m i t s of Liberty. Between Anarchy and Leviathan, Chicago 1975. Vgl. statt anderer: Peter Koller, Theorien des Sozialkontrakts als Rechtfertigungsmodelle politischer Institutionen, in: Werner K r a w i e t z / H e l m u t Schelsky et al. (Hrsg.), Theorie der Normen. Festgabe für Ota Weinberger, Berl i n 1984, S. 241—275. 37 Scott Gordon, The New Contractarians, in: Journal of Political Economy 84 (1976), S. 573—590; Pierre Birnbaum/ Jack Lively /Gerain Parry (Hrsg.), Democracy, Consensus & Social Contract, London-Beverly Hills 1978. Zur rationalen Rekonstruktion politisch-ethischer Grundprinzipien: Lucian Kern, Neue Vertragstheorie, Königstein/Ts. 1980, S. 9 ff. Er erblickt den U n t e r schied zu den älteren Vertragstheorien, die „die Errichtung des Staates als rational begründbar nachzuweisen" suchten, darin, daß der Vertrag n u n als ein „grundlegendes politisch-ethisches Prinzip" angesehen w i r d , „das als Richtschnur der Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen V e r hältnisse dienen kann".
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die bislang gebräuchlichen Modellvorstellungen über die Struktur der Regelsysteme des Rechts in Frage stellte' 18 , mußte zugleich sehr tiefgreifende prinzipielle Zweifel an der Möglichkeit wecken, die mit M i t teln des Rechts institutionalisierte Verfassung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, insbesondere der staatlich organisierten Rechtssysteme, auch weiterhin im Sinne des Kontraktualismus zu deuten. Es liegt auf der Hand, daß die — fiktive — Annahme eines hypothetischen Kontrakts für sich allein nun einmal nicht als normativer Grund der Geltung und Verbindlichkeit allen Rechts zu dienen vermag 39 . Trifft all dies aber zu, dann muß eine Rekonstruktion von Althusius' Theorie und Soziologie des Rechts den — im Detail aus Mangel an Raum hier nicht zu führenden — Nachweis erbringen, wie er, wenn schon nicht Vertreter oder Anhänger eines längst überständigen Kontraktualismus, in hiervon unabhängiger Weise vom Standpunkt seiner Normentheorie die Geltung und Verbindlichkeit allen Rechts deutet, erklärt und begründet. a) Noch zu Beginn der 70er Jahre hat Merzbacher in seinen Analysen von Althusius' Rechtsbegriff den Vertrag als das maßgebende „Band" des genossenschaftlichen Gemeinschaftslebens herausgestellt, das alle Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaften vereint und verbindet. Zwar enthüllt sich für ihn Politik „seinshaft im Charakter der consociatio", aber das „Vollzugsmoment dieser Vereinigung ist der Vertrag, ganz gleich ob dieser ausdrücklich geschlossen wurde oder stillschweigend eingegangen ist" 4 0 . Allerdings ist der Vertrag, der der 38 Hierzu vor allem: Ronald Dworkin, Social Rules and Legal Theory, in: The Yale L a w Journal 81 (1971/72), S. 855—890; ders., The Original Position, in: University of Chicago L a w Review 40 (1973), S. 500—533. Beide Arbeiten erneut abgedruckt in: ders., Taking Rights Seriously. New I m pression w i t h a Reply to Critics, 4. Aufl., London 1984, S. 46—89, 150—183. Sehr richtig bemerkt Dworkin, ebd., S. 151: „ B u t my hypothetical agreement does not count as a reason, independent of these other reasons, for enforcing the rules against me, as my actual agreement would have . . . A hypothetical contract is not simply a pale form of an actual contract; it is no contract at all." 39 Die w o h l gründlichste und gedankenreichste Erörterung dieser Problem a t i k bietet: Peter Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin 1987, S. 15 ff. et passim. Er macht sehr treffend darauf aufmerksam, daß „die f i k tive Annahme eines hypothetischen Kontrakts für sich allein unmöglich ein zureichendes Argument für die Verbindlichkeit derjenigen Grundsätze liefern kann, die man unter hypothetischen Bedingungen vertraglich akzeptiert hätte". I m vorstehenden Zitat kursiv von W. K. Den stichhaltigen A r gumenten von Dworkin ist m. E. insoweit nichts hinzuzufügen. I n der Tat vermag eine derartige Vertragsvorstellung nur dann als Legitimationsgrundlage zu fungieren, wenn deren Annahmen ihrerseits auf weiteren Gründen beruhen, die sie als annehmbar erscheinen lassen. 40 Eingehend hierzu: Friedrich Merzbacher, Der homo politicus symbioticus und das ius symbioticum bei Johannes Althusius, in: Hans Hablitzel/ Michael Wollenschläger (Hrsg.), Recht und Staat. Festschrift für Günther Küchenhoff zum 65. Geburtstag, Berlin 1972, S. 107—114, 108 f.
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consociatio zugrunde liegt, „nicht mehr als das Zeichen einer vorgegebenen sozialen Wirklichkeit", d. h. er gewinnt „nur Bedeutung als äußere Form, nicht aber als politischer Inhalt oder soziales Programm" 4 1 . Leider ist diese Position noch meilenweit entfernt von einem institutionellen Verständnis des Vertrages als sozialer Lebensform, die zu einer wesentlich realistischen Problemsicht hätte führen können. b) Der in der rezenten Althusius-Forschung lange vorherrschende Kontraktualismus wird ferner deutlich bei Hendrik J. van Eikema Hommes, der den normativen Charakter der Soziallehren des Althusius „ i n der kontraktuellen Grundlage" erblickt, die dieser nach „ A r t einer juristischen Konstruktion in der Nachfolge des naturrechtlichen Denkens seiner Zeit den typischen Gesellschaftsstrukturen zugrunde legt" 4 2 . Für Althusius sei dies „nichts anderes als ein Mittel, die interne normative Struktur der consociatio oder symbiosis zu fundieren", denn ihm habe „keine andere Lösung zur Verfügung (gestanden), die interne normative A r t der Lebensgemeinschaften zu erklären, als die Form eines Vertrages (pactum) als Quelle der sozialen Normen und Verpflichtungen". M i r erscheint van Eikema Hommes' These, die vom Vertrag als basaler Rechtsquelle ausgeht und damit zugleich die „kontraktuelle Grundlage" des Althusius'schen Rechtsbegriffs betont, als im wesentlichen nicht zutreffend. Auch vermag ich mich nicht davon zu überzeugen, daß Althusius „nicht über eine eigentliche philosophischsoziologische Strukturtheorie verfügte" 43 . Vielmehr ist das Gegenteil der Fall! c) Gegenüber den durch die Gierke'sche Interpretation der Rechtslehre des Althusius im Sinne eines vermeintlichen Kontraktualismus verzerrten, von der deutschen Staatsrechtslehre vielleicht ein wenig zu bereitwillig und unkritisch übernommenen Vorurteilsstrukturen vermochten andere, aus meiner Sicht sehr viel realistischere und sachgerechtere Beurteilungen der Normentheorie und des Rechtsbegriffs von Althusius, wie beispielsweise diejenigen von Reibstein 44 und Winters* 5, 41
Merzbacher (FN 40), S. 112. Hierzu vor allem: Hendrick J. van Eikema Hommes, Die Bedeutung der Staats- und Gesellschaftslehre des Johannes Althusius für unsere Zeit, in: Norbert Achterberg/Werner K r a w i e t z / D i e t e r Wyduckel (Hrsg.), Recht und Staat i m sozialen Wandel. Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag, Berlin 1983, S. 211—232, 214 f., 217. 43 Van Eikema Hommes (FN 42), S. 217. 44 Noch immer lesenswert: Ernst Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca. Untersuchungen zur Ideengeschichte des Rechtsstaates und zur altprotestantischen Naturrechtslehre, Karlsruhe 1955. 45 Peter Jochen Winters, Die ,Politik' des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen. Zur Grundlegung der politischen Wissenschaft i m 16. und i m beginnenden 17. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1963. 42
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zunächst gar nicht bzw. nur sehr schwer an Boden gewinnen. Gemessen an dem inzwischen fest etablierten kontraktualistischen Vor-Verständnis und den hieraus resultierenden Denkgewohnheiten mußte ihr i n ganz wesentlichen Punkten abweichendes, der Sache nach aber wohlbegründetes Verständnis von Althusius' Rechtsbegriff mit einer gewissen Zwangsläufigkeit als vermeintlich unzutreffend erscheinen. aa) Zu den Hauptleidtragenden dieser Epoche der Althusius-Forschung muß vor allem Reibstein gezählt werden, dem es zu Lebzeiten nicht gelang, mit seiner — zutreffenden — Deutung durchzudringen, daß der politischen Theorie des Althusius eine genuin „soziologische Konzeption der Politik", d. h. eine „Lehre vom Verhalten des Menschen in den Gemeinschaften und vom gegenseitigen Verhältnis der Gemeinschaften innerhalb einer übergeordneten Gemeinschaft" zugrunde gelegen habe, in deren Rahmen die „Vertragsform" als maßgebendes Strukturelement seiner Gemeinschafts- und Rechtslehre nur „zu einer Nebenrolle" gelangt sei 46 . bb) Sehr viel systematischer und politiktheoretisch wie sozialwissenschaftlich fundierter hat Winters in seinen zu einer neuen Beurteilung und Bewertung 47 gelangenden Untersuchungen 48 sich mit Grund (i) gegen alle „Versuche (gewandt), das Werk des Althusius auf eine bestimmte Tradition einseitig festzulegen" 49 , und (ii) darauf aufmerksam gemacht, daß in dessen Gemeinschafts- und Rechtslehre etwaige kontraktualistische Bestandteile keinen prominenten Stellenwert 50 einnehmen, weil es sich dabei im wesentlichen um etwas anderes, d. h. „um etwas Neues" handele 51 . Ferner sei nach Althusius' Auffassung (iii) das „Wesen des Politischen" — und dies ist Winters' eigentliche Zentralthese! — zu erblicken „ i m Zusammenleben der Menschen in Lebensgemeinschaften, das sich nach bestimmten Regeln vollzieht" 5 2 . Zutreffend erkennt Winters in Althusius' Werk den „ersten systematischen Versuch, eine ethisch-moralphilosophisch ausgerichtete und also normative Wissenschaft von der Politik aufzubauen", die dieser folgerichtig als „Teil der praktischen Philosophie" verstanden habe. Ihre 48
Reibstein, Johannes Althusius (FN 44), S. 84 ff., 86 f., 89. Hierzu vor allem das i n F N 45 zitierte Werk des Autors. 48 Dazu und zum folgenden vgl. ferner: Peter Jochen Winters, Johannes Althusius, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker i m 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht, F r a n k f u r t a. M. 1977, S.29—50. 49 Winters, Johannes Althusius (FN 45), S. 29 f. 50 Ebd., S. 31 ff., 33 f., 39: „ F ü r die theoretische Figur des Gesellschaftsoder Sozialvertrages findet sich i n dem politischen Lehrbuch des Althusius kein Anknüpfungspunkt." 51 Ebd., S. 34. 52 Ebd., S. 30 f. 47
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„Hauptthemen" erblicke Althusius infolgedessen in „Fragen nach a) der Entstehung und der Struktur der Gemeinschaften, in denen der Mensch lebt, b) den Regeln und Gesetzen, nach denen diese Gemeinschaften ausggerichtet sind und c) nach Entstehung, Ausübung und Beschränkung der Herrschaft von Menschen über Menschen" 53 . cc) Dies ist auch nach meiner Auffassung eine im wesentlichen zutreffende Umschreibung des Problem- und Gegenstandsbereichs. Ich hätte dem lediglich hinzuzufügen, daß bei dessen näherer Bestimmung in Zukunft Althusius' Theorie des Rechts und der Gerechtigkeit, wie sie sich in seiner Dicaeologica darstellt bzw. vorausgesetzt findet, neben seiner Politica eine sehr viel stärkere Berücksichtigung finden müßte, doch dürfte Winters, wenn ich recht sehe54, dieser Forderung wohl zustimmen können 55 . d) Der entscheidende Durchbruch zu einer grundsätzlichen Neuorientierung in der Althusius-Forschung wurde jedoch erst ermöglicht durch einige Untersuchungen von Scupin, in denen er nicht nur vorsichtige K r i t i k am überkommenen Kontraktualismus übte, sondern vor allem in soziologischer wie in logisch-methodologischer Hinsicht einige neue, für die Beurteilung von Althusius' Gesamtwerk maßgebende Gesichtspunkte beisteuerte. Nach Auffassung von Scupin ist Althusius „nicht einfach als naturrechtlicher Vertragstheoretiker anzusehen", weil die Existenz der bestehenden politischen Institutionen für ihn nicht bloßer Anlaß für und Gegenstand von Konstruktionen ist, sondern „Ausfluß eines Vitalproblems" 5 0 . Auch habe letzterer stets „auf die in der Realität vorhandenen Gruppen" abgestellt und — wenn überhaupt — die „Theorie vom pactum unionis mit (so) geschickter Hand" verwendet, „daß ihre heuristische Funktion deutlich zu merken" war 5 7 . Offensichtlich sei es ihm darauf angekommen, „auf diese Weise einen vorhandenen, empirisch feststellbaren Sachverhalt rational zu erklären" 5 8 . Ferner konnte Scupin mit Blick auf die „Denkvoraussetzungen und politische(n) Gegebenheiten" zu Lebzeiten des Althusius darauf verweisen, daß dieser seine Gesellschaftskonstruktion nicht auf eine 53
Ebd., S. 31 f. Ebd., S. 32 f. 55 Ebd., S. 33. 56 Hans Ulrich Scupin, Untrennbarkeit von Staat und Gesellschaft i n der Frühneuzeit. Althusius und Bodin, in: Friedrich Kaulbach/Werner K r a w i e t z (Hrsg.), Recht und Gesellschaft. Festschrift für H e l m u t Schelsky zum 65. Geburtstag, Berlin 1978, S. 637—657, 642 f. 57 Dazu und zum folgenden: Hans Ulrich Scupin, Demokratische Elemente in Theorie und Praxis des Johannes Althusius, in: A. M. C. H. Reigersmanvan der Erden/G. Zoon (Hrsg.), A Desirable World. Essays i n Honor of Professor Bart Landheer, The Hague 1974, S. 67—78, S. 72 f. 58 Scupin, Demokratische Elemente (FN 57), S. 73. 54
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„normative deduzierende" Denkweise gestützt habe, sondern auf die „induktiv schließende" Denkweise und Methodik des Ramus. Auch sei Althusius nach seiner ganzen Persönlichkeit wie seinem beruflichen Werdegang „für die Beobachtung von Tatsachen in ihrem funktionellen Zusammenwirken offenbar stets bereit gewesen" 59 . Vermutlich sei ihm dabei als „Erforscher gesellschaftlicher Fakten" die genuin „empirische Erkenntnisweise und die induktive Logik des Ramus" gerade deswegen zustatten gekommen, weil sie ihn „durch ihre Rationalität befähigt (habe), auch die Funktion dieser Fakten in ihrem Zusammenwirken zu verstehen und an der politischen Wirklichkeit" zu messen60. I n der Tat war es Althusius auf diese Weise schon früh gelungen, „über die Tatsachen des Zusammenlebens von Menschen in bestimmten Ordnungen erneut und in — mindestens teilweise — neuen Kategorien nachzudenken" 61 . e) Eine kritische Auseinandersetzung mit dem neuen Kontraktualismus hat in der zeitgenössischen Althusius-Forschung, wenn ich recht sehe, bis auf den heutigen Tag ebensowenig stattgefunden wie eine ausreichende K r i t i k der alten tradierten Vertragstheorien. Nur Carl Joachim Friedrich, der in seine Untersuchungen zu Althusius' „Theorie der Politik" auch dessen Gerechtigkeitslehre einbezieht, stellt insoweit eine gewisse Ausnahme dar, da er — wenn auch nur ganz am Rande 62 — auf Rawls' „Theorie der Gerechtigkeit" Bezug nimmt 6 3 . Bezeichnenderweise erwähnt Friedrich jedoch in diesem Zusammenhang die Vertragstheorie überhaupt nicht, da er die Parallele zwischen Althusius und Rawls — m. E. mit Grund! — gar nicht in irgendwelchen Annahmen über einen allem gemeinschaftlichen Tätigwerden irgendwie zugrundeliegenden bzw. zugrunde zu legenden (hypothetischen, fiktiven) Sozialvertrag erblickt, sondern in den von beiden Autoren vorgelegten, allerdings — wie hier zu betonen ist! — höchst unterschiedlichen Gerechtigkeitstheorien. Ein derartiger Vergleich wird, wie wohl auch Friedrich meint, in der Tat nahegelegt durch den von Rawls zuerst in „Justice as Fairness" (1958)04 geäußerten Gedanken, daß der Begriff 59 Ebd., S. 71, 74; Scupin, Untrennbarkeit von Staat und Gesellschaft (FN 56), S. 640 ff. 60 Ders., Demokratische Elemente (FN 57), S. 70. 81 Ders., Untrennbarkeit von Staat und Gesellschaft (FN 56), S. 640. 82 Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk (FN 5), S. 84 Fn. 37. 83 Bezeichnenderweise zitiert Friedrich, ebd., nicht einmal den berühmten, schon 1958 erschienenen Aufsatz von: John Rawls, Justice as Fairness, zuerst in: The Philosophical Review 67 (1958), S. 164—194, sondern dessen Beitrag: Constitutional L i b e r t y and the Concept of Justice, in: Carl J. Friedrich/John W. Chapman (Hrsg.), Justice, Nomos Bd. V I , New York 1963, S. 98—125. 64 Die wichtigsten Vorarbeiten zu Rawls' Gerechtigkeitstheorie sind enthalten i n dem von Otfried Höffe herausgegebenen Sammelwerk: John
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der Gerechtigkeit wesentlich auf dem Gedanken der Fairness beruhe 85 . Offensichtlich hat Friedrich, der — insoweit Althusius folgend — davon ausgeht, „daß zum Zusammenleben eine besondere Einstellung" (virtus symbiotica) erforderlich ist 86 , von Rawls' hierzu angestellten kontraktualistischen Gedankenexperimenten nicht eben viel gehalten, denn er bemerkt 67 nur, mehr kurz als bündig: „Fairness ist ein schwer zu übersetzender englischer Begriff, der die Rücksichtnahme auf den anderen und auf die beiden gemeinsamen Werthaltungen betont." Implizit ist das zugleich eine Absage an jede Form von Vertragstheorie. Es liegt auf der Hand, daß mit derartigen Einstellungen bei Althusius nur die dem wirklichen Zusammenleben zugrundeliegenden normativen Einstellungen und Werthaltungen gemeint sind — und nicht irgendwelche bloß vernünftigen, hypothetischen oder fiktiven! Der Unterschied zwischen den Auffassungen von Althusius und Rawls, dem Friedrich im obigen Zusammenhang gar nicht weiter nachgeht, würde somit vor allem darin zu erblicken sein, daß Rawls die vielfältigen und diffusen Elemente unseres intuitiven Gerechtigkeitsverständnisses aus n a t ü r lichen', d. h. allgemein akzeptierbaren Voraussetzungen nach dem Denkmuster des Vertrages ,vernünftig' abzuleiten, logisch konsistent darzustellen und systematisch zu begründen sucht, während Althusius demgegenüber — mit Blick auf das Recht und dessen ethische Würdigung! — wohl eher eine an den bereits geltenden Sozialnormen orientierte und empirisch fundierte, induktive Denkweise, aber gleichwohl rationale Argumentationsstrategie verfolgte. 3. Für Althusius' politische Theorie („Politica") und seine hierauf gestützte Gerechtigkeitslehre („Dicaeologica") sind in erster Linie nicht irgendwelche natürlichen' oder zumindest vernünftigen', von wem auch immer gefaßten Vorstellungen darüber ausschlaggebend, wie eine adäquate Gerechtigkeitskonzeption beschaffen sein müßte, auf die sich freie Menschen, die keine Herrschaft übereinander ausüben, geeinigt hätten oder doch zumindest hätten einigen können, vorausgesetzt sie wären überhaupt bereit gewesen, sich zu einer gemeinschaftlichen Tätigkeit zusammenzutun und sich vorab auf irgendwelche Regeln zu einigen, die ihre wechselseitigen Pflichten und Rechte vorschreiben und fixieren. Vielmehr geht es Althusius — genau umgekehrt und demzufolge ganz anders als den alten wie den neuen Vertretern eines KonRawls, Gerechtigkeit als Fairness, Freiburg-München 1977. Vgl. ferner als ausgereifte Version der zahlreichen Teilbeträge: ders., A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1971; dtsch. Eine Theorie der Gerechtigkeit, F r a n k f u r t 1975. 65 Spätere Arbeiten als die in F N 63 zitierte werden von Friedrich nicht erwähnt. 68 Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk (FN 5), S. 84. 67 Ebd., S. 84 Anm. 37.
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traktualismus! — hauptsächlich darum, das in allem menschlichen Gemeinschaftsleben bereits geltende und wirksame Recht, letzteres hier verstanden als Ausfluß eben dieses gemeinschaftlichen Zusammenlebens, zu erfassen, zu beschreiben und zu deuten, um es — ausgehend von seinen elementaren Bestandteilen, aus denen es sich aufbaut — in seiner Struktur und seiner Funktionsweise als soziale Herrschaftsordnung zu verstehen und, soweit überhaupt möglich, mit den rationalen M i t t e l n und Verfahrensweisen der Wissenschaften (unter Einschluß der Philosophie) zu erklären und zu begründen. Selbstverständlich kann ein derart anspruchsvolles Unternehmen nur gelingen, wenn man alles Recht, letzteres hier verstanden i m weitestmöglichen, alle Arten („species") von Recht einschließenden Sinne, behandelt oder, mit anderen und besseren, nämlich den eigenen Worten von Althusius formuliert, das ganze i m Gebrauch befindliche Recht („Totum et universum ius, quo utimur") einbezieht, wie es schon i m Untertitel seiner Dicaeologica sehr treffend heißt. Noch klarer hätte Althusius die seiner politischen Theorie wie seiner Gerechtigkeitslehre zugrunde liegende und durchaus pragmatische, im wesentlichen normativ-realistische, aber nicht positivistische Rechtskonzeption wohl kaum darlegen können. Denn für ihn geht es gar nicht primär um eine vorgefaßte, wie auch immer vorverstandene, bloß ,vernünftige 4 Gerechtigkeitstheorie, der sich sekundär alles wirkliche bzw. mögliche (gegenwärtige und künftige) Recht zu fügen hätte, sondern — genau umgekehrt — in erster Linie, einzig und allein um das von Menschen für Menschen gemeinschaftlich geschaffene Recht, letzteres hier verstanden als politisch-soziales Phänomen, dem sich auch die mit den rationalen Methoden der Wissenschaften wie der Philosophie zu erarbeitende Gerechtigkeitskonzeption zu fügen hat. Offensichtlich haben aber auch schon früher Theologen und Moralphilosophen versucht, die Gerechtigkeit ohne das Recht — gleichsam von außen her, zunächst bloß ihrer Vernunft folgend — zu begründen, um erst dann die bereits entwickelte Konzeption auf das schon gegebene Recht zu übertragen und sie ihm gleichsam als Fertigprodukt überzustülpen. Jedenfalls wendet sich Althusius schon in seiner für die Bedürfnisse alltäglicher Konversation und gemeinschaftlicher bürgerlicher Lebensführung verfaßten, von seinem Vetter Philipp zuerst 1601 herausgegebenen, kleinen Ethik 68 ganz unmißverständlich gegen ein derartiges Vorgehen, wenn er i m Hinblick auf das Verhältnis von Recht (ius) und Gerechtigkeit (iustitia) bemerkt: „Quis enim, quaeso, exacte scire poterit quid sit iustitia, nisi prius quid sit ius cognoverit eiusque species? Ex iure enim iustitia." 68 Johannes Althusius, Civilis conversations l i b r i Duo: Methodicé digesti et exemplis sacris et profanis passim illustrati. E d i t i â Philippo Althusio, Hanoviae 1601, S. 10.
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I I I . Monismus oder Pluralismus der sozialen Regelsysteme des Rechts? Angesichts der Dichte, Kohärenz und Konsistenz, aber auch der Reichhaltigkeit der von Althusius vorgelegten politisch-rechtlichen Theorie des Gemeinschaftslebens muß sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit die kritische Frage aufdrängen, ob ihr nicht — bei aller Betonung der geschichtlich-gesellschaftlich bedingten Rechtserfahrung und der Rationalität seines induktiven, prozedural kontrollierten und logisch gesicherten Vorgehens — die geheime Tendenz zu einem religiösen, etatistischen oder rechtlichen Monismus innewohnt, der die gesamte Konzeption seiner Theorie in gewisser Weise diskreditiert, wenn nicht gar zum Scheitern bringt, weil ein monistisches Verständnis der diversen sozialen Regelsysteme des Rechts mit der von ihm vorgenommenen, genuin pluralistischen gesellschaftlichen Grundlegung seiner Theorie letzten Endes nicht kompatibel ist. I n der Tat könnte darin — trotz aller Konzessionen, die Althusius an die jeweilige Eigenart der diversen sozialen Gesellungsformen und der mit ihnen korrespondierenden rechtlichen Regulative des menschlichen Gemeinschaftslebens macht — ein gewichtiger Einwand gegen die soziale Adäquatheit seiner Theoriebildung erblickt werden. Es dürfte jedoch nützlich sein, schon vor Eintritt in die detaillierte Prüfung der hier angedeuteten möglichen Einwände gegen Althusius' Theorie der Normen und des Rechts — eben gerade weil dies häufig übersehen wird! — darauf hinzuweisen, daß es eine Sache ist, etwaige Normen gegebenenfalls aufgrund von praktischen Kriterien aus Gründen einer übersichtlichen Darstellung in Systemen zu gruppieren, wie Althusius dies in seiner Jurisprudentia Romana (zuerst 1586 bzw. 1588), seiner Politica (zuerst 1603) und seiner Dicaeologica (zuerst 1617) tut; aber eine ganz andere ist es, die derart dargestellten Normen in ihrem jeweiligen sozialen Systemzusammenhang und im Hinblick auf ihre diversen Entstehungs- und Geltungsgrundlagen sowie ihre objektiven Eigenschaften zu bestimmen, eingehend zu beschreiben und zu klassifizieren. Von diesen beiden Aufgaben geht es mir im folgenden nicht um erstere, sondern um letztere. Auch wird dabei der Verdacht eines heimlichen Monismus nicht mit Bezug auf erstere, sondern nur im Hinblick auf letztere zu klären sein. 1. Was die Tendenz zu einem religiösen Monismus angeht, so entwickelten sich bekanntlich mit der Reformation auch diverse Theologien, denen jeweils die Überzeugung zugrunde lag, daß es eine irgendwie ,geordnete' und ,richtige' Reformation geben müsse. Während diese sich im Falle Luthers in einem Zusammenwirken mit den Landesfürsten vollzog und, indem sie die Konfession in einem Territorium vom Willen des jeweiligen Landesherrn abhängig machte, den Souveränitätsbestre-
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bungen der nationalen Monarchien zum Durchbruch und zur Bestandssicherung verhalf, führte die theologische Neuorientierung im Falle Zwingiis und Calvins aufgrund der Lehre von der göttlichen Prädestination allen gesellschaftlichen und staatlichen Lebens mit der Geltungserstreckung des reinen Evangeliums auf den sozialen und politischen Bereich zu einer Verchristlichung aller politisch-sozialen Ordnungen des menschlichen Gemeinschaftslebens, die dem reinen Evangelium, letzteres hier verstanden im Sinne der reformierten Theologie, einen imperativen oder besser normativen Charakter einräumte. Es lag somit durchaus in den Konsequenzen dieser Auffassung, daß das politische Gemeinwesen, insbesondere der Staat, nicht bloß weltliche, sondern — eben wegen dieses religiösen Hintergrundes! — auch geistliche Aufgaben zu erfüllen hatten. Und selbstverständlich war auch, diesem gewandelten Gemeindeverständnis zufolge, jedes Gemeindemitglied in Stadt und Land für diese politisch-sozialen, aber in ihrem eigentlichen Geltungsgrunde religiös gerechtfertigten Ordnungen verantwortlich. Praktisch wie politisch-theoretisch bedeutete dies, verstanden als Alternative zum zentralistischen Machtstaat des Absolutismus mit seinem politisch-gesellschaftlichen System, daß der Staat sich nicht nur durch eine evangeliumsgemäße Verfassung begründen und legitimieren, sondern auch von den Gemeinden hei aufbauen mußte. Die der Gemeinde kongeniale staatliche Ordnung ist für Althusius die Republik (respublica), obwohl er die Eigenarten und Konsequenzen der Demokratie (democratia) kennt und bedenkt. Alle diese Umstände dürfen bei einer zureichenden Würdigung von Althusius' Theorie der Gemeinschaft und des Rechts selbstverständlich nicht außer Betracht bleiben, können aber auch nur nach Maßgabe ihres jeweiligen praktischen und theoretischen Stellenwertes berücksichtigt werden. a) Geht man davon aus, daß zu den Regeln und Gesetzen, nach denen der Mensch lebt und an denen das menschliche Gemeinschaftsleben orientiert ist, auch das göttliche Recht gehört oder doch zumindest gehören kann, das in den Zehn Geboten0" zum Ausdruck gelangt, dann muß sich auch jede politische Ordnung an den Geboten Gottes orientieren und evangeliumsgemäß rechtfertigen lassen, das heißt Maßstab aller politisch-sozialen Ordnungen des menschlichen Gemeinschaftslebens wird durchgängig das Evangelium, das in der Tat auch der reformierten Theologie als Ausgangspunkt diente. Letzteres geriet damit in ein Konkurrenzverhältnis zum Recht und zur Jurisprudenz. Ganz in diesem Sinne ist für Althusius der Wille Gottes die für alles und alle maßgebliche Richtschnur. (Regula vivendi, obtemperandi, & administrandi, est sola Dei voluntas, quae est via vitae, & lex faciendorum & 69 Eingehend hierzu: Politica, cap. X X I , Nr. 23 et sequ., p. 408 ff.; Nr. 27, p. 410 ff.
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ommittendorum.) 70 Sie ist verbindliche Lebensregel für Obrigkeit wie Untertanen. (Ergo lex sola non tantum magistratui rationem administrandi, sed etiam omnibus subditis regulam vivendi praescribit.) 71 Aber zugleich macht Althusius deutlich, daß diese Vorschrift sich nur auf das bezieht, was zu einem frommen, heiligen, gerechten und angemessenen Lebenswandel gehört. (Regula haec, quae est sola Dei voluntas in lege sua hominibus manifestata, lex vocatur, quae est in genere praeceptum de faciendis iis, quae ad pie, sancte, iuste, commodeque vivendum pertinent.) 72 Auch beziehe sie sich darauf nur in sehr grundsätzlicher Weise. Von einem religiös begründeten Monismus allen gemeinschaftlichen Rechts im weitesten Sinne kann somit schon deshalb nicht die Rede sein, weil neben dem göttlichen Recht das menschliche, von der Obrigkeit gesetzte, zumindest partiell eigenständige Recht (ius proprium, lex propria) 73 maßgebend ist und bleibt. Auch ist und bleibt letzteres, da es den jeweiligen, sich ständig wandelnden Umständen Rechnung tragen muß, selbst stetiger Veränderung unterworfen (lex propria mutabilis) 74 . b) Gerade wegen seiner zumindest partiellen Diskrepanz gegenüber dem göttlichen bzw. dem gemeinen Recht (Commune igitur ius est, quod a natura, vel Deo immediate hominum mentibus est inscriptum, & ad quod faciendum, vel omittendum, Uli ab eodem moventur) 75 kann das von der Obrigkeit geschaffene Recht (Proprium ius est, quod ex iure communi pro Reipubl. alicuis certae utilitate & necessitate, aliisque circumstantiis conceptum, a magistratu constituitur) 76 nicht nur einen weiteren Ansatz- und Ausgangspunkt, sondern auch einen zusätzlichen Geltungsgrund dafür bilden, daß — gegenüber einem immerhin denkbaren und möglichen, religiös begründeten, etwaigen Monismus — von vornherein eine Vielzahl und Vielfalt von im menschlichen Gemeinschaftsleben wurzelnden, durch ihr je eigenes Recht (consociatio symbiotica, ius symbioticum) 77 regulierten, jeweils durchaus eigenständigen sozialen Systemen bestehen bleiben. Letztere sind insgesamt Bestandteile einer ganz und gar nicht monistischen, sondern — wenn überhaupt — durchaus pluralistischen Ordnung des politisch-gesellschaftlichen, geistlich-weltlichen Gemeinwesens. Diese Diskrepanz wird freilich 70
Ebd., Nr. 16, p. 403. Ebd., Nr. 17, p. 404. 72 Ebd., Nr. 18, p. 405. 73 Ebd., Nr. 30, p. 414. 74 Vgl. hierzu: Ebd., Nr. 30 und 33, p. 394; Nr. 33, p. 416. 75 Dicaeologica, Lib. I, cap. X I I I , Nr. 11, p. 36. 76 Dicaeologica, Lib. I, cap. X I V , Nr. 1, p. 38. 77 Politica cap. I, Nr. 10, p. 4; cap. I I , Nr. 6, p. 14; cap. V, Nr. 5, p. 60. Z u m Begriff der Konsoziation vgl. Politica, cap. I, Nr. 2, p. 2; cap. I I , Nr. 14, p. 16; cap. V, Nr. 1 und 2, p. 59. 71
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erst dann vollends deutlich, wenn man — anders als die bisherige A l t husius-Forschung! — nicht mehr so sehr den Gedanken einer religiös begründeten, geistlich-weltlichen Einheit des Gemeinwesens betont, die angeblich das Rechtsdenken von Althusius charakterisiere, sondern ganz im Gegenteil sehr viel stärker als bisher die in rechtstatsächlicher und rechtsbegrifflicher Hinsicht bestehende Diskrepanz zwischen verschiedenen Schichten des Rechts erkennt, von der er ganz offensichtlich ausgeht (ius proprium mutabile et inconstans; discrepantia cum iure communi necessaria) 78. Auch betont Althusius mit Grund, wie hier hervorgehoben werden muß, den durchaus wandelbaren, geschichtlich-gesellschaftlichen Charakter des von der Obrigkeit geschaffenen Rechts. (Propria haec lex, alia apud Judaeos in politia Judaica: alia apud Romanos: alia apud alios populos, & alia apud Germanos hodie. Quamvis pleraeque omnes Europae politiae utantur Iure Romano.) 79 Denn es konnte einem Politiker, Verwaltungsfachmann und Juristen, wie ihm, naturgemäß gar nicht verborgen bleiben, daß der Bestand des ius commune durch den sich ständig verändernden des ius proprium fortlaufend modifiziert wurde. (Communis igitur lex in genere praecipit: propria vero determinat, & pro usu, utilitate Reipub. & circumstantiis negotii cuiusque accomodat.)80 Folgerichtig betont er in seiner Theorie des Gemeinschaftslebens und des Gemeinschaftsrechts die wachsende Diskrepanz, die sich im Laufe der Zeit dadurch ergeben mußte, daß den Grundsätzen des gemeinen Rechts im Wege der permanenten Schaffung obrigkeitlichen Rechts laufend etwas abgezogen bzw. hinzugefügt wurde. (Discrepantia est, qua in adcommodatione ad particularia negotia a iure communi proprium nonnihil recedit, aliquid eidem addendo vel detrahendo.) 81 c) Von einem religiös begründeten, monistischen Rechtsdenken des Althusius kann auch deswegen nicht die Rede sein, weil er in ständiger Orientierung an dem praktischen und theoretischen Stellenwert allen Rechts im menschlichen Gemeinschaftsleben sich zugleich stets um eine sorgfältige Abgrenzung von einem religiös-politischen bzw. theologischen Denkansatz bemüht in der sicheren Erkenntnis, daß eine Verwechslung oder gar Vermischung mit der genuin politisch-rechtlichen Problemsicht der Jurisprudenz (iuris scienta) 82 , um deren klare Herausarbeitung es ihm hier allenthalben geht, sowohl seine praktischpolitischen, seine politiktheoretischen wie seine rechtswissenschaftlichen Erkenntnisanliegen diskretieren müßte. 78 79 80 81 82
Dicaeologica, Lib. I, cap. X I V , Nr. 2, 5 und 9, p. 38 f. Politica, cap. X X I , Nr. 33, p. 416. Ebd., p. 416. Dicaeologica, Lib. I, cap. X I V , Nr. 5, p. 39. Dicaeologica, Lib. I, cap. I, Nr. 2, p. 1.
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aa) Infolgedessen geht Althusius, mit Grund davon aus, daß der Dekalog™, bezogen auf das menschliche Verhalten, jedenfalls soweit er das gemeinschaftliche Zusammenleben der Menschen reguliert, wie dies vor allem in den Vorschriften der zweiten Τα/el 84 geschieht, durchaus politisch ist. (Nam materia Decalogi etiam politica est, quatenus symbioticam vitam regit, & in ea quid faciendum sit, praescribit.) 85 Dies ist ganz sicherlich zutreffend, weil damit nicht bloß ein frommes, sondern auch ein gerechtes Verhalten im zwischenmenschlichen Zusammenleben vorgeschrieben wird (Docet enim haec piam & iustam vitam!), das sich nicht nur auf die Gott geschuldete Frömmigkeit zurückführen läßt, sondern auch auf das, was sich aus der symbiotischen Eigenart des mitmenschlichen Zusammenlebens ergibt (Piam, erga Deum; iustam, erga symbioticos) 86 . I n diesem Sinne erscheint es durchaus richtig, die dem göttlichen Recht zuzurechnenden Zehn Gebote, trotz ihres primär religiös begründeten Gehalts, ihrer Funktion und Wirkung nach gleichfalls als durchaus politisch zu charakterisieren. (Omnia igitur & singula Decalogi praecepta sunt politica & symbiotica.) bb) Gleichwohl geht es hier nicht um eine notwendig und ausschließlich theologische Problemsicht, im Hinblick auf welche Althusius vorgeworfen werden könnte, er habe damit seine Grenzen als Jurist überschritten und gegen das Gesetz der Homogenität 87 verstoßen. Vielmehr behandeln, wie Althusius zutreffend ausführt, Theologen, Ethiker und Juristen die Vorschriften des Dekalogs kraft der ihrem jeweiligen Fach eigenen Kompetenz jeweils aus ihrer spezifischen Fachperspektive, ohne daß eine Vermischung von Politik, Jurisprudenz und Theologie stattfindet. (Sed & Jurisconsulti atque Ethici de negotiis Decalogi utriusque tabulae tractant, at cuilibet arti & professioni suae convenienter & accomodate, ut non misceat mere theologica, vel politica.) 88 Dies gilt auch für die Jurisprudenz, die — unabhängig von Politikwissenschaft und Theologie — bezüglich der Normen der Religion wie derjenigen des Rechts ihre durchaus eigenständigen Fachinteressen verfolgt. (Ut igitur doctrina Decalogi generalis in Politica essentialis, homogenea & necessaria est: sie specialis & particularis ad singularia & individua accomodata, est Jurisprudentiae propria: piam vero & salutarem ad vitam aeternam Decalogi doctrinam, quae paedagogus sit ad Christum, Theologia sibi recte vindicat.) 83
Politica, cap. X X I , Nr. 23 et sequ., p. 408 ff. Ebd., Nr. 27, p. 410 ff. Ebd., Nr. 41, p. 423. Hü Dazu und zum folgenden: ebd., p. 423. 87 Ebd., Nr. 41, p. 423. 88 Dazu und zum folgenden: ebd., S. 424. M
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2. Nach einer anderen, vor allem im rechtswissenschaftlichen Schrifttum weit verbreiteten Deutung liegt Althusius' Theorie der Gemeinschaft und des Rechts — gleichsam als Grundthese — die Annahme zugrunde, daß alles menschliche Gemeinschaftsleben sich aufbaut und entwickelt in einer gestuften Ordnung von diversen, sich immer mehr erweiternden, d. h. eine immer größere Anzahl von Mitgliedern und ein immer größeres Territorium umfassenden Vereinigungen und Personenverbänden, die — formuliert und verstanden in der politisch-rechtlichen Steuerungssprache des Althusius als „private" oder „öffentliche" Konsoziationen 89 — sich schließlich zum Staat (politia, imperium, regnum, res publica) formieren als dem umfassendsten politischen Gemeinwesen (Universalis, publica, maior consociatio est, qua civitates & provinciae plures ad ius regni mutua communicatione rerum, operarum, mutuis viribus & sumptibus habendum, constituendum, exercendum & defendendum se obligant) 90 . Offensichtlich kann man, zumindest tendenziell, in einer derartigen Stufenordnung von Konsoziationen, die durch den Staat als die alle anderen umfassende Konsoziation gekrönt wird, so etwas wie einen etatistischen oder rechtlichen Monismus erblicken, vorausgesetzt man ist bereit, die zweifellos auch zu beobachtende, relative Eigenständigkeit der übrigen, dem Staat mehr oder weniger unterund eingeordneten Konsoziationen zu ignorieren. Schon im römischen Recht wie in Kanonistik, Legistik und Publizistik war jedoch höchst umstritten, wie die diversen Erscheinungsformen körperschaftlicher Verbandsbildung bis hin zum neuzeitlichen Staat in ihrem politischgesellschaftlichen Wesen zu begreifen und zu deuten seien 91 . Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß Althusius eben diese Deutungen, zu denen auch eine derartige Stufenbautheorie der Gemeinschaften und des Rechts gehörte, durch seine gesellschaftstheoretisch fundierte Normen· und Rechtstheorie revolutioniert hat, doch wurde die Verbreitung seiner tiefgreifend gewandelten, neuen Problemsicht durch die überkommenen Denkgewohnheiten arg behindert. a) Es muß hier gesagt werden, daß vor allem Gierke, trotz oder gerade wegen seiner außerordentlichen Verdienste um die Wiederentdeckung des Althusius, die in ihren Voraussetzungen und ihren Folgen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, leider auf das Verständnis seiner Werke bis auf den heutigen Tag eher verflachend eingewirkt hat. Es ist ganz einfach ein kapitales Mißverständnis, das die empirischen wie geschichtlich-gesellschaftlichen Grundlagen von A l t 89
Politica, cap. I I , Nr. 14, p. 16 f.; cap. IV, Nr. 1, 2, 3, 4, p. 44 f. Politica, cap. I X , Nr. 1, p. 167. 91 Eingehend hierzu: Werner Krawietz, Körperschaft, in: Joachim Ritter et al. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel-Stuttgart 1974, Bd. 4, Sp. 1101—1134, 1116 ff. eü
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husius' Theoriebildung verkennt, wenn Gierke meint, für Althusius habe sich ein „rein naturrechtlicher Gesellschaftsaufbau (ergeben), i n welchem Familie, Berufsgenossenschaften, Gemeinde und Provinz als nothwendige und organische Gliederungen zwischen Individuum und Staat stehen" 92 . Auch geht es hier ganz und gar nicht darum, daß jeder weitere Verband bis hin zum Staat „sich zunächst immer aus den korporativen Einheiten der engeren Verbände zusammensetzt und erst durch deren Mittel ihre Glieder ergreift". Gierke ist hier ganz einfach, wie eingangs dargelegt, einer vorgefaßten, aber verfehlten Auffassung vom Stellenwert der ramistischen Logik im Werke des Althusius erlegen, denn es geht i m Bereich von Politik, Recht und Gesellschaft hier nirgendwo um Naturrecht oder gar Natur und Notwendigkeit, sondern immer nur um Kontingenzen, die anderwärts ebensogut anders ausfallen können. Gierke verwechselt somit die Erfordernisse einer systematischen, d. h. logisch-kohärenten Darstellung mit der weder notwendigen noch zwingenden Eigenart politisch-sozialer Regelsysteme des Rechts, die Althusius als einer der ersten als solche identifiziert, klar erkannt und systematisch herausgearbeitet hat. Es ist daher einfach falsch und irreführend, wenn Gierke — offensichtlich präokkupiert und ganz unter dem beherrschenden Eindruck s.einer vorgefaßten, von ihm selbst gewählten, aber mit Blick auf die soziale Wirklichkeit des Gemeinschaftslebens gänzlich unzureichenden, rein konstruktiven Idee — behauptet, bei Althusius stellten sich „immer wieder die unausbleiblichen mechanisch-kollektivistischen Konsequenzen der individualistischen Vertragsbasis ein und hindern die vorhandenen Keime der organisch-einheitlichen Auffassung an voller Entfaltung" 9 3 . Es gibt bei Althusius keinen derartigen Monismus — weder im Sinne eines Etatismus, d. h. einer notwendigen Entwicklung zum Staat, die letzteren als Entwicklungs- und Endprodukt eines gleichsam organischen Wachstumsprozesses und damit als „generisch gleichartig" ausweisen könnte, noch im Sinne eines rechtlichen Monismus, da er ganz offensichtlich höchst unterschiedliche Arten und Formen der Rechtsbildung kennt und unterscheidet. Und ganz sicherlich hat Althusius mit seiner Option für die ramistische Logik, die ihm nur als Mittel systematischer Darstellung diente, sich nicht zugleich für eine natur- oder vernunftrechtstheoretische Entwicklungslogik organizistischer Provenienz stark machen wollen. Dies zeigt sich schon in den Untertiteln seiner Werke 94 , aber 92 Dazu und zum folgenden: Gierke, Johannes Althusius und die E n t w i c k lung der naturrechtlichen Staatstheorien (FN 13), S. 244. 93 Ebd., S. 244, Anm. 43. 94 Hierzu vor allem die U n t e r t i t e l der Politica und der in F N 68 zitierte Untertitel seiner kleinen Ethik. Worum es Althusius in W i r k l i c h k e i t geht, wenn er der Geschichte exemplarisch Fälle entnimmt, w i r d deutlich i n : Politica, cap. X X I , Nr. 13, p. 402: Doctrina vero ex liberalibus hausta, exemplis historicis omnino est illustranda. 27 R E C H T S T H E O R I E ,
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auch in seiner ins Detail gehenden Argumentation, in der er nicht müde geworden ist, zu betonen, daß die Geschichte — aus der von ihm gewählten, mit Mitteln der ramistischen Logik dargestellten Perspektive betrachtet — nicht mehr ist als eine Sammlung von Fallbeispielen (exempla) aus einer im übrigen offenen Klasse von politischgesellschaftlichen Möglichkeiten. b) Es kann hier freilich nicht darum gehen, die in den diversen Werken des Althusius zweifellos enthaltene Theorie der Rechtsentwicklung, insbesondere der Evolution des Rechts, zu rekonstruieren bzw. zu reformulieren. Daß es sich bei den obigen Ausführungen gleichwohl nicht um bloße Mutmaßungen handelt, zeigen die ganz eindeutigen Stellungnahmen von Althusius im letzten Kapitel seiner Politica. Dort macht er ganz unmißverständlich deutlich, daß die Entwicklung der diversen Konsoziationen und des zu ihnen gehörenden Rechts gewöhnlich von den einfachsten über immer kompliziertere bis hin zu den höchsten Formen menschlicher Vergesellschaftung verläuft. (Nam negari non potest, ex pagis & urbibus provincias, ex hisce vero Respub. & Regna constituta.) 05 Zugleich macht er aber darauf aufmerksam, daß eine derartige Entwicklung keineswegs notwendig ist. (Atque hae consociationes symbioticae, tanquam primae per se subsistere possunt etiam sine provincia, vel regno.) 96 Notwendig ist nach Althusius' Auffassung nur, daß die Lehren über das symbiotische Zusammenleben dieser Entwicklung Rechnung tragen. (Necessario igitur doctrina de vita symbiotica coniugum, propinquorum, collegiorum, civitatum & provinciae, antecedit earn, quae est de regno vel universali consociatione symbiotica, a priore orta & ex ea composita.) Dies ist ganz sicherlich ein berechtigtes Anliegen, das auch vom Standpunkt einer Theorie und Soziologie allen Rechts gar nicht nachdrücklich genug betont werden kann, besagt aber nichts über die vermeintliche Notwendigkeit der beschriebenen Entwicklung oder gar eine organizistisch verstandene Entwicklungslogik. Es gibt dafür keinerlei Anzeichen! c) Nach allem stellt die in Althusius' Politica enthaltene Theorie des neuzeitlichen Staates, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann und braucht 97 , nur eine Teiltheorie und damit nur einen Spezialfall dar, der im Rahmen seiner umfassenderen politisch-gesellschaftlichen Theoriebildung, die auch eine Theorie des Rechts impliziert, keinesfalls verabsolutiert werden darf. Es wäre deshalb gänzlich verfehlt, wollte man seine Theorie des Staates und des zugehörigen Rechts identifizieren mit seiner politischen Theorie schlechthin, weil letztere M 98 97
Politica, cap. X X X I X , Nr. 84, p. 966. Dazu und zum folgenden: ebd., p. 967. Hierzu: Krawietz, Körperschaft (FN 91), Sp. 1117 ff.
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sich — neben Staat und Kirche — auf eine Vielzahl und Vielfalt sonstiger Gemeinschaften, sozialer Gruppierungen und Systembildungen (species consociationis) 08 erstreckt. Da der neuzeitliche Staat ganz ohne jeden Zweifel erst ein Spätprodukt der gesellschaftlichen Entwicklung in Europa ist, kann man in der Tat, wie Althusius es tut, zwischen primären und sekundären Konsoziationen (Talis consociatio merito prima vocari potest, & reliquae omnes ab hac ortae) 99 unterscheiden, die ihrerseits als gesellschaftliche Bestandteile der politisch-rechtlich schon strukturierten institutionellen Realität — nach der von ihm vertretenen Theorie der Entwicklung von Gesellschaft und Recht — zugleich die Grundlage für weitere Konsoziationen abgeben können, aber nicht müssen. (Nam sine prima hac reliquae esse non possunt, neque consistere.) 100 Auch bilden diese Konsoziationen eigenständig das ihrer jeweiligen sozialen Natur gemäße Recht aus (Propriae leges sunt cuiusque consociationis peculiares, quibus illa regitur) 101 , das sich nach der A r t der jeweiligen Konsoziationen unterscheidet (Atque hae in singulis speciebus consociationis aliae atque diversae sunt, prout natura cuiusque postulat) 102 . Bilden aber die primären Konsoziationen zugleich die Basis für alle weiteren, dann ist auch die Primärquelle aller Rechtsbildung nicht der Staat, sondern die Gesellschaft, letztere hier aber nicht verstanden als eine diffuse monistische Einheit, sondern als ein Geflecht von Konsoziationen höchst unterschiedlicher Art, die eine pluralistische Ordnung darstellen. Und selbstverständlich sind die Ansatz- und Ausgangspunkte der gesellschaftlichen Entwicklung nicht nur in den privaten 103, sondern auch in den öffentlichen 104 Konsoziationen zu finden (Nam societas humana certis gradibus ac progressionibus minorum societatum a privatis ad publicas societates pervenit) 105 , die ihrerseits auf der Basis des von ihnen selbst geschaffenen Rechts (ius symbioticum) in fortlaufender Orientierung an selbstgesetzten Zwecken in eben diesem Zweckhandeln ihre durchaus eigenständige Identität entwickeln und institutionell auf Dauer stellen (nec personarum singularum mutatione variatur, sed substitutione aliarum perpetuatur; mori non dicitur, quoad una persona superest; consociatio immortalis) 108 . 98 Eingehend hierzu das von Althusius seiner Politica vorangestellte „Schema Politicae", das einen Uberblick über die diversen Konsoziationen bietet. Vgl. ferner: Politica, cap. I I , Nr. 1, p. 12. 99 Politica, cap. I I , Nr. 2, p. 13. 100 Ebd., p. 13. 101 Politica, cap. I, Nr. 19, p. 7. 102 Ebd., p. 7. 103 Politica, cap. I I , Nr. 14, p. 16 f., cap. IV, Nr. 1, p. 43 f. 104 Politica, cap. V, Nr. 1 und 6, p. 59 f. 105 Ebd., p. 59. 108 Vgl. hierzu: Politica, cap. V, Summarium, Nr. 3, p. 57; ebd., Nr. 3, p. 59. 2 *
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Alle derartigen sozialen Systembildungen, die ihre Aktivitäten im Wege der Institutionalisierung und der Selbstorganisation ihres jeweiligen Systemhandelns auf Dauer stellen, sind — da unabhängig vom laufenden Wechsel der jeweiligen Verbandsmitglieder — selbst wiederum verläßliche Elemente für den Aufbau komplizierterer Sozialordnungen. Sie bedürfen abschließend einer, mangels Raum hier freilich nur kurzen Betrachtung. IV. Hierarchie oder Heterarchie der sozialen Regelsysteme des Rechts? Die eingangs von mir kritisierte Staatszentriertheit der modernen Althusius-Forschung, die seit jeher — präokkupiert durch ihr ausgeprägtes Interesse am staatlich 107 organisierten Rechtssystem oder an zwischenstaatlichen 108 Inter-System-Beziehungen — den Relevanzbereich ihrer Forschungs- und Erkenntnisinteressen vorwiegend an diesen Gegenstandbereichen orientiert und bemißt, erscheint in normenund gesellschaftstheoretischer Hinsicht vor allem deswegen als problematisch, weil sie infolge ihrer gegenständlichen Beschränkung dazu neigt, die von ihr eingenommene, vorwiegend endogene Betrachtungsweise des staatlichen Gemeinwesens, seiner arbeitsteiligen Organisations- und Herrschaftsstruktur sowie ihres Verhältnisses zu allen M i t gliedern dieses Gemeinwesens zu verabsolutieren. Oberflächlich betrachtet mag es vielleicht so aussehen, daß bestimmte, mehr oder weniger straff geführte Kommunikations- und Organisationssysteme, wie die Gemeinden, die Provinzen bzw. Territorien sowie das Reich, aufgrund einer Reihe von institutionalisierten, organisierten und verfahrensmäßigen Vorkehrungen zumindest im Rechtssinne als eine einzige hierarchisch gestufte und geschichtete H err schaftsorganisation erscheinen, die dem gesamten politischen System nicht nur den Anstrich eines gewissen Monozentrismus gibt, sondern auch den Anschein einer A r t zentraler Kontrolle zu erwecken vermag. In Wirklichkeit ist die politische Gesellschaft, die Althusius zu beschreiben, verstehend zu deuten und zu erklären sucht, alles andere als ein homogenes organisches 107 Nicht von ungefähr überwiegen dabei nach wie vor genuin staatsrechtliche bzw. staatstheoretische Fragestellungen, wie beispielsweise die Souveränitätsproblematik, Probleme der Staatsform, insbesondere der demokratischen Willensbildung, der Gewaltenteilung usf. Vgl. hierzu die auch insoweit repräsentative Auswahlbibliographie am Ende dieses Bandes. 108 Hierzu vor allem die Kontroverse zwischen: Thomas O. Hüglin, Johannes Althusius: Medieval Constitutionalist or Modern Federalist?, in: Daniel J. Elazar, Federalism as Grand Design, Philadelphia 1979, S. 4—41; ders., Althusius, Federalism and the Notion of State, in: I I Pensiero Politico 13 (1890), S. 225—232; Demetrio Neri, Antiassolutismo e federalismo nel pensiero d i Althusius, in: I I Pensiero Politico 12 (1979, S. 393—409).
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System im Sinne Gierkes 109 , das sich in seinem organisatorischen Aufbau als hierarchisch geordnete und zentral kontrollierte Einheit verstehen ließe. 1. Für Althusius ist alles Recht, wie dargelegt, stets symbiotisches Recht, d. h. ein Produkt des gesellschaftlichen Zusammenlebens, ohne das der Mensch gar nicht existieren könnte. (Sed bene vivere sine societate homo qui potest? . .. Sibi subvenire nequit, nisi alio interv e n i e r e & iuvante.) 110 Infolgedessen gibt es in seiner politischen Theorie, wie in seiner Normentheorie und Gerechtigkeitslehre, kein Monopol des Staates für Rechtserzeugung. Vielmehr setzt genau umgekehrt die Existenz des Staates, wie alles übrige menschliche Zusammenleben, das Bestehen von Gesetzen voraus. (Ergo lex sola non tantum magis t r a t e rationem administrandi, sed etiam omnibus subditis regulam vivendi praescribit.) 111 Die Funktion von Gesetz und Recht kann darin erblickt werden, das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen im weitesten Sinne zu regulieren. (Ex quibis constat, leges seu iura, in humana societate esse tanquam saepes, muros, custodias vitae nostrae, & viam institutam ad sapientiam, felicitatem & tranquillitatem in societate humana, nos ducentem.) 112 2. I n seinen Analysen des Aufbaus der verschiedenen privaten und öffentlichen Konsoziationen hat Althusius von Anfang an ganz unmißverständlich deutlich gemacht, daß mit der bloßen Schaffung formaler Organisationen wenig gewonnen ist, wenn der gesellschaftliche Untergrund, in oder auf dem sie operieren, ignoriert wird. Dies gilt selbstverständlich auch für alle Recht erzeugenden Aktivitäten im Rahmen der diversen Konsoziationen. Zwar zeigt das Gesetz dem Menschen, was er zu tun bzw. zu lassen hat, doch vermag es naturgemäß nicht seine eigene Anwendung zu regeln, so daß es vollzugsbedürftig bleibt. (Lex, quid faciendum, vel omittendum sit, indicat; sed ipsa non facit, vel exsequitur.) 113 Begreift man das Gesetz (lex) wie Althusius es tut, als Regel des menschlichen Zusammenlebens (régula vivendi), die sich aber zugleich — wenigstens implizit — auch an die staatliche Organisation und deren Behörden (Huius exsecutionis faciendae gratia magistratus constitutus est, ut sit ille lex vivens, minister & custos legis mutae) 114 richtet, dann muß vor allem die Anwendung durch den Ma109
Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (FN 13), S. 244. 110 Zit. nach der 1. Aufl. der Politica von 1603, cap. I, p. 1. Das Zitat fehlt in der 2. Aufl. von 1610! 111 Politica, cap. X X I , p. 404. 112 Politica, 4603, cap. X V I , p. 203. 113 Politica, cap. X X I X , Nr. 14, p. 613. 114 Ebd., p. 613.
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gistrat sichergestellt werden. Aufgabe des Magistrats ist es, die allgemeinen Vorschriften des jeweils geltenden Rechts in der fortlaufenden Rechtsanwendung (administratio iustitiae) den jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. (Lex circumstantias generales habet, u t i medicina: sed magistratus, uti optimus medicus, adhibita temperamenti aegroti distinctione, pharmaca sua adhibet, causarum auditis, circumstantiis propriis, iudicat, & legibus negotia adcommodat.) 115 3. I n dem Maße, in dem Althusius im Hinblick auf die Ausübung von Rechtsfunktionen auf allen Entscheidung s ebenen konsozialer Rechtsbildung auch die jeweiligen Lebensumstände und Anwendungsbedingungen des geltenden Rechts berücksichtigt, wird deutlich, daß die hieraus resultierende gesamtgesellschaftliche Steuerung und Kontrolle mit Mitteln des Rechts nicht länger einseitig und allein als ein hierarchisch gegliedertes, aber monozentrisches Mehrebenensystem von diversen, jedoch abhängigen, miteinander kooperierenden Entscheidungsstellen verstanden werden kann, sondern mindestens zugleich auch unter dem Aspekt einer wirklichen/möglichen Heterarchie relativ autonomer Entscheidungsträger gewürdigt werden muß. I n seiner Theorie der Politik und des Rechts wird klar erkennbar, daß Gesellschaftssysteme — hier nicht als organizistische, diffuse Einheit verstanden, sondern im Sinne des Konsozialismus als eine Vielzahl von diversen relativ unabhängigen, privaten wie öffentlichen Akteuren und Entscheidungsträgern (consociationes) — im wesentlichen nicht hierarchisch, sondern heterarchisch gebaut sind. In derartigen Systemen gibt es, wie Althusius mit seinem, durch die K r i t i k an den Souveränitätslehren seiner Zeit geschärften Blick erkennt, weder eine hierarchische Spitze noch ein Zentrum, von dem aus zugleich eine zentral wirksame Kontrolle des gesamten Systems ins Werk gesetzt werden könnte, sondern stattdessen eine Vielzahl von adaptions- und entwicklungsfähigen Konsoziationen höchst unterschiedlicher Rechtsform (collegium, universitas usf.), die im Verhältnis zueinander allenfalls partiell, aber nicht allesamt zu einer Intra-System-Organisation zusammengeschlossen werden können. Infolgedessen ist, wie Althusius hervorhebt, nur ein Teil der politischen Funktionen symbiotischen Zusammenlebens im organisierten politischen Gemeinwesen hierarchisch geordnet 116 , während sie im übrigen anderen Konsoziationen vorbehalten bleiben. 117 Was die Koordination dieser divergierenden Entwicklungen angeht, so muß auch der Ge115
Ebd., p. 613. Beispielsweise i m Rahmen der Universalis maior consociatio, die A l t husius aber bezeichnenderweise und m i t Grund i n die consociatio secularis bzw. ecclesiastica gliedert. 117 Zu denken ist hier vor allem an Familie, private Konsoziationen, Kirchen pp. 116
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danke aufgegeben werden, sie künftig i m Rahmen einer neu zu schaffenden Intra-System-Organisation hierarchisch ordnen zu wollen. Derart umfassende Systemzusammenhänge können, wenn sie adaptions- und entwicklungsfähig bleiben sollen, nicht sämtlich hierarchisch geordnet werden, sondern müssen der Heterarchie fluktuierender Inter -SystemBeziehungen überlassen bleiben, die eine direkte, gleichsam von oben nach unten erfolgende Steuerung und Kontrolle praktisch ausschließen. Was ferner bleibt, ist die rechtliche Kontrolle nach Maßgabe des für die jeweilige Konsoziation geltenden Rechts. (Nam quod Deus est in mundo, quod in navi gubernator, quod in curru agitator & director, quod in choro praecentor, quod dux in exercitu, hoc est lex in civitate, sine qua nec domus ulla, nec civitas, nec Respub. nec mundus stare potest.) 118 Vielleicht sind heute zum ersten Male in der langen Wirkungsgeschichte von Althusius' Gemeinschaftsdenken die sozialen Bedingungen dafür gegeben, daß seine Theorie eines genuin gesellschaftlichen Rechts, das den Staat nicht notwendigerweise voraussetzt, unverstellt von den eingangs genannten Vorurteilen rezipiert werden kann. Wir kennen inzwischen eine ganze Reihe von im wesentlichen staatsfreien Gesellschaften, in denen keine staatlich organisierte Entscheidungsbürokratie existiert, aber gleichwohl ein sozial etabliertes Rechtssystem seine W i r k samkeit entfaltet. Und schließlich gibt es heute in der Dritten Welt zahlreiche politische Systeme, in denen das Wiedererwachen eines religiösen Enthusiasmus und der damit verbundene Anspruch der Religion, auch in der Politik eine Rolle zu spielen, Anlaß dafür bieten, das kritische Augenmerk verstärkt auf die religiös-politischen Wurzeln des menschlichen Gemeinschaftslebens zu richten, die auch nach der Säkularisierung des Verhältnisses von Religion und Recht bedeutsam bleiben.
118
Politica, cap. X, Nr. 8, p. 193.
P O L I T I K ALS ZWEITE REFORMATION: DIE HISTORISCHE SITUATION DER „POLITICA" DES JOHANNES ALTHUSIUS Von Walter Sparn, Wolfenbüttel Der politischen Philosophie geht es wie der Metaphysik — sie scheint wie diese, die sich freilich selber der Zeit überhoben denkt, ohne weiteres aus ihrer historischen Situation gelöst, auf ihre Leistungsfähigkeit als theoretisches Modell geprüft und im Horizont einer ahistorischen Metatheorie rekonstruiert werden zu dürfen. Sich zu streiten, ob eine solche Rekonstruktion i m Falle der „Politica" des Althusius erlaubt sei oder nicht, ist schwer; denn die Hermeneutik des Historischen, unter deren Voraussetzung der Streit geschlichtet oder wenigstens sinnvoll geführt werden könnte, ist gegenwärtig nicht jedermann erschwinglich. Darum sei das aktuelle Interesse selbstkritisch gewendet und in seinem Vermögen zur Geltung gebracht, nicht nur die partikularen Fakten, sondern auch das, was den Schein des Universalen und Theoretischen hat, zunächst in seinen historischen Kontext zurückzustellen. Nicht, worin das politische Modell des Althusius der Übertragung durch die Zeiten hin hindurch fähig sei, sondern nach seinem Zusammenhang mit der eigenen Zeit soll im folgenden gefragt werden — ganz historisierend, doch darum nicht weniger interessiert. I. Protestantische Schulphilosophie I m Vorwort von 1603, aber auch noch im Vorwort von 1614 grenzt Althusius die Politik als eine besondere, durch einen eigentümlichen und zusammenhängenden Gegenstandsbereich gekennzeichnete wissenschaftliche Disziplin von den anderen Wissenschaften und Künsten aus. Doch darf man darum nicht schon von einer ,Emanzipation' der Politik sprechen. Beide Vorreden, in denen übrigens auch der rhetorische Gestus der Wichtigkeit in Abzug zu bringen ist, unterscheiden und verknüpfen die verschiedenen Disziplinen zugleich. I n der früheren Vorrede liegt der Ton auf der Unterscheidung, ohne daß geleugnet würde, was diese an Nachbarschaft und Gemeinsamkeit der Disziplinen voraussetzt, und in der späteren Vorrede ist die Absicht nach wie vor, einen besonderen Wissensbereich „Politik" auszusondern und in ihm das „rein Theologische,
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Juristische und Philosophische", also die den oberen Fakultäten und den anderen freien Künsten eigentümlichen Gegenstände unberücksichtigt zu lassen. Beidesmal geht es darum, bislang zerstreute, aber sachlich zusammenhängende Fragen, Meinungen und Anweisungen in „Verfahren" und „Ordnung" angemessen zusammenzustellen, d. h. in einer besonderen Disziplin eigenen „Zwecks" und „Wesens", der dieses Wissen darum „essentiell" und „homogen" ist. Nicht anders als beispielsweise der andere berühmte Herborner, J. H. Aisted, in seinem „Cursus Philosophici Encyclopaedia" (1620), verfolgt Althusius damit ein durchgehendes und erklärtes Interesse der zeitgenössischen Wissenschaftslehre, auf die er sich denn auch sogleich bezieht, wenn er die methodica docendi ratio einer Politik juxta Logicorum praecepta einrichten will 1 . Für den wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang der „Politica" ist dabei zunächst unerheblich, daß man im beginnenden 17. Jahrhundert Anhänger der ramistischen oder Anhänger der aristotelischen Logik und Methodologie sein konnte. Denn die Aussonderung einer wissenschaftlichen Disziplin nach dem Kriterium der Essentialität und Homogeneität charakterisiert ebensogut die ramistische Vorstellung von Wissenschaft als topisches System wie ihre aristotelische Vorstellung als einer konklusiven Argumentation, wie sie im italienischen Peripatetizismus, ebenfalls im ausgehenden 16. Jahrhundert, ausgebildet worden war. Die „Politica" gehört so oder so der Entwicklung der protestantischen Schulphilosophie an, die um 1600 insgesamt zu einer neuen Konzeption von Wissenschaft übergeht 2 . 1. I n bestimmter Hinsicht bedeutet dieser Ubergang allerdings keinen Bruch mit der ersten, methodologisch und institutionell maßgeblich von Ph. Melanchthon bestimmten Ausgestaltung der philosophischen Disziplinen an den Hohen Schulen der protestantischen Territorien. Diese Konzeption zeichnete vor allem aus, daß sie „Philosophie" als den Inbegriff alles theoretischen und praktischen Wissens verstand, das nicht Theologie darstellte, d. h. nur Erfahrung und Vernunft, nicht aber Offenbarung zum Ausgangspunkt und zum Stoff hatte, und dessen Ausbildung auf endliche, irdische Zwecke ging. Die Philosophie war darum eine von der Theologie verschiedene und auf ihrem eigenen Feld von 1 Johannes Althusius, Politica methodice digesta et exemplis sacris et profanis illustrata, Herborn 1603, Praefatio (Zitat p. 2); Editio tertia, Herborn 1614, Praefatio (Zitat p. 2). 2 Vgl. Peter Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie i m protestantischen Deutschland, Leipzig 1921, N D Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, bes. S. 195 ff., 259 ff.; Walter Sparn, Wiederkehr der Metaphysik, Stuttgart 1976, S. 23 ff.; Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983, bes. S. 67 ff.
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der Theologie unabhängige, eine „natürliche" oder „weltliche" Wissenschaft — die aber gerade als solche, wenn ich so sagen darf, sub specie Theologiae stand. Denn es war die Theologie, welche die möglichen Zwecke von Wissenschaft überhaupt bestimmte und auch die Möglichkeit und den Sinn der Philosophie begründete: Sie verbürgte letztgültig die Kompetenz des Trägers von Philosophie, nämlich der von Gott geschaffenen Vernunft. Die Theologie stellte daher die Instanz der Unterscheidung zwischen Theologie und Philosophie dar, damit den hermeneutischen Horizont der Bestimmung nicht nur dessen, was Theologie, sondern auch dessen, was nicht Theologie heißen mochte; sie hatte, mit anderen Worten, leitwissenschaftliche Bedeutung für Wissenschaft überhaupt. Diesen Anspruch hat die vorneuzeitliche reformatorische Theologie beider Konfessionen programmatisch erhoben, und sie hat ihn bis ins späte 17. Jahrhundert in ihrem Geltungsbereich auch realisieren können. Die unter ihrer Ägide gepflegte Philosophie ist ihren wissenschaftstheoretischen, -soziologischen und -politischen Bedingungen nach Schulphilosophie, zugeordnet den religiösen und politischen Bildungsbedürfnissen protestantischer Territorialstaaten. Schon ihrem Selbstverständnis nach gehört Althusius' „Politica" dieser protestantischen Schulphilosophie zu: Sie stellt eine bestimmte Ausprägung der Zuordnung von Vernunft und Glaube, von Wissenschaft und Christentum dar. Die dem Werk in allen Auflagen beigedruckte, im wesentlichen gleichlautende Lobrede „De utilitate, necessitate et antiquitate Scholarum" (1603) führt das klar vor Augen. I n Position und Argumentation, ja bis in den Stil und die humanistischen Zitate völlig melanchthonisch, erklärt sie die Nützlichkeit der Schulen und der in ihnen überlieferten Künste als Werkstätten der Frömmigkeit und der Tugend gleichermaßen, und ihre Notwendigkeit, nach dem für Weisheit und Tugend schlimmen Sündenfall, als Pflanzstätte der Kirche und des Staates gleichermaßen. Speziell „Theologie" und „Politik und Jurisprudenz" sind die artes practicae, ohne welche dieses und jenes Leben nicht bestehen kann. Althusius versäumt nicht zu betonen, daß die Theologie die „Wissenschaft der Wissenschaften" sei und den Zweck zeige, an den alle anderen Künste „angrenzen" müßten. Daß diese Verknüpfung von „weltlicher und göttlicher Bildung", wie hier ausdrücklich gesagt3, nicht bloß äußerliche Panegyrik ist, zeigt die „Politica" selbst, die im Kapitel I X die communio symbiotica universalis regni den beiden Tafeln des göttlichen Gesetzes bzw. den Tugenden der pietas und der 3 Johannes Althusius: De utilitate, necessitate et antiquitate Scholarum Admonitio panegyrica (1963), zit. nach: Politica, Ed. tertia, p. 969—1003, hier p. 978; vgl. Gerhard Menk, Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584— 1660). Ein Beitrag zum Hochschulwesen des deutschen Kalvinismus i m Zeitalter der Gegenreformation, Wiesbaden 1981, bes. S. 197 ff.
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iustitia entsprechend, in kirchliche und weltliche Gemeinschaft aufgegliedert, deren Ziele, das Heil der Seele bzw. des Körpers, und deren Mittel, Gottesdienst und Sorge für dieses Leben, damit unterschieden aber auch einander zugeordnet werden. Die Legitimation dafür ist nicht politischer, sondern religiöser Natur: Die Einrichtung und Unterhaltung der öffentlichen Schulen, die beiden Gemeinschaften dienen, ist ein jus majestatis Ecclesiasticum 4. Die Zuordnung von sacrae literae und artes humaniores, die Althusius' politische Philosophie voraussetzt, schließt ganz und gar aus, daß seine Politik von der Theologie, in deren Geltungsbereich sie formuliert ist, sich ,emanzipieren' kann oder auch nur will. 2. Der Zusammenhang der „Politica" mit der zeitgenössischen, theologisch legitimierten Konzeption von Wissenschaft ist noch enger. Zwar gibt die leitwissenschaftliche Bedeutung der Theologie den philosophischen Disziplinen keine Inhalte des Wissens vor, verlangt aber i m einzelnen Fall die mögliche Zuordnung ihres Wissens auf Themen und Positionen der Theologie. Das w i r k t sich auf die Anthropologie, auf die Kosmologie und auf die (natürliche) Theologie aus; speziell in der praktischen Philosophie auf die Ethik und auf die Politik, insofern hier die möglichen Ziele und die geforderte Sittlichkeit des menschlichen Handelns festzulegen sind. Die Anthropologie, die Althusius' Politik unterstellt, steht selbstverständlich in der Tradition der antiken, selber im Zusammenhang des politischen Denkens entstandenen philosophischen Anthropologie, die den Menschen als ein Wesen definiert, das aus Mangel und Hilfsbedürftigkeit, also zum Zweck der Selbsterhaltung und -Verteidigung unvermeidlich mit anderen Menschen zusammenleben muß, somit von Natur und aus Instinkt ein animal sociale ist (I 3 f., 24, 32). Diese Annahme w i r d jedoch sogleich mit der theologischen Feststellung verknüpft, Gott habe die Menschen ungleich begabt, um sie zur Vergesellschaftung zu nötigen, und mit der apostolischen Mahnung, der Mensch habe nicht für sich selbst zu leben, sondern habe das Wohl seiner Mitmenschen zu besorgen, bis hin zum Rechts verzieht; er sei also des Mitmenschen Diener, homo hominis minister. Darum kann Althusius nicht nur sagen, daß das tätige Leben dem beschaulichen vorzuziehen sei, sondern kann auch und darüber hinaus, vielen biblischen Beispielen folgend und , polemisch gegen das mönchische Leben sich wendend, von einer sittlichen Verpflichtung zur activa politica vita ausgehen (I 22, 24 f., 27 f.). Zu diesen positiven und privativen Aspekten kommt noch der negative, die 4 Johannes Althusius, Politica, Ed. tertia, cap. I X , η. 28, 31 f., 38—40; vgl. Schema A. I m folgenden werden K a p i t e l und Abschnitte dieser Ausgabe i m Text belegt.
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Rücksicht auf die sittliche Mangelhaftigkeit der Einzelnen und insbesondere der Menge. Die Überlegungen zur Natur und zu den Sitten des Volkes verbinden wiederum die ethnologische Überlieferung und ihre zeitgenössische Ausgestaltung mit theologischen Argumenten, etwa der göttlichen Erziehungsabsicht angesichts schlechter Nachbarn, vor allem aber mit dem biblischen Argument aus der Geschichte des populus Judaicus ( X X I I I 1 ff., 13, 17, 21). Die Zuordnung von säkularer und theologischer Argumentation ist ebenso deutlich im Blick auf die moralische Qualifikation der politischen Praxis. Wie das Vorwort von 1614 ankündigt, müssen die göttlichen Gebote des Dekalogs als Lebensgeist, Licht und Maß der menschlichen Gesellschaft auch in der Politik behandelt werden. Ohne daß diejenigen Sachverhalte des Dekalogs berührt würden, die auf wesentlich theologische, ethische oder juristische Zwecke gehen, bestimmt sich doch der allgemeine Begriff des Gesetzes in der menschlichen Gemeinschaft überhaupt in einem theologischen Horizont, nämlich als handelnd v o n der praxis
tabulae
secundae
Decalogi
( X 1). G e w i ß bedeutet das
nicht, daß der Staat sich an die lex propria Judaeorum, welcher der Dekalog ja angehört, im ganzen und unterschiedslos bindet; Althusius verteidigt nicht nur die Abschaffung des gesamten mosaischen Zeremonialgesetzes in einem christlichen Staat, sondern auch die der unnütz und ungerecht gewordenen forensischen Gesetze ( X I I 5—8). Gleichwohl ist der Dekalog, der selbstverständlich die sittliche Billigkeit des allgemeinen, natürlichen Gesetzes ausdrückt und auch deshalb ewig und seiner Natur nach unveränderlich ist, als positives Recht insofern nicht abgeschafft, als es gerade für Christen gültig ist: mittelbar, nämlich als paedagogus ad Christum, und unmittelbar, als ihnen durch den Heiligen Geist ins Herz gepflanzt und erneuert ( X X I 29, 41). Das gerechte Handeln und Leben, das die staatliche Gesetzgebung zum Ziel hat, mißt seine Gerechtigkeit daher gewiß an einem natürlichen Recht und an seiner sittlichen Billigkeit, sie ist aber ihrerseits über die Goldene Regel (Mt 7, 12), mit der Christus den Dialog ausgelegt und zusammengefaßt hat, an die göttliche Gesetzgebung, d. h. an die biblische Tradition geknüpft (I 23; X 4, 7). Daß diese Verknüpfung ein Gefälle hat, ergibt sich klar aus dem Verhältnis der zweiten Tafel des Dekalogs zur ersten, das unfraglich das einer Unterordnung ist. Althusius definiert den Staat ausdrücklich säkular — seine Ursache ist die Übereinstimmung und der Vertrag der beteiligten Bürger, sein Wesen ist die Vergesellschaftung durch Austausch von Gütern, Leistungen und Rechten (I 2, 7, 28—30) —, aber seinen Zweck, die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft, als säkularen und religiösen zugleich: als einen unmittelbaren zeitlichen und als einen mittelbaren, auf das ewige Leben bezogenen: (vita ) in qua possis sine errore
et quietè Deo inservire
( I 30).
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So entscheidet Althusius die Frage, ob der Dekalog in die politische Wissenschaft gehöre, ausdrücklich positiv: Alle und jedes einzelne seiner Gebote sind politisch und symbiotisch, insofern sie gemeinschaftliches Leben und Handeln vorschreiben. Also ist die Behandlung des Dekalogs in der Poltik essentiell, homogen und notwendig — Theologie wird seine Behandlung erst, wenn über das äußerliche, bürgerliche Leben in Worten und Taten hinaus der Glaube und die richtige, heilige Zielsetzung des Denkens und Wollens in Frage stehen ( X X I 41). Diese politische Integration des Dekalogs, d. h. Zuordnung der Politik zur zweiten Tafel des Dekalogs, ermöglicht die Doppelung der schlechthin umfassend und öffentlich vorgestellten Sozietät und seiner doch als höchste gefaßten Rechtsgewalt in zwei umfassende Gemeinschaften und höchste Gewalten, eben in die der zweiten Tafel zugeordnete weltliche und die der ersten Tafel zugeordnete kirchliche Gemeinschaft (IX 28, 31). Erst die Unterscheidung des Willens Gottes nach ewigen und irdischen Zwecken des irdischen Lebens erlaubt es, die religiöse und die politische als ganz verschiedene, sich gleichwohl nicht ausschließende Tätigkeiten in ein und demselben Gemeinwesen zu unterscheiden. Die politisch beanspruchte Selbstunterscheidung des Religiösen, praktisch gewendet: die religiöse Verpflichtung zu politischer Gerechtigkeit, hat freilich den Preis, daß der Staat zwei Fundamente hat, also auf die Religion angewiesen ist (IX 28, 32; X X I 17 f.). Das macht seine innere Stärke aus, aber nur unter bestimmten religionsgeschichtlichen Umständen. I I . Die Reorganisation der Wissenschaften und ihr theologischer K o n t e x t
Althusius' Besonderung der Politik als einer wissenschaftlichen Kunst stellt bekanntlich keinen vereinzelten Vorgang dar. Um die Wende zum 17. Jahrhundert traten eine ganze Reihe von Lehrern an protestantischen Hohen Schulen mit Vorlesungen und Veröffentlichungen gleicher Absicht und vergleichbaren Inhalts vor, wie Otto Casman (1603), Henning Arnisaeus (1606), Rudolph Goclenius (1607), Bartolomäus Keckermann (1607), Johann Gerhard (1608), Balthasar Meisner (1611), Clemens Timpler (1612), Johann Heinrich Aisted (1612), Christoph Besold (1612/ 1614)5. Auch im ganzen stellt die Ausbildung einer politischen Disziplin keinen vereinzelten Vorgang in der Wissenschaftsgeschichte des frühen 17. Jahrhunderts dar. Die meisten der eben genannten Namen stehen zugleich für die wissenschaftliche Reorganisation in anderen philosophischen Disziplinen. A m wichtigsten sind dabei die Erneuerung der 5 Vgl. die Zusammenstellung bei Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die „Politica" des Henning Arnisaeus, Wiesbaden 1970, S. 10 f., 413 f.
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Logik, seis im ramistischen, seis im aristotelischen Sinn, und dies ergänzend die Entwicklung einer systematischen Metaphysik, einer „Ontologie", wie sie R. Goclenius 1613 nannte — die Einführung also eben der Realdisziplin in den Wissenschaftskanon, aus dem sie, für die protestantischen Universitäten maßgeblich, durch die melanchthonische Reform der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts verbannt worden war. Die Beweggründe für die Reorganisation der philosophischen Disziplinen nach etwa drei Generationen sind nicht nur vielfältig, sondern auch ineinander verschlungen; insbesondere dürfte es unmöglich sein, eigentlich philosophische und theologisch besetzte Motive reinlich zu trennen. Die Angehörigen der vierten Fakultät gingen zu dieser Zeit ohnedies sehr häufig und sobald als möglich in die erste über, und die libertas Philosophica, die Studien zu reorganisieren, versichert sich immer auch theologischer Formen der Legitimation 6 . 1. Die Theologie selbst löste sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts, zunächst die lutherische (die dafür dringendere dogmatische Motive hatte) und dann auch die reformierte, von der bisher gepflegten Methode. Seit Melanchthon war dies die sog. synthetische, welche die theologischen Stoffe in loci communes gliederte und quasi historisch, d. h. ihrer heilsgeschichtlichen Abfolge nach zusammengestellte. Sie wurde ersetzt durch die sog. analytische Methode, welche die Stoffe der Theologie, deren praktischem Zweck entsprechend, nach Ziel, Gegenstand und Mittel zur Erreichung dieses Ziels gliederte und ordnete. Die Methodologie als solche erlernten die Theologen vor allem von den Paduaner Aristotelikern, insbesondere von Jacobus Zabarella, und entwickelten sie dann ihrerseits aus dem neuedierten aristotelischen Organon; die praktische Zweckbestimmung von Theologie, seit der Reformation selbstverständlich, konnte damit viel bestimmter und folgerichtiger auch in ihrem wissenschaftlichen Verfahren zur Geltung kommen. Das Ergebnis der methodologischen Revision der Theologie war ein Trakat De natura Theologiae, den Traktaten über das Wesen der Logik, der Physik, der Metaphysik usw. entsprechend. In ihm wurde der wissenschaftliche Status und die wissenschaftliche Methode der Theologie diskutiert und die Theologie selbst als habitus practicus der Vernunft einerseits, als systema des zu ihrem praktischen Zweck nötigen Wissens andererseits definiert (das neue Wort „System" bedeutet selbstverständlich noch nicht den Begründungszusammenhang aller Inhalte, sondern deren Ordnung im Zusammenhang einer besonderen, durch ihren theoretischen oder praktischen Status finalisierten Disziplin des Wissens)7. 6 Vgl. Hans E. Weber, Die philosophische Scholastik des deutschen Protestantismus i m Zeitalter der Orthodoxie, Leipzig 1907; Max Wundt, Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1939, bes. S. 2 ff.; Sparn (FN 2), S. 6 ff.
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Die methodologische Reorganisation der Theologie haben beide protestantische Konfessionen erfolgreich betrieben. Diese Gemeinsamkeit ist jedoch geradezu der Ort konfessioneller Differenzierung. Für die lutherische Theologie sind die Neuerungen des frühen 17. Jahrhunderts erklärtermaßen ein wichtiges Mittel der Abdrängung der melanchthonischen dogmatischen Tradition, zunächst in einzelnen theologischen Loci, dann und abschließend aber auch in der theologischen Methode und in der Definition von Theologie. Hier bedeutete dies, kurz gesagt, die genauere Unterscheidung des Zweckes theologischer Praxis von dem ethischer Praxis. Für die reformierten Theologen vermag eben die methodologische Reorganisation der Theologie ihr melanchthonisches Traditionselement zu betonen, nämlich darin, die theologische Praxis zugleich als ethische beschreiben zu können, d. h. nicht als nur auf andere bezogenes Handeln (was streng aristotelisch gar nicht Praxis heißen dürfte), sondern als auch auf das praktische Subjekt selber sich richtende Tätigkeit. Die Lutheraner beziehen die praktische Fertigkeit „Theologie" auf die Führung der Sünder zum Heil, die Reformierten auf deren Kommen zum Heil. Dieser Unterschied tritt in den Definitionen der Zweckbestimmung von Theologie zutage, und er erklärt auch die Eindeutigkeit, mit der die Lutheraner die Theologie immer als scientia practica verstehen, während die Reformierten sie auch als ars klassifizieren können 8 . 2. Die wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen an den protestantischen Universitäten um 1600 gehören in der Tat mit der konfessionellen Fortentwicklung und Aufspaltung der reformatorischen Theologie zusammen. Bis in die siebziger Jahre des 16. Jahrhunderts waren die Bekenntnisse der einzelnen Kirchen diesen als einzelnen eigentümlich, nicht als verschiedengläubigen, und sahen sich daher im Einklang mit dem ersten und grundlegenden protestantischen Bekenntnis, der Confessio Augustana von 1530. Seit dem Versuch, eine bestimmte Fortschreibung dieses Ursprungs zu erreichen bzw. seine Auslegung festzustellen und damit den aktuellen theologischen Kontroversen ein Ende zu bereiten, also seit den sog. kryptocalvinistischen Auseinandersetzungen bzw. seit der Formula Concordiae von 1577, war die theologische und politische Verselbständigung zweier Konfessionen unvermeidlich. Auf reformierter Seite konnte man angesichts der reichsrechtlichen Nötigung, sich durch 7 I m einzelnen dargestellt bei Hans E. Weber, Der Einfluß der protestantischen Schulphilosophie auf die orthodox-lutherische Dogmatik, Leipzig 1908, ND Darmstadt 1969, S. 19 ff.; Johannes Wallmann, Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard und Georg Calixt, Tübingen 1961. 8 Die ausführlichste, sowohl die lutherische und die reformierte Position als auch die gesamte katholisch-scholastische Tradition aufarbeitende Diskussion des Theologiebegriffs findet sich bei Balthasar Meisner, Philosophia sobria, Pars I I I , Wittenberg 1623, p. 90—139. Vgl. Sparn (FN 2), S. 30 ff.
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das Augsburgische Bekenntnis zu decken, sich nicht auf die Polemik gegen die „Lutheraner", sie hätten das Bekenntnis verlassen, beschränken und lutherische Polemik bloß spiegeln, sondern mußte auch den Versuch der Verständigung mit den auf dem Boden des unveränderten Bekenntnisses zu stehenden meinenden Lutheranern unternehmen, also die Union zwischen den sich auseinander entwickelnden Kirchen anbieten. Das belegt, neben der Selbstbezeichnung „Reformierte" (statt „Calvinisten") oder der Einführung des Reformationsjubiläums 1617 durch die Pfälzer, eine ausgebreitete irenische Literatur deutlich genug 9 . Doch dienen beide Typen der Auseinandersetzung, oft in ein und demselben Traktat verbunden, der Auslegung und Fortentwicklung der reformiert-konfessionellen Identität. Der Explikation eines eigenen, Richtigen' theologischen Standpunktes sind selbstverständlich auch die lutherischen Theologen verpflichtet, die sich durch die politischen Fortschritte der Reformierten ohnedies bedroht fühlten und sich i n ihren schlimmsten Befürchtungen dann durch die Dordrechter Synode von 1619 bestätigt sahen. Die Theologie beider Konfessionen artikulierte sich nicht nur „positiv", sondern durchgehend auch „polemisch", und ihr philosophisches Instrumentarium wählte sie sich im Blick auf die kontroverstheologische Situation. So gibt es wohl keinen philosophischen Traktat, insbesondere keinen der Logik und der Metaphysik, der nicht programmatisch betont und exemplarisch nachweist, daß er zur besseren Verteidigung der konfessionellen Position nützlich sei. Es gibt ganze Werke, die behaupten, ohne Philosophie und Theologie zu vermischen nach der (unterstellten) theologischen Unrichtigkeit auch die philosophische Unhaltbarkeit der gegnerischen Position zu erweisen, und also die recta ratio für die eigene Position beanspruchen; durch alle philosophischen Disziplinen hindurch, von der Grammatik und der Logik über die Ethik und die Politik bis hin zur Physik und Metaphysik 10 . 3. Der Umfang der theologischen Beanspruchung der Philosophie war allerdings in beiden Konfessionen nicht sofort und völlig unstrittig, und dies führte auch innerhalb beider zu Streit um die „rechte Vernunft". Zwei dieser innerkonfessionellen Kontroversen müssen hier genannt werden. Die eine ist der Hofmann'sche Streit im lutherischen Helmstedt (1598—1601). Der Theologe Daniel Hofmann, der vordem mit philosophischen Traktaten über die Logik der Christologie gegen den reformierten Marburger R. Goclenius aufgetreten war, spitzte seine eigentümlich voluntaristische Christologie und den ihr entsprechenden ,positi9 Vgl. Hans Leube, Kalvinismus und L u t h e r t u m i m Zeitalter der Orthodoxie, Leipzig 1928, ND Aalen 1966, S. 39 ff. 10 Die ausführlichste Darstellung gibt wiederum Balthasar Meisner, Philosophia sobria, Pars I, Wittenberg 1611, p. 6—36: Quaestio Generalis: A n et quis sit Philosophiae i n Theologia usus?
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vistischen' Theologiebegriff zur These der duplex Veritas zu — eine These, mit der sich, im Unterschied zu einst, nicht die Philosophie, sondern die Theologie von der Verpflichtung auf die (göttlich verbürgte) Einheit von Wahrheit zu lösen versucht und eine „christliche Philosophie", d. h. eine biblische Dogmatik über die „aristotelische Philosophie" stellt. Dem Hofmannschen Vorstoß widersprachen die Helmstedter Philosophen erfolgreich; und zwar nicht schon auf dem besonderen Boden der in Helmstedt stärker als anderswo rezipierten humanistischen Tradition, für die vor allem der Name Johann Caselius steht, sondern allein auf dem Boden der von den lutherischen Theologen, auch von den humanismuskritischen Wittenbergern immer vorausgesetzten Zuordnung von „Vernunft" und „Offenbarung" als zweier zusammenstimmender Bücher aus der Hand Gottes. Die Philosophen setzten sich durch mit der theologischen F o r m e l supra
sed non
contra
rationem,
w i e sie v o n den
Statuten der Universität, gut melanchthonisch, verbindlich gemacht war und die der angerufene Landesherr gegen die Ansprüche des Theologen Hofmann erneut bekräftigte 11 . Nachdem die versuchte „Vermischung der Fakultäten" derart abgewehrt war, konnten die philosophischen Disziplinen unbehelligt ihren säkularen Zwecken dienen, beispielsweise der „Logik" und der „Metaphysik", wie Cornelius Martini und sein Schüler H. Arnisaeus (1603/1605/1606) oder der „Politik", wie wieder H. Arnisaeus, darin seinem Lehrer J. Caselius verpflichtet (1605/1606)12. Ob diese Helmstedter Entwicklung sich dem Humanismus der „Caselianer" verdankt, sei stark bezweifelt. Denn die genaue Unterscheidung eines weltlichen und eines heiligen Erkenntnisbereiches bzw. eines äußeren und eines inneren Handlungsgebietes war gut lutherisch; nicht zufällig haben die gleichen Entwicklungen auch an den anderen lutherischen Universitäten stattgefunden, in Wittenberg sogar besonders deutlich, und für sie alle ist der strenge Aristotelismus im Anschluß an die Paduanische Methologie kennzeichnend. Die andere hier zu nennende innerkonfessionelle Kontroverse, die den Umfang der theologischen Beanspruchung der philosophischen Disziplinen zum Gegenstand hat, spielte sich auf der reformierten Hochschule Herborn ab, zwischen Althusius und seinen theologischen Kollegen Johann Piscator, Wilhelm Zepper und Matthias Martinius (1601). I n ihr ging es, wie neuerdings zu Recht festgestellt worden ist, nicht um die Behauptung, die Regierung sei ermächtigt zu entscheiden, wieweit der 11 Vgl. Dreitzel (FN 5), S. 74 ff.; Walter Sparn, Doppelte Wahrheit?, in: Zugang zur Theologie, Festschrift für W. Joest, hrsg. v. F. Mildenberger u. a., Göttingen 1979, S. 53—78; zur Vorgeschichte vgl. Inge Mager, Lutherische Theologie und aristotelische Philosophie an der Universität Helmstedt i m 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Ges. f. Niedersächsische Kirchengeschichte 73 (1975), S. 83—98. 12 Vgl. Dreitzel (FN 5), S. 53 ff.
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Wille Gottes in der Bibel offenbart sei, sondern um die Frage, ob man die Politik nach dem kaiserlichen Recht oder nach Gottes Wort zu beurteilen und zu betreiben habe; und die Beteiligten einigten sich nach obrigkeitlicher Mahnung bald darauf, die hier aufgestellte Alternative abzulehnen. Gleichwohl blieb auch, wenn man das Mosaische Recht weder ganz erneuern noch ganz abschaffen wollte, ein Spielraum des Urteils darüber, wieweit dessen forensische Positionen bleibend vorbildlich und verpflichtend seien. Die theologischen Kollegen Althusius' neigten, wie an dem nicht ausgeräumten Dissens über die Todesstrafe an Dieben zu sehen ist, eher zur weiteren, Althusius zur beschränkteren Rezeption des Mosaischen Rechts ( X X I I 12)1S. Übrigens gab es an diesem Punkt auch unter Lutheranern gewisse Meinungsverschiedenheiten; ihre Theologen verteidigten die tatsächliche strafrechtliche Praxis bzw. die Constitutio Carolina zu Ungunsten des milderen Mosaischen Rechts — wie der reformierte Jurist Althusius. Nur daß die Begründung für sie der für die lutherische Theologie erklärtermaßen grundlegende Satz war: Omnis
lex forensis
Mosaica,
ut forensis,
abrogata
est u.
Daß L u t h e r a n e r n
und Reformierten die gleichen Probleme sich stellten, die sie aber unter verschiedenen Absichten lösten (so daß i m einzelnen Fall der lutherische Theologe mit dem reformierten Juristen einig gehen konnte), ist nun das genaueste Kennzeichen der historischen Situation, i n die Althusius' „Politica" gehört. I I I . D e r konfessionelle Charakter der „Politica"
1. Die Situation, welche die Ausbildung einer eigenen Disziplin der Politik an den protestantischen Universitäten auf ihre Weise zu bewältigen sucht, ist die einer Krise, und zwar der praktischen Krise des reformatorischen Programms. Die Reformation hatte gewiß und zunächst religiöse Ziele, und sie bestand geradezu in einer neuen Unterscheidung der Religion vom Ethischen und Politischen, des „Glaubens" von den „Werken". Nichtsdestoweniger bestritten alle Reformatoren entschieden den Vorwurf, sie lehrten keine „guten Werke", schrieben sich vielmehr das Verdienst zu, dem „Beruf", dem tätigen Leben in oeconomia und politia seinen gottgewollten Sinn gegeben zu haben; i m besonderen hat Luther oft betont, den Staat von der Vormundschaft der Pfaffen befreit und ihn seines gottgewollten Wertes als eigenständiger weltlicher Ordnung vergewissert zu haben. Dieser praktische Impetus der Reformation kam zu Beginn des 17. Jahrhunderts in die Krise: Der Predigt des 13 Vgl. Paul Münch, Göttliches oder weltliches Recht?, in: Stadtverfassung, Verfassungsstaat, Pressepolitik, Festschrift für G. Naujoks, hrsg. v. F. Quart h a i u. a., Sigmaringen 1980, S. 16—32. 14 Meisnef (FN 10), p. 382—406, hier p. 389; Johann Gerhard, Loci theologici, Jena 1610/25, 1. X I I I . n. 34. 39. 28'
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Glaubens folgte nicht das sittliche Leben, die reformatio doctrinae münzte sich nicht aus i n einer reformatio vitae 15. Die Realisierungsdefizite, denen sich das reformatorische Programm jetzt, nach etwa drei Generationen, angesichts der individuellen und kollektiven Praxis ausgesetzt sah, konnten nicht länger hingenommen, ihr baldiger Ausgleich konnte nicht erhofft werden. Die notwendige Änderung der ursprünglichen Verknüpfung von Glaube und Welt war eine Aufgabe, die allerdings sehr unterschiedlich gelöst wurde; am folgenreichsten natürlich i n den politischen Konzeptionen der beginnenden Neuzeit, die an die Stelle des christlich identifizierbaren Naturrechts ein reines Vernunftrecht setzten, den Staat also auf einen Gesellschaftsvertrag gründeten. Zunächst gab es jedoch auch Lösungen, i n denen Staat und Religion grundsätzlich noch verknüpft blieben, die also die Säkularisierungsfähigkeit der christlichen Religion selbst beanspruchten. Diese Lösungen sind unvermeidlicherweise konfessionell geprägt, und sie bringen konfessionsspezifische Vorstellungen von Politik als Säkularität zur Geltung. Die reformierte Seite setzte auf die Realisierung des religiösen Motivs i n der Politik. Zwar sollten Kirche und Staat nicht ineins fallen, aber das öffentliche Leben, seine Institutionen und seine Normen, sollten grundsätzlich i n Analogie zu den religiösen Normen und Institutionen konzipiert sein. Diese Entsprechung von religiöser und politischer Praxis w i r d durch die Rezeption des alttestamentarischen Vorbilds verbürgt; ihr Zielwort lautet: Zweite Reformation. Die lutherische Seite hat diese nachcalvinische Entwicklung nicht akzeptiert, in der die gemeinreformatorische Unterscheidung zweier Regimente oder Reiche, des durchs Evangelium regierten himmlischen bzw. innerlichen und des durch Gesetz regierten irdischen bzw. äußerlichen Reichs Gottes, also ein entscheidendes Merkmal der ,ersten' Reformation, völlig beseitigt wurde. Die Lutheraner suchten die Lösung der anstehenden Aufgabe i n der noch deutlicheren Unterscheidung der beiden Regimente Gottes, d. h. i n der säkularen Konzeption des Staates einerseits und i n der Intensivierung der religiösen Praxis des Einzelnen andererseits; ihr Ziel lautete, m i t dem T i t e l des so erfolgreichen Erbauungsbuches von Johann A r n d von 1605: Wahres Christentum 1β. Diese stärkere Trennung von Religion und Politik, nämlich von spiritueller Innerlichkeit und rationaler Äußerlichkeit, war freilich zweideutig. Denn die Institutionen und Normen der 15
Vgl. Hans Leube, Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924, S. 45 ff.; Hartmut Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus (Christentum und Gesellschaft, 9), Stuttgart 1980, S. 105 ff. 16 Vgl. Winfried Zeller, Protestantische Frömmigkeit i m 17. Jahrhundert, in: Theologie und Frömmigkeit, Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Marburg 1971, S. 85—116; Johannes Wallmann, Die Anfänge des Pietismus, in: Pietismus und Neuzeit 4, Göttingen 1979, S. 11—53.
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politischen Praxis naturrechtlich zu begründen, konnte bedeuten, daß der Staat von allen religiösen Ansprüchen auf emendatio vitae entlastet werden sollte; so meinte es die ebenso radikal lutherische wie radikal aristotelische „Politica" des H. Arnisaeus und seiner Nachfolger unter den lutherischen Politikern. Allerdings meinte auch diese Entlastung nicht ,Emanzipation', denn die naturrechtliche Begründung auch dieser Politik setzt noch voraus, daß die wesentlichen Inhalte des Naturrechts durch Vernunft und Offenbarung gleichermaßen gegeben seien, daß m. a. W. der Dekalog und die Goldene Regel Formulierungen des allgemeinen Sittengesetzes darstellten; die methodische Säkularisierung der Politik vollzieht sich hier gerade unter theologischem Schutz 17 . Doch war es nicht unmöglich, die theologische Legitimation, da sie sich nicht positiv auswirkte, in der Politik selber gleichsam zu vergessen und deren Praxis in einem engeren, d. h. im modernen, Bodin'schen Sinne säkular zu regulieren, nämlich das hier geltende Naturrecht aus dem Bereich möglicher theologischer Interpretation herauszunehmen. Diese Möglichkeit sah D. Hofmann schon bei den Lehren H. Arnisaeus' drohen; weshalb er für den Erhalt des status quo optierte, d. h. sich der Unterstützung durch die Landstände erfreute, während die „Caselianer" und mit ihnen H. Arnisaeus die fürstliche Zentralgewalt unterstützten. D. Hofmanns Befürchtung ist um so verständlicher, als die säkulare, bloß naturrechtliche Begründung der politischen Institutionen und Normen, und das ist die andere Seite der lutherischen Unterscheidung von Religion und Staat, eben diesen Staat auch der religiösen Antriebe zur emendatio vitae beraubte. Die Schüler Hofmanns, bestärkt durch die Theosophie Jakob Böhmes, formulierten darum eine christliche Staatsphilosophie, die nun auch den Unterschied des weltlichen und des geistlichen Reichs einzog, wie etwa Johann August von Werdenhagens „Politica generalis" (1632); während der Freund Chr. Besolds, Johann Valentin Andreae, die Unchristlichkeit des zeitgenössischen öffentlichen Lebens satirisch herauszufordern und die „allgemeine Reformation der ganzen Welt" elitär, wie in der „Gesellschaft der Rosenkreuzer" (1614/ 1617), oder utopisch, wie in der „Christianopolis" (1619), anzustoßen versuchte 18 . Die weitere lutherische Entwicklung wurde freilich zunächst durch den vermittelnden Versuch bestimmt, den säkularen Staat und die christliche Religion in der Person des christlichen Fürsten zu verknüpfen; Politiker wie Christian W. Friedlieb, Dietrich Reinkingk oder Veit Ludwig von Seckendorff konnten sich auf den Vorgang Luthers 17 So auch Dreitzel (FN 5), S. 159 f., 373 ff.; von „autonomer" Politik u n d „deistischer Haltung" bei H. Arnisaeus zu sprechen, S. 127 f., 181 f., ist daher unangemessen modern. 18 Vgl. Dreitzel (FN 5), S. 78 ff.; Richard van Dülmen, Die Utopie einer christlichen Gesellschaft. Johann Valentin Andreae, Stuttgart-Bad Cannstatt 1978, bes. S. 43 ff., 113 ff.
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und auf die selbstverständlich antimachiavellistischen Theologen ihrer Zeit berufen 1®. Althusius' „Politica" stellt, nicht anders als die an den andern protestantischen Universitäten konzipierten Politiken, einen Versuch dar, die um die Wende zum 17. Jahrhundert offensichtlich werdende praktische Krise des reformatorischen Programms zu überwinden; und sie versucht das in dem konfessionsspezifischen Horizont, den das Ziel wort „Zweite Reformation" kennzeichnet. Althusius verkörpert darin weniger den Späthumanismus als den praktisch-politischen und theoretischen Übergang aus dem Jahrhundert der Reformation in das des Barock; in eine Epoche, die wissenschaftsgeschichtlich durch die Konfessionalisierung der Respublica litter aria gekennzeichnet ist. Diese Selbstverpflichtung der Wissenschaft auf einen theologischen Horizont (die letzte in der werdenden Neuzeit) bedeutet zwar nicht das Ende wissenschaftlicher Kommunikation, wohl aber deren Instrumentalisierung i m Interesse theologischer Positionen. Daß Althusius' politische Philosophie, unbeschadet ihrer konzeptionellen Originalität, einer bestimmten theologischen Position verpflichtet ist, sei abschließend nach der dogmatischen und nach der methodischen Seite in Erinnerung gebracht. 2. Althusius ist nicht nur persönlich, sondern auch in seiner politischen Philosophie reformierter Christ. Christlich an der „Politica" ist, daß sie die politische Kunst an der Norm des christlich interpretierten, d. h. mit biblischen Geboten Gottes identifizierten Naturrechts orientiert; daß sie also den durch Christus interpretierten Dekalog, der in seinen beiden Tafeln den Zusammenhang von Politik und Religion als für die politische Praxis wesentlich festschreibt und die Pflichten der pietas denen der iustitia überordnet, zu einer A r t politischem Grundgesetz erklärt. Spezifisch reformiert an der „Politica" ist darüber hinaus, daß der Dekalog die die religiöse und die politische Gemeinschaft zusammenschließende vivendi régula darstellt; eine Lebensregel, die Frömmigkeit und Gerechtigkeit analog, nämlich juridisch, strukturiert und die ein dem Staat und der Kirche gemeinsames gesellschaftliches Substrat erfordert: das christliche „Volk". Wenn diesem populus in corpus unum das Prädikat der Souveränität zukommt, so bedeutet dies daher, daß der religiöse Charakter des Staates niemals zur politischen Disposition gestellt werden kann. Das ist überall in der „Politica" vorausgesetzt, wo nicht nur der Dekalog als solcher, sondern die quasi-historische Verwirklichung des christlichen Lebens in der politia Judaeorum zum verpflichtenden Vor19 Etwa Gerhard (FN 14), 1. X X I V , η. 142. Vgl. Christoph Link, Dietrich Reinkingk, in: Staatsdenker i m 17. u n d 18. Jahrhundert, hrsg. v. M. Stolleis, F r a n k f u r t a. M. 1977, S. 78—99; Michael Stolleis, Veit L u d w i g von Seckendorf^ in: ebd., S. 148—173, bes. S. 157 ff.; Dreitzel (FN 5), S. 160 ff.
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bild gemacht wird 2 0 . Diese Voraussetzung w i r d bis in die kritische Konsequenz festgehalten, nämlich bis in den Fall des Konflikts zwischen Staatszugehörigkeit und Religionszugehörigkeit. Althusius läßt keinen Zweifel daran, daß es nicht nur eine wesentliche politische Pflicht sei, die im Staat geltende Religion zu schützen und die Staatsbürger auf sie zu verpflichten, sondern auch, die wahre Religion — quomodo in praesenti seculo Deum
cognoscamus
et colamus
( I X 37) — ö f f e n t l i c h
einzuführen
oder wiederherzustellen, und zwar nicht aufgrund des Willens einer Mehrheit
der
Staatsbürger,
sondern
ex
solo
Dei
verbo,
juxta
fidei
analogiam (IX 37), aufgrund der konfessionsspezifischen Interpretation der Bibel also. Darum dürfen nicht nur einzelne Staatsbürger mit äußerer Gewalt zum rechten Gottesdienst gezwungen werden, sondern es muß auch die rechtgläubige Minderheit gegenüber der andersgläubigen Mehrheit verteidigt werden, und es muß umgekehrt dem obrigkeitlichen Versuch, die rechte Religion zu ändern, als den Tatbestand der Tyrannis erfüllend, durch die Ephoren mit der Tat begegnet werden ( X V I I I 51; X X X V I I I 3, 11). Der Staat ist demnach das Instrument der Durchsetzung des religiösen Selbstverständnisses des „Volkes" als der erwählten Gemeinde, des Bundesvolkes Gottes; das Instrument eines typisch reformierten Selbstverständnisses also 11 . I m Fall des religiösen Konflikts, der in Althusius' politischem Konzept tatsächlich nicht mehr politisch gelöst werden kann, tritt also sehr deutlich zutage, daß Politik im Sinne Althusius' die konfessionelle, d. h. hier die reformierte Identität des Saates, nämlich des Trägers der Souveränität, immer schon voraussetzt. Zwar w i l l Althusius diese Identität auf die fundamentalen Positionen beschränken, w i l l also politische Klugheit angewandt wissen (IX 42); aber das ändert nichts daran, daß er die territoriale Entflechtung der Konfessionen als gelungen voraussetzen muß. Seine politische Philosophie legitimiert darum die politische Praxis eines reformierten Reichsstandes, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Der konfessionelle Charakter der Position der „Politica" hat seine methodische Entsprechung darin, und damit sei der Blick nochmals auf die wissenschaftsgeschichtliche Stellung des Althusius i m engeren Sinn gelenkt, daß sie dem ramistischen Typus barocker Wissenschaftlichkeit zugehört. Es wäre gewiß zuviel gesagt, wenn man den philosophischen 20 Programmatisch i n den Praefationes von 1603, 1610 und 1614 (p. 4). Vgl. Carl J. Friedrich, Johann Althusius und sein Werk i m Rahmen der E n t wicklung der Theorie von der Politik, B e r l i n 1975, bes. S. 46 ff. 21 N u r hier, bei der Konstitution des die Souveränität tragendes „Volkes", spielt m. E. die reformierte Föderaltheologie eine Rolle, während die K o n stitution des Vertrags zwischen seinen Gliedern bzw. zwischen Herrschenden und Gehorchenden sich dem calvinischen Gemeindebegriff verdankt; vgl. Peter J. Winters, Johann Althusius, i n : Staatsdenker (FN 19), S. 29—50, bes. S. 32 f., 44 ff.
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Ramismus geradezu als Korrelat der reformierten Theologie bezeichnen würde; bekanntlich haben sich auch Philosophen reformierter Universitäten an der Rezeption der erneuerten aristotelischen Methodologie beteiligt, wie R. Goclenius, C. Timpler und insbesondere B. Keckermann. Umgekehrt gab es auch strenge Aristoteliker an lutherischen Universitäten, die sich die ramistische methodische Ordnung des Wissens zunutze machten, sogar innerhalb der Metaphysik, nämlich als die wirksamere Didaktik, wie etwa der Wittenberger Jakob Martini erklärt. Auch der zunächst ramistische Begriff des „Systems" hat sich in diesem Sinn bei den Lutheranern durchgesetzt 22 . Althusius ist aber Ramist auch im Sinne eines Verfahrens der rhetorisch-dialektischen Begründung, d. h. des Sammeins und Anführens zusammengehöriger (homogener, essentieller) Sachverhalte oder Tatbestände; eines Verfahrens, das Wissenschaft auch als ars definieren kann. Es ist unterschieden vom Verfahren der sogenannten analytischen Begründung, der strengen, rein instrumentalen Konklusion aus Prämissen, wie das die aristotelische „Analytica posteriora" vorschreiben; dies letztere geht auf die res ipsae und meint Wissenschaft daher ausschließlich als scientia, d. h. als Realdisziplin, die von der ars der Instrumentaldisziplinen grundsätzlich unterschieden ist, und dies Verfahren erfordert unbedingt eine Grundwissenschaft der Dinge, die Metaphysik 23 . Den Lutheranern war um ihrer theologischen Prinzipienlehre willen, welche das offenbarte Wort Gottes als dogmatischen Kanon verstand, so entschieden am Verfahren des strengen Beweises gelegen, daß sie die ramistische „Lehre" sogar durch Verbot aus den Universitäten verdrängten; nicht zufällig war es, daß im Kreis um D. Hof mann sich das ramistische Wissenschaftsverständnis einschließlich ihres antimetaphysischen Affektes verbreiten konnte. Den Reformierten dagegen war die ramistische Methode ein willkommenes Begründungsverfahren, ebenfalls um ihrer theologischen Prinzipienlehre willen, welche freilich das offenbarte Wort Gottes nicht nur als dogmatischen, sondern auch als historischen Kanon verstand, die also Historie und Dogma lange nicht so weit auseinanderrückte wie ihr lutherisches Pendant. Genau in diesem Sinn gebraucht auch Althusius nicht nur die exempla historica, sondern auch und vor allem die exempla sacra aus der Bibel: Die gegenwärtige politische Praxis hat sich an dem historischen Vorbild idealer Politik zu orientieren. Die A r t und Weise, wie Althusius viele hundert Bibelzitate sammelt und begründend anführt, wäre für einen Lutheraner nicht denkbar — für einen Theologen nicht, weil eine solche Begründung 22 Jacobus Martini, Partitiones et quaestiones Metaphysicae, Wittenberg 1611, Praefatio; vgl. Weber (FN 7), S. 28 ff.; Walter Risse, Die Logik der Neuzeit, Bd. I, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 181 ff., 440 ff. 23 Nachweise bei Sparn (FN 2), S. 9 ff., 23 ff., 188 ff.
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dogmatisch durchaus heterogene Propositionen zusammenstellt, insbesondere die Kategorien „Gesetz" und „Evangelium" vermischt und damit paralysiert; und nicht für einen Philosophen, weil ihm die Bibel als Sammlung historischer Exempel zwar zugänglich war, aber keinerlei spezifische Argumentation erlaubte. Für Althusius dagegen hat die Dignität des biblischen Kanons die Homogeneität aller in ihm überlieferten historischen Exempel und dogmatischen Propositionen zur Folge, die daher ohne weiteres und unterschiedslos in argumentativer Funktion beansprucht werden dürfen. Darin ist die „Politica" zugleich Ausdruck der libertas
philosophica
Socratica
et Ramea, v o n ü b e r l i e f e r t e n u n d a l l -
gemeinen Standpunkten abzuweichen, und Ausdruck der theologischen Obligation, die besonderen Disziplinen der Politik und der Ethik bis genau dahin zu führen, wo die Jurisprudenz und die Theologie anfangen: In praxi
vero omnes artes
conjunctas,
nemo
negat 24.
Methodisch wie dogmatisch hat Althusius' politische Philosophie ihre Stärke und ihre Schwäche in ihrer historischen Relativität; jene, insofern sie gegebene Einheiten von Politik und Religion zu stabilisieren geeignet war, diese, insofern sie alle aus der tatsächlichen Inkonvenienz von Politik und Religion resultierenden Probleme ex definitione nicht lösen konnte. Sobald „Volkssouveränität" aber konfessions-, ja religionsindifferent verstanden und eingesetzt werden konnte, dann waren die Probleme, die Althusius' „Politica" zu lösen gehabt hatte, schon gegenstandslos geworden.
24 Philippus Althusius, Praefatio zu: Johannis A l t h u s i i Civilis conversationis l i b r i duo, Hanau 1601 (Praefatio p. 3); Johannes Althusius, Politica, Ed. tertia, Praefatio (p. 4).
ALTHUSIUS — E I N ARISTOTELIKER? Uber Funktionen praktischer Philosophie im politischen Calvinismus Von Paul-Ludwig Weinacht, Würzburg A n der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert über „politice" zu handeln 1 , hieß ein moralphilosophisches Gebiet zu bestellen. Mochten von Italien, Frankreich, England her und unter dem Einfluß der Naturwissenschaft auch andere Möglichkeiten vorbereitet werden, so gliederte sich die Politik als philosophia practica sive moralis an den europäischen Hohen Schulen 2 doch überwiegend dem aristotelischen Wissenschaftskanon ein 3 . Der Lehrer der politice (oder wie Althusius nach scholastischem Wortgebrauch sagt: der politica) hatte eine Lektur innerhalb der Artistenfakultät inne und war in der Studienorganisation am Ende des dem Bakkalaureat folgenden zweiten, also des MagistrandenKursus plaziert. Die entsprechenden, vielfach aristotelische Schriften kommentierenden Vorlesungen, wurden vor allem von künftigen JuraStudenten besucht; in Köln hatte auch der junge Althaus zu ihnen gehört 4 . 1 Z u den Hauptthesen der Diskussion u m die Politica vgl. Peter J. Winters, Die „ P o l i t i k " des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen. Zur Grundlegung der polit. Wissenschaft i m 16. und beginnenden 17. Jh., Freib u r g / B r . 1962, S. 15 ff. 2 Vgl. Hans Maier, Die Lehre der P o l i t i k an den deutschen Universitäten vornehmlich vom 16. bis 18. Jahrhundert, i n : D. Oberndörfer (Hrsg.), Wissenschaftliche Politik. Eine Einführung i n Grundfragen ihrer Tradition und Theorie, Freiburg/Br. 1962, S. 59—116. Z u r Tradition der Politica i m K o n text von Kamerai- und Staatswissenschaften vgl. Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, München 21980 (mit weiteren Nachweisen zu neueren Veröffentlichungen, S. 8 F N 27). 3 Peter Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie i m protestantischen Deutschland, Leipzig 1921; Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied 1963, S. 27 f. 4 Maier, Die Lehre (FN 2), S. 72. Zur Biographie des jungen Althaus vgl. C. J. Friedrich, Introduction to Althusius, Politica methodice digesta, Havard 1932 und F. S. Carney, Introduction to the Politics of Johannes Althusius, A n abridged translation . . . , Beacon Press' Boston 1964, S. X I V . Z u m Aristotelismus i n der Artistenfakultät der alten Universität K ö l n den gleichnamigen Aufsatz von Robert Heiß, in: Festschrift zur Erinnerung an die Gründung der alten Universität K ö l n i m Jahre 1388, K ö l n 1938, S. 288 f.
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Diese uns ferngerückte Welt des älteren Studiums schaut aus mehreren Wendungen des Vorworts zur Politica von 1603 hervor: der Jurist fange dort an, wo der Politicus aufhöre — entsprechend Theologe/ Ethicus und Mediziner/Physicus. Die Fächergrenze ist zugleich Studiengangs-Grenze zwischen der unteren und den oberen Fakultäten 5 . Erst in diesen beginnen die vorgenannten Fachstudien: „ i n welcher Weise hätte wohl ein Anfänger oder ein Student der Politik, der noch keine Ahnung von Jurisprudenz hat, ein Urteil fällen . .. sollen?" (Vorwort von 1603). Auch das Herborner Schulgesetz machte es dem Professor für Philosophie zur Aufgabe, Politica zu lesen; die Hieronymus Treutier und Otto Melander haben in Herborn Philosophie gelehrt, bevor sie einen juristischen Namen gewannen. 6 Daher liegt es nahe, vom studiengeschichtlichen Ort einer Politica her nach dem Aristotelismus der althusianischen Politica bzw. nach Althusius als Aristoteliker zu fragen. In der Literatur wird die calvinistische Studienorganisation mit dem Namen des Petrus Ramus verknüpft, so auch diejenige der Herborner Hohen Schule. Der Name des Aristoteles erscheint demgegenüber unter den Quellen, die in die althusianische Lehrschrift zur Politik zusammengeflossen seien. Tatsächlich aber verbindet sich die Politica auch über den studiengeschichtlichen Ort mit Aristoteles, ein Topos, der in der Literatur kaum auftaucht. 7 C. J. Friedrich stieß bei der Suche nach literarischen Quellen für die Politica gewiß 61mal auf AristotelesZitate, ob das für sich allein genommen aber zur Feststellung eines echten Traditionsverhältnisses ausreicht? 8 Ernst Reibstein wog zwischen Rezeptionschancen ab: im Soziologischen der Politica sah er eine aristote5
Z u m älteren Studium generale vgl. noch immer Friedrich Paulsen , Geschichte des gelehrten Unterrichts, Leipzig 31919, Bd. 1, S. 33 ff., 226 ff. Z u r Reformdiskussion an den konfessionell gewordenen frühneuzeitlichen U n i versitäten m i t durchaus anderem Akzent als Paulsen Laetitia Boehm, H u m a nistische Bildungsbewegung u n d mittelalterliche Universitätsverfassung. Aspekte zur frühneuzeitlichen Reformgeschichte der deutschen Universitäten, in: J. I j s e w i j u / J . Paquut, The Universities i n the late middle ages, Leuven University Press 1978, S. 315 ff. Boehm verweist besonders auf „interkonfessionelle Parallelismen i n den bildungsorganisatorischen Konzeptionen" für die Artistenfakultät (ebd., S. 345 m i t Literaturangaben i n F N 63). • Hugo Grün, Politische Diskussionen an der Hohen Schule Herborn w ä h rend ihrer Blütezeit, in: Jb. d. Hess. Kirchengeschichtl. Vereinig. 14. Bd., Darmstadt 1963, S. 261 f. Gerhard Menk, Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584—1660), Wiesbaden 1981. 7 Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat — Die Politica der Henning Arnisaeus, Wiesbaden 1970, zeigt den entsprechenden Zusammenhang f ü r Helmstedt u n d Arnisaeus (S. 27 ff.). 8 C. J. Friedrich, J. Althusius u n d sein Werk i m Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, B e r l i n 1975, S. 8 f., jedoch auch S. 42; Winters (FN 1), S. 34 einschließlich der A n m e r k u n g 41.
Althusius — ein Aristoteliker?
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lische Wurzel sprießen, die im Feld der „Naturgeschichte des Staates" unerweckt blieb: sie sei dem calvinistischen Vorbehalt zum Opfer gefallen. 9 Horst Dreitzel unterschied treffend Inhaltliches (z. B. die „praktische Soziologie") von Konzeptionellem (z. B. der Frage nach „praktischer Philosophie, die den Menschen lehrt, i n der Gesellschaft gerecht und glücklich zu leben"), ohne am Beispiel Herborns zu zeigen, daß diese Konzeption studiengeschichtlich eingelagert ist. 10 Der Ansatz der praktischen Philosophie reflektiert die Lage, daß auf den Hohen Schulen — auch i n Herborn — zu Beginn des 17. Jh. noch durchweg vom Philosophen Politik gelehrt wird. Althusius hat diese Tradition nicht einfach fortgesetzt, sondern sie genutzt, d. h. zu religionspolitischen Zwecken verwandt. Das läßt sich auf zwei Dimensionen verfolgen: wissenschafts- bzw. studienspezifisch und praxis- bzw. lagespezifisch. 11 Bereits mit einer Ethik (1601) apostrophiert er das peripatetische Gefüge, um es zugleich substanziell zu verändern und zu praktischem Gebrauch für die calvinistischen Gemeinden einzurichten (I). Entsprechendes gilt für die Politica (1603). Wir zeigen dies im Durchgang durch Komposition (II), Ziele (III), lagespezifische Verwendbarkeit (ihren usus), durch die sie sich legitimiert ilV). Nach einem knappen Résumé über den althusianischen Aristotelismus (V) werden einige Nachwirkungen in der Gegenwart aufgezeigt (VI).
I . Ethica
Wie ein Lehrer der Moralphilosophie nimmt sich Althusius nacheinander die Gebiete vor: 1601 — unter dem klassischen Namen von Conversationes civiles — die Ethik 1 2 , zwei Jahre später die Politik 1 3 9 Ernst Reibstein, Joh. Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca ( = Freiburger Rechts- u. Staatswiss. Abhandlungen, Bd. 5), Karlsruhe 1955, S. 83 ff. (S. 86). Vgl. auch Carney (FN 5), S. X X V I I I . 10 H. Dreitzel (FN 7), S. 144—147. 11 Z u r Einheit von Wissenschaft und Lageerfordernis i m nassauischen T e r r i t o r i u m vgl. G. Menk, Die Hohe Schule Herborn, der deutsche K a l v i n i s mus und die Westliche Welt, in: Jb. der Hess. Kirchengeschichtl. Vereinig. 35. Bd., Darmstadt 1984, S. 351 ff. (355 f.). 12 Civilis conversationis L i b r i Duo methodice digesti et exemplis sacris et profanis illustrati, E d i t i a Philippo Althusio, Hannoviae 1601; benutzt wurde das der Politica beigebundene Exemplar der Studienbibliothek D i l l i n gen. Der Titelbegriff greift die klassische Definition der „ a m meisten politischen Tugend", nämlich der „Gerechtigkeit" auf: quae i n conversatione c i v i l i et exercetur et discitur" (S. 16 der Zwingerschen Aristoteles-Ausgabe von 1582, vgl. F N 32 und zugehörigen Textteil). 13 Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata, Herbornae 1603; benutzt wurde das Exemplar der U B Freiburg. F ü r die dritte Ausgabe der Neudruck des Scientia Verlags Aachen 1981.
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und — in ihr — Teile der Ökonomik (III. 42)14. Die Konvention der Abfolge und äußeren Form bestimmt die Lehrinhalte nicht gänzlich. Nach dem Eingeständnis des Herausgebers der Ethica weicht ihr Autor allenthalben von den herrschenden Meinung der Fachkollegen ab (discedit... passim a communi et hue usque reeepta philosophorum sententia). A m weitreichendsten w i r d die Tugendlehre (ars conversandi bzw. ars decore conversandi cum hominibus) verändert 15 : Sie zerfällt nach Sachgebieten und Situationen und entsprechend nach Wissenschaften, die jeweils dafür am kompetentesten sind: Frömmigkeit fällt an den Theologen, Freundschaft (!) und Gerechtigkeit an den Juristen usw. 18 Der Ethicus sammelt den Rest ein und übernimmt es im übrigen, die fremd definierten Tugenden gesellschaftlich zum Austrag zu bringen: als eine A r t Zeremonienmeister bürgerlichen Verhaltens. 17 Ins Fach des Ethicus schlagen Tugenden wie Diskretion, Respekt, würdevolles Benehmen, denn mit ihnen können Medien des Umgangs i n Gesellschaft moduliert werden: der sprachliche Ausdruck, die Gestik und das Verhalten. Ethik w i r d Lehre von den Sekundärtugenden 18 und steht in einer Reihe mit Grammatik und Rhetorik: Letztere achtet auf den Schmuck, jene auf die Reinheit, erstgenannte (Ethik) aber auf urbanitas und civilitas des Ausdrucks. 1 " Kein Thema des Ethicus mehr scheint die aristotelische Seelentätigkeit gemäß der Vernunft zu sein: die scholastische ethica monastica bzw. solitaria ist aufgegeben. 20 Alles w i r d den neuen Zeiten akkommodiert und auf das „Miteinanderleben" (der Begriff symbiosis ist von Philipp Althusius, dem Herausgeber, in diesen Kontext eingeführt worden!) 21 ausgerichtet. Ein Spezifikum der politischen Tugend, der 14
Die Zitationen i m Text beziehen sich auf die dritte Auflage (Herborn 1614) (vgl. F N 13). 15 s. oben F N 12, S. 1. 18 s. oben F N 12, Lib. I, cap. I I (S. 9—18). 17 Soli i g i t u r huic Ethicae r e l i n q u i t u r propria m o r u m honestorum et decentium scientia et usus, quibus virtutes in aliis artibus Araditas exprimamus (FN 12, S. 10 f.). 18 Sekundärtugendlehre ist ein von Althusius sehr bewußt eingesetztes Konzept, vgl. vorige Fußnote und die Bezeichnung der E t h i k als ars m u l t a r u m a r t i u m spoliis consarcinata et ditata (FN 12, S. 18). 19 s. oben F N 12, S. 7 f. 20 Als solche wurde E t h i k i n der peripatetisch erneuerten Schule der christlichen Moralphilosophie des hohen Mittelalters verstanden, vgl. Ludwig Bauer, Dominicus gundissalinus, De divisione philosophiae ( = Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, I V , 2—3) Münster 1903, S. 376 f. 21 Scio i n hisce autorem ea persecutum, quae nostris temporibus sunt accommodata, quae ad honeste . . . v i v e n d i rationi sunt apta . . . et symbiosis hominum concemunt.
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Gerechtigkeit nämlich, w i r d zum Merkmal des Ethischen schlechthin: conversatio civilis! Althusius hat in der Erstausgabe seiner Politica auf die „symbiotische" Funktion der Ethica ausdrücklich aufmerksam gemacht, und zwar in jener analytischen Tafel, die das Leben von Ungleichen und von Gleichen in der Respublica (entsprechend dem II. Buch Ethica) als gemeinschaftliche Momente der „ v i t a politica" in einzelne Sozialbeziehungen ausgliedert. Hierbei tauchen dann wieder jene „Sekundärtugenden" auf, die offenbar für das Funktionieren der Symbiosis unverzichtbar sind („Graves et humani", „Modesti", „decenter" u. a.) (Schema N. der Tabulae totius). Was hat die Begrenzung der Inhalte und den Wandel des Ziels der Ethica bei Althusius bewirkt? Es gab einen Bedarf an Regulierung des gemeindechristlichen reformierten Verkehrs, der inmitten einer ständisch-aristokratischen Gesellschaft republikanische Tendenzen stärkte 22 und am ehesten dadurch zu vermitteln war, daß man ihn auf das Vorbild des übernational richtunggebenden humanistischen Stadtbürgertums verpflichtete. I n Frankreich war in dieser Zeit der homme de bien als honnête bourgeois hervorgetreten. 28 M i t seiner ars conversandi bot Althusius den reformierten Gemeinden einen verbindlichen modus symbiosis, in dem sie nach A r t von honnêtes gens verkehren, bestehende Bekenntnisfronten ertragen und — je nach Gelegenheit — überwinden und zugunsten des cultus sincerus abbauen konnten. Übrigens bestand 200 Jahre später in Deutschland abermals Bedarf an Regulierung und Verfeinerung der Verkehrssitte. Das „bürgerliche Publikum" war bereit, innerhalb der höheren Stände und zwischen ihnen den esprit de conduite zum Ausdruck zu bringen. Damals trat jener älteren calvinistischen ars conversandi eine aufgeklärte „Kunst des Umgangs" zur Seite: das Erfolgsbuch des Freiherrn von Knigge. 24 22 Zur aristokratischen und demokratischen Komponente vgl. Hans Baron, Calvins Staatsanschauung und das konfessionelle Zeitalter ( = Beiheft 1 der HZ), München, Berlin 1924, S. 58 ff. 28 Vgl. die Bemerkungen zur summa humanitas bei Friedrich (FN 7), S. 22 f. M. Magendie, La politesse mondaine et les théories de l'honnêteté en France au X V I I e siècle de 1600—1660, Paris 1925 u n d ergänzende Bemerkungen bei J. Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus, Naturrecht ( = Münchner Studien zur Politik, Bd. 27), München 1977, S. 92 ff. 24 Adolph Freiherr von Knigge, Ueber den Umgang m i t Menschen, F r a n k furt-Leipzig 41796. Zwischen ars conversandi und der Kunst des Umgangs hat sich die von N. Elias nachgezeichnete Entwicklung auch unter Beteiligung philosophischer Bemühungen, die insoweit von theologischen abgegrenzt waren, ergeben („zivile M o r a l und äußere Handlungen", vgl. Petersen [ F N 3], S. 172); zur „bürgerlichen K l u g h e i t " Chr. Weises vgl. G. Frühsorge, Der politische Körper, Stuttgart 1974, S. 40 ff. Z u m Ganzen: Norbert Elias, Uber den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Bern/München 21969.
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Wie die Ethica von 1601 unterstellte sie ein Moralsystem als geltend, ohne es begründen zu können 25 , wie jene regulierte sie den Umgang zwischen Personen unterschiedlicher Verkehrskreise und wie jene trug sie' zur Ausbildung einer „Gesellschaft" bei, die jenseits staatlicher Politik sich konsolidierte und diese moralisch zu entlasten in der Lage war. 2 8 I I . Politica. D e r A u f b a u
1. Wie die Ethik zeigt auch die Politik des Althusius Konventionelles und Neuartiges in hartem M i t - und Gegeneinander. Aristotelischer Konvention entspricht das Grundthema des Buches, das es zur Behandlung durch den practicus empfiehlt: Wie muß der Mensch, da er außerhalb der Gemeinschaft nicht leben kann, in ihr sein Leben einrichten? Konventionell ist auch einiges Inhaltliche: so die Durcharbeitung von Lehrsequenzen, wie sie aus den acht Büchern über die Politik geläufig sind: Gemeinschaftenlehre, Regierungslehre, politische Pathologie. Diese Lehrsequenzen bildeten an Universitäten beliebte Disputations-Themen; in Herborn sind sie bei Philipp Heinrich Hoenonius durchexerziert worden. 27 Neuartig hingegen ist die Eindeutigkeit, mit der Politik als systematische Kunstlehre (ars I. 1) verstanden und definiert wird. Sie gewinnt damit einen methodologischen und didaktischen Anspruch, der sie von Erfahrungs-begründeter und an veränderlichen Lagen sich bewährender Klugheitslehre (prudentia) unterscheidet. Prudentia wird Teilgebiet: norma et régula administrationis (XXI. 6), scientia politica i m engeren Sinn (Regierungslehre, ars gubernandi X X I . 9). Der wissenschaftliche, und d. h. zugleich: der lehrhafte Status der ganzen Politica aber ist derjenige einer technischen Kunstlehre. Während Arnisaeus diesen Status 25 I n der Vorrede zur dritten Auflage setzt sich Knigge m i t dem V o r w u r f auseinander, daß er i m T i t e l „Regeln des Umgangs" ankündige, das Buch selbst aber „fast über alle Theile der Sittenlehre" sich ausdehne. Er rechtfertigt sich dadurch, daß zur Vermeidung einer nur „conventioneilen Höflichkeit, oder gar einer gefährlichen P o l i t i k " seine Regeln „auf die Lehren von den Pflichten begründet" seien, d. h. auf ein System, „dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind" (S. V I f.). Aber dieses System w i r d — geradeso wie bei Althusius — von der Umgangskunst vorausgesetzt, nicht begründet! 26 Einen Querverweis von Politica zur Ethica gibt Althusius beispielsweise i m K a p i t e l über die commoditates vitae socialis procurandae vel incommoditates illius avertendae et declinandae, wo er die ständische Differenzierung zu respektieren rät: honorum distinctio . . . observandus, ne confusio fiat ( X X X I I . 55 m i t Verweis auf Ethica I I . 1 ff.). Einen anderen i m Zusammenhang m i t Religionsschutz, w o Regeln für den gesellschaftlichen Verkehr m i t Ungläubigen oder Menschen verschiedener Religion erörtert werden ( X X V I I I . 55 m i t Verweis auf die Ethica allgemein). 27 Z u Hoenonius Disputationes politicae über Polyarchid, Monarchia, Causis eversionum et m u t a t i o n u m r e r u m p u b l i c a r u m earundumque remediis vgl. die Bibliographie bei H. Grün (FN 6).
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im Blick auf die Absonderung des Herrschaftsapparates zur Hand des Fürsten betont, 2 7 a geht es Althusius um die Integration aller sozialen Einheiten zum politisch-rechtlichen Ganzen. Soweit dies i m Rahmen einer technischen Kunstlehre geschieht, sind Standards der Lehrbarkeit verlangt, die ihrerseits weitere Funktionen übernehmen können. Althusius verbindet in den der Politica vorangestellten graphischen Tabulae einen Einblick in die gedankliche Struktur bzw. Gliederung seiner Lehre mit dem Nachweis der Berücksichtigung aristotelischen Traditionsgutes. Durchsichtigkeit zu pädagogischem Zweck w i r d zur Chance der Legitimierung: Die althusianische Wissenschaft umgreift das ganze „herkömmliche" Fach und präsentiert es — samt Aristoteles — als dem calvinistisch-biblizistischen Grundansatz eingeschmolzen. 2. Bevor w i r auf die Tabulae eingehen, sei der Aufbau der Politica in Erinnerung gerufen: Er ist einerseits Beschreibung der ständischkorporativen Gesellschaft von ihren einfachen zu ihren komplexen Halterungen und Bündnissen, er ist andererseits Abfolge von Lehrstücken bzw. Teildisziplinen, aus denen sich die politische Kunstlehre zusammensetzt. Das Grundmodell ist das aristotelische: die Subsistenzordnung des Hauses (Oikonomia) liegt der Gemeinwohlordnung des bürgerschaftlichen Ganzen (Politeia) voraus. Althusius erinnert am Ende der 3. Auflage der Politica an das spannungsreiche Miteinander dieser Ordnungen: Die ersten Gemeinschaften könnten im Grunde auch für sich existieren; was sie jedoch nicht vermöchten, sei dies: eine eigenständige Herrschafts- oder Verfassungsnorm zu begründen, in der sie vielmehr nur diejenige der obersten Gemeinschaft (Staat, Reich) spiegelten. 28 Aufsteigende Gemeinschaften und von oben her wirkende Regimentsform — wofür auch theologische Motive in Anrechnung gebracht werden können 29 — bilden die Klammer der ars politica nach ihren Teilstücken: einerseits also die Lehre von den Gemeinschaften und den Strukturen eines symbiotischen Daseins (Kap. II—X), andererseits die Lehre von den Regiments- bzw. Regierungsformen, die nachträglich in die Tyrannen- und Widerstandslehre eingestellt wurde (Kap. X X X V I I I — X X X I X ) . Dazwischen entfalten sich drei große Lehrstücke der ars politica: die Lehre vom Reich als Respublica und seinen Ordnungen (Kap. X I — X X ) ; 27a
Dreitzel (FN 7), S. 129 ff. (152). Consociationes symbioticae, tanquam primae per se subsistere possunt etiam sine provincia, vel regno . . . nec publica consociatio sine privata domestica esse potest . . . delegati et m i n i s t r i regis . . . gubernationem et potestatem superiorem propriam aristocraticam minime habent, sed monarchicam suum (sie!), ut dicimus, repraesentant ( X X X I X . 84). 29 Dies ist die Linie der Interpretation von Winters: „Lebensgemeinschaft zugleich i m Gottes- und Nächstenverhältnis" (FN 1, S. 169, 191 und passim). 28
29 R E C H T S T H E O R I E ,
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sodann die Klugheitslehre betreffend das Regieren und Verwalten (Kap. X X I — X X V I I , wobei die Klugheitslehre im Sinne von scientia politica ausdrücklich als zusammenhängender Teil exponiert ist: vgl. X X I . 11 und 15); schließlich die Lehre von guter Polizey in geistlichen und weltlichen Sachen (rectae et justae administrationis: Kap. X X V I I I — X X X V I I ) . Diese nach fünf Gebieten unterschiedene ars politica bezieht ihre Systematik aus dem Eingangskapitel (De generalibus affectionibus: I), i n dem das Thema so umfassend und einprägsam definiert wird, daß es dem Autor ein Leichtes ist, mit dem Schlußsatz der dritten Auflage zum Anfangssatz der ersten Auflage (der mit einer kleineren Variante identisch bleibt) zurückzuverweisen. 80 3. Diese Komposition geht auch aus den analytischen Tafeln (Tabulae) hervor, die Althusius seiner Politica in insgesamt drei Versionen zwischen 1603 und 1614 beifügt. 81 Sein Muster im Schematisieren mag jener Theodor Zwinger gewesen sein, dessen zahlreiche Tafeln der acht Politik-Bücher des Aristoteles er zusammen mit den lateinischen Übersetzungen von Lambinus und von Victorius in der griechisch-lateinischen Ausgabe von 1582 in Basel kennengelernt hat. 82 Während Zwinger jedoch abschnittsweise schematisiert — zunächst die Kapitel innerhalb eines Buches, dann den Gedankengang innerhalb einzelner Kapitel, wählt Althusius größere Komplexe und löst sie immer weniger in ihre Einzelteile auf. Von der dritten Auflage an bietet er nurmehr vier Tafeln, die zugleich unserer Kompositions-Analyse am stärksten entsprechen: die Gemeinschaftslehre (ohne die universalis major: Kap. II— IX); die Lehre vom Reich und seinen Ordnungen (ohne Ephoren: Kap. X — X V I I ) ; die Klugheitslehre samt Regierungs- und Verwaltungslehre (Kap. X V I I I — X X V I I ) und die Lehre von guter Polizey (Kap. X X V I I I — X X X V I I I ) . Während die vorletzte Tafel die Lehre von den Regierungsformen einschließt, ist das Tyrannis-Kapitel auf der letzten Tafel freischwebend vermerkt, also nicht dichotomisch ergliedert. 80 „politiae augendae, amplificandae, conservandae et instituendae eadem plane est ratio . . . u t i def initio nostra Politicae satis explicat c. 1. sup." ( X X X I X . 86). Sehr schön bemerkt Carney zur Grunddefinition der Politica (FN 5, S. X I X ) : „ I t stands at the beginning of Chapter I, and guides and controls everything that follows." 81 Vgl. i m folgenden Abschnitt I I I . 3 und die zugehörigen F N 43 ff. 82 Darauf machte Friedrich (FN 8, S. 53) aufmerksam und nennt gleichzeitig Zwinger als V e r m i t t l e r des Aristoteles an Althusius. Die Belege für diese weitreichenden Thesen bleiben allerdings aus. So w i r d man vorerst daran festhalten, daß Althusius in K ö l n der aristotelischen Ethik und P o l i t i k begegnete, bei Zwinger jedoch einem didaktischen Instrument zur Erschließung von Textzusammenhängen: der analytischen Tafel. Er setzte dieses M i t t e l auch i n seiner Ethica ein (zwei Tafeln: Ethica communis . . . propria). Daß die Zwinger'sche Ausgabe eine neuerliche Aristoteles-Lektüre nach sich zog, ist natürlich nicht auszuschließen; ebensowenig, daß ältere scholastische Werke m i t „Tafeln" angereichert waren und gleichfalls auf Althusius anregend wirkten.
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Bis auf diese zuletzt vermerkte Unregelmäßigkeit stimmt die Schematisierung, die der 3. Auflage beigebunden ist, mit unserer Deutung der Lehrsequenzen bzw. ihrer „Komposition" überein. Anders verhält es sich mit den 6 Tafeln, die der 1. Auflage beigebunden sind und die z. T. nach Querschnittsgesichtspunkten ausgegliedert waren (Tabulae artis politicae). Daß die Tafeln eigene didaktische Absichten verfolgen, zeigt sich an dem mit 14 Tafeln umfangreichsten Tafelwerk „Tabulae totius Politici Systematis" (gleichfalls 1603). I n i h m geht der Autor an der Gemeinschaftenlehre schweigend vorbei und stellt die Dienste der Respublica — unter ihnen vor allem das Kriegswesen (vier Tafeln!) — in den Mittelpunkt. Hier finden sich auch typische aristotelische Lehrstücke: die Pathologie (L: Reip. species) und eine ethisch qualifizierende Übersicht über Beziehungen innerhalb der vita politica (N: Communis superest vita politica). Auch i n anderen Tafeln sind übrigens ethisch qualifizierende Hinweise vermerkt, so daß dieses Tafelwerk besonders „aristotelisch" wirkt. Warum Althusius es auswechselte, dazu noch während der Auslieferung der 1. Auflage, darüber wird weiter unten zu handeln sein (III. 3). I I I . Telos
1. Althusius hat seiner Wissenschaft von der Politik als Thema vorgegeben, was das Ziel politischen Handelns als solches ist, nämlich ars consociandi. Sie ist keine Wissenschaft von der Gesellschaft (deskriptive Soziologie), sondern Wissenschaft von der möglichst guten Vergesellschaftung. Das ethische Ziel prägt ihren Namen und erweist sie als „normativ": ars politica bona symbiotica ( X X X I X . 83). Als handlungszielorientierte (teleologische) Sozialwissenschaft wäre sie fähig, einerseits der Wesensnatur des Menschen Wege zur Erfüllung zu weisen, andererseits normadäquate Sozialordnungen sichtbar zu machen. Dies waren für Aristoteles — zumindest in der „besten Polis" — zwei Aspekte derselben Sache; nicht so für Althusius: Bei ihm geht es weniger um die Freisetzung zu erfülltem Dasein, als um Normbefolgung und Dienst. Einordnung und Teilhabe machen die raison d'être des Miteinanderseins (symbiosis) aus! Bereits in Ethik-Schrift erörtert er das Thema gesellschaftlichen Lebens, der Teilhabe, der Erhaltung und Pflege menschlicher Gesellschaft mit Mitteln, die dafür geeignet sind. 85 Fast dieselben Begriffe werden im I. Kap. der Politica benutzt und mit einer Teleologie ver33 „De sociali vita et hominum consortio i n vitae huius commodis et i n commodis, sola politica uberrime agit, et proporit media utilia et necessaria ad continuandam, conservandam et colendam societatem humanaram; cui si haec adimis, n i h i l habitura est illa omnino i n quo consistere possit." (FN 12, S. 16 f.).
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bunden, die das Konzept i m ganzen als moralphilosophisches (und theologisches) erkennbar macht: Politik, die symbiotike (I. 1), habe beizutragen zur Ermöglichung eines guten Lebens und zu gemeinsamer Wohlfahrt (I. 29) in Gemeinschaft des Nutzens, des Rechts und der wahren Religion (I. 15, 17, 29 f.). Diese teleologische Teilhabestruktur rechtfertigt nun auf allen Stufen, auf denen sie in Erscheinung tritt, die Kennzeichnung einer Gemeinschaftsbildung als symbiotisch. War bei Aristoteles und bei den Peripatetikern das „gute bürgerliche Leben" der Polis-Stufe vorbehalten, 34 so findet es bei Althusius dem Grunde nach in allen symbiotischen Gemeinschaften statt: in ihnen ist er eingeladen zur rechten Ausbildung seiner Tugenden (ad exercitium et actionem virtutum, I. 4). Althusius verbindet mit dieser i n der Geschichte der christlichen Ethik-Tradition geläufigen Abschwächung der Polis-Stufe 35 zugleich jedoch eine betonte Gemeinsamkeit mit Aristoteles: der Mensch, der in Symbiose sich realisieren soll, ist von Natur aus in sie hineingegeben. M i t Aristoteles, auf dessen Politik er in Kap. I allein zu diesem Zweck viermal rekurriert, versichert er: — daß w i r unter dem Anspruch des Vaterlandes und der Freunde ins Leben eintreten (I. 22: mit Verweis auf Pol. 8. Buch, 1. Kap., wo gefordert wird, daß die Stadt die politische Erziehung der jungen Mannschaft selbst i n die Hand nehme: keiner der Bürger gehöre ja sich selbst 36 ; — daß der Mensch Gemeinschaft und Austausch mit anderen von Natur her erstrebt (I. 31 mit Verweis auf Pol. Buch 1, Kap. 2, wo Aristoteles seine Anthropologie skizziert: zoon politikon und zoon logon echon 37 ); — daß die bürgerliche Gesellschaft von Natur bestehe und der Mensch animal civile von Natur her sei (I. 33 mit Verweis auf ein entsprechendes Aristoteles-Zitat bei Covarruvias 38 ); — daß einer, der i n Gesellschaft nicht leben kann oder ihrer nicht bedarf, ein wildes Tier oder ein Gott ist (I. 33 mit Verweis auf Pol. Buch 1, Kap. 2, wo die Nicht-Autarkie des einzelnen in den zitierten Worten bekräftigt wird 3®). 2. Wenn i n Anthropologie und Gemeinschaftenlehre der fundamentale „Aristotelismus" des Althusius enthalten liegt, so werden in der Teleologie des symbiotischen Daseins althusianische Besonderheiten sichtbar: 34 Vgl. Joachim Ritter, Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 32 (1956), S. 67 ff. 35 Vgl. Maier, Die Lehre der P o l i t i k (FN 2), S. 67 f. 3β P o l i t i k 1337 a 19—31. 87 P o l i t i k 1253 a 1—a 18. 88 Es ist dieselbe Stelle wie die i n F N 37 nachgewiesene, was kein gutes Licht auf die Authentizität der übrigen Aristoteles-Verweisungen w i r f t . 89 1253 a 27—29.
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Ziel alles Daseins ist zwar gewiß die felix symbiosis, doch eben gerade nicht als die Erfüllung individuellen Glücksstrebens (Beatitudo), sondern als dessen Einpassung in normadäquate Sozialbeziehungen: communicatio mutua, koinopraxia, consortium, particeps communionis etc. — und dies im weltlichen wie i m kirchlichen Bereich. 40 Eunomie, Eutaxie, Eupraxie, Biarkie, Autarkie sind die auffälligen griechischen Normbegriffe, nach denen die soziale Erfüllungsstruktur sich bemißt. 41 Wichtiger als die Auszeichnung des Einzelnen 42 sind darum die gelungenen Strukturen eines konkreten M i t - und Füreinander: das Register zur dritten Auflage weist nicht iustitia, sondern regni jus nach, nicht Caritas oder amicitia, sondern civitatis concordia! Der sozialnormative Objektivismus des Althusius w i r d vollends deutlich, wenn er auf die klassische Lehre von den Lebensformen eingeht. Trotz Berufung auf die Autorität des Aristoteles setzt er sich in Widerspruch zu ihm, indem er den bios theoretikos aus dem Kreis der politisch zulässigen Lebensformen ausschließt (haeresis et error: I. 24) mit Verweis auf „lib 1. pol. cap. 1 cap. 2 lib 7 c. 3.". Nicht eines der Zitate tut nämlich den gewünschten Dienst. Aristoteles verurteilt den bios theoretikos mit keinem Wort, sondern formuliert i m 7. Buch nur eine Präferenz: das praktische Leben sei „gemeinsam für den ganzen Staat wie auch für den einzelnen das beste" 43 . Der echte ethische Aristotelismus paßt aber nicht in die objektivistische Teleologie, aus der es kein Entrinnen gibt. Jede Entpflichtung wäre gleichbedeutend mit Schmarotzertum oder parasitärer Existenz 44 . 3. Es hat den Anschein, als habe Althusius die Logik seines Systems, die nicht das Glück des Bürgers, sondern das Gelingen eines möglichst anspruchsvollen Sozialmodells zum Ziel hat, nicht von vornherein i n ganzer Deutlichkeit ausdrücken wollen. Ich schließe das aus dem Um40 Für Aristoteles (vgl. F N 34) wie f ü r seine Schule ist das Ziel der P o l i t i k die beatitudo, deren äußere und innere Gewährleistungen analysiert werden: Glücksgüter und Tugenden, vgl. so auch Th. Zwinger (FN 32): Principia . . . ex Fine civitatis, qui Beatitudo est practica politica, deducta (Prolegomena). Die althusianische Formel hierfür lautet: „sancta, justa, commoda et felix symbiosis" (I. 3). 41 Politica 1,10; V I I . 3; V I I I . 1; I X . 12, 15. Das jus symbolicum einer jeden Gemeinschaft w i r d an diesen Maßen ausgerichtet und heißt darum auch eutaticum, syntagmaticum ( V I I I . 1). 42 U m so interessanter ist es, daß Althusius dort, wo er sie i m Text behandelt, etwa i m K a p i t e l über Erziehungsziele an Schulen, Aristoteles zitiert: „boni cives . . . vero p i i (!), fortes, justi, temperantes" ( I X . 39 m i t V e r weis auf „lib. 7. pol. c. 15."). 43 P o l i t i k 1333 a 36—64, vgl. NE 1102 a 23—1103 a 3, 1138 b 35—1139 a 1. 44 Die theologische Rechtfertigung stellt darauf ab, daß der Symbioticus sein Leben vor Gott (zum R u h m Gottes) n u r leben kann und darf i n der Weise der Bewährung m i t und für andere, vgl. Winters (FN 1), S. 175 ff.
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stand, daß die bei Christoph Corvinus verlegte Erstausgabe der Politica zwei ganz verschieden konzipierte Vorlagen für analytische Tafeln verwertet: 1. Tabulae totius Politici Systematis ordinem delineantes 45 und 2. Tabulae artis politicae 46 . Das unerklärte Nebeneinander von Exemplaren der Erstausgabe mit jeweils der einen oder anderen Tafelausstattung ist m. W. in der Literatur noch nicht bemerkt. Auch die Althusius-Bibliographie von Scheuner und Scupin bleibt hier stumm. 47 I n den Tabulae totius ist die traditionelle Tugendlehre als Teilgebiet der Politica in hohem Maße berücksichtigt. Das beginnt mit dem Grundwort des bürgerlichen Lebens (vita politica) und seiner Ausgliederung in Richtung auf Spezifisches (darunter auch virtus civis) und Gemeinsames, eben die „ethische" Verkehrsform. Die spezifische virtus civis findet sich sodann entfaltet nach Kardinaltugenden für Regenten i m Stil älterer Fürstenspiegel, nach Amtstugenden für Ratgeber bzw. Diener und nach Gehorsams- und Umgangstugenden für Untertanen. Unter gesellschaftlichen Verkehrsformen erscheinen Teile der Ethica von 1601 (vgl. oben I). Wäre von Althusius nichts überliefert als diese Tabulae totius, man würde glauben, ein mehr oder weniger konventioneller Ethicus habe sich an einem System der Prudentia versucht und die auf das gute Leben des Bürgers bezogene Teleologie des Aristoteles variiert. Freilich werden Tugenden oft staatsfunktional verkürzt: Regententugenden z. B. als Bedingungen (causae48) erfolgreichen Regierens, Beratertugenden als Effektuierung des Dienstes und Untertanentugenden als Hebel der Regierbarkeit. Die Regiertugend der Autorität w i r d dargestellt als Instrument zur Erzeugung von Bewunderung und Furcht, und die Macht des Regenten (Potentia — wenn überhaupt, eine sehr merkwürdige Tugend) w i r d ausgeleuchtet im Hinblick auf instrumenta, die sie begründen: Reichtum, Waffen, Wissen, Bündnisse, Glück oder (!) Gottes gnädige Vorsehung 49 . Althusius, der sich i m Vorwort von 1603 von „fremden" und „nicht zur Sache gehörigen Dingen" distanziert und dafür das Beispiel von Ethici bringt, die Fürsten und Räte mit allerlei ethischen Tugenden geschmückt und gebildet sehen wollten, hat offenbar befürchtet, daß die an traditioneller Teleologie anknüpfende Darstellung der Tabulae 45 48
gen. 47
I m Exemplar der Staatsbibliothek Wolfenbüttel. I n den Exemplaren der U B Freiburg und der Studienbibliothek D i l l i n -
Althusius-Bibliographie. Die Tafel A gliedert den Hauptbegriff „Causae Administrationis Reipub." aus und gelangt von i h m zu den „virtutes". 49 Auctoritas cuius Partes Admiratio, Metus: cuius Causae . . . Potentia, cuius instrumenta sunt: Opes, Arma, Consilia, Foedera, Fortuna seu Dei propitia Providentia. 48
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totius auf eine falsche Fährte führe. So hat er sie noch während der Auslieferung der ersten Auflage gegen die Tabulae artis ausgetauscht. In diesen setzt er selbstbewußt an die Stelle des bürgerlichen Lebens und der virtus civis das eigentliche Thema seiner Politik-Lehre, die Gemeinschaften: Politicae proposita est consociatio. 50 Auf sie bezieht er auch die durchgehaltene Bestimmung seines Wissenschaftssystems: ars consociandi! I V . Usus (Anwendungsorientierung)
Nach der Skizzierung innerer Wissenschaftsaspekte der althusianischen Politik sollen nunmehr Fragen ihrer Anwendung, also ihres möglichen Gebrauchs und Nutzens für Probleme der Zeit erörtert werden: die Lage und Verfassung des Reichs und seiner Territorien, insbesondere die darin anstehenden konfessionspolitischen Probleme. Waren „ A n t worten" auf diese Herausforderungen der Zeit in der Doktrin vorbedacht? War ihre Struktur komplex und differenziert genug, um A n t worten zuzulassen? 1. Das Reich
Der Friede i m Reich war seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts durch die Teilnahme des Auslandes an innerdeutschen, zumeist konfessionellen Streitfragen ebenso gefährdet wie durch die Rückwirkung dieser Gegensätze auf die Reichsorgane; vom Kaiser und seinem Hofrat abgesehen kam ihre Tätigkeit in der ersten Dekade des 17. Jahrhunderts zum Erliegen. Die Reichsstände gingen dazu über, ihre Interessen eigenmächtig wahrzunehmen, bildeten konfessionelle Schutzbünde, knüpften Verbindungen mit dem Ausland oder suchten ihr Glück in der Neutralität. 5 1 Unter den Sonderbundtendenzen sind auf calvinistischer Seite um die Jahrhundertwende nassauisch-dillenburger Unionspläne erinnernswert, die sich vor den Augen des damaligen Herborner AkademieMitgliedes entwickelten. 32 Waren in solcher Lage Integrität und Einheit 50 Nach der Gemeinschaftenlehre (Politicae proposita est consociatio) folgt die Lehre vom Reich und seinen Ordnungen (A: Universalis consociatio i n iuribus regni und C: Constitutio ministrorum Reip.), dazwischen eine DienstLehre der Stände, Ämter, Berufe (B Munera), die Klugheitslehre (D: Prudentia) und — mit Teilen aus ihr die Polizey-Lehre (E: Species administrationis). 51 Vgl. Ernst W. Zeeden, Das Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: Bruno Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 2, Stuttgart 81961, § 38, S. 119 ff. 52 Hans Ulrich Scupin verweist auf die Regierungskanzlei des Grafen v. Nassau-Dillenburg (in der Althusius über zehn Jahre als Rat tätig war) sowie auf die Wetterauische Grafenbank i m Reichstag, vgl. ders., Demokratische Elemente in Theorie und Praxis des J. Α., in: Reigersman u.a., A desirable world. Essays in Η . of Β. Landheer, The Hague 1974, S. 67 ff. (71). G. Oestreich hat die zugehörige territoriale Heeresverfassung untersucht:
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des Reiches noch zu retten? Würde es in einem großen europäischen Krieg der Konfessionsparteien vollends zerbrechen? Neben solcher „reichsfreundlichen" Sorge stand eine reichs-skeptische, die vom Umfeld des katholischen Kaisers ausgelöst war. Denn wie in anderen europäischen Staaten, so gab es auch im Reich Bestrebungen, die Herrschaftsbefugnisse des Monarchen zu stärken — die umstrittene Spruchpraxis des kaiserlichen Reichshofsrats erschien als Indiz. War unter gegebenen Bedingungen nicht zu befürchten, daß die evangelische Sache, die calvinistische zumal, durch erzwungenen Bekenntniswechsel Schaden nähme? 53 Nimmt man diese Risiken i n der Lage Europas und des Reichs um 1600 als real wahrnehmbar an, dann erweist sich die Politica als ein Versuch, zwischen der Skylla des Zerfalls der Reichseinheit und der Charybdis des Konfessionsverlusts ohne Schaden für Reich und Calvinismus hindurchzukommen. Die i n der Lehre vorbereitete „ A n t w o r t " liegt i n der Idee vom Volk als Eigentümer der jura majestatis und der damit zusammenhängenden Lehre von den Gemeinschaften. Sie präsentiert sich als System von ursprünglichen („von Natur" bestehenden und nicht etwa durch souveräne Verfügung konstituierten), teilselbständigen (d. h. auf ihre je mögliche Autarkie hin verfaßten), subsidiären (d. h. durch öffentliche und erweiterte Gemeinschaften ergänzten und funktional komplettierten) gleichwohl i n Gliedstellung zum Reich und dessen Gliedern gehaltenen (also nicht selbstgenügsamen und nicht souveränen) Einheiten. Durch dieses Konzept w i r d die zentrifugale, auf Kosten der Reichseinheit gehende Stände-Dynamik gebrochen, die den Absolutismus der Monarchen als Gegenmittel gegen ein „Verschweizerungs"-Risiko großer Reiche (Barclay) hätte gerechtfertigt erscheinen lassen 54 . Andererseits füllt Althusius' Gemeinschaftslehre den souveränen und luftigen Ordnungsrahmen des Reiches (consociatio universalis) mit lebenskräftigen Teilordnungen, die einer politischen Sicherung ständischer (konfessioneller) Rechte entgegenkommt. Der „Monismus der Reichssouveränität" (Friedrich) w i r d dadurch jedenfalls nachhaltiger relativiert als durch einen bloßen Rechtsvorbehalt im Blick auf den ausstehenden cultus sincerus publicus regni. 55 Das Recht ders., Graf Johann V I I . Verteidigungsbuch für Nassau-Dillenburg 1595, in: ders., Geist u n d Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969, S. 311 ff., ferner Menk (FN 11), m i t weiterer Literatur. 53 Vgl. Ernst W. Zeeden, Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung i n Deutschland i m Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: H Z 1958, S. 249 ff. 54 Vgl. Richard Nürnberger, Wesen u n d Wandel des Föderalismus, in: Festschrift für Gerhard Ritter 1950, S. 434. 55 Danach soll das ius hieraticum n u r f ü r den Fall auf Reichsebene i n K r a f t treten, daß i n den einzelnen Städten u n d Provinzen oder Gliedern des Reiches „idem Dei cultus publicus, sincerus, secundum Dei voluntatem institut u m conservatur, atque generalis illius cura ab universali consociatione habetur" (IX. 35).
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des Kaisers auf Ausübung des jus hieraticum blieb gewahrt, war aber vorläufig sistiert. Dies nun lenkt die Aufmerksamkeit auf die Territorien als primäre Entscheidungsräume über die Religionsverhältnisse im Reichsgebiet. 2. Territorium
Der Calvinismus hatte sich i n den Randgebieten des Reiches festgesetzt und saß dort sprungbereit. Wenn wirklich die Sistierung der cura religionis (zugunsten der „reinen Lehre") auf Reichsebene beendet werden sollte, mußten die Konfessionsverhältnisse auf breiter Front umgekehrt werden. A u f dieses Fernziel hin hatte der Reformator allen Kurfürsten, Fürsten und Obrigkeiten die Pflicht auf die Seele gebunden, das Ihre beizutragen, um das Reich Gottes (d. h. die reformierte Lehre) einzuführen, zu fördern, zu pflegen und zu bewahren. 56 Cura religionis ist auch für Althusius prima et praecipua cura der Regenten (IX. 36). Althusius verkündet die Grundsätze calvinistischer Religionspolitik als Eiferer der reinen Lehre; kein Gebiet der Politica, in das er nicht den Dekalog als Norm der Normen einbezogen hätte! Er besetzte den geistigen Raum der praktischen Philosophie mit der reinen Lehre und machte die doctrina politica zu einem Instrument des politischen Calvinismus. Nach Beiträgen wie denen der lutherischen Juristen zu einem gemeinchristlichen Reichskirchenrecht 57 sucht man bei ihm vergebens, er verfaßt „Lehren eines radikalen Theoretikers, dessen Ideal die theokratische Polis Calvins war". 5 8 Wäre dies freilich das letzte Wort zu Althusius, dann bestünde der usus seiner Politica für die Territorien i n nichts anderem als darin, daß Religionspolitik bis zum bitteren Ende des Bürgerkriegs heilige Pflicht der Magistrate sei. Tatsächlich aber vermeidet er diese Konsequenz. Die Möglichkeit hierzu eröffnet ihm das Lehrstück der prudentia, das im Mittelteil seiner ars politica breiten Raum einnimmt und auch auf die Schlußabschnitte des Kapitels abstrahlt, das unmittelbar hinter der Prudentia-Lehre steht: die Kirchenverwaltung (XXVIII). Zweimal ver5e
Baron (FN 22), S. 43 ff.; Ernst W. Zeeden, Aufgaben der Staatsgewalt i m Dienst der Reformation. Untersuchungen über die Briefe Calvins an Fürsten und Obrigkeiten, i n : Saeculum 15 (1964), S. 132 ff. (141 ff.). 57 Martin Heckel, Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen J u risten Deutschlands i n der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, i n : Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, K a n o n Abtlg. X L I I , Weimar 1956, S. 157 ff. 58 So Maier, Die Lehre der P o l i t i k (FN 2), S. 77; Althusius rät jedoch i n Religionssachen zur Mäßigung (Moderatio) innerhalb calvinistischer Gruppen und gegenüber Lutheranern, vgl. I X . 42 f.
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weist er in religionspolitischem Zusammenhang auf sie voraus: im Kapitel über die Provinz (VIII. 38) und i m Kapitel über das Reich und sein jus hieraticum (IX. 45). Er hält an der calvinischen Norm fest und verlegt sich auf Handhabungshilfe. Dieser Weg liegt nicht außerhalb der Geltung der lex generalis (XXI. 22 ff.), aber eröffnet das Verfahren der Güter-Abwägung. Und im Rahmen dieses Verfahrens kann mitgeteilt werden, daß die cura religionis vom Magistrat nicht verlange, das Risiko des Krieges zu laufen und den Staat zu ruinieren, nur damit die „Ehre Gottes" gewahrt oder sein „Reich" auf den Trümmern der Respublica errichtet werde. Der Staat steht dank der Prudentia nicht zur Disposition eifernder pietas, vielmehr muß er vom Magistrat wie ein Schiff durch Böen und reißende Strömungen hindurchgesteuert werden ( X X V I I I . 66). Der Militanz des Genfer Reformators stellte sich nach einem halben Jahrhundert die Erfahrung entgegen, daß eine „Reich-Gottes-Politik" von der Praxis allmählich ad absurdum geführt wurde 59 . Althusius geht nicht so weit wie der französische Kanzler de l'Hospital und die „Politiques", die eine Autonomie des Politischen reklamierten 60 . Doch ist auch er bereit, die Handhabung der cura religionis „politisch" einzugrenzen: das Übel, das vermieden werden müsse, sei periculum et turbatio Reipublicae, exitium bzw. interitus Reipublicae ( X X V I I I . 65 f.); das Gut aber, das unverzichtbar sei, „pax et tranquillitas publicae causae" ( X X V I I I . 66). Als theologisch versierter Politicus vermag er auch diese Eingrenzung noch zu heiligen (um nicht zu sagen „ideologisch zu rechtfertigen"): Toleranz gilt als Zutrauen in die Providenz Gottes („donec Deus reliquos illuminet"); und die vorrangige Berücksichtigung der tranquillitas causae publicae bedeutet indirekt einen Vorteil für die Kirche, der ihre Herberge erhalten bleibe (hospitium ecclesiae X X V I I I . 66). Der usus der politischen Lehre des Althusius erstreckt sich also auf aktuelle Risiken und Zielkonflikte i m Reich und in den Territorien für die in Gestalt eines „Ordnungsrahmens" bzw. von „Entspannungsmöglichkeiten" Antworten gefunden werden mußten; sie beruhen im wesentlichen auf jenen Elementen der doctrina politica, die schon i n der Vorrede von 1603 zu besonderen Bemerkungen Anlaß geben: einerseits auf der (gegen Bodin gerichteten) Lehre vom Eigentümer der Souveränität, andererseits auf der (gegen einen eifernden politischen Calvinismus wirkenden) prudentia-Lehre. Beide sind integrierende Bestandteile 50 Calvins Kategorien von Heil und Unheil ließen einen modus vivendi nicht zu, wie eine verfahrene Situation ihn verlangt, vgl. Zeeden (FN 56), S.146. 80 Vgl. Roman Schnur, Die französischen Juristen i m konfessionellen B ü r gerkrieg des 14. Jahrhunderts. E i n Beitrag zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates, Berlin 1962, S. 11 ff.
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einer „praktischen Philosophie", in der es neben naturrechtlich fundierten allgemeingültigen Theorien (praecepta generalia) 61 auch die nach den historischen Umständen wechselnden und in der Unstetigkeit alles Menschlichen begründeten unsicheren Theorien (theoremata contingentia) gibt. Indem Althusius sich zur letzteren bekennt (sunt tarnen haec politico cognoscendae, nec in scientia politica ommittenda), verweigert er sich jenem neuzeitlichen Wissenschafts-Status, der durch Verzicht auf das arbitrium incertissimum über die Natur des Menschen (G. Vico) erkauft wird. V . Ergebnisse
Althusius hat seine Lehre von der Politik sehr bewußt in den Koordinaten der philosophia practica und in der aristotelischen ars-Tradition aufgebaut: nicht, weil Aristoteles für ihn der philosophus schlechthin war, sondern weil damals eine politica jenseits von Aristoteles keine „normale Wissenschaft" (Th. Kuhn) gewesen wäre. Er benötigte die Tradition, um eine Grunddisziplin in der Artistenfakultät für den politischen Calvinismus zu gewinnen und ihr Lehrsystem mit dem Geist der reinen Lehre und deren biblischen Autoritäten zu besetzen. Indem Althusius seine Politica durchgängig als eine Kunstlehre (ars) traktierte und abweichende Behandlungsmöglichkeiten, z. B. die prudentia-Lehre, dieser unterordnete, gelang es ihm, sein System als eine Systematisierung und Ausgleichung aristotelischer Ansätze erscheinen zu lassen — und dies um so mehr, als er gerade den fundierenden sozialen, oder besser: symbiotischen Zusammenhang (der sonst das moralphilosophische genre benötigte) für den Kunstlehre-Ansatz voll erschloß („ars consociandi")! Aristoteles war dem Autor der Politica aber nicht nur opportun, sondern er sah i n der zoon-politikon-Lehre eine fundamentale Übereinstimmung mit eigenen Auffassungen vom menschlichen Dasein. Der Mensch ist gerade noch nicht das autonome Wesen, als das es in der späteren Naturrechts- und Gesellschaftsvertragstheorie erscheint und als das er Hechtsverzichte für Sicherheit und Zivilität leistet; vielmehr ist der Mensch Gesellschaftswesen, von allem Anfang an in die Symbiose mit anderen eingefügt und nur in ihr zum angenehmen und zum edlen (frommen) Leben befähigt. Das Leben ist nimmer endender Dienst, Abtrag einer Schuld für vorgetane Arbeit Dritter. Wer sich dieser Norm entzieht — und wäre es i n der Form des bios theoretikos — der w i r d β1 Z u m Ausfall der Naturrechts-Rezeption vgl. Hans Maier, Ältere deutsche Staatslehre und westliche politische Tradition, i n : ders., Politische Wissenschaft in Deutschland, München 1969, S. 140.
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zum Schmarotzer an der Gemeinschaft: er lebt als „privatus" und unsymbiotisch. I m Blick auf diese fundamentale, Aristoteles gar noch überbietende Sozialnatur-Lehre des Menschen kann man sagen, Althusius stand näher bei Aristoteles und Thomas als bei den späteren Hobbes, Locke oder Rousseau. Andererseits ist Aristoteles ein Traditionselement, dessen sich A l t h u sius eklektizistisch bedient. Er tut dies vielfach wohl aus zweiter Hand, nicht immer sinngemäß, aber stets zustimmend. „Genuin" i n dem Sinn, den Arnisaeus und die Helmstedter ihrem Aristotelismus gaben, war dieser Herborner Aristotelismus sicher nicht gemeint. Doch er bereitete der Althusianischen Politik-Lehre den Status einer normalen Wissenschaft und erlaubte es, einen usus von ihr zu machen, der — die Militanz des politischen Calvinismus in Rechnung gestellt — mäßigend genannt zu werden verdient. Nicht nur der Eklektizismus führt zu Zweifeln daran, ob Aristoteles für den Herborner Juristen und Philosophen eine „echte Autorität" war; hinzu kommen Umbildungen in zentralen Lehrsätzen der aristotelischen Politik. Althusius hat die tradierte Lehre von den Lebensformen durch die Verurteilung des bios theoretikos und seine Ausweisung aus der Respublica gravierend verändert; er hört auf, eine Gipfelmöglichkeit menschlichen Daseins und ein Telos der besten Staatsverfassung zu sein®2. V I . Epilog: Althusius redivivus
Zur nachalthusianischen Situation seien einige knappe Bemerkungen gestattet, die anzudeuten suchen, wo ggf. ein Rückgriff auf den Autor der Politica möglich ist. Der Anspruch „symbiotischer" Politik war an eine Gesellschaft gerichtet, i n der religiös-sittliche Triebkräfte ganz unmittelbar Ausdruck verlangten und wo Ethik und Politik dies zu berücksichtigen hatten. I m Verlauf der Aufklärung und der sie begleitenden Wissenschaften wurden substanzielle Ordnungen dieser A r t abgebaut. Die liberale Trennung von Gesellschaft (Kirche) und Staat ließ ein Sozialmodell als antiquiert erscheinen, zu dessen Voraussetzungen „concordia" i m religiös-substanziellen Sinne gehört. M I n w i e w e i t i n dieser Verurteilung einer Lebensform außer konfessionellen u n d pragmatistischen Voreingenommenheiten auch Motive eine Rolle spielen, w i e Eric Voegelin sie für den englischen Puritanismus jener Zeit i m Kontext der modernen Gnosis analysiert hat, sei als offene Forschungsfrage festgehalten; vgl. Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, München 1959, S. 186 ff.
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I m Zeitalter des liberalen Trennungsdenkens war es Immanuel Kant, der das Modell eines Staats ohne substanzielle Symbiose seiner M i t glieder zur Diskussion stellte: Es müsse möglich gemacht werden, Einwohner ohne deren Zutun zu „guten Bürgern" zu formen. Nicht die moralische Hebung des Menschen, sondern der Mechanismus der Natur sei für eine solche Aufgabe zu wissen verlangt (also: praecepta generalia, nicht theoremata contingentia!): „Das Problem der Staatserrichtung ist . . . selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar". 63 I m Prinzip der Generalpraevention erscheint das EffizienzK a l k ü l des liberalen Rechtsstaats. Nicht weniger technisch und um nichts weniger von symbiotischen Grundlagen abstrahierend war jenes Bismarcksche Sozialstaatsmodell, das die Interessen der bedürftigen Schichten unmittelbar an der Zahlungsfähigkeit öffentlicher Kassen festband und sie später der Organisationsmacht großer Verbände auslieferte. M i t dem massenhaften Verschwinden des privat beherrschten Lebensraums (Forsthoff) multiplizierte sich die Wirkung dieses Modells und machte seine Defizite i m Bereich subsidiärer Gemeinschaftsbildung desto krasser bemerkbar. 64 Die Bundesrepublik Deutschland knüpft an beide Modelle, das rechtswie sozialstaatliche an; aber sie weiß, daß die Bedingung der Möglichkeit, „technische" Sozialmodelle aufrechtzuerhalten, nicht zuletzt von der Stimulierung „symbiotischer Prozesse" abhängt. 65 Indem der moderne Staat als Garant sittlicher Normen ausfiel und sich auf die Rolle des technischen Dienstleistungsbetriebs beschränkte, blieb die notwendige Arbeit sittlicher Vergesellschaftung wo nicht unerledigt, so doch weithin wirkungslos. Familien- und Sozialpolitik leiden heute darunter ebenso wie die Parteienfinanzierung, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik. Die scheinbare Präzision sozialtechnischer Strategien, die Quantifizierung der Anreiz- und Abschreckungsfaktoren erweisen sich nicht als isolierbar gegenüber der Qualität mitmenschlicher Beziehungen und dem Fundament der Sitte. 66 Wilhelm Röpke hat das zu Beginn 63 Immanuel Kant, Z u m Ewigen Frieden, hrsg. von K. Vorländer, Leipzig 1919, S. 32 (Definitivartikel 1. Zusatz). e4 Z u r Integrationskrise der bürgerlichen Gesellschaft Eckhart Pankoke, Sociale Bewegung — Sociale Frage — Sociale Politik. Grundfragen der deutschen „Socialwissenschaft" i m 19. Jh., Stuttgart 1970; vgl. auch Josef Schäfers, Ordnungspolitische Aspekte i m Wandel der sozialen Frage, i n : Recht und Staat i m sozialen Wandel, Festschrift für H. U. Scupin, Berlin 1983, S. 85 ff. (89 f.). 65 Das w a r der Sinn des Sozialpartnerschaftsmodells als Ordnungsfigur der Betriebe und der Beziehungen zwischen den Tarifparteien, vgl. H. Budde, Soziale Partnerschaft als gesellschaftliche Ordnungsaufgabe, in: Die neue Ordnung 1982, S. 302 ff. ββ Vgl. Paul-L. Weinacht, Bürgerschaftliche Moral i m Wohlfahrtsstaat. Grenzen der Zumutbarkeit, i n : Stimmen der Zeit 1984, S. 227 ff.
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der 50er Jahre für die Marktmechanismen dargetan, 67 heute bemerken wir, daß selbst das sog. Gleichgewicht des Schreckens technisch und spieltheoretisch nur funktioniert, wenn eine Bevölkerung Einsicht, Urteilskraft, Mut und Selbstbeherrschung aufbringt, unter solchen Risiken ihr Leben zu führen. Ist dies die Stunde einer aristotelischen 68 , gar einer Renaissance?
Althusius-
Regierbarkeitsprobleme in westlichen Demokratien sind heute nicht mehr länger nur ein Thema des technischen Staats, 69 Sozialpolitik w i r d von Soziologen aus Lebensbeziehungen kleiner Gemeinschaften neu dimensioniert und korrigiert 7 0 , von Politikwissenschaftlern unter neue Legitimitätsforderungen gestellt: statt Souveränitätswahrung oder Emanzipationsförderung Subsidiarität 71 . Politische Kulturforschung, die lange Zeit i m positivistischen Gewand daherkam und statt politischer Sitten Einstellungssymdrome verhandelte, besinnt sich: die Distanz zum geistigen und künstlerischen Leben (also das Bemühen, der Symbiose mit dem traditionellen deutschen „Kultur"-Verständnis zu entkommen) w i r d geringer, man orientiert sich z. T. an einer „ K u l t u r der Politik" 7 2 . Für die Rechtswissenschaft ist das positivistische Trennungsdenken, das von einem „freien Individuum" ausging, nicht mehr das bestimmende Problem; die neue Problemlage ist vom System- und Funktionsdenken erzeugt, in dem ein Individuum als bloßer Zurechnungspunkt für Rollen oder Funktionen angesehen wird. Wenn aber die gesamte rechtlich geregelte Lebensordnung zuletzt funktional und rollenspezifisch durchnormiert ist, stellt sich „die Frage, ob denn der Mensch so leben kann" 7 3 . Daß Theologen sich auf einen „institutionell87
Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach-Zürich/Stuttgart 31961. Franz J. von Rintelen, Philosophie des lebendigen Geistes i n der Krise der Gegenwart, Göttingen u.a. 1977, S. 64 f.; Schäfers spricht von einer „»aristotelischen' Chance für den politischen Geist" (FN 64, S. 99). ββ W. Hennis u. a., Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, 2 Bde., Stuttgart 1979. 70 Franz-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches u n d sozialpolitisches Problem, Stuttgart 21973; ders., Bürgernahe Sozialpolitik, F r a n k f u r t / M . / N e w Y o r k 1979; Friedhart Hegner, Sozialpolitik i n den achtziger Jahren: Suche nach einem Mittelweg zwischen Bürokratie und Selbsthilfe, in: Die K r a n kenversicherung (32) 1980, S. 276 ff. 71 Manfred Spieker, Legitimitätsprobleme des Sozialstaats in der Bundesrepublik Deutschland, Habilitationsschrift K ö l n 1981. 72 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, B u l l e t i n v. 19. A p r i l 1984. 73 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Veränderungen des Verständnisses vom Menschen i n u n d durch die Rechtsordnung/Rechtswissenschaft, in: Quid es homo? (Zur anthropologischen Relevanz der modernen Wissenschaften ( A r beitshilfen, Heft 32, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Bonn 1984, S. 37 ff. (42 f.). 88
Althusius — ein Aristoteliker? kommunikativen Freiheitsbegriff" Tradition
bis
zum
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besinnen, w i e er i n n a t u r r e c h t l i c h e r
16. J a h r h u n d e r t
entwickelt
wurde,
verwundert
n i c h t 7 4 ; eher n i m m t es W u n d e r , daß e i n M e i s t e r i m Fach der k a t h o l i schen Soziallehre
unter
den
„unzähligen
Definitionen
von
Politik"
gerade die althusianische als problemangemessen a u s w ä h l t : die
vom
Gemeinschaftsleben h e r gedachte P o l i t i c a des a r i s t o t e l i s i e r e n d e n
Cal-
v i n i s t e n r ü c k t d a m i t i n eine neue N ä h e z u r G e m e i n w o h l - L e h r e
der
katholischen Moraltheologie („Sozialtheologie"75). D i e ars p o l i t i c a des Johannes A l t h u s i u s , so scheint es jedenfalls, h a t neue F r e u n d e .
74
Franz Böckle, Zur anthopologischen Relevanz der modernen Wissenschaften — Beitrag Theologie, in: Quid est homo? (vgl. F N 73), S. 44 ff. (S. 53). 75 Gustav Ermecke, Politik zwischen Ideologien und Pragmatismus, Uberlegungen aus der Sicht der christlichen Sozialwissenschaft, in: ibw-Journal, 21. Jg. (Aug. 1983), Heft 8, S. 123 ff. (S. 124). Sozialtheologie ist als Begriff erst seit den 30er Jahren i n Schwung gekommen; sie bezeichnet die christliche Gesellschaftslehre i m engeren Sinn. Nach Ermecke w i r d darunter verstanden „das Gesamt jener Aussagen, i n denen die Kirche die Botschaft Christi über das m i t - und zwischenmenschliche Leben auf Grund der i h r vertrauten übernatürlichen Offenbarung verkündet (Christliche Gesellschaftslehre i m engeren Sinne) und alle heilsrelevanten Erkenntnisse anderer Sozialwissenschaften, vor allem der Sozialphilosophie, i n sich aufnimmt (Christliche Gesellschaftslehre i m weiteren Sinne)." (FN 4 auf S. 127 des zitierten Aufsatzes). So gesehen erhält die Politica methodice digesta als kalvinistischer Sproß Heimatrecht i m „Entwicklungsprozeß" der heute „christlich" genannten Soziallehre bzw. Sozialtheologie!
ALTHUSIUS — E I N DEUTSCHER ROUSSEAU? Überlegungen zur politischen Theorie in vergleichender Perspektive Von Dieter Wyduckel, Münster Als Otto von Gierke vor mehr als einhundert Jahren im Rahmen seiner Forschungen zum deutschen Genossenschaftsrecht auf das Werk des Johannes Althusius stieß1, nahm er für sich in Anspruch, einen in doppelter Hinsicht bedeutsamen Fund gemacht zu haben. Zum einen war die Lehre des Althusius geeignet, das denkgeschichtliche Fundament für die von Gierke angestrebte genossenschaftsrechtliche Theorie 2 abzugeben. Zum anderen schien — endlich — repräsentativ nachweisbar, daß auch von deutscher Seite ein wesentlicher Beitrag zu jener Ausrichtung politischen Denkens geleistet worden sei, in deren Tradition der demokratische Verfassungsstaat seinen Ort hat und für die man Belege ansonsten nur im europäischen, genauer: westeuropäischen Raum zu finden meinte. Es war nicht erstaunlich, daß hierbei sogleich an Parallelen zwischen Althusius und Rousseau gedacht wurde. Gierke konstatierte bereits i m ersten Zugriff, daß die Lehren des Althusius in „oft überraschender Ähnlichkeit" bei Rousseau wiederkehren 3 . Der Contrat Social weise mit der Politica des Althusius eine „merkwürdige Übereinstimmung bezüglich mehrerer fundamentaler und markanter Gedanken auf, die bei keinem anderen Vorgänger, sei es überhaupt, sei es in gleich scharfer Ausprägung begegnen"4. Und mehr als das: Gierke behauptete darüber hinaus, daß Rousseau die „Elemente, aus welchen er seinen gefährlichen Trank braute, fertig vor(fand)". Rousseau habe nur die Mischung vollzogen und durch die „Zuthat seiner feurigen Sprache" ihre „berauschende Kraft" verstärkt 5 . 1 Vgl. Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der n a t u r rechtlichen Staatstheorien (zuerst Breslau 1880), 7. unveränd. Ausg. m i t V o r w o r t von Julius von Gierke, Aalen 1981 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, A. F., H. 7). 2 Vgl. sein unvollendet gebliebenes »Deutsches Genossenschaftsrecht', B e r l i n 1868—1913, Neudruck Darmstadt 1954, 4 Bde. 3 Gierke, Althusius (FN 1), S. 4. 4 Ebd., S. 9. 5 Ebd. 30 R E C H T S T H E O R I E ,
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Die These Gierkes wurde in der allmählich sich entfaltenden Althusius-Forschung aufgenommen und kritisch durchleuchtet. Ihre wohl entschiedenste Verteidigung hat sie seitens des französischen Politologen Robert Derathé erfahren, der in Althusius nicht nur den Vorläufer, sondern auch den Lehrmeister Rousseaus erblickt 6 . Demgegenüber hat Erik Wolf, Rechtsphilosoph und Rechtshistoriker, auf die „tiefe Verschiedenheit" beider hingewiesen mit der Folge, daß Althusius als konservativer Dogmatiker, Rousseau hingegen als literarischer Wegbereiter der Revolution erscheint 7. Auch heute ist die Kontroverse noch keineswegs beigelegt oder gar erledigt, sondern nach wie vor von ungebrochener Aktualität. Sie zielt über den Vergleich zweier politischer Denker und ihrer Lehren zugleich auf die Frage nach ihrem Stellenwert. Sind beide überhaupt von gleichem Gewicht? Oder ist Althusius etwa ein Mann zweiten Ranges, dessen geistige Ausstrahlung, wie man gesagt hat, weder radikal noch blendend sei, den als Gelehrten wohl Fleiß und Pflichtbewußtsein, nicht aber Eleganz und Schwung ausgezeichnet hätten? 8 . Besäße er mit anderen Worten gleichsam zu wenig ,Karat 4 , um Rousseau an die Seite gestellt zu werden? Wäre es demzufolge ein verzeihlicher Fehler, ihn in jenem Halbdunkel zu belassen, dem er lange Zeit anheimgefallen war und in dem er, jedenfalls zum Teil, noch heute ist?9. Den damit aufgeworfenen Fragen soll nunmehr in vergleichender Betrachtung nachgegangen werden, und zwar im Hinblick auf folgende Gesichtspunkte: Welche Vorstellungen haben Althusius und Rousseau vom sozialen Zusammenleben der Menschen? (I), Welche Konzeption des Gemeinwesens entwickeln sie? (II), Welcher Stellenwert kommt Recht und Verfassung in ihren Lehren zu? (III), und schließlich: Auf welcher politiktheoretischen Basis ruhen die jeweiligen Positionen auf? (IV). I . Das soziale Zusammenleben der Menschen
Seit jeher haben Staatslehre und politische Theorie das soziale Zusammenleben der Menschen zu begründen und zu erklären gesucht. 6 Robert Derathé, Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps, 2e éd., Paris 1974, S. 92 ff. (99). 7 Erik Wolf, Johannes Althusius, in: ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tübingen 1963, S. 177—219 (213, 215). 8 Vgl. Alfred Voigt, Johannes Althusius in Herborn und seine „Politica" (1603), in: 1050 Jahre Herborn. Vorträge zur Geschichte Herborns 1964, H e r born 1965 (Veröffentlichungen des Geschichtsvereins Herborn), S. 40—58 (52). 9 So die Einschätzung von Paul Bastid, Althusius et le droit public moderne, in: Revue internationale d'histoire politique et constitutionnelle NS 3 (1953), S. 1—19 (19), der — was die Leistung und Bedeutung des Althusius angeht — zu dem Schluß kommt, „qu'en le laissant tomber dans l'oubli l'érudition française n'a commis somme toute qu'une faute assez vénielle".
Althusius — ein deutscher Rousseau?
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Wenn Althusius die vita socialis dem Gegenstandsbereich der Politik zuweist 10 , so bewegt er sich damit durchaus in den Bahnen der Tradition. Es war ebenfalls nichts Neues oder Ungewöhnliches, menschliche Gemeinschaftsbildungen mittels der Kategorie des Vertrages zu begründen. Das hatten vor ihm die Sophisten 11 getan nicht anders als die auf den antiken Erkenntnissen fußende christliche Staats- und Gesellschaftslehre des späteren Mittelalters. Namentlich bei Marsilius von Padua ist in der Vorstellung der congregacio als eines Zusammenschlusses von Menschen der für die spätere Vertragstheorie typische Gedankengang bereits angelegt 12 . Auch unter den Zeitgenossen des Althusius gilt als weitgehend ausgemacht, daß das soziale Zusammenleben der Menschen im Gemeinwesen einer vertraglichen Begründung fähig und bedürftig ist 13 . Es kann demnach nicht überraschen, wenn Althusius das soziale Zusammenleben der Menschen auf einen Vertrag, von ihm pactum genannt, zurückführt 14 . Die Vertragschließenden sind die von ihm so genannten symbiotici, Miteinanderlebende 15 , die auch als homines politici symbiotici 1β, politisch-symbiotische Menschen oder schlicht als cives communicantes 11, miteinander zu vereinigende Bürger, bezeichnet werden. Gegenstand und Ziel des Vertrages ist die consociatio, der gesellschaftliche Zusammenschluß der Menschen, m. a. W. die Verpflichtung zur wechselseitigen Gemeinschaft all dessen, was für das gesellschaftliche Zusammenleben als nützlich und notwendig angesehen wird 1 8 . Althusius scheint den Eindruck erwecken zu wollen, als ob die von ihm verwendete Terminologie eine durchaus gebräuchliche wäre. Dem ist bekanntlich nicht so. Es soll vielmehr — offenbar absichtsvoll — bereits mittels der gewählten Begrifflichkeit die Vorstellung einer 10 Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata, Herbornae Nassoviorum 1614, 2. Neudruck Aalen 1981, cap. 1, nr. 1, S. 2. Die Zitate sind i m folgenden, soweit nicht anders vermerkt, durchgängig dieser Ausgabe entnommen. 11 Vgl. John W. Gough, The Social Contract. A Critical Study of its Development, 2. ed., Oxford 1957, S. 9 ff. 12 Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis), lat.deutsche Ausg., ed. Horst Kusch, Teil I, Darmstadt 1958, cap. I V , § 5, S. 42. Dazu Christian-Friedrich Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 5. Aufl., Heidelberg 1986 (UTB, Bd. 930), S. 8, Rdnr. 18. 13 Vgl. Mario d'Addio: L'idea del contratto sociale dai sofisti alla riforma e i l „De principatu" d i M a r i o Salamonio, Milano 1954, S. 413 ff., m i t zahlreichen Bezügen zur P o l i t i k des Althusius. 14 Althusius, Politica (FN 10), cap. I, Nr. 2, S. 2. 15 Ebd. 16 Ebd., Nr. 3. 17 Ebd., Nr. 28, S. 9. 18 Ebd., Nr. 2, S. 2. 30'
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besonders engen sozialen Verbundenheit hervorgerufen und befördert werden 1 9 . Althusius untermauert seinen Gedankengang — ganz aristotelisch — unter Berufung auf die Sozialnatur des Menschen (homo natura ipsa sociale animal) sowie darauf, daß die societas civilis gleichsam von Natur aus bestehe (natura consistere) 20 . Er führt darüber hinaus zur Begründung die Bedürftigkeit und Ausgesetztheit des Menschen ins Feld, die i h n schrittweise zum sozialen Zusammenschluß der consociatio gelangen lasse 21 . Bei alldem verliert er seinen vertragstheoretischen Ausgangspunkt jedoch keineswegs aus den Augen. Nicht etwa die Natur allein, auch die Natur (etiam natura) bringt den Menschen zum sozialen Zusammenleben 22 . Die Wirkursache (causa efficiens) des gesellschaftlichen Zusammenschlusses ist und bleibt für ihn deshalb die Ubereinstimmung und der Vertrag der Bürger (consensus et pactum civium) 2 3 . M i t anderen Worten: die civilis consociatio beruht allein auf willentlichem Zusammenschluß (solo placito et voluntate) 2 4 . Althusius weiß sehr wohl, daß dieser Vertrag bei realistischer Betrachtung kaum nachgewiesen werden kann. Er konzediert deshalb — i m übrigen i n Übereinstimmung m i t der überkommenen Vertragslehre —, daß der soziale Zusammenschluß sowohl durch ausdrücklichen als auch durch stillschweigenden Vertrag (pacto expresso vel tacito) zustande komme 2 5 . Er erläutert seine Auffassung i m weiteren Fortgang der Darlegungen 26 dahingehend, daß es sich genaugenommen nicht um einen einzigen Vertrag, sondern u m eine Mehrzahl von Verträgen handelt, die ihrerseits eine Mehrzahl von sozialen Zusammenschlüssen konstituieren. Dies hat man sich so vorzustellen, daß die jeweils kleineren consociationes, ausgehend von der Familie, auf Übereinkommen beruhen, die einzelne Menschen unter sich abschließen (singuli quidam homines paciscentes inter se) 27 . Darauf bauen die größeren Zusammenschlüsse bis 19 Vgl. Friedrich Merzbacher: Der homo politicus symbioticus und das ius symbioticum bei Johannes Althusius, in: Recht und Staat. Festschrift für Günther Kiichenhoff zum 65. Geburtstag, hrsg. von Hans Hablitzel und Michael Wollenschläger, Berlin 1972, 1. Halbbd., S. 107—114 (109). 20 Althusius, Politica (FN 10), cap. I, Nr. 32 f., S. 10. 21 Ebd., cap. I, Nr. 4, S. 2 f.; Nr. 33, S. 10. 22 Althusius, ebd., Nr. 31, S. 10 unter Berufung auf Aristoteles. 23 Vgl. ebd., Nr. 28, S. 9: „Porro ex his, quae dicta sunt, colligimus, caussam efficientem consociationis politicae esse consensum et pactum civium communicantium." 24 Althusius, Politica (FN 10), cap. IV, Nr. 1, S. 44. 25 Ebd., cap. I, Nr. 2, S. 2. 26 Cap. I I ff. 27 Vgl. cap. I I , Nr. 3, S. 13.
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hin zur umfassenden consociatio universalis, dem universalgesellschaftlichen Zusammenschluß auf mit der Besonderheit, daß mit fortschreitendem Organisationsgrad nicht mehr die einzelnen (singuli) selbst, sondern nurmehr ihre körperschaftlichen Vereinigungen als Vertragspartner fungieren 28 . Letzteres erklärt sich aus der ständisch-korporativen Realität der Epoche. Althusius erweist sich hier durchaus als K i n d seiner Zeit. Betrachten w i r nunmehr die von Rousseau entwickelte Konzeption des sozialen Zusammenlebens. Auch Rousseau wählt einen vertraglich-individualistischen Ausgangspunkt. Der von ihm als contrat bzw. pacte social bezeichnete Gesellschaftsvertrag beruht auf individuellen Willensäußerungen derart, daß jeder sich mit allen vereinigt (chacun s'unissant à tous) 29 . Vom Ansatzpunkt her ergibt sich also kein entscheidender Unterschied zu Althusius. Dies w i r d mitunter übersehen, weil man das in der Lehre des Althusius unzweifelhaft vorhandene korporative Element zu einseitig in den Vordergrund rückt 30 . Rousseau kennt freilich nur einen einzigen Vertrag, der uno actu das soziale Zusammenleben der Menschen begründet. Die ständischen Schranken, die für Althusius noch gelebte Wirklichkeit sind, werden von Rousseau — jedenfalls im gedanklichen Vorgriff — bereits niedergelegt. Dies beeinträchtigt die vertragstheoretische Grundkonzeption beider jedoch nicht. Sie erscheint bei Rousseau im konstruktiven Ansatz bloß konsequenter durchgeführt. Auch hinsichtlich der Frage, ob es sich um einen wirklichen oder einen nur hypothetischen Vertrag handelt, besteht weitgehende Einigkeit. Rousseau ist sich ebenso wie Althusius dessen bewußt, daß die Klauseln des Vertrages wohl niemals formell festgelegt worden sind, sondern auf einer stillschweigenden Übereinkunft beruhen, m. a. W. heuristische Funktion besitzen 31 . Gemeinsamkeiten weisen schließlich auch die jeweiligen Konzeptionen des gesellschaftlichen Zusammenschlusses als eines einheitlichen Ganzen auf. Althusius sieht das einigende Band in der wechselseitigen 28 Vgl. Althusius, Politica (FN 10), cap. V, vor Nr. 1, S. 59: „ N a m societas humana certis gradibus ac progressionibus m i n o r u m societatum a privatis ad publicas societates pervenit." Siehe i m einzelnen ebd., cap. V, Nr. 10, S. 61; cap. I X , Nr. 3, S. 167. 29 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, D u Contrat Social, ou Principes du droit politique. Texte établi et annoté par Robert Derathé, in: Oeuvres complètes, vol. I I I , éd. publié sous la direction de Bernard Gegnebin (u. a.), Paris 1964 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 347—470, liv. I, chap. 6: Du pacte social (S. 360). 30 So namentlich Pierre Mesnard, L'Essor de la philosophie politique au 16e siècle, 2e éd., Paris 1951, S. 567 ff. 31 Vgl. Rousseau, Contrat Social (FN 29), liv. I, chap. 6, S. 360: „Les clauses de ce contrat . . . bien qu'elles n'aient peut-être jamais été formellement énoncées, elles sont partout les mêmes, partout tacitement admises et reconnues . . . "
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Übereinstimmung, dem consensus, oder, wie er auch sagt, der consensio. Er versteht darunter ein einheitsstiftendes gemeinsames Wollen bzw. Nichtwollen sowie ein gemeinsames Handeln der Personengesamtheit, wie wenn die miteinander verbundenen Symbioten eine Seele und ein Herz hätten 32 . Die consociatio erscheint damit gleichsam als ein Körper (corpus), ja, als eine Person: symbiotici pro una persona reputantur 83. Auch Rousseau versucht, den Zusammenhalt des Ganzen mittels eines verbindenden Elements zu erklären: des Gemeinwillens, der volonté générale, die nicht mehr unmittelbar auf die Einzelwillen rückführbar und für den Bestand der Gemeinschaft unverzichtbar ist 34 . Nicht anders als Althusius rekurriert auch Rousseau auf den Begriff der Körperschaft, um die Struktur des gesellschaftlichen Zusammenschlusses zu verdeutlichen. Denn er versteht die aus dem Vertragsschluß hervorgegangene Personengesamtheit als einen moralischen und kollektiven Körper (corps moral et collectif), als eine öffentliche Person (personne publique) oder, noch treffender: als ein allen gemeinsames Ich (moi commun), das eine gegenüber den Einzelwillen verselbständigte Identität besitzt 35 . Sowohl Althusius als auch Rousseau geht es also um das Problem der Konstituierung eines gesellschaftlichen Ganzen. Beide bedienen sich des in der körperschaftlichen Tradition entwickelten begrifflichen Instrumentariums. Ebenso nehmen beide von den Individuen ihren Ausgangspunkt. Fragen w i r allerdings, welchen Stellenwert die Individuen in einer so gearteten Konzeption des gesellschaftlichen Zusammenschlusses schließlich einnehmen, so erscheint das Ergebnis für Althusius wie für Rousseau gleichermaßen dürftig. Der individuelle Wille ist bei Althusius zwar Ausgangspunkt der vertraglichen Konzeption, er schwächt sich aber mit fortschreitender Institutionalisierung zusehends ab, weil in den umfassenderen gesellschaftlichen Zusammenschlüssen nurmehr ein korporativ gebundener Einzelwille durchscheint. Rousseau geht demgegenüber weitaus entschiedener vom Einzelwillen aus, jedoch regiert im einmal konstituierten Gesellschaftskörper allein der Gemeinwille. Rousseau 82 Althusius, Politica (FN 10), cap. I I , Nr. 8, S. 15: „Consensio est, qua conjunctorum symbioticorum anima et cor u n u m est, idem volens, agens, nolens, ad communem conjunctorum utilitatem." Ebd., cap. I X , Nr. 7, S. 169: „ V i n c u l u m hujus corporis et consociationis est consensus . . . " 33 Althusius, Politica (FN 10), cap. I I , Nr. 11 rubr., S. 12. 34 Rousseau, Contrat Social (FN 29), liv. I, chap. 7, S. 363; liv. I I , chap. 1, S. 368 f. 35 Vgl. Contrat Social, liv. I, chap. 6, S. 361: „ A l'instant, au lieu de la personne particulière de chaque contractant, cet acte d'association produit un corps moral et collectif composé d'autant de membres que l'assemblée a de voix, lequel reçoit de ce même acte son unité, son moi commun, sa vie et sa volonté."
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erstrebt zwar, die Individuen wahrhaft zu befreien. Die Freiheit ist am Ende aber kaum mehr als die möglichst bruchlose Übereinstimmung mit der alles dominierenden volonté générale 3β. Bleibt die Frage nach dem Grund des gesellschaftlichen Paktes. Althusius bringt die natürliche Soziabilität des Menschen ins Spiel, die schrittweise zum sozialen Zusammenleben hinführt. Bei Rousseau erscheint der Übergang von der natürlichen zur gesellschaftlichen Existenz als das Ergebnis eines zwingenden Raisonnements, das überall gleichermaßen Geltung beansprucht. Aber auch Althusius w i l l ja nicht ausschließen, daß die recta ratio den Weg zum sozialen Zusammenleben weist 37 . Der Unterschied beider reduziert sich damit letztlich auf ein jeweils anderes Naturverständnis. Althusius baut auf einem inhaltlich und material angefüllten, gesellschaftlich noch vermittelbaren Naturbegriff auf, während Rousseau von einem Bruch zwischen Natur und Gesellschaft ausgeht mit der Folge, daß die menschliche Vernunft auf sich selbst gestellt ist 38 . Dies freilich deutet eher auf einen Unterschied der Sichtweisen als auf einen Unterschied der inhaltlichen Aussagen und Konsequenzen hin. Versuchen wir, ein erstes Zwischenergebnis zu formulieren, so scheint es, daß im Hinblick auf die Grundlegung des gesellschaftlichen Zusammenlebens ungeachtet aller Unterschiedlichkeit im einzelnen strukturelle Gemeinsamkeiten bestehen, die nicht zu übersehen sind. Diese liegen vor allem in der Herausarbeitung eines gemeinsamen gesellschaftlichen Bezugsproblems, im Zugriff auf die societas civilis als eines Ganzen sowie darin, daß die individuellen Belange in einen gesamtheitlich — zum einen korporativ, zum anderen kollektiv — bestimmten Rahmen eingeordnet werden. Das höhere Maß an rationaler Durchdringung, das w i r bei Rousseau konstatieren, vermag für sich allein einen ins Gewicht fallenden Unterschied zur Lehre des Althusius nicht zu rechtfertigen.
36 Entsprechend der Formulierung des Gesellschaftsvertrages, wonach jeder ,.met en commun sa personne et toute sa puissance sous la suprême direction de la volonté générale" (Contrat Social, liv. I, chap. 6, S. 361). 37 Vgl. Althusius , Politica (FN 10), cap. I X , Nr. 8, S. 171, unter Berufung auf den spanischen Spätscholastiker Diego Covarruvias. 38 Letzteres ist besonders sinnfällig in Contrat Social, liv. I, chap. 7, S. 363, zum Ausdruck gekommen, wo die moralische Person, die das Gemeinwesen konstituiert, als ein Vernunftwesen (être de raison) bezeichnet wird. Vgl. hierzu Hendrik J. van Eikema Hommes, Naturrecht und positives Recht bei Johannes Althusius, in diesem Bande, S. 371 ff. (380 f.), der i m Gegensatz zu der hier vertretenen Auffassung aus dem unterschiedlichen N a t u r - bzw. Naturzustandsbegriff von Althusius und Rousseau die Unvereinbarkeit der beiderseitigen Vertraeslehren folgert.
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Dieter Wyduckel I I . A u f b a u und Organisation des Gemeinwesens 1. Die vertraglichen Grundlagen
Wenden w i r uns nunmehr der Frage zu, welche Vorstellungen A l t h u sius und Rousseau vom Aufbau und von der Organisation des Gemeinwesens haben. Althusius geht — seiner Konzeption des Gesellschaftsvertrages folgend — davon aus, daß das Gemeinwesen eine von den kleineren zu den größeren Gemeinschaftsbildungen hin aufsteigende Organisationsstruktur aufweist. Er stellt sich dies so vor, daß die privaten Zusammenschlüsse der einzelnen auf familiärer, verwandtschaftlicher oder genossenschaftlicher Basis jeweils den Ausgangspunkt der Vergemeinschaftung bilden. Die Verbindung der privaten Gemeinschaften führt dann schrittweise zu den öffentlichen Gemeinschaftsbildungen hin (a privatis ad publicas societates pervenit) 39 . Althusius zieht also zwischen privaten und öffentlichen Gemeinschaftsbildungen keine scharfe Trennlinie. Er ist sich ferner i m klaren darüber, daß die consociatio privata zugleich eine politische Funktion besitzt und damit zu Recht auch i n den Gegenstandsbereich der Politik fällt (recte quoque ad Politicam referri) 40 . Die aufsteigende Linie der Gemeinschaftsbildungen führt schließlich zum umfassenden öffentlichen Zusammenschluß der consociatio universalis publica* 1. Dieser beruht auf der vertraglichen Verbindung von Gemeinden, Städten und Provinzen, den sogenannten Gliedern (membra), die ihrerseits wiederum auf kleineren Zusammenschlüssen aufbauen 42 . Althusius nennt diesen umfassenden Zusammenschluß regnum, also Reich bzw. Königreich, aber auch schon abstrakter respublica, d. h. Gemeinwesen 43 . Regnum bzw. respublica unterscheiden sich von anderen Gemeinschaftsbildungen dadurch, daß ihnen ein ganz besonderes Recht zukommt: das jus regni oder, wie es auch heißt: das jus majestatis 44. Es handelt sich hierbei um die universale Herrschaftsgewalt (potestas imperandi universalis), die keine höhere oder gleiche bzw. gleichgestellte 39
Althusius, Politica (FN 10), cap. V, vor Nr. 1, S. 59. Siehe auch F N 28. E b d , cap. I I I , Nr. 42, S. 43. 41 Ebd., cap. I X , Nr. 1, S. 167. 42 Vgl. Althusius, Politica (FN 10), cap. I X , Nr. 5, S. 168: „ M e m b r a regni, seu symbioticae universalis consociationis hujus voco, non singulos homines, neque familias, vel collegia, prout i n privata et publica particulari consociatione, sed civitates, provincias et regiones plures inter se de uno corpore ex conjunctione et communicatione mutua constituendo consentientes." 43 Vgl. ebd., cap. I X , Nr. 3, S. 167. 44 Siehe ebd., Nr. 13, S. 173: „ A p p e l l a t u r . . . hoc jus regni jus majestatis, hoc est, majoris status, seu potestatis, respectu illius juris, quod t r i b u i t u r civitati, vel provinciae." 40
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Gewalt neben sich anerkennt 45 , also nicht etwa um mehrere zusammengefaßte Gewalten, sondern stets nur um eine einzige: una semper est 46. Althusius greift hier — allerdings, wie noch zu zeigen sein wird, nur formal — auf die wenige Jahre zuvor von Jean Bodin
i n Zusammen-
fassung älterer Ansätze vorgelegte Lehre von der Souveränität zurück. Anders als die feudalrechtlich denkenden Juristen der Zeit, die in der Souveränitätslehre etwas Negatives und Gefährliches sehen, nämlich den Versuch, Willkür und Tyrannei zu rechtfertigen, erkennt Althusius in der Souveränität durchaus etwas dem Gemeinwesen strukturell Eigentümliches, das gleichsam seine Seele darstellt 47 , und baut sie deshalb in seine Politik ein. Es liegt in der Logik des althusischen Denkens, daß diese für das Gemeinwesen so bedeutsame souveräne Gewalt nicht einem einzigen, etwa dem Herrscher zugesprochen wird. Sie steht aber auch nicht einzelnen Gliedern des Gemeinwesens, sondern nur allen zusammen zu: conjunctim
universis
membris 48.
Althusius ist sich der Diskrepanz, die
in diesem Punkt zu Bodin besteht, durchaus bewußt. Ich kümmere mich, sagt er bereits in der Vorrede zur ersten Auflage seiner Politica, um das Geschrei (clamor) des Johannes Bodinus nicht und behaupte das Gegenteil 4 9 . I n der Tat schreibt er die aus der souveränen Gewalt sich ergebenden Rechte (jura majestatis) nicht dem Herrscher, sondern dem im Gemeinwesen organisierten Volk (regno seu populo, Reipublicae et populo) zu 50 . Diese Souveränitätsrechte haben ihren Grund i m Volke, sie gehen von ihm aus 51 , sind unteilbar und unveräußerlich (individua et 45 Ebd., Nr. 15, S. 173 f.: „Hoc jus regni . . . potestas imperandi universalis dicitur, quae aliam superiorem, vel parem, aut sociam non agnoscit." 46 Althusius, Politica (FN 10), cap. I X , Nr. 19, S. 176: „Talis vero potestas regni, seu consociatorum corporum, una semper est, non plures potestates..." 47 Vgl. Althusius, ebd., Z u m Verhältnis von Althusius und Bodin siehe Hans Ulrich Scupin, Der Begriff der Souveränität bei Johannes Althusius und Jean Bodin, in: Der Staat 4 (1964), S. 1—26, sowie ders., Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Theorien von Gesellschaft und Staat des Johannes Althusius und des Jean Bodin, S. 301 ff., i n diesem Bande. Ferner Wyduckel, lus Publicum. Grundlagen u n d E n t w i c k l u n g des öffentlichen Rechts und der deutschen Staatsrechtswissenschaft, B e r l i n 1984 (Schriften zum ö f f e n t lichen Recht, Bd. 471), S. 134 ff. 48 Althusius, Politica (FN 10), cap. I X , Nr. 18, S. 178: „Hoc jus regni, seu majestatis jus, non singulis, sed c o n j u n c t i m universis membris, et toti corpori consociato regni competit." 49 Althusius, Politica methodice digesta, Herbornae Nassoviorum 1603, Bl. 5 r = Politica methodice digesta, ed. Carl Joachim Friedrich, Cambridge/ Mass. 1932, S. 3—6 (5): „Non euro Bodini clamores . . . Assero i g i t u r prorsus contrarium . . . " 50 Althusius, Politica, ed. 1603, Bl. 4 ν f. = Politica, ed. 1932, S. 5. 51 Althusius, Politica, ed. 1603 (FN 49), Bl. 5 r = Politica, ed. 1932, S. 5: „Jura haec a populo seu membris regni et Reipublicae constituta sunt, ab illis i n ceperunt, atque non nisi in illis consistere possunt et ab illis conservari." Z u r
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incommunicabilia) 52 , so daß das Gemeinwesen untergeht, wenn sie aufgehoben werden bzw. nicht mehr unmittelbar in der bezeichneten Weise mit ihm verbunden bleiben 53 . Werfen w i r nunmehr einen Blick darauf, wie Rousseau das Verhältnis von Volk, souveräner Gewalt und Gemeinwesen vorstellt. Auch seine Schlußfolgerungen sind von dem zuvor vorausgesetzten Gesellschaftsvertrag bestimmt. Für Rousseau liegen die Dinge allerdings insoweit etwas anders, als er eben nur auf einen einzigen sowohl das soziale Zusammenleben als auch das Gemeinwesen hervorbringenden Vertrag rekurriert. Eine Stufenfolge von Verträgen, wie Althusius sie kennt, scheidet mithin aus. Die aus dem Gesellschaftsvertrag hervorgegangene per sonne publique stellt demnach ohne jede weitere Vermittlung bereits unmittelbar das Gemeinwesen dar. Alles weitere sind nurmehr terminologische Fragen. Der vertraglich begründete politische Körper heißt Staat (Etat), wenn er passiv, Souverän (Souverain), wenn er aktiv ist. Hinsichtlich der assoziierten einzelnen gilt: Sie werden zusammengenommen Volk (peuple), als Teilhaber der Souveränität Bürger (citoyens) und in ihrer Eigenschaft als dem Staat Unterworfene Untertanen (sujets) genannt 54 . Es liegt auf der Hand, daß die in dieser Weise sozialvertraglich konstituierte Souveränität unteilbar (indivisible) und unveräußerlich (inaliénable) ist 55 . Dies beruht nicht zuletzt darauf, daß sie unmittelbar auf den Gemeinwillen zurückgeführt wird 5 8 , der seinerseits wiederum für den Bestand des Gemeinwesens grundlegende Bedeutung hat. Auseinandersetzung m i t Bodin i m einzelnen siehe Politica, ed. 1614 (FN 10), cap. I X , Nr. 20 ff. (S. 176 ff.). 52 Althusius, Politica (FN 10), cap. I X , Nr. 19 (S. 176). 53 Althusius, Politica, ed. 1603, Vorrede, Bl. 5 r = Politica, ed. 1932, S. 5: „ . . . haec majestatis jura, quae dicuntur, regno adeo esse propria, ut soli haec competent, . . . et quibus sublatis, interit et périt illa, nomineque hoc indigna judicanda." 54 Vgl. Rousseau, Contrat Social (FN 29), liv. I, chap. V I , S. 361 f. Die Stelle lautet i m Zusammenhang: „Cette personne publique q u i se forme ainsi par l'union de toutes les autres, prenait autrefois le nom de Cité, et prend maintenant celui de République ou de corps politique, lequel est appelé par ses membres Etat quand i l est passif, Souverain quand i l est actif, Puissance en le comparant à ses semblables. A l'égard des associés, ils prennent collectivement le nom de peuple, et s'appellent en particulier Citoyens, comme participants à l'autorité souveraine, et Sujets, comme soumis aux lois de l'Etat. Mais ces termes se confondent souvent et se prennent l'un pour l'autre; i l suffit de les savoir distinguer quand ils sont employés dans toute leur précision." 55 Vgl. Rousseau, Contrat Social (FN 29), liv. I I , chap. I (Que la souveraineté est inaliénable), S. 368 f.; chap. I I (Que la souveraineté est indivisible), S. 369 ff. 58 Siehe Rousseau, Contrat Social, liv. I I , chap. I, S. 368: „Je dis donc que la souveraineté n'étant que l'exercice de la volonté générale ne peut jamais s'aliéner . . . "
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Vergleicht man die beiden Konzeptionen bis zu diesem Punkt der Rekonstruktion miteinander, so fallen in der Tat Übereinstimmungen ins Auge. Zum einen wird sowohl von Althusius als auch von Rousseau das Gemeinwesen bereits im Ansatz nicht als verselbständigt konzipiert, sondern aus dem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang heraus begründet. Zum anderen schlägt die in der Konzeption des sozialen Zusammenlebens enthaltene Gemeinschaftskomponente bei beiden auch auf die Organisation des Gemeinwesens durch mit der Folge, daß die Vertragschließenden als singuli
bzw. particuliers
stets i n die Gemein-
schaft eingebunden bleiben. Sie sind damit als eigenständige Faktoren zwar nicht völlig ausgeschaltet, besitzen aber eine nur über das Gemeinwesen vermittelte individuelle Existenz. Als consociati
bzw. associés ,
d. h. gesamtheitlich, kommt den einzelnen in beiden Gemeinwesenkonzeptionen allerdings überragende Bedeutung zu. Denn die souveräne Gewalt liegt in dem einen wie dem anderen Fall unteilbar und unveräußerlich bei der als organisiertes Volk vorgestellten Gesamtheit. Es ist vor allem diese augenscheinliche Parallele, die schon Otto von Gierke dazu veranlaßt hat, Althusius und Rousseau einander anzunähern 57 . Tatsächlich zielen beide auf eine — wie im einzelnen auch immer beschaffene — Souveränität des Volkes ab, die aus einer anderen Perspektive zugleich als Souveränität des staatlich organisierten Gemeinwesens erscheint. 2. Das Verhältnis von Volk und Regierung
Es leuchtet nach dem bisher Dargelegten ein, daß die Befugnisse der Regierung und Verwaltung in beiden Konzeptionen nur abgeleitete und sekundäre sein können. So spricht Althusius
der von i h m als summus
magistratus bezeichneten obersten Herrschaftsgewalt eine lediglich administrative bzw. exekutive Funktion zu 58 . Auch Rousseau geht davon 57 Vgl. O. v. Gierke, Althusius (FN 1), S. 201. Hinsichtlich der Volkssouveränitätslehre ebenso, wenn auch insgesamt etwas zurückhaltender: Carl Joachim Friedrich, Johannes Althusius u n d sein Werk i m Rahmen der E n t wicklung der Theorie von der Politik, Berlin 1975, S. 137. Es ist in diesem Zusammenhang interessant festzustellen, daß die Parallelen zwischen A l t h u sius u n d Rousseau auch dann bestehenbleiben, wenn man beide nicht als zukunftsweisende Theoretiker der Demokratie, sondern wie Franz Borkenau (Der Ubergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, Paris 1934, Neudr. Darmstadt 1973, S. 140) bezüglich des ersteren, und Iring Fetscher (Rousseaus politische Philosophie, 3. Aufl., F r a n k f u r t a. M. 1975, S. 255) bezüglich des letzteren, als Exponenten eines kleinbürgerlichen Denkens interpretiert, daç die wirklichen Konsequenzen seiner Lehren nicht zu ziehen vermag. 58 Althusius, Politica (FN 10), cap. X I X , Nr. 1, S. 326: „Magistratus . . . summus est, q u i secundum leges ad salutem et u t i l i t a t e m universalis consociationis constitutus, jura illius administrât et exsecutioni mandat." Zu den darin liegenden Ansätzen einer Unterscheidung verschiedener Staatsfunktionen, die i m übrigen, wie die obigen Ausführungen zeigen, bei Rousseau wiederkehren, siehe Achterberg, Gewaltenteilung bei Althusius, S. 497 ff., i n diesem Bande.
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aus, daß der Regierung (gouvernement) oder höchsten Verwaltung (suprême administration) — eine Begriffsbildung, die möglicherweise durch den althusischen summus magistratus inspiriert ist — gegenüber dem Souverän keine eigenständige, sondern eine bloß abhängige Stellung zukommt. Ihre Aufgabe bleibt demgemäß auf die legitime Ausübung exekutiver Gewalt beschränkt 59 . Anders als das staatlich organisierte Volk, das als Souverän aus sich selbst heraus existiert, bezieht die Regierung ihre Existenzberechtigung ausschließlich von jenem (n'existe que par le Souverain)® 0. Kann man also auch i n diesem Punkt nicht unerhebliche Entsprechungen i m Hinblick auf die Problembehandlung wie die Problemlösung ausmachen, so zeigen sich im weiteren Fortgang der gedanklichen Entfaltung unterschiedliche Akzentuierungen. Dies gilt einmal für die konstruktive Erfassung des Verhältnisses vom Volk und Regierung. Rousseau deutet dieses Verhältnis — jedenfalls im ersten Zugriff — nicht vertraglich, sondern w i l l i n der Einsetzung der Regierung einen einseitigen Rechtsakt des Souveräns sehen81. Er begründet dies vor allem damit, daß die Kategorie des Vertrages der Konstituierung des sozialen Zusammenlebens im ganzen vorbehalten bleiben solle. Jeder weitere Vertrag herkömmlicher A r t müßte seines Erachtens eine Schmälerung dieses grundlegenden ersten Vertrages bedeuten 82 . Ausgeschlossen werden soll damit freilich, wie noch zu zeigen sein wird, nicht jeglicher Vertrag als solcher, sondern nur die spezifische Form des tradierten Herrschaftsvertrages. Althusius vertritt demgegenüber ganz unbefangen die Auffassung, daß auch die Einsetzung der Regierung auf einem Vertrag beruht. Er kann dies deshalb tun, weil es sich hierbei um einen ganz anderen Vertragstypus handelt als den, den er uns zu Eingang seiner Politica als ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrag vorführt 6 3 . Dieser zweite Vertrag dient nämlich nicht, wie der erste, der Gemeinschaftsbegründung, sondern nurmehr der organisatorischen Binnendifferenzierung 59 Vgl. Rousseau, Contrat Social (FN 29), liv. I I I , chap. I, S. 396: „J'appelle donc Gouvernement ou suprême administration l'exercice légitime de la puissance exécutive, et Prince ou magistrat l'homme ou le corps chargé de cette administration." Z u r Parallelität der Begriffsbildung siehe auch ebd., chap. I I , S. 403, wo Rousseau von den Regierenden als „magistrats suprêmes" spricht. Vgl. ebd., chap. I, S. 399. β1 Z u r näheren Bestimmung dieses Rechtsaktes siehe unten, S. 483 f. 62 Rousseau, Contrat Social, liv. I I I , chap. X V I , S. 433: „ I I n'y a qu'un cont r a t dans l'Etat, c'est celui de l'association; et celui-là seul en exclut tout autre. On ne saurait imaginer aucun Contrat public, qui ne fut une violation d u premier." M Althusius, Politica (FN 10), cap. I, Nr. 2, S. 2. Dazu oben unter I.
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einer einmal als bestehend vorausgesetzten souveränen Herrschaftsgewalt. Althusius knüpft hier anders als Rousseau durchaus an das tradierte Instrument des Herrschaftsvertrages an, gibt diesem aber eine neue, ganz eigenständige Wendung. Das kommt bereits in der von ihm verwendeten Terminologie zum Ausdruck. Althusius nennt den Vertrag pactum bzw. contractus mandati, also Mandatsvertrag" 4 . Der Herrschaftsvertrag w i r d damit unter Heranziehung zivilrechtlicher Kategorien als ein Auftragsverhältnis begriffen und in der Weise gedeutet, daß das korporativ gegliederte Volk prinzipiell Herr (dominus) der gesamten Gewalt bleibt, d. h. frei darüber verfügen kann 85 . Dies wiederum hat zur Folge, daß die Regierung das übertragene Recht nicht als ein eigenes, sondern als ein fremdes ausübt 86 . Althusius stellt sich damit in die Tradition der sogenannten konzessualistischen Interpretation 87 des Herrschaftsvertrages, die eine Deutung des Verhältnisses von Volk und Regierung i m Sinne einer Unterwerfung (subiectio) des ersteren ebenso ausschließt wie die als einer einseitigen Rechtsentäußerung (translatio) zugunsten der letzteren. Über diese Verschiedenheit hinaus, die eher eine solche der konstruktiven Erfassung als des erzielten Ergebnisses ist, ergibt sich ein weiterer Unterschied im Hinblick darauf, ob zwischen Volk und Regierung noch eine vermittelnde Instanz als Vertretungskörperschaft eingeschaltet werden soll. Rousseau ist in diesem Punkt bekanntlich außerordentlich zurückhaltend. Er lehnt eine Vertretung des Volkes durch Abgeordnete mit der Begründung ab, daß der in der Souveränität verkörperte Gemeinwille unübertragbar, d. h. einer Stellvertretung prinzipiell nicht zugänglich sei. Eine Repräsentation durch Abgeordnete würde nicht nur eine Gefährdung der Freiheit des Volkes bedeuten, sondern seiner Selbstaufgabe gleichkommen. Rousseau w i l l deshalb als Zwischeninstanz
64 Althusius, Politica, cap. X I X , Nr. 6, S. 328 f. Z u r Würdigung des pactum mandati i m Gesamtzusammenhang der politischen Theorie des Althusius siehe Dahm, Johannes Althusius — E i n Herborner Rechtsgelehrter als V o r denker der Demokratie, S. 21 ff., i n diesem Bande. 65 Vgl. Althusius, ebd., Nr. 12, S. 331: „ E x contractu hoc mandati inter populum et magistratum inito, apparet, populum, seu regnum, dominum plenum esse omnis i m p e r i i et potestatis, cujus liberrima dispositio, proprietas et ususfructus ad corpus consociatum, seu populum u n i t u m pertinet . . ββ Althusius, ebd., Nr. 13: „Deinde apparet ex hoc contractu, jus summo magistratui a populo datum, esse minus populi jure et alienum, non ipsius proprium." Siehe auch ebd., Nr. 4, S. 327. 67 Vgl. Althusius, Politica (FN 10), cap. X I X , Nr. 7, S. 329: „ T a n t u m autem juris habet hic summus magistratus, q u a n t u m i l l i a corporibus consociatis, seu membris regni, est expresse concessum . . . " unter Berufung auf den spanischen Spätscholastiker Fernando Vasquez. Z u den Grundlagen dieser Lehre i n der legistischen Jurisprudenz siehe Wyduckel, lus Publicum (FN 47), S. 75 f.
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bloß Volksbeauftragte (commissaires) zulassen, die keine definitive Entscheidungsbefugnis besitzen 88 . Althusius erweist sich in dieser Frage als weniger skrupulös. Er führt als zusätzliche Instanz zwischen Volk und Regierung die sogenannten Ephoren ein. Diese werden mit Zustimmung des Volkes auf den verschiedenen Ebenen des Gemeinwesens — regelmäßig durch Wahl — berufen 69 und gelten, freilich nur collegialiter, als Repräsentanten der Gesamtheit 70 . Ihre Entscheidungen sind demzufolge so zu behandeln, wie wenn das gesamte Volk gehandelt hätte (ita ut, quod hi faciunt, totus populus facere videatur) 71 . Aber auch Althusius w i l l die von ihm als Ephoren bezeichneten Repräsentanten gegenüber der Gesamtheit nicht verselbständigen. Die Rechte des Volkes stehen ihnen nämlich nicht zur eigenen Verfügung zu. Ihre Herrschaftsgewalt stellt vielmehr eine nur übertragene, vom Volke anvertraute dar (potestas a populo commissa, potestas concessa), die zu seinem Besten auszuüben ist 72 . Althusius erhebt die Repräsentation auch keineswegs in den Rang eines prinzipiell unverzichtbaren staatstheoretischen Bauelements. Es sind vielmehr praktisch-pragmatische, auf die Schwierigkeiten einer unmittelbaren Beteiligung des Volkes abhebende Gründe, die ihn von der Notwendigkeit einer Repräsentation ausgehen lassen73. Er räumt deshalb für den Fall, daß es die von ihm an sich als erforderlich erachteten Repräsentativinstanzen in einem Gemeinwesen nicht gebe (quod si ephori non sunt), durchaus ein, daß das Volk dann «8 Vgl. Rousseau, Contrat Social (FN 29), liv. I I I , chap. X V , S. 429 f.: „ L a Souveraineté ne peut être représentée, par la même raison qu'elle ne peut être aliénée; elle consiste essentiellement dans la volonté générale, et la volonté ne se représente point: elle est la même, ou elle est autre; i l n'y a point de milieu. Les députés du peuple ne sont donc n i peuvent être ses représentants, ils ne sont que ses commissaires; ils ne peuvent rien conclure définitivement." 09 Vgl. Althusius , Politica (FN 10), cap. X V I I I , Nr. 59, S. 295: Eliguntur autem et constituuntur ejusmodi Ephori consensu totius populi . . . secundum cujusque regni naturam, vel consuetudinem, hoc est, suffragiis totius populi, de ephoro constituendo, collectis per centurias, tribus, vel collegia, in quae populus est distributus . . . " 70 Siehe Althusius, ebd., Nr. 48, S. 292: „Ephori sunt, quibus populi i n corpus politicum consociati consensu demandata est summa Reipublicae seu u n i versalis consociationis, ut repraesentantes eandem . . . " Z u m Kollegialcharakter siehe ebd., Nr. 62, S. 296: „Collegium ephorum . . . (non singuli de collegio) repraesentat universalem consociationem, seu politiam . . . " 71 Vgl. ebd., Nr. 56, S. 294. 72 Althusius, Politica (FN 10), cap. X V I I I , Nr. 75, S. 302; Nr. 83, S. 303. Zur Gemeinwohlbindung der Ephoren siehe ebd., Nr. 61, S. 296, wo auf den von ihnen zu leistenden Eid Bezug genommen ist. 78 Vgl. die von Althusius gegebene, auf Diego Covarruvias gestützte Begründung: „Esset enim d i f f i c i l l i m u m . . . suffragia omnium civium, et eorum, q u i alicujus Reipublicae partes sunt, a singulis exigere . . . " (Politica, cap. X V I I I , Nr. 56, S. 294).
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eben selbst entscheide74. Umgekehrt scheint auch Rousseau Zweifel an der Universalisierbarkeit seiner auf eine unmittelbare Volksherrschaft gerichteten Konzeption zu haben. Zum einen sieht er ihre Verwirklichungschancen nur in kleineren überschaubaren Gemeinwesen, in denen das Volk leicht zu versammeln sei 75 . Zum anderen ist er durchaus kein Gegner jeglicher Repräsentation überhaupt. Er hält sie i m Verhältnis von Volk und Regierung im Bereich bloßer Exekutivbefugnisse sogar für erforderlich 76 — eine Vorstellung, die vom Standpunkt des Althusius sehr wohl nachzuvollziehen wäre, wenn man daran denkt, daß als Repräsentant der Gesamtheit nicht nur das Kollegium der Ephoren, sondern auch der summus magistratus in Betracht gezogen wird 7 7 . Vergegenwärtigt man sich auf diesem Hintergrund erneut die Gemeinwesenvorstellungen von Althusius und Rousseau, so fallen zunächst wiederum die Gemeinsamkeiten ins Auge. Sie ergeben sich vor allem aus einer strukturell gemeinsamen Souveränitätskonzeption, was die Grundlagen und die Trägerschaft staatlicher Herrschaftsgewalt anbetrifft. Beiden ist darüber hinaus — wenn auch auf verschiedene Weise — daran gelegen, die Befugnisse der Regierung der Gesamtheit gegenüber so weit als möglich einzuschränken. Von diesen Prämissen ausgehend verliert für Althusius wie für Rousseau die tradierte Unterscheidung der Staats- und Regierungsformen erheblich an Gewicht, weil es letztlich nicht so sehr darauf ankommt, wer die souveräne Gewalt ausübt, sondern vor allem darauf, wer sie innehat 78 . Unterschiedliche Auffassungen bestehen demgegenüber hinsichtlich der Binnendifferenzierung staatlicher Herrschaftsgewalt. Rousseau ist es um eine möglichst unmittelbare, Althusius um eine mittelbar-repräsentative Herrschaft des im Gemeinwesen organisierten Volkes zu tun. Diese Unterschiedlichkeit der Auffassungen betrifft freilich weniger die Grundkonzeption staatlicher Herrschaft als vielmehr die A r t ihrer Organisation und weiteren Ausgestaltung. Ich möchte sie für nicht so entscheidend halten, als daß die Gemeinsamkeiten dahinter völlig zurücktreten. Werfen w i r nunmehr noch einen Blick auf die beiderseitigen Vorstellungen von der rechtlichen Organisation des Gemeinwesens. 74
Vgl. Althusius, Politica, cap. X V I I I , Nr. 123, S. 322. Rousseau, Contrat Social (FN 29), liv. I I I , chap. IV, S. 405. 7β Vgl. ebd., chap. X V , S. 430. 77 Vgl. Althusius, Politica (FN 10), cap. X V I I I , Nr. 26, rubr., S. 273: „Consociationem repraesentat magistratus." Siehe auch die zugehörigen Ausführungen ebd., S. 285. Z u m Repräsentationsverständnis des Althusius näher Hasso Hofmann, Repräsentation in der Staatslehre der frühen Neuzeit, S. 513 ff., in diesem Bande. 78 Vgl. Althusius, Politica, cap. X X X I X , Nr. 3, S. 944: „Jura majestatis semper, i n omnibus speciebus magistratuum et i n omnibus administrationibus, sunt populi . . . " Rousseau w i l l jeden durch diese Gesetze regierten Staat Republik nennen: „J'appelle donc république tout Etat régi par des lois, sous 75
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Ebenso wie die jeweiligen Konzeptionen des Gemeinwesens sind auch die Lehren von Recht und Verfassung, die Althusius und Rousseau entwickeln, von den Grundvorstellungen geprägt, die sie vom sozialen Zusammenleben der Menschen haben. Hierbei ist von vornherein in Ansatz zu bringen, daß Althusius über einen gewissen Vorsprung verfügt, den er als professioneller Jurist gegenüber dem — freilich genialen — Autodidakten Rousseau ins Feld führen kann. Wenn das Recht für Aufbau und Struktur des Gemeinwesens in der Politica des Althusius demnach eine zentrale Rolle einnimmt, so ist das keineswegs überraschend. Das Gemeinwesen stellt sich ihm wesentlich als Rechtsgemeinschaft (juris communio) dar. Die Grundlage dieser rechtlichen Gemeinschaft ist das symbiotische Recht (jus symbioticum) 79 . Ohne dieses wäre das Gemeinwesen nur eine zusammenhanglose Menge von Menschen80. Das symbiotische Recht erscheint einmal als privates Recht, insofern es die Rechtsbeziehungen der einzelnen innerhalb ihrer jeweiligen Lebensgemeinschaft zum Gegenstand hat; zum anderen als öffentliches Recht (jus symbioticum publicum), insofern es der zu einem Ganzen verfaßten Gemeinschaft, d. h. den miteinander verbundenen Lebensgemeinschaften zugewandt ist 81 . Beide Bereiche stehen sich jedoch nicht isoliert gegenüber, noch bilden sie einen Gegensatz. Dies ergibt sich einerseits aus dem stufenförmigen Aufbau des Gemeinwesens, dem ein solcher des Rechts entspricht, andererseits aus der Gemeinschaftsbezogenheit der althusischen Rechtskonzeption, der die Vorstellung eines auf die Beziehungen der einzelnen verwiesenen, von öffentlichrechtlichen Bezügen freien Privatrechts zuwiderlaufen würde 82 . quelque forme d'administration que ce puisse être." Wie gleichgültig i h m bisherige Differenzierungen sind, k o m m t i n der erläuternden Fußnote zum Begriff der „république" zum Ausdruck: „Je n'entends pas seulement par ce mot une Aristocratie ou une Démocratie, mais en général tout gouvernement guidé par la volonté générale, q u i est la loi. Pour être légitime i l ne faut pas que le Gouvernement se confonde avec le Souverain, mais qu'il en soit le ministre: alors la monarchie elle-même est république." (Contrat Social, liv. I I , chap. V I , S. 380). 79 Althusius, Politica, cap. I, Nr. 10, S. 4: „Juris communio est, qua symbiot i c i justis inter se legibus i n communi v i t a v i v u n t et reguntur. Vocatur lex consociationis et symbiosis, jus symbioticum . . . " 80 Siehe Althusius, ebd., cap. V, Nr. 4, S. 59: „Homines congregati sine jure symbiotico, sunt turba, coetus, m u l t i t u d o . . . " 81 Vgl. Althusius, ebd., cap. I I , Nr. 6, S. 14: „Jus symbioticum est, quod privatus symbioticus symbiotico p r i v a t o praestare tenetur i n privata consociatione . . . " . Z u m symbiotischen öffentlichen Recht siehe unten F N 87. 82 Siehe hierzu Martin Bullinger, öffentliches Recht und Privatrecht. Studien über Sinn u n d F u n k t i o n der Unterscheidung. Stuttgart 1968 (Res
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Das Gemeinwesen erscheint nach allem als eine rechtlich verfaßte Gemeinschaft, die den einzelnen wie der Gesamtheit all das gewährleistet, was zum Zusammenleben nützlich und notwendig ist 88 . Um den damit gestellten Aufgaben gerecht zu werden, bedarf es, wie Althusius erkennt, der Begründung und Ausübung herrschaftlicher Gewalt. I m Gegensatz zu Bodin begreift er diese Gewalt jedoch nicht als eine absolute, sondern als eine immer schon vielfältig rechtlich bestimmte und vorgeformte 84 . Dies w i r k t sich unmittelbar auf das althusische Souveränitätsverständnis aus. Es gibt für ihn nämlich keine Souveränität (majestas) schlechthin, sondern stets nur ein Recht der Souvernität (jus majestatis) 85 . Dieses Souveränitätsrecht kommt im Gemeinwesen regelmäßig nicht unmittelbar zum Ausdruck. Es handelt sich vielmehr um eine dem staatlichen Gemeinwesen gleichsam vorgelagerte, statuierende (wir w ü r d e n sagen: konstituierende) Gewalt — potestas juris regni
statu-
endi —, die dem Volk bzw. den Gliedern des Gemeinwesens zusteht und für seinen Bestand wie für seine rechtliche Ordnung grundlegend ist 86 . Es kommt Althusius also wesentlich auf das rechtlich geregelte Zusammenleben der Menschen im Gemeinwesen an. Das von ihm intendierte, als symbiotisch bezeichnete Gemeinschaftsleben w i r d durch das jus majestatis zugleich konstituiert und garantiert. Althusius spricht deshalb, wenn er den Gesamtzusammenhang der das Gemeinschaftsleben strukturierenden Rechte meint, auch von politeuma, Verfassung, oder aber, was für ihn dasselbe ist, von symbiotischem öffentlichem Recht 87 . Für eine absoluta potestas ist in diesem Konzept kein Raum. Eine legitime Herrschaftsgewalt kann für Althusius darum nur als eine gebunpublica, Beiträge zum öffentlichen Recht, 17), S. 20 f., der die Unterteilung von Rechtseinrichtungen i n die Kategorien „öffentlich" und „ p r i v a t " bei Althusius nicht i m Sinne eines scharfen Gegensatzes versteht, sondern „ i m Sinne verschiedener Funktionszusammenhänge innerhalb wesentlich einheitlicher Rechtseinrichtungen, bestimmt nach wechselnden, sachangepaßten Gesichtspunkten, m i t wesentlicher Zuordnung des öffentlichen zur respublica als einem gegliederten politischen Gemeinwesen." 83 Vgl. Althusius, Politica (FN 10), cap. I, Nr. 2, S. 2. Vgl. auch ebd., cap. I X , Nr. 7, S. 170. 84 Vgl. zur Auseinandersetzung m i t Bodin Politica, cap. I X , Nr. 20 ff., S. 176 ff. Siehe insbesondere Nr. 21, S. 177, wo Althusius unter Berufung auf Diego Covarruvias ausführt: „Absoluta vero summa, et legibus omnibus soluta potestas, tyrannis dicitur." 85 Auch jus regni genannt. Vgl. ebd., Nr. 16, S. 175. 88 Vgl. Althusius, Politica, cap. I X , Nr. 16, S. 175: „Juris hujus regni statuendi et se obligandi ad id, potestatem populus, seu membra regni consociata habent." 87 Siehe Althusius, Politica, cap. V, Nr. 5, S. 60: „Politeuma i n genere, est jus et potestas communicandi et participandi u t i l i a et necessaria, quae ad corporis constituti v i t a m a membris consociatis conferuntur. Vocari potest .lus symbioticum publicum." 31 R E C H T S T H E O R I E ,
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dene und regelhafte (potestas alligata) in Betracht kommen, die auf die rechtmäßige Ausübung der jeweils verliehenen Befugnisse gerichtet ist 88 . I n den damit vorgezeichneten Rahmen ist auch und ganz besonders die Regierung eingebunden. Denn sie w i r d von der Gesamtheit bzw. deren Repräsentanten den Gesetzen entsprechend (secundum leges) eingesetzt 89 . Welche Gesetze damit gemeint sind, wird von Althusius näher erläutert und ausführlich belegt. Es geht um die Grundgesetze des Gemeinwesens (leges fundamentales) 90 oder, wie er auch und zwar zusammenfassend sagt: das Grundgesetz (lex fundamentalis). Auf ihm beruht nicht nur die Wahl der Regierung. I m Zeichen dieses grundlegenden Gesetzes ist die staatliche Gemeinschaft eingerichtet, auf dieses stützt sie sich wie auf ein Fundament. Es wird deshalb auch Grundpfeiler des Gemeinwesens (columna regni) genannt 91 . Das von Althusius in dieser Weise bezeichnete Gesetz ist nichts anderes als eine Zusammenfassung verschiedener, das Gemeinwesen begründender Verträge (pacta), m. a. W. ein Vertragsgesetz (lex contractus), das auf dem Grundsatz gegenseitiger Verpflichtung beruht 92 . Es umfaßt wesentlich mehr als nur die Bestimmungen über die Wahl der Regierung. Denn es enthält zugleich die vertraglichen Grundbedingungen, die von den körperschaftlich organisierten Gliedern des Reichs einvernehmlich festgelegt worden sind. Althusius verrechtlicht damit nicht nur das Modell des überkommenen Herrschaftsvertrages, sondern visiert eine gleichsam verfassungsrechtliche Ordnung an, die, wenn auch noch unvollkommen 88 Vgl. Althusius, Politica, cap. X V I I I , Nr. 106, S. 314: „Omnis potestas certis cancellis et legibus est limitata, nulla absoluta, infinita, effraenis, arbitraria, exlex, sed quaelibet potestas legibus, j u r i et aequitati alligata." Siehe auch ebd., Nr. 40, S. 288 f.; Nr. 94, S. 310. 89 Vgl. Althusius, Politica, cap. X I X , Nr. 1, S. 326. Zum Wortlaut der Stelle siehe oben F N 58. 90 Auch als „leges regni fundamentales" bezeichnet. Vgl. ebd., cap. X I X , Nr. 83, S. 368. Siehe dort auch die von Althusius für die einzelnen europäischen Staaten angeführten Beispiele (Nr. 38 ff., S. 343 ff.). 91 Vgl. Althusius, Politica, cap. X I X , Nr. 49, S. 349: „Sub hac enim lege [fundamentali], universalis consociatio i n regno est constituta, qua tanquam fundamento n i t i t u r , atque ex communi consensu et approbatione membror u m regni sustinetur, atque hac omnia regni membra sub uno capite collecta et i n u n u m corpus sunt conjuncta, quae dicitur etiam columna regni." 92 Siehe Althusius, ebd., S. 349 f.: „Est autem haec fundamentalis lex, n i h i l aliud, quam pacta quaedam, sub quibus plures civitates et provinciae coierunt et consenserunt i n unam eandemque Rempublicam habendam et defendendam communi opera, consilio et auxilio." Z u m Begriff der lex contractus ebd., cap. X X I V , Nr. 49, S. 501. Z u r Bedeutung dieses Rechtsinstituts in der f r ü h modernen Rechts- und Staatslehre siehe Wyduckel, Princeps Legibus Solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre, Berlin 1979 (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 30), S. 85 ff.; ders., Ius Publicum (FN 47), S. 76.
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und ergänzungsbedürftig, i n der Vorstellung eines vertragsmäßige Züge aufweisenden grundlegenden Gesetzes erste Gestalt annimmt 9 3 . Sehen w i r uns auch hier die vergleichbare Konzeption an, wie Rousseau sie vorlegt. Obwohl kein Jurist, stellt Rousseau durchaus eigene Überlegungen hinsichtlich der rechtlichen Organisation des Gemeinwesens an. Auch für i h n ist eine rechtliche Ordnung des Gemeinschaftslebens unverzichtbar. Rousseau betont deshalb die Notwendigkeit der Gesetze wie der Gesetzgebung. Erst die letztere verleiht dem durch den Gesellschaftsvertrag ins Leben gerufenen politischen Körper Willen und Bewegung 94 . Die Gesetze sind für Rousseau — seinen zuvor aufgestellten sozialvertraglichen Prämissen zufolge — Souveränitätsakte, d. h. authentische Akte des Gemeinwillens, die gleichermaßen alle Bürger verpflichten oder berechtigen 95 . Auch Rousseau kennt Fundamentalgesetze (lois fondamentales), die von ihm als politische Gesetze (lois politiques) bezeichnet werden. Sie unterscheiden sich von den übrigen Gesetzen, insbesondere den Zivilgesetzen (lois civiles) dadurch, daß sie nicht die Beziehungen der Bürger untereinander, auch nicht die Beziehungen der einzelnen Bürger zum Staat, sondern ausschließlich das Verhältnis des gesamten politischen Körpers zu sich selbst, oder, wie Rousseau präzisiert, des Souveräns zum Staat betreffen 98 . Den Fundamentalgesetzen kommt konstitutive Bedeutung nur für die Bestimmung der Regierungsform, nicht hingegen für die davon zu unterscheidende Einsetzung einer konkreten Regierung zu. Die letztere vollzieht sich überhaupt nicht i n den Formen des Gesetzes. Sie ist vielmehr 93 Vgl. Scupin, Der Begriff der Souveränität bei Johannes Althusius und Jean Bodin (FN 47), S. 24. 94 Rousseau, Contrat Social (FN 29), liv. I I , chap. V I , S. 378: „Par le pacte social nous avons donné l'existence et la vie au corps politique: i l s'agit maintenant de lui donner le mouvement et la volonté par la législation." 95 Vgl. Rousseau, ebd., liv. I I , chap. I I , S. 369: „ . . . la volonté est générale, ou elle ne l'est pas; elle est celle du corps du peuple, ou seulement d'une partie. Dans le premier cas, cette volonté déclarée est un acte de souveraineté et fait loi." Siehe auch ebd., chap. V I , S. 378 f.: „Mais qu'est-ce donc enfin qu'une loi? . . . Quand je dis, que l'objet des lois est toujours général, j'entends que la loi considère les sujets en corps et les actions comme abstraites . . . Sur cette idée, on voit à l'instant qu'il ne faut plus demander à qui i l appartient de faire des lois, puisqu'elles sont des actes de la volonté générale . . . " Zur Authentizität der A k t e des Gemeinwillens siehe ebd., chap. IV, S. 374, sowie liv. I I I , chap. X I I , S. 425. ββ Rousseau, ebd., chap. X I I , S. 393: „Pour ordonner le tout, ou donner la meilleure forme possible à la chose publique, i l y a diverses relations à considérer. Premièrement l'action du corps entier agissant sur lui-même, c'est-à dire le rapport du tout au tout, ou du Souverain à l'Etat . . . Les lois qui règlent ce rapport portent le nom de lois politiques, et s'appellent aussi lois fondamentales . . . " 3
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ein dem strengen Rousseauschen Allgemeinheitskriterium nicht genügender partikularer Akt, der eine bloße Folge des ersteren, die Regierung als Institution konstituierenden fundamentalgesetzlichen Souveränitätsakts darstellt 97 . Rousseau wählt diesen konstruktiven Weg einer Aufteilung in einen fundamentalgesetzlich-konstitutiven und einen weiteren, schlicht-akzessorischen Rechtsakt vor allem deshalb, weil es ihm darum zu tun ist, die überkommene Deutung des Verhältnisses von Volk und Regierung nach A r t eines Herrschaftsvertrages zu konterkarieren. Er tut dies offensichtlich aus der Befürchtung heraus, daß ein solcher Vertrag als ein Unterwerfungsvertrag des Volkes, ein pactum subiectionis also, mißverstanden werden könnte 98 — eine Befürchtung, die nicht unbegründet war, wenn man an die einschlägigen Lehren des Thomas Hobbes und ihre Verbreitung denkt. Ganz scheint Rousseau das Vertragsmodell für die Frage der Rechtsund Verfassungsordnung des Gemeinwesens deshalb aber nicht aufgeben zu wollen. Denn er zieht durchaus in Erwägung, das Gesetz nicht nur als einseitigen souveränen A k t des Gemeinwillens, sondern auch nach A r t eines Vertrages zu begreifen. Dazu muß, wie er erkennt, einerseits der Souveränitätsakt, andererseits der zu schließende Vertrag terminologisch neu bestimmt werden. Das Problem besteht vor allem darin, einen Souveränitätsakt zu konzipieren, der vertragliche Züge trägt und darüber hinaus mit dem vorausgesetzten Gesellschaftsvertrag vereinbart werden kann. Um diesem Ziel gerecht zu werden, macht Rousseau folgenden Vorschlag: Der in Aussicht genommene Vertrag darf nicht länger als ein Vertrag zwischen Herrschern und Beherrschten vorgestellt werden, sondern ist unter den Bedingungen prinzipieller Gleichheit neu zu entwerfen. Er sieht diese Voraussetzungen als gegeben an, wenn das Modell eines Vertrages zugrunde gelegt wird, der von der Gesamtheit 07 Es handelt sich, wie Rousseau, Contrat Social, liv. I I I , chap. X V I I , S. 433, näher erläutert, bei diesem Vorgang u m einen komplexen A k t (acte complexe), der aus zwei Teilen besteht, nämlich einmal der Institutionalisierung der Regierung i n einer ganz bestimmten Form, sodann der davon zu unterscheidenden Einsetzung der Amtsträger: „Par le premier, le Souverain statue q u ' i l y aura un corps de Gouvernement établi sous telle ou telle forme; et i l est clair que cet acte est une loi. Par le second, le Peuple nomme les chefs qui seront chargés du Gouvernement établi. Or cette nomination étant un acte particulier n'est pas une seconde loi, mais seulement une suite de la première et une fonction du Gouvernement." Z u m fundamentalgesetzlichen Charakter der Bestimmung der Regierungsform siehe ebd., liv. I I , chap. X I I , S. 394. 98 Der für Rousseau einem Rückfall i n den Naturzustand und damit der Auflösung des politischen Körpers gleichkäme. Vgl. Contrat Social, liv. I I I , chap. X V I , S. 432: „ I I est absurde et contradictoire que le Souverain se donne u n supérieur; s'obliger d'obéir à u n maître c'est se remettre en pleine liberté." Siehe ebd., liv. I I , chap. I, S. 369: „ S i donc le peuple promet simplement d'obéir, i l se dissout par cet acte, i l perd sa qualité de peuple, à l'instant q u ' i l y a un maître i l n'y a plus de Souverain, et dès lors le corps politique est détruit."
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auf der einen Seite mit jedem einzelnen auf der anderen Seite geschlossen wird. Ein solcher Vertrag wäre nach den obigen Prämissen in der Tat legitim, denn er ließe sich mit dem Konzept des Gesellschaftsvertrages ohne weiteres in Übereinstimmung bringen, weil die einzelnen letztlich nur sich selbst unterworfen blieben". Auch Rousseau gelangt auf diese Weise zu einer A r t von fundamentalgesetzlicher Lex-contractus-Vorstellung. Er läßt hierbei das Konzept des Herrschaftsvertrages hinter sich und nimmt eine über die bloße Regelung der Beziehungen von Volk und Regierung hinausweisende rechtliche Ordnung des Gemeinwesens in den Blick. Es wäre demnach nicht richtig, den Unterschied zwischen den hier einschlägigen Lehren Althusius' und Rousseaus darin zu sehen, daß der erstere eine Vorstellung von der Rechts- und Verfassungsordnung des Gemeinwesens entwickelt habe, der letztere hingegen nicht. Damit sollen die — durchaus vorhandenen — Unterschiede nicht geleugnet werden. Sie sind allerdings weniger prinzipieller als vielmehr gradueller Art. Dies läßt sich nicht zuletzt anhand des beiderseitigen Verfassungsverständnisses verdeutlichen. Rousseau geht davon aus, daß die Verfassung — verstanden als Grundordnung des Gemeinwesens — jederzeit zur Disposition des Gesetzgebers steht. Denn ein Volk bleibe stets Herr seiner Gesetze, selbst der besten, weil niemand es daran hindern könne, sich selbst Schaden zuzufügen 100 . Es ist für ihn deshalb kein Fundamentalgesetz vorstellbar, das nicht aufgehoben werden könnte 101 . Althusius stellt demgegenüber sehr viel stärker auf den stabilisierenden Effekt der rechtlichen Grundordnung für das Gemeinwesen ab mit der Folge, daß dieses regelmäßig i n sich zusammenfallen wird (totum regnum corruit), wenn die bestehenden Fun90 Vgl. Rousseau, Contrat Social, liv. I I , chap. I V , S. 374f.: „Qu'est-ce donc proprement qu'un acte de souveraineté? Ce n'est pas une convention du supérieur avec l'inférieur, mais une convention du corps avec chacun de ses membres: Convention légitime, parce qu'elle a pour base le contrat s o c i a l . . . Tant que les sujets ne sont soumis qu'à de telles conventions, ils n'obéissent à personne, mais seulement à leur propre volonté . . 100 Rousseau, ebd., liv. I I , chap. X I I , S. 394: „D'ailleurs, en tout état de cause, un peuple est toujours le maître de changer ses lois, mêmes les meilleures; car s'il l u i plaît de se faire m a l a lui-même, q u i est-ce qui a le droit de l'empêcher?" 101 Rousseau begründet diese Schlußfolgerung m i t der Unmöglichkeit der Selbstbindung des Souveräns u n d erstreckt sie folgerichtig auch auf den Gesellschaftsvertrag selbst. Vgl. Contrat Social, liv. I, chap. V I I , S. 362: „ I I faut remarquer encore que la délibération publique . . . ne peut . . . obliger le Souverain envers lui-même, et que, par conséquent, ü est contre la nature du corps politique que le Souverain s'impose une loi q u ' i l ne puisse enfreindre. Ne pouvant se considérer sous u n seul et même rapport i l est alors dans le cas d'un particulier contractant avec soi-même; par où l'on v o i t qu'il n'y a n i ne peut y avoir nulle espèce de loi fondamentale obligatoire pour le corps du peuple, pas même le contrat social." Ebenso liv. I l l , chap. X V I I I , S. 436.
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damentalgesetze beseitigt werden 102 . Gleichwohl verschließt auch er sich der Möglichkeit einer Änderung, ja selbst einer Aufhebung der Fundamentalgesetze keineswegs, sofern dies nur einvernehmlich, d. h. im Zweifel mit Zustimmung der jeweiligen Repräsentanten (adhibito ephorum consensu) geschieht 108 . Althusius wie Rousseau sind sich demnach im klaren darüber, daß auch Fundamentalgesetze geändert bzw. aufgehoben werden können. Sie unterscheiden sich jedoch in der A r t der konstruktiven Bewältigung dieses zugleich verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Problems. Während Althusius an einer möglichst weitgehenden Einbindung und Kanalisierung der souveränen Gewalt im einmal konstituierten Gemeinwesen gelegen ist, w i l l Rousseau die Souveränität unmittelbar in das jeweils bestehende Gefüge von Recht und Verfassung durchschlagen lassen. Die darin zutage tretenden Auffassungsunterschiede dürfen aber nicht überzeichnet werden. Denn auch Rousseau erkennt gewisse Grenzen und Schranken der souveränen Gewalt durchaus an 104 . Und Althusius scheint umgekehrt eine unmittelbare gesetzgeberische Einwirkung auf die Rechts- und Verfassungsordnung des Gemeinwesens nicht schlechthin ausschließen zu wollen, wenn er die Möglichkeit einräumt, das Gesetz als öffentlichen Befehl des Volkes (jussio publica populi), d. h. als Imperativ zu begreifen 105 . Läßt man die beiderseitigen Auffassungen von Recht und Verfassung auf dieser Grundlage Revue passieren, so scheinen sie weniger auf verschiedene Grundmuster denn auf unterschiedliche Lösungsansätze innerhalb ein und desselben Bezugsrahmens zurückzugehen. Das gemeinsame — damals wie heute virulente — Bezugsproblem besteht darin, die Herrschaft des zum Gemeinwesen organisierten Volkes und die Herrschaft des Rechts bzw. der Verfassung möglichst bruchlos miteinander zu vereinen. Wenn Rousseau am Ende eine Lösung mehr im Sinne des ersteren, Althusius eher i m Lichte des zweiten Aspekts sieht, so darf darüber nicht in Vergessenheit geraten, daß es sich hierbei um unter102
Vgl. Althusius, Politica (FN 10), cap. X X I X , Nr. 9, S. 611. Vgl. Althusius, ebd. Siehe auch cap. X I X , Nr. 49, S. 350, wo eine Änderung bzw. Aufhebung communi consensu i n Betracht gezogen ist. 104 Vgl. hierzu Rousseau, Contrat Social, liv. I I , chap. I V : Des bornes du pouvoir souverain, insbes. S. 372 f.: Z w a r gibt der Gesellschaf tsvertrag dem politischen Körper „ u n pouvoir absolu sur tous les siens", doch gilt dies nur insoweit, „que tout ce que chacun aliène par le pacte social, de sa puissance, de ses biens, de sa liberté, c'est seulement la partie de tout cela dont l'usage importe à la communauté". Rousseau muß freilich zugestehen, daß hierüber i m Zweifel der Souverän zu befinden hat. 105 Vgl. Althusius, Politica, cap. X , Nr. 4, S. 191. Siehe auch cap. X X I X , Nr. 9, S. 611, wo von Befehl (jussum) auch i m Zusammenhang m i t den leges fundamentales die Rede ist. 103
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schiedliche Ausprägungen solcher Grundorientierungen handelt, wie sie — sei es in der einen, sei es in der anderen Richtung — i n der Politik des Althusius bereits angelegt sind. I V . Die politiktheoretischen Voraussetzungen
Ein Vergleich der Lehren von Althusius und Rousseau über das rechtlich geregelte Zusammenleben der Menschen i m Gemeinwesen wäre unvollständig, wenn man nicht auch nach den beiderseitigen politiktheoretischen Ausgangspositionen fragen würde. Diese scheinen — auf den ersten Blick — höchst unterschiedlich. Das trifft freilich nur dann zu, wenn man in Althusius weniger den Vertreter frühmoderner Politiktheorie als vielmehr den Protagonisten einer — zudem noch konfessionsbezogenen — politischen Theologie sieht, um diesem sodann Rousseau als Modellfall eines aufgeklärten, säkularen und rationalen Denkers gegenüberzustellen. Unterziehen w i r daraufhin zunächst die politiktheoretische Option des Althusius einer näheren Prüfung. Anders als die in methodologischer Hinsicht durchweg aristotelisch fundierten Politiklehren der Zeit legt Althusius seinem Entwurf einer Politica die ramistische Methode zugrunde, die mehr an die Tradition platonischer Philosophie anknüpft und in ausgesprochenem Gegensatz zum zeitgenössischen Aristotelismus steht. Althusius optiert damit für einen seinerzeit ungewöhnlich rationalen methodischen Ansatz, der den aristotelischen Syllogismus verwirft und an seine Stelle ein dichotomisch-dialektisches, d. h. dem Zweischritt folgendes logisches Vorgehen setzt. Diese auf den französischen Philosophen Petrus Ramus (1515—1572) zurückgehende methodologische Orientierung ist gemeint, wenn Althusius seine Politik „methodice digesta", d. h. methodisch angeleitet nennt 1 0 6 . Zwar wird die Methode einer strengen begrifflichen Zergliederung von Althusius keineswegs mit letzter Konsequenz praktiziert, auch w i r k t sie da, wo sie zur Anwendung kommt, mitunter reichlich schematisch, doch stellt sie gleichwohl ein unverwechselbares Ordnungskriterium dar, das sich durchaus als geeignet erweist, die Vielfalt der von ihm behandelten Gegenstände zu gliedern und systematisch aufzubereiten. Wenn sich Althusius für die ramistische Methode entscheidet, so beruht das keineswegs auf bloßen Ad-hoc-Erwägungen, die er i m Rahmen der Lehre von der Politik etwa punktuell eingesetzt hätte. Es ioe v g l . Petrus Ramus, Dialecticae institutiones. Aristotelicae animadversiones. Faksimiledruck der Ausgaben Paris 1543 m i t Einleitung von W. Risse, Stuttgart 1964. Dazu Walter J. Ong, Ramus. Method, and the Decay of Dialogue. From the A r t of Discourse to the A r t of Reason, Cambridge/Mass. 1958, S. 171 ff.
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handelt sich vielmehr um eine Entscheidung grundsätzlicher Art, die für sein gesamtes wissenschaftliches Werk kennzeichnend geworden ist. Bereits seine Erstlingsschrift, die Jurisprudentia Romana, ist nach der ramistischen Methode gearbeitet 107 . Die neue Denktechnik ermöglichte ihm, den Rechtsstoff des Corpus Juris völlig neu zu strukturieren und in eine ihm zeitgemäß erscheinende Gestalt zu bringen. Wie wichtig Althusius gerade dieser letztere Gesichtspunkt war, erhellt daraus, daß er diese Schrift immer wieder umgearbeitet hat, bis sie jene Form aufwies, in der alle Materien den seines Erachtens richtigen Platz einnahmen 108 . Die ramistische Methode bildet schließlich auch die Grundlage für sein zweites Hauptwerk, die Dicaeologica, die aus den Arbeiten an der Jurisprudentia hervorgegangen ist und einen der ersten Versuche einer methodologisch reflektierten allgemeinen Rechtslehre auf römischrechtlicher Grundlage darstellt 109 . Dem von Althusius gewählten methodologischen Ansatz kommt Bedeutung weniger für sich genommen zu — der Ramismus vermag sich auf Dauer nicht zu behaupten — als vielmehr deshalb, weil es mit seiner Hilfe möglich wurde, bislang geübte Denkschemata aufzubrechen und zu relativieren. Die Politica des Althusius wird auf diese Weise zur außerordentlich folgenreichen Antithese zum herrschenden logischen und politischen Aristotelismus der Zeit. Das schließt nicht aus, daß Althusius der Politik des Aristoteles auch und zwar insoweit verpflichtet ist, als es beiden um das befriedigende Zusammenleben der Menschen im Gemeinwesen geht 110 . Diese Übereinstimmung ist eine aber nur vordergründige. Denn Althusius fügt seine Vorstellung von Politik i n einen völlig neuen, theoriebezogenen Gesamtzusammenhang ein. Ihm liegt offensichtlich nicht nur an einer Erfassung bestehender politischer und rechtlicher Strukturen, sondern auch und ganz besonders an einer politiktheoretischen Reflexion derselben. Es geht nach allem um die Einordnung politischer Wirklichkeit in einen sowohl deskriptiv als auch normativ bestimmten theoretischen Bezugsrahmen 111 . 107 Vgl. hierzu den Titel: Juris Romani L i b r i duo: A d Leges Methodi Rameae conformati: Et Tabula illustrati, Basileae 1586. Seit der zweiten A u f lage, Herborn 1588, als Jurisprudentia Romana bezeichnet. 108 Siehe zu den verschiedenen Auflagen die am Ende dieses Bandes beigegebene bibliographische Zusammenstellung, S. 577 ff., Nr. 1 ff. 109 Dicaeologicae L i b r i Très, T o t u m et universum Jus, quo u t i m u r , methodice complectentes, Herbornae Nassoviorum 1617, 2. verb. Aufl., F r a n k f u r t a. M. 1649, Nachdruck Scientia Aalen 1967. 110 Zu den aristotelischen Aspekten der Politica siehe Paul-Ludwig Weinacht, Althusius — ein Aristoteliker?, i n diesem Band, S. 443 ff. (460), der Althusius allerdings anders, als das hier geschieht, i m Hinblick auf seine Sozialnaturlehre näher an Aristoteles als an Rousseau heranrückt. 111 Carl Joachim Friedrich, Johannes Althusius (FN 57) hat diesen methodologischen Zugriff treffend als eine Form „beschreibender N o r m a t i v i t ä t " bezeichnet (S. 83).
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Althusius begnügt sich hierbei nicht mit einer bloßen Auflistung oder Beschreibung der politischen Gegebenheiten seiner Zeit. Er gerät deshalb nahezu zwangsläufig in einen ausgesprochenen Gegensatz zur politischen Theorie und Praxis des absolutistischen Macht- und Zentralstaates, wie er sich im Laufe des 17. Jahrhunderts, wenn auch nicht überall, so doch weitgehend durchsetzen konnte. Das von Althusius vorgestellte staatliche Gemeinwesen ist demgegenüber mehr an den ständischen und genossenschaftlichen Herrschaftspraktiken der Zeit ausgerichtet. Es ist durch dezentrale Strukturen gekennzeichnet, durch eine konsensuale Züge tragende Gemeinschafts- und Basisorientierung, sowie durch die rechtliche Einbindung und Begrenzung allen staatlichen und politischen Handelns. Für die von ihm vertretene politiktheoretische Konzeption führt A l t h u sius eine ungewöhnlich große Zahl verschiedenartigster Belege an. Hierzu gehören neben den einschlägigen Äußerungen antiker, mittelalterlicher und zeitgenössischer Autoren zahlreiche autoritative Nachweise aus den Bereichen des deutschen, des römischen und des kanonischen Rechts sowie nicht zuletzt aus der Bibel. Die in der Tat erstaunliche Fülle der Bibelzitate 112 sowie der Umstand, daß Althusius die exempla sacra im Titel der Politica zuerst nennt, haben zu der Auffassung geführt, sein Werk sei i m Grunde theologisch gemeint 113 . Dem ist entgegengehalten worden, daß die zahlreichen Bibelzitate weniger Quelle als vielmehr Veranschaulichung und Illustration seiner Gedanken seien. Denn Althusius argumentiere zwar mit der Bibel, aber nicht notwendigerweise auch aus ihr 1 1 4 . Man wird in Würdigung dieser kontroversen Deutungen Althusius auf der einen Seite durchaus ernst nehmen müssen, wenn er auf exempla aus dem geistlichen Bereich, insbesondere aus der Bibel rekurriert. Es ist auch kaum zu leugnen, daß seine Politica vom Standpunkt eines politischen Calvinismus geschrieben ist, der sich zusehends seiner selbst bewußt wird und ein spezifisches Verständnis vom Zusammenleben der Menschen in der staatlichen Gemeinschaft entwickelt. Auf der anderen 112 Siehe hierzu Karl Heinrich Rengstorf, Die Exempla sacra i n der Politica des Althusius, i n diesem Band, S. 201 ff. 113 Vgl. Erik Wolf, Johannes Althusius (FN 7), S. 199. So auch Peter Jochen Winters, Die „ P o l i t i k " des Johannes Althusius u n d ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg i. Br. 1963 (Freiburger Studien zu Politik und Soziologie), bes. S. 11, 270. Ferner i n diesem Bande Wolf gang Sparn, P o l i t i k als Zweite Reformation, S. 425 ff., der für eine konfessionsspezifische Deutung der Politica plädiert. 114 Vgl. Ernst Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca. Untersuchungen zur Ideengeschichte des Rechtsstaates und zur altprotestantischen Naturrechtslehre, Karlsruhe 1955 (Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 5), S. 14.
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Seite kann man nicht daran vorbeigehen, daß aus den Darlegungen des Althusius zugleich der versierte, an der ratio scripta des römischen Rechts geschulte Jurist spricht, der mit allen für das damalige öffentliche Leben bedeutsamen Fragen auf das Beste vertraut ist und seine Argumentation auf die gegebenen staatlichen und politischen Verhältnisse einzustellen weiß 115 . Angesichts dieses Problemstandes erscheint es weniger angezeigt, danach zu fragen, wie die Politica im Hinblick auf unterschiedliche Zitatenmengen gemeint ist als vielmehr danach, ob die politiktheoretische Konzeption des Althusius auch dann in sich schlüssig und verständlich bleibt, wenn man ihre theologischen Implikationen nicht mitvollzieht. Diese Frage kann — übrigens nicht nur vom Standpunkt eines politiktheoretischen Erkenntnisinteresses, sondern auch aus rechts- und staatstheoretischer Perspektive — durchaus bejaht werden. In der Tat läßt sich, wie die obigen Ausführungen gezeigt haben dürften, ein konsensuales, auf dem sozialen Zusammenleben der Menschen aufbauendes Gemeinwesenverständnis ebenso wie eine repräsentativ zur Geltung gebrachte Volkssouveränität auch ohne den von Althusius mitgelieferten theologischen Kontext sowohl verstehen als auch begründen 116 . Vergleichbares gilt für die Verankerung des Gemeinwesens in einer fundamentalgesetzlich bestimmten konstitutionellen Ordnung. Damit wird nicht geleugnet, daß die politische Theorie des Althusius ganz besonders da ihre Wirkungen entfaltet hat und noch entfaltet, wo — wie beispielsweise in den Vereinigten Staaten — die ursprünglichen Voraussetzungen i m Sinne eines christlich-reformierten Weltverständnisses bis zu einem gewissen Grade stets gegeben waren und auch weiter gegeben sind 117 . Doch wäre es unzutreffend, den Anwendungs- und Wirkungsbereich seiner politischen Theorie allein deshalb, sei es regional, sei es zeitlich, beschränken zu wollen. Aber selbst dann, wenn man Althusius primär von seinen theologischen Voraussetzungen her begreifen würde, müßte man ein Gleiches 115 I n diesem Sinne auch Brian Tierney, Religion, Law, and the G r o w t h of Constitutional Thought 1150—1650, Cambridge/USA 1982 (The Wiles Lectures Given at the Queen's University of Belfast), S. 72: „Althusius conceded that a political theorist had to borrow from theologians the teachings of the Ten Commandments, for, he held, they were essential to the life of any state. But, apart from that, he apparently intended to construct a pure science of politics and merely to illustrate i t w i t h examples drawn from other disciplines." 116 Siehe dazu das unter den Gliederungspunkten I — I I I Dargelegte. Zu ähnlichen Schlußfolgerungen k o m m t i m Ergebnis Wilhelm Schmidt-Biggemann, Althusius' politische Theologie, i n diesem Band, S. 213 ff. (231). 117 Nicht von ungefähr ist die bisher einzige umfassendere Übersetzung der Politica in eine moderne Sprache i n den USA erschienen. Vgl. The Politics of Johannes Althusius. Abridged and Translated by Frederick S. Carney, Boston 1964 (Beacon Series i n the Sociology of Politics and Religion).
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nicht auch für Rousseau fordern? Liegen nicht auch seinem politiktheoretischen Entwurf theologische Prämissen zugrunde, die es mitzubedenken gilt? Wäre er demnach weniger rational und aufgeklärt, als man meinen könnte? Ohne den Vergleich in diesem Punkt allzu weit treiben zu wollen, sei in Erinnerung gerufen, daß auch Rousseau, der wie Althusius calvinischen Glaubens war 1 1 8 , ohne Rekurs auf Theologumena offenbar nicht auszukommen vermag. So soll der Gesellschaftsvertrag geheiligt sein 119 , ebenso übrigens wie die souveräne Gewalt 1 2 0 . Gesetzgeber und Gesetzgebung gelten als göttlich inspiriert 1 2 1 . Und alle Gerechtigkeit wird als letztlich von Gott stammend vorgestellt 122 . Rousseau faßt die für ihn wesentlichen Punkte bekanntlich in Form einer — den klassischen Religionen nicht ohne weiteres vergleichbaren — Zivilreligion 1 2 3 zusammen, einer Religion immerhin, die auch Dogmen kennt. Abgesehen von der oben bereits erwähnten Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze zählen zu den dogmatischen Grundbestandteilen der Zivilreligion noch der Glaube an eine mächtige Gottheit, an ein künftiges Leben sowie — ganz calvinisch gedacht — an das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen. Als einziges negativ formuliertes Dogma t r i t t der Ausschluß der Intoleranz hinzu 124 . Rousseau hat allerdings in dieser letzteren Frage — seiner nicht nur hier durch118 Wenn man von einem kurzzeitigen, alsbald wieder rückgängig gemachten U b e r t r i t t zum katholischen Glauben absieht. Vgl. hierzu sowie zu den i n jungen Jahren grundgelegten religiösen Uberzeugungen Ronald Grimsley, Rousseau and the Religious Quest, O x f o r d 1968, S. 1 ff. (1), der bemerkt, „ t h a t from an early age young Jean-Jacques was influenced by moral and religious values capable of leaving a permanent m a r k upon his later development". 119 Vgl. Rousseau, Contrat Social (FN 29), liv. I, chap. V I I , S. 363: „Mais le corps politique ou le Souverain ne t i r a n t son être que de la sainteté du contrat..." 120 Siehe ebd., liv. I I , chap. I V , S. 375 (le pouvoir souverain, tout absolu, tout sacré, tout inviolable q u ' i l est). 121 Vgl. ebd., chap. V I I , S. 381: „Pour découvrir les meilleures règles de société q u i conviennent aux Nations, i l faudrait une intelligence supérieure, qui v i t toutes les passions des hommes et q u i n'en éprouvât aucune . . . I l faudrait des Dieux pour donner des lois aux hommes." 122 Rousseau, Contrat Social, liv. I I , chap. V I , S. 378: „Toute justice vient de Dieu, l u i seul en est la source . . . " 123 Vgl. hierzu ebd., liv. I V , chap. 8: De la religion civile. 124 Vgl. Contrat Social, ebd., S. 468: „Les dogmes de la Religion civile doivent être simples, en petit nombre, énoncés avec précision sans explications n i commentaires. L'Existence de la D i v i n i t é puissante, intelligente, bienfaisante, prévoyante et pourvoyante, la vie à venir, le bonheur des justes, le châtiment des méchants, la sainteté du Contrat Social et des Lois; voilà les dogmes positifs. Quant aux dogmes négatifs, je les borne à un seul; c'est l'intolérance . . . "
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schlagenden theokratischen Neigungen 125 wegen — eine zufriedenstellende Lösung nicht anzubieten. Dies gilt in gleicher Weise auch für Althusius, zu dessen großen Leistungen der Ausbau der Toleranzidee gewiß nicht gehört. Wie dem auch sei, der theologische Kontext scheint jedenfalls nicht besonders geeignet, einen Gegensatz zwischen Althusius und Rousseau zu begründen, weil er bei beiden, wenn auch in unterschiedlicher A k zentuierung, eine Rolle spielt. Kehren w i r abschließend zur eingangs aufgeworfenen Frage nach der Vergleichbarkeit der beiden politischen Theoretiker und ihrem Stellenwert zurück. Es lassen sich, wie dargelegt, in den hier einer Analyse unterzogenen politiktheoretischen Problembereichen eine Reihe augenfälliger Gemeinsamkeiten und Parallelen vermerken. Sie bestehen vor allem in der Einsicht in die Lösungsbedürftigkeit grundlegender Strukturprobleme des menschlichen Zusammenlebens im Gemeinwesen sowie in der Erkenntnis, daß hierbei dem als politische Gemeinschaft verfaßten Volk eine überragende Bedeutung zukommt 1 2 6 . I n der organisatorischen Ausgestaltung dieser Grundeinsicht erweist sich Rousseau als Vertreter einer möglichst unmittelbaren Herrschaft durch das Volk, während Althusius eher einem repräsentativ-gemäßigten Herrschaftstypus den Vorzug gibt. Beide sind sich schließlich wiederum darin einig, daß der Regierung des Gemeinwesens gegenüber der Gesamtheit keine eigenständige, sondern eine nur abhängige Stellung zukommt. Was die konzeptionelle Seite angeht, so verfügt Rousseau, der anders als Althusius durch den Cartesianismus hindurchgegangen ist, über den konsequenter, aber auch radikaler durchgeführten gesellschaftstheoretischen wie gesellschaftsvertragstheoretischen Ansatz. Althusius hat demgegenüber jeweils da Vorteile ins Feld zu führen, wo es um die politiktheoretische Umsetzung und konstruktive Bewältigung der spezifisch rechtlichen, genauer: verfassungsrechtlichen Probleme des staatlich organisierten Gemeinwesens geht. Die Frage, ob Rousseau bei der Abfassung des Contrat Social die Politica des Althusius gekannt hat, erscheint vor dem Hintergrund der obigen Überlegungen von untergeordneter Bedeutung. Daß Althusius 125
Er orientiert sich nämlich, wie Maximilian Forschner, Rousseau, Freiburg 1977, S. 171, bemerkt, a m „klassischen Modell der Einheit von Politik und Religion, i n deren theokratischem Gefüge die von allen Bürgern bejahten Gesetze und Sitten als Gebote göttlichen Willens erscheinen". 126 C. J. Friedrich, Johannes Althusius (FN 57), S. 137, erblickt i n dieser gemeinsamen Grundeinsicht i n das Wesen des Politischen als des Gemeinschaftlichen zu Recht eine bedeutsame Parallele i m Denken beider Theoretiker.
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ihm jedenfalls nicht unbekannt geblieben ist, steht außer Zweifel. Denn Rousseau erwähnt ihn in den ,Lettres écrites de la Montagne' 127 , einer Schrift mit apologetischem Charakter aus dem Jahre 1764, ausdrücklich. Die inhaltlich ansonsten nicht sehr ergiebige Äußerung 128 belegt mit Sicherheit eines: Rousseau war sich dessen bewußt, daß auch Althusius zu denen zähle, die wie er selbst politische Fragen sowohl in theoretischer Weise — par abstraction — als auch und infolgedessen mit einiger Kühnheit — avec quelque hardiesse — behandelt und sich deshalb Feinde gemacht haben: Althusius s'attira des ennemis. Wie der sich nicht ganz zu Unrecht verfolgt glaubende Rousseau bezeichnenderweise hinzusetzt, sei allerdings davon abgesehen worden, Althusius auch noch strafrechtlich zu belangen. Ebenso aufschlußreich wie diese Beurteilung ist der Zusammenhang, in den Rousseau Althusius einordnet: er nennt ihn in einem Zuge mit Locke und Montesquieu, stellt ihn also durchaus in eine Linie mit den großen rechts- und staatstheoretischen Denkern seiner Epoche, zu denen auch er selbst gehört. Ist es nach allem berechtigt, von Althusius als einem deutschen Rousseau zu sprechen? W i l l man diese Frage überhaupt beantworten, so läßt sich jedenfalls soviel sagen: Angesichts seiner geistigen Statur sowie im Hinblick auf die Bedeutung seiner politischen Theorie bestehen begründete Aussichten, daß Althusius — wenn es denn à l'état présent noch nicht so sein sollte — einmal in eine vergleichbare Position einrückt, wie sie Rousseau für Frankreich und weit darüber hinaus gewonnen hat.
127 Hier benutzt i n der Ausgabe der Oeuvres complètes, Bd. I I I (FN 29), S. 683—897. 128 Vgl. Rousseau, Lettres écrites de la Montagne, 6. Brief, S. 812: „Je ne suis pas le seul q u i discutant par abstraction des questions de politique ait pu les traiter avec quelque hardiesse; chacun ne le fait pas, mais tout homme a le droit de le faire; plusieurs usent de ce droit, et je suis les seul qu'on punisse pour en avoir usé. . . . Althusius en Allemagne s'attira des ennemis, mais on ne s'avisa pas de le poursuivre criminellement. Locke, Montesquieu . . . ont traité les mêmes matières . . . "
VI. Strukturprobleme des neuzeitlichen Rechtsstaates
G E W A L T E N T E I L U N G B E I ALTHUSIUS Von Norbert Achterberg, Münster I . Einleitung
Der Begriff „Gewaltenteilung" kommt bei Althusius nicht vor. Dies zwingt zu einer Rechtfertigung der Behandlung des Gegenstandes i n diesem Zusammenhang — und zwar um so mehr, als er i n höchst unterschiedlicher Bedeutung verstanden w i r d und überdies noch nicht einmal weitere, von Althusius der Sache nach allerdings durchaus berücksichtigte Phänomene umgreift. 1. Die Bedeutung von »Gewaltenteilung"
Von „Gewaltenteilung" w i r d zum ersten gesprochen, wenn die gleichsam „horizontale" Unterscheidung von Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung gemeint ist, wie sie bei Montesquieu in Gestalt der Unterscheidung von gesetzgebender, vollziehender und richterlicher Gewalt 1 , aber auch in Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 2 GG und entsprechenden Landesverfassungsnormen, ferner i n den Verfassungen ausländischer Staaten vorkommt. Zum zweiten ist von „Gewaltenteilung" die Rede, wenn die Unterscheidung von Zentralstaatsgewalt und Gliedstaatsgewalt i m Bundesstaat bezeichnet werden soll; ihr w i r d dann das A t t r i b u t „vertikal" hinzugefügt. Kein Zweifel kann bestehen, daß sie in dieser Richtung darüber hinaus bis zu weiteren unterstaatlichen, dezentralisierten Körperschaften weiter verfolgt werden kann. Mitunter findet sich zum dritten die Bezeichnung „umfassende Gewaltenteilung", um damit noch weitere, der pluralistischen Ordnung zuzurechnende Tatbestände, wie die Unterscheidung staatlicher und nichtstaatlicher Verbandsgewalten — diejenige von Staat und Kirche beispielsweise — wiederzugeben. Zum vierten soll schließlich der Begriff „Gewaltenteilung i n der Zeit" Zäsuren im zeitlichen Ablauf der Organtätigkeit benennen, wie sie ins1 C. de Secondât, Baron de la Brède et de Montesquieu, De l'esprit de loix, Tome premier, Amsterdam—Leipzig 1763, p. 257 f. 32 R E C H T S T H E O R I E ,
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besondere — wenn auch nicht nur — durch Wahlperioden und Amtsperioden geläufig sind 2 . Geht man von einem derartig weit gefaßten Begriffsinhalt der Gewaltenteilung aus, so ist es nur ein kleiner Schritt, ihr auch noch weitere Phänomene zu unterstellen, insbesondere Organteilungen innerhalb derselben Staatsfunktion — wie sie sich beispielsweise i m Zweikammersystem zeigen — oder das Verhältnis des Individuums zum Staat, wie es i m Grundrechtssystem und insbesondere i m Widerstandsrecht zum Ausdruck kommt. 2. Bedenken gegen den Umfang des Gewaltenteilungsbegriffs
Bedenken gegen die herkömmliche Bezeichnung „Gewaltenteilung" bestehen zumindest i n der Gegenwart bei einigen dieser Zuordnungen. Fand sich schon i m Konstitutionalismus die These, die Dreiteilung der Staatsgewalt widerspreche deren Unteilbarkeit 3 , so blieb dabei unbeachtet, daß Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung gar nicht Teile der Staatsgewalt sind, sondern nur Funktionen, Ausübungsarten, die lediglich auf verschiedene Organgruppen verteilt sind, so daß sich die angebliche „horizontale Gewaltenteilung" heute auf eine Funktionenordnung und damit letztlich auf ein Kompetenzverteilungsschema reduziert. Von Gewaltenteilung konnte und kann insoweit mit Grund nur so lange und dort die Rede sein, wie und wo die erwähnten Funktionen auch i m soziologischen Sinne selbständige Träger besitzen 4 , seien es König und Stände oder König und Volk. 2 Näher N. Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, 1970, S. 108 ff. — Z u r Gewaltenteilung „ i n der Zeit" vor allem W. Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, in: Verfassungsrecht und V e r fassungswirklichkeit, Festschrift für Hans Huber, 1961, S. 151 (167 f.). Die Rechtsfigur widerlegt zwar n u r punktuell, aber doch nachhaltig die These von P.Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), 111 ff. = ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß. Materialien zu einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft, 1978, S. 59 ff., von der unzulänglichen Behandlung des Zeitfaktors in der Rechtswissenschaft. 3 R. υ. Mohl, Encyklopädie der Staatswissenschaften, 2. Aufl., 1872, § 16 A n m . 4, S. 121 f. Vgl. dagegen jedoch O. v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 1880, S. 26. Dazu auch noch die Bezugnahme auf S. Pufendorf bei v. Gierke, a.a.O., S. 184, sowie auf J. H. Boehmer, ebd., S. 185, A n m . 180. 4 Dies konnte z. B. für den „dualistischen Ständestaat" angenommen w e r den. Vgl. zu diesem F. Härtung, Herrschaftsverträge und ständischer Dualismus in deutschen Territorien, Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 10 (1952), 163 = ders., Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte A u f sätze, 1961, S. 62 ff.; G. Oestreich, Ständetum und Staatsbildung i n Deutschland, Staat 6 (1967), 61 = ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, 1969, S. 277 ff.; F. Rachfahl, Der dualistische Ständestaat i n Deutschland, i n : Jahrbuch für Gesetzgebung, V e r w a l t u n g und Volkswirtschaft i m Deutschen Reich 26 (1902), 1063.
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Bedenken bestehen ferner gegen die Anwendung des Begriffs Gewaltenteilung auf die föderalistische Staatsstruktur. Zwar kann in diesem Zusammenhang insofern von „Gewalten" gesprochen werden, als es sich nach herrschender Meinung sowohl bei der Zentralstaats- als auch bei der Gliedstaatsgewalt um Staatsgewalten im staatstheoretischen Sinne handelt. Indessen fehlt bei diesen — w i l l man nicht den inzwischen als I r r t u m erkannten Begriff des Gesamtstaats i m Sinne eines dreigliedrigen Bundesstaatsbegriffs 5 erneut bemühen — ein gemeinsamer Bezugspunkt, der das Verhältnis von Zentralstaats- und Gliedstaatsgewalt als „Teilung" und nicht, wie es richtiger ist, als Zuordnung verstehen läßt. Aus demselben Grunde ist es ungenau, den Begriff „Gewaltenteilung" zu verwenden, um weitere dem Pluralismus zuzurechnende Phänomene zu bezeichnen, die — wie das Verhältnis von Staat und Kirche — keine Teilung einer Gewalt, sondern lediglich eine, wie Dietrich Pirson es genannt hat, „gegenseitige positive Zuordnung" von Kräften bedeuten®. 3. Der gemeinsame Nenner der Gewaltenteilungsphänomene
Daß sich dennoch alle genannten Institute auf einen gemeinsamen Nenner zurückführen lassen, ist leicht ersichtlich. I n jedem Fall — ob Trennung oder Zuordnung — geht es um die Hemmung und Mäßigung von Kräften, die hierdurch i n ein Kontrollsystem gebracht werden, und zwar prinzipiell in ein wechselseitiges: Nicht einmal die dem Bürger durch die Grundrechte eingeräumte „Individualgewalt" ist unbegrenzt, sondern steht unter immanenten und systematischen Gewährleistungsund Vorbehaltsschranken. Alle solche Fälle unter den Oberbegriff „Gewaltenteilung" zu stellen, darf nicht zu einem verengten Blickwinkel führen. Daß die Bezeichnung trotz ihrer Schwächen hier beibehalten wird, beruht auf der Überlegung, daß jede weitere Strukturierung den Gegenstand dieses Beitrags überschreiten würde, überdies auf der Tolerierung des überkommenen, vor allem auch dem Nichtjuristen geläufigen Begriffs. Dies darf jedoch nicht verdecken, daß das Thema vom Ansatz her weiter gefaßt ist, als es den Anschein hat und daß — obwohl nur exemplarisch — auch solche Begriffe der Staatslehre des Althusius i n die Überlegungen einzuschließen sind, bei denen die 5
Z u m dreigliedrigen Bundesstaat H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 199 f.; H.Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, 3. Teil, 1956, S. 151 ff. A b lehnend m i t Recht z. B. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der B u n desrepublik Deutschland, 14. Aufl., 1984, § 7 A n m . 1. 8 D. Pirson, Der Kirchenvertrag als Gestaltungsform der Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Kirche, i n : Festschrift für Hans Liermann, hrsg. v. K. Obermayer/H.-R. Hagemann, 1964, S. 177 (190). 32'
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B e z i e h u n g z u r G e w a l t e n t e i l u n g u n d — nach d e m soeben Gesagten — z u r M a c h t h e m m u n g i m Staat n i c h t schon a u f d e n ersten B l i c k e r k e n n b a r ist 7 . I I . Die Gewaltenteilung bei Althusius A u s d e r P o l i t i c a seien d r e i F r a g e n k r e i s e h e r a u s g e g r i f f e n u n d z u r G e w a l t e n t e i l u n g i n B e z i e h u n g gesetzt 8 : die E p h o r e n l e h r e , die I n h a l t s b e s t i m m u n g der h e u t e so g e n a n n t e n S t a a t s f u n k t i o n e n u n d das W i d e r standsrecht 9 . 1. Die Ephorenlehre D i e L e h r e v o n d e n E p h o r e n 1 0 n i m m t i n d e r Staatstheorie des A l t h u s i u s n i c h t n u r u m f a n g m ä ß i g eine, w e n n n i c h t g a r ü b e r h a u p t die zentrale Stelle ein. Infolgedessen v e r w u n d e r t es nicht, daß sein B e k e n n t n i s z u m 7 Unter dem Aspekt der K o m p l e x i t ä t von Entscheidungszentren (auf der die Deutung föderalistischer Phänome als „vertikale Gewaltenteilung" beruht) könnte man auch die bei Althusius anzutreffende Gliederung i n consociationes hierzu rechnen (die Parallele deutet auch P. J. Winters, Johannes Althusius, in: Staatsdenker i m 1'7. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht, hrsg. v. M. Stolleis, 1977, S. 29 [42] an). Z u m Begriff der consociatio C. J. Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk i m Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, 1975, S. 70 ff., zu ihrer Vielfalt und Eigenart H. U. Scupin, Untrennbarkeit von Staat und Gesellschaft i n der frühen Neuzeit. Althusius und Bodin, in: Recht und Gesellschaft, Festschrift für Helmut Schelsky, hrsg. v. F. Kaulbach/W. Krawietz, 1978, S. 637 (641 ff.). Vgl. auch noch v. Gierke (FN 3), S. 21 ff.; P. J. Winters, Die „ P o l i t i k " des A l t husius und ihre zeitgenössischen Quellen. Zur Grundlegung der politischen Wissenschaft i m 16. und i m beginnenden 17. Jahrhundert, 1963, 179 ff. M i t allem ist nicht gesagt, daß Althusius die Annahme eines „föderalistischen Systems" unterstellt werden darf, ablehnend auch H. J. v. Eikema Hommes, Die Staats- und Gesellschaftslehre des Johannes Althusius, in: Recht und Staat i m sozialen Wandel, Festschrift für Hans Ulrich Scupin, hrsg. v. N. Achterberg/W. K r a w i e t z / D . Wyduckel, 1983, S. 211 (223 f. ausdrücklich gegen O. v. Gierke , Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. IV, 1913, S. 348). 8 Daß die Gewaltenteilung i n dem heute verstandenen Sinne bei Althusius nicht anzutreffen ist, hebt zutreffend Winters, bei Stolleis (FN 7), S. 44, hervor. Gleichwohl vermag Friedrich (FN 7), S. 134, zu bemerken, daß „die ständestaatliche Gewaltenteilung bei Montesquieu den Vorstellungen von A l t h u sius durchaus verwandt und seine These, daß die Bedingung für eine Beschränkung der Regierungsmacht und daher eine Voraussetzung politischer Freiheit sei, schon bei Althusius zu finden" ist. 9 Von vornherein muß dabei K l a r h e i t darüber bestehen, daß die Einordnung der „Politica" nicht i m Juristischen erfolgen darf, sondern i m Gesellschaftlich-Politischen vorzunehmen ist. E. Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 3. Aufl., 1951, S. 181, bezeichnet sie demgemäß als Versuch „eines rationalen Systems der allgemeinen Gesellschaftslehre". Ä h n l i c h Winters, „ P o l i t i k " (FN 7), S. 11, 26, wo der Versuch einer Begründung der P o l i t i k als eigenständige Wissenschaft als Anliegen der „Politica" herausgestellt w i r d . 10 Z u r Ephorenlehre v. Gierke (FN 3), S. 29 f., 217; Winters, bei Stolleis (FN 7), S. 41 f.
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Erfordernis der Machtbegrenzung gerade i n diesem Zusammenhang anzutreffen ist. Die Ephoren 11 (Kap. X V I I I : „De ephoris, eorumque officio"; X V I I I 110: „Generales ephori sunt, quibus totius regni et omnium provinciarum eius tutela et cura vel inspecto est demandata, u t i sunt senatus imperii, consiliarii regni, syndici, regni cancellarius et similes"; X V I I I 111: „Speciales ephori sunt, qui provinciae, regionis, vel partis certae regni, tutelam et curam susceperunt, et immediate suum magistratum . . . et similes a provinciis sibi demandatis nominati") werden neben der „höchsten Obrigkeit" als die „Statthalter der Universalgesellschaft" bezeichnet ( X V I I I 47: „ A d m i n i s t r a t o r s universalis huius consociationis sunt duo rum generum: sunt enim ephori, vel magistratus summus"); diesen ist die Oberherrschaft über das Gemeinwesen anvertraut, damit sie dieses repräsentieren ( X V I I I 48: „Ephori sunt, quibus populi in corpus politicum consociati consensu demandata est summa Reipublicae seu universalis consociationis ut repraesentantes eandem . .."). Das Erfordernis der Repräsentation ist für Althusius untrennbar mit der Lenkung des Gemeinwesens verknüpft. „Unmittelbare Demokratie" — von Rousseau rund ein Jahrhundert später, wenn auch mit Augenmaß für die bestehenden Möglichkeiten ihrer Verwirklichung, als deren „wahre" Form bezeichnet 12 —, w i r d von ihm überhaupt nicht als mögliche Regierungsart in Erwägung gezogen. Althusius erweist sich mithin als ein nüchterner, Möglichkeiten und Erfordernisse des Regierens klar erkennender Staatsdenker. M i t der Anerkennung des Repräsentationserfordernisses aber ist auch diejenige der Gewaltenteilung verbunden, wenn auch vielleicht nur in dem bereits erwähnten abgeschwächten Sinne der Kompetenz- oder Organteilung. Sobald sich die Universalgesellschaft — das Staatsvolk — der Repräsentanz bedient, besteht diese nicht nur aus einem èinzelnen Repräsentativorgan, sondern es sind auch andere — wenn auch in weiterem Sinne, also über Volksvertretungen hinausgehende — derartige Organe vorhanden. Der Dualismus zwischen Ephoren und höchster Obrigkeit 1 3 entspricht dem genau. 11
Z u r höchsten Obrigkeit („summus magistratus") bei Althusius v. Gierke (FN 3), S. 31. 12 J.-J. Rousseau, D u Contrat Social, L i v r e I I I , Chapitre I V : „ A prendre le terme dans la rigueur de l'acception i l n'a jamais existé de véritable démocratie, et i l n'en existera jamais. . . . On ne peut imaginer que le peuple reste incessamment assemblé pour vaquer aux affaires publiques . . . " . 13 Dualismen durchziehen das Werk des Althusius überhaupt (z. B. „ephori generales" und „speciales" oder „consociatio privata" und „publica" oder „consociatio universalis maior" und „particularis minor"). Man w i r d i n der Annahme nicht fehl gehen, daß sich hier eine Beeinflussung durch die ramistische Dichotomie zeigt. Zur Bedeutung des Petrus Ramus f ü r Althusius Friedrich (FN 7), S. 58 ff.; Winters, „ P o l i t i k " (FN 7), S. 29.
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Indessen erweist sich die Ephorenlehre noch aus einem anderen Grunde als für die Gewaltenteilung ertragreich. Althusius geht nämlich i n diesem Zusammenhang — wie auch an anderen Stellen — der Frage nach, wie sich das Verhältnis zwischen dem Volk und seinen Repräsentanten darstellt. Ausgangspunkt ist dabei die Erkenntnis, daß nicht das Gemeinwesen des Königs wegen, sondern umgekehrt die Obrigkeit des Staates wegen da sein, der Konstituierende höher stehe als der Konstituierte ( V I I I 55: „Nam constituens maior est constituto, habetque generalem potestatem i n omnes provincias et regnum. Constitutus vero minor est constituente, habetque specialem et limitatam, praescriptam constituente potestatem i n provincia . . . " ) . Dies löst Konsequenzen für die Grenzen der die Repräsentation begründenden Delegation aus: Nach Althusius ist es unwahrscheinlich, daß das Volk die Autorität vollständig „ohne Ausnahme, ohne Plan und Vernunft" übertragen und damit bewirken wolle, daß selbst ein Fürst, welcher „der Bestechlichkeit und Verschrobenheit verfallen" sei, mehr Macht habe, als alle Bürger zusammen ( X V I I I 9: „Nec est verosimile, cives universos, seu populum, se sua auctoritate penitus voluisse spoliare, et transferre in alium sine exceptione, sine consilio et ratione, quod necesse non erat effecisse, ut princeps corruptioni et pravitaci obnoxius, maiorem universis haberet potestatem . . . " ) . Denn wie groß auch immer die Befehlsgewalt und das Recht seien, sie seien dennoch immer kleiner als das, was der Einräumende sich zurückbehält ( X V I I I 27: „Quantumcunque enim est imperium et ius quod alteri conceditur, minus tarnen semper est eo, quod concedens sibi reservavit"). I m Sinne moderner Delegationstheorie gesprochen: Delegation ist konservierend, nicht devolvierend. Der Delegant kann die delegierten Kompetenzen nicht nur wieder zurückrufen, sondern sie auch konkurrierend wahrnehmen. Die Kompetenzkonkurrenz aber hat wiederum einen gewaltenteilenden Effekt; auch sie bedeutet Machthemmung. Althusius trägt dazu unter Bezugnahme auf Aristoteles einen interessanten zusätzlichen Gedanken bei: Je geringer die Macht derer ist, die befehlen, um so dauerhafter und standfester ist und steht die Herrschaft. Denn eine durch feste Gesetze begrenzte Macht erhebt sich nicht zum Verderben der Untertanen und artet weder aus noch entartet sie zu einer Tyrannei ( X V I I I 31: „Quo minor potestas eorum est, qui imperant, eo diuturnius stabiliusque est et stat imperium. Nam legibus certis circumscripta potestas, in subditorum perniciem sese non effert, luxuriat, aut i n tyrannidem dégénérât."). Man kann dies als Subordination des Delegatars unter den Deleganten begreifen. Vor allem aber belegt dies die auch gegenwärtig gültige Feststellung, daß Gewaltenteilung und Funktionentrennung nicht notwendigerweise zur Annahme einer Gleichordnung der einzelnen Gewalten und Funktionen zwingen. Dieser Ein-
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druck w i r d zwar erweckt, wenn in der neueren Staatslehre mitunter von einer Gleichrangigkeit von Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung gesprochen wird 1 4 . Eine solche erfordert aber weder der Idealnoch der Realtyp der Gewaltenteilung, wie sich am Beispiel der vertikalen wegen der mannigfachen Überordnung der Zentral- über die Gliedstaatsgewalt, am Beispiel der horizontalen zumindest angesichts der schon bei Althusius anzutreffenden Rangordnung zwischen dem ganzen Volk und dem einzelnen Bürger, dem Ephorat als ganzem gegenüber der höchsten Obrigkeit, dieser gegenüber den einzelnen Ephoren zeigt ( X V I I I 70: „ . . . Rex vero, seu summus magistratus, generalem in singulos etiam optimates habet potestatem, maiestatem et praeeminentiam, a cuius potestate et administratione omnia pendent. Quantum enim cumque sit imperium, quod alteri tribuitur, minus tarnen est semper eo, quod concedens sibi reservavit. . ."; V I I I 71: „Et universi maiorem habet potentiam uno homine, qui quicquid habet ultra alios homines, id ab universis accepit. Neque etiam regis potestas ideo diminuta dici potest, quod optimates et Ephori hi, etiam quandam usurpent potestatem..."; X V I I I 73: „Deinde hi ephori universi quidem magistratu summo sunt superiores, quatenus repraesentantes populum eius nomine collegialiter quid agunt: singuli vero separatim isto magistratu sunt inferiores") und sich ferner in dem bei Kant zu findenden Vergleich der drei Staatsfunktionen mit dem Ober-, Unter- und Schlußsatz des logischen Schlusses15, der im Frühkonstitutionalismus von Nicolaus Thaddeus Gönner angenommenen oberaufsehenden Gewalt 1 8 sowie schließlich der Regelungsprärogative der Volksvertretung, aber auch im Hinblick auf zahlreiche andere Funktionenverschränkungen nachweisen läßt. Die partielle Umkehrbarkeit des Vorrangs 17 ist allerdings unübersehbar. Auch Althusius geht davon aus, daß dieselben Subjekte Herrscher und zugleich Untertanen sein können. Der König sei Herrscher in den Bereichen, in denen er seine Amtsgewalt bekommen habe, Untertan 14 H. Peters, Die Verwaltung als eigenständige Staatsgewalt, 1965, sowie diejenigen, die einen „Verwaltungsvorbehält" i. S. eines „gesetzesfreien Bereichs" der Staatstätigkeit bejahen. Daß sich ein solcher indessen als Phantom erweist, hat die Staatsrechtslehrertagung 1984 (Referate von H. Maurer/ F. E. Schnapp, V V D S t R L 43, 135, 172) m i t ihren Begleitaufsätzen deutlich gemacht. 15 I. Kant, Metaphysik der Sitten, hrsg. v. K . Vorländer, 4. Aufl., 1922, § 45, S. 136. 16 N. Th. Gönner, Teutsches Staatsrecht, 1804, § 275, S. 422 ff. 17 H. U. Scupin, Der Begriff der Souveränität bei Johannes Althusius und bei Jean Bodin, Staat 4 (1965), 1 (12 f.); ders., Demokratische Elemente i n Theorie und Praxis des Johannes Althusius, i n : A Desirable World. Essays in Honor of Professor Bart Landheer, ed. A. M. C. H. Reigersmann-van der Eerden/G. Zoon, 1974, p. 67 (76), der dort plastisch von „dialektischen Balancebeziehungen" spricht. A u f die hierdurch bewirkte Machtbalance weist auch Winters bei Stolleis (FN 7), S. 42, hin.
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i n denen, i n denen er der Amtsgewalt und dem Urteilsspruch der Ephoren unterworfen sei ( X V I I I 99: „Praeest rex, et dominatur in iis, i n quibus dominandi et gubernandi potestatem accepit, non i n iis, quae ephorum potestati et iudicio sunt reservata"). Die an geschäftsführende Regierungen oder Zwischenausschüsse der Parlamente erinnernde Prokuratorenstellung der Ephoren — daß sie nämlich i n der Zeit eines Interregnums Leiter und Stellvertreter des Reiches und der Universalgesellschaft sind mit dem Recht, zu regieren und die Stelle der höchsten Obrigkeit so lange wahrzunehmen, bis diese gewählt ist ( X V I I I 87: „Huic adfine est, quod iidem Ephori tempore interregni sint rectores et procuratores regni et universalis consociationes, qui habent ius imperii administrandi et vices summi rectoris et magistratus generalis gerendi, donec summus magistratus electus et constitutus fuerit") — bringt schließlich noch die Gewaltenteilung i n der Zeit in das Ephorat. Vertieft w i r d dies durch den Hinweis, daß es sowohl ständige und aufgrund der Zustimmung der Universalgesellschaft sogar mit vererbbarem A m t ausgestattete Ephoren gebe als auch solche mit zeitlich beschränktem Auftrag, die ihr A m t nach Zeitablauf niederlegen ( X V I I I 107: „Ephort igitur sunt perpetui, haereditarii ex consensu universalis consociationis facti, vel temporales").
2. Die Funktionen des Staates
Hinsichtlich der Inhalte der Staatsfunktionen finden sich bei Althusius Deutungen sowohl der Gesetzgebung als auch der Vollziehung und der Rechtsprechung; ebenso geht er auf die zwischen diesen bestehenden Beziehungen ein. a) Die Begriffsinhalte
der
Funktionen
aa) Althusius spricht von der Gesetzgebung als von einem „allgemeinen weltlichen Hoheitsrecht", durch das den einzelnen Gliedern des gesellig vereinten Körpers A r t und Form, richtig in der Symbiose zu handeln und zu leben, vorgeschrieben wird; die Leistungen der Universalgesellschaft seien an dieses Recht anzupassen (X 2: „Generale est, quod singulis membris consociati corporis rationem et formam iuste agendi et vivendi in hac symbiosi, i n singulis et omnibus negotiis praescribit. Ideoque singula consociationis universalis negotia ad ius hoc accommodanda et examinanda erunt"). Der moderne Gehalt dieser Deutung t r i t t dabei klar hervor: Es sind die Allgemeinheit des Gesetzes, seine präskriptive Natur und schließlich sein Vorrang, der zur Anpassung zwingt.
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bb) Ausführlicher noch geht Althusius auf die vollziehende Funktion ein und damit auf einen Begriff, dessen inhaltliche Deutung der Staatsrechtslehre bis zur Gegenwart noch weit weniger gelungen ist als diejenige der Gesetzgebung und der Rechtsprechung. Der Notbehelf, Verwaltung i m Wege der Subtraktion als denjenigen Bereich der Staatstätigkeit zu begreifen, der nicht Gesetzgebung und Rechtsprechung ist 18 , hat Vorzüge — auf die hier nicht eingegangen zu werden braucht —, zeigt aber doch letztlich die Ohnmacht der Rechtsdogmatik und auch der Rechtstheorie gegenüber dem Facettenreichtum des Staatshandelns, der sich formelhaft anscheinend nicht bewältigen läßt. Bei Althusius sieht das nicht viel anders aus. Die Verwaltung ist nach ihm das Handeln, mit dem zweckmäßig und geziemend sowohl im allgemeinen, als auch i m besonderen die Handhabung des Rechts in einer Provinz zu deren Wohl geleitet w i r d ( V i l l i : „Administratio iuris provincialis est, qua commode et decenter iuris provincialis usus et praxis tarn generalis quam specialis ad salutem provinciae dirigitur"); eine öffentliche Verrichtung ist die, welche grundsätzlich den Aufgaben der ganzen Provinz — im modernen Sprachgebrauch: dem Gemeinwohl — dient und durch welche die für die bürgerliche Gesellschaft in ihr — die damit begrifflich von der Universalgesellschaft abgehoben w i r d — nötigen privaten Verrichtungen durch das Band der Einheit, Eintracht und Verbundenheit zum Wohl der Provinz und ihrer Bewohner geleitet und vor dem Untergang bewahrt werden ( V I I 28: „Functio publica est, quae principaliter totius provinciae negotiis inservit, quaque privatae superiores ad societatem civilem provincialem necessariae, vinculo unionis, concordiae et coniunctionis at salutem provinciae atque universorum et singulorum in ea viventium, diriguntur, et hoc modo ab interitu, cui alias subiectae essent, conservantur"). Der weltliche Stand, um den es hier geht und der sich in den Adelsstand und den Bürger und Bauer umfassenden gemeinen Stand gliedert, hat für das leibliche Wohl, den Lebensunterhalt, die Kleidung und die zur Lebensführung oder zu den Geschäften des alltäglichen Lebens zählenden Angelegenheiten zu sorgen ( V I I I 40: „Secularis ordo provinciae est, cui consensu provincialium cura corporis, victus, amictus, et rerum, quae ad usum vitae, vel ad negotia vitae, provincialium pertinent, est iniuncta . . . Ordo hic secularis et politicus est duplex, nimirum ordo nobilitatis, et ordo plebeius, scilicet civitatum et paganorum agrariorum") — nach heutiger Terminologie also Aufgaben der Daseinsvorsorge zu erfüllen —, während der Adels- oder Ritterstand aus diesem Gesamtkomplex die Verteidigung sowie die Abwehr der Gewalt und des Unrechts 18 N. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, Ednr. 9, § 20 Rdnr. 54.
1982, § 1 Rdnr. 8, § 8
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i n der Provinz wahrzunehmen hat ( V I I I 41: „Nobilitatis ordo praecipue ad defensionem atque ad v i m ac iniuriam provinciae depellendam et amoliendam est constitutus"). Dies bedeutet letztlich, daß Althusius nicht nur der Sache nach die Unterscheidung von leistender und ordnender Verwaltung vornimmt, sondern daß in seiner Politikwissenschaft insoweit eine Gewaltenteilung i m eigentlichen Sinne aufscheint, die auf einer Bindung der Funktionen an soziologisch unterschiedliche Kräfte beruht — abgesehen von der Personalunion i n Gestalt des Präfekten der Stände, dem die Leitung der Provinz vom Reich anvertraut ist ( V I I I 50: „Praefectus horum ordinum provincialium sacrorum et secular i u m est superior, cui administratio provinciae et omnium provincialium, a regno sub quo est provincia vel cuius est membrum, demandata est. . ."). Zwar nicht unmittelbar zum Begriff der vollziehenden Gewalt gehören, wohl aber von erheblicher Bedeutung für ihre Wahrnehmung sind die von Althusius entwickelten Vorstellungen über die Besetzung öffentlicher Ämter, die aus diesem Grunde nur kurz gestreift werden sollen: Unter dem Oberbegriff der öffentlichen Dienstleistung unterscheidet er als ansehenbringende den Dienst oder das Amt, als niedrige die Dienstleistung im engeren Sinne ( V I I 30: „. .. Publicum officium est duplex, honorificum, vel humile. Exempla utriusque extant illud proprie munus, hoc proprie officium dicitur"), wobei zu der ersteren sowohl Tätigkeiten gerechnet werden, die sich mit dem Individuum befassen, als auch solche, die wichtige Angelegenheiten des Gemeinwesens, beispielsweise die Gerichtsbarkeit, betreffen. Ein A m t dürfe nur denjenigen auferlegt werden, die hierzu geeignet sind, die vor allem den öffentlichen dem privaten Nutzen voranstellen ( V I I 32: „Hoc munus iniungendum est iis qui sunt idonei, et necessariis a Deo donis ad hoc instructi, et publicam utilitatem praeferunt privatae"); für ungeeignet hält Althusius rhetorisch veranlagte und unzuverlässige Charaktere, da sie zu stürmischem und streitsüchtigem Handeln neigten, geizige, argwöhnische und bedürftige Naturen, da sie zum Gehorchen tendierten, aber auch gesellschaftliche Aufsteiger ( V I I 33—36: „Oratoriae naturae in Rebuspublicis semper fere sunt pertinaces, rixatrices et pugnatrices . . . Perniciosi quoque Reipublicae sunt infidi, cupidi, et malae conscientiae homines item ambitiosi . . . Sunt quoque inquieti, turbulenti et contentiosi . . . Avari, potentes, suspecti, egeni, deiectu plerunque soient esse animo et viles existunt; ex quo fit, ut magistratum gerere nesciant, et ad parendum sint apti"). A m besten geeignet seien Angehörige der Mittelschicht, die i n ihre Ämter durch hierzu wiederum taugliche Personen ausgewählt werden ( V I I 40: „Praestantissima est i n administratione Reipublicae magistratuum electio, quae non gratia, non fortuito, non suffragiis ignorantiae, aut multitudinis, sed consulto per delectos et prudentes
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ex idoneis virtute praeditis et sapientioribus fit"). Gut überlegt sei es auch, daß diese Ämter eher Einwohnern, Eingeborenen und zur Landesbevölkerung gehörenden Bürgern übertragen werden als Auswärtigen und Menschen fremder Herkunft ( V I I 41: „Consultum quoque est, ut haec munera potius incolis, indigenis et originariis civibus, quam extraneis aliengenis deferantur") — dies eine Überlegung, die bis in die Gegenwart nichts von ihrer Brisanz verloren hat. cc) Hinsichtlich der Rechtsprechung ist bedeutsam und aus der Zeit heraus verständlich, daß Althusius zunächst den gegenseitigen Schutz der Bürger unter Einschluß der Beistandleistung gegen Gewalt und Unrecht für erforderlich hält, um die Sicherheit zu gewährleisten, in der Gemeinde zu leben (VI 36, 37: „Mutuam quoque operam sibi invicem cives praestant in defensione contra v i m et iniuriam personae vel rebus eorum illatam, et periculorum propulsatione, adeo ut non resistens, vel impediens periculum, vel v i m non propulsans et avertens, poena dignus iudicetur . . . Defensio eiusmodi et tutela civium mutua praestat tranquillitatem domesticam, securitatem vivendi et habitandi in civitate"). I m übrigen w i r d dieser die Jurisdiktion auf ihrem Gebiet — wenn auch nicht darüber hinaus — zugestanden, Gemeindegerichtsbarkeit ausdrücklich anerkannt (VI 41—43: „Quo refero etiam ius territorii, . . . et usum regalium aliaque iura publica cum iurisdictione . . . quae civitas . . . suo proprio iure habere .. . potest . . . Personalia iura principum, civitates hae habere non possunt. Neque universalem iurisdictionem extra territorium . .. Hue etiam pertinent tribunalia iudiciorum civitatis . .."). b) Die Beziehungen zwischen den Funktionen Breiten Raum nimmt bei Althusius die Beziehung zwischen Gesetzgebung und Vollziehung ein — nach heutiger Terminologie: das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und damit eine die Funktionentrennung ergänzende und korrigierende Funktionenverschränkung. Die Regierungsgewalt ist nach seinen Thesen an den Nutzen und an das Wohl der Untertanen gebunden, durch Gesetze und Urteilssprüche der Universalgesellschaft eingeschränkt 19 , überhaupt auf die Gerechtigkeit bezogen, also nicht unbegrenzt und absolut ( X V I I I 40: „Potestas igitur haec administrandi, quam h i ministri et rectores ab universal! con19 Die Bezugnahme auf den Dekalog, die sich in diesem Zusammenhang findet, befremdet heutzutage. Sie beruht darauf, daß schon Calvin die Gleichsetzung von Dekalog und natürlichem Gesetz empfahl, was bereits bei L. Daneau vollzogen wurde. Vgl. dazu E. Reibstein, Johannes Althusius als F o r t setzer der Schule von Salamanca, 1955, S. 70; dazu ferner Winters, „ P o l i t i k " (FN 7), S. 31, 148 ff.; ders., bei Stolleis (FN 7), S. 32 f.
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sociatione constituti habent, ad utilitatem et salutem subditorum est alligata, est certis cancellis, . . . legibus, et consociationis universalis iudicio iusto circumscripta, non infinita et absoluta"; X V I I I 94: „Directio et administratio haec, non est plena absoluta et liberrima, ad subditorum detrimentum et interitum, sed ad salutem et certis legibus limitata et circumscripta"; X V I I I 106: „Omnis potestas certis cancellis et legibus est limitata, nulla absoluta, infinita, effraenis, arbitraria, exlex, sed quaelibet potestas legibus, i u r i et aequitati alligata"). Die Statthalter überschreiten ihre Amtsgewalt demgemäß, wenn sie ihre Amtsausübung nicht am Gemeinwohl — am „gemeinsamen Nutzen und Wohlstand der Universalgesellschaft" — orientieren ( X V I I I 42: „. . . [Administrators] suae potestatis limites transgrediuntur, quando in administratione demandata propriam et privatam, non communem utilitatem et salutem universalis consociationis quaerunt"). Auf die dann mögliche Folge der Gehorsamsverweigerung w i r d i m Rahmen der Überlegungen zum Widerstandsrecht zurückzukommen sein. Unter Bezugnahme auf Fernandus Vasquius 20 schließt Althusius, daß kein Fürst gegen das Recht handeln könne, da er ihm nicht übergeordnet, sondern sein Wächter, Diener und Ausführer sei ( X V I I I 46: „Unde Vasquius recte concludit, principem etiam ex plenitudine potestatis, non posse contra vel supra ius aliquid facere, cum non sit superior iure, set iuris custos, minister et executor"). Die Sanktion ist dementsprechend: Wenn ein König, ein Leiter und Lenker, die Gesetze übertritt, ist er nicht mehr über die Geschäfte des Volkes eingesetzt, und die Untertanen sind es nicht mehr unter ihm ( X V I I I 94: „Quas, quando rex, rector et gubernator eiusmodi excedit non amplius super negotia populi constitutus, neque subditi sub ipso, vel ipsi subesse dici possunt . . ."). Auch in diesem Zusammenhang findet sich die bereits angedeutete bemerkenswerte Unterscheidung von Kollektiv und Individuum: Die einzelnen Untertanen stehen unter, alle zusammen aber über dem König. I m Falle des Verstoßes gegen Gesetze ist er nicht mehr ein Höherer, sondern ein Untertan unter allen gemeinsam; er hört auf, König zu sein, und untersteht der Gemeinschaft, die ihm als Kollektiv keinen Gehorsam mehr schuldet ( X V I I I 95: „. .. Ergo [rex] contra legis praescriptum imperans, legi fit obnoxius, et superior esse desinit: Quo casu incipit subesse, legis executoribus. Unde fit, ut subsit universis, tyrannidem exercens, et protestate sua abutens, et desinat esse rex et persona publica, et fiat privatus, quomodo notorie inique procedenti et agenti resistere licet cuivis .. ."). 20 Z u m Einfluß der Schule von Salamanca, der Fernando Vasquez de Menchaca (zu i h m A. Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1963, S. 108 ff.) als einer der Begründer der weltlichen Naturrechtslehre zuzurechnen ist, auf Althusius Reibstein (FN 19), S. 17 ff. (und insb. zu Vasquez, S. 41 ff.), ferner Winters, „ P o l i t i k " (FN 7), S. 61 ff. (insb. zu Vasquez, S. 68 ff.); kritisch demgegenüber v. Eikema Hommes (FN 7), S. 213.
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Die Doppelstellung des Bürgers als Individuum und als Glied des Kollektivs kommt hier ebenso deutlich zum Ausdruck wie an anderer Stelle die bereits erwähnte des Ephoren als solchen und als Mitglied des Ephorats — gewissermaßen eine intrapersonale Gewaltenteilung, die zumindest in der neueren Staatstheorie kein Gegenstück kennt. 3. Das Widerstandsrecht
Diese Überlegungen leiten bereits über zum Widerstandsrecht 21 . I m Grunde handelt es sich hierbei um etwas Neues. Wie weit es auf der calvinistischen Theologie beruht 2 2 , mag theologischer Untersuchung überlassen bleiben, die sich dabei mit der Erkenntnis von Alfred Verdroß konfrontiert sehen wird, daß der Calvinismus erst nach seiner Umgestaltung und Ausformung durch Theodore de Bèze (1519—1605), Richard Hooker (1553—1600) und Lambert Daneau (1530—1596)23 sowie dann eben Althusius selbst zu einer formenden, politischen Kraft der Staatenwelt werden konnte 24 . Bei Luther jedenfalls deutet sich dieses an. Er beklagt zwar, daß Gott die Fürsten toll gemacht habe, so daß sie nichts anderes meinten, als daß sie ihren Untertanen tun und befehlen könnten, was sie wollten. Doch ist seine Konsequenz weniger das Widerstandsrecht als vielmehr die Forderung, das weltliche Recht und Schwert dergestalt wohl zu 21 M i t Recht hebt Wolf (FN 9), S. 193, hervor, daß die Lehre vom Widerstandsrecht den K e i m zur Entwicklung der späteren Lehre von der Gewaltenteilung enthält; n u r gilt dasselbe auch für die (von i h m zutreffend gleichfalls i n diesem Zusammenhang genannte) Ephorenlehre. — Z u m Widerstandsrecht bei Althusius v. Gierke (FN 3), S. 33 ff., ferner H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, § 38 I 2, S. 945 ff., der zutreffend die Widerstandslehre Calvins i n den Vordergrund stellt, Winters, „ P o l i t i k " (FN 7), S. 260 ff., unter Angabe der 10 (kumulativen) Gründe, die zum Widerstand berechtigen; ders. bei Stolleis (FN 7), S. 47 ff. — Z u m Widerstandsrecht allgemein Ch. Link, Jus resistendi. Z u m Widerstandsrecht i m deutschen Staatsdenken, in: Conv i v i u m utriusque iuris, Festschrift für A. Dordett, hrsg. v. A. Scheuermann/ R. Weiler/G. Winkler, 1976, S. 55 ff., und schon früher K . Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht i n der Lehre vom Widerstandsrecht, 1916. 22 Z u m Einfluß der Theologie Calvins auf Althusius v. Gierke (FN 3), S. 56 ff.; Winters, „ P o l i t i k " (FN 7), S. 37 ff.; sowie insb. zur Staatsanschauung Calvins, vor allem zu seiner Auffassung zum Widerstandsrecht, J. Baur, Gott, Recht und weltliches Regiment i m Werke Calvins, Diss. K ö l n 1964, S. 93 ff., 229 ff., 252 ff.; G. Beyer haus, Studien zur Staatsanschauung Calvins m i t besonderer Berücksichtigung seines Souveränitätsbegriffs, 1910, vor allem S. 98 ff.; J. Bohatec, Calvin und das Recht, 1934, S. 133 ff. (Althusius erscheint bei den drei zuvor genannten Autoren nicht). 23 Zu R. Hooker und L. Daneau Reibstein (FN 19), S. 65 ff.; zu Daneau ferner Winters, „ P o l i t i k " (FN 7), S. 101 ff. 24 Verdroß (FN 20), S. I l l , unter Hervorhebung des — freilich umstrittenen — Einflusses, den die spanische Moraltheologie (Mariana, Vasquez), auf den Calvinismus und über diesen auf Althusius ausübte.
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begründen, daß niemand daran zweifelt, es sei nach Gottes Willen und Ordnung i n der Welt 2 5 . Dann aber besteht in der Tat keine Schwierigkeit mehr, der petrinischen Klausel Genüge zu tun (1. Petrus 2, 13 f.: „Seid Untertan aller menschlichen Ordnung . . . , es sei dem König als dem Obersten oder den Statthaltern, als die von ihm gesandt sind zur Strafe für die Übeltäter und zu Lobe den Rechtschaffenen") oder der entsprechenden paulinischen (Römer 13, 1: „Jedermann sei Untèrtan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat"). Nur bleibt dies ohne entsprechende Harmonisierung Wunschtraum. Luther selbst sagt dazu: „Und ihr sollt wissen, daß ein kluger Fürst von Anbeginn der Welt an ein höchst seltener Vogel ist, ein viel seltener [aber] ein rechtschaffener Fürst. Sie sind i m allgemeinen die größten Narren und ärgsten Buben auf Erden. Darum muß man sich jederzeit von ihnen des Ärgsten versehen und wenig Gutes von ihnen erwarten .. ."2® Nicht erst die moderne Theologie — Karl Barth einerseits, nach dem auch die totalitäre Ordnung eine solche ist, für die der Christ dankbar zu sein habe und an der er mitarbeiten könne 27 , Otto Dibelius andererseits, der dem ausdrücklich widerspricht — nimmt insoweit eine ähnlich ambivalente Haltung ein. Dibelius insbesondere wendet sich ausdrücklich gegen die Gleichsetzung von Obrigkeit und Obrigkeit — nicht „pervertierte" Obrigkeit, sondern nur „echte und gültige" Machthaberschaft sei Obrigkeit im paulinischen Sinne. „ W i r müssen es ablehnen, irgendeinem totalitären System die Anerkennung teil werden zu lassen, daß es .. . von Gott sei" 28 . Althusius nennt als Begründung dafür, den Statthaltern den Gehorsam zu verweigern, ihre Berufung. Das Gemeinwesen habe sich durch diese nicht der Möglichkeit beraubt, auf sich selbst zu achten, und diese nicht dem Statthalter preisgegeben ( X V I I I 43: „Ratio detrectandae obedientiae, nec non potestatis absolutae denegatae his administratoribus, est vocatio ipsorum generalis et specialis . . . Respublica administra25 M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei, in: ders., Die Hauptschriften, 1951, S. 263 (264, 275); auch i n R. WeberFas (Hrsg.), Der Staat, Dokumente des Staatsdenkens von der A n t i k e bis zur Gegenwart, 1. Bd., 1977, S. 237 (238). Hierzu B.Rüthers, Reformation und Recht, in: Akademischer Festakt zu Ehren von Professor Dr. H a r r y Westermann anläßlich der Vollendung seines 75. Lebensjahres, Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster, Heft 71, 1984, S. 18 (29 ff., wo hervorgehoben wird, daß alle Reformatoren [sc. Luther, Calvin, Zwingli] überzeugt gewesen seien, daß Gottes Allmacht und Gerechtigkeit auch für die Beseitigung einer ungerechten Obrigkeit sorgen werde. Wie auch immer man dazu stehen mag: Althusius entfernt sich von solcher Auffassung jedenfalls beträchtlich). 26 Luther (FN 25), S. 277; auch i n : Weber-Fas (FN 25), S. 259. 27 Ο. Dibelius, Obrigkeit, 1963, S. 8, gegen Κ . Barth. 28 Ebd., S. 51, 100.
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tores sibi constituendo, seipsam sui servandi faeultate [non] spoliavit"). Es sei sogar Pflicht der Ephoren, gegen ungerechte Entscheidungen der höchsten Obrigkeit einzuschreiten und diese durch ihre Ratschläge zu mildern oder zu hindern, wenn sie dem Gemeinwohl widersprechen ( X V I I I 68: „Unde ephororum horum esse dicitur, iniustis decretis magistratus supremi intercedere, eaque mitigare suis consiliis, vel impedire, quando saluti communi et ligibus consociationis huius universalis sunt contraria . . . " ) . Althusius wendet sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich gegen Bodins Anerkennung der absoluten Gewalt ( X V I I I 69: „Unde constat, magno in errore esse Bodinum, qui absolutam et omnimodam potestatem regi Galliae tribuit") 2 9 . Ephoren — an dieser Stelle noch „Optimaten" —, die der Tyrannei einer höchsten Obrigkeit Widerstand leisten, welche die Rechte der Universalgesellschaft mißachtet, trennen sich nicht von dem Gemeinwesen, sondern verwerfen nur einen derartigen Mißbrauch ( X V I I I 85: „Resistentes vero ephori tyrannidi summi magistratus, qui corpus consociationis universalis suo iure spoliare aut privare conatur, vel iuribus maiestatis abutitur, non ideo a communione regni et i u r i u m illius recedere, sed abusum illorum improbare, et summi magistratus peccatorum communicationem et approbationem vitare dicuntur"). Sie haben darüber hinaus die Aufgabe, bei mangelnder Eignung der höchsten Obrigkeit Reichsprokuratoren einzusetzen ( X V I I I 86: „Tertium officium horum optimatum est, magis t r a t e summo capto, absenti, furioso, fatuo, minori, prodigo, vel aliis morbis, aut impedimentis ad administrationem inepto, i n u t i l i effecto, tutores, curatores, aut procuratores regnis constituere, et adiungere"). Ihnen obliegt es weiterhin, der höchsten Obrigkeit Widerstand zu leisten, wenn sie die Hoheitsrechte mißachtet, sowie sogar sie abzusetzen und zu beseitigen, wenn sie Tyrannei ausübt ( X V I I I 88: „Quartum optimatum officium est, resistere iuribus maiestatis abutenti magistratui superiori; eumque iura et leges regni spernentem et violantem, tyrannidemque exercentem removere et exauctorare") 80 .
29 Z u m Verhältnis zwischen Althusius und Bodin allgemein Winters, „Polit i k " (FN 7), S. 120 ff. 80 Die Voraussetzungen, unter denen die Ephoren das Widerstandsrecht ausüben dürfen, werden von Winters, „ P o l i t i k " (FN 7), S. 263, ders., bei Stolleis (FN 7), S. 48, zusammengefaßt: (1) Die Tyrannis müsse allgemein bekannt („nota") sein; die Ephoren müßten auf einer Zusammenkunft die Tyrannis des Herrschers feststellen. (2) Die Tyrannis müsse trotz Abmahnung vom Herrscher beibehalten („obfirmata") bleiben. (3) Keine andere Möglichkeit als der Entzug der Herrschergewalt dürfe bestehen. N u r dann darf nach Althusius das Widerstandsrecht m i t dem Ziel wahrgenommen werden, dem H e r r scher die Herrschaftsgewalt abzusprechen, und darf bei Widersetzlichkeit des Herrschers m i t Waffengewalt — m i t der möglichen Folge der Tötung des Tyrannen — gegen ihn vorgegangen werden. Näheres hierzu bei Althusius i n Kap. X X X V I I I .
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Norbert Achterberg
Das i m Grundgesetz anerkannte Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4 GG) enthält somit Geist vom Geiste des Althusius. Nur geht es wesentlich über diese Frühform hinaus. Das Widerstandsrecht steht heute nicht nur den — wie auch immer zu begreifenden — „Ephoren" zu. Alle Deutschen haben vielmehr das Recht zum Widerstand gegen jeden, der die durch die verfassunggestaltenden Grundentscheidungen μιηΓΪΒεεηε Staatsgrundordnung zu beseitigen unternimmt, sofern andere Abhilfe nicht möglich ist. Der Gedanke der Monarchomachie 31 findet seine Fortsetzung nicht nur zufällig i m Grundrechtssystem, denn eine Beseitigung der verfassunggestaltenden Ordnung verspricht mit derjenigen der von ihr umschlossenen Grundrechte einherzugehen. Doch mag dies hier auf sich beruhen. I n diesem Zusammenhang ist erheblich, daß das Prinzip der Gewaltenteilung sowohl dann angesprochen ist, wenn Ephoren oder vergleichbare Organe, als auch dann, wenn jeder Bürger zum Widerstand gegen die Staatsgewalt befugt ist.
I I I . Zusammenfassung
Althusius ist nach allem das Problem der Gewaltenteilung, insbesondere der Gewaltenhemmung, nicht nur i n Umrissen geläufig, vielmehr spricht er es in den verschiedensten Varianten bis ins einzelne an. Der erwähnte gemeinsame Nenner w i r d hervorgehoben, wenn er die gegenseitige Beobachtung und Zurechtweisung zwischen dem König und den Ständen oder den Ephoren als Grundlage dafür bezeichnet, daß der Zustand des Reiches gesund und wohlbehalten bleibt und von Gefahren, Übeln und Unzuträglichkeiten befreit w i r d ( X V I I I 91: „Haec mutua inter regem et status, seu ephoros, correctio, censura et observatio, regni statum salvum, sartum et tectum conservât, atque eundem ab omnibus periculis, malis, et incommodis libérât"). Jeder Stand soll sich nach ihm in seinen Schranken halten, um Ungerechtigkeiten zu verhindern; „daraus ergibt sich dann eine ausgewogene und gegenseitig ausgeübte Regierungsart des Gemeinwesens, gar sehr gelobt von den Philosophen. Das ist eine Wächterin öffentlichen Friedens und ein festes Band menschlicher Gesellschaft" ( X V I I I 113: „Uno quaedam temperata et mutua Reipublicae gubernandae ratio existit, tantopere a philosophis laudata quae publicae tranquillitatis custos et humanae societatis vinculum"). 31
Z u r Monarchomachie bei Althusius Scupin, in: A Desirable World (FN 17), p. 68 f.; ferner v. Gierke (FN 3), S. 18 ff. K r i t i s c h Wolf (FN 9), S. 203, der hierbei allerdings den Monarchomachen als „grundsätzlichen Gegner jedes K ö nigtums" mißversteht. Dazu Krüger (FN 21), § 38 I 2, S. 947; Winters, bei Stolleis (FN 7), S. 29 (31 m. weit. Hinweisen Anm. 16).
REPRÄSENTATION I N DER STAATSLEHRE DER FRÜHEN NEUZEIT Zur Frage des Repräsentativprinzips i n der „ P o l i t i k " des Johannes Althusius Von Hasso Hofmann, Würzburg Das von Gerd Kleinheyer und Jan Schröder herausgegebene nützliche Bändchen, welches auf knappem Raum i n alphabetischer Reihenfolge eine Vielzahl „Deutsche(r) Juristen aus fünf Jahrhunderten" vorstellt, beginnt — wie könnte es nach Otto v. Gierkes berühmter Wiederentdeckung des Althusius anders sein 1 — mit einem Artikel eben über den Herborner Rechts-Professor und nachmaligen Emdener Stadtsyndikus Johannes Althusius (1557 od. 1563—1638). I n diesem von Hagen Hof verfaßten Text findet sich — bezogen auf die systematische Gesellschaftslehre in der Politik 2, dem althusischen Hauptwerk — der folgende konzise Satz: „Charakteristisch für Althusius' System ist die allseitige Durchführung des Repräsentationsprinzips" 3 . Dieser These, daß die Systematik der althusischen Konsoziationslehre mit der Durchführung des Repräsentationsprinzips zusammenhänge, soll hier in zwei Schritten nachgegangen werden. Und zwar rekapituliert der erste Teil die Struktur der politischen Theorie des Althusius, ihr Institutionengefüge, um Ort und Funktion des sog. Repräsentationsprinzips in dieser Wissenschaft von der Politik festzustellen. Sodann w i r d in einem zweiten Teil 1 Otto v. Gierke , Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 1880, zit. nach der 6. Ausg. Aalen 1968. 2 Johannes Althusius, Politica methodice digesta et exemplis sacris et profanis illustrata, Herborn 1603, 5. Aufl. 1654, Soweit nichts anderes vermerkt, beziehen sich alle Zitate (nach K a p i t e l und Paragraph) auf die 3. A u f lage (Herborn 1614), von der es 2 Nachdrucke (Aalen 1961 und 1981) gibt. Zur Interpretation sei neben dem Buch von Gierke (FN 1) v. a. verwiesen auf Ernst Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, Karlsruhe 1955; Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, Tübingen 1963, S. 177 ff.; Peter Jochen Winters, Die „ P o l i t i k " des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg i. Br. 1963; ders., Johannes Althusius, i n : Staatsdenker i m 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. Michael Stolleis, F r a n k f u r t 1977, S. 29 ff.; Carl Joachim Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk i m Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, Berlin 1975. 3 Gerd Kleinheyer/Jan Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, 2. Aufl., Heidelberg 1983, S. 19 ff. (21). 3
RECHTSTHEORIE,
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erörtert, ob und inwiefern nach diesem Befund Repräsentation zu den systembildenden Ideen der Herborner Politik gerechnet werden kann. Nach einem resümierenden dritten Abschnitt soll der abschließende vierte Teil einige Konsequenzen wenigstens andeuten, die sich aus der Analyse des angeblich charakteristischen Repräsentationsprinzips für die Bewertung jener Stichworte ergeben, die demgegenüber gewöhnlich mit Vorrang zur Kennzeichnung der politischen Theorie des Althusius angeführt zu werden pflegen — als da sind: Volkssouveränität und Demokratie, Herrschaftskontrolle und Widerstandsrecht, Bund, Vertrag und Föderalismus, säkularisiertes Naturrecht, individualistisches Prinzip, Freiheitlichkeit und Verfassungsstaat. I. 1. Der Stufenbau der Konsoziationen
Zunächst also zur Struktur der politischen Theorie des Althusius. Das Schema, nach welchem Althusius die Einheit der politischen Ordnung ramistisch von oben untergliedert und im Text gegenläufig von unten genetisch entwickelt und wonach er zudem die jeweils höchste Gewalt über Menschen begründet, ist bekannt: Die erste der vielen Zweiteilungen in der althusischen Politik ist die zwischen den einfachen, natürlichen, notwendigen, privaten Konsoziationen von Ehe, Familie, Verwandtschaft und Hausgenossenschaft einerseits und jenen, welche demgegenüber zusammengesetzt (mista), also vergleichsweise künstlich erscheinen, öffentlich oder politisch genannt (V 1 u. 2) und in Gemeinden (universitates), Provinzen und Reiche (oder Gemeinwesen) unterteilt werden andererseits 4 . Eine Sonderstellung nehmen die sog. kollegialen Konsoziationen (consociationes collegarum) ein (Kap. IV). Damit sind in erster Linie Berufsgenossenschaften gemeint, Zünfte vor allem 5 . Ihre Zwischenstellung ergibt sich daraus, daß 4 Vgl. zur ersten Stufe die Kap. V und V I , zur zweiten Kap. V I I und V I I I und zur dritten Kap. I X §§ 1 u. 3 sowie die Kap. X ff. — Regnum und res publica gebraucht Althusius durchaus gleichbedeutend für die höchste Stufe symbiotischen Lebens. Er lehnt die Unterscheidung i. S. von Monarchie einerseits und (aristokratischer) Polyarchie andererseits ausdrücklich ab ( I X 3). Siehe ferner I X 4 a. E. — Bleibt zu erwähnen, daß Althusius die Provinzen erst seit der 2. Aufl. von 1610 behandelt, d. h. seit er i n der politischen Auseinandersetzung m i t dem Landesherrn von Ostfriesland steht und seit er das 1601 i n Venedig erschienene Werk des Nicolaus Losaeus über das Korporationsrecht kennt (vgl. F N 10), wo i m 2. Kap. des I. Teils über die A r t e n der Korporationen unter Nr. 1 (S. 21) vor civitas, Castrum seu villa und simplex Collegium die Provinz genannt w i r d . Die ursprüngliche Fassung entspricht dagegen auffällig der Bodinschen Theorie der Vergesellschaftung, sprich seiner Korporationenlehre; vgl. dessen Six livres de la République I 2 u. I I I 7 am Anfang. 5 Vgl. bes. §§ 4, 12, 13 u. 24 i n diesem Kap. IV.
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sie unbeschadet ihrer wirtschaftlichen Notwendigkeit nicht naturursprüngliche und dauernde Verbindungen, sondern freiwillige, teilund auflösbare Zweckgemeinschaften sind (IV 1—3), zu deren Bildung die Hausherren und Familienväter gewissermaßen aus Haus und Familie heraustreten, um sich zur Erledigung nicht häuslicher und nicht privater (also doch wohl öffentlicher) Angelegenheiten zusammenzutun (IV 3). Trotzdem rechnet sie Althusius — offenbar wegen ihrer Homogenität und vielleicht auch wegen der fehlenden Gebietshoheit — noch den privaten Vereinigungen zu. Der aus der Wissenschaftslehre des Pierre de la Rameé (Ramus)8 am Ende sich ergebende dichotomische Schematismus7 erlaubt (hier) eben keine Zwischenstufen. Bei aller Betonung der genossenschaftlichen Rechtseinheit 8 versagt Althusius den berufsständischen Vereinigungen folglich auch das Prädikat der juristischen Person. Erst die in ihren verschiedenen Erscheinungsformen als Stadt, Dorf, Weiler usw. behandelte Gemeinde wird als Körperschaft (universitas) begriffen und ohne jede Einschränkung mit einem seit dem 14. Jahrhundert — vornehmlich i m Anschluß an die lex mortuo de fideiussoribus (Dig. 46, 1, 22) — geläufigen Terminus als persona repraesentata ausgezeichnet9. Althusius folgt in seiner entwickelten Korporationenlehre der späteren Auflagen der Politik hier wie sonst der legistischen und kanonistischen Tradition, die der von ihm (allerdings eben erst nach Erscheinen der 1. Auflage seiner Politik) zu Rate gezogene Nicolaus Losaeus in dem Tractatus de jure universitatum mit großer, durch Originalität kaum getrübter Zuverlässigkeit zusammengefaßt hatte 10 . Persona repraesentata bedeutet sonach also nicht „vertretene β Vgl. Walter Jackson Ong, Ramus — Method, and the Decay of Dialogue, Cambridge/Mass. 1958; Wilhelm Risse, Die Logik der Neuzeit, 1. Bd., Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 122 ff.; Gerhard Menk, Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584—1660), Wiesbaden 1981, S. 203 ff. 7 Sinn dieser antiaristotelischen, realitäts- und praxisbezogenen, der Rhetorik zugeneigten Methode ist es, die wissenschaftlichen Probleme durch die Entwicklung eines klassifikatorisch eindeutigen, vom Allgemeinen zum Besonderen absteigenden Systems von Begriffen zu klären, statt sie durch Rückführung auf vorausgesetzte allgemeine Begriffe und ein vorausgesetztes System ihrer Beziehungen zu „lösen". I n diesem präzisen Sinne der ramistischen Dialektik ist die Politik des Althusius „methodisch" (methodice) und nicht etwa, weil sie „more geometrico" verführe (zur „mathematischen Methode" i n der Staatsphilosophie des 17. Jahrhunderts vgl. Wolfgang Rod, Geometrischer Geist und Naturrecht, München, 1970). Die der Politik beigegebenen Schemata sind also weit mehr als nur Ubersichtshilfen. 8 Vgl. v. a. Politica I V 10. 9 Politica V 9; vgl. ebd. auch § 27. Von den privaten Konsoziationen w a r zuvor nur gesagt, daß sie oft gewissermaßen eine Person bildeten und als eine einzige Person angesehen würden: ut consociatio haec saepe unam personam repraesentet, & pro una persona reputetur ( I I 12). 10 Eingehende Würdigung dieses 1601 in Venedig erschienenen Werks des savoyischen Staatsrates Losaeus bei Otto v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. IV, Nachdr. Graz 1954, S. 3 ff. — I n der 1. Aufl. kennt A l t 3
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Person" oder etwas Ähnliches, sondern „fingierte" oder „vorgestellte Person" 11 . Dabei ist das Fiktive an dieser Vorstellung nach mittelalterlichem Verständnis nicht etwa, wie Otto v. Gierke behauptete 12 , die der realen Personenvielheit widersprechende Annahme der Verbandseinheit, sondern bloß die bildliche Gleichsetzung, die Analogie von durchaus als wirklich gedachter Verbandseinheit und natürlicher Person. 2. Soziale und verfassungsrechtliche Ordnung
Bleibt zu bemerken, daß Althusius dem Kapitel I V über die berufsständischen Kollegien einige Abschnitte über durchaus andersartige sozial- und herrschaftsständische Gliederungen des Volkskörpers anfügt (IV 25—29). Beispiele bieten v. a. die Kurien, Tribus, Klassen und Stände der römischen Bürgerschaft, aber auch biblische Berichte über Ordnungen des Jüdischen Volkes und die aristotelische Lehre von den 6 Klassen in der Oligarchie (Politik V I I 8 u. 9). So können am Ende des Kapitels über die berufsständischen Kollegien und unter der Kategorie der einfachen privaten Konsoziationen auch noch die zusammengesetzten und schwerlich wohl unpolitischen Ordnungen der zeitgenössischen 3 Stände, nämlich der Geistlichkeit, des Adels und des Volks i. S. der Plebs, also der Bauern, Kaufleute, Handwerker und der Gelehrten erscheinen (IV 30). Und zwar werden diese ordines, status und generalia majora collegia als Untergliederungen nicht nur der Bürgerschaften, sondern — quer zu dem vom Subsidiaritätsprinzip bestimmten territorialen Stufenbau der Politik — ausdrücklich auch als Einteilungen der Provinzen, Reiche und Politien, kurz: aller politischen Verfassungen bezeichnet. Diese Inkonsequenz ist nötig, um gemäß der Grundthese, daß die menschliche Gesellschaft in einer Stufenordnung von immer weiteren privaten und öffentlichen Vereinigungen sich aufbaut (Kap. V vor § 1), die Zusammensetzung der öffentlichen Korporationen, also der husius den Losaeus, wie gesagt, noch nicht. Hier fehlt auch noch der Terminus der persona repraesentata ebenso wie die i n F N 9 zit. Stelle. Althusius' erster Umgang m i t der Repräsentationsterminologie dokumentiert sich i n seiner Jurisprudentia Romana u n d betrifft die traditionelle Figur des erbrechtlichen ius repraesentationis: Jurisprudentia Romana, vel potius, Juris Romani Ars, duobus libris comprehensa, et ad leges methodi Rameae conformata, 2. Aufl., Herborn 1588, Lib. I Cap. X X I I (S. 70 ff.). 11 Vgl. Losaeus (FN 10) Cap. I §§ 5 ff.: Universitas secundum fictionem iuris repraesentat unam personam usw. Die §§ 8 f. paraphrasiert Althusius (Politica V 9) m i t der anschließenden Bemerkung, daß die Körperschaft nicht dem Begriff Person unterfalle, wenngleich sie — ordnungsgemäß einberufen und versammelt — die Rolle einer Person spiele. Hierzu und zum folgenden i m einzelnen und m i t Nachw. Hasso Hofmann, Repräsentation — Studien zur W o r t - und Begriffsgeschichte von der A n t i k e bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974, S. 132 ff. 12 Otto v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. I I I , Nachdr. Graz 1954, S. 280 ff.
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Gemeinden, Provinzen und Reiche, aus jenen angeblich einfachen Privatverbindungen plausibel zu machen. Denn zwar kann die Gemeinde als eine Konsoziation von Eheleuten, Familien und Berufsgenossenschaften derselben Ortschaft erscheinen (V 8). Auch leuchtet ein, daß die Provinzen all die großen und kleinen Gemeinden ihres Territoriums umfassen (VII1) und die Reiche mehrere Bürgerschaften und Provinzen vereinigen (IX 1). Doch ist das — in der Terminologie der Staatslehre von Georg Jellinek gesprochen — zunächst nur eine Soziallehre des Staates, keine Rechtslehre des Gemeinwesens. Althusius aber zählt — wie er in den Vorreden zu den verschiedenen Auflagen seiner Politik immer wieder mit besonderem Nachdruck hervorhebt — außer den facta auch die Grundlagen der Herrschaftsgewalt (capita majestatis ), also außer den sozialen auch die verfassungsrechtlichen Grundstrukturen zu den notwendigen Bestandteilen der Politikwissenschaft. So unterteilt er seine Darstellung stets nach den Gliedern (membra) eines Verbandes einerseits und dessen jus und administratio andererseits 13 . Der Begriff der Glieder indes ist demnach doppeldeutig: er kann sowohl die soziale Zusammensetzung wie die Rechtssubjekte oder Organe der Gemeinschaft bezeichnen. Und das muß sich nicht decken. So werden die Gemeinden und Provinzen in dem sozialwissenschaftlichen Sinne eines territorial radizierten Stufenbaus der Genossenschaften als Glieder des Reichs vorgestellt 14 , ohne dann aber als Träger reichsrechtlicher Zuständigkeiten eine nennenswerte Rolle zu spielen. I n spezifisch verfassungsrechtlichem Zusammenhang ist nur noch allgemein vom Volk oder den Gliedern des Reichs die Rede (IX 16, 18). Und wo diese in rechtlicher Funktion erscheinen, nämlich bei der Wahl der Ephoren, da werden als solche Glieder des Reichs im Rechtssinne statt der Gemeinden und Provinzen plötzlich Zenturien, Tribus, Kollegien und einzelne Stimmberechtigte genannt ( X V I I I 3 , 59), also Bezeichnungen verwendet, welche wirklichkeitsnäher auf ständische Ordnungen hindeuten. Sind dies doch Einteilungen des populus, von denen Althusius am Ende des von den Genossenschaften gewidmeten IV. Kapitels gesagt 13
Diese strenge Systematik ist der ursprünglichen Fassung der Politik freilich noch fremd. Bezeichnenderweise w i l l Althusius nach dem V o r w o r t zur 1. Auflage auch theoremata contingentia einbeziehen, was er in der Vorrede von 1614 nicht mehr erwähnt. 14 Politica I X 5: Membra regni, seu symbioticae universalis consociationis hujus voco, non singulos homines, neque familias, vel collegia, prout in privata & publica particulari consociatione, sed civitates, provincias & regiones plures inter se de uno corpore ex conjunctione & communicatione mutua constituendo consentient es. — IX 7: Vinculum hujus corporis & consociationis est consensus & inter membra Reipub. fides data & accepta ultro citroq; hoc est, promissio tacita vel expressa de communicandis reb. & operis mutuis , auxilio, consilio & jurib. iisdem communib. prout utilitas & nécessitas vite socialis universalis in regno postulaverit, ad quam communicationem etiam inviti adiguntur.
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hatte, daß an deren Stelle zu seiner Zeit regelmäßig die Stände der Geistlichen, der Adeligen und des einfachen Volkes getreten seien (IV 30). I n der Tat war nach Reichsstaatsrecht Glied des Reiches, wer das Recht auf Sitz und Stimme im Reichstag hatte. Das charakteristische Merkmal dieser sog. Reichsstandschaft war also persönlicher, nicht territorial-dinglicher Natur. Bestand auch i m allgemeinen ein Zusammenhang mit reichsunmittelbarer Territorialgewalt: zwingend war er indes nicht 15 . Und damit fallen sozialwissenschaftliches Schema und verfassungsrechtliche Struktur auseinander. Allenfalls in Gestalt der Reichsstädte waren Gebietskörperschaften als solche Glieder des Reichs. Sie seien, schreibt Althusius, „wie ein Glied des Reiches" (ut imperii membrum) in dessen Matrikel eingeschrieben (VI 2). Gleichwohl führt er sie im Sinne seiner sozialwissenschaftlichen Lehre der gesellschaftlichen Stufen zusammen mit den anderen Gemeinden nur unter den Gliederungen der Provinzen auf. Noch klarer t r i t t die Differenz zwischen dem sozialen und dem rechtlichen Aspekt der Konsoziationen innerhalb der Provinzen hervor; denn während die Provinz zunächst als Vereinigung verschiedener Gemeinden vorgestellt w i r d (VII1), erscheinen unter dem Gesichtspunkt ihrer rechtlichen Organisation und Verwaltung dann ausdrücklich die Landstände als „Glieder der Provinz" ( V I I I 2). Entsprechend verhält es sich bei den Gemeinden: Rechtlich setzen sie sich allein aus ihren (übrigens nur mit nach Stand und Würde verhältnismäßig, nicht unterschiedslos gleichen Rechten ausgestatteten) Bürgern zusammen (V 10, 11,48)1β. Ihre rechtliche Struktur w i r d durch eine Ämterordnung bestimmt (VI). Nach ihrer sozialen Genese hatte sie Althusius zuvor freilich als Gesellschaft von Eheleuten, Familien und Berufsgenossenschaften beschrieben (V 8). 3. Die Organisation der Herrschaft
Wenn es nun richtig sein sollte, daß für das System des Althusius die „allseitige Durchführung des Repräsentationsprinzips" charakteristisch ist, und wenn w i r weiter davon ausgehen, daß mit dem Repräsentationsprinzip ein Rechtsgrundsatz gemeint ist, dann dürfen w i r uns offenbar nicht an die Soziallehre der althusischen Politik halten, sondern müssen deren Rechtslehre des Staates betrachten, und da für unseren Autor die Über- und Unterordnung das erste Fundamentalgesetz aller Symbiosen bei Mensch und Tier ist 17 , heißt das: w i r müssen 15 Vgl. Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, K ö l n / Wien 1975, S. 339 ff. 19 Zur gestuften Rechtsgleichheit i n den Gemeinden vgl. Politica V I 47. 17 Vgl. Politica I 10—14, X V I I I §§ 21 u. 22.
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die H err schaftslehre in der politischen Theorie des Althusius ins Auge fassen. Mithin geht es um Kreation und Rechtsstellung derjenigen, die in den Korporationen — also den Gemeinden, Provinzen und Reichen — Befehlsgewalt (imperium) ausüben. Das sind in allen von Althusius behandelten politischen Einheiten — von den untergeordneten Amtsträgern einmal abgesehen — jeweils zwei Hauptorgane, nämlich einerseits ein Leiter oder Administrator im engeren Sinne 18 und zum anderen ein beratendes und beschließendes Gremium. Für die Vorsteher der Gemeinden — die Bürgermeister, wie w i r sagen würden — bringt Althusius mehrere Bezeichnungen bei (V 49 u. 51). Dasselbe gilt für die Häupter der Provinzen ( V I I I 50, 51), wobei Althusius i m Hinblick auf deren Vorsitz i m zugeordneten Beratungs- und Beschlußorgan wiederum den Ausdruck „Präses" bevorzugt, aber auch gerne von „Präfekten" spricht ( V I I I 8, 50). Gemeint sind damit allemal zwar nicht nur, aber doch in erster Linie die Reichsfürsten (VIII89). A u f der Ebene der Reiche schließlich faßt Althusius die Vielzahl historischer Titulaturen und seiner eigenen in bunter Folge gebrauchten Funktionsbezeichnungen wie „Leiter", „Diener", „Verwalter" usw. unter dem Oberbegriff des höchsten Magistrats (magistratus summus) zusammen ( X I X 1). Was die jeweils zugeordneten Beratungs- und Beschlußgremien anlangt, so ist die Terminologie für Gemeinden und Provinzen einfach: Die althusische Politik spricht zum einen von Senaten und nennt zum anderen — es war schon davon die Rede — die Landstände bei ihrem (deutschen) Namen (V52; V I I I 2): „die Stende der Landschaft". Für die Kurfürsten und alle anderen Reichsstände wählt Althusius den Terminus „Ephoren" ( X V I I I 4 7 ff.). Dieses alte griechische Wort für Hüter oder Aufseher hatte namentlich nach Herodot, Xenophon und Plutarch schon in Sparta verfassungsrechtliche Bedeutung und war den Humanisten von daher geläufig 19 . Althusius bezieht sich hierbei i n den ersten beiden Auflagen auf den Juristen und Philologen Alexander ab Alexandro (1461—1523), das ramistische literarische Nachschlagewerk „Thea18 Administratio bezeichnet die private Herrschaftsmacht der V o r m u n d schaft und Pflegschaft (vgl. Jurisprudentia Romana, F N 10, Lib. I Cap. X I / S. 32 ff.) ebenso wie die öffentliche und steht i n der althusischen Politik für Obrigkeit als Oberbegriff; vgl. das der Politik vorgeschaltete Schema Β sowie Lib. I Cap. 32 der Rechtslehre (Joh. Althusius: Dicaelogicae l i b r i très, Totum et universum Jus, quo u t i m u r , methodice complectentes, F r a n k f u r t / M . 1618, S. 117 ff.). Als Administratoren werden demnach meist i m weiteren Sinne alle Inhaber von imperium, m i t h i n sowohl die Häupter wie die Beschlußkörper, also die Fürsten w i e die Stände bezeichnet; vgl. etwa Politica X V I I I 1—47. 19 Vgl. Georg Dum, Entstehung und Entwicklung des spartanischen Ephorats, Innsbruck 1878, Nachdr. (Studia Historica 71) Rom 1970; K. M. T. Chrimes, Ancient Sparta, Manchester 1949, bes. S. 402 ff.; George Leonard Huxley, Early Sparta, London 1962, S. 38 f., 50 f., 85 ff., 115 f.; Franz Kiechle, L a k o nien und Sparta, München und B e r l i n 1963, S. 220 ff.
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t r u m Vitae Humanae" von Theodor Zwinger (1533—1588)20, später auch auf den Historiker Craig (1549—1602) und den Juristen Heige (1559— 1599)21. Er hätte auch Calvin und andere mehr anführen können 22 . Alle diese Beratungs- und Beschlußgremien — also Senate, Landstände und Ephoren — sind, wenngleich i m einzelnen von unterschiedlicher Struktur, naturgemäß mehrgliedrige, kollegiale Einrichtungen. Die Administratoren i m engeren Sinne dagegen erscheinen hauptsächlich als monokratische Organe. Wenn es z. B. mehrere Gemeindebürgermeister gibt (V 24), so üben diese ihr A m t nicht etwa collegialiter, sondern wie Althusius schreibt, per vices , d. h. je nach Aufgabenbereich i m Wechsel aus (V51). Nur für die höchsten Reichsmagistrate zieht A l t h u sius i m letzten Kapitel der Politik neben dem monokratischen Charakter des Königtums auch eine kollegiale oder, wie er sagt, polyarchische Struktur in Betracht ( X X X I X 1, 32 ff.), wobei er mit dem allemal unvermeidlichen Blick auf die Verfassung Venedigs zunächst die Möglichkeit eines aristokratischen Herrschaftskollegiums erwähnt ( X X X I X 45 ff.), dann aber auch von einem demokratischen Magistrat spricht ( X X X I X 57 ff.). 4. Die Lehre von der Demokratie
Diese demokratische A r t von Herrschaftsorganisation fällt nun freilich aus dem bisher zugrundegelegten Rahmen heraus. Denn der Begriff des demokratischen Magistrats meint nicht wie die anderen höchsten Magistrate ein bestimmtes, vielleicht besonders mitgliederstarkes Herrschaftsorgan neben anderen, sondern eine prinzipiell andere A r t von Verfassung, für die das republikanische Rom wie später auch bei Rousseau als ein etwas schwieriges und fragwürdiges Beispiel dient ( X X X I X 62 u. ö.) 23 . So wechselt unter der Hand auch die Terminologie: statt nur vom höchsten Magistrat demokratischen Charakters ist jetzt mehr vom democraticus status, von einem bestimmten status politiae, von Demokratie und demokratischer Administration schlechthin die Rede ( X X X I X 57—61). Kernpunkt dieser sozusagen anhangsweise behandelten Lehre von der Demokratie ist denn auch der Satz, daß in der 20 Zwingers Werk ist 1571 i n Basel erschienen. Die von Althusius i n X V I I I 49 angegebene Fundstelle „ L i b . 28 theat." ist nicht auszumachen, doch findet sich vol. V lib. 1 (p. 676) Plutarchs Bericht über die Ephoren. Das andere Kurzzitat meint Alexander ab Alexandro, Genialium dierum l i b r i sex, F r a n k f u r t 1594, lib. 6 c. 24 (S. 998 ff.). 21 Nicolaus Craigius, De Hepublica Lacedaemoniorum l i b r i quattuor 1593, lib. I I cap. 4 (S. 72 ff.); Petrus Heigius, Quaestiones juris tarn civilis quam Saxonici, 1601, Pars I qu. 4 § 5 (S. 68). 22 Johann Calvin, Institutiones Christianae Religionis I V 3, übers, u. bearb. v. Otto Weber, 3. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1984, S. 1056. 28 Vgl. Rousseau, Contrat social I V 4.
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Demokratie das Volk selbst höchster Magistrat ist, indem zwei oder mehrere von ihm auf Zeit Gewählte nach seinem Willen seine Souveränitätsrechte ausüben ( X X X I X 57 u. 58 a. E.), so daß das Volk bei der Herrschaftsausübung gewissermaßen eine Einheit bildet — quasi unum repraesentat in imperando ( X X X I X 59). Diese Einheit, i n der zwischen Befehlenden und Gehorchenden nicht mehr prinzipiell unterschieden werden kann, w i r d im Widerspruch zu der Auffassung, quod universi simul imperare & parere non possint ( X X X I X 60), behauptet und mit einem Prinzip demokratischer Freiheit begründet, demzufolge kraft Rechtsgleichheit alle Bürger im Wechsel befehlen und gehorchen: Natura Democratiae postulat, ut honorum aequalitas & libertas sit, quae in eo consistit, ut populäres per vices imperent & pareant . . . ( X X X I X 61; vgl. 63). Ämter werden eben — außer im Krieg — nur auf bestimmte Zeit übertragen ( X X X I X 57, 63, 64, 69). Die sozialen Rollen des Privaten und des Amtsträgers müssen folglich austauschbar sein: ... sit vicissitudo vitae privatae & honoratae, ut omnes singulis imperent, & singuli omnibus obtemperent ( X X X I X 61). Jedem müssen alle Ämter offenstehen ( X X X I X 63, 64). Stets hat die Zahl der Stimmen zu entscheiden, nicht deren Gewicht ( X X X I X 64): Ideoque in hoc statu sapientes consilium dant, sed de eo insipientes, & rerum imperiti judicant, hoc est populus ( X X X I X 64). Dies alles hat nichts mit der magischen Formel aller Theorien vertraglicher Begründung der Staatsgewalt zu tun, derzufolge auf dieser Basis ein jeder eigentlich nur sich selbst gehorcht 24 , sondern steht so oder ganz ähnlich bei Aristoteles, v. a. im 2. Kapitel des 6. Buches der Politik, worauf sich Althusius in diesem Zusammenhang denn auch immer wieder ausdrücklich bezieht 25 . Das ist nicht so verwunderlich, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte: die ramistische K r i t i k an Aristoteles betrifft die Natur- und 24
Vgl. Hobbes, Leviathan, Kap. 17, und Rousseau, Contrat social I 6. I n der 1. Aufl. w i r d Aristoteles selbst in diesem Zusammenhang allerdings noch nicht erwähnt. Stattdessen f ü h r t Althusius für den Kernsatz, daß in der Demokratie alle herrschen und alle gehorchen, dort vornehmlich den Juristen Petrus Gregorius Tolosanus (1540—1617), dazu Melchior Junius (1545 bis 1604), Danaeus (1530—1596) und Bodin (De republica lib. 6 cap. 5) an. Gregorius (De republica l i b r i sex et viginti. Ed. Germaniae nova [ F r a n k f u r t / M . ] , 1596), behandelt i n lib. I V cap. 5 §§ 15 ff. die verschiedenen A r t e n der Bestellung von Magistraten, darunter i m Anschluß an Aristoteles auch die demokratische Variante (S. 172 f.), ferner i n Buch V über die Staatsformen i n Kap. 2 die Demokratie nach Aristoteles (vgl. v. a. § 3 = S. 256). Junius (Politicarum Quaestionum centum ac tredecim, Straßburg 1602, Pars I qu. 4 = S. 14 ff., 29 ff.) schöpft dagegen v. a. aus Bodin. Danaeus hat in seiner Zitatensammlung: Politicorum aphorismorum silva, Leyden 1591, p. 442, einige Stellen aus Aristoteles über Demokratie. Auch in der 2. Aufl. der Politik des Althusius (Arnheim [auch Groningen] 1610) bleiben die direkten AristotelesZitate spärlich; an der fraglichen Stelle fehlt sein Name nach wie vor. Charakteristischerweise lautet die Stelle X X X I X 63 der 3. Aufl. (Populäre est ergo, ait Aristoteles . . . ) i n der 2. Aufl. (p. 708) noch: Populäre est ergo, ait Gregorius ... 25
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Erkenntnislehre, nicht seine politische Theorie. Besonders bemerkenswert sind jedoch die Abweichungen: Althusius relativiert die aristotelische Lehre von der demokratischen Ämterbesetzung durch Los und akzentuiert das nach Aristoteles (Politik I V 9) aristokratische Element der Wahl. So zieht er das Losverfahren nur für nachgeordnete Amtsträger i n Betracht: sie seien teils durch Wahl, teils — soweit nicht besondere Erfahrungen vonnöten — durch das Los zu bestimmen. Denn das Los entspreche zwar der demokratischen Gleichheit, die Wahl dagegen fördere den wünschenswerten Aufstieg der Tüchtigsten ( X X X I X 63, 74)2e. I m übrigen entscheidet und wählt das Volk in der Demokratie allemal nach dem Prinzip der Mehrheit — freilich nicht als ungegliederte Masse, sondern centuriatim, tributim, sive curiatim ( X X X I X 57). Anders als in solchen Ordnungen kann sich Althusius, dieser ständisch„pluralistische" Theoretiker des spätmittelalterlichen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, i m prinzipiellen Unterschied etwa zu Hobbes und Rousseau, das Volk gar nicht vorstellen. Den Häuptern dieser Untergliederungen — gleich welcher A r t und welchen Standes (Althusius nennt auch in diesem Zusammenhang u. a. ausdrücklich Comités, Duces und Principes) — fallen in der Demokratie dann auch die Kontrollkompetenzen der Ephoren zu ( X X X I X 58). I m Gegensatz zu Aristoteles (Politik I I I 7) unterscheidet Althusius schließlich zwischen Staats- oder Herrschaftsform einerseits und Regierungsform andererseits, wenn er meint, die Zahl der Regierenden solle in jedem Fall gering, die ratio gubernandi also auch in der Demokratie aristokratisch sein ( X X X I X 74) — womit er indes nicht einer gemischten Verfassung das Wort redet, sondern Demokratie und Amtsgedanken miteinander verbindet 27 . Entdeckt hat diesen Unterschied freilich nicht Althusius, sondern Bodin; Rousseau w i r d ihn aufnehmen. II. 1. Die Theorie der doppelten Repräsentation
A l l das ist hier nicht weiter auszuführen. Für unsere Zwecke genügt diese Skizze, um feststellen zu können, daß die althusische Lehre von der Demokratie sich bis zu einem gewissen Grade in der Tat auf das Prinzip der Repräsentation bringen läßt. Zwar ist hier nicht von parla28 Ebenso dann Rousseau, Contrat social I V 3, der sich für den demokratischen Charakter des Losverfahrens auf Montesquieu (Esprit des Lois I I 2) beruft, welcher seinerseits die aristotelische Politik (IV 9) zitiert. 27 Vgl. dazu Wilhelm Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, Festg. f. Smend, Tübingen 1962, S. 51—70. Z u m folg. vgl. Bodin, Six livres de la République I I 2, und Rousseau, Contrat social I I I 1—7.
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mentarischer Repräsentation die Rede. Aber daß die Regierenden, welche ein auf Zeit erteiltes Mandat der Volksversammlungen wahrnehmen und es, von deren Zustimmung getragen, nach deren Beschlüssen ausüben, daß solche Regenten das Volk repräsentieren, wie Althusius ausdrücklich sagt 28 , leuchtet unmittelbar ein, und zwar in einem politischen Sinne. Denn hier ist offenbar mehr gemeint als nur der Umstand, daß die volksgewählten Repräsentanten i m Rahmen ihrer Zuständigkeiten für die Dauer ihrer Amtszeit rechtlich gesehen mit Wirkung für und gegen das Gemeinwesen und seine Mitglieder entscheiden. Andererseits bleibt die Rechtsstellung derjenigen, welche die Funktion von Ephoren erfüllen, ungeklärt. Ein wenig verwickelter ist die Frage, ob, inwieweit und in welchem Sinne auch die anderen, viel umfangreicheren und der politisch-staatsrechtlichen Realität seiner Zeit ganz ungleich näheren Partien der Politik des Althusius auf den Begriff der Repräsentation gebracht werden können. Damit kehren w i r zu der Lehre von den Korporationen, also zur Theorie von Gemeinde, Provinz und Reich zurück. Hier nun ist die Repräsentation, von der auch in diesem Zusammenhang durchgehend die Rede ist, stets eine doppelte. Denn es w i r d jeweils sowohl von den monokratischen Administratoren, also von den Bürgermeistern, Landesfürsten und Königen wie von den Senats-, Landstände- und EphorenKollegien gesagt, daß sie den populus oder die universitas repräsentieren. Dieser Dualismus entspricht einerseits dem Caput-corpus-Schema der mittelalterlichen Korporationslehre wie zum anderen der realen ständestaatlichen Antithese von Landesherren und Landständen 29 . Nach dem erwähnten traditionellen Schema, das in antiken Vorstellungen der Verbandseinheit, in der Idee des corpus Christi mysticum samt der mittelalterlichen Ekklesiologie seinen Hintergrund und im Dualismus von Konsuln und Senat wie der dem entsprechenden römischen Munizipalverfassung 30 seine rechtliche Folie hat, stellt sich die Einheit einer Korporation stets auf zweifache Weise her und dar: nämlich mittels eines leitenden Hauptes und einer Versammlung aller oder der wichtigsten Glieder. Beide stellen die Einheit der Korporation dar, repräsentieren sie, wie man sagt — aber auf sehr unterschiedliche Weise.
28 X X X I X 58: Populus vero universus totius regni, seu consociationis universalis corpus, summus magistratus, cujus arbitrio jura majestatis administrantur a doubus vel pluribus populum repraesentantibus, & omnia consensu & jussu populi agentibus. 29 Dazu i m einzelnen Hofmann (FN 11), bes. S. 121 ff., 281 ff. 30 Vgl. Hans Rudolph, Stadt und Staat i m römischen Italien — Untersuchungen über die Entwicklung des Munizipalwesens i n der republikanischen Zeit, Nachdr. Göttingen 1965; G.H. Stevenson, Roman Provincial A d ministration t i l l the Age of the Antonines, 2. ed., Oxford 1949, S. 171 f.
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Der Vorsteher, das Haupt, der Rektor repräsentiert den Verband nach dem Verständnis der mittelalterlichen Korporationslehre in der Weise, daß er die Person der Körperschaft vertritt 3 1 . Dahinter steht die Formel personam alicuius repraesentare als Bezeichnung der unmittelbaren Stellvertretung, die dem römischen Recht trotz der Regelung einzelner Vertretungsverhältnisse als allgemeine Rechtsfigur begrifflich fremd war. Diese Wendung hat eigentlich theatralisch-zeremonialen Charakter und findet sich zuerst i n liturgischen, kirchlichen und dann vor allem in prozeßrechtlichen Zusammenhängen. I n diesem Horizont sucht die Formel personam alicuius repraesentare schon bei Bartolus und dann insbesondere bei Baldus die Rechtswirkungen der unmittelbaren Stellvertretung, d. h. den Umstand einsichtig zu machen, daß die rechtlichen Wirkungen dessen, was der Darsteller gegenüber Dritten tut und mit ihnen verhandelt, unmittelbar aus der Person des Dargestellten hervorgehen und auch auf sie zurückfallen. Die mittelalterliche Stellvertretungsformel setzt also zwei verschiedene, aber in gewisser Beziehung doch in eins zu setzende Rechtssubjekte voraus und denkt an deren Gegenüber, die Außenwelt, das Publikum. Über die A r t der internen Rechtsbeziehungen zwischen Vertreter und Vertretenem sagt sie dagegen nichts. So kann die Vertretungsrepräsentation in Auftrag und Vollmacht einen rechtsgeschäftlichen Grund haben, aber auch kraft Amtes bestehen. Auf die Korporationen bezogen heißt das: So wie der rechtsgeschäftlich beauftragte Stellvertreter die Person des Vertretenen quasi abbildlich vergegenwärtigt, so stellt der Vorsteher die als Person gedachte Korporation 3 2 im Wege einer doppelten Analogie nach außen dar. Intern w i r d das Rechtsverhältnis zwischen Haupt und Verband vorzugsweise als eine A r t Amtsvormundschaft für die als bloß gedachte Person willensunfähige universitas begriffen. Auf ganz andere Weise repräsentieren nach mittelalterlichem Verständnis die Mitglieder ihre Korporation, sobald sie sich nach derem Recht ordnungsgemäß allesamt oder — wie die Quellen gerne sagen — auszugsweise versammeln 33 . Daß man zwischen einem Generalkonzil und einer nach unserem heutigen Verständnis „bloß" repräsentativen Versammlung ehedem keinen prinzipiellen Unterschied machte, erklärt sich daraus, daß die juristische Person ganz richtig als vom Wechsel ihrer Mitglieder unabhängig gedacht, deshalb als gewissermaßen unsterblich bezeichnet und ihr persönliches Substrat folglich stets unter dem Aspekt ihrer Gesamtlebensdauer gesehen wurde. Unter diesem Gesichtspunkt aber ist auch die umfassendste und vollständigste Gene31 32 38
Vgl. hierzu und zum folg. die Nachw. bei Hofmann (FN 11), S. 148 ff. Vgl. vorne bei F N 9. Vgl. zu diesem Abschnitt Hofmann (FN 11), S. 191 ff., 248 ff.
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ralversammlung mit Rücksicht auf die früheren und die kommenden, also die toten und noch ungeborenen Mitglieder allemal nur ein „Auszug", ist auch das Generalkonzil nur „repräsentativ". Allerdings repräsentiert die mehr oder minder große Mitgliederversammlung die Korporation nicht i n der Weise, daß sie die unter dem Bild der Person gedachte korporative Einheit wie in einem Rollenspiel nach außen als eine juristische Zurechnungseinheit vorstellt oder daß sie die vielgliedrige Realität der Korporation bloß abbildlich darstellt, sondern so, daß sie die Korporation i m Sinne eines Extraktes wirklich gegenwärtig macht, daß sie in diesem historischen Moment den Verband realiter formt, tatsächlich die Korporation „bildet", wie w i r mit derselben Ambivalenz sagen. Von einer solchen Versammlung heißt es in den Quellen daher nicht: personam universitatis repraesentat, sondern unmittelbar und direkt: universitatem oder populum repraesentat. A l l das hat mit seinen Implikationen und möglichen Folgerungen nicht nur die Zivilisten und Publizisten, sondern seit dem Schisma von 1378 in der konziliaristischen Reformdiskussion womöglich mehr noch die Kanonisten beschäftigt 54 . So war es denn auch ein Mann der Kirche, der den skizzierten Gegensatz begrifflich erfaßte. Als der Kardinal Johannes von Segovia auf dem Mainzer Kongreß von 1441 zur Behebung des Schismas von 1439 für das Basler Reformkonzil — gegen Nikolaus von Cues übrigens — von der Autorität der allgemeinen Konzilien sprach, da unterschied er vorab unter anderem von der repraesentatio potestatis, w i l l sagen: der prokuratorischen, fürsorgenden Vergegenwärtigung der Rechtsmacht des Geschäftsherrn 85 , die Vergegenwärtigung der Identität, die repraesentatio identitatis in den Versammlungen mitgliedschaftlich organisierter Verbände 38 . Der Sinn der letztgenannten Formel ist klar: sie reklamiert die höchste und umfassendste Rechtsmacht einer Korporation intern für deren kollegiale Vertretung. Das allgemeine Konzil, lehrt Johannes von Segovia, repräsentiere die Kirche 34 Vgl. Brian Tierney, Foundations of the conciliar Theory — The Contribution of the Medieval Canonists from Gratian to the Great Schism, Cambridge 1955. 35 Diese Formel meint also die vorher besprochene Repräsentation der Person eines anderen i. S. der Repräsentation von dessen Rechtssubjektivität, dessen dignitas oder eben dessen potestas. Vgl. dazu auch unten bei F N 68. 36 Deutsche Reichstagsakten, Bd. 15, hrsg. durch die Hist. Komm, bei der Bayer. Akademie der Wiss., Göttingen 1957, S. 648 ff. (681). Uber diese M a i n zer Konfrontation des Joh. v. Segovia m i t dem Cusaner Werner Krämer, Die ekklesiologischen Auseinandersetzungen u m die wahre Repräsentation auf dem Basler Konzil, in: Der Begriff der repraesentatio i m Mittelalter, hrsg. v. A l b e r t Zimmermann, B e r l i n / N e w Y o r k 1971, S. 202 ff. (233 ff.). — Freilich handelt es sich hierbei nur u m einen F a l l „konkreter", nicht umkehrbarer Identifikation; vgl. dazu Karl Larenz, Hegels Dialektik des Willens und das Problem der juristischen Persönlichkeit, Logos 20 (1931), S. 196 ff. (236).
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i n der Weise der Identität, weil sie eins sei mit ihr, ihren Begriff bewahre und deren Vollmacht habe 37 . Was derlei Vorstellungen für den Konfliktsfall im Klartext bedeuten, das hatte schon vor dem Superioritätsdekret des Konstanzer Reformkonzils Dietrich von Niem i n den Satz gefaßt, daß das Konzil — concilium seu ecclesia, wie bereits auf dem Konzil von Pisa (1409) gesagt war 3 8 — Gewalt über den Papst habe 39 . Und Johannes Gerson hat es in Konstanz dann kurz und bündig so formuliert: in concilio papalis potestas includitur 40. 2. Die Anwendung der Lehre von der doppelten Repräsentation auf den ständestaatlichen Dualismus
Der Herborner Rechtsprofessor Althusius kannte die Korporationenlehre jedenfalls so weit, daß er schon in der ursprünglichen Fassung des Kapitels über die Ephoren 41 präzise zwischen der quasi vormundschaftlichen Vertretung der Korporation durch die Regenten einerseits und die Repräsentation des Volkes durch die Ephoren andererseits unterscheidet. Gerent personam totius populi, heißt es ganz korrekt im Sinne der juristischen Uberlieferung von den Vorstehern, während die Ephoren Ab-Bildner der umfassenden staatlichen Konsoziation (repraesentantes universalem consociationem) bzw. Ab-Bildner des ganzen Volkes der vereinigten Gruppen (populum totum corporum consociatorum repraesentantes) genannt werden. I n Kap. V über die Körperschaft im allgemeinen und die Gemeinden i m besonderen fehlt indes, wie erwähnt, ursprünglich der Begriff der persona repraesentata; es ist dort nur sehr allgemein von der collectio in unum corpus die Rede 42 . Auch w i r d zunächst noch nicht zwischen Beraterstab des Bürgermeisters und Vertreterversammlung unterschieden und dem Gemeindesenat infolgedessen noch keine Repräsentationsfunktion zugesprochen 43. 37 Johannes von Segovia , Liber de magna auctoritate episcoporum in concilio generali I c. 10: Generalis synodus repraesentat ecclesiam catholicam per modum identitatis, quia est idem cum ea retinetque nomen ipsus eiusdemque est potestatis (zit. nach Krämer [FN 36], S. 235 F N 104). 38 Philippus Labbeus et Gabriel Cossartius, Sacrosancta Consilia, Tom. X I / Pars I I , Paris 1671, coli. 2143 E, 2144 A, 2150 E. 3B Dietrich von Niem, Dialog über Union und Reform der Kirche etc., hrsg. v. Hermann Heimpel, Leipzig u. B e r l i n 1933, S. 39 f. 40 Johannes Gerson, Sermo super processionibus etc., p. I I I dir. 2, in: M e l chior Goldast: Monarchia S. Romani Imperii, Bd. I I , Nachdr. Graz 1960, S. 1410. 41 I n der 1. Aufl. von 1603 ist es das Kap. X I V ; die nachfolgend herangezogenen Stellen finden sich dort S. 133, 139 und 168. 42 Ebd., S. 36. 43 Ebd., S. 44 heißt es n u r : Praefectus seu superior civitatis est, procurator & Magister civium, qui dicitur Consul: ejus consiliarii adjuncti, adsessores & senatores pro salute civitatis consilia dantes.
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Gerade i n diesem 5. Kapitel zeitigt das genauere Studium des Korporationsrechts nach der schon erwähnten Kompilation des Losaeus dann wesentliche Änderungen und Erweiterungen. So führt Althusius i m Anschluß an Losaeus 44 nun den Begriff der juristischen Person ein und legt die Identität der Körperschaft i m Wechsel der Mitglieder sowie ihre i m Unterschied zu den Vorständen daraus folgende „Unsterblichkeit" dar 45 . Von dem Gemeindesenat heißt es jetzt: repraesentat totum populum & totam civitatem (V 55), während die Repräsentation der Bürgerschaft durch die Bürgermeister im Wege des Vergleichs mit einem beliebigen Korporationsverwalter als eine A r t vormundschaftlicher Stellvertretung gekennzeichnet wird 4 6 . Getreulich seinem Gewährsmann Losaeus folgend, macht Althusius bei der These von der repräsentativen Stellung des Gemeindesenats freilich auch die — nur vom Gedanken der Identitätsrepräsentation her verständliche — Einschränkung, daß der Gemeindesenat die Ganzheit der Bürger repräsentiere, obwohl er nicht dieselbe Rechtsmacht habe wie die Körperschaft selbst, wenn nicht von Rechts wegen etwas anderes festgelegt sei (V 56). Bei Losaeus trägt dieser Vorbehalt widersprüchlichen Aussagen des Bartolus Rechnung, um dann aber gleich dahin relativiert zu werden, daß der Senat nach Verfassung oder Gewohnheit stets jedenfalls i m Vergleich zu allen anderen Ämtern die höchste Rechtsmacht und Autorität besitze, daß — modern gesprochen — bei ihm die »Legalitätsreserve' liege. Und nur darauf kommt es hier an. So hat diese theoretische Rücksicht auf eine alte legistische Zweifelsfrage keinerlei weitere Konsequenz — bei Losaeus nicht und bei Althusius erst recht nicht: weder bei den Vertretern der Landstände noch bei den Ephoren kommt A l t h u sius darauf zurück. Ohne jede Einschränkung werden die Deputierten der Stände ordinem suum repraesentantes genannt ( V I I I 66) und ihrer Versammlung die Repräsentation der Provinz zugesprochen: repraesentant totam provinciam ( V I I I 5). Bei der Behandlung der Ephoren wiederholt Althusius die beiden aus der 1. Auflage bekannten Charakterisierungen ihrer repräsentativen Funktion 4 7 . Dieser stellt Althusius nun terminologisch akzentuiert die (bloße) Vertretungsrepräsentation der Reichsregenten gegenüber: Gerunt vero & repraesentant hi summi Magistratus personam (sic) totius regni . . . ( X I X 98; vgl. X V I I I 12).
44 Die hauptsächlichen Bezugsstellen i n dem Tractatus de jure universitatum sind Pars I cap. 1 Nrn. 5 ff., 25, 29 ff. (S. 6 ff., 10 ff.) und Pars I cap. 3 Nrn. 10 ff. u. 47 ff. (S. 52 ff. u. 59 ff.). 45 Vgl. Politica V 9, 25, 27. 48 Politica V: . . . repraesentant ipsam civitatem, non aliter, quam syndicus universitatem. 47 Vgl. oben nach F N 41 und dazu in der 3. Aufl. der Politica X V I I I 47 u. X I X 18.
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Auf diese Weise erfaßt Althusius den ständestaatlichen Dualismus nach dem korporationsrechtlichen Schema der doppelten Repräsentation. Wenn Althusius von den Ephoren sagt, daß sie als Einheit (universi) dem höchsten Magistrat — und d. h. konkret v. a.: die Kurfürsten dem Kaiser — übergeordnet sind, sofern sie durch ihr gemeinschaftliches Handeln i m Namen des Volkes dieses repräsentieren 48 , so zieht er also nur die Konsequenz aus dem, was unzählige Legisten und Kanonisten vor i h m geschrieben haben, und bekräftigt eine Auffassung, für die der kanonistisch geschulte Würzburger Domherr und nachmalige Bamberger Bischof Lupoid von Bebenburg i n seinem ersten Versuch eines systematischen deutschen Staatsrechts von 1340 einst den Grund gelegt hatte 49 . Daß Althusius sich gerade an dieser Stelle wieder auf den spanischen Juristen Fernandus Vasquez (1509—1566) beruft, macht ihn sicher nicht zum „Fortsetzer der Schule von Salamanca" 50 . Gleich anschließend gibt er ja selbst zu erkennen, welche breite korporationsrechtliche Tradition seine Auffassung in Wahrheit trägt: Sic & synodus, concilium, capitulum, universitas, superior est episcopo, pontifice, actore vel syndico suo ( X V I I I 74). Und zugleich damit macht er einmal mehr schlagwortartig deutlich, worin der politische Sinn dieser Konstruktion liegt. 3. Korporationsrechtliche Repräsentation und politisches Repräsentativsystem
Den Kern unseres Problems erreichen w i r nun mit der Frage, ob und inwieweit die althusische Politik diese beiden Formen der Repräsentation in korporationsinterner Sicht als Mandatsverhältnisse rationalisiert. Um wieder mit den Gemeinden zu beginnen: „Der Senat", lehrt Althusius (V 54), „ist ein Kollegium kluger, ganz unbescholtener ausgewählter Männer. Ihm ist die Fürsorge und Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten anvertraut (commendata)". Auf die Frage, von wem und wie die Senatoren ihr Mandat erhalten, äußert sich der Text mit einer der historischen Vielfalt angemessenen Unbestimmtheit: Die Senatoren werden, so heißt es (V 60), mit oder ohne M i t w i r k u n g des Landesherren von einem besonderen Kollegium oder von bestimmten 48 Politica X V I I I 73: Deinde hi ephori universi quidem magistratu summo sunt superiores, quatenus reprae sentantes populum ejus nomine colle gialiter quid agunt: singuli vero separatim isto magistratu sunt inferiores ... Vgl. auch schon X V I I I 62. 49 De iuribus regni et imperii Romanorum. Zit. nach einem Heidelberger Druck von 1664. Dazu i m einzelnen Hof mann (FN 11), S. 228 ff. 50 Vgl. aber Reibstein (FN 2).
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Wahlmännern gewählt. Diese Wahlmänner können von den einzelnen Kollegien der Bürgerschaft, insbesondere von den Zünften zu diesem Zweck abgeordnet, aber auch von der universitas selbst in einer nicht weiter erläuterten Weise eingesetzt sein. Das daneben erwähnte Wahlkollegium w i r d einmal als Kollegium des Senats, dann als solches der universitas bezeichnet. Sicher ist eigentlich nur, wie das Mandat nicht zustandekommt, nämlich nicht durch eine direkte Wahl aller Bürger nach dem Grundsatz der Gleichheit. Der oder die Bürgermeister werden kraft der allgemeinen Übereinstimmung der Bürger in ihr A m t eingesetzt, ex consensu (communi) civium constituti (V 22, 25) — was ebenfalls keine allgemeine, gleiche und direkte Wahl bedeutet und i m übrigen nur für die freien Städte gilt: alle anderen Gemeinden haben den Landesherrn oder dessen Statthalter zum Vorsteher (VI 48, 52). Die Landesherren der Provinzen ihrerseits leiten ihre Amtsgewalt i n jedem Fall von der umfassenderen Korporation, also vom Reich ab: administratio provinciae ... a regno ... demandata est ( V I I I 50), während die Deputierten eines jeden Standes ein Kollegium bilden, das von diesem Stand Mandat und Instruktion empfängt ( V I I I 49) — wobei freilich offen bleibt, wer für den jeweils repräsentierten Stand den Auftrag erteilt und die Instruktion formuliert. Etwas mehr Worte macht unser Text über das Anvertrauen der öffentlichen Gewalt nur für die Reichsebene. Auch bei der Bestellung der Ephoren ist zunächst zwar allgemein nur von der Amtsübertragung durch den Konsens des Volkes die Rede ( X V I I I 49). Aber dann folgt doch eine ganze Reihe von Abschnitten, welche die „Wahl" der Ephoren zum Gegenstand haben (ebd. §§ 56—61). Der Kernsatz lautet: Gewählt und eingesetzt werden die Ephoren mit Zustimmung des ganzen Volkes, wobei je nach Recht oder Gewohnheit nach Verbänden oder Mann für Mann gestimmt w i r d oder auch das Los entscheidet ( X V I I I 59). Nur: Hat man bereits Stände, welche das Volk zu repräsentieren und dessen Konsens zu verkörpern erfolgreich beanspruchen, dann braucht man offenbar keine derartigen Wahlprozeduren. A n die Stelle der Wahl t r i t t rings um jenen herausgehobenen Kernsatz kleingedruckt in Anmerkungen und Zusätzen die altbekannte Interpretation der Geschichte: Wegen der großen Schwierigkeit, Entscheidungen durch Stimmabgabe der einzelnen Bürger zu treffen, hat das einfache Volk (in diesem Fall durch jene Schwierigkeit merkwürdigerweise nicht gehindert), sich aller seiner Rechte begeben: hisce Ephoris populus se tuto credidit, suasque actiones omnes in eos transtulit . . . ( X V I I I 56). Zum Beweis dieses der berühmten Ulpian-Stelle Dig. 1, 4, 1 pr. 5 1 nachgebildeten 51 Quod principi placuit , legis habet vigorem; utpote cum lege regia , quae de imperio eius lata est, populus ei et in eum omne suum imperium et potestatem conférât. 34 R E C H T S T H E O R I E ,
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Arguments, zitiert Althusius 5 2 ausführlich wiederum einen der großen spanischen Juristen der Schule von Salamanca, nämlich Diego Covarruvias (1512—1577), weil er den traditionellen Gedanken der Rechtsübertragung statt auf König und Kaiser auf die Optimaten i m allgemeinen und — Lupoid von Bebenburg zitierend 53 — namentlich auf das Kurfürstenkollegium bezieht 54 . Repräsentation legitimiert sich insoweit also nicht durch die kausale Rationalität der Wahl, sondern nur durch die final rationale Verantwortung für eine Aufgabe. Seinen Optimaten also hat sich das Volk nach diesem alten Topos gänzlich anvertraut 5 5 . Repräsentation des Volkes ist so das älteste, allem anderen vorgehende Rechte der Stände 56 und ihr ursprüngliches Amt. Für die Legitimität einer jeden Regentschaft genügt es folglich, daß der Konsens des Verbandes durch das Kollegium der Optimaten bezeugt ist. Dieses Herrschaftsmandat der Stände resultiert m. a. W. eher aus der lehnsrechtlichen commendatio personae als aus einer commendatio causae. Ständische Identitätsrepräsentation ist absorptive Repräsentation 57 . Gleichfalls ganz der Tradition, nämlich der praktischen wie theoretischen Tradition des Herrschaftsvertrages, ist die Politik des Althusius auch in der Frage der Bestellung der Regenten des Reichs verpflichtet 58 . Der sichere Boden des Reichsrechts erlaubt nun vergleichsweise höchst präzise Aussagen: Die jura universalis consociationis werden den Regenten von den Ephoren anvertraut, freilich nur zur Ausübung, nicht der Substanz nach, nur ratione usus et administrationis, nicht etwa ratione proprietatis et dominii ( X I X 2, auch 4): Transfertur vero in 52
Politica X V I I I 56—58. Vgl. F N 49. 54 Diego Covarruvias: Practicarum Quaestionum liber unus, cap. I (Quarta conclusio), in: Operum tomus secundus, F r a n k f u r t / M . 1608, S. 348 (Genf 1723, S. 495). 55 Vgl. auch Politica X V I I I 59, wonach bisweilen auch die Regenten oder die Optimaten das Recht haben, Ephoren zu bestimmen, freilich nur ex populi concessione & beneficio. 58 Politica X V I I I 75: Hisce ephoris prius, quam magistratui, Reip. summa a populo commissa potestas. Quod igitur in tales ephoros prius est collatum, hoc postea alii magistratui dari non potuit. 57 Eine Theorie der von Gierke (Althusius [FN 1], S. 214 f.) so genannten „absorptiven Repräsentation" hat freilich erst Hobbes ausgearbeitet, und zwar für die Rechtsstellung des Monarchen: Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Nachdr. des 5. Neudr. der 3. Aufl., Darmstadt 1960, S. 673. 58 Vgl. Werner Näf, Herrschaftsverträge und Lehre vom Herrschaftsvertrag, i n : Schweizer Beiträge zur Allg. Geschichte 7 (1949), S. 26 ff.; Fritz Härtung, Herrschaftsverträge und ständischer Dualismus in deutschen Territorien, i n : Schweizer Beiträge usw. 10 (1952), S. 163 ff.; John Wiedhoff Gough, The Social Contract, 2. Aufl., Oxford 1963; Alfred Voigt (Hrsg.), Der H e r r schaftsvertrag, Neuwied a. Rh. 1965. 53
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hosce administrator es & rectores a membris universalis consociationis sola potestas , secundum justas leges administrandi & regendi corpus & jura universalis hujus consociationis ; proprietatem vero horum jurium & superioritatem tales gubernatores minime habent, sed penes corpus politicae hujus consociationis illa manent ( X V I I I 28 u. 29). Die Regierung handelt sonach aus fremdem, ihr förmlich anvertrautem und damit zugleich begrenztem Recht, soweit eben ausdrücklich zugestanden: quantum ... est expresse concessum ( X I X 7). „Eines ist daher das Recht des Königs, ein anderes das des Volkes: Jenes ist zeitlich und an die Person gebunden (personale), dieses bleibt beständig . . . ; jenes ist ein widerruflich aufgrund eines Mandatsvertrages gewährter und übernommener Besitz (precarium), dieses ist unveräußerliches Eigentum (jus proprium et incommunicabile) tt5 0. Träger der Majestätsrechte des Reichs bleibt mithin die Einheit der staatlichen Konsoziation ( X V I I I 29), der populus, der corpus, die consociatio universalis — und das sind eben die Glieder des Reichs, wie Althusius, den Kern der Konstruktion erhellend, hinzusetzt: also die Reichsstände ( X I X 2). Ihnen, die die Identität des Volkes absorptiv repräsentieren, sollen diese Rechte ja von alters her und i n einer nicht mehr widerrufbaren Weise zugestanden worden sein. Die Übertragung der Ausübungsbefugnisse geschieht durch ein Ubereinkommen — contractu mandati ( X V I I I 104), pacto & contractu ( X I X 18)60 —, ein Übereinkommen zwischen Höchstem Magistrat und Ephoren, also zwischen Fürst und den Ständen des Volkes, das als synallagmatischer, wechselseitig verpflichtender schuldrechtlicher Vertrag bestimmt wird: In contractu autem hoc reciproco inter magistratum summum mandatarium, seu promittentem, & consociationem universalem mandantem, praecedit obligatio magistratus, . . . qua se corpori universalis consociationis obstringit, ad regni seu Reip. administrationem, secundum leges a Deo, recta ratione atque a corpore Reip. praescriptas . .. Sequitur vero obligatio membrorum regni, seu populi, ... quo se populus summo magistratui, secundum praescriptas leges Rempubl. administranti, vicissim obstringit ad obedientiam & obsequia ... ( X I X 7). Daß dieser Pakt feierlich im Namen Gottes zu beschwören ist, versteht sich von selbst 61 . Davon abgesehen w i r d dieser Herrschaf tsvertrag i n der althusischen Theorie der Politik noch überhöht durch ein pactum religiosum, durch einen Bundesschluß (foedus) mit Gott. Der Grund 59 So Politica X V I I I 104. Z u r späteren Entfaltung der danach gegen Bodin möglichen Unterscheidung zwischen persönlicher und realer Majestät = Souveränität vgl. Rudolf Hoke: Die Reichsstaatslehre des Johannes L i m naeus, Aalen 1968. 80 Diese Formeln variieren; auch pactum seu contractum mandati k o m m t vor ( X I X 6), ferner foedus ( X I X 29). 81 Vgl. Politica X I X 6, 25, 25: X X 2, 5. 34*
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dafür liegt darin, daß der höchste Magistrat i m Reich nicht nur weltliche, sondern mit Aufsicht, Verteidigung, Sorge und Leitung auch kirchliche Aufgaben und Befugnisse hat ( X X V I I I 5). Namentlich die geistliche Hauptaufgabe, nämlich Lehre und Ausübung der wahren Religion einzuführen und zu bewahren, hat der Fürst zusammen mit den Gliedern des Reichs Gott einträchtig und feierlich zu versprechen, wofür Gott unter Strafdrohung für die Vertragsbrüchigen den Getreuen Segen und Schutz verheißt. Dieser religiöse Pakt w i r d im Kapitel über das Kirchenregiment, die Administratio ecclesiastica ( X X V I I I ) sehr eingehend besprochen (§§ 15—24). Er unterscheidet sich von dem vorher behandelten Herrschaf tsvertrag fundamental dadurch, daß es ein Bund zwischen Obrigkeiten und Volk auf der einen und Gott auf der anderen Seite ist 82 . Natürlich weist das auf die eigentümliche Kombination von Bundestheologie und Herrschaftsvertragslehre in den berühmten hugenottisch-monarchomachischen „Vindiciae contra tyrannos" von 1579 zurück, die Althusius selbstredend ebenso kennt und zitiert wie etwa auch die Schriften Hotmans 83 . Hier hat es seinen Grund, daß man die althusische Theorie des Herrschaftsvertrages samt ihrer Grundlage, nämlich der sog. Volkssouveränitätsdoktrin, ganz im Lichte der reformierten Föderaltheologie 84 glaubte sehen zu müssen: erst und allein dieser Bund mache das Volk souverän, weil es demzufolge den souveränen Willen Gottes ausführe 85 . Dabei liegen die Unterschiede auf der Hand: Anders als in den „Vindiciae" geht der religiöse Bund nach Althusius dem auf jus gentium, Korporations- und Reichsrecht ge62 I n der 1. Aufl. (Kap. 23, S. 302) erscheint bei diesem Bundesschluß sogar ein Stellvertreter Gottes: Pactum inter Deum populum & magistratum ineundum est, quo interroganti sacerdoti, seu ministro verbi, Deum repraesentanti, magistratus & regni membra, seu universus populus exercitium veri cultus divini, fidem, & obsequium Deo, tanquam Domino suo, quo regnum acceperunt, promittunt. 83 Stephanus Junius Brutus ( = Duplessis-Mornay und/oder Hubert L a n guet), Vindiciae contra tyrannos, sive, de principis i n populum, populique in principem, légitima potestate, hier zit. nach einem Frankfurter Druck von 1608. Dt. Ubers, bei Jürgen Dennert (Hrsg.), Beza, Brutus, Hotmann, K ö l n u. Opladen 1968. Dazu Albert Elkan, Die Publizistik der Bartholomäusnacht und Mornays ,Vindiciae contra tyrannos', Heidelberg 1905; Gerhard Oestreich, Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staatsvertrag (1958), in: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969, S. 157 ff. (168 ff.); Winters (FN 2), S. 90 ff.; Hof mann (FN 11), S. 351 ff.; Hartmut Kretzer, Calvinismus u n d französische Monarchie i m 17. Jahrhundert, Berlin 1975, S. 22 ff. 84 Dazu J. F. Gerhard Goeters, A r t . Föderaltheologie, in: Theologische Realenzyklopädie, hrsg. v. Gerhard Krause u. Gerhard Müller, Bd. X I , B e r l i n / New Y o r k 1983, S. 246 ff.; Menk (FN 6), S. 231 ff. 85 So Winters (FN 2), S. 256 ff. Auch Winters' Hinweis auf Politica X V I I I 37 und X I X 69 (S. 257 f.) trägt diese Interpretation m. E. nicht: Daß Gott über dem K ö n i g steht, muß nicht erst durch eine besondere Bundestheologie begründet werden. U n d daß die Herrscher mittelbar von Gott und unmittelbar durch das V o l k bzw. seine Repräsentanten eingesetzt werden, ist ein alter Topos der Reichspublizistik aus dem Streit zwischen Kaiser und Papsttum.
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stützten weltlichen Herrschaftsvertrag keineswegs vor, er fundamentiert ihn nicht, weil er i n dieser Form nicht die Rechtseinheit des Reichsvolks konstituiert, und er w i r d auch nur auf einen Teil der Herrschaftsaufgaben bezogen. III. I. Gegenläufige Momente
Blickt man nun von hier aus zurück, so scheinen erhebliche Zweifel angebracht, ob das alles als „allseitige Durchführung des Repräsentationsprinzips" aufgefaßt werden kann, sofern darunter auch nur ein System aufsteigender korporativer Ermächtigungen oder Delegationen zu verstehen ist. Drei Momente konterkarieren das naturrechtlichkorporationsrechtliche Modell eines Stufenbaus von Konsoziationen. Von einem dieser Momente war schon die Rede: Die beständig i n bezug genommene Wirklichkeit des Reichsrechts, d. h. die vorhandene verfassungsrechtliche Struktur mit ihrem ständestaatlichen Dualismus, fügt sich nicht bruchlos in das realanalytische System immer umfassenderer Föderationen. Die Eigengesetzlichkeit der so reichlich herangezogenen exempla profana, und d. h. eben vor allem: die Eigenart der capita majestatis, der vom Hoheitsrecht geprägte Charakter der staatsrechtlichen Beispiele macht sich quer zur sozialwissenschaftlichen Theorie des genossenschaftlichen Stufenbaus geltend. Auch kann — zweitens — den mit dem Terminus Repräsentation beschworenen heterogenen Vorstellungen offenbar nicht glaubhaft ein einheitliches Prinzip begrenzter Ermächtigung unterlegt werden. Insbesondere läßt sich die repräsentative Stellung des Adels kraft personaler Kommendationen nicht einfach auf eine commendatio causae, ein pactum mandati reduzieren. I m Grunde macht es ja schon die die Politik einleitende schematische Übersicht Β zu Verfassung und Verwaltung der Reiche klar: Unterteilt sie die Probleme bezüglich der höchsten Magistrate nach deren Art, nach Bedürfnissen und Gegenständen der Herrschaft sowie nach der Einsetzung der ja allemal sterblichen und daher ersetzungsbedürftigen Regenten, so steht für die als Korporation quasi unsterblichen Ephoren ausschließlich die Frage nach Zuständigkeiten und Arten auf dem Programm. Und insoweit paraphrasiert Althusius nur die vor-bodinsche Staatsrechtslehre. Die kanonistischen Theoretiker der Reformkonzilien wie der junge Nikolaus von Cues etwa waren da — unbelastet durch die Realität erblicher ständischer Herrschaftspositionen — mit ihrem kirchlichen Repräsentationsmodell schon zwei Jahrhunderte früher weiter gewesen·8. ββ Vgl. die ersten beiden Bücher der Concordantia catholica, hrsg. v. Gerhard Kallen, Hamburg 1964 ff. Dazu Hof mann (FN 11), S. 264 ff.
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Und ein drittes Moment kommt hinzu: Nicht alle Ermächtigungen stammen i n diesem aus naturrechtlicher Gesellschaftstheorie, Korporationslehre, Reichsrecht wie reformierter Gemeinde- und Bundestheologie gebauten System in irgendeiner Weise von unten, vom Volk. So bedarf die Bestellung der Ratsherren häufig landesherrlicher Bestätigung (V 60). Nur wenige Gemeinden können ihr Oberhaupt selbst wählen; die anderen stehen unter einer A r t landesherrlicher Vormundschaft (VI 48, 52), wie überhaupt die gemeindliche Autonomie nicht unbeschränkt ist (V 56). Die Provinzpräfekten, also die Landesfürsten, von denen unter dem Begriff des Ephorats auf Reichsebene gegenüber König und Kaiser, d. h. gegenüber der Zentralgewalt, so viel als von Repräsentanten des Volkes die Rede ist, eben diese Landesherren herrschen in ihren Provinzen nicht kraft Repräsentation ihrer Völker, sondern als Statthalter der Reichsgewalt ( V I I I 50, 56) und mit den Machtbefugnissen des Kaisers ( X V I I I 112)67. Und von den höchsten Magistraten, also den Reichsregenten, heißt es nicht nur — wie erinnerlich —, daß sie die Person des Volkes oder des Reiches in seiner Gesamtheit repräsentieren ( X V I I I 11 u. 12, X I X 98). Vielmehr setzt Althusius an einer Stelle hinzu, was die persona totius regni, also die Rechtssubjektivität des Reiches umschließt, nämlich die persona aller Untertanen und diejenige Gottes, von dem letztlich alle Herrschaftsgewalt stammt: personam omnium subditorum & Dei, a quo omnis potestas ( X I X 98). Dabei denke man daran, daß persona hier gleichbedeutend ist mit dignitas ββ. Hier zeigt sich also noch ein zweites, von der höchsten Ebene ausgehendes Schema von Ermächtigungen, Mandaten oder Delegationen. 87 Damit bezieht Althusius der Sache nach die ursprünglich v. a. i m H i n blick auf den französischen K ö n i g eher „nationalstaatliche" Parömie rex imperator in regno suo i m Einklang m i t dem reichsrechtlichen Schrifttum seiner Zeit auf die Territorialfürsten des Reichs, ohne dabei den Gedanken kaiserlicher Delegation herrschaftlicher Befugnisse aufzugeben (vgl. dazu Walter Hamel, Reich und Staat i m Mittelalter, Hamburg 1944, S. 164 f., Edmund E. Stengel, Kaisertitel und Souveränitätsidee, in: Abhandlungen und Untersuchungen zum Kaisergedanken i m Mittelalter, K ö l n / G r a z 1965, S. 239— 286 (273 f.), und Willoweit (FN 15), S. 114 f. Damit w i r d zugleich die an sich naheliegende Möglichkeit einer Parallelisierung von Reichsständen und Landständen und d . h . : ein Ephorat der Landstände gegenüber dem Landesherrn theoretisch insoweit ausgeschlossen, als es bei Althusius auf der Behauptung ständischer Superiorität u n d eines ständischen Herrschaftsmandats des F ü r sten beruht. I n p r a x i wäre eine solche These zudem nicht n u r gegen das Reichsrecht, sondern i n den meisten Territorien auch politisch irreal gewesen. Daß Althusius in Emden m i t dem Landesherrn stritt und ständischen Widerstand beförderte, steht auf einem anderen Blatt. Suchte Emden sein Recht doch auch vor kaiserlichen Instanzen — ganz nach Reichsrecht wie i m Sinne der Lehre des Althusius, wonach der höchste Magistrat auch die Untertanen der Reichsephoren vor deren W i l l k ü r zu schützen habe; dazu i m Text nach F N 74. 68 F ü r diese Entsprechung finden sich bereits i m 13. Jh. Belege; vgl. Hans Rheinfelder, Das W o r t „Persona", Halle/Saale 1928, S. 110 ff.
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Es sieht so aus, als ob die sog. Volkssouveränität als Basis von Herrschaftsmacht in einer an die Theorie der zweiseitigen Ermächtigung in der Concordantia catholica des Cusaners erinnernden Weise 89 gegenläufig ergänzt w i r d durch göttliche Amtsautorität aller Administratoren im engeren Sinne, also der Könige und Fürsten. Doch gilt natürlich auch die Gewalt des Volkes mittelbar als göttlich 70 . Die sog. Volkssouveränität ist hier ja nicht mehr als nur ein zweifelhafter Name für die Heiligkeit und Unübersteigbarkeit der allemal gestuften Ordnung von Kollegien und Korporationen, Ständen und Ämtern. 2. Das kirchenrechtliche Modell
A m ehesten bildet die Kirchenordnung der Reformierten ein w i r k liches System gestufter korporativer Ermächtigungen. Danach wählen die örtlichen Kultgemeinden nämlich Presbyter und Diakone zu Presbyterkollegien ( V I I I 8—10, 12 ff.). Wie die Gemeindesenate die Korporation, so repräsentieren diese „Kirchensenate" die Kirchengemeinde der verschiedenen Parochien ( V I I I 11). Mehrere Presbyterkollegien wiederum bilden nach den Vorbildern i n den Niederlanden und in CleveMark classes, also Klassikalkonvente genannte Bezirkssynoden, d. h. einen corpus, eine körperschaftliche Einheit mehrerer Gemeinden derselben Stadt oder Provinz ( V I I I 33). Die diesen Bezirkskonventen vorstehenden Bischöfe endlich treten zur Landes- oder Provinzsynode zusammen ( V I I I 6, 34—36). I n der 1. Auflage von 1603 hatte sich A l t h u sius noch damit begnügt, in einem einzigen Satz die verschiedenen Stufen der Kirchenversammlungen aufzuzählen und im übrigen auf den Theologen Wilhelm Zepper, seinen Herborner Kollegen, zu verweisen, der als erster das Kirchenrecht der Reformierten geordnet hatte 71 . Die referierte ausführliche Fassung läßt aber nicht nur.Zepper ganz in den Hintergrund treten und entfaltet auch nicht bloß den einen Ausgangssatz, sondern verkürzt ihn andererseits in einer charakteristisch realistischen Weise: General- oder Nationalsynoden werden nicht mehr erwähnt. Und zugleich damit nimmt Althusius die Passage aus dem reichsrechtlich orientierten Kapitel über die administratio ecclesiastica heraus und fügt sie in die Darstellung von Verfassung und 69 Vgl. Nikolaus von Cues, Concordantia catholica (FN 52) I c. 6 §§ 36 f. (S. 56 ff.) ; ders., De auctoritate presidendi (Cusanus-Texte I I 1, hrsg. v. Gerhard Kallen, Heidelberg 1935), S. 18. Dazu Hofmann (FN 11), S. 306. 70 X I X 69: U trique, rex & ephori a Deo constituuntur, & a populo. A Deo mediate, a populo immediate. Uterque a Deo & populo sua potestate & officio privatur, a Deo quidem mediate, a populo immediate ... 71 Vgl. Jan Weerda, W i l h e l m Zepper und die Anfänge reformierter K i r chenrechtswissenschaft i n Deutschland, Zeitschr. f. ev. Kirchenrecht 4 (1955), S. 265 ff.; Menk (FN 6), S. 237 ff.
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Verwaltung der Territorien des Reiches (Juris provincialis administratio) ein. Vom Kaiser verlangt er, darauf zu achten, daß die Reichsfürsten in ihren Territorien entsprechende Vertretungskörperschaften („Senate") einer jeden Kirche schaffen — ex consensu & electione cujusque ecclesiae ( X X V I I I 30). Man w i r d den quasi parlamentarischen Modellcharakter jener K i r chenverfassung nicht unterschätzen dürfen. Auch liegt die Affinität zu dem Demokratie-Kapitel auf der Hand, welches Althusius seiner Politik angehängt hat. Aber allseitig durchgeführt ist das hier buchstabierte Prinzip der Repräsentation in der Politik des Althusius nicht. Wie hätte sie sonst auch eine Theorie der Verfassungsstrukturen ihrer Zeit sein können, die sie doch sein wollte mit ihren vielen staatsrechtlichen Exempeln. Alles andere hätte vorab einen theoretischen Kahlschlag verlangt. Aber Althusius war kein Hobbes. Den durch Otto v. Gierke neu und dauerhaft begründeten nationalen wissenschaftlichen Ruhm des Althusius und sein durch Carl Joachim Friedrich befestigtes öffentliches Ansehen in Nordamerika 7 2 werden derlei Abstriche nicht mehr schmälern. Tatsächlich mindern sie das historische Verdienst des Werkes auch nicht. Denn daß der Herborner Professor und Emdener Stadtsyndikus den Grundsatz verfochten hat, wonach öffentliche Gewalt allemal anvertraute Amtsbefugnis ist — omnis potestas certis cancellis (Schranken) & legibus est limitata, nulla absoluta, infinita, effraenis (zügellos), arbitraria, exlex ( X V I I I 106) — und daß er mit diesem seinem Antiabsolutismus, seinem Kampf gegen die Herrschersouveränität Bodins 78 in die Vor- und Frühgeschichte des Rechts- und Verfassungsstaates gehört, bleibt unbestritten. Damit sind w i r bei den allgemeinen Schlußfolgerungen. IV. 1. Ständische Freiheit
Althusius baut die alte Lehre von der doppelten Repräsentation eines jeden Verbandes v. a. in dem Kapitel über die Ephoren (XVIII) für Gemeinwesen oder Reiche zu einem dualistischen System politischer Balance und Kontrolle aus: Die Stände der Geistlichkeit, des Adels und des niederen Volkes sollen sich innerhalb ihrer Schranken halten und untereinander eine Ordnung vereinbaren, kraft deren sie gegenein72 Vgl. die (Teil)Edition der 3. Aufl. der Politik durch Friedrich als Bd. 2 der Harvard Political Classics, Cambridge/Mass. 1932. 73 Dazu Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, F r a n k f u r t / M . 1970, S. 243 ff.
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ander geschützt und voneinander abhängig werden ( X V I I I 113). Der Regent des Reichs — der ja nach der klassischen korporationsrechtlichen Formel maior singulis, minus universis den einzelnen Ständen und ihren Mitgliedern übergeordnet und nur ihrer i m Reichstag in Erscheinung tretenden Gesamtheit untergeordnet ist 74 — hat die einzelnen Stände zu schützen, ihre Autorität zu wahren und ausgleichend zwischen ihnen zu wirken ( X X X V I I 63 ff.), aber auch deren Übergriffen gegen ihre Untertanen zu wehren ( X V I I I 91). Die Stände in ihrer Gesamtheit ihrerseits sind verbunden, die Zentralgewalt zu stützen und sie zugleich in ihren Schranken zu halten. So ergibt sich dann ein System wechselseitiger Kontrolle, eine mutua inter regem & status, seu ephoros, correctio, censura & observatio ( X V I I I 91). Schlußstück dieses Ausgleichs- und Kontrollsj'stems ist das Widerstandsrecht der Ephoren 75 . Damit ist also kein individuelles Verweigerungs- oder Selbsthilferecht, sondern ein kraft Identitätsrepräsentation den ständischen (im Verhältnis zum Regenten „niederen") Obrigkeiten vorbehaltenes, verfassungsrechtlich geordnetes, nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gestuftes rechtsförmliches Abmahnungsund Korrektionsverfahren gemeint 76 M i t unseren durch Konspiration und Gewalt gegen Herrschaft in egalitären Gesellschaften geprägten Vorstellungen von Arten und Formen des Widerstandes hat das alles folglich herzlich wenig zu tun. Dem Althusius hat dieses Kapitel „De tyrannide eiusque remediis" 77 — wiewohl in seinem Kontext doch eher 74
Vgl. F N 34. Vgl. Politica X X X V I I I bes. 28 ff.; dazu Winters (FN 2), S. 260 ff. 78 Z u dieser typisch ständestaatlichen Einrichtung Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, Breslau 1916 (Nachdr. Aalen 1961), S. 55 ff. 77 Hans Ulrich Scupin meint (Demokratische Elemente in Theorie und Praxis des Johannes Althusius, Festschrift für B. Landheer, The Hague 1974, S. 67 ff. [76 Anm. 37]), dieses 1610 hinzugefügte Kap. X X X V I I I sei „deutlich auf Enno I I I . gemünzt", hält die Ausführungen also w o h l für eine Frucht der Emdener Erfahrungen. Das ist zumindest mißverständlich. Denn der I n h a l t des Kap. über Tyrannei und die Gegenmittel findet sich i m wesentlichen bereits in der 1. Aufl., wenn auch nicht als eigenes Hauptstück, sondern als Bestandteil des Kapitels über die Ephoren. Ein Vergleich der 1. und der 3. Aufl. ergibt: Dort, wo in den §§ 84 u. 85 des 18. Kap. der 3. Aufl. über die Ephoren von deren Widerstandsrecht die Rede ist, schließen sich i n der 1. Aufl. (S. 146 ff.) 8 Widerstandsgründe an, während die 3. Aufl. in Kap. 38 § 29 deren 10 ankündigt und i n den §§ 30 ff. dann 12 behandelt. Neu ist dabei lediglich der Inhalt der §§ 35 u. 39—42. I n der 1. Aufl. folgt S. 152 ff. i m wesentlichen der I n h a l t der §§ 46—52 des 38. Kap. der 3. Aufl., sodann S. 155 ff. die Darstellung der zwei A r t e n von Tyrannen ( = X X X V I I I §§ 5 ff.), S. 158 ff. i m wesentlichen der I n h a l t von Kap. 38 §§ 57—76 und schließlich S. 164 ff. der Abschnitt über dauernde und zeitliche, allgemeine und spezielle Ephoren, der — m i t Ausnahme der später eingefügten Passage über die geistlichen Ephoren (§ 108) — den §§ 107 ff. des 18. Kap. der 3. Aufl. entspricht. 75
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b e w a h r e n d u n d defensiv d e n n e i n A u f r u f z u m A n g r i f f — schon f r ü h d e n R u f eines h e r v o r r a g e n d e n M o n a r c h o m a c h e n eingetragen, d. h. eines Mannes, der e i n e n ( v o r n e h m l i c h w e g e n d e r U n t e r d r ü c k u n g der w a h r e n Religion) als T y r a n n e n e r k a n n t e n M o n a r c h e n vorzugsweise d u r c h Rek l a m a t i o n eines ständischen Widerstandsrechts l i t e r a r i s c h b e k ä m p f t 7 8 . D e r i n d e r althusischen Politik i n der t r a d i t i o n e l l e n d o p p e l t e n F o r m ü b e r n o m m e n e Repräsentationsgedanke b e r u h t n i c h t auf i n d i v i d u a l i s t i schen Voraussetzungen. U n d auch b e i A l t h u s i u s f ü h r t der lange Prozeß der U m f o r m u n g des Konsensgedankens f e u d a l e r H e r k u n f t — quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet 19 — v o n e i n e m P r i n z i p f ü r konkrete Entscheidungen i n einen generellen Organisationsgrundsatz 80 noch n i c h t zu der A n n a h m e , daß a l l e i n v o m isoliert gedachten einzelnen h e r Konsens sich b i l d e n u n d a u f b a u e n k a n n . H i e r f e h l t noch die den e i n z e l n e n aus seinen t r a d i t i o n e l l e n sozialen B i n d u n g e n h e r a u s d e n k e n d e analytische K a t e g o r i e eines status naturalis 81. Z w a r k l i n g t der Gedanke eines v o r s t a a t l i c h e n Zustandes zunächst an ( I 4), f ü h r t aber n i c h t z u m I n d i v i d u u m , s o n d e r n i n U b e r e i n s t i m m u n g m i t d e m großen W i d e r s a c h e r B o d i n , der e i n V e r ä c h t e r des N a t u r z u s t a n d s g e d a n k e n s w i e d e r T h e o r i e des Staatsvertrages w a r — z u r TJreinheit d e r Hausgemeinschaft 8 2 . A u c h 78 Während auf diese Weise zunächst Hugenotten gegen ihre religiöse Unterdrückung kämpften (vgl. die Hinweise in F N 63), rief Heinrichs I I I . A b k e h r von der Liga katholischer Monarchomachen auf den Plan: siehe Juan de Mariana (SJ), De rege ac regis institutione l i b r i très, Toledo 1599, lib. I cap. 6, und zum ganzen Rudolf Treumann, Die Monarchomachen, Leipzig 1895; Wolzendorff (FN 76), S. 95 ff.; John William Allen, A History of Political Thought i n the Sixteenth Century, 3. Aufl., London 1951, S. 271 ff., 302 ff., 343 f f.; Pierre Mesnar, L'Essor de la Philosophie politique au X V I e siècle, 2. Aufl., Paris 1952; Friedrich Hermann Schubert, Die deutschen Reichstage i n der Staatslehre der frühen Neuzeit, Göttingen 1966, S. 383 ff.; Günter Stricker, Das politische Denken der Monarchomachen, Diss. Heidelberg 1967. 79 Siehe dazu etwa Yves M.-J. Congar, Quod omnes tangit. ab omnibus tractari et approbari debet, Revue historique de Droit français et étranger, 4e sér., 36 (1958), S. 210 ff.; Gaines Post, Studies in Medieval Legal Thought, Princeton/N. J. 1964, S. 168 ff.; Quaritsch (FN 73), S. 107 ff., 162 f., 269 ff., 276 ff. 80 Dazu näher Hof mann (FN 11), S. 286 ff. 81 Hierzu und zum folgenden vom Verf., Zur Lehre vom Naturzustand in der Rechtsphilosophie der Aufklärung, in: Rechtsphilosophie der A u f k l ä rung, hrsg. v. Reinhard Brandt, B e r l i n / N e w York 1982, S. 12 ff., auch in: RECHTSTHEORIE 13 (1982), S. 226 ff. 82 Politica I I 14: Privata naturalis consociatio symbiotica est, qua naturali affectione & necessitate postulante, conjuges, consanguinei & adfines in simbiosin, & communionem quandam inter se consentiunt. Unde societas haec individua, naturalis neccessaria, oeconomica, domestica, perpetua inter hosce vitae socios symbioticos contracta dicitur, quae eosdem, quos vita, terminos habet. — Quare merito arctissima vocatur societas, amicitia, necessitudo & conjunctio; quae est seminarium omnis consociationis symbioticae. unde socii symbiotici necessarii, propinqui, conjuncti & amici vocantur. Vgl. dazu Bodin, Six livres de la République I V 12.
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enthält das Kapitel über die Ephoren den Grundsatz, daß von Natur aus alle Menschen gleich und niemand der Befehlsgewalt eines anderen unterworfen ist, es sei denn durch freiwillige Übertragung seiner Rechte: ... jure naturali omnes homines sunt equales ... & nullius jurisdictioni subjecti, nisi ex suo consensu & facto voluntario .. . ( X V I I I 18). Aber das bleibt traditionelle Redewendung i m Beiwerk kommentierender Zusätze ohne zentrale theoretische Bedeutung. Dies zeigt sich, wenn Althusius anschließend auf die Übertragung dieser Rechtsmacht zu sprechen kommt: denn dann sind es unversehens die Glieder (membra) des Gemeinwesens, die sie vornehmen ( X V I I I 28) — und damit landen w i r dann sofort wieder bei den Ständen. Nur wenn es i n einem Gemeinwesen keine Stände gäbe — obwohl sie nach dem Urteil des Althusius für ein gut verfaßtes Gemeinwesen schlechterdings notwendig sind (maxime necessarii) —, dann müßte das, was sonst — kraft Identitätsrepräsentation — Sache der Ephoren ist, mit Zustimmung des ganzen Volkes bewerkstelligt werden, das man stammweise, bezirksweise, nach Hundertschaften versammelt und so oder auch Mann für Mann befragt hat: consensu totius populi, tributim, curiatim, vel eenturiatim, aut viritim rogato, aut collecto ( X V I I I 123). Das heißt: i m Not- und Grenzfall, aber nicht i m Grund- und Normalfall muß man die einzelnen fragen. Und selbst dabei setzt Althusius eine gewisse Gliederung des Reichsvolks allemal voraus. Daß über konventionelle Anklänge hinaus der Begriff eines vorpolitischen Zustandes fehlt, hat wohl auch spezifisch konfessionelle Gründe. So wenig wie im lutherischen Protestantismus außerhalb des Aristotelismus Melanchthons und i m calvinistischen außerhalb des Aristotelismus Bezas (und d. h. umgekehrt: innerhalb des Einflußbereichs des Ramismus) anfänglich so etwas wie eine natürliche Theologie denkbar ist, so wenig läßt der Dualismus von prälapsarem status integritatis und gefallener Natur zunächst Raum für die sozialwissenschaftliche Theorie eines status naturalis. Folglich denkt Althusius den Menschen in seinen geschöpflichen Bindungen und Beziehungen wie in seinen geschichtlich gewachsenen Ordnungen. Ohne die analytische Kategorie des Naturzustandes gibt es keine quasi mechanische Physik der Vergesellschaftung isoliert gedachter Individuen und auch keine egalisierende „mathematische Methode" in den Sozialwissenschaften. 2. Zur Bedeutung des Vertragsgedankens
Weil nun natürliche und geschichtliche Verbindungen für Althusius noch eine so große Rolle spielen, deswegen hat auch der Vertragsgedanke in seiner Politikwissenschaft noch keine zentrale theoretische Bedeutung. Gewiß: I m 18. Kapitel über die Ephoren bedient sich A l t h u sius weidlich der Figur des Herrschaftsvertrages, den er nachfolgend
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( X I X 47 ff.) zur paktierten lex fundamentalis schlechthin stilisiert. Auch ist i n den einleitenden Sätzen des 1. Kapitels (§ 2) von vertraglicher Vereinigung zu sozialem Leben die Rede. Und natürlich taucht dieses Motiv des Bundes in der sozialwissenschaftlichen Entwicklung des Konsoziationsmodells bis hin zu den Ausführungen über das einigende Band der Reiche 83 immer wieder auf. Doch können pactum unionis und pactum subjectionis, diese traditionellen Momente der Sozial- und Herrschaftsvertragslehre 84 , wegen der die juristische Ausformung der althusischen Politikwissenschaft beherrschenden ständischen und damit zugleich ständestaatlich dualistischen Ordnung des Reichs nicht zum durchgehenden zentralen Konstruktionselement aufsteigen. Diese Feststellung gilt aber nicht nur im Vergleich zu den individualistisch radizierten vertraglichen Konstruktionen einer zentralen Staatsgewalt. Sie betrifft auch den angeblichen „Föderalismus" des A l t h u sius, d. h. Gierkes These, wonach der althusische Staat vermöge des Sozialvertragsprinzips „seinen Gliedverbänden . .. generisch gleichartig und von ihnen nur durch seine ausschließliche Souveränität verschieden ist" 8 5 . Denn tatsächlich ist ja schon die „Wesensgleichheit" der „privaten" und der „öffentlichen" Konsoziationen zweifelhaft, wenngleich die Differenz durch den übergreifenden Gesichtspunkt einer natürlichen Stufenordnung aller Konsoziationen relativiert wird 8 6 . Zudem fallen die Stände aus diesem Schema heraus. Und schließlich bleibt dabei die nicht bloß von unten her vertraglich begründete Amtsautorität der Regierungen unberücksichtigt. Wenn es die „Wesensgleichheit" aller menschlichen Verbände mit dem Staat 87 , die fehlende qualitative Differenz zwischen dem Staat und den anderen Verbänden ist, die nach der von Harold Laski im Anschluß an Gierkes Genossenschaftslehre vertretenen Theorie den politischen Pluralismus ausmacht 88 , dann war Althusius im strengen Sinn auch kein „Pluralist". Eine solche Position ließ das Gegenmodell Bodins nicht mehr zu.
83
Vgl. I X 7 (siehe F N 13). Siehe dazu die Nachw. i n F N 58. 85 Gierke , Althusius (FN 1), S. 244. M i t Recht krit. dazu Hendrik J. van Eikema Hommes, Die Bedeutung der Staats- und Gesellschaftslehre des Johannes Althusius für unsere Zeit, Festschrift für Scupin, Berlin 1983, S. 21 I f f . (223). 88 Althusius selbst versteht „ p r i v a t " und „öffentlich" nicht i m Sinne einer Antithese zweier Bereiche, sondern als Erweiterung und Aufstieg vom Einfachen und Niedrigeren zum Höheren, Komplexeren und Allgemeineren. 87 Vgl. Gierke , Genossenschaftsrecht IV, S. 348. 88 Vgl. Harold J. Laski, Studies in the Problem of Sovereignty (1917), Nachdruck London 1968; ders., A Grammar of Politics, 4. Aufl., London 1938. 84
Repräsentation in der Staatslehre der frühen Neuzeit
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3. Zum Prinzip der Volkssouveränität
Und ein Letztes: Durch die Organisation von Herrschaft erfüllen die Menschen nach der Politik des Althusius ein Naturgesetz der Schöpfung auf natürliche Weise — sie konstruieren nicht auf einer tabula rasa eine Maschine, mit der dann über alles und jedes verfügt werden kann. Wie hätte der strenge Calvinist Althusius eine solche Freiheit des Menschen denken können? Deshalb hat auch des Althusius von Gierke mißverständlich so genannte Lehre von der „Volkssouveränität" 8 9 , d. h. sein Grundsatz, daß die eine Vollgewalt des Gemeinwesens bei der Verbandseinheit als solcher, genauer: bei den Gliedern dieser Einheit 9 0 liegt, einen durchaus vormodernen, vordemokratischen Sinn. Wenn Althusius davon spricht, daß die Majestätsrechte der Gesamtheit des Volkes zukommen, dann postuliert er nicht die souveräne Schrankenlosigkeit eines auf Progreß drängenden Willensverbandes egalitärer Staatsbürger. Er behauptet damit nicht die Dispositionsbefugnis des Verbandes über den sozialen Zustand i m ganzen. Auch das, was man die verfassunggebende Gewalt des Volkes bei Althusius zu nennen versucht sein könnte — Juris . . . regni statuendi & se obligandi ad id, potestatem populus, seu membra regni consociata habent (IX 16) —, betrifft nur die Gründung eines Reiches, nicht die innere Struktur der es konstituierenden Verbände. Alle Gewalt — auch die des Volkes und d. h. ja doch: die seiner Stände — ist für ihn selbstverständlich rechtlich gebunden, ist Amtsgewalt. Unbegrenzt ist nur die Macht Gottes. Eine der Anmerkungen zu der These vom System wechselseitiger Kontrolle zwischen Reichsregent und Ständen lautet daher: Omnis potestas certis cancellis & legibus est limitata, nulla absoluta, infinita, effraenis, arbitraria, exlex, sed quaelibet potestas legibus, juri & aequitati alligata ( X V I I I 106)91. Anders als Hobbes reduziert Althusius diese Bindung an Gottes Gebote 92 , die überlieferten Gesetze und die Vorschriften der recta ratio auch nirgends auf eine rechtlich nicht mehr kontrollierbare und einforderbare bloß interne Gewissensbindung. Vielmehr verneint er damit jeden Souveränitätsanspruch der Herrschenden und interpretiert so alle öffentliche Gewalt als amtliche Funktion der Gesamtordnung. Dieser verfassungsstaatlich-rechtsstaatliche Sinn solcher „Volkssouveränität" erklärt, warum sie in der Politik des Althusius 89
Gierke, Althusius (FN 1), S. 20 f., 123 ff., 148 f., 157. Vorrede der 3. Aufl. (S. 4): Administratorem, procuratorem, gubernatorem jurium majestatis, principem agnosco. Proprietarium vero & usufructuarium majestatis, nullum alium, quam populum universum, in corpus unum symbioticum ex pluribus minoribus consociationibus consociatum. 91 Vgl. dazu noch einmal Politica X I X 7 (zit. i m Text nach F N 60). 92 Vgl. Paul Münch, Göttliches oder weltliches Recht? Zur Kontroverse des J. Althusius m i t den Herborner Theologen (1601), Festschrift für Naujoks, Sigmaringen 1980, S. 16 ff. (26); Eikema Hommes (FN 85), S. 218, 224 ff. 90
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mit Kaiser, Landesherren und Ständen auch ganz und gar undemokratische Einrichtungen trägt. Gerade das Kapitel über die Ephoren für die Behauptung in Anspruch zu nehmen, daß in der Politik des A l t h u sius mit dieser A r t von Volkssouveränität die Lehre von der Demokratie beginne 93 , ist daher verfehlt. Gewirkt hat das große Werk des A l t h u sius als Systematik der politischen Theorie des Calvinismus®4. U n d das heißt, daß sie den Gedanken des Bundes gestärkt und die Idee verfassungsmäßiger Beschränkung der allemal nur repräsentativen Regierungsgewalt gefördert, dem Konstitutionalismus vorgearbeitet und den Amtsgedanken stabilisiert hat. Dabei mögen die emigrierten englischen Puritaner, die diese Theorien — teils auf dem Weg in die Neue Welt — in den Niederlanden aufgenommen hatten und später gegen die Jahrhundertmitte in nicht unbeträchtlicher Zahl heimkehrten, darüber hinaus die Rede von den ständischen Rechten des Volkes in ihre soziale Vorstellungswelt übertragen haben.
98 So Reinhold Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 5. Aufl., München 1985, S. 105. 94 Vgl. hierzu und zum folgenden Heinrich Dietz, Die große englische Revolution, Schloß L a u p h e i m / W ü r t t . 1956, S. 26 ff.; Josef Bohatec, England und die Geschichte der Menschen- u n d Bürgerrechte, Graz—Köln 1956, S. 89 ff., über den Einfluß des Althusius auf John M i l t o n ; Friedrich (FN 2), S. 131.
DAS WIDERSTANDSRECHT B E I ALTHUSIUS Von Peter Jochen Winters, Berlin Widerstandsrecht meint das Recht (oder die Pflicht) des einzelnen oder bestimmter Gruppen, sich offenkundig unrechtmäßigen, die verfaßte Ordnung des Gemeinwesens verletzenden Handlungen der Inhaber der Herrschafts- oder Staatsgewalt, die trotz Ermahnungen hartnäckig fortgesetzt werden, durch Verweigerung des Gehorsams (passiver Widerstand) oder durch Anwendung von Gewalt (aktiver Widerstand) zu widersetzen, wenn alle anderen legalen Rechtsbehelfe ausgeschöpft sind oder ihre Inanspruchnahme keine Aussicht auf wirksame Abhilfe verspricht. Das Widerstandsrecht ist kein „ius rebellionis", nicht ein Recht auf Revolution, auf gewaltsame Änderung bestehender gesellschaftlicher oder staatlicher Verhältnisse, sondern ein Notrecht, eine „ultima ratio" zur Erhaltung oder Wiederherstellung der geltenden Rechts- und Verfassungsordnung. 1 Widerstandsrecht ist immer bewahrend, ist immer konservativ. Es kann nicht für die Rechtfertigung „zivilen Ungehorsams" mit dem Ziel einer Veränderung bestehender Verfassungs-, Rechts- und Gesellschaftsordnungen in Anspruch genommen werden. Das Widerstandsrecht hat im wesentlichen zwei geistesgeschichtliche Wurzeln: 1. die Tradition der germanischen, lehnrechtlichen Treuepflicht. Hier handelt es sich um ein gegenseitiges persönliches Treueverhältnis. Der Lehnsmann schuldet dem Lehnsherrn Gehorsam; der Lehnsherr schuldet dem Lehnsmann Schutz und Fürsorge. Bricht der Lehnsherr die Treue, ist der Lehnsmann frei, nachdem er dem Lehnsherrn zuvor die Lehntreue feierlich aufgekündigt hat („diffidatio"). 2. Die Tradition des christlichen Gehorsams gegenüber Gott. I m christlichen Denken entwickelt sich das Widerstandsrecht in der Spannung zwischen Römer 13, 1 „Jedermann sei den vorgesetzten Obrigkeiten Untertan; denn es gibt keine Obrigkeit außer von Gott; die bestehenden aber sind von Gott eingesetzt" und der petrinischen Klausel in Apostelgeschichte 5, 29 „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen". Die Herausbildung der Landesherrschaft seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts und die Glaubensspaltung i m 16. Jahrhundert bewirkten eine Verbindung beider Traditionslinien i m Ständestaat. 1 Peter Jochen Winters, Widerstandsrecht, in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft, hrsg. v. A x e l Görlitz, München 1972, S. 526 ff.
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Ein Wort noch zu Calvin: I n der „Institutio" des Calvin findet sich am Ende des vierten Buches jene berühmte Passage, auf die sich die Monarchomachen in den Französischen Religionskriegen mit ihren Widerstandslehren stützen. Calvin handelt hier vom tyrannischen Herrscher und schreibt: „Denn wenn auch die Züchtigung einer zügellosen Herrschaft Gottes Rache ist, so sollen w i r deshalb doch nicht gleich meinen, solche göttliche Rache sei uns aufgetragen — denn w i r haben keine andere Weisung, als zu gehorchen und zu leiden. Dabei rede ich aber stets von amtlosen Leuten. Anders steht nun die Sache, wo Volksbehörden („populäres magistratus") eingesetzt sind, um die W i l l k ü r der Könige zu mäßigen; von dieser A r t waren z. B. vorzeiten die ,Ephoren', die den lakedämonischen Königen, oder die Volkstribunen, die den römischen Konsuln, oder auch die »Demarchen4, die dem Senat der Athener gegenübergestellt waren; diese Gewalt besitzen, wie die Dinge heute liegen, vielleicht auch die drei Stände in den einzelnen Königreichen, wenn sie ihre wichtigsten Versammlungen halten. Wo das also so ist, da verbiete ich diesen Männern nicht etwa, der wilden Ungebundenheit der Könige pflichtgemäß entgegenzutreten, nein, ich behaupte geradezu: wenn sie Königen, die maßlos wüten und das niedrige Volk quälen, durch die Finger sehen, so ist solch ihr absichtliches Übersehen immerhin nicht frei von schändlicher Treulosigkeit, denn sie verraten ja in schnödem Betrug die Freiheit des Volkes, zu deren Hütern sie, wie sie wohl wissen, durch Gottes Anordnung eingesetzt sind!" 2 Diese Widerstandspflicht der niederen Obrigkeiten, die Calvin hier postuliert, folgt ausschließlich aus dem Amt. Widerstandsrecht ist hier das Recht — oder besser: die Pflicht — der Amtsträger, den durch den Tyrannen verletzten Rechtszustand wiederherzustellen. Dieses Recht der Amtsträger zum Widerstand folgt bei Calvin aber nicht aus einer Vorstellung von Souveränität des Volkes oder der Berufung des Herrschers durch das Volk mittels eines Herrschafts- und Unterwerfungsvertrages. Der Reformator orientiert sich vielmehr an der ständestaatlichen Wirklichkeit seiner Zeit.
Höhepunkt und Abschluß der Diskussion um das Widerstandsrecht i m Ständestaat des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts bildet das Werk des Althusius. 8 Der Herborner Professor und spätere 2 Johannes Calvin, Unterricht i n der christlichen Religion (Institutio Christianae Religionis, deutsch). Übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchen 1955 (zweite, durchgesehene Auflage 1963) Buch I V , K a p i t e l 20, Sektion 31. 3 Siehe: Peter Jochen Winters, Die »Politik' des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg i m Breisgau 1963; ders., Johannes Althusius, in: Staatsdenker i m 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. Michael Stolleis, F r a n k f u r t / M . 1977, S. 29 ff.
Das Widerstandsrecht bei Althusius
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Syndikus in Emden begreift das Widerstandsrecht als ein politisches Phänomen, das aus der „maiestas", der Souveränität, und dem besonderen Verhältnis zwischen Volk und Herrscher erwächst. Das Volk als ein in Lebensgemeinschaften („consociatio") gegliedertes Ganzes ist bei Althusius Inhaber der Staatsgewalt, der „summa potestas" oder „maiestas", die zeitlich unbegrenzt, unteilbar und an göttliches Gesetz ebenso gebunden ist wie an das positive Recht. Der Staat, die umfassendste öffentliche Lebensgemeinschaft, w i r d durch den Herrscher, den „summus magistratus", und die Ephoren, die niederen Obrigkeiten, repräsentiert. Die Ephoren übertragen als Repräsentanten des Volkes in dessen Namen mittels eines Herrschaftsvertrages, dessen Zeuge Gott ist, dem Herrscher unter gewissen Bedingungen die Verwaltung der dem Volk eigenen Staatsgewalt. I m Herrschaftsvertrag verpflichtet sich das Volk zum Gehorsam unter der Bedingung, daß sich der Herrscher an die Gebote Gottes, das natürliche Recht und die Gesetze des Staates hält. Der Herrscher ist also Sachwalter einer „aliéna potestas" und zugleich Diener Gottes, „minister Dei". Bricht der Herrscher die Gesetze des Staates und die Gebote Gottes, dann ist er nicht mehr „minister Dei", sondern w i r d zum Werkzeug des Teufels und entartet zum Tyrannen. I n diesem Fall haben die Ephoren, die niederen Obrigkeiten, die ja auch „ministri Dei" sind, die Pflicht, Gottes Willen zu vollziehen und in Wahrnehmung ihres Amtes das Recht, den Tyrannen zu beseitigen, äußerstenfalls sogar ihn zu töten. Das Widerstandsrecht gegen eine tyrannische Obrigkeit ist eine von Gott den niederen Obrigkeiten auferlegte Pflicht, die ihnen auf Grund ihres Amtes und ihrer Repräsentativfunktion zukommt. Obrigkeiten, die einem Tyrannen Widerstand leisten, sind Vollstrecker eines göttlichen Auftrags. Bei Althusius haben grundsätzlich nur die Ephoren das Recht und die Pflicht, einem Tyrannen aktiven Widerstand zu leisten. Diesen Begriff — er steht für die Stände des Reiches, denen gegenüber dem Kaiser die gleichen Rechte und Pflichten zugeschrieben werden wie den Ephoren im alten Sparta gegenüber den lakedämonischen Königen, meint aber auch niedere Obrigkeiten, Amtsträger, Repräsentanten — hat Althusius von Calvin und Danaeus4 übernommen. Zum ersten Mal wurde er in dieser Bedeutung von Melanchthon 5 verwendet. Widerstandsrecht in der Form des aktiven Widerstandes ist bei Althusius ein Amtsrecht, das den Ständen und niederen Obrigkeiten zukommt. A l t husius unterscheidet „Ephori generales" und „Ephori speciales".8 Erstere 4
Lambertus Danaeus: Politices Christianae l i b r i septem, Genf 1596, Buch V, K a p i t e l 2. 5 Commentarii i n l i b r u m I I I Politicorum Aristotelis, in: P h i l i p p i Melanchthonis Opera quae supersunt omnia, Corpus Reformatorum, Bd. 16, Sp. 440. 6 Johannes Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata, dritte Auflage, Herborn 1614, Faksimiledruck Aalen 1961, 35 R E C H T S T H E O R I E ,
Beiheft 7
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sind für das ganze Reich und alle Territorien verantwortlich. Sie bilden den Senat des Reiches wie i n Deutschland die sieben Kurfürsten. „Ephori speciales" sind solche, die den Schutz und die Sorge für jeweils einen bestimmten Teil des Reiches innehaben. Wenn einem Tyrannen Widerstand geleistet werden muß, dann ist es nicht erforderlich, daß die Ephoren als Kollegium handeln. Von den Generalephoren darf jeder einzelne zum Widerstand aufrufen, wenn die Voraussetzungen gegeben sind. Ein einzelner Ephorus darf sich aber nicht gegen die erklärte Mehrheit der Ephoren dem Herrscher widersetzen. Nur wenn die anderen Ephoren unentschlossen sind, zu keiner Mehrheitsmeinung kommen, darf er allein Widerstand leisten. Diejenigen Ephoren, die nur über einen Teil des Reiches gesetzt sind, wie Landesherren, Bürgermeister oder Senatspräsidenten, dürfen dann Widerstand leisten, wenn der Tyrann ihre Untertanen oder das ihnen anvertraute Gebiet bedroht. Durch diese Bestimmungen w i r d das Widerstandsrecht einerseits seiner W i l l k ü r entkleidet, andererseits aber zu einer scharfen Waffe in der Hand von niederen Obrigkeiten gemacht. Die Ausübung des Rechts zum Widerstand gegen einen tyrannisch gewordenen Herrscher, das auch das Recht zu seiner Absetzung einschließt, ist jedoch nicht i n das Belieben der Ephoren gestellt, sondern an ganz fest umrissene Bedingungen und Voraussetzungen gebunden. So muß die Tyrannis erstens „nota", als solche allgemein bekannt sein. Daher ist es zunächst die Pflicht der Ephoren, auf einer Zusammenkunft — also einer Ständeversammlung — die Tyrannis des Herrschers öffentlich festzustellen. Zweitens muß die Tyrannis „obfirmata" sein, das heißt, der tyrannische Herrscher muß trotz wiederholter Ermahnungen an seiner Tyrannis festhalten. Drittens müssen alle anderen Möglichkeiten erschöpft sein, den Tyrannen an seinem Tun zu hindern, so daß nur noch die Entziehung der Herrschaftsgewalt übrigbleibt. Nur wenn alle drei Bedingungen zugleich erfüllt sind, dürfen die Ephoren aktiven Widerstand leisten. Grundsätzlich müssen die im Widerstand gegen den Tyrannen angewandten Mittel dem Vorgehen des Tyrannen angemessen sein. Ihm ist mit Worten entgegenzutreten, solange er nicht gewalttätig ist, und mit Waffen, wenn er Gewalt anwendet. Die Ausübung des Widerstandsrechts durch die Ephoren beim Vorliegen der beschriebenen Bedingungen geschieht in der Weise, daß die Ephoren dem tyrannisch gewordenen Herrscher das Herrscheramt förmlich absprechen, wodurch die ihm übertragene Herrschaftsgewalt an das Volk und seine Repräsentanten — die Ephoren — zurückfällt. K a p i t e l X V I I I , Paragraph 109. Stellen aus der „Politica" des Althusius werden i m folgenden nach dieser Ausgabe zitiert, wenn nicht ausdrücklich anderes vermerkt ist.
Das Widerstandsrecht bei Althusius
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Der Tyrann w i r d so zum Privatmann. Weigert er sich, den Spruch anzuerkennen und versucht er weiterhin, Herrschaftsgewalt auszuüben, kann können die Ephoren das Volk zum Widerstand aufrufen, den Tyrannen mit Waffengewalt angreifen, ihn gefangennehmen, zum Tode verurteilen und hinrichten lassen. Nach der Entfernung des tyrannisch gewordenen Herrschers übernehmen die Ephoren die Regierung des Staates, bis sie einen neuen Herrscher gewählt und eingesetzt haben. Den einzelnen, den Untertanen und Bürgern billigt Althusius gegen einen tyrannisch gewordenen Herrscher lediglich ein passives Widerstandsrecht, ein Recht zur Gehorsamsverweigerung zu. „Was aber ist von den Untergebenen und den Privatleuten aus dem Volk zu halten?" fragt Althusius und antwortet: „Was w i r bisher von den Ephoren gesagt haben, gilt für öffentliche Personen. Sicherlich können die Privatleute, wenn der Herrscher zum Tyrannen entartet, das Schwert nicht mit Recht gebrauchen, da sie weder Erfahrung noch das Recht des Schwertes besitzen . .. Sie sollen sich vielmehr ruhig verhalten, das Unrecht dulden und das Joch des Tyrannen ertragen." 7 „Die Privatleute sind freilich nicht gezwungen, Diener der Tyrannis zu sein oder etwas zu tun, was Gott zuwiderläuft. Sie mögen an einen anderen Ort fliehen und auf diese Weise den Gehorsam verweigern, also nicht durch Widerstand, sondern durch Flucht . . . Wenn aber dem Privatmann vom Herrscher notorisch Gewalt angetan wird, dann ist ihm zum Schutz seines Lebens eine Verteidigung gestattet. I n diesem Fall nämlich geben die Verfassungen der Könige und das Naturrecht auch den Privatleuten Waffen gegen den ,summus magistratus' in die Hand, der ihnen nach dem Leben trachtet." 8 Althusius verweist hier auf das Naturrecht, das dem einzelnen ein Notwehrrecht zugesteht, wenn Leib und Leben bedroht sind.® Außer diesem allgemeinen Notwehrrecht bleibt dem Volk bei Althusius nur der passive Widerstand, also Gehorsamsverweigerung und Flucht — wie bei Calvin. Zur Waffe gegen einen tyrannisch gewordenen Herrscher darf das Volk nur greifen, wenn es dazu von niederen Obrigkeiten aufgerufen wird. Vernachlässigen die Ephoren ihre Pflicht zum Widerstand gegen einen tyrannisch gewordenen Herrscher, sehen 7
Politica, X X X V I I I , 65. Politica, X X X V I I I , 67. 9 Hendrik Jan van Eikema Hommes hat die These aufgestellt, das N a t u r recht bei Althusius komme nur dann zur rechtlichen Geltung, wenn es i n das positive Recht der Lebensgemeinschaften aufgenommen und aktualisiert werde. Es sei aber nicht unmittelbar geltendes Recht. Das hier erwähnte Notwehrrecht des einzelnen gegen einen zum Tyrannen entarteten Herrscher, das Althusius ausdrücklich als „ius naturale" bezeichnet, gilt aber u n m i t t e l bar, denn es kommt ja erst dann zur Anwendung, wenn ein Notstand eingetreten, die geltende Rechtsordnung v o m Tyrannen mißachtet oder zerstört worden ist. 8
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sie dem zügellosen Treiben des Tyrannen tatenlos zu oder machen sie gemeinsame Sache mit ihm, dann hat das Volk immer noch nicht das Recht, dem Tyrannen aktiven Widerstand zu leisten. Es kann nur versuchen, seine niederen Obrigkeiten abzusetzen und durch neue zu ersetzen. Das Widerstandsrecht, das „ius resistendi et exauctorationis" der niederen Obrigkeiten, der Stände, garantiert eine wirksame Kontrolle des Herrschers und vor allem eine Balance der Macht, eine Hemmung und Mäßigung von politischen Kräften im Staat. Der „summus magistratus" w i r d kontrolliert durch die Gesamtheit der Ephoren, die namens des Volkes tatsächliche Inhaber der Souveränität, der „maiestas", und dem Herrscher daher übergeordnet sind; und der „summus magistratus" kontrolliert die Ephoren, die ihm als einzelne Untertan sind. Das Widerstandsrecht bei Althusius ist — wie bei Calvin — ein reines Amtsrecht. Es unterscheidet sich aber von der Widerstandsrechtskonzeption Calvins dadurch, daß es durch die Souveränität des Volkes und den Herrschaftsvertrag legitimiert und als ein geregeltes Verfahren positiviert, also in das positive Recht der Lebensgemeinschaft „Staat" aufgenommen wird.
Um diesen Beitrag des Althusius zur Lehre vom Widerstandsrecht richtig verstehen und würdigen zu können, muß man die Quellen kennen, aus denen er schöpfte. Damit sind nicht nur die geistesgeschichtlichen Quellen gemeint, die ich andernorts aufgezeigt habe 10 , sondern ebenso die Erfahrungen des handelnden Politikers, der A l t h u sius seit 1604 als Ratssyndikus in Emden auch war. Über die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden hat Antholz unterrichtet 11 . Er hat darauf aufmerksam gemacht, daß die nicht unbeträchtliche Erweiterung der zweiten Auflage der „Politica" — um sieben Kapitel — mindestens zu einem Teil darauf zurückzuführen ist, daß Althusius Erkenntnisse aus der politischen Wirklichkeit in sein System der politischen Wissenschaft eingearbeitet hat. Eines der in der zweiten Auflage der „Politica" von 1610 hinzukommenden neuen Kapitel ist das Kapitel X X X V I I I — also das vorletzte — über die Tyrannis und ihre Beseitigung. Antholz nennt es „das revolutionärste Kapitel seines Lehrbuchs" und meint: „ M a n geht wohl kaum fehl in der Vermutung, daß die nochmalige geschlossene Behandlung dieses Themas als letzte Arbeit an der zweiten Auflage der ,Politica' mit den Ereignissen des 10
Winters, Die ,Politik 4 des Johannes Althusius (FN 3), S. 35—130. Heinz Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius i n Emden (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands, Heft X X X I I ) , Aurich 1955. 11
Das Widerstandsrecht bei Althusius
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Jahres 1609 und mit Emdens gewaltsamem Vorgehen gegen Enno II. i n Verbindung zu bringen ist. Der in diesem Jahr von den Emder Machthabern gefaßte Entschluß einer Politik der ,extremen Mittel· zwang den Syndikus, nochmals den gesamten widerstandsrechtlichen Komplex zu durchdenken." 12 Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Hat Althusius dabei seine vorherige Konzeption geändert, hat er seinem System entscheidend Neues hinzugefügt oder hat er die grundlegenden Gedanken über das Recht zum Widerstand gegen den Mißbrauch der Herrschaftsgewalt unverändert beibehalten und die Darstellung nur erweitert? 1 3 Die Beantwortung dieser Frage ist auch deshalb wichtig, um entscheiden zu können, ob die Lehre vom erlaubten und sogar gebotenen Widerstand gegen einen tyrannischen Herrscher bei Althusius lediglich „eine rechtsphilosophische Begründung oder Deutung oder auch eine Idealisierung des positiven Rechts der alten Zeit" 1 4 ist oder eine auf der Theologie Calvins beruhende politische Theorie, die sich auf ältere geistesgeschichtliche Quellen abstützt. 15 I n der ersten Auflage der „Politica" 1 6 , die Althusius schrieb und 1603 drucken ließ, als er ordentlicher Professor an der reformierten Hochschule in Herborn war, w i r d das Widerstandsrecht gegen eine tyrannische Obrigkeit auf den Seiten 145 bis 164 im Rahmen des Kapitels X I V über die Ephoren und ihre Aufgaben abgehandelt. Diese Ausführungen werden fast wörtlich in die zweite Auflage von 161017 übernommen und bilden dort den Kern des neuen Kapitels X X X V I I I . Nahezu unverändert gelangen sie auch in die dritte Auflage von 161418, die w i r als die maßgebende ansehen. Diese dritte Auflage weist als erste eine Unterteilung der Kapitel i n Paragraphen mit Überschriften auf. Hier finden sich die unverändert aus 12
Ebd., S. 143. Antholz meint: „Das letzte K a p i t e l der Ausgabe von 1610 über ,Die T y rannis und ihre Beseitigung'" — tatsächlich ist es das vorletzte — „ist nicht eine völlig neue Arbeit, sondern erweitert die Darstellung, die Althusius am Schluß des Kapitels X I V der ersten Ausgabe (S. 146—167) bereits über die Tyrannis und die Voraussetzungen und Modi ihrer Abstellung gegeben hatte, als er von den Ephoren und ihren politischen Aufgaben sprach." loc. cit. 14 Leo Delfos, A l t e Rechtsformen des Widerstandes, in: Widerstandsrecht — Wege der Forschung, Bd. C L X X I I I , hrsg. v. A r t h u r Kaufmann, Darmstadt 1972, S. 85. 15 So Winters, Die .Politik' des Johannes Althusius (FN 3), S. 270. 1β Johannes Althusius, Politica methodice digesta et exemplis sacris et profanis illustrata, Herborn 1603. (Ich benutzte das Exemplar der Deutschen Staatsbibliothek Berlin [Ost].) 17 Die zweite Auflage ist 1610 in Groningen und in A r n h e i m erschienen. M i r lag ein Exemplar der zweiten Auflage aus der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin (West) vor: Johannes Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata. Editio nova priore auctior et cum Indice amplissimo, A r n h e i m 1610. 18 Die dritte Auflage ist 1614 i n Herborn erschienen. Von ihr wurde 1961 ein Faksimiledruck hergestellt. 13
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der ersten (und zweiten) Auflage übernommenen Ausführungen über das Widerstandsrecht i n den Paragraphen 30 bis 76 des Kapitels X X X V I I I . I n den Paragraphen 1 bis 27 beschäftigt sich Althusius in diesem Kapitel — wie schon i n der zweiten Auflage — mit der Tyrannis und ihren Erscheinungsformen, i n den Paragraphen 77 bis 134 der dritten Auflage setzt er sich vor allem mit Zeitgenossen auseinander, zitiert aber auch Autoren, die seine Ansicht teilen und bringt unterstützende Beispiele für seine Lehre aus der Geschichte und seiner Zeit. I n der dritten Auflage ist das Kapitel X X X V I I I gegenüber der zweiten Auflage noch umfangreicher geworden. So findet sich zum Beispiel die Polemik gegen W i l l i a m Barclay, der in seinem 1600 erschienenen Buch „De Regno et Regali Potestate .. gegen die „Monarchomachen" zu Felde zog, die i n der dritten Auflage die Paragraphen 87 bis 113 füllt, noch nicht in der zweiten Auflage, ebensowenig wie die Stellungnahme zu Bodins Souveränitätslehre, die sich i n den Paragraphen 125 bis 129 findet. Das neue Kapitel über die Tyrannis und ihre Beseitigung i n der zweiten Auflage beginnt mit der Definition der Tyrannis: „Die Tyrannis ist das Gegenteil einer gerechten und rechtmäßigen Herrschaft. Sie t r i t t ein, wenn die festgelegten Grundlagen und das einigende Band der umfassendsten Lebensgemeinschaft (also des politischen Ganzen, des Staates) hartnäckig, beharrlich und unheilbar entgegen der versprochenen Treue und des geleisteten Eides vom Herrscher beeinträchtigt und mißachtet werden." 1 9 Es folgt die Definition des Tyrannen — „Tyrann ist, wer beginnt, durch den Bruch der Treue und des Eides die Bande und Grundlagen des Staates zu zerstören und aufzulösen" 20 — und eine ausführliche Beschreibung der „natura" der Tyrannis. Die Aussagen in den Paragraphen 1—27 des Kapitels X X X V I I I fehlen zwar in der ersten Auflage der „Politica", ändern aber an der Konzeption des Widerstandsrechtes, wie sie dort dargelegt worden ist, nichts. 21 A n die Beschreibung der „natura" der Tyrannis schließt Althusius die Feststellung, daß er nun von der Beseitigung der Tyrannis handeln wolle. Diese bestehe i m Widerstand und i n der Absetzung des Tyrannen. Für beides seien ausschließlich die Ephoren zuständig, wie er im Kapitel über die Ephoren ausgeführt habe. 22 Er kann damit nur jene Stelle i n der zweiten Auflage meinen, die in der dritten Auflage die Paragraphen 84 und 19
Politica, X X X V I I I , 1. Politica, X X X V I I I , 3. 21 I n Anspielung auf Weinacht (in diesem Heft, S. 443 ff.) könnte man sagen, daß erst der Syndikus Althusius sein Problembewußtsein über die ramistische Methode obsiegen läßt, nachdem der Herborner Professor die Definition der Tyrannis — die er 1603 sicher auch schon i m Kopf hatte — wegließ, u m das dichotomische „Schema Politicae" nicht zu durchbrechen. 22 Politica, X X X V I I I , 28. 20
Das Widerstandsrecht bei Althusius
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85 des Kapitels X V I I I bezeichnen. Das dort Gesagte entspricht dem, was w i r i n der ersten Auflage i n Kapitel X I V über die Ephoren auf den Seiten 144 f. finden: Es ist Aufgabe der Ephoren zu beurteilen, ob der Herrscher sein A m t ordnungsgemäß wahrnimmt oder nicht, einem tyrannischen Herrscher Widerstand zu leisten und ihn an seinem Tun zu hindern. Bevor Althusius das Recht auf Widerstand rechtfertigt, schiebt er in der zweiten und dritten Auflage noch eine Definition des Widerstandes ein: „Widerstand ist das, wodurch die Ephoren mit Wort und Tat die Tyrannis des Herrschers verhindern und ihn absetzen oder aus ihrer Mitte entfernen, wenn er nicht zur Vernunft gebracht werden kann und sie auf andere Weise die Gemeinschaft nicht gesund und unversehrt erhalten und den Staat von den Übeln befreien können." 23 I n allen drei Auflagen der „Politica" zählt Althusius an dieser Stelle Gründe — „rationes" — auf, die das Recht, dem tyrannischen Herrscher Widerstand zu leisten und i h n seines Amtes zu entheben, das die Ephoren i m Namen des Volkes ausüben, begründen und rechtfertigen. I n der ersten Auflage sind es acht Gründe, die unverändert in die späteren Auflagen übernommen werden, wozu in der zweiten noch zwei weitere und in der dritten nochmals zwei hinzukommen. Die acht Gründe in der ersten Auflage sind: 1. I m Herrschaf tsvertrag zwischen Herrscher und Volk beziehungsweise dem politischen Ganzen verpflichtet sich der Herrscher bedingungslos, gerecht und gottesfürchtig zu regieren gemäß dem Dekalog und den Gesetzen des Staates. Das Volk ist jedoch nur unter der Bedingung zum Gehorsam verpflichtet, daß der Herrscher tatsächlich gerecht und gottesfürchtig regiert. Fehlt diese Voraussetzung, dann ist das Volk nicht zum Gehorsam verpflichtet. 24 2. Dem Herrscher wurde im Herrschaftsvertrag nicht unumschränkte Gewalt übertragen, sondern eine Herrschaftsgewalt, der bestimmte, nicht zu überschreitende Grenzen gesetzt sind. Überschreitet der Herrscher diese Grenzen, dann muß man ihm keinen Gehorsam schulden. 25 3. „Der dritte Grund ist der, daß die Verpflichtung Gott gegenüber, die um vieles stärker und älter ist als der spätere Vertrag zwischen Volk und Herrscher, wenn nicht ausdrücklich, so doch gewiß stillschweigend von geheimen Vorbehalten ausgenommen ist. Damit aber Gott, der für beide Parteien, nämlich Herrscher und Volk, Oberer 23 24 25
Politica, X X X V I I I , 29. Politica, 1. Aufl., S. 146; 3. Aufl. X X X V I I I , 30. Politica, 1. Aufl., S. 146; 3. Aufl. X X X V I I I , 32.
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und Herr ist, Gehorsam erwiesen wird, ist dem tyrannischen Herrscher . . . Widerstand zu leisten, weil er Gott bekriegen w i l l ; Widerstand erfolgt aus Frömmigkeit, als Dienst gegenüber Gott und Gerechtigkeit, aus Nächstenliebe, zur Bewahrung der Herrschaft unter uns und i n unserem Reich und schließlich zur Begründung einer bürgerlichen Gesellschaft unter den Menschen heute und in Zukunft. Wer so Widerstand übt, kann nicht als Aufrührer bezeichnet werden, weil er Gott gibt, was Gottes ist und was er Gott versprochen hat. Er leistet Widerstand, um dem Herrscher zu verweigern, was i h m auch keineswegs geschuldet w i r d und er ihm auch nicht versprochen hat." 2 8 Ich sehe hierin, nämlich in „Dei Caussa et obligatio" — wie es lateinisch heißt — einen Hinweis auf den Bund Gottes mit dem Volk, also ein föderaltheologisches Element. Dieser dem Herrschaftsvertrag vorausgehende Bund mit Gott — durch den Gott das Volk erwählt und das Volk Gott unbedingten Gehorsam verspricht — scheint mir auch die Begründung für den Herrschaftsvertrag zu sein, mittels dessen das Volk durch die Ephoren dem Herrscher Herrschaftsgewalt überträgt. Wie anders als durch diesen Gnadenbund des nach Calvin souveränen Gottes mit dem Volk kann A l t husius sonst erklären, daß das Volk Inhaber der „maiestas" ist? 27 4. Zwischen Herrscher und Volk bestehen keine stärkeren gegenseitigen Verpflichtungen als zwischen Eltern und Kindern, Mann und Frau, Lehnsherrn und Lehnsmann. I n jedem Fall ist jenen, die sonst gehorchen müssen, das Recht gegeben, ihre Oberen, wenn sie verräterisch, gemein und gottlos handeln, zu ermahnen und sie an ihrem Tun zu hindern. 28 5. „Der fünfte Grund ist der, daß der Tyrann, der gegen den mit dem Volk eingegangenen Vertrag verstößt und die Grundfesten des Staates einreißt, ,ipso iure' alle Macht verliert und ein Privater wird. Gegen diesen, wenn er Gewalt anwendet, darf man sich wehren und wenn er das Leben, die Güter und das Recht des Volkes tyrannisch angreift, darf sich jeder Beliebige, auch ein Privater, wehren und darf die Gefahr abwenden und beseitigen. Denn die Verteidigung gegen Gewalt ist jedem vom Naturrecht erlaubt." 2 9 6. „Der sechste Grund ist der, daß das Volk und der Herrscher in gleicher Weise als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dafür zu sor26 27 28 29
Politica, Winters, Politica, Politica,
1. Aufl., S. 146 f.; 3. Aufl. X X X V I I I , 33. Die P o l i t i k ' des Johannes Althusius (FN 3), S. 227 ff. 1. Aufl., S. 147; 3. Aufl. X X X V I I I , 36. 1. Aufl., S. 147 f.; 3. Aufl. X X X V I I I , 37.
Das Widerstandsrecht bei Althusius
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gen, daß der Dekalog im Staat beachtet wird. Jeder haftet für den anderen." 30 7. Wollte man ein Recht zur Abwehr von Tyrannen verneinen, so bejahte man die Unbeschränktheit der Machtbefugnisse eines Tyrannen. 31 8. Der achte Grund für das Widerstandsrecht ergebe sich aus den „Exempla sacra et profana", schreibt Althusius und zählt dann eine ganze Reihe auf. 82 I n der zweiten Auflage der „Politica" kommen als Argumente hinzu: a) Wenn die Ephoren i m Namen des Volkes das Recht haben, einen Herrscher zu wählen und einzusetzen, so haben sie ebenso das Recht, ihn abzusetzen. „Daraus ergibt sich, daß die Macht des Herrschers nicht gleichzusetzen ist mit der des Volkes, das diese seinen Ephoren übertrug, sondern ungleich geringer." 3 3 b) Durch den Herrschaftsvertrag ist dem Herrscher die Verwaltung eines fremden Gutes zum Nutzen des Auftraggebers — also des Volkes — übertragen worden. Aus der Natur des Auftragsvertrages folgt, daß der Auftraggeber berechtigt ist, dem Verwalter die Verwaltung zu entziehen, wenn dieser das Gut zum Schaden des Auftraggebers verwaltet. 3 4 Die beiden in der dritten Auflage hinzukommenden Begründungen für das Widerstandsrecht enthalten keine neuen Gesichtspunkte. Einer von ihnen dient, wie Antholz vermutet, 3 5 eher der Rechtfertigung des Emder Vorgehens von 1609, nämlich der Auflösung des Hofgerichts und seiner Überführung nach Emden. 38 Bei der Darstellung der Umstände, unter denen die Ephoren ihr Widerstandsrecht ausüben, und des Verfahrens — die i n allen drei „Politica"-Ausgaben identisch ist — fragt Althusius i m Kapitel X X X V I I I der zweiten und dritten Auflage: „Wer darf und muß dem Herrscher Widerstand leisten? Wann? I n welcher Weise? Wie lange und wie weit?" 3 7 I n der ersten Auflage hatte er noch an zweiter Stelle eine 30 31 32 33 34 35 39 37
Politica, Politica, Politica, Politica, Politica, Antholz Politica, Politica,
1. Aufl., S. 148; 3. Aufl. X X X V I I I , 38. 1. Aufl., S. 148 f.; 3. Aufl. X X X V I I I , 43. 1. Aufl., S. 149; 3. Aufl. X X X V I I I , 44. X X X V I I I , 35. X X X V I I I , 39. (FN 11), S. 144. X X X V I I I , 41. X X X V I I I , 46.
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weitere Frage gestellt: „Welchem Herrscher?" 38 Diese Frage hatte dort ihre Berechtigung, weil Althusius in der ersten Auflage noch nicht ausdrücklich definiert hatte, was er unter Tyrannis und entsprechend unter einem Tyrannen versteht. Er geht in der ersten Auflage von der überkommenen Unterscheidung in „tyrannus absque titulo" und „tyrannus exercitio" aus und stellt dann fest, daß der „tyrannus absque titulo", also der Usurpator, der sich ohne jede Rechtsgrundlage, gegen Recht und Gesetz die Herrschaft anmaßt, in Wirklichkeit gar kein Tyrann ist, sondern ein öffentlicher Feind, ein Privatmann, dem jedermann — also auch der Privatmann — Widerstand leisten kann. 39 Der wirkliche Tyrann, auf den sich die Ausführungen über das Widerstandsrecht beziehen, ist „tyrannus exercitio", also ein legitimer Herrscher, der rechtmäßig in sein A m t gelangt ist und später zum Tyrannen entartet. Dieser kurze Vergleich der drei Ausgaben der „Politica" i m Hinblick auf die Ausführungen des Autors über das Widerstandsrecht zeigen, daß die Lehre vom Widerstandsrecht bereits in der ersten Auflage von 1603 voll ausgearbeitet war und daß Althusius in den beiden späteren Auflagen keine entscheidenden Veränderungen vorgenommen, die einmal niedergeschriebene Theorie vielmehr durch allerlei „Exempla" gestützt und erläutert hat. Die politische Wirksamkeit in Emden hat Althusius nicht veranlaßt, seine Theorie der Wirklichkeit anzupassen, eher ist das Gegenteil der Fall. 4 0 Jedenfalls kann für den Komplex des Widerstandsrechts festgestellt werden, daß hier nichts wesentlich Neues hinzugekommen ist. Nun schreibt freilich Althusius im Vorwort zur zweiten Auflage seiner „Politica": „Als ich einsah, erlauchte Stände, daß mein früherer Abriß der politischen Wissenschaft bei vielen Anklang fand und daß eine neue Auflage i n Vorbereitung war, weil die frühere ausverkauft war, da, so glaubte ich, würde ich mir ein Verdienst erwerben, wenn ich eben diese verbesserte und umarbeitete. Als ich dies in den beschränkten Stunden, soweit sie mir während meiner Beschäftigungen mit dem Gemeinwesen zur Verfügung standen, gemacht hatte, da stellte ich fest, daß meine abermaligen Überlegungen ein ganz neues politisches Werk zustande gebracht hatten — von dem vorigen Abriß verschieden in Form, Methode und Fülle der Gegenstände." 41 Es wäre 38
Politica, 1. Aufl., S. 152. Politica, 1. Aufl., S. 155 ff.; 3. Aufl. X X X V I I I , 27 u. 68. 40 „Allerdings hat der Verfasser der ,Politica 4 nicht erst auf den Anschauungen und Erfahrungen i m ostfriesischen Raum sein politisches System aufgebaut. Er kam 47jährig nach Ostfriesland als ein fertiger Denker, der weniger Kenntnisse und Belehrungen als Einsatz und Bewährung suchte und die vorgefundene politische Situation seinen sozial-philosophischen Ordnungsideen anzupassen strebte." Antholz (FN 11), S. 219. 41 Die Vorrede zur zweiten Auflage der „Politica" ist datiert: „Emden, 21. Februar 1610." Sie w i r d später unverändert in die dritte Auflage übernommen, die keine eigene Vorrede erhält. 39
Das Widerstandsrecht bei Althusius
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daher wohl doch zu empfehlen, nicht nur für das Widerstandsrecht, sondern auch für die anderen Teile der „Politica" zu untersuchen, welche Veränderungen sich von der ersten zur zweiten und dritten A u f lage ergeben haben.
Achterberg 42 ist der Meinung, das in A r t i k e l 20 Absatz 4 des Grundgesetzes normierte Widerstandsrecht sei Geist von des Althusius' Geist. Dem ist heftig zu widersprechen. Der Inhalt des Artikels 20, 4 GG hat mit der Widerstandsrechts-Konzeption des Althusius gar nichts zu tun. Aus dem geregelten Widerstandsrecht der niederen Obrigkeiten, der Stände, bei Althusius ist i m Verfassungsstaat der Neuzeit die Gewaltenteilung geworden. 43 M i t dem Ausbau des parlamentarischen Rechtsstaates wurde das Widerstandsrecht aufgespalten, legalisiert und für Teilbereiche institutionalisiert. Erinnert sei an Rechtsweggarantie, Ministeranklage, Mißtrauensvotum des Parlaments, Verfassungsgerichtsbarkeit. Die institutionellen Sicherungen des Rechtsstaates gegen staatliches Unrecht — Garantie der Grund- und Menschenrechte, Gewaltenteilung, Bindung der öffentlichen Gewalt an die Verfassung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und ausgebautes Rechtsschutzsystem — sind Weiterentwicklungen des Widerstandsrechts als eines geregelten Verfahrens im Ständestaat. Wenn, dann w i r k t hier der Geist des Althusius! I m Rechtsstaat, in dem alles geregelt ist, ist ein geregeltes Widerstandsrecht überflüssig, ja eher von Übel. Widerstandsrecht kann i m Rechtsstaat nur ein unbestimmtes Notrecht des Individuums zur Verteidigung seiner natürlichen vor- und überstaatlichen Grund- und Menschenrechte sein, das sich jedem Versuch der Normierung, der Positivierung entzieht. Nach dem zweiten Weltkrieg hat man dennoch versucht, das Widerstandsrecht in den Verfassungen der Länder Hessen (Artikel 147), Bremen (Artikel 19) und Berlin (Artikel 23 Absatz 3) und 1968 auch i m Grundgesetz zu verankern. Die Gefahr des Mißbrauchs dieser Verfassungsartikel ist heute ungleich größer als ihr Nutzen, vor allem wenn versucht wird, „zivilen Ungehorsam" gegen die verfassungsmäßige Ordnung mit der Berufung auf das in der Verfassung normierte Widerstandsrecht zu rechtfertigen. Der Versuch der Normierung des Widerstandsrechts im Verfassungsstaat muß als fehlgeschlagen angesehen werden. I m Verfassungsstaat, im parlamentarischen Rechtsstaat kann das Recht auf Widerstand nur eine „ultima ratio" sein, ein Recht, das erst w i r k sam wird, wenn die verfassungsmäßige Ordnung schon korrumpiert 42
Siehe S. 512. Peter Jochen Winters, Gewaltenteilung, i n : Handlexikon zur Rechtswissenschaft, hrsg. v. A x e l Görlitz, München 1972, S. 154 ff. 43
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oder außer Kraft gesetzt ist, ein vor- und überstaatliches Recht, das aus sich selbst gilt. Keine Verfassung kann bestimmen, was geschehen soll, wenn sie selber keine Gültigkeit mehr hat. Althusius hat ein solches Notrecht als „ius naturale" gekannt, wie w i r gesehen haben. Das Grundgesetz anerkennt i n A r t i k e l 1 den vor- und überstaatlichen Charakter der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Es ist daher anzunehmen, daß es damit auch ein vor- und überstaatliches Recht auf Widerstand gegen eine die Menschenrechte verletzende und zerstörende Staatsgewalt, gegen die mit den normalen Mitteln des Rechtsstaates nichts auszurichten ist, als ein Notrecht des einzelnen anerkennt. Damit erhält das Widerstandsrecht einen höheren Geltungsgrund gegenüber der gesetzten Ordnung; seine Legitimation folgt aus einem wie auch immer verstandenen Naturrecht oder — um es christlich zu sagen — aus dem göttlichen Recht. Damit w i r d aber tatsächlich die Entscheidung über die Ausübung des Widerstandsrechts i n das Rechtsgewissen des einzelnen verlagert. Peter Graf York von Wartenburg hat vor dem Volksgerichtshof den Widerstand gegen Hitler mit dem Hinweis gerechtfertigt, das Wesentliche sei der Totalitätsanspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger unter Ausschaltung seiner religiösen und sittlichen Verpflichtungen Gott gegenüber gewesen.44 Das war Geist von des Althusius' Geist.
44 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen vor dem Volksgerichtshof am 7./8. August 1944, i n : Eugen Budde/Peter Lützsches, Der 20. Juli, Düsseldorf 1951.
ZUR L E G I T I M A T I O N DER STAATSGEWALT I N DER POLITISCHEN THEORIE DES JOHANNES ALTHUSIUS Von Thomas Würtenberger, Trier Die Frage nach der Legitimation der staatlichen Gewalt gehört zu den zentralen Themen von Staatslehre und politischer Theorie 1 . Beschäftigt man sich mit der Legitimation der staatlichen Gewalt, sucht man nach jenen politischen Leitideen, Mechanismen der politischen Willensbildung und Prinzipien der gesellschaftlichen Ordnung, die staatliche Herrschaftsausübung anerkennungswürdig erscheinen lassen. Da eine für anerkennungswürdig gehaltene politische Ordnung ein wesentliches Element politischer Stabilität darstellt, befaßt sich die Legitimitätsfrage mit jenen Prinzipien, die den Staat i m innersten zusammenhalten. Die Geschichte der Legitimitätsdiskussion 2 ist dadurch gekennzeichnet, daß es nicht eine oder einige wenige Legitimitätslehren gibt. Es gibt vielmehr eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte, die zur Begründung der Legitimation staatlicher Herrschaft angeführt werden können. Zu solchen Legitimationsquellen gehören u. a. die Sicherung von Ordnung, die Gewährleistung demokratischer Beteiligung am Prozeß politischer Willensbildung, die politische Autorität von Regierung oder Herrscher, hinreichende Möglichkeiten zu persönlicher Entfaltung und autonomer Zukunftsgestaltung, die Rationalität der politischen Ordnung, die Schaffung sozialen Ausgleichs u. a. m. Es versteht sich von selbst, daß innerhalb dieser äußerst heterogenen Legitimationsquellen mannigfache Differenzierungen möglich sind und je nach Epoche auch erfolgen. Legitimitätstheorien sind immer Kristallisationspunkte der Auseinandersetzung mit der politischen Entwicklung zum einen und mit den politischen Theorien einer Epoche zum anderen. I n Legitimitäts1 R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre (Politikwissenschaft), 9. Aufl. 1985, §§ 16, 17; N. Achterberg/W. Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, Beiheft Nr. 15 zum ARSP, 1981; P.Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, PVS-Sonderheft 7, 1976. 2 Zur historischen Dimension der Legitimitätsfrage: Th. Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973; ders., A r t . Legitimität, Legalität, i n : Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, 1982, S. 677 ff.
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theorien gehen überlieferte Werte einer politischen Kultur, aber auch Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen oder Erfahrungen aus Bürgerkriegen und revolutionären Ereignissen ein. Der Inhalt von Legitimitätstheorien w i r d stark beeinflußt durch die religiös-weltanschaulichen Grundlagen politischer Ordnung, aber auch durch die jeweiligen politischen und ökonomischen Verhältnisse und ihre kritische Reflexion. Des weiteren spiegeln Legiti'mitätstheorien auch den Zeitgeist und das politische Bewußtsein einer Epoche wider. Bei einer Diskussion von Legitimitätstheorien muß zu den unterschiedlichen Ansätzen politischer Theorien und Ideologien Stellung bezogen werden. Hier kann Legitimitätstheorie kritische Theorie sein, sie kann aber auch den Machterhaltungsinteressen der Herrschenden dienen. I n den Legitimitätstheorien werden Aussagen über jene politischen Werte und jene politischen Prinzipien entwickelt, deren Verwirklichung zur guten Ordnung des Gemeinwesens beitragen soll. Insofern lassen sich Legitimitätstheorien Maximen für eine Staatsaufgabenlehre sowie Leitideen für die Ordnung des politischen Lebens durch das Verfassungsrecht entnehmen. In diesem Zusammenhang beeinflußt das jeweilige Menschenbild entscheidend auch die Legitimitätstheorie. Ob der Mensch von Natur aus gut oder böse sei, ob der Mensch von Natur aus sozialen Bindungen unterworfen sei, oder eine autonome Zukunftsgestaltung eher menschlichem Wesen entspreche, — die Antwort auf diese Fragen hat Auswirkungen auf die politische Theorie insgesamt, aber auch auf die Legitimitätstheorie.
I . Grundlagen der Legitimitätstheorie bei Althusius
I n der politischen Theorie des Althusius w i r d die Frage nach der Legitimität der Herrschaft nicht eigenständig formuliert. Das Legitimitätsproblem w i r d eben erst in der Aufklärungsphilosophie in klarer Begrifflichkeit erörtert. Erst im 18. Jahrhundert, der Sattelzeit der modernen politischen Sprache 3, werden zunächst in Frankreich eingehender die Bedingungen eines „ordre légitime" oder einer „autorité légitime" untersucht 4 . Vor allem aber i m 19. Jahrhundert steht die Behandlung der Legitimitätsproblematik i m Zentrum des Widerstreits zwischen Fürstensouveränität und Volkssouveränität. Wenn auch das Legitimitätsproblem zur Zeit des Althusius noch nicht auf den Begriff gebracht war, mit den sich herausbildenden nationalstaatlichen Ordnungen und mit dem Entstehen einer souveränen staats Zur Sattelzeithypothese R. Koselleck, Einleitung, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 1972, S. X V ff. 4 Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft (FN 2), S. 92 ff.
Zur Legitimation der Staatsgewalt bei Althusius
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liehen Gewalt w i r d die öffentliche Gewalt mehr und mehr legitimationsbedürftig 5 . I n ersten Ansätzen entwickelt sich eine Legitimitätstheorie, wenn in den zeitgenössischen Quellen gefragt wird, wann man von einem „legitimus princeps" oder einer „monarchie légitime" sprechen könne. Bei Bodin ist der Regent i n der „monarchie légitime" an die natürlichen Gesetze gebunden, er wahrt Recht und Gerechtigkeit und verfolgt die Belange des Staates8. I n der Staatslehre von Fernandus Vasquius w i r d der „princeps legitimus" vom Volk in sein A m t berufen, regiert als Alleinherrscher, ist berechtigt, neue Gesetze zu erlassen und dem Gemeinwohl verpflichtet 7 . Bei Lipsius wird das „prineipatum legitimum" dadurch gekennzeichnet, daß die Alleinherrschaft rechtmäßig erlangt wurde und zum gemeinen Nutzen ausgeübt wird 8 . Auch Althusius verwendet das A d j e k t i v „legitimus", um die richtige Regierungsweise zu umschreiben. Bei ihm kommt allerdings nicht dem Monarchen als politischer Spitze des Staates unter bestimmten Voraussetzungen die Qualifikation „legitimus" zu, sondern der Regierung und Verwaltung. Auf das Verständnis des Althusius von einer „iusta, légitima et salutaris administratio" 9 wird noch zurückzukommen sein (IV., 1.). I m Zusammenhang mit der Verwendung von „legitimus" finden sich bei Althusius also nur ansatzweise Aussagen über die Legitimität der Herrschaft. W i l l man ein umfassenderes Bild seiner Vorstellungen über die Rechtmäßigkeit politischer Gewalt gewinnen, so ist all jenen Aussagen in seiner politischen Theorie nachzugehen, die sich mit den Bedingungen einer guten und gerechten politischen Ordnung des Gemeinwesens befassen. Um dies zu konkretisieren: Es sind jene politischen Leitideen zu würdigen, die als Grundlagen und sozusagen letzte Prinzipien politische Herrschaft zu legitimieren vermögen. Letzte Prinzipien politischer Herrschaft entnimmt Althusius der Lehre von der Volkssouveränität (II.). Durch eine korporative Ausformung des Prinzips der Volkssouveränität gelangt er zu einer Legitimierung der ständischen Ordnung als guter Ordnung des Gemeinwesens (III.). Legitimität entsteht weiterhin aus geglückter politischer Leistung, aus politischem 5
H. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, S. 16 m. w. Nw. J. Bodin, Les six livres de la République, 1576, ben. Ausgabe: Paris 1583, Neudr. 1961, S. 279 f.; Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft (FN 2), S. 79 f. 7 F. Vasquius, I l l u s t r i u m controversium l i b r i V I , 1559, ben. Ausgabe: F r a n k furt 1668, Cap. I R N 2, 6; Cap. 21 R N 8; Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft (FN 2), S. 61 f. 8 J. Lipsius, Politicorum sive civilis doctrinae l i b r i sex, 1589, ben. Ausgabe: L u g d u n i Batavorum 1650, Buch I I , c. I I I (S. 60 f.); Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft (FN 2), S. 63 f. 9 J. Althusius, Politica methodice digesta, 3. Aufl. 1614, Neudr. 1961, c. X V I I I , R N 32 (im folgenden zitiert X V I I I , 32). 8
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Thomas Würtenberger
Erfolg. Bei Althusius finden sich immer wieder Bemerkungen zu den Anforderungen an eine Legitimität der konkreten Politik (IV., 1.). I m Sinne einer institutionellen Legitimität 1 0 , also einer Lehre von der Rechtmäßigkeit politischer Institutionen, läßt sich in diesem Zusammenhang fragen: Welche politischen Leitideen führen zur Rechtfertigung des Gesetzes (IV., 2.), zu Lehren von rechtlicher und politischer Kontrolle, zu Prinzipien richtiger politischer Willensbildung sowie zu den Lehren vom Widerstandsrecht? I m folgenden sei nur einem Teil dieser Fragestellungen nachgegangen. Da anderweit ausführlich behandelt, werden die Repräsentationstheorie 11 , die Lehren vom Widerstandsrecht 12 und von der Gewaltenteilung 1 3 weitgehend ausgeklammert. Sucht man nach den Grundlagen der Legitimitätsvorstellungen des Althusius, lassen sich drei wichtige Orientierungspunkte benennen: Sein Bekenntnis zu den Lehren Calvins, sein Eintreten für eine ständische Ordnung und sein insgesamt gesehen sehr realistisches Menschenbild. Auch wenn Calvin von Althusius nur relativ wenig zitiert wird, auch wenn die Argumentationstopoi des Althusius vielfach der politischen Erfahrungswelt entnommen sind, sein politisches Vorverständnis ist stark durch die politische Theorie Calvins eingefärbt 14 . Dies gilt etwa für die Idee des Bundes, die zur Grundlage der Konsoziationslehre gemacht wird 1 5 . Oder ein anderer Bereich: Calvin fordert, der göttlichen Gerechtigkeit zu folgen, die sich sowohl i m Naturrecht als auch i m positiven Recht offenbart. Auch das menschliche Gesetz könne an der 10
Würtenberger, A r t i k e l Legitimität, Legalität (FN 2), S. 703, 728 ff. H. Hof mann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der A n t i k e bis ins 19. Jahrhundert, 1974, S. 358 ff.; ders., Das Prinzip der Repräsentation i n der politischen Theorie des Althusius, in diesem Band, S. 513 ff. 12 K. Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes, 1916, 2. Neudr. 1968, S. 198 ff.; C. Heyland, Das Widerstandsrecht des Volkes, 1950, S. 39 ff.; P.J. Winters, Die „ P o l i t i k " des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, 1963, S. 260 ff.; ders., Das Widerstandsrecht bei Althusius, i n diesem Band, S. 543 ff. 13 C. J. Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk i m Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, 1975, S. 132 ff.; N. Achterberg, Zum Problem der Gewaltenteilung bei Althusius, i n diesem Band, S. 497 ff. 14 Z u den Gemeinsamkeiten und Unterschieden i n der politischen Theorie von Calvin und Althusius: H.-H. Eßer, Althusius und Calvin, in diesem Band, S. 163 ff. 15 Das Prinzip des Bundes w i r d von Althusius teilweise politisch-pragmatisch abgehandelt ( X X V , 20 ff.: Topoi für eine kluge Bündnispolitik), teilweise finden sich auch Berührungspunkte m i t der besonders in Herborn gepflegten Föderaltheologie ( X X V I I I , 15 ff., 19, 23; vgl. G. Schrenk, Gottesreich und Bund i m älteren Protestantismus, vornehmlich bei Johannes Coccejus, 1923, Neudr. 1967, S. 69, 190; G. Menk, Die Hohe Schule Herborn i n ihrer Frühzeit (1584— 1660), 1981, S. 262 ff.; Hanns Gross, Empire and Sovereignty, Chicago 1973, S. 106). 11
Z u r Legitimation der Staatsgewalt bei Althusius
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Iustitia Gottes teilhaben1®. Von diesem Ansatz her ist es konsequent, daß Althusius dem Gesetz als Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit immer wieder Beachtung schenkt und i n der Bindung von Regierung und Verwaltung an das Gesetz ein wesentliches Element legitimer Herrschaft sieht. I n der großen politischen Streitfrage seiner Zeit, Stärkung der Macht des Fürsten oder Ausbau der ständischen Ordnung, entschied sich Althusius für eine auf der Idee des Bundes beruhende, dezentrale ständisch^ Organisation des Gemeinwesens. Das Eintreten für eine ständische Ordnung steht bei Althusius wohl zum einen i m Zusammenhang mit seinem politischen Erfahrungshorizont. Althusius lebte und wirkte an der Peripherie des Ständestaates, nicht an den Zentren politischer Macht, die das altständische System zurückzudrängen suchten. Zum anderen steht sein Eintreten für eine ständische Ordnung i m Zusammenhang mit dem Calvinismus 17 . Die ständische Ordnung war besonders geeignet, die Idee des Bundes zu entfalten. Außerdem konnte in einer ständischen Ordnung am ehesten der calvinistische Glaube politisch verteidigt werden 18 . Von Bedeutung ist, daß Althusius bei seinem Eintreten für den ständischen Staat zu einer Vertiefung der vielfach polemischen Lehren der Monarchomachen gelangt. I n Übereinstimmung mit den Schriften der Monarchomachen entwickelt er drei Komponenten, die die Legitimität politischer Herrschaft begründen und sichern: Ablehnung einer absolut regierenden, zentralen Staatsgewalt, Stärkung der Machtbefugnisse der Stände und Entfaltung der bereits seit dem Mittelalter entwickelten Lehren vom Widerstandsrecht. Nicht zuletzt besitzt auch das Menschenbild des Althusius für seine Theorie von der Rechtfertigung der Herrschaft Bedeutung. I m Zentrum seiner politischen Theorie steht der Mensch als gesellschaftliches Wesen. Seine Entfaltung und seine Existenzmöglichkeiten findet der Mensch nur in der Gesellschaft, nur durch Symbiose, nur durch Genossenschaft und Solidarität mit dem Mitmenschen. Die symbiotische Gemeinschaft, auf die jeder angewiesen ist, erfüllt die gemeinschaftlichen politischen Aufgaben, sorgt auf allen politischen Ebenen durch Vergemeinschaftung für die Grundlagen des Lebens, für Eintracht, Frömmigkeit und Gerech16 Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. 1963, S. 182 ff.; J. Baur, Gott, Recht u n d weltliches Regiment i m Werke Calvins, 1965, S. 31 ff. 17 Z u Calvins Ablehnung der absoluten Monarchie und Eintreten für eine demokratisch-aristokratische Ordnung: H. H. Eßer, Demokratie und Kirche, in: Zeitschrift für Religionspädagogik, 26. Jahrg. 1971, S. 319 ff., 327 f. m. Nw.; Baur (FN 16), S. 259 ff. 18 P. Mesnard, L'essor de la philosophie politique au X V I e siècle, 3. Aufl., Neudr. 1977, S. 615; E.Wolgast, Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts i m 16. Jahrhundert, 1980.
36 R E C H T S T H E O R I E ,
Beiheft 7
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tigkeit und lebt nach gemeinschaftlichem Recht 19 . Ziele solcher symbiotischen Gemeinschaft sind Autarkie, Sicherung der Lebensgrundlagen 20 , vertrauensvolle Kooperation, gute politische Ordnung und gutes Recht 21 . Consociatio und Symbiose sind bei Althusius die Leitideen bei der Einbettung des Individuums i n das System der ständischen Ordnung. Was die Natur des Menschen betrifft, w i r d mit Beispielen aus der Bibel und naturrechtlich argumentierend von Althusius die These belegt, daß die einen zum Herrschen, die anderen zum Gehorsam bestimmt seien. Dies sei nicht allein für die Ordnung in der Familie, sondern auch im Staat maßgebend 22 . I m Hinblick auf die Rolle des Menschen i n der Gemeinschaft w i r d von Althusius ein kontemplatives Leben abgelehnt 23 . Soll ein Leben erfüllt sein, muß sich der einzelne i n politischen und sozialen Fragen engagieren. Die aktive Gestaltung der politischen Ordnung gehört zu den wichtigen Aufgaben des Menschen, — eine Lebensmaxime, die den Lebenslauf des Althusius entscheidend prägte. Den Anlagen des Menschen stand Althusius skeptisch gegenüber 24 . Auf der Linie seiner calvinistischen 25 religiösen Überzeugung liegt es, wenn er der Natur des Menschen insofern positive Fähigkeiten zuschreibt, als das menschliche Gewissen Recht und Unrecht zu unterscheiden vermag. I m übrigen aber w i r d der Mensch als eigensüchtig und verderbt eingeschätzt 26 . Ohne staatliches Eingreifen drohe ein Verfall der Sitten und der Standards gesellschaftlichen Zusammenlebens. Vom Volk insgesamt entwickelt Althusius i n seinem Kapitel über „De natura populi" 2 7 ein negatives Bild: Das Volk ist nicht i n der Lage, sich ein vernünftiges politisches Urteil zu bilden, zieht die Verfolgung privaten Vorteils dem Streben nach Gemeinwohl vor, ist 19
I, 2 ff.; I I , 5 ff.; V I I , 10 ff.; I X , 2 ff. V I I , 3; vgl. auch Th. Hueglin, Johannes Althusius: Medieval Constitutionalist or Modern Federalist?, i n : Federalism as Grand Design, hrsg. v. D . J . Elazar, Philadelphia 1979, S. 9 ff., 25 ff. 21 V, 4; V I , 15; X X X I I , 71; F. Merzbacher, Der homo politicus symbioticus und das ius symbioticum bei Johannes Althusius, in: FS G. Küchenhoff, 1972, S. 107 ff. 22 I, 11, 12; V I I , 21; X V I I I , 16, 20; H.J. v. Eikema Hommes, Die Bedeutung der Staats- und Gesellschaftslehre des Johannes Althusius für unsere Zeit, FS U. Scupin, hrsg. v. N. Achterberg (1983), S. 211 ff., 218. 23 I, 24 ff. 24 Z u m „anthropologischen Pessimismus" des Althusius vgl. H. W. Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius i n Emden (1954), S. 222. 25 Baur (FN 16), S. 46 ff. 26 M a l i t i a hominum: V I I , 15; Wolf (FN 16), S. 200; zum „gefallenen Menschen" bei Calvin vgl. P. Jacobs, Prädestination und Verantwortlichkeit bei Calvin, 2. Aufl. 1968, S. 96 ff.; T. F. Torrance, Calvins Lehre vom Menschen, 1951, S. 94 ff., 121 ff. 27 X X I I I , 20 ff. 20
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credulus, ingratus, invidius, timidus, turbidus usw. Da das Volk politisch nicht mündig ist, verbieten sich Bindungen von Ständen oder Ephoren an Weisungen seitens des „populus". Stände und Ephoren haben ein Mandat zu eigenständiger politischer Aktivität. Es bedarf einer politischen Elite, die das gemeine Beste festzustellen und zu verwirklichen i n der Lage ist. Eine gute Regierung ist legitimiert, mit all ihr zur Verfügung stehenden Autorität gegen den Willen des Volkes das gemeine Beste durchzusetzen 28 . I I . L e g i t i m i t ä t und Souveränität
Die Legitimitätsfrage ist auf das engste mit dem Souveränitätsproblem verknüpft. Denn mit der Legitimitätsfrage ist die Frage nach den Souveränitätsbedingungen, nach der Rechtfertigung der einseitig getroffenen und allseitig verbindlichen politischen Entscheidungen gestellt 29 . I n den Staatstheorien des Absolutismus suchte man auf die verschiedenste Weise die Legitimität unbeschränkter Fürstengewalt zu begründen. A l l jene staatstheoretischen Werke, die von der Idee absoluter Fürstenherrschaft geprägt waren, entwickelten Kriterien, anhand derer sich die legitime Herrschaft des Souveräns bestimmen ließ. Solche Kriterien sind u. a. Verfolgung allgemeiner Wohlfahrt, Achtung der natürlichen Rechte der Untertanen, Wahrung von Recht und Gerechtigkeit oder Anerkennung der ethischen Grundsätze christlicher Moralphilosophie 30 . Sicherung legitimer Herrschaft i m absolutistischen Staat war mangels anderweitiger Kontrollinstanzen ein Problem der ethisch-moralischen Bindung des Fürsten. Die Literaturgattung der Fürstenspiegel gibt beredten Aufschluß darüber, wie durch Tugendlehren, vor allem aber durch Erziehung des Thronfolgers, eine ethisch verantwortliche und damit legitime Herrschaft garantiert werden sollte. Althusius lehnt mit Nachdruck all jene Begründungs versuche ab, die auf eine Rechtfertigung souveräner Fürstenherrschaft abzielen. Ubernimmt er sonst manche Thesen aus Bodins „Six livres de la Republique", Bodins Lehre von der souveränen Fürstengewalt stellt er das „ius maiestatis", die „potestas imperandi universalis" des Volkes entgegen 31 . Das Volk als Gemeinde ist Inhaber des Souveränitätsrechts. Diese 28 M i t Recht weist Gross (FN 15, S. 109) darauf hin, daß i n der Staatstheorie des Althusius weniger eine demokratische, als vielmehr eine aristokratische Grundtendenz vorherrschend ist. 29 M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, S. 19 ff. 30 Einzelheiten bei Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft (FN 2), S. 63 ff., 76 ff. 31 Vgl. R. Hoke, Die Reichsstaatsrechtslehre des Johannes Limnaeus, 1968, S. 65 ff.; R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 5. Aufl. 1985, S. 105 ff.
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These w i r d zum einen naturrechtlich legitimiert: I m Naturzustand sind alle Menschen gleich; nur auf Grund einer Willensentscheidung, d. h. eines Vertrages, können Regierungsfunktionen übertragen werden 82 . Zum anderen begründet Althusius aus der Bibel, daß das Volk zur Einsetzung der Herrschaft berufen sei. Durch Vertrag w i r d vom korporativ gegliederten Volk die politische Gewalt auf die Obrigkeit übertragen. Althusius entwickelt das Prinzip, daß derjenige, der politische Gewalt überträgt, der jeweiligen Obrigkeit überlegen sei 33 . Die politische Gewalt der Obrigkeit stamme eben vom Einsetzenden. Die politische Gewalt läßt sich nicht als Eigentum der Obrigkeit ansehen, sondern w i r d von ihr nur verwaltet und ausgeübt 34 . Zwischen Gemeinschaft und Obrigkeit besteht lediglich ein „Mandatsvertrag"; die Gemeinschaft bleibt der Obrigkeit übergeordnet. Statt für einen „princeps legibus solutus" entscheidet sich Althusius für eine zentrale politische Gewalt, die durch das Recht gebunden ist. Seiner Ansicht nach w i r d die „potestas imperandi universalis" durch das Reichsrecht umrissen. Durch das Reichsrecht w i r d die oberste Gewalt i m Staat rechtlich verfaßt. Zielsetzung des Reichsrechts ist, die wesentlichen Staatsaufgaben zu erfüllen und' sich an der Idee der Gerechtigkeit zu orientieren 35 . Im Sinne der Lehre von der Volkssouveränität w i r d das Reichsrecht vom Volk bzw. von den Gliedern des Reiches normiert 3 6 . Die souveräne Gewalt, durch Recht die politischen Verhältnisse zu ordnen, w i r d damit der politischen Gemeinschaft zugewiesen. Nicht nur die Rechtsetzung, auch die sonstigen wichtigen, den Staat insgesamt betreffenden politischen Entscheidungen weist Althusius dem die Gesamtheit repräsentierenden Reichstag zu 37 . Die Gründe, die Althusius dazu veranlassen, alles Wesentliche der Vertretung der Gemeinschaft, nicht der politischen Spitze zur Entscheidung zuzuweisen, sind auch heute noch von Gewicht : — Was alle angeht, muß auch von allen verhandelt werden — was Leistungen und Opfer der Gesamtheit erfordert, Zustimmung aller erfolgen 32
muß
mit
X V I I I , 18 ff. V I I I , 55. 34 I X , 4, 23; X V I I I , 104; X I X , 6. 35 I X , 15, 21. 3β I X , 16. — Zur Frage, inwiefern die Vertreter der „bürgerlichen Freiheit" i n den Städten ihre Position m i t der Politica des Althusius begründeten: O. Brunner, Souveränitätsproblem und Sozialstruktur i n den deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit, in: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1968, S. 312 ff. 37 X V I I , 55 ff.; X X X I I I , 2 ff. 33
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— eine Teilhabe der Gesamtheit am Entscheidungsprozeß erleichtert die Realisierung politischer Programme — ein sachverständiges Gremium kann besser entscheiden als ein einzelner — eine kritische öffentliche Diskussion in einer Vertretungskörperschaft kann Machtmißbrauch der Regierung verhindern — durch eine Vertretungskörperschaft w i r d dem Volk ein Stück Freiheit bewahrt 3 8 . Auf der Ebene der Territorien bzw. Provinzen sieht Althusius die Herrschaftsgewalt — entsprechend der staatsrechtlichen Wirklichkeit seiner Zeit — i n vielfältiger Weise durch die übergeordnete Reichsgewalt beschränkt 30 . Die Territorialherren sind dem Kaiser rechenschaftspflichtig 40 . Die politische Wirklichkeit zwang ihn zu dieser Inkonsequenz bei der Verfolgung des Prinzips, die jeweilige Herrschaftsgewalt sei gegenüber der Gemeinschaft, der sie vorsteht, verantwortlich. Althusius überspielt freilich diese Inkonsequenz, indem er den Ständen gegenüber der verbleibenden Herrschaftsgewalt des Landesherrn 41 manche Mitspracherechte einräumt. I m Prinzip haben der Landesherr und seine Verwaltung umfassende Befugnisse, die durch Verträge und Rechtsordnung eingegrenzt sind. I n den politisch wichtigen Angelegenheiten sind die Stände zur M i t w i r k u n g berufen. Hierzu zählen etwa die Gesetzgebung, Kriegserklärung und Friedensschluß, Einberufen der Ständeversammlung oder Auferlegung von Steuern 42 . Selbstverständlich lehnt Althusius jene theokratische Lehre von der Rechtfertigung der Staatsgewalt ab, die dem absoluten Regiment manches Landesherrn zur Legitimation diente: Die Staatsgewalt stamme von Gott, die Herrscher seien Stellvertreter Gottes auf Erden. Nach Althusius w i r d zwar die Staatsgewalt auch von Gott eingesetzt', aber nur mittelbar. Denn unmittelbar vom Volk w i r d die Staatsgewalt auf den Herrscher übertragen. Nur vermittelt durch das Volk ist bei A l t husius Gott Urheber der Staatsgewalt 43 . Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, daß sich nicht allein der Herrscher, sondern auch die Stände und Ephoren mittelbar auf einen Auftrag Gottes bei der recht38
X V I I , 60; X X X I I I , 20. J. Althusius, Dicaeologicae l i b r i très, 1. Buch, X X X I I I , 7; Hueglin (FN 20), S. 32, 36; F. Carney, The Associational Theory of Johannes Althusius, Chicago 1960, S. 100 f f.; ders., The Politics of Johannes Althusius, 1964, S. X X I I I . 40 V I I I , 91. 41 Zu den j u r a majestatis et principis des Landesherren i m Territorialstaat: V I I I , 53. 42 V I I I , 5; 50. 43 X I X , 51 ff., 67 ff., 103 ff. 39
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mäßigen Ausübung ihres Amtes berufen können 44 . Kontrolle des Herrschers und ggf. Absetzung des Herrschers bei Machtmißbrauch durch Stände und Ephoren gehören zur gottgewollten Ordnung. Althusius distanziert sich also von den Anhängern der Designationstheorie, nach der die Staatsgewalt unmittelbar von Gott auf den Regenten übertragen w i r d und es allein Aufgabe des „populus" ist, den Träger der Staatsgewalt zu bezeichnen („designieren"). Konsequenz dieser von Althusius abgelehnten Designationstheorie ist, daß der Regent auf Grund göttlichen Rechts weitgehend unbeschränkt herrschen kann und Widerstand i m Prinzip illegitim ist 45 . In der ständischen politischen Ordnung des Althusius werden zwar die politisch wichtigen Fragen i n den und unter den politisch tonangebenden Gruppen ausgehandelt. Seine Lehre von der ständestaatlichen Ordnung beseitigt aber nicht die Distanz von staatlichem Befehl auf der einen Seite und Gehorsamspflicht des einzelnen auf der anderen Seite. Gegen den Überstimmten oder Uneinsichtigen, der eine gesetzliche Regelung ablehnt, vermag sich die politische Gewalt mit Nachdruck durchzusetzen 48 . Vor allem geht Althusius von dem naturrechtlichen Grundsatz aus, daß die politische Ordnung durch Befehl und Zwang zusammengehalten wird, also von einer Distanz von Befehlenden und Gehorchenden 47 . Zur Rechtfertigung der Befehlsgewalt bemerkt Althusius, daß nur Herrschaft und Befehl staatliche Einheit und Eintracht wahren könnten. Insbesondere kommt der befehlenden Gewalt eine wichtige ordnungsstiftende Funktion zu. Die befehlende Gewalt muß sich weiterhin an der Förderung des gemeinen Wohls ausrichten 48 . Religiöse Unterweisung, Verbesserung der Sitten, die Versorgung der Untergebenen mit dem zum Leben Erforderlichen sowie der Schutz gegen Ungerechtigkeit und Gewalt legitimieren die Gewalt des Befehlenden 49 . Von A l t husius ist damit erkannt, daß der Staat einer starken Regierung und Exekutive bedarf, sollen die Staatsaufgaben erfüllt werden. Er sucht nach einem Kompromiß zwischen notwendiger Autonomie der Exekutive und Mitbestimmung der politisch tonangebenden Kräfte. Legitimität erwächst teilweise aus souveräner Gemeinwohlverwirklichung der politischen Spitze, teilweise durch politische Einung. 44 X I X , 68 f.: „Utrique, rex et ephori a Deo constituuntur, et a populo. A Deo mediate, a populo immediate". 45 Z u den Unterschieden zwischen der von Althusius vertretenen A m t s übertragungstheorie u n d der theokratischen Designationstheorie vgl. Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft (FN 2), S. 46 ff. 4β X X V , 1 ff. 47 I, 11, 13, 34; I I , 40; V, 25, 26. 48 I, 13, 16, 35. 49 I, 14 ff.
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I I I . Die Legitimität der ständischen politischen Ordnung als guter Verfassung des Gemeinwesens
Die Frage nach der Legitimität konkreter politischer Ordnung beantwortet Althusius weniger unter Rückgriff auf naturrechtliche Lehren 50 . Er entwickelt seine Theorie von der guten politischen Verfassung vielmehr aus der ihn umgebenden ständischen politischen Ordnung. Es geht ihm i n seiner „Politica" um die tragenden Prinzipien der ständischen Ordnung seiner Zeit, vor allem um eine Systematisierung ihrer Erscheinungsformen und ihre Rechtfertigung aus der politischen Notwendigkeit heraus. Bei der Beschreibung der Prinzipien einer guten politischen Ordnung hält sich Althusius immer wieder eng an die staatsrechtliche Wirklichkeit 5 1 . Die zeitgenössischen staatsrechtlichen Verhältnisse bilden die Grundlage für seine Theorie von der Politik, d. h. für seine Staatslehre des ständischen Staates. Die von Althusius beschriebene ständische Gliederung des Gemeinwesens braucht an dieser Stelle nicht i n den Einzelheiten nachgezeichnet werden 52 . I n unserem Zusammenhang scheint von Bedeutung: Der Staat entsteht durch eine fortschreitende „consociatio". Ausgangspunkt sind zunächst die „consociationes privatae et simplices", vor allem Ehe und Familie. Auf einer weiteren Stufe bilden sich die „consociationes collegarum", wie etwa von Zünften, Gilden oder Kirchengemeinden. Hieraus wiederum entstehen die größeren sozialen Gruppen, z. B. die Gemeinden oder Regionen, und als umfassende Einheit der Staat. Auf der Ebene der größeren sozialen Gruppen w i r d die ständische Ordnung von Klerus, Adel und Vertretern des in Verbänden organisierten Volkes, nämlich Bürgergemeinden und Bauern 53 , getragen. Leitprinzip der sozialen Ordnung und ständischen Schichtung ist die Idee des Bundes, der die „symbiotici" zur Gemeinschaft eint. M i t der Idee des Bundes trägt Althusius dem Bedürfnis des einzelnen nach Solidarität und 50 Dies gegen O. von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 6. Aufl. 1968, S. 99 und passim, der zu stark auf abstrakte naturrechtliche Vertragskonstruktionen abstellt (vgl. weiter van Eikema Hommes (FN 22), S. 211 ff.). 51 Κ . Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, 1916, S. 212 ; C. J. Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk i m Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, 1975, S. 120 ff.; P. Mesnard, S. 601; F. H. Schubert, Die Deutschen Reichstage i n der Staatslehre der frühen Neuzeit, 1966, S. 269 ff., 405 ff. — Die „zeitgenössischen und historischen Tatsachen des staatlichen Lebens" liegen nicht „an der Peripherie seines Blickfeldes", wie E. Reibstein (Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, 1955, S. 84) zu Unrecht behauptet, sondern stehen i m Zentrum einer pragmatischen politischen Argumentation. 52 53
Hierzu von Gierke (FN 50), S. 21 ff. IV, 30; V I I I , 2 ff., 40 ff.
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Problembewältigung i n gemeinschaftlicher Verbundenheit Rechnung. Die Idee des Bundes ist nicht allein Leitmotiv der Rechtsanthropologie des Althusius, sondern auch ein Prinzip richtiger politischer Ordnung. I m politischen Bereich fordert die Idee des Bundes u. a. gemeinsame Konflikt be wältigung, Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen und der Gemeinschaft sowie Mechanismen der Konsensbildung. Die politischen Befugnisse der einzelnen Korporationen werden durch zwei Gesichtspunkte geprägt. Zum einen spricht Althusius den Korporationen das Recht zu, die Bereiche gemeinsamer Gestaltung und A k t i v i t ä t eigenständig zu bestimmen 54 . Durch solches Selbstbestimmungsrecht gelangt er zu einem System der ständischen wie auch politischen 55 Dezentralisation. Ein solches System der ständischen Dezentralisation garantiert, daß sich auf allen Ebenen der staatlichen Organisation eine eigenverantwortliche politische Gestaltung entfalten kann 5 6 . Zum anderen w i r d von Althusius der Gesichtspunkt der politischen Einung, des „pactum", immer wieder herausgestellt. Sein Leitmotiv ist: „Si . . . imperantium et obtemperantium idem est consensus et voluntas, felix et beata vita eorum redditur" 5 7 . Konsens und Pakt sind Wirkungsursache gesellschaftlicher Zusammenschlüsse58. Dies darum, weil der Mensch von Natur aus auf ein gemeinschaftliches Zusammenleben angewiesen sei 59 . Nicht nur die einzelnen Verbände, auch der Staat insgesamt beruht auf dem Prinzip des Konsens 80 . Konsens und gemeinsames Wollen halten die politische Organisation der Verbände aller politischen Ebenen i m innersten zusammen. Die institutionellen Merkmale einer politischen Einung, eines Bundes, werden mit Blick auf die politische Wirklichkeit entwickelt 81 . Die Übertragung politischer Macht 54
Zur A u t a x i a : V I , 51. So geht das Reichsrecht, das sich m i t der politischen Ordnung und der Sicherung der Lebensgrundlagen auf Reichsebene befaßt, dem Recht auf der Ebene der Provinzen vor (IX, 12). 58 Z u weitgehend sieht Hueglin (FN 20, S. 36) i n X V I I I , 31 eine Formulierung des Subsidiaritätsprinzips. 57 I, 12; I X , 7. 58 Z u m „kontraktologischen System" des Althusius vgl. A. Voigt, Johannes Althusius i n Herborn und seine Politica (1603), in: 1050 Jahre Herborn, V o r träge zur Geschichte Herborns, 1965, S. 40 ff.; Menk (FN 15), S. 263; zur mutua pactio zwischen Fürst u n d Ständen vgl. G. Oestreich, Vom Herrschaf tsvertrag zur Verfassungsurkunde, i n : ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit, 1980, S. 229 ff. m. Nw. 59 I, 27 ff., 33. β0 I X , 3. 61 Z u den institutionellen Merkmalen des Bundes, wie obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit, gemeinsamer Rat m i t Mehrheitsbeschluß, exekutive Verfahrensformen, System der Steuereinziehung, Befristung vgl. Koselleck, i n : Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 55
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bedarf des Konsenses der Körperschaft 82 . Konsens und gemeinsames Wollen werden durch die Beachtung des Majoritätsprinzips gesichert, das der politischen Willensbildung zugrunde zu legen ist 83 . Konsens ist zunächst innerhalb von einzelnen Verbandsorganisationen anzustreben. I n Fragen gemeinsamen Interesses muß außerdem zwischen Verbänden Konsens hergestellt werden. Solche politische Einung durch Aushandeln von Kompromissen zwischen verschiedenen Gruppen ist Strukturelement einer ständischen Ordnung. I n diesem Sinne beschreibt A l t husius ausführlich, wie in Ständeversammlungen Einigkeit erreicht wird 8 4 , oder wie die Wahl des Monarchen vom Moment der Einung und vertraglichen Bindung geprägt ist 85 . Rechtfertigt Althusius politische Autorität aus einem Vertragsverhältnis, bzw. aus Prozessen der Konsensbildung, so sind Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag nicht lediglich Fiktionen, denen man regulative Grundsätze entnehmen kann oder deren Annahme die Idee der Vernunft nahe legt. Bei Althusius ist der Vertrag als politisches Prinzip der geschichtlichen Wirklichkeit entnommen und gewinnt i m System des Ständestaates politische Realität 88 . Neben dem Prinzip politischer Partizipation entwickelt Althusius eine weitere Leitidee, die die ständische Ordnung rechtfertigt: Das Prinzip der Entfaltung korporativer Libertät 8 7 . Althusius interessiert sich nicht für eine Entfaltung individueller Freiheit des einzelnen. Wenn er die Gleichheitsfrage behandelt, spricht er sich für eine Gleichbehandlung entsprechend dem jeweiligen Status des Bürgers aus 88 ; die Verwirklichung von sozialer Gleichheit führt seiner Ansicht nach zur Zerstörung einer gerechten symbiotischen Gemeinschaft. Der einzelne ist eingebunden in die jeweiligen Korporationen, denen politische Autonomie und Autarkie zukommt 8 9 . I n der Korporation kann der einzelne sich entfalten und verantwortlich an der politischen Gestaltung mitwirken.
1972, S. 582 ff., 598; G.Droege, Die Bedeutung des bündischen Elements, in: Jeserich/Pohl/von U n r u h (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. I, 1983, S. 188 ff. 82 V, 24ff.; X V I I , 60; X V I I I , 59 (Auswahl und Einsetzung der Ephoren m i t Zustimmung des Volkes). 83 IV, 18 ff.; V, 62 ff.; X V I I I , 62; bei Abstimmungen i m Presbyterium gilt das Mehrheitsprinzip nicht: V I I I , 28. 64 V I I I , 67, 70. 65 X I X , 23 ff., 29 ff. ββ Ε. Feuerherdt, Gesellschaftsvertrag u n d Naturrecht i n der Staatslehre des Johannes Althusius, Kölner iur. Diss., 1962, S. 110 ff.; H. U. Scupin, U n trennbarkeit von Staat und Gesellschaft in der Frühneuzeit, i n : FS H. Schelsky, hrsg. v. Kaulbach/Krawietz, 1978, S. 637 ff., 647 ff. 87 Hueglin (FN 20), S. 22, 24. 88 I, 37; V I , 47; Ο. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, 1980, S. 118. 89 Wolf (FN 16), S. 189; Mesnard (FN 18), S. 586.
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Mit gutem Grund stellt u. a. Friedrich 7 0 manche Gemeinsamkeiten zwischen der ständestaatlichen Ordnung des Althusius und dem modernen pluralistischen Staat heraus. Es läßt sich z. B. auf das Bedürfnis nach verbandsmäßiger Interessenartikulation in einem demokratischen politischen System, auf die Einbeziehung von Verbänden i n den Prozeß politischer Willensbildung oder auf vielfältige Formen der berufsständischen Selbstverwaltung hinweisen. I V . Legitimität durch rechtlich gebundene Gemeinwohlverwirklichung
Legitimität der politischen Herrschaft w i r d nicht allein durch eine gute rechtliche Verfassung des Gemeinwesens bewirkt. Legitimität entsteht auch durch politische Leistung, das heißt durch eine gut geordnete Verwaltungstätigkeit. Als Maximen einer solchen Verwaltungsarbeit finden sich von Althusius immer wieder herausgestellt: „Justa, légitima et salutaris administratio haec dicitur, quae quaerit et procurât salutaria et commoda singulorum et universorum membrorum regni . . . ab injuriis et v i illata defendit atque omnes administrationis suae actiones secundum leges instituit" 7 1 . Oder i n anderer Formulierung: „Officium veri et legitimi magistratus est, curare salutem et bonum regni publicum, atque Rempublicam administrare secundum leges honestas et justas, .. . legi et justitiae se subjicere .. ." 72 . 1. Legitimität durch Gemeinwohlverwirklichung
Wie von vielen anderen Staatstheoretikern w i r d auch von Althusius darauf abgestellt, daß Gemeinwohlverwirklichung vorrangige Staatsaufgabe sei. Bei Althusius bleibt diese Forderung nach Gemeinwohlverwirklichung nicht lediglich Postulat. Bei ihm finden sich vielmehr eine Reihe wohlfahrtsstaatlicher 73 Zielvorstellungen, die eine rechtmäßige Verwaltung und Regierung einlösen müssen. I n anthropologischer Perspektive bedeutet Gemeinwohlverwirklichung, daß das Prinzip der Solidarität und „iustitia politica" in der symbiotischen Gesellschaft verwirklicht werden. Verwirklichung politischer Gerechtigkeit erfordert, sich von der „sancta Charitas" leiten 70
Friedrich (FN 13), S. 121; Hueglin (FN 20), S. 30 f.; Mesnard (FN 18). S. 616. 71 X V I I I , 32. 72 X X X V I I I , 131. 73 Z u r wohlfahrtsstaatlichen Komponente i n der politischen Theorie des Althusius: Ch. L i n k , Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1979, S. 137 f.
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zu lassen74, auf die Rechte und Interessen des anderen Rücksicht zu nehmen 75 . Fürsorge für den nächsten ist eine wichtige politische Aufgabe. Des weiteren muß zur Gemeinwohlverwirklichung in Verwaltung und Regierung die „prudentia politica" zur Durchsetzung gelangen. Dies verlangt, daß umfassende Informationen vor politischen Entscheidungen einzuholen sind 78 , daß eine gute Wahl der „consiliarii magistratus" zu treffen ist 77 , daß man sich über die Eigenschaften des Volkes sorgfältig Klarheit verschafft 78 , daß je nach Zeitumständen und je nach Charakter und Sitten des Volkes Regierung und Verwaltung in unterschiedlicher Weise agieren müssen. Für den Bereich der Innenpolitik entwickelt Althusius unter dem Stichwort „Studium concordiae conservandae" 79 Maßnahmen, die die Sicherheit des Staates gewährleisten. Jeder revolutionären, separatistischen oder ketzerischen Bewegung ist sofort entgegenzutreten. M i t Blick auf die wirtschaftlichen Gestaltungsprobleme seiner Zeit entwickelt er ein Programm, wie man durch Maßnahmen der Handels-, Wirtschafts-, Wettbewerbs-, Steuerpolitik 8 0 etc. den Zustand des Gemeinwesens verbessern könne. So ist es etwa Aufgabe der Verwaltung, den Handel mit den zum Leben notwendigen Dingen zu überwachen 81 , geeignete Handelsplätze zu garantieren oder den Export von zum Leben erforderlichen Waren zu verhindern. Der Import von Waren, deren Benutzung schädlich ist oder die Sitten untergräbt, soll unterbunden werden. Monopolstellungen im Handel ist von der Verwaltung entgegenzuwirken 82 , weil eine Verteuerung der Waren die Folge ist. Des weiteren hat sich die Verwaltung darum zu bemühen, daß die zum Leben notwendigen Dinge angebaut und produziert werden, daß nicht Rohstoffe exportiert, sondern daß die verarbeitete Ware ausgeführt wird, damit der Wohlstand des Landes sich erhöht 88 . Diese Grundsätze einer guten Handelspolitik sind insofern von erheblicher Bedeutung, als seit dem 16. Jahrhundert das Volumen des mitteleuro74
X V I I I , 42. V I I , 10 ff. 76 X X I , 6 ff. 77 X X V I I ; V I I , 40: Über die Vergabe von Ä m t e r n soll nicht abgestimmt werden; Ä m t e r sollen durch kluge Männer vergeben werden. 78 X X I I I , 1 ff. 79 XXXI. 80 X I , 25 ff.; zu den entsprechenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen und Projekten seiner Zeit vgl. F. Blaich, Die Wirtschaftspolitik des Reichstags i m Heiligen Römischen Reich, 1970, S. 99 ff. (Förderung der Ausfuhr von Fertigwaren), 107 f. (Ausfuhrverbote), 135 ff. (Monopolverbot). 81 X I , 5 ff.; X X X I I , 1 ff. 82 X X X I I , 20 m i t Schilderung der verschiedenen Formen von Monopolen; zum politischen Hintergrund dieser Forderung: F. Blaich, Die Reichsmonopolgesetzgebung i m Zeitalter Karls V., 1967. 83 X X X I I , 70. 73
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päischen Handels stark zugenommen hatte und florierender Handel Voraussetzung allgemeinen Wohlstandes war 8 4 . Bereits Franz Mayer 8 5 hat darauf aufmerksam gemacht, daß mit Althusius „ein staats- und verwaltungsphilosophisches Denken (beginne), das der Entwicklung, die w i r als Kameralismus bezeichnen, den Weg bahnt". Verwaltung als das Band, das den Staat zusammenhält, und Gemeinwohlverwirklichung als Ziel der Verwaltungsarbeit sind zentrale Topoi kameralistischer Systeme, die bereits von Althusius formuliert werden. Überblickt man des weiteren die Vorschläge, die A l t husius für eine gute Verwaltung des Staates aufstellt, so kann man ihn nicht allein als Vordenker kameralistischer Maximen betrachten, sondern sogar in den Umkreis der frühen Kameralisten 86 stellen 87 . Ebenso wie auch andere Staatstheoretiker seiner Epoche — etwa Bodin 8 8 — bezieht Althusius kameralistische Fragestellungen in seine politische Theorie ein. Ein hohes theoretisches Niveau im kameralistischen Teil seiner Politica ist von i h m weder angestrebt, noch zu erwarten. Ohne größere Systematik und vielfach auch mit bemerkenswert wenigen Zitaten entwickelt er einzelne pragmatische Maximen und Ratschläge, die der Förderung des Gemeinwohls dienlich sind 89 . 2. Legitimität durch Wahrung von Recht und Gesetz
Ist bei Althusius Förderung des Gemeinwohls auf der einen Seite wichtiger Staatszweck, so w i r d der politischen Gewalt auf der anderen Seite nicht freie Hand bei der Gemeinwohlverwirklichung gelassen, sondern an die Wahrung von Recht und Gesetz gebunden. Bei Althusius kommt „eine spezifisch calvinistische Hochachtung des Gesetzes" zum Ausdruck 90 . Er fordert immer wieder eine strikte Bindung von Regie84 H. Pohl, Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung vom Spätmittelalter bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Jeserich/Pohl/von Unruh (FN 61), S. 239 ff. 85 F. Mayer, Der Weg der deutschen Verwaltung vom Kameralismus zum Etatismus des frühen Verfassungsstaates, i n : Die Verwaltung, 2. Jahrg. 1969, S. 129 ff., 133; vgl. weiter Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl. 1980, S. 289. 86 Hierzu von Unruh, in: Jeserich/Pohl/von U n r u h (FN 61), S. 409 ff. 87 So finden sich z. B. mancherlei Übereinstimmungen m i t J. Oldendorps Ratsmannenspiegel (1530, hrsg. v. E. Wolf, 1948). Des weiteren sind P. W. von Hörnigk's „Neun landes-oeconomische Haupt-Reguln" (Österreich über alles, wann es nur w i l l , 1684, hrsg. v. A. Skalweit, 1948, S. 27 ff.) bereits der Sache nach i n Althusius' Politica abgehandelt. 88 E. Dittrich, Die deutschen und österreichischen Kameralisten, 1984, S. 38 ff. 89 Die großen kameralistischen Systeme finden sich erst später (etwa in V. L. von S e c k e n d o r f s Teutscher Fürstenstaat, 1656). 90 Wolf (FN 16), S. 194.
Zur Legitimation der Staatsgewalt bei Althusius
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rung und Verwaltung an das Gesetz 91 . Das Gesetz setzt die Grenzen für Politik und Verwaltung. Jede Amtsgewalt ist durch Gesetze beschränkt 92 . Das Gesetz selbst erscheint bei Althusius i m Prinzip als eine unverrückbare Regelung. Die Vorstellung, das Gesetz als Instrument sozialer und ökonomischer Gestaltung einzusetzen, ist Althusius fremd. Er hängt noch jenem älteren Verständnis von Gesetz an, nach dem die Obrigkeit nicht als „conditor legum", sondern als „custos legum" angesehen wird 9 3 . Entsprechend seiner Souveränitätslehre anerkennt Althusius keine imperatorische Gesetzgebungsgewalt, sondern läßt das Gesetz durch politische Einung, durch „contractus" zustande kommen 94 . Auch hier orientiert sich Althusius an der politischen Wirklichkeit seiner Zeit: Das Gesetz geht hervor aus einem „Vereinbarungsprozeß zwischen Herrscher und politisch relevanten Gesetzesadressaten" 95, auf der Ebene des Reiches durch eine kaiserlich-ständische Gesetzgebungskooperation. Das Gesetz entsteht durch Vertrag, — eine Vorstellung, die von der frühmodernen Rechts- und Staatslehre 98 oder auch von der Reichsstaatslehre des 17. Jahrhunderts verschiedentlich herausgestellt wurde 9 7 . Gesetzgebung durch ständische politische Einung, aus der eine A r t vertraglicher Bindung erwächst, w i r d in aller Regel als Legitimationsbasis gesetzlicher Normierung angesehen. Bei Althusius verbürgt die ständische Gesetzgebungsbeteiligung freilich nicht das richtige Gesetz. Die Rechtsetzungsgewalt kann sich nur unter bestimmten Voraussetzungen von den bestehenden Gesetzen lösen. Zunächst findet sich bei i h m der ganz pragmatische Gedanke, daß Neuerungen nur langsam eingeführt werden sollten und auch nur unter der Voraussetzung, daß eine echte politische Notwendigkeit vorliege 98 . Rasche politische Änderungen sollen für das Gemeinwesen schädlich sein. Eng verknüpft mit diesem Anliegen, politische Kontinuität zu wahren, ist eine rechtliche Bindung der Rechtsetzungsgewalt. Aus der Idee der Volkssouveränität folgert Althusius nicht das unbeschränkte Recht zu autonomer Gesetzgebung 99 . Die Rechtsetzungsgewalt kann sich 91
X V I I I , 35. X V I I I , 106. 93 R. Grawert, A r t . Gesetz, i n : Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, hrsg. v. Brunner/Conze/Koselleck, 1975, S. 863 ff., 872; Hofmann (FN 5), S. 25 f. 94 X, 3; X I X , 29 ff. 95 Grawert (FN 93), S. 875, 877; Maier (FN 85), S. 56. 98 D. Wyduckel , Princeps legibus solutus, 1979, S. 82 ff. m. Nw. 97 Vgl. z. B. Hoke (FN 31), S. 179 ff. zu Limnaeus. 98 X X V , 8 ff . 99 E. Cassirer, Natur und Völkerrecht i m Lichte der Geschichte und der systematischen Philosophie, 1919, S. 87. 92
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nicht entfalten, soweit bereits gerechte Gesetze vorhanden sind. Ähnlich wie bei Calvin 1 0 0 findet sich auch bei Althusius der Gedanke, daß die Gerechtigkeit im Gesetz zum Ausdruck komme 101 . Soweit ein Gesetz dem Maßstab der aequitas, der natürlichen oder göttlichen Gerechtigkeit entspricht, ist es von der Gemeinschaft als verpflichtend anzuerkennen 102 . Die „richtigen" Gesetze orientieren sich an obersten Prinzipien des Naturrechts 103 , die einerseits ihren Ursprung in Gott finden, die andererseits als Ausdruck der natürlichen Billigkeit für die menschliche conscientia erfahrbar sind. I m Hinblick auf konkrete gesellschaftliche Probleme entfalten die Gesetze die obersten Prinzipien des Rechts, wobei sich der Inhalt der Gesetze in der Zeit wandeln kann. Das „richtige" Recht entspricht zum einen dem Naturrecht, zum anderen den besonderen historischen und gesellschaftlichen Umständen des jeweiligen Staates 104 . I m Dekalog sieht Althusius jene unverrückbaren Prinzipien normiert, an denen sich die rechtliche und politische Ordnung der Gemeinschaft ausrichten muß 1 0 3 . Gesetze, die gegen den Dekalog oder die Ordnung der Natur verstoßen, sind nichtig10®. Nach Althusius lassen sich der zweiten Tafel des Dekaloges Grundsätze für eine gerechte Lebensführung entnehmen, vor allem, wie der einzelne sich dem Nächsten gegenüber zu verhalten hat 1 0 7 . Ziel der Gesetze ist es, im zwischenmenschlichen Bereich Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Familie und Eigentum zu schützen. Solchen Güterschutz sieht Althusius nicht i n individualistischer, sondern in sozialer Perspektive 108 . Das Gesetz soll die legitimen Rechte des Mitmenschen schützen, soll in vernünftiger Weise die Sphären der einzelnen abgrenzen. Die Gesetzgebungslehre des Althusius ist also nicht von der Idee einer souveränen staatlichen Rechtsetzungsgewalt geprägt. Althusius hängt vielmehr der Vorstellung vom „guten alten Recht" an, in dem sich Prinzipien des Naturrechts bereits entfaltet haben und das es i m Prinzip zu wahren gilt 1 0 9 . 100
J. Bohatec, Calvin und das Recht, 1934, S. 104 ff. X, 3 f. 102 I X , 21; diese These findet sich bereits bei Calvin vertreten (vgl. Jacobs [FN 26], S. 101). 103 Zur Naturrechtsvorstellung des Althusius eingehender P. J. Winters, Johannes Althusius, in: Staatsdenker i m 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. M. Stolleis, 1977, S. 29 ff., 33. 104 X X I , 30 ff.; vgl. weiter P.Münch, Göttliches oder weltliches Recht? Zur Kontroverse des J. Althusius m i t den Herborner Theologen (1601), in: FS E. Naujoks, hrsg. v. Quarthai/Setzier, 1980, S. 16 ff.; Hueglin (FN 20), S. 34 ff. 105 X X I , 27; Vorrede, S. 3; X , 7; X V I I I , 40. 106 X I X , 32. 107 I X , 31; X , 1; X X I , 24. — Die Geltung der zweiten Tafel des Dekaloges w i r d auch föderaltheologisch begründet ( X X V I I I , 13). 108 X , 6. 101
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V . Zusammenfassung
Abschließend läßt sich überlegen, wie Althusius jene Leitideen begründet, die die von i h m entworfene politische Ordnung legitimieren. Ist es ein naturrechtlicher Ansatz, argumentiert er aus einem reichen Schatz politischen Erfahrungswissens oder liefert er eine religiös fundierte Rechtfertigungslehre? Eine Antwort auf diese Frage fällt nicht leicht. Die Legitimitätstheorie des Althusius ist teilweise durch einen pragmatisch-utilitaristischen Denkstil, teilweise durch ein auf festen Prinzipien beruhendes System von Staat und Gesellschaft geprägt und wurzelt letztlich in seiner tiefen Religiosität 110 . Ebenso wie seine politische Theorie insgesamt, entwickelt er auch die Legitimitätsprinzipien zum einen aus der überkommenen staatstheoretischen Literatur, wobei er jeweils ganz pragmatisch und vernunftgeleitet prüft, ob einzelne Leitideen sich auch in der politischen Wirklichkeit seiner Zeit durchsetzen lassen111. Neben dieser pragmatisch-kritischen Begründung legitimierender politischer Ideen geht es ihm zum anderen aber auch um eine teils naturrechtlich, teils religiös 112 fundierte Entfaltung jener Prinzipien, die die Grundlage der ständischen Ordnung seiner Zeit bildeten. Die legitimierenden Prinzipien, die die ständische Ordnung tragen, sind zunächst der Gedanke der „politischen Einung", — oder modern formuliert: der Konsens. Auf allen Ebenen der politischen Ordnung erfolgen Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung auf Grund konsenserzeugender Mechanismen. Konsens darf allerdings nicht in einem modernen Sinn als eine Übereinstimmung aller oder doch der Mehrheit der Bürger in politischen und ethischen Fragen verstanden werden. I m ständischen Staat entsteht Konsens durch Einung i n und zwischen den Korporationen, also in der Regel durch einen Aushandlungsmechanismus innerhalb und zwischen politisch tonangebenden Schichten. Neben diese Legitimation durch Konsens t r i t t die Legitimation durch effiziente Erfüllung der Staatsaufgaben. Gemeinwohlverwirklichung ist Aufgabe der Regierung, der Althusius einen bisweilen weiten Spielraum autonomen Gestaltens einräumt; insofern finden sich bei Althusius neben korporativ-ständischen Ideen auch Ansätze des 10e Diese ältere Vorstellung von der Richtigkeit des überkommenen Rechts und von der Gesetzgebung als eines „ius emendandi" hat sich insbesondere in den Städten lange lebendig erhalten können (O. Brunner, Souveränitätsproblem und Sozialstruktur i n den deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit, in: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1968, S. 294 ff., 300 m. w. Nw.). 110 Zur Persönlichkeitsstruktur des Althusius vgl. Antholz (FN 24), S. 219 ff. 111 Althusius, Politica, Vorrede zur 1. Aufl. 112 Z u m nicht völlig klaren Stellenwert der Bibelzitate i m Werk des A l t husius vgl. Reibstein (FN 51), S. 83, 197 ff.; Antholz (FN 24), S. 223 f. einerseits und van Eikema Hommes (FN 22), S. 218 andererseits.
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aufkommenden Staatsabsolutismus und die Kategorie der Staatsräson 113 . Eine theonome Rechtfertigungslehre findet sich vor allem i m Bereich der Rechtsetzung und i n der Begründung einer Achtung von Recht und Gesetz. Entsprechend seiner Ablehnung zentralistischer politischer Tendenzen ist ihm der Gedanke eines theokratischen Absolutismus fremd, wie er später entwickelt wurde. I n der Grundtendenz findet sich bei Althusius insofern eine theonome Rechtfertigung 114 der politischen Gewalt, als er aus der Bibel die tragenden Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit herzuleiten sucht und der Idee anhängt, daß es eine legitime Autorität, die außerhalb der Religion steht, nicht gibt.
113 114
Antholz Winters
(FN 24), S. 239. (FN 103), S. 42.
Auswahlbibliographie zu Leben und W e r k des Johannes Althusius Von Dieter Wyduckel, Münster I. Hauptwerke des Althusius*
A. Jurisprudentia
Romana
1. Juris Romani L i b r i duo: A d Leges Methodi Rameae conformati: Tabulâ illustrati.
Et
Basileae: A d L e c y t h u m Waldkirchianam Anno 1586. 15 Bl., 192 S. 2. Jurisprudentia Romana, vel potius, Juris Romani ars; Duobus Libris comprehensa, et ad Leges Methodi Rameae conformata, Studio Johannis Althusii. Editio altera, aucta et correcta. Herbornae: Ex officina Christophori Corvini 1588. 7 Bl., 295 S., 8 Bl. 3. Jurisprudentiae Romanae L i b r i Duo. A d Leges Methodi Rameae conformati; Et Tabulis illustrati. Editio altera, aucta et correcta. Accessit Cynosura Reidiniana Juris Civilis: Qua T u m prima totius Juris P r i n c i pia, T i t u l o r u m propria; generaliora, notabiliora, necessariora: t u m frequentiora rariora, obsoletiora, perpetuis numeris monstrantur. Basileae: Per Conrad Valdkirch 1589. 18 Bl., 429 S., 4 S.; 8 Bl., 70 S. 4. Jurisprudentiae Romanae methodice digestae L i b r i Duo. Editio altera correcta et epitome ac brevi anacephalaeosi Dicaeologicae aucta. Herbornae: Ex officina Christophori Corvini 1592. 1 Bl., 47 S., 3 S., 295 S., 8 Bl. 5. Jurisprudentiae Romanae methodice digestae L i b r i Duo. Editio tertia correcta et epitome ac brevi anacephalaeosi Dicaeologicae aucta. Accessit Cynosura Reidiniana Juris Civilis: qua t u m prima Juris Principia, T i t u l o r u m propria, generaliora, notabiliora, necessariora: t u m frequentiora, rariora, obsoletiora, perpetuis numeris monstrantur. Herbornae Nassoviorum: Ex typographo Christophori Corvini 1599. 1 Bl., 447 S., 3 S., 8 Bl.; 6 Bl., 60 S. * Ein umfassendes Werkverzeichnis m i t Besitznachweisen enthält Althusius-Bibliographie. Bibliographie zur politischen Ideengeschichte Staatslehre, zum Staatsrecht u n d zur Verfassungsgeschichte des 16. 18. Jahrhunderts, hrsg. von Hans Ulrich Scupin und Ulrich Scheuner. arbeitet von Dieter Wyduckel, Berlin 1973, 1. Halbbd., 1. Teil, S. 1 ff. 3
RECHTSTHEORIE,
Beiheft 7
die und bis Be-
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6. Jurisprudentiae Romanae methodice digestae L i b r i Duo. Editio quarta, correcta et epitome ac b r e v i anacephalaeosi Dicaeologicae aucta. Herbornae: A p u d Christophorum Corvinum 1607. 696 S., 2 Bl. 7. — Editio quinta, correcta et epitome ac brevi anacephalaeosi Dicaeologicae aucta. Herbornae: A p u d haeredes Christophori Corvini 1623. 696 S., 2 Bl.
B. Civilis Conversationis Libri Duo 8. Civilis conversationis L i b r i Duo: Methodicé digesti et exemplis sacris et profanis passim illustrati. E d i t i a Philippo Althusio. Hanoviae: A p u d G u i l i e l m u m A n t o n i u m 1601. 8 Bl., 373 S., 1 S. 9. Civilis conversationis L i b r i Duo recogniti, et aucti. Methodicé digesti et exemplis sacris et profanis paßim illustrati. E d i t i â Philippo Althusio. Hanoviae: A p u d haeredes G u i l i e l m i A n t o n i i 1611. 8 Bl., 352 S. 10. Ethicus Althusianus, Hoc est L i b r i Duo De Conversatione Civili, Methodicé digesti exemplisque tarn sacris quam profanis locupletissimè illust r a t i à Philippo Althusio. Amsterodami: A p u d Joannem Janssonium 1650. 8 Bl., 352 S.
C. Politica Lateinische Ausgaben 11. Politica, Methodice digesta et exemplis sacris et profanis illustrata: Cui i n fine adjuncta est Oratio panegyrica de utilitate, necessitate et antiquitate scholarum. Herbornae Nassoviorum: Ex officina Christophori Corvini 1603. 10 Bl., 469 S., 48 S. 12. Politica Methodicé digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata; Editio nova priore auctior, et cum Indice amplissimo. Cui in fine adjuncta est, Oratio panegyrica De necessitate et antiquitate scholarum. A r n h e m i i : Ex officina Johannis Janssonii 1610. 8 Bl., 717 S., 28 S., 9 Bl. 13. Politica Methodicé digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata; Cui in fino adjuncta est Oratio panegyrica, De necessitate et antiquitate scholarum. Groningae: Excudebat Johannes Radaeus 1610. 8 Bl., 715 S., 28 S., 9 Bl. 14. Politica Methodicé digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata; Cui in fine adjuncta est Oratio panegyrica, De necessitate, utilitate et antiquitate scholarum. Editio tertia, duabus prioribus multo auctior. Herbornae Nassoviorum: (Corvinus) 1614. 8 Bl., 1003 S., 24 Bl.
Auswahlbibliographie zu Leben und Werk des Althusius
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15. Politica Methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata; Editio tertia priore auctior, et cum Indice amplissimo. Cui i n fine adjuncta est Oratio panegyrica, De necessitate et antiquitate scholarum. A r n h e m i i : Ex officina Johannis Janssonii 1617. 8 Bl., 715 S., 28 S., 9 Bl. 16. Politica Methodicé digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata; Cui in fine adjuncta est Oratio panegyrica. De necessitate, utilitate et antiquitate scholarum. Editio quarta. Herbornae: Typis Corvinianis, Sumptibus Johannis Georgii Muderspachii, et Georgii Corvini 1625. 8 Bl., 1003 S., 23 Bl. 17. — Editio quinta, Herbornae Nassoviorum 1654. 8 Bl., 1003 S., 23 Bl. 18. Politica Methodice digesta of Johannes Althusius (Althaus). Reprinted from the T h i r d Edition of 1614. Augmented by the Preface of the First Edition of 1603 and by 21 hitherto Unpublished Letters of the Author. W i t h an Introduction by Carl Joachim Friedrich. Cambridge: H a r v a r d University Press 1932. C X X X I X , 435 S. (Harvard Political Classics, Vol. 2) Ausgabe der Politica
von 1614 mit geringfügigen
Kürzungen
19. Politica Methodicé digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata; Cui in fine adjuncta est Oratio panegyrica, De necessitate, utilitate et antiquitate scholarum. Editio tertia, duabus prioribus multo auctior. 2. Neudruck der 3. Auflage Herborn 1614. Aalen: Scientia 1981. 9 Bl., 1003 S., 24 Bl.
Übersetzungen 20. The Politics of Johannes Althusius. A n abridged translation of the T h i r d Edition of Politica Methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata A n d including the Prefaces to the First and T h i r d Editions. Translated, w i t h an Introduction by Frederick S. Carney. Preface by Carl J. Friedrich. Boston: Beacon Press 1964. X X X V I I , 232 S. (Beacon Series in the Sociology of Politics and Religion), Neudruck London 1965 21. Grundbegriffe der Politik. Aus „Politica methodice digesta", 1603, hrsg. von E r i k Wolf. F r a n k f u r t a. M.: V i t t o r i o Klostermann 1943. 44 S. (Deutsches Rechtsdenken, Heft 8) Enthält die Vorrede zur Ausgabe der Politica von 1603 sowie Auszüge aus den Kapiteln 1, Nr. 1—21, II, Nr. 1—46, IV, Nr. 1—30, V, Nr. 1—28, IX, Nr. 1—28, XVIII, Nr. 1—92 22. — 2. Auflage, hrsg. von E r i k Wolf. F r a n k f u r t a. M.: V i t t o r i o Klostermann 1948. 45 S. (Deutsches Rechtsdenken, Heft 3) 23. — I n : Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, hrsg. von E r i k Wolf. F r a n k f u r t a. M.: V i t t o r i o Klostermann 1950, S. 102—144 37"
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24. Politik als Einigung der natürlichen Lebensgemeinschaften. Johannes Althusius. I n : Carl Joachim Friedrich, Die Politische Wissenschaft. Freiburg/München: K a r l A l b e r 1961 (Orbis Academicus 1/8), S. 97—129 Auswahl Nr. 21)
entsprechend
der Teilübersetzung
von Erik
Wolf
(siehe oben
D. Dicaeologica 25. Dicaeologicae L i b r i Très, T o t u m et universum Jus, quo utimur, methodicé complectentes: Cum parallelis hujus et Judaici Juris, tabulisque insertis, atque Indice t r i p l i c i ; uno, auctorum; altero, capitum singulorum; et tertio, rerum et verborum locupletißimo et accuratißimo. Opus tarn theoriae quàm praxeos aliarumqué Facultatum studiosis utilissimum. Herbornae Nassoviorum: A p u d Christophorum Corvinum 792 S., 54 Bl.
1617. 6 Bl.,
26. — Cum gratia et privilégia Caesaris Majestatis. Prostant apud Christophorum Corvinum 1618. 6 Bl., 792 S., 54 Bl. 27. — Editio secunda p r i o r i correctior. Prostant Francofurti apud Haeredes Christophori Corvini 1649. 6 Bl., 792 S., 53 Bl. 28. — Neudruck der Ausgabe F r a n k f u r t a. M. 1649. Aalen: Scientia Verlag 1967. 7 Bl., 792 S., 53 Bl.
E. Schriften der Emder Zeit 29. Receß und accord buch/ Das ist/ Zusamen Verfassung aller Ordnung/ decreten / resolution/ recessen/ accorden und vertragen/ So zwischen weilandt den wolgebornen Graffen und Herren/ Herrn Edzardten und H e r r n Johan löblichen andenckens/ H e r r n und Graffen zu Ostfrießlandt/ etc. U n d jetzigem regierendem Graffen und H e r r n / H e r r n Enno Graffen un H e r r n zu Ostfrießlandt H e r r n zu Esens/ Stedeßdorff und W i t t m u n d t / etc. unserm gnedigen H e r r n / U n d den dreyen Stenden/ als Ritterschaft/ Stetten un Haußmansstande/ un i n specie der Stadt Embden/ der Grafschafft Oistfrießlandt/ zu underschiedlichen Zeiten uffgericht und p u b l i ciret worden. Gedruckt zu Embden/ durch H e l v i c u m Kallenbach, bestalten Buchdrucker daselbst/Anno 1612. 4 Bl., 343 S., 16 Bl. Das Receß und accordbuch ist von Johannes Althusius
herausgegeben.
30. — Gedruckt zu Embden / Durch Joachim Mennen / bestalten Buchdrucker daselbst/Anno 1656. 4 Bl., 343 S., 15 Bl. 31. Statuta U n d Ordnungen / Eines Erbaren Raths der Stadt Embden / Wornach sich die Partheyen so w o h l / alß die Verordnete Commissarii, Secretarii, Notarii, Procuratores, Stadtdiener/ und jedermenniglich/ i n Gerichts- und Rechtssachen/ wie auch ihren respective A m p t e r n und Diensten etc. hinführo verhalten sollen. Gedruckt zu Embden/bey Helwich Kallenbach/ bestalten Buchdrucker daselbsten/im Jahr 1625. 4 Bl., 68 S.
Auswahlbibliographie zu Leben und Werk des Althusius
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I I . Leben und Wirken des Althusius 1. Althusius-Bibliographie. Bibliographie zur politischen Ideengeschichte und Staatslehre, zum Staatsrecht und zur Verfassungsgeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Hans Ulrich Scupin und Ulrich Scheuner. Bearb. von Dieter Wyduckel. B e r l i n 1973. 2 Halbbde. Vgl. insbes. 1. Halbbd., 2. Teil B: Lebensabrisse und Würdigungen von Leben und Werk des Althusius (Nr. 218 ff., S. 19 ff.) sowie C 5: Herborn und seine Hohe Schule (Nr. 855 a ff. S. 60 ff.). 2. Antholz, Heinz: Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden. Aurich 1955 (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands, Heft 32) 3. Behnen, Michael: Herrscherbild und Herrschaftstechnik i n der ,Politica' des Johannes Althusius. I n : Zeitschrift für Historische Forschung 11 (1984), S. 417—472 4. Eikema Hommes, Hendrik Jan van: Die Bedeutung der Staats- und Gesellschaftslehre des Johannes Althusius für unsere Zeit. I n : Recht und Staat i m sozialen Wandel. Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag, hrsg. von Norbert Achterberg, Werner Krawietz, Dieter W y duckel. Berlin 1983, S. 211—232 5. — Hugo Grotius. Einige Betrachtungen über die Grundmotive seines Rechtsdenkens. Der Unterschied zu dem Rechtsdenken des Johannes Althusius. I n : Theologische, juristische und philosophische Beiträge zur frühen Neuzeit. Münster 1986 (Schriftenreihe der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster, Heft 9), S. 56—70 Vortrag im Rahmen der von der Johannes-Althusius-Gesellschaft veranstalteten Tagung ,Hugo Grotius und Johannes Althusius. Gemeinsamkeiten und Unterschiede' am 10. Dezember 1983 in Münster 6. Friedrich, Carl Joachim: Johannes Althusius und sein Werk i m Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik. Berlin 1975 7. Gierke, Otto von: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, 7. unveränd. Ausg. m i t V o r w o r t von Julius von Gierke. Aalen 1981 Die erste Ausgabe erschien im Jahre 1880 als Heft 7 der zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte
Untersuchungen
8. Goedeking, Friedrich: Die „ P o l i t i k " des Lambertus Danaeus, Johannes Althusius und Bartholomäus Keckermann. Eine Untersuchung der politisch-wissenschaftlichen L i t e r a t u r des Protestantismus zur Zeit des F r ü h absolutismus. Diss. Masch, theol. Heidelberg 1977 9. Hof, Hagen: Johannes Althusius (1557—1638). I n : Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten. Eine biographische Einführung i n die Geschichte der Rechtswissenschaft, hrsg. von Gerd Kleinheyer und Jan Schröder, 2. Aufl. Heidelberg 1983, S. 19—22
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Dieter Wyduckel
10. Hof mann, Hanns Hubert: Althusius. I n : Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte, 2. v ö l l i g neubearb. Aufl. von K a r l Bosl (u. a.), Bd. 1. München 1973, Sp. 82/83 11. Hiiglin, Thomas O.: Johannes Althusius: Medieval Constitutionalist or Modern Federalist? I n : Federalism as Grand Design, ed. by Daniel J. Elazar. Philadelphia 1979, S. 9—41 = Publius. The Journal of Federalism 9/4 (1979). S. 9—41 12. — Althusius, Federalism and the Notion of State. Some Annotations to Neri's Antiassolutismo e federalismo nel pensiero d i Althusius (siehe unten Nr. 17). I n : I I Pensiero Politico 13 (1980), S. 225—232 13. Klein, Jürgen: Herborns calvinistische Theologie und Wissenschaft i m Spiegel der englischen K u l t u r r e v o l u t i o n des 17. Jahrhunderts. Vortrag zur Eröffnung der Hochschulwoche der Universität Gesamthochschule Siegen in Herborn am 5. November 1984 in der Aula der Hohen Schule. Siegen 1984 14. Menk, Gerhard: Der doppelte Johannes Althusius — eine ramistische Dichotomie? I n : Nassauische Annalen 87 (1976), S. 135—142 15. — Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584—1660). Ein Beitrag zum Hochschulwesen des deutschen Kalvinismus i m Zeitalter der Gegenreformation. Wiesbaden 1981 (Veröffentlichungen der Historischen K o m mission für Nassau, 30) 16. Münch, Paul: Göttliches oder weltliches Recht? Zur Kontroverse des J. Althusius m i t den Herborner Theologen (1601). I n : Stadtverfassung. Verfassungsstaat, Pressepolitik. Festschrift für Eberhard Naujoks zum 65. Geburtstag, hrsg. von Franz Quarthai und W i l f r i e d Setzier, Sigmaringen 1980, S. 16—32 17. Neri, Demetrio: Antiassolutismo e federalismo nel pensiero di Althusius. I n : I I Pensiero Politico 12 (1979), S. 393—409 18. Reibstein, Ernst: Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca. Karlsruhe 1955 (Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 5) 19. — Das Widerstandsrecht bei Althusius, Bodin, Barclay, Paraeus. I n : ders., Volkssouveränität und Freiheitsrechte, hrsg. von Clausdieter Schott. Freiburg 1972 (Orbis Academicus, Sonderband 1/1), S. 166—189 20. Riley, Patrick: Three 17th Century German Theorists of Federalism: Althusius, Hugo and Leibniz. I n : Americans and the Federal Principle. Some Reconsiderations, ed. by David L. Schaefer. Philadelphia 1976. S. 7—41 = PUblius. The Journal of Federalism 6/3 (1976), S. 7—41 21. Schlarmann, Hans: Johannes Althusius Diedenshausensis. Leben und Werk eines bedeutenden Juristen und Staatstheoretikers. In: Diedenshausen — Wunderthausen, hrsg. von Fritz Krämer. Balve 1978, S. 345— 356, 553 f.
Auswahlbibliographie zu Leben und Werk des Althusius
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21a. Schmidt-von Rhein, Georg: Zur Geschichte der rechtswissenschaftlichen F a k u l t ä t der Hohen Schule i n Herborn, in: Juristische Schulung (JuS) 26 (1986), S. 500—502 22. Scupin, Hans Ulrich: Die Souveränität der Reichsstände und die Lehren des Johannes Althusius. I n : Westfalen 40 (1962), S. 186—196 23. — Der Begriff der Souveränität bei Johannes Althusius und bei Jean Bodin. I n : Der Staat 4 (1965), S. 1—26 24. — Demokratische Elemente i n Theorie und Praxis des Johannes A l t h u sius. I n : A Desirable World. Essays in Honor of Professor B a r t Landheer, ed. by A. M. C. H. Reigersman (u. a.). The Hague 1974, S. 67—78 25. — Die Lehren des Johannes Althusius und seine Tätigkeit an der A r n o l d i nischen Akademie i n Burgsteinfurt. I n : 1853—1978. 125 wiederbegründetes Gymnasium Arnoldinum. Burgsteinfurt 1978, S. 11—18 26. — Untrennbarkeit von Staat und Gesellschaft in der Frühneuzeit. A l t h u sius und Bodin. I n : Recht und Gesellschaft. Festschrift f ü r Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag, hrsg. von Friedrich Kaulbach und Werner K r a wietz. Berlin 1978, S. 637—657 27. Skillen, James: The Political Theory of Johannes Althusius. In: Philosophia Reformata 39 (1974), S. 170—190 28. Steubing, Johann Hermann: Geschichte der Hohen Schule Herborn. Nachdruck der Ausgabe Hadamar 1823. Kreuztal 1983 29. Stolleis, Michael: Lipsius — Rezeption i n der politisch-juristischen L i t e ratur des 17. Jahrhunderts i n Deutschland. I n : Der Staat 26 (1987), S. 1—30 Vortrag im Rahmen der von der Johannes-Althusius-Gesellschaft veranstalteten Tagung ,Die Bedeutung der politischen und staatstheoretischen Lehren des Justus Lipsius für die Niederlande und Deutschland im 17. Jahrhundert' am 7. Dezember 1985 in Münster 30. — De regno recte instituendo et administrando. Eine unbekannte Disputation von Johannes Althusius. I n : Wolfenbütteler Beiträge 7 (1987), S. 167—173 31. Von der Hohen Schule zum Theologischen Seminar Herborn: 1584—1984. Festschrift zur 400-Jahrfeier i m A u f t r a g der Stadt Herborn. Hrsg. von Joachim Wienecke in Verbindung m i t Gustav Adolf Benrath. Herborn 1984 32. Warnecke, Hans Jürgen: Althusius in Steinfurt. Sein Wirken, seine U m welt. I n : 1853—1978. 125 Jahre wiederbegründetes Gymnasium A r n o l d i num. Burgsteinfurt 1978, S. 19—40 33. Winters, Peter Jochen: Die „ P o l i t i k " des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen. Z u r Grundlegung der politischen Wissenschaft i m 16. und i m beginnenden 17. Jahrhundert. Freiburg/Br. 1963 (Freiburger Studien zur P o l i t i k und Soziologie, hrsg. von A r n o l d Bergstraesser)
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Dieter Wyduckel
34. — Johannes Althusius. I n : Staatsdenker i m 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht, hrsg. von Michael Stolleis. F r a n k f u r t / M . 1977, S. 29—50 35. Wyduckel, Dieter: Johannes Althusius. I n : Die Deutsche Literatur. Biographisches und bibliographisches Lexikon. Reihe I I : Die Deutsche L i t e ratur zwischen 1450 und 1620, hrsg. von Hans-Gert Roloff, Bd. 1. Bern 1988. I m Druck 36. Zippeixus, Reinhold: Die Idee der Demokratie: Althusius. I n : ders., Geschichte der Staatsideen, 5. erw. Aufl. München 1985 (Beck'sche Schwarze Reihe, Bd. 72), S. 105—107 37. Zwart, Jaap: De Politica methodice digesta van Johannes Althusius. I n : Rechtsfilosofie en Rechtstheorie 7 (1978), S. 31—47
Personenregister Abel 104 A b r a h a m 205 Accursius 355 Achterberg, N. 555 Acker, J. H. 289 A d a m 104, 106, 208 Alexander ab Alexandro 519 Aisted, J. H. 264 f., 426, 430 Althusius, Ph. 98, 441 F N 24 A l t i n g , H. 89 f. Alting, M. 75, 79, 90 Andreae, J. V. 437 Antholz, H. 127, 129, 143 Antonius, G. 238 f., 333 ff. Arendt, H. 198 Aristoteles, Aristotelismus 109, 302, 377, 443 ff., 521 f. Arndius, C. 288 Arnisaeus, H. 293, 430, 434, 437, 448 A r n o l d IV., Graf v. Bentheim 94, 147 ff., 151, 153 ff., 157 Arumaeus, D. 239, 241 ff., 308 Augustinus 104, 176, 363 Barclay 456 Barth, K . 186, 188, 510 Baur, J. 164 Bayle, P. 287, 301 Bebenburg s. Lupoid v. Bebenburg Berghe, P. van den 135 Bernhard v. Clairvaux 104 Besold, Chr. 241, 249 f., 252, 279, 430, 437 Beza, Th. 155, 220, 509 Bèze, Th. de s. Beza, Th. Block, J. 148 Bodin, J. 34 f., 171, 216, 223 f., 228, 231, 235 ff., 243 ff., 251 f., 278, 301 ff., 317, 333, 336, 341, 345 ff., 352, 356, 358 ff., 385 f., 458, 473, 540, 559 572 Boeder, J. H. 272, 275 Boéthie, E. de la s. La Boéthie , Ε. de Bohatec, J. 388 Bonifaz V I I I . 214 Borkenau, F. 475 F N 57 Bortius, M. 239, 241
Botero, G. 323 Brenneysen, E. R. 86, 289 f. Brunck, J. W. 269 Buchanan, G. 120, 288, 297 Buchanan, J. M. 403 Buddeus, J. F. 289 Bullinger, H. 191 Burchard, Graf v. Westerholt 156 Butzmer, H. A. 277 Caesar, K . J . 110 f. Calvin, Calvinismus 37, 48, 50 ff., 55, 59 f., 68, 103, 120 f., 149, 163 ff., 191, 208, 210, 218 f., 222, 341, 371, 387 ff., 412, 443 ff., 489, 520, 541 f., 544 f., 547 f., 551, 560 ff., 572, 574 Cammann, J. 238, 241, 248 Carion, J. 358 Carney, F. S. 450 F N 30 Carpzov, B. 240, 243, 249, 252 Caselius, J. 434 Casman, O. 430 Cellarius, B. 250 Charron, P. 314 Christian IV., K ö n i g v. Dänemark 85 Christian, Fürst v. A n h a l t 91 Chyträus, D. 315 Cicero 190, 216 Comenius, J. A. 114 Conrad v. Westerholt 156 f. Conring, H. 38, 270 ff., 275, 278, 289, 293, 299, 343 Corderius, M. 121 Corvin(us), Chr. 89 f., 94, 270, 454 Covarruvias, D. 478, 481 F N 84, 530 Craig, Ν . 520 Cromer, M. 293 Crusius, Β. Ο. 279 Cues, Ν . v. s. Nikolaus υ. Kues Danaeus, L. 269, 272, 509, 545 Daneau, L. s. Danaeus, L. Daniel 346 D a v i d 103, 179, 204 Derathé, R. 466 Dibelius, O. 68, 510 Dickmann, F. 342 f., 357 Dilthey, W. 315
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Personenregister
Dooyeweerd, H. 382, 390 Dreitzel, H. 445 D u Plessis-Mornay, Ph. 220 Dürkheim, E. 403 Du V a i r s. Vair Edzard II., Graf v. Ostfriesland 157 Eikema Hommes, H. J. van 302, 304, 405 Elias, N. 447 F N 24 Emmius, U. 75, 81, 123 Enno II., Graf v. Ostfriesland 551 Enno I I I . , Graf v. Ostfriesland 75, 81 ff., 157, 537 F N 77 Epiktet 314 Ernst Friedrich, M a r k g r a f v. BadenDurlach 91 Ersch, J. S. 298 Fabricius, J. 269 Falckenheiner, W. 109 ff. Felwinger, J. P. 250 Ferdinand II., Kaiser 265, 267, 270 Fetscher, I. 475 F N 57 Feuerbach, A. 297 Fichlau-Fichlovius, J. 270 ff. Ficinus, W. 264 Flacius Illyricus, M. 219, 341 f. Forsthoff, Ε. 461 Franklin, J. H. 260 Franz I., Kaiser 291 Franz I., K ö n i g v. Frankreich 309 Franz, Herzog v. Alençon 140 Friedlieb, Chr. W. 437 Friedrich I I . (d. Große), K ö n i g v. Preußen 340 Friedrich IV. ν. der Pfalz 90 Friedrich V. v. der Pfalz 91 Friedrich, C. J. 22, 68, 71, 77, 97 f., 164, 187, 189, 244, 250 f., 256, 322 f., 393, 408 f., 444, 450 F N 32, 456, 536, 570 Galen 104 Gartzius, P. 272 Georg, Graf v. Nassau 89 Georg Friedrich v. Waldeck 273 f. Gerhard, D. 300 Gerhard, J. 430 Gerson, J. 526 Gierke, J. v. 71 Gierke, Ο. v. 17, 22, 111, 189, 196 f., 242, 250, 255, 260, 262, 299 ff., 322, 381, 395, 397, 401 F N 20, 402 F N 32 ff., 405, 416 f., 421, 465 f., 475, 513, 536, 540 Goclenius, H. 430 f., 433, 440 Goeddaeus, J. 94 Gönner, N. Th. 503
Goethe, J. W. v. 67 f., 88 Gregor V I I . 214 Grotius, H. 34, 57 f., 105, 142, 216, 231, 280, 286, 289, 302, 373 ff., 379 f. Gruber, J. G. 298 Grynaeus, J. J. 148, 153, 158, 387 Guicciardini, L. 128, 134 ff., 317 Gundling, Ν . H. 281 Hahnen 279 Hauck, A. 201 Hegel, G. W. F. 396 Heigius, P. 520 Heinrich II., K ö n i g v. Frankreich 309 Heinrich IV., K ö n i g v. Frankreich 309 Heppe, H. 188 Herodot 519 Hert, J. N. 272, 275 Hintze, O. 300 Hippokrates 104 Hitler, A. 69, 556 Hobbes, Th. 189, 275, 280, 284, 289, 460, 536 Hoen, Ph. H. 249 f., 263 ff., 272, 278, 288 ff. Hoenonius s. Hoen Hofmann, D. 433 f., 437, 440 Hoke, R. 358 Hooker, R. 509 Hotman, F. 220, 289, 293, 532 Hotomanus s. Hotman Hovaeus s. Howie Howie (Hovaeus), R. 94, 263 Huber, U. 280 Hufeland, G. 297 Huizinga, J. 260 Hume, D. 189 Hus, J. 45 Ihering, R. v. 401 Innozenz I I I . 217 Irnerius 338 Jakob I., K ö n i g v. England 91 Janssen, H. 23 Jeremia 183 Jesus Sirach 203 f. Johann VI., Graf v. Nassau-Dillenburg 25 f., 29, 75, 89, 91, 113, 150, 157, 258 Johann Georg, Fürst v. A n h a l t 91 Johann Sigismund, K u r f ü r s t v. Brandenburg 91 Joseph I., Kaiser 290 Jugler, J. F. 298 Junius Brutus, St. 532 F N 63 Justinian 338 f.
Personenregister Kant, I. 88, 396, 401 f. Kappelhoff, B. 72 K a r l d. Große 338 ff., 342, 347, 356 K a r l IV., Kaiser 353 f. K a r l V., Kaiser 46, 55, 131, 365 K a r l VI., Kaiser 290 K a r l V I I . , Kaiser 291 K a r l I., K ö n i g v. England 189, 272 Keckermann, B. 249, 253, 269, 290, 358, 430, 440 Kelsen, H. 373, 389 Kilianus, C. 135 Kirchner, H. 237 f., 241, 244, 248 Kleinheyer, G. 513 Knichen 279 Knigge, Freiherr v. 447 Köhler, J. D. 283 König, R. 239, 243, 248, 287 Kuhn, Th. 459 La Boéthie, E. de 220 Lambinus 450 Langius 315 f. Lawson, G. 280 Lehsten, J. F. v. 276 Leibniz, G. W. v. 216 Leicester, Graf v. 141 Leiser, W. 276 Leo X. 46 Leopold I., Kaiser 276 L'Hospital, M. de 458 Liebenthal, Chr. 238, 248 Limnaeus, J. 241, 243, 245, 248 f., 252, 267, 287, 291, 308 Lipsius, J. 313 ff., 559 Locke, J. 189, 218, 279, 281, 288, 290, 460, 493 Losaeus, N. 527 Lothar, Kaiser 338 L u d w i g V., Landgraf v. HessenDarmstadt 336, 344 L u d w i g d. Ä., Graf zu SaynWittgenstein 25, 258 Lupoid v. Bebenburg 528 Luther, M. 43 ff., 51 f., 55, 60 f., 68, 77, 181, 183, 185, 203, 217 ff., 341, 411, 437, 509 f. Machiavelli, N. 176, 223, 275, 317, 323 Madison, J. 189, 198 Maichel, D. 295 f. Maier, H. 300 Mander, J. C. 279 Mannheim, K. 87 Mariana, J. de 196 Marc A u r e l 314 M a r n i x , Ph. v. 131 Marquard, O. 61 Marsilius v. Padua 220 ff., 226, 467 M a r t i n i , C. 434
M a r t i n i , J. 440 M a r t i n i , M. s. Martinius, M. Martinius, G. 334, 336, 345 ff., 352, 358, 361, 366 Martinius, M. 75, 97 f., 434 Matthäus, A. 97 Matthaeus, J. 264 Mayer, F. 572 Meisner, B. 430, 432 F N 8, 433 F N 10 Melanchthon, Ph. 96, 185, 217, 338, 426, 545 Melander, Ο. 444 Mencken, L. 278 Menk, G. 22, 114 Merzbacher, F. 404 Meteren, E. v. 126, 128, 134 ff., 143 Mettingh, S. J. 285 Middendorp, J. 100 Mierbeek, M. 99 Mierbeek, T. 99 Milton, J. 269, 271 f., 280, 288, 297 Modestinus 104 Möbus, G. 164 Montaigne, M. E. de 220 Montanus, P. 135 Montesquieu 281, 396, 398, 493, 497 Morhof, D. G. 287 Moritz, Landgraf v. Hessen-Kassel 336 Moser, J. J. 274, 282, 291 Moses 177, 179 Müller, P. 274 f. Münch, P. 97 f. Münchhausen, G. A. Freiherr v. 281, 284, 286, 291 ff. Muret, Μ . - Α . 317 Murhard, F. 298 f. Neurath, D. M. 25 Neurath, M. 25 Niem, D. v. 526 Nikolaus v. Kues 525, 535 Noodt, G. 280, 282, 284 Nozick, R. 403 Oestreich, G. 300, 313 Oetinger, F. 69 Oldendorp, J. 53 Olevian, C. 24 f., 30, 113 Padua s. Marsilius v. Padua Papinian 104 Paraeus, D. 266 Parker, H. 280 Paschius, G. 289 Pasor, G. 269 Pasor, M. 269 Paulus 104, 208, 376
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Personenregister
Paurmeister, T. 243 F N 45, 343 Pepper, S. 189, 191 Peucer 358 Pezelius, D. 153 Pfaffreuter, Chr. Ε. 288 Pflug, J. G. 275 P h i l i p p I V . (d. Schöne), K ö n i g v. Frankreich 214 P h i l i p p II., K ö n i g v. Spanien 129, 131 f., 140 ff., 145, 259 Philipp, Graf v. Eberstein 91 Pincier, J. 99 Piscator, J. (Herborn) 30, 89 f., 93 f., 97 f., 113, 434 Piscator, J. (Steinfurt) 153 f. Piaton 190 Plutarch 519 Pomponius 104 Pütter, J. St. 282, 285 f., 295 Pufendorf, S. v. 58 ff., 216, 262, 272 Ramée, P. de la s. Ramus, P. Ramus, P. 30, 96, 120, 274, 302, 396, 439, 444, 487, 521 f. Ranke, L. v. 81 Rawls, J. 403, 408 f. Reibstein, Ε. 405 f. Reinking(k), D. 239, 267, 360, 437 Reinkingk, Th. s. Reinking(k), D. Ritter, G. 68 Roesler, J. E. 290 Röpke 461 Rövenstrunck, J. W. 247 Rousseau, J.-J. 231, 298, 380 ff., 391, 401 f., 460, 501 Rudolph II., Kaiser 343, 354 Rudolph, M. 149 Rudolphi, J. E. 293 f. Runeby, N. 265 Rüdiger 296 Rutherford, S. 189 Salmasius, C. 269 Salomo 103 Savigny, F. C. v. 390 Savonarola, G. 45 Scaevola 104 Scheuner, U. 397, 454 Schmidt, H. 73 Schröder, J. 513 . Schröder, W. v. 294 Schubart-Fikentscher, G. 109 Schubert, F. H. 256, 260, 300 Schwarzenberg 53 Schweder, G. 274 f. Scultetus, A. 89 Scupin, H. U. 397, 407 f., 454 Seckendorf^ V. L. v. 437
Segovia, J. v. 525 f. Seiden, J. 216 Seneca 314 Sibrand, J. H. 276 ff. Sidney, A. 279, 281, 288, 290, 297 f. Sigismund I I I . , K ö n i g von Polen 292 Sixtinus, R. 243 F N 45 Soto, D. de 57 Spinaeus, J. 120 Strube, D. G. 282, 284 f., 294 f. Struve, B. G. 281 Struve, G. A. 275 Sturio, W. 158 Sturm, J. 113, 120 Suarez, F. 57, 216 Thieme, H. 109 Thomae, J. 250 Thomas v. A q u i n 216, 316, 372, 374, 379, 460 Thomasius, Chr. 58, 216, 250, 262, 277, 281 Tillich, P. 68 T i l l y 85 Timpler, Cl. 157, 278, 286, 430, 440 Topitsch, E. 61 Treuer, G. S. 283, 285, 294 f. Treutier, H. 444 Ulpian 104, 529 Vair, G. du 314 Vasquez, F. 477 F N 67, 528, 559 Vasquius, F. s. Vasquez, F. Vazquez s. Vasquez, F. Vico, G. 459 Victorius 450 Vitoria, F. de 57 Vitriarius 289 Voetius, G. 268 f. Vranck, F. 142 Vultejus, H. 238, 333 ff. Wedekind, R. 283, 285 f. Weerda, J. R. 202 Weizsäcker, C. F. v. 176 Wendler, M. 275 Wenzel, K ö n i g 340 Werdenhagen, J. A. v. 437 Wernher, H. L. 287 f. Wieacker, F. 343 Wiemann, H. 72 Wiering, Ph. J. H. 285 f. Wildvogel, Chr. 281 f., 291 ff. W i l h e l m I., Prinz v. Oranien, Graf v. Nassau-Dillenburg 29 W i l h e l m I I I . , Prinz v. Oranien, K ö n i g v. England 273
Personenregister W i l h e l m Ludwig, Gouverneur i n Friesland 89 Wilhelm, Th. s. Oetinger, F. Winters, P. J. 164, 304, 371, 376, 405 ff. Winthrop, J. 189 Wissenbach, J. J. 280 Witfeld 78 Witherspoon 189 Wolf, E. 109, 466 Wolff, Chr. 58
Xenophon 519 York v. Wartenburg, P. Graf 556 Zanchi, G. 100 Zanchius, H. s. Zanchi, G. Zeiller, M. 274 Zepper, W. 30, 94, 97 f., 113, 434, 535 Zscharnack, L. 202 Zwinger, Th. 101, 450, 520 Z w i n g l i , U. 43, 48 f., 59, 185, 412