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German Pages 243 Year 1982
REINER SCHULZE
Policey und Gesetzgebungslehre im 18. Jahrhundert
Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 25
Policey und Gesetzgebungslehre im 18. Jahrhundert
Von
Dr. Reiner Schulze
DUNCKER &
HUMBLOT I BERLIN
Gedruckt mit Unterstützung der Wilhelm-Hahn-und-Erben-Stiftung, Bad Hornburg v. d. H.
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1982 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany
© 1982 Duncker
ISBN 3 428 05197 1
Vorwort Die vorliegende Studie nimmt e1mge Problemstellungen, die ich in meiner Dissertation über die Polizeigesetzgebung in der Mark Brandenburg angeschnitten habe, unter neuem Aspekt und mit weiterem Quellenmaterial wieder auf. Wenn sich die folgende Betrachtung nunmehr stärker einem speziellen Bereich der theoriegeschichtlichen Entwick:lung der Policey zuwendet, verlagert sich allerdings auch ihr zeitlicher Schwerpunkt in jene spätere Phase des Absolutismus, in der die kameralistischen Fächer bereits zu akademischen Disziplinen arriviert sind und in der der geistige Einfluß des Rationalismus und der Aufklärung bereits so gewachsen ist, daß spätere Historiographie - eher Ziel und Illusion vieler Denker dieser Zeit als einen politischen Zustand treffend- vom "aufgeklärten Absolutismus" sprechen kann. Das Anliegen dieser Arbeit ist es auch, darauf hinzuweisen, daß hier eine Fülle staats- und rechtsgeschichtlichen Quellenmaterials weitere Untersuchung über eine Reihe neuerer Studien hinaus lohnen würde, ohne daß in einem begrenzten und häufig nur punktuell die Entwicklungslinien verfolgenden Prahlemanriß mehr als einzelne Aspekte aus den zahlreichen Fragestellungen, denen dabei nachzugehen wäre, herausgegriffen werden konnten. Die Anregung zu beiden Arbeiten verdanke ich Herrn Professor Dr. Gerhard Dilcher. Sowohl die Ergebnisse seines Berliner gesetzgebungsgeschichtlichen Seminars als auch besonders seine Forschungen über "Gesetzgebungswissenschaft und Naturrecht" (JZ 1969, S. 1 ff.) sowie der Gedankenaustausch in der Folgezeit bilden eine wesentliche Grundlage der folgenden Darstellung. - Die Drucklegung auch der vorliegenden Schrift wurde von der Wilhelm-Hahn-und-Erben-Stiftung gefördert. Dafür schulde ich ihr ebenso Dank wie Herrn Professor Dr. Broermann f1ür die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der "Schriften zur Rechtsgeschichte". R.
s.
Inhaltsverzeichnis I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
1. Die neueren Forschungen zur Policey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
a) Zum Polizeibegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Polizeiwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zur Polizeipraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14 17 19
2. Die neueren Forschungen zur Gesetzgebungswissenschaft im Absolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3. Die neueren For schungen zum frühneuzeitlichen Gesetzesbegriff 22 a) Herrschermacht und Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 b) Rechtsgemeinschaft und einseitiger Normerlaß . . . . . . . . . . . . 28 c) Festigkeit und Veränderlichkeit der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . 31 4. Zum Gegenstand der vorliegenden Untersuchung . . . . . . . . . . . . 32
Erster Teil
Policey und Gesetzgebungsverständnis bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Überblick) II. Zur frühen polizeilichen Gebotstätigkeit und Polizeiliteratur bis
Seckendorff
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
1. Umrisse der Entwicklung der Policey im 16. und 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) b) c) d)
Zur Entwicklung der Polizeigesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Gebotscharakter der Polizeivorschriften . . . . . . . . . . . . . . Der Polizeibegriff in der frühen Polizeiliteratur . . . . . . . . . . Staatstheoretische Anschauungen der frühen Polizeiliteratur
37 37 40 43 44
2. Zu den Ansätzen für die Entwicklung v on Normgebungslehren in der frühen Polizeiliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 a ) Oldendorp - Osse - Lauterbeck - Ohrecht . . . . . . . . . . . . . . b) Seckendorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50 56
8
Inhaltsverzeichnis III. Prudentia legislatoria und Policey im frühen 18. Jahrhundert 1. Ausweitung der polizeilichen Regelungstätigkeit . . . . . . . . . . . . . .
60 60
2. Ideengeschichtliche Voraussetzungen für die Erneuerung der Gesetzgebungs- und Polizeilehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3. Prudentia legislatoria in der naturrechtliehen StaatsklugheitsIehre des frühen 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 a) Unzulänglichkeiten bei der Behandlung der pars administrativa in der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 b) Zwei unterschiedliche Ausgangspositionen bei der Bestimmung des Verhältnisses von "Recht" und "Politik": Thomasius und Chr. Wolff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 c) Die "Gesetzeslehre" bei Julius von Rohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4. Kameralistische Policey und Naturrechtslehre im frühen 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 a) Polizeiwissenschaftliche Ansätze zwischen Rationalismus und Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 b) Fortschritte der Kameralistik in der Ökonomie . . . . . . . . . . . . 81 c) Der Aufstieg der Kameralistik zum akademischen Fach . . . . 82 5. Zur Stellung von Polizeigewalt und Gesetzgebungsbefugnis in der Staatsrechtslehre des frühen 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . 83
Zweiter Teil
Die polizeiliche Gesetzgebungslehre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts IV. Die polizeiliche Gesetzgebungslehre bei Zincl!:e und Justi
87
1. Georg Heinrich Zincke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
2. Johann Heinrich Gottlob von Justi .... ... . ........ . ... .. . . . .
92
V. Exkurs: Gesetzgebung und andere Formen staatlicher Lenkung bei Darjes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 VI. Zwei gegenläufige Entwicklungsrichtungen der polizeilichen Gesetzgebungslehre: Sonnenfels und Pfeiffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Gesetzgebungslehre zwischen "Niederhaltung der Privatkräfte"
und Förderung bürgerlichen Wirtschaftens (Sonnenfels) . . . . . .
99
2. Gesetzgebungslehre am Beginn der Abwendung vom absolutistischen Herrschaftsanspruch (Pfeiffer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3. Justi, Pfeiffer und Sonnenfels (Vergleich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Inhaltsverzeichnis
VII. Zum System der Gesetzgebung bei Filangieri
9
110
VIII. Zur Stellung der polizeilichen Gesetzgebungslehre innerhalb der Kameralistik und im Verhältnis zur Jurisprudenz .......... . .. .. . 114 1. Zur Stellung der Polizeilehre innerhalb der Kameralistik
115
2. Zum Verhältnis der Polizeilehre zur Rechtswissenschaft und Justiz ............ . ... . .............. . .................. .. .. . 118 a) b) c) d) e)
Zum wissenschaftspolitischen Verhältnis ........... ... .... Zum wissenschaftssystematischen Verhältnis ... . .. .. . . ... . "Zuständigkeit" für den positiv-rechtlichen Normbestand . . Zur Frage des "Rechtsschutzes" im Bereich der Policey . . . . Berührung von Rechts- und Karnerallehre im "Wirtschaftsrecht" ......... .. . . ................................... .. ..
119 120 121 123 124
IX. Leitgedanken und Regelungsmodell der polizeilichen Gesetzgebungslehre (zugleich Auswertung von Kap. IV bis VIII) . . . . . . . . . . 125 1. Vernunftrechtlich-aufklärerische Leitgedanken und Problem-
stellungen in der polizeilichen Gesetzgebungslehre . . . . . . . . . . 125 a) Abkehr vom Vorrang religiöser Begründung in der Normgebung ...... . . . . .. .................. ... ................ .. b) Kritik älteren Rechtsstoffs . . .. . ... . . .. . . .. .... . . ... .... .. . c) System der Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) "Relativierung" des Naturrechts ... .. .. . . ..... ... . . . . ..... . e) Rechtfertigung landesfürstlich-staatlicher Gestaltungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Polizeiliches "Normgebungsmonopol" .............. . . ..... .
2. Merkmale des Regelungsmodells der Polizeilehre a) b) c) d)
Allgemeinheit und Konkretheit der Normen . .. ......... .. "Fluktuation" des Normbestandes . . . . .... . . ... ..... . . . .. . Einzelgesetzliche Gestaltung .. . ... .. ............. . ....... . Permanenz der Gesetzgebungswissenschaft .. . ....... ... ...
125 127 129 133 134 136 138 139 140 142 143
Dritter TeiL
Wandlungen polizeilicher Gesetzgebungslehre an der Wende zum 19. Jahrhundert X. Entwicklungsrichtungen in der Gesetzgebungswissenschaft des späten 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Zum Gegenstandsbereich der spätvernunftrechtlichen Gesetz-
gebungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
10
Inhaltsverzeichnis 2. Zur Diskussion um Gestaltungsaufgaben staatlicher Gesetzgebung und "natürlichen Freiheitsbereich" des einzelnen ....... . 151 a) Die Neubelebung des naturrechtliehen Freiheitsgedankens . . 152 b) Das Spannungsverhältnis zwischen "natürlichem" Gang des bürgerlichen Lebens und Notwendigkeit staatlicher Gestaltung ............................. . . . . . ............. . .. . . .. 156 3. "Allgemeinheit" und "Festigkeit" der Norm als Materialisierung des Gesetzesbegriffes und spätabsolutistisches Verständnis der Gewaltenteilung ............... . .. . .. ............... .. . . 159 a) Staatstheoretische Ausgangspunkte für die Materialisierung des Gesetzesbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 b) Festigkeit des Gesetzes .. . ........... . . . .. . ...... . .. . .... . . 163 c) Allgemeinheit des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 d) Zur Unterscheidung verschiedener .,Gewalten" im Spätabsolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4. Der Kodifikationsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5. Zuwendung zum historischen R echtsstoff und Ansätze zur Gesetzgebungskritik im ausgehenden 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 173
XI. Wandlungen im Polizeidenken des späten 18. Jahrhunderts . . . . . . 176 1. Der Verlust an kameralistischer Bestimmtheit in der Policey .. 177
a) Die Auseinandersetzung mit physiokratischen und frühliberalen Anschauungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Die Lockerung des kameralistischen Fächergefüges . . . . . . . . 180 c) Impulse für die Gesetzgebungslehre durch die Diskussion um die physiokratischen Anschauungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 2. Die rechtswissenschaftliche Betrachtung der Policey . . . . . . . . . . 182 a) Naturrechtliche Begrenzung der Policey: Joseph Bob . . . . . . 182 b) Historische und positiv-rechtliche "Polizeirechtslehre" : Maser und Berg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 3. Veränderungen in der Systembildung ... . .. ........ . ... . ..... 188 a) Die Abkehr von der Systembildung bei Berg . . . . . . . . . . . . . . 188 b) Die Einbeziehung des Staatsbürger-Begriffes bei Fischer . . 188 c) Ablösung der Policey von den .,Regier ungszwecken" bzw. Staatszwecken: Jakob und Butte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 XII. Polizeigesetzgebungslehren im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1. "Polizey der Gesetzgebung" als Teilgebiet der "Freyheits-Poli-
zey": Heinrich Jung-Stilling ............ .. .. . ... .. . . . .. . .... . . 194
2. Gesetzgebungslehren bei den Systematikern des späten Kameralismus: Karl Gottlob Rössig und Theodor A. H . Schmalz .. . . 199
Inhaltsverzeichnis a) Rössig
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b) Schmalz
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3o Polizeigesetzgebungslehre als Teil einer allgemeinen Theorie der Gesetzgebung: Jo A. Bergkund Ko So Zachariä 202 0
a) Bergk
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b) Zachariä
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4o Das Polizeigesetzbuch als Teil einer Gesamtkodifikation: Johann Paul Harl und Konrad Franz Roßhirt 206 a) Harl b) Roßhirt 0
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5o Merkmale des Wandels der Gesetzgebungslehre für die Policey am Beginn des 19o Jahrhunderts (Zusammenfassung) ooo 214 0
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XIII. Zusammenfassung Bibliographie
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I. Einleitung
Die folgende Untersuchung befaßt sich mit wechselseitigen Einwirkungen von Polizeiwissenschaft und Gesetzgebungslehre im 18. Jahrhundert. Dazu ist es zunächst erforderlich, sich den Stand der Forschungen für jedes dieser beiden Lehrgebiete sowie darüber hinausgehend für die Entwicklung des Gesetzesbegriffes im 18. Jahrhundert zu vergegenwärtigen. Schon hier wird aber in Rechnung zu stellen sein, daß sowohl die wissenschaftssystematische Stellung als auch die Gegenstandsbereiche von Polizeiwissenschaft und Gesetzgebungslehre in der frühen Neuzeit nicht immer ganz scharf, jedenfalls nicht in gleicher Weise für alle vielfältigen Beiträge, die sich selbst diesen beiden Lehrgebieten zurechnen, zu bestimmen sein werden. Diese Einschränkung gilt auch für das Verhältnis von Polizeiwissenschaft und Gesetzgebungslehre zueinander. Denn in diesem Verhältnis ist auf der einen Seite die Polizeiwissenschaft der Sache nach von Anfang an auch Lehre von der Normgebung. Sie schließt dabei Lehren über den Erlaß "allgemeiner" Normen durch städtische und territoriale "Obrigkeiten" und das Reich ein. Insofern ist die frühzeitliche Polizeiwissenschaft nicht nur "Staatslehre" und "Verwaltungslehre" in dem vom heutigen Gebrauch bezeichneten Umfang dieser Begriffe, sondern umfaßt bereits Gegenstände, die sich von den jedenfalls seit dem 18. Jahrhundert verbreiteten Gesetzesbegriffen her der Gesetzgebungslehre zuordnen lassen. Sie entwickelt so bereits früh Fragestellungen, die sodann vertieft auch innerhalb der naturrechtliehen Politiklehre des frühen 18. Jahrhunderts unter dem Gesichtspunkt der prudentia legislatoria erörtert werden und die sich schließlich in gewandelter Gestalt und mit neuen Antworten in der Gesetzgebungswissenschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wiederfinden. Auf der anderen Seite werden zwar Gesetzgebungslehren zunächst häufig im Blick auf das Gesetzgebungsregal - das meist neben dem Polizeiregal gesondert betrachtet wird und sich zuvörderst auf das "Recht" bezieht1 - entwickelt. Sie nehmen aber darüber hinaus schon am Beginn des 18. Jahrhunderts staatliche Maßnahmen in breiterem Umfang zum Gegenstand. Gesetzgebungswissenschaft befaßt sich auch in der folgenden Zeit häufig weil und soweit sich eine konsequente "Materialisierung" des Gesetzesbegriffes durch das Allgemeinheits- und das Festigkeitserfordernis und 1
Vgl. unten III. 5.
14
I. Einleitung
die Anerkennung neuer Differenzierungen aufgrund der Gewaltenteilungslehre noch nicht durchgesetzt haben - mit dem Erlaß und der Veränderung von Normen einschließlich gewährender und belastender "leg,es speciales et singulares" im Rahmen "vorsorglich"-verwaltender Tätigkeit. Sie durchdringt insofern ihrerseits das "Recht" und die "Policey".
1. Die neueren Forschungen zur Policey a) Zum Polizeibegriff. Die neueren Forschungen zum Polizeibegriff zeigen, daß der Begriff Policey (auch "Pollucey", "Pollicey" und andere Schreibweisen) in der frühen Neuzeit in unterschiedlichen Bedeutungen und recht mannigfachen Sinnzusammenhängen gebraucht wird. Kriterien für die notwendige Differenzierung innerhalb begriffsgeschichtlicher Untersuchung liefert- über frühere Arbeiten von Josef Segall2 und Kurt Wolzendorff hinaus- vor allem Franz-Ludwig Knemeyers zusammenfassender Beitrag4 • So erscheint es zunächst notwendig, die Verwendungen des Polizeibegriffs zu unterscheiden zur Bezeichnung erstens für einen Zustand guter Ordnung, zweitens für das Gemeinwesen selbst, für das dieser Zustand zu erstreben ist, und drittens für die Mittel und Wege zur Herstellung dieses Zustandes, insbesondere für die dazu dienenden obrigkeitlichen Tätigkeiten wie die Einrichtung bestimmter Institutionen und vor allem den Erlaß von Geboten6 • - Wie Knemeyer gegenüber Hans-Harald Scupin6 hervorhebt, scheint sich dabei einerseits im Kanzleigebrauch und in den Regelungstexten, andererseits in der wissenschaftlichen Literatur eine verschiedenartige Verwendung des Polizeibegriffs bis in das 18. Jahrhundert hinein feststellen zu lassen7 • In der sich seit dem späten 15. Jahrhundert ausbreitenden Kanzleipraxis ist der Polizeibegriff vor allem in der soeben als erste und als dritte genannten Bedeutung verwandt worden. Hingegen ist den wissenschaftlichen Autoren, besonders der theologischen und humanistischen Literatur, stärker das griechische politeia und das lateinische Geschichte und Strafrecht der Reichspolizeiordnungen ... , 1914. Die Grenzen der Polizeigewalt, 2 Te., 1905/6; ders., Der Polizeigedanke des modernen Staates, 1918. Materialreich zudem Karotine Zobe!, Polizei, 1952. 4 Art. Polizei, in: Brunner, Conze, Kose!!eck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 1978, S. 875 ff. s Vgl. ebd., und bei Hans Maier, Die ältere dt. Staats- und Verwaltungslehre (1'966), 2. Auft. 1980, insbes. S. 92 ff.; sowie sogleich noch II. 1. c). 6 Die Entwicklung des Polizeibegriffs und seine Verwendung in den neueren deutschen Polizeigesetzen, 1970. Scupin bezieht sich dabei kritisch auf die ältere Arbeit von F.-L. Knemeyer, Polizeibegriffe in Gesetzen des 15. bis 18. Jahrhunderts, in: AöR 92 (1967), S. 153 ff. 2
3
1
Knemeyer
(Fn. 4), S. 877, 883.
1. Forschungen zur Policey
15
politia präsent gewesen. Entsprechend der (Doppel-)Bedeutung dieser älteren Begriffe wurde in der wissenschaftlichen Literatur mit dem Polizeibegriff zwar - insoweit übereinstimmend mit dem zeitgenössischen Kanzleigebrauch-auch der innere Zustand des Gemeinwesens beschrieben, daneben aber in stärkerem Maße das Gemeinwesen selbst. Hinzu tritt noch eine weitere Bedeutungsvariante, in der der Polizeibegriff auf die "Zierlichkeit" und "Höflichkeit" von Menschen und Völkern bezogen wird8 • Substantivisch wird hier neben Policey etwa auch "Polizierung" verwandt, adjektivisch von einer "polizierten" Stadt oder Nation gesprochen. In dieser Verwendung nimmt der Polizeibegriff in besonderem Umfang Gesichtspunkte der allgemeinen Sitten- und Klugheitsiehren auf. Insofern ist die Relevanz dieser Begriffsvariante im Verständnis der frühen Neuzeit größer, als es aus heutiger Sicht vielleicht zunächst erscheinen mag. Eine wesentliche Funktion des Polizeibegriffes der frühen Neuzeit, auf die auch im folgenden wiederholt einzugehen sein wird9, liegt in der Unterscheidung eines bestimmten Bereiches der obrigkeitlichen Aufgaben, häufig sogar nahezu des gesamten sonstigen obrigkeitlichen Tätigkeitsfeldes im Innern des Gebietes, gegenüber der Justiz. Diese Funktion wird von den meisten Untersuchungen zum Polizeibegriff erörtert, kann aber noch keinesfalls als erschöpfend erforscht gelten. Sie ermöglicht schon vor der Herausbildung der an Montesquieu anschließenden Lehren von der Gewaltenteilung eine gewisse Unterscheidung jener Staatsaufgaben und staatlichen Institutionen, die sich in moderner Sicht als Verwaltung darstellen, gegenüber dem Justizwesen (sowie gegenüber dem Kriegs- und Militärwesen und der "Außenpolitik" einschließlich der Diplomatie). Aufgrund dieser Unterscheidung erleichtert die Verwendung des Polizeibegriffes die Entfaltung von Staatstätigkeiten, die sich in der ständisch-feudalen Gesellschaft als erforderlich erweisen, für die aber älteres Rechtsdenken und primär auf gerichtliche Tätigkeit ausgerichtete überlieferte Funktionsbestimmungen von vorabsolutistischen Herrschaftsorganen noch keinen hinreichenden Rahmen zu bieten vermochten10. Mit der Trennung weiter Bereiche der Staatstätigkeit als Polizei gegenüber der Justiz gewinnt allerdings unter den Bedingungen des entstehenden und des etablierten Absolutismus der Polizeibegriff zugleich die weitere Funktion, diese Bereiche hoheitlich-staatlichen Handelns auch "der gerichtlichen Nachprüfung zu entziehen" 11 - ein Gesichtspunkt, der später insbesondere aus der Perspektive des Rechtss Vgl. Knemeyer (Fn. 4), S. 883 f .; H. Maier (Fn. 5), S. 102 ff. u. a. a. St. m. So unter III. 3., VIII. 2., XI. 2. to Vgl. Maier (Fn. 5), S. 58 ff., 63 ff., 68 ff. 11 Knemeyer (Fn. 4), S. 882.
9
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I. Einleitung
staatsdenkens in den Mittelpunkt kritischer Würdigung der älteren Polizeibegriffe und der "Trennung von Polizei und Recht" rückt. Gegen Ende des 17. und am Beginn des 18. Jahrhunderts treten neue Komponenten in der Entwicklung des Polizeibegriffes hervor. Auf die Einflüsse der Neubegründung des Naturrechts auf säkular-rationalistischer Grundlage, der Kritik der Aufklärung an überlieferten Vorstellungen und Werten und der Fundierung des ökonomischen Erfahrungswissens durch die kameralistische Literatur dieser Zeit wird noch näher einzugehen sein. Zu den dadurch geförderten Wandlungen des Polizeibegriffs gehört es, daß nunmehr inhaltliche Bestimmungen des Wesens und der Aufgaben der Polizei an verhältnismäßig klar definierte ökonomische Ziele gebunden werden12• Außerdem wird versucht, aus abstraktaxiomatischen Definitionen der Polizei oder der Staatszwecke, denen sie zugeordnet wird, eine Vielzahl einzelner Bestandteile polizeilichen Handeins deduktiv herzuleiten. Abstrakt durchaus ähnliche Definitionen der Polizei werden dadurch mit scheinbarer innerer Notwendigkeit an eine Vielzahl recht unterschiedlicher konkreter Inhalte gebunden. Knemeyer weist für den Beginn des 18. Jahrhunderts insbesondere auf die Bedeutung des Entstehens eines "institutionellen" Polizeibegriffes hinta. Indem der Begriff der Polizei die Staatseinrichtungen und fürstlich-staatlichen Beamten, die sich spezifisch der Wahrung und Herstellung "guter Ordnung" widmen sollen, bezeichnet, gewinnt die Trennung von Policey und Justiz auch s'taatsorganisatorisch greifbare Gestalt. Dabei unterscheidet Knemeyer unter Zuhilfenahme der modernen verwaltungsrechtlichen Begrifflichkeit drei Bedeutungen des Polizeibegriffes in Texten des 18. Jahrhunderts: Eine "materielle" für alle Staatsaufgaben und -tätigkeiten, die der Herstellung "guter Ordnung" dienen; die "institutionelle" für die spezifisch diesen Aufgaben gewidmeten Behörden und schließlich eine "formelle", die sich aus dem "institutionellen" Begriff der Policey ableitet und die von diesen Behörden wahrzunehmenden Aufgaben - also einen engeren Kreis als der "materielle" Polizeibegriff - bezeichnetu .. - So zweifellos zutreffend Knemeyer Bedeutungsvarianten beim Gebrauch des Polizeibegriffs in Texten des 18. Jahrhunderts aufzeigt, erscheint seine Differenzierung hier doch nicht ganz frei von der Gefahr, zu Mißverständnissen Anlaß zu geben, wenn mit der Gegenüberstellung von "formellem" und "materiellem" Polizeibegriff Entwicklungen des 18. Jahrhunderts unter Zuhilfenahme einer Begrifflichkeit betrachtet werden, die im geltenden Polizeirecht des 20. Jahrhunderts in einem anderen theoretischen Umfeld stehtts. 12 Insbesondere im Anschluß an die "österreichische Schule" und durch die Lehre G. H. Zinckes; dazu unten III. 4. b) und IV. 1. 1a Knemeyer (Fn. 4), S. 887. 14 Ebd. ts Problematisch ist dies insbesondere insofern, als Knemeyer hier nicht allein Phänomene aus unterschiedlichem historischen Kontext vergleichen, sondern die Kontinuität einer Entwicklung aufzeigen will (angedeutet schon in den Überschriften "Moderner Polizeibegriff" und "Entstehung eines institutionellen und Bildung eines formellen Polizeibegriffs", ebd., S. 886 f.).
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b) Zur Polizeiwissenschaft. So unvollständig sich allein von den wissenschaftlichen Texten zur Policey die Entfaltung des Polizeibegriffes erfassen läßt, wie Knemeyer zu Recht betont hat16, greift die wissenschaftliche Befassung mit der Policey zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert aber durchaus weit über eine bloße theoretische Erörterung dieses Begriffes hinaus. Im wesentlichen scheinen während dieses Zeitraumes bei einer ersten groben Unterteilung drei Phasen in der Entwicklung der Polizeiwissenschaft unterscheidbar: die wissenschaftliche Befassung in der noch stark theologisch beeinflußten und der humanistisch ausgerichteten Literatur im 16. und 17. Jahrhundert; der Aufstieg der Polizeiwissenschaft zur eigenständigen und systematisch vorgetragenen Wissenschaftsdisziplin seit dem Ende des 17. Jahrhunderts mit der anschließenden Blütezeit der kameralistischen Polizei nach der Mitte des 18. Jahrhunderts; schließlich spät- und nachabsolutistische Ansätze für neue Grundlegungen der Polizeiwissenschaft, die im 19. Jahrhundert mit Robert von Mohl ihren theoretischen Mittelpunkt im Gedanken des Rechtsstaates finden. Insbesondere mit der spät- und nachabsolutistischen Phase der Polizeiwissenschaft haben sich vor und neben H. Maiers umfassendem Standardwerk17 auch verschiedene Beiträge von Vertretern der Staatsrechtsund Verwaltungslehre in der Auseinandersetzung mit geschichtlichen Grundlagen und Wandlungen des eigenen Faches oder einzelner, in seinem Rahmen zu behandelnder Institutionen befaßt, so etwa von ErnstWolfgang Böckenförde 18 und später von Hans-Uwe Erichsen 19• H. Maier hat darüber hinaus vor allem gezeigt, wie in der ersten Phase wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Polizei die Fortführung sich nur allmählich wandelnder älterer Traditionen und auf Erneuerung gerichtete geistige Strömungen zusammentraten20• So verbanden sich in der humanistischen und der ständisch-christlich ausgerichteten Polizeiliteratur der beiden ersten Jahrhunderte der Neuzeit weitgehend aus dem Mittelalter Festzuhalten bleibt bei der Verwendung der neueren Termini jedenfalls, daß diese Auffächerung des Polizeibegriffes in den Quellen des 18. Jahrhunderts andere und regelmäßig beschränktere Relevanz hatte und daß auch für den institutionellen und den formellen Polizeibegriff sich durch den Hechtsstaatsgedanken des 19. Jahrhunderts ein grundlegend neuer Bedeutungszusammenhang ergab (wenn man nicht ohnehin einen weiteren, noch tiefer greifenden Wandel aller derartiger Begriffe des Polizeidenkens in späterer Zeit vom Demokratieprinzip her annehmen muß). 16 Knemeyer (Fn. 4), S. 877 in der soeben Fn. 6 f. erwähnten Kontroverse mit Scupin. 11 Oben Fn. 5. 18 Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, u. a. S. 53 ff. 19 Hans-Uwe Erichsen, Verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Grundlagen der Lehre vom fehlerhaften belastenden Verwaltungsakt ... , 1971. 2o Vgl. zusammenfassend bei Maier (Fn. 5), S. 259 ff. ~
R. Schulze
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überkommene Vorstellungen über das Recht und über die friedens-und rechtswahrenden Aufgaben des Staates mit protestantischen Lehren über Fürstenamt und Sozialethik. Hinzu kamen weitere Komponenten, die Erneuerung bedeuteten und zugleich selbst auf ältere Tradition zurückgreifen konnten, wie die vom Humanismus geförderte Auseinandersetzung mit der aristotelischen Ethik und Politik und die teilweise von vor- oder frühabsolutistischen Bestrebungen getragene Verwendung des bonum commune-Begriffs21• Der an diese frühe wissenschaftliche Auseinanderseitzung anschließende Aufstieg der Polizeilehre seit dem Ende des 17. Jahrhunderts geht mit der Konsolidierung des landesfürstlichen Absolutismus in Deutschland einher. Die Polizeiwissenschaft intensiviert ihre Beschäftigung mit einer Vielzahl konkreter einzelner Bereiche des Erfahrungswissens und mit vielen zumeist noch nicht in den akademischen Lehrbetrieb einbezogenen Sachgebieten, deren Beherrschung ihr zur Herstellung "guter Ordnung" im Gemeinwesen erforderlich erscheint. Sie erweitert auf diesem Weg ihren Gegenstandsbereich mehr und mehr um Fragen, die etwa von der Bergbautechnik und von landwirtschaftlichen Fertigkeiten bis hin zu "Stadtplanung" und Versicherungswesen reichen. In gewisser Weise werden sie und die mit ihr verbundenen kameralistischen Fächer sogar zu einem akademischen und literarischen Sammelplatz verschiedenster technisch-naturwissenschaftlicher und wirtschaftlich-sozialwissenschaftlicher Kenntnisse, die teils sich erst neu entwickelt haben, teils nunmehr systematisch zusammengestellt werden und für die sich noch keine Entfaltungsräume im Rahmen eigener Wissenschaftsdisziplinen herausgebildet haben, für deren Verbreitung aber neue Herausforderungen in landwirtschaftlicher und gewerblicher Produktion, in Handel und Verwaltung ein Bedürfnis schaffen. Für diese Phase des Aufstiegs und der Blütezeit der kameralistischen Polizeiwissenschaft bietet H. Maiers Werk ebenfalls den vollständigsten bisher vorliegenden Überblick. Für die folgende Darstellung kann weitgehend darauf verwiesen werden. Zu ergänzen sein werden die Ergebnisse H. Maiers zur Entwicklung der Polizeiwissenschaft hier vor allem einerseits um eine ausführlichere Würdigung der Bedeutung, die der Auseinandersetzung mit Fragen der Gesetzgebungslehre bei einer Reihe von Polizeiautoren in diesem Rahmen zukommt, andererseits um eine stärkere Einbeziehung des Beitrages des sächsischen Kameralisten Georg Heinrich Zincke22 für die GesamtentZur Bedeutung der eudämonistischen Staatszweckbestimmungen jüngst Die Staatszwecke und die Entwicklung der Verwaltung im dt. Staat des 18. Jh., in: Beitr. z. Rechtsgeschichte (Gedächtnisschr. Conrad) 1979, S. 467 ff. (477, 481 ff.) m. N. d. ält. Lit. 22 Zincke wird bei Maier (Fn. 5), S. 2, 6 im Text als Bibliograph der älteren Kameralliteratur gewürdigt, aru;onsten aber nur in den Anmerkungen in Bezug genommen. Höher bewertet wird seine Bedeutung für die Entwicklung der Kameralwissenschaften insgesamt etwa bei Erhard Dittrich, Die dt. und österr. Kameralisten, 1974, S. 90 ff., sowie jetzt auch bei Jutta Brückner, 21
U. Scheuner,
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wicklung der Polizeiwissenschaft im 18. Jahrhundert. Darüber hinaus werden einige Akzentsetzungen in H. Maiers Werk weiterer Erörterung bedürfen. So wird im folgenden die Herausforderung zur Ausweitung der Tätigkeit des fürstlichen Staates durch neue ökonomische Entwicklungen in Landwirtschaft und Gewerbe23 und auf diesem Hintergrund die Relevanz der Entwicklung neuer ökonomischer Sichtweisen seit dem Ende des 17. Jahrhunderts (etwa durch die "Österreiche Schule") wohl höher veranschlagt als bei H. Maier. Auch wird den theoretisch-methodischen Innovationen und den Veränderungen der Staatsvorstellungen, die innerhalb der Polizeiwissenschaft seit Beginn des 18. Jahrhunderts (also unter den Bedingungen des Absolutismus) durch Aufklärung, Erneuerung des Naturrechts und Fortentwicklung ökonomisch-finanzwissenschaftlicher Kameralkenntnisse bewirkt wurden, ein größeres Ausmaß beigemessen, als es H. Maier in seiner Darstellung, die eher die - unbestreitbar auch vorhandenen - Kontinuitätslinien im Polizeidenken hervorhebt24, zugrunde zu legen scheint. c) Zur Polizeipraxis. Die praktische Tätigkeit frühneuzeitlicher Herrschaftsgewalten, die der Polizei zugerechnet wurde, und insbesondere der Erlaß polizeilicher Gebote hat in neuerer Zeit vor allem durch die Arbeiten von Gustaf Klemens Schmelzeisen 25 die Aufmerksamkeit rechtsgeschichtlicher Forschung auf sich ziehen können. Das Verhältnis von Polizeiordnungen und Privatrecht, die Frage der Widersprüchlichkelt der Zielstellungen als ein Grund der Expansion der Regelungstätigkeit und die unterschiedlichen Bedingungen der Normgebung in kleineren und größeren Territorien26 sind einige der Gesichtspunkte, die von Schmelzeisen oder von den an ihn anschließenden Untersuchungen angeschnitten worden sind. Dennoch gilt es hier angesichts der Unzahl polizeilicher Regelungen, der Breite der von ihnen erfaßten Sachgebiete und der Vielfalt der sie erlassenden, verändernden und anwendenden Obrigkeiten und "Unterobrigkeiten" des Reiches, der Territorialstaaten, der Städte und der kleineren Sozialkreise (wie Patrimoruialherrschaft und Dörfer) jedenStaatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht, 1977, S. 80 ff., und bei Pierangelo Schiera, Zwischen Polizeiwissenschaft und Rechtsstaatlichkeit, in: Schnur (Hrsg.), Staat und Gesellschaft. Studien über Lorenz von Stein, 1978, S. 214, im weiteren u. IV. 1.
~3 Zu den Widersprüchen zwischen der Bindung der Polizeigesetzgebung an ständische Strukturen und der bewahrenden Funktion zu deren Erhaltung einerseits und ihren Aufgaben im Rahmen neuer sozioökonomischer Entwicklungen andererseits vgl. R. Schulze, Die Polizeigesetzgebung zur Wirtschafts- und Arbeitsordnung der Mark Brandenburg ... , 1978, S. 91 ff.,
183 ff.
Vgl. insbes. die abschließende Würdigung bei Maier (Fn. 5), S. 263. Dazu grundlegend Gustaf Klemens Schmelzeisen, Polizeiordnungen und Privatrecht, 1955; ders., Das polizeiliche Rechtsgebot in der neueren Privatrechtsgeschichte, 1967; Polizei- und Landesordnungen (Quellen zur Neueren Privatrechtsgeschichte Deutsehlands II, 1 u. 2), 1968/69. 26 Vgl. jetzt zum Entwurf einer Sächsisch-Lauenburger Polizeiordnung Brigitte Hempel, Der Entwurf einer Polizeiordnung ... , 1980. 24 25
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falls bei einer territorial übergreifenden Betrachtung nach wie vor nicht nur, Lücken zu schließen, sondern überhaupt erst alle Schwerpunkte der polizeilichen Tätigkeit zu erfassen und Grundzüge in der Entwicklung der Regelungen zu suchen. Soweit sich für die Entwicklung der polizeilichen Gebotstätigkeit in der Praxis wenigstens einige Umrisse abzeichnen, wird versucht werden, diese im folgenden bei der Darstellung der Entwicklungsabschnitte polizeilicher Normgebungslehren jeweils in die Einleitung mit einzubeziehen.
2. Die neueren Forschungen zur Gesetzgebungswissenschaft im Absolutismus Zum Stand der neueren Forschung im Hinblick auf die Wissenschaft von der Gesetzgebung im 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert mögen hier zunächst einige wenige Hinweise genügen; im weiteren wird darauf noch unter den verschiedenen einzelnen Aspekten der folgenden Darstellung einzugehen sein. Aus der allgemeineren gesellschaftstheoretischen Literatur ist hier an erster Stelle Jürgen Habermas21 zu nennen, der auf die Funktion der wissenschaftlichen Diskussion von Gesetzgebungsfragen für die Entstehung von Öffentlichkeit im Vorfeld der bürgerlichen Gesellschaft nachdrücklich aufmerksam gemacht hat. Gerhard DiZcher2 8 hat die Bedeutung gesetzgebungswissenschaftlicher Ansätze im Spannungsfeldverhältnis zwischen Naturrechtsdenken und Positivismus aufgezeigt. Nach den älteren Studien von Hans Thieme2 9 über die Impulse des späteren Vernunftsrechts für die preußischen Gesetzgebungsarbeiten und Franz Wieackers Betrachtungen über "Aufstieg, Blüte und Krisis der Kodifikationsidee" 30 haben in den letzten Jahrzehnten vor allem die Arbeiten von Hermann Conrad31 , Hans Hattenhauer32 und Gerd Kleinheyer33 sowie von Uwe Jens Heuer3 4 die Aufmerksamkeit wieder auf die 27 Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962), 6. Aufl., 1974, insbes. S. 34, 89, 96 f., 103 ff., 119 ff., 127 ff. 28 Gesetzgebungswissenschaft und Naturrecht, in: JZ 1969, S. 1 ff. 29 Grundlegend: Die Zeit des späten Naturrechts, in: ZRG Germ. Abt. 56 (1936), S. 202 ff., und Die preussische Kodifikation, ebd. 57 (1937), S. 355 ff. In seinem jüngsten gesetzgebungsgeschichtlichen Beitrag (Publizität der Gesetzgebung im absoluten Staat, in: Beitr. z. Rechtsgeschichte, Gedächtnisschr. Conrad, 1979, S. 539 ff., insbes. S. 544) weist Thieme u. a. auf die politische Relevanz der Öffentlichkeit zur Durchsetzung spätvernunftrechtlicher Gesetzgebung gegen (konservativ-feudale) Widerstände in Preußen hin. ao In: Festschr. Boehmer, 1954, S. 34 ff. 31 Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts . .. , 1·958; ders., R echtsstaatliche B estrebungen im Absolutismus . . . , 1961, u. a . m. 32 So als Hrsg. der Textausgabe des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten, 1970.
2. Forschungen zur Gesetzgebungswissenschaft
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wissenschaftliche Vorbereitung der spätvernunftsrechtlichen Gesetzbücher und auf die Diskussion des ausgehenden 18. Jahrhunderts um die Notwendigkeit derartiger Gesetzgebungsvorhaben gelenkt. Anfänge des neueren Verständnisses der Gesetzgebung in der Kurie und im entstehenden Territorialstaat des hohen und späten Mittelalters haben von unterschiedlichen Ausgangspunkten her Sten Gagne-fl5 und Armin Wolf36 aufgezeigt; Übereinstimmungen besonders mit Anschauungen des 18. Jahrhunderts hebt dabei Gagner hervor. Aber die frühen Entwicklungen der prudentia legislatoria in der Neuzeit und insbesondere die theoretischen Begründungen und Richtungen dieses Wissenschaftsgebietes in "praktischer Philosophie" und Jurisprudenz des 17. und frühen 18. Jahrhunderts bedürften noch eingehender Untersuchung. Auch für das weitere 18. und das frühe 19. Jahrhundert, also für den Zeitraum, der im folgenden vor allem zu betrachten sein wird, ist die Stellung der Gesetzgebungswissenschaft im Verhältnis zur Staatsrechts- und zur Politiklehre bislang keineswegs erschöpfend behandelt worden. Die schier unübersehbare Fülle von Gegenständen der öffentlichen Diskussion im späten 18. Jahrhundert, für deren Behandbmg die Gesetzgebungswissenschaft in Anspruch genommen worden ist, scheint (soweit ersichtlich) noch nicht einmal enumerativ vollständig erfaßt zu sein. Kaum mehr als die Umrisse einiger wesentlicher Themen zeigen sich hier in Untersuchungen, die auf die Bezüge der Gesetzgebungswissenschaft und Gesetzgebungsdiskussion dieser Zeit zu erziehungsphilosophischen und bildungspolitischen Erörterungen und zur wirtschaftstheoretischen und -politischen Diskussion beim Vordringen physiokratischer und frühliberaler Ideen hinweisen37• Im Vordergrund der meisten vorliegenden gesetzgebungsgeschichtlichen Beiträge stehen schließlich Mitarbeit und Kritik der Gesetzgebungswissenschaft und der Gesetzgebungsdiskussion der weiteren Öffentlichkeit an jenen breit angelegten Gesetzbüchern wie dem Preußischen Allgemeinen Landrecht und den Vorläufern des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs, die später als Korliftkationen bezeichnet wurden. Weniger beachtet wird die - zunächst positive, später überwiegend kritische - Befassung dieser Gesetzgebungswis33 So Staat und Bürger im Recht, 1959, und (gemeins. mit H. Conrad als Hrsg.) Vorträge über Recht und Staat von C. G. Svarez, 1960. 3 4 Allgemeines Landrecht und Klassenkampf, 1960. 35 Sten Gagner, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, 1960. 36 Armin Wolf, Forschungsaufgaben einer europäischen Gesetzgebungsgeschichte, in: Ius commune V (1975), S.178 ff. (179) ; ders., Die Gesetzgebung der entstehenden Territorialstaaten, in: Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europ. Privatrechtsgeschichte, Bd. 1, 1973, S. 517 ff. 37 Hinweise finden sich hier am ehesten bei Habermas (Fn. 27) sowie in der unten X. angeführten Literatur.
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senschaft mit der "einzelgesetzlichen"38 Regelungstätigkeit {auf die im folgenden vor allem einzugehen sein wird, weil die Polizeivorschriften überwiegend in Form verstreuter Einzelregelungen ergingen).
3. Dieneueren Forschungen zum frühneuzeitlichen Gesetzesbegriff Neben den Untersuchungen zur Gesetzgebungswissenschaft werden im folgenden neuere Forschungen zum Gesetzesbegriff in der Staatsund Rechtslehre der frühen Neuzeit einzubeziehen sein. In Rechnung zu stellen ist hier zwar, daß der Gegenstand der Gesetzgebungswissenschaft und insbesondere die rechtswissenschaftliche Lehre vom Gesetzesbegrüf nicht miteinander identifiziert werden können. Der Gesetzesbegriff der Jurisprudenz braucht der Gesetzgebungslehre nicht einmal stets als eine notwendige inhaltliche Bestimmung und Begrenzung derjenigen Regelungstätigkeit, mit der sie sich befaßt, zu gelten. Dennoch beeinflussen sich Wandlungen des Gesetzesbegriffes in der Rechtswissenschaft und Entwicklung der Gesetzgebungswissenschaft weithin wechselseitig und stehen beide wiederum unter dem Einfluß der Entwicklung der Gesetzesbegriffe in anderen Wissenschaftsgebieten {so seit dem 17. Jahrhundert besonders unter dem Einfluß des naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffes39). Wenn hier auch die Entwicklungen des Gesetzesbegriffes selbst nicht umfassend untersucht werden können und sollen, so wird doch unter dem Gesichtspunkt der Entwicklungen der Gesetzgebungslehren für die Polizei verschiedentlich auf Traditionen und Veränderungen des allgemeineren Gesetzesverständnisses zurückzugehen sein, so etwa in Hinblick auf die "Materialisierung" des GesetzesbegrUfes durch die Erfordernisse der (Rechtssicherheit verbürgenden) "Festigkeit" der Norm und der {Gleichheit ermöglichenden) "Allgemeinheit" 40• Es erscheint daher zweckmäßig, einige der Spannungsfelder, in denen sich nach den vorliegenden Forschungen die allgemeineren Erörterungen um das Verständnis des Gesetzes in der frühen Neuzeit bewegten, schon vorab im Überblick zu umreißen, sobald sich aus ihnen Voraussetzungen für zentrale Fragestellungen der sich mit der Polizei befassenden Gesetzgebungslehren des 18. Jahrhunderts ergeben. Dabei kann weitgehend an die jüngere, den Forschungsstand zusammenfassende Darstellung von Rolf ss Vgl. zu diesem Begriff und zum Verhältnis einzelgesetzlicher und kodifizierender Gesetzgebung von den Problemstellungen der Gesetzgebungslehre der Gegenwart her Peter Non, Gesetzgebungslehre, 1973, u . a. S. 215 ff. ae Hierzu Rolf Grawert, Art. Gesetz, in: Brunner, Conze, KoseHeck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 1975, S. 894 ff., m. w. N.; Ernst Bloch, Naturrecht und m enschliche Würde, S. 71 u. a. a. St. m . 40 s. unten X. 3.
3. Forschungen zum Gesetzesbegriff
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Grawert41 sowie einige weitere Beiträge, insbesondere von Heinz Mohnhaupt42, angeschlossen werden. a) Herrschermacht und Naturrecht. (1) Staats- und Rechtslehren der frühen Neuzeit sehen sich zuvörderst vor die Aufgabe gestellt, die Herkunft des Gesetzes aus der Entscheidungsgewalt einer übergeordneten Autorität im sozialen Leben und damit seine Entstehung und Durchsetzbarkeit kraft der Herrschermacht des Gesetzgebers einerseits und die Begründung seiner Inhalte und seiner Verbindlichkeit durch die Normen des Naturrechts andererseits zueinander ins Verhältnis zu setzen. Kaum einer der Ansätze des frühneuzeitlichen Gesetzesverständnisses verzichtet ganz auf eines dieser beiden Elemente des Gesetzesbegriffes. Gewichtung und Zuordnung sind aber außerordentlich vielfältig. Neben Bodins Gesetzesverständnis43 bezeichnen hier vor allem die Positionen von Hobbes und SamueZ Pufendorf Markierungspunkte im Spektrum der Gesetzesverständnisse vor der Wende zum 18. Jahrhundert. Hobbes' absolutistisch-voluntaristisches Gesetzesverständnis bringt die Bedeutung der Herrschermacht und des Herrscherwillens für das Gesetz besonders deutlich in dem Satz zum Ausdruck: " ... the Law is a Command, and a command consisteth in declaration or manifestation of the will of him that commandeth ...44." Es wird allerdings in Deutschland, wie Christoph Link jüngst herausgearbeitet hat, nur zögernd und zunächst äußerst kritisch (oder in positiven Stellungnahmen jedenfalls abgeschwächt) rezipiert45 • Hingegen steht für Pufendorf die Begründung des positiven Rechts im Naturrecht im Vordergrund. Ohne daß er die dem Herrscher mit dessen "Amt" verliehene Macht zur Sanktionierung von Normen in Zweifel zieht, geht es ihm doch in erster Linie darum, die Pflichtunterworfenheit des einzelnen (und auch die Pflichtunterworfenheit des Herrschers bei der Pflichtenauferlegung für den einzelnen) eng an ihre naturrechtliehen Grundlagen zu binden46 • (2) Zugleich ist innerhalb dieses Spannungsverhältnisses von Naturrecht und Herrschermacht die Entwicklung des Gesetzesbegriffes eingebunden in die Auseinandersetzungen um die Entfaltung des Rechts41 Art. Gesetz (Fn. 39) sowie schon zuvor ders., Historische Entwicklungslinien des neuzeitlichen Gesetzesrechts, in: Der Staat 11 (1972), S. 1 ff. 42 Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Regime, in: Ius commune IV (1972), S. 188 ff.; ders., Untersuchungen zum Verhältnis von Privileg und Kodifikation im 18. und 19. Jahrhundert, in: Ius commune V (1975),
s. 71 ff.
s. unten II. 1. d), III. 5. Thomas Hobbes, Leviathan, in: The English works, Vol. 3, S. 257. 45 Vgl. Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1979, S. 40 ff. u. sogleich noch II. l. d), insbes. Fn. 3Q. 46 Vgl. H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht bei S. Pufendorf, 1972; Notker Hammerstein, S. Pufendorf, in: StoUeis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. u. 18. Jh., insbes. S. 176, 181 ff. 43
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begriffes selbst auf neuer rationalistisch-säkularer Grundlage. Hier ist auf der einen Seite die Herausbildung neuerer naturrechtlicher Rechtsbegriffe seit dem 16. Jahrhundert und als deren Kehrseite der (am Beginn des 18. Jahrhunderts noch nicht abgeschlossene) Prozeß der Ablösung von älteren Rechtsverständnissen in Rechnung zu stellen, auf der anderen Seite die (zunächst eher praktische als theoretische-prinzipielle) Kritik an einem erheblichen Teil dieser neueren naturrechtliehen Rechtsvorstellungen durch die im Verlaufe des 18. Jahrhunderts sich als Gegenbewegung abzeichnenden historisch-empirischen Richtungen in der Rechtswissenschaft. So steht der Gesetzesbegriff, soweit die bisher vorliegenden Forschungen erkennen lassen, noch weit in die Neuzeit hinein unter dem Einfluß jenes älteren, aus dem Mittelalter überkommenen Verständnisses des Rechts, das Recht wesentlich als "Gottesrecht" und sakral begründetes Naturrecht sowie als durch Tradition und verschiedener Konsensformen ("Willkür", "Satzung" uswY) legitimierten Normbestand auffaßt. Als Recht erscheinen dabei in erster Linie die im Gericht zu "erkennenden" und durch Urteil auszusprechenden Sätze48 (modern ausgedrückt: die als Urteilsgrundlage zu verwendenden Normen). Der Rechtsbegriff erstreckt sich vor allem (wiederum modern gesprochen) auf Privat-, Strafund Verfahrensrecht (sowie auf das Lehnrecht und das sich seit dem 17. Jahrhundert verselbständigende Staatsrecht), regelmäßig aber nicht auf die polizeiliche Gebotstätigkeit Diese Sichtweise wirkt allerdings in das 18. Jahrhundert vor allem dadurch hinein, daß von einem (großen) Teil der Staatslehre der Bereich des "Rechts" - vor allem im Unterschied zur Policey- von den Tätigkeitsfeldern der Justiz bzw. den justiziellen Funktionen des Staates her zu beschreiben versucht wird49 • Für die Gesetzesbegriffe selbst ist demgegenüber spätestens seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert ein stärkeres Maß der Ablösung von den älteren Rechtsvorstellungen zu verzeichnen, indem die Gesetze weitgehend unabhängig von göttlichen Geboten, Konsens und Tradition vom säkularen Naturrecht und den Staatszwecken her nach Maßgabe der 47 Zu diesem Typus des Gesetzes vgl. WHhelm Ebel, Die Willkür, 1953; ders., Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, 2. Aufl. 1958, insbes. S. 21 . 48 Vgl. zur Bedeutung des Verständnisses des Rechts von der "Rechtsfindung", dem "Weistum" und dem gerichtlichen Urteilsspruch her in gesetzgebungsgeschichtlicher Hinsicht Ebel, Geschichte der Gesetzgebung (Fn. 47), u. a. S. 12 ff. Aus der in letzter Zeit in breitem Rahmen wieder in Bewegung geratenen Diskussion um die Rechtsbegriffe sei darüber hinaus vor allem hingewiesen auf Hermann Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht, in: ZRG Germ. Abt. 75 (1958), S. 206 ff.; Karl Kroeschell, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: Vorträge und Forschungen 12 (1968), S. 309 ff., ohne daß der Forschungsstand zu den Vora ussetzungen frühneuzeitlicher Auffassungen über Gesetz und Gesetzgebung im hoch- und spätmittelalterlichen Rechtsdenken hier umfassender gewürdigt werden kann. 49 Vgl. unten III. 2. b), VIII. 2.
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Vernunft begründet werden. Dies schließt es zwar nicht aus, daß im Verständnis des Gesetzes weiterhin häufig besondere Bedeutung Merkmalen zugewiesen wird, die schon vom älteren Rechtsdenken her im Vordergrund standen (so der "Festigkeit" der Norm) und daß gerade dabei neben neueren naturrechtliehen Betrachtungsweisen jene Richtungen zum Zuge kommen, die sich auf ältere Traditionen beziehen. Gesetze sind aber regelmäßig nicht mehr allein die Normen, die sich dem Bereich des Rechts im älteren Verständnis zurechnen lassen. Der Gesetzesbegriff rückt zuweilen sogar eher "in die Nähe" der Polizei50• Und Gesetzgebung kann nicht nur der Normerlaß (oder anders in moderner Begrifflichkeit gefaßt: Rechtsetzung und Rechtdarstellung51) im Bereich jenes älteren "Rechts", sondern auch in der Policey sein62 • Die Kritik an den naturrechtliehen Rechtsbegriffen vom Standpunkt des insbesondere gegen Ende des 18. Jahrhunderts vordringenden empirisch-historischen Rechtsdenkens zielt trotz allen Traditionalismus' innerhalb seiner verschiedenen Ansätze nicht etwa darauf ab, den Gesetzesbegriff wieder an einen Begriff des Rechts in jenem Verständnis, wie es aus dem Mittelalter in die frühe Neuzeit überkommen war, zu binden. Denn ebensowenig wie die historisch-archivalische Art der Beschäftigung mit dem Recht und der in ihrem Empirismus bereits angeso Vgl. Jürgen Weitzel, Merkantilismus und zeitgenössische Rechtswissenschaft, Vortr. auf d. 9. Koll. für vergl. Städtegeschichte Münster 1978 (als Taggprot. vorl., vollst. Veröff. vorges.). 51 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit bei der Beschreibung der Gesetzgebung der frühen Neuzeit Gerhard Immel, Typologie der Gesetzgebung des Privatrechts und Prozeßrechts, in: Coing (Hrsg.) Handbuch ... (Fn. 36), Bd. 2, 2, S. 3. 52 Vgl. Schulze (Fn. 23), S. 149 ff., 183 ff. Problematisch an den Einwänden, die J. Weitzel gegenüber den Ergebnissen meiner Arbeit (in einer erst nach Fertigstellung des vorlieg. Mskr. erschienenen Rez., ZfHF 1981, S. 94 ff.) vorbringt, ist m . E. vor allem, daß Weitzels Betrachtung des Naturrechts im frühen 18. Jh. stark aus dem Blickwinkel der älteren Rechtstraditionen erfolgt und staats- und gesetzgebungstheoretische Implikationen der Erneuerung des Naturrechts seit dem späten 17. Jh. in den Hintergrund treten läßt (einen "Umschwung" nimmt Weitzel, a.a.O., S. 97, zwar noch unter den Bedingungen des Absolutismus, aber erst mit Montesquieu an). Zumindest stark vereinfacht und im Aussagewert für den Gesetzesbegriff des frühen 18. Jh. unzulänglich erscheint es insbes., wenn Weitzel, a.a.O., S. 98, meint: "Gegenüber dem mit dem natürlichen Recht weitgehend zur Deckung gebrachten ,Recht' befiehlt der Gesetzgeber lediglich die Anwendung, im Bereich der Policey befiehlt er auch die Inhalte." Weitzel läßt hier sowohl den Einfluß des autoritativ-voluntaristischen Gesetzesverständnisses von Hobbes und der Zusammenfassung der Souveränität durch die Gesetzgebungsgewalt bei Bodin als auch die - insbes. von Mohnhaupt (Fn. 42) vorgestellten - deutschen Quellen zu Setzungsmacht und voluntas legislatoris des Herrschers außer Betracht. Mehr als eine Trennung nach "Anwendungs- und Inhaltsbefehl" beginnt zudem sodann im Verlaufe des 18. Jh. die zunehmende "materiale" Auffüllung des Gesetzesbegriffs selbst - durch die Forderung der Festigkeit und Allgemeinheit der Norm, u. a. unter dem Einfluß von John Locke (s. sogleich bei Fn. 60) - das Gesetz von bloßen Verordnungen im Bereich der Policey zu scheiden.
I. Einleitung
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legte frühe Rechtspositivismus mit den Denkweisen bei der Entstehung des historischen Rechtsstoffs, dem sie sich widmen, identisch sind, beschränkt diese Richtung ihren Begriff des Rechts auf den historisch einstmals mit diesem verbundenen Normbestand. Sie ist vielmehr häufig gerade bestrebt, neuere Materien- darunter das "Policey-Recht" 63 in die empirische Betrachtung der Rechtswissenschaft und in ihre historisch-organischen Arbeitsweisen einzubeziehen64 • Auf einige Aspekte des Verhältnisses rationalistisch-säkularer Begriffe des Rechts zum Gesetzesbegriff wird unten noch im Zus•ammenhang mit den unterschiedlichen Ausgangspunkten der Gesetzgebungslehren für die Polizei im 18. Jahrhundert einzugehen sein. Dabei wird zu bedenken sein, daß dieses Verhältnis ebenso verschiedenartig ausgeformt sein kann wie die naturrechtliehen Rechtsbegriffe selbst. So kann der Gesetzesbegriff für einen Großteil der Lehren nunmehr auch Normen erfassen, die nicht als von d:er Natur vorgeschriebenes .,Recht" (und auch nicht als Recht im älteren Verständnis•) gelten müssen, ohne aber lediglich in ganz allgemeiner Bedeutung auf die Kennzeichnung jedweder Regelmäßigkeiten und Regeln (Naturgesetze, Normen der privaten und politischen Klugheit usw.) ausgedehnt zu werden. Er kann vielmehr zur Bezeichnung des ganzen Kreises der in der Gesellschaft geltenden und staatlich sanktionierten Normen, des positiven Rechts in neuerem Verständnis also, dienen, auch soweit diese Normen nicht einfach als Positivierung von Naturrecht gelten, sondern ihr Erlaß primär als eine durch konkrete soziale Gegebenheiten hervorgerufene Betätigung der Herrschermacht entsprechend den Staatszwecken und nach Maßgabe der Vernunft angesehen wirdo~. - Wenn sich in anderen Teilen der naturrechtliehen Lehre der Begriff des (Natur-)Rechts weiterspanntö6, kann der Begriff des Gesetzes ebenfalls prinzipiell alle obrigkeitlich sanktionierbaren Normen als (zu positivierende oder positivierte Naturrechts-).,Gesetze" umschließen. .,Gesetz" und .,Recht" sind von diesem Ansatz her jedoch in neuer Weise aneinander gebunden; die Lehre von den Gesetzen befaßt sich nicht nur neben den Gesetzen des Rechts mit denen der Policey, sondlern kann als Teil der Rechtslehre das "Polizeirecht" einschließens7. -Einen weiteren Schritt in der EntVgl. dazu H. Maier (Fn. 5), S. 200 ff. und unten XI. 2. b). Zum Beitrag der historisch-empirisch ausgerichteten Jurisprudenz zur Entwicklung des Gesetzesbegriffes im 17. u. 18. Jh. besonders im Rahmen der Reichs- und Territorialpublizistik vgl. Grawert (Fn. 39), S. 889 ff. 55 Diese Normen bleiben allerdings durch die Pflicht zur Berücksichtigung der Lehren der prudentia legislatoria im Rahmen der Staatsklugheit theoretisch an die Gebote der Vernunft zurückgebunden. Hier liegt ein Ansatz für die Legitimationsfunktion zugunsten der Herrschaftsausübung, aber auch für die Möglichkeit eines Steuerungsanspruchs der Gesetzgebungswissenschaft ihr gegenüber gerade im Bereich der Policey begründet. S. noch u. III. 2. b) u. IX. 1. e). 56 s. unten III. 2. b) für Chr. Wolf!. 57 s. unten VIII. 2. b) u. c). - J. Weitzels soeben (Fn. 52) angef. Gegenüberstellung des Gesetzes als Anwendungsbefehl für Naturrecht und· als Inhaltsbefehl für Polizeigebote blendet insofern zunächst aus, daß in den auf Thomasius zurückgehenden Lehrrichtungen das Recht keineswegs so vollständig im Naturrecht enthalten war, daß der Gesetzgeber nur noch seine "Anwendung" zu befehlen brauchte, und im Bereich der Policey der Inhalt gesetzgeberischer Befehle durchaus - der Theorie nach - durch wissenschaftlich 53
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3. Forschungen zum Gesetzesbegriff
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Wicklung des Gesetzesbegriffes bezeichnet es schließlich, wenn dieser an das "Recht" zwar gebunden bleiben kann, aber durch engere und festere Bestimmungen seines eigenen Gehalts versucht wird, aus der Fülle der herrschaftlich-staatlich gesetzten Normen die "Gesetze" einerseits als besondere Form von Regelungen, die Gesetzgebung als besondere Form der Regelungstätigkeit, mit klaren Konturen herauszuhebenss, andererseits aber die Güte der Normen oder sogar ihren Rechtscharakter in Abhängigkeit von diesem Gesetzesbegriff zu bestimmen. Erst am Endpunkt dieser Entwicklung- und schon über den hier betrachteten Zeitraum hinausführend - SJtehen sowohl die voll ausgeprägte Lehre von der prinzipiell abschließenden und vollständigen Zurückführbarkeit des geltenden Rechts auf allgemeine und feste Gesetze, wie sie in Benthams Kodifikationsideal begegnet, als auch die Beiträge zur Konzeption des "Rechtsstaates", nach denen stets nur die allgemeinen Gesetze und die aus diesen Gesetzen herleitbaren (oder jedenfalls die bei Eingriffen in die Freiheit des einzelnen von ihrer Ermächtigung getragenen) Regelungen rechtmäßig seien. (3) Aus dem Spannungsverhältnis von Naturrecht und Herrschermacht schält sich schon im Verlaufe des 18. Jahrhunderts schließlich ein weit darüber hinaus greifender Gegensatz in den Verständnissen des Gesetzes allmählich heraus. Schlagwortartig läßt er sich als Auffassung des Gesetzes einerseits als Bestimmung historisch-sozialer Notwendigkeit - oder mit Grawert59 als "soziales Naturgesetz" -, andererseits als "arbiträre" politische Entscheidung beschreiben. Als Ausdruck bloßer "arbiträrer" politischer Dezision kann sich eine Norm dabei als eine besondere Form der Regelung dem "eigentlichen" Gesetz, das als eine "constant and lasting rule" erscheint, entgegenstellen (so bei John Locke)to. Wenn aber dem Gesetzesbegriff regelmäßig auch derartige aufgrund "arbiträrer" politischer Entscheidung ergangene Regelungen zugerechnet werden (sei es abweichend von Lackes Ansatz, sei es bei Anerkennung dieses Ansatzes mit Hilfe eines zweiten, weitergefaßten Gesetzesbegriffes), erscheinen sie zumeist als Gebote, deren Inhalt nicht bereits im Naturrecht und zuweilen auch nicht in sonstigen Geboten der Vernunft "objektiv" und vollständig vorgezeichnet ist oder zumindest nicht eindeutig erkennbar ist. Auf dieser Grundlage müssen Notwendigkeit und Grenzen der "Herrscherwillkür" beim Gesetzeserlaß erörtert werden61. fixierbare Sätze der Vernunft bzw. der Staatsklugheit zumindest bis zu einem gewissen Grade vorgegeben war. Erst recht läßt sich von Weitzels Ansatz her nicht mehr fassen, daß sich in einem Teil der Lehre unter dem Einfluß Christian Wolffs sogar "Recht" und Policey unter Gesichtspunkten wie Gemäßheit für die Staatszwecke und innere Geschlossenheit des Regelungszusammenhanges in prinzipiell gleicher Weise aus axiomatischen Geboten der Natur herleiten ließen (so daß sie sich bei der Betrachtung im Rahmen der "Politik" nur vermittels ihrer Zuordnung zu versclliedenen Staatszwecken und ihrer unterschiedlichen Wirkungsweisen bei der Verfolgung dieser Zwecke unterschieden; s. dazu u. f. Wolff u. Darjes !II. 2. b) u. V.). ss s. u . X. 3. zur "Materialisierung" des Gesetzesbegriffes und ihrem Zusammenhang mit dem Gedanken der Gewaltenteilung. 59 (Fn. 39), S. 895. 60 Vgl. ebd., S. 88'9 u. unten X. 3. 61 Es wird u. IX. 1. u. X. darauf zurückzukommen sein, daß sich der Betrachtungswinkel dieses Problems verschiedentlich wandelt, vor allem einerseits durch die "Relativierung" des Naturrechts und seine Verbindung mit historisch-empirischen Sichtweisen, die eine stärkere Berücksichtigung der
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I. Einleitung
"Die Entwicklungslinien des Verständnisses des Gesetzes als "soziales Naturgesetz" führen über die naturrechtliehen Begriffe des Rechts und des Gesetzes im 18. Jahrhundert hin zu vielfältigen neueren Lehren von Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Abläufe und der historischen Entwicklung immanenter Regelhaftigkeit, aus denen wiederum Maßstäbe auch für Kritik und Legitimation der Gesetze im positiven Recht hergeleitet werden. Auch insoweit gibt das Vordringen naturwissenschaftlicher Einflüsse auf das Gesetzesverständnis im 17. und frühen 18. Jahrhundert zwar schon wichtige Impulse. Der Bogen spannt sich dann aber weiter über aufklärerische Vorstellungen von einem "gesetzmäßigen Fortgang" der Entwicklung bis hin zu Immanuet Kants Bestreben, einen "regelmäßigen Gang" in der Fülle der geschichtlichen Erscheinungen festzustellen und ihn in Gestalt "beständiger Naturgesetze" zu beschreiben62. Im Verlauf dieser Entwicklung zeichnet sich in Montesquieus Begriff der "nature des choses" schon der Übergang von herkömmlichen naturrechtliehen Vorstellungen zu einem historisch-sozialen Verständnis der dem positiven Recht vorausgesetzten Naturgegebenheiten deutlich ab. Im Blick über den hier zu betrachtenden Zeitraum hinaus werden in der Folge die Kriterien, mit denen die Richtigkeit von Gesetzen beurteilt werden 9011, zunehmend, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise, aus historischen Entwicklungen und sozioökonomischen Gegebenheiten zu gewinnen versucht. Die Vorstellung einer geschichtlichen außerpositiven "Gesetzmäßigkeit" kann sich so im 19. Jahrhundert von untereinander durchaus kontroversen Positionen her sowohl gegen Gesetze des positiven Rechts wenden als auch positiven Gesetzen eine über die bloße Herleitung aus der Setzung eines Herrschaftsträgers oder aus einem ahistorischen Naturrecht hinausreichende Rechtfertigung geben63. b) Rechtsgemeinschaft und einseitiger Normerlaß. (1) Das Verständnis des Gesetzes als Ausdruck kollektiven Willens und kollektiver Weisheit einer Rechtsgemeinschaft, die auf diesem Wege ihrem Zusammenleben Normen gibt, einerseits und seine Zurückführung auf den einseitigen Erlaßakt eines monistischen Gesetzgebers andererseits stellen Pole des weiteren großen Themenkreises dar, der die Diskussion um das Gesetzesverständnis im 18. Jahrhundert neben dem Spannungsfeld von Naturrecht und Herrschermacht (und teilweise verwoben mit diesem) beherrscht. Die vielfältigen Erörterungen dieses Problemkreises stehen häufig in weit zurückreichenden Traditionszusammenhängen, bevor mit Jean-Jacques Rousseaus Lehre von der volonte generale, die sich auf "Sitten" und des "Geschmacks" der Völker im Rahmen der Ausrichtung an der "nature des choses" einschließen und damit die Bandbreite gesetzgebungswissenschaftlicher Reflexion zwischen den Extremen starrer Deduktion des Gesetzesinhaltes aus abstrakt-allgemeinen Sätzen und seines Verweises in die Beliebigkeit der Herrscherwillkür noch mehr ausweiten; andererseits durch die Verbindung der materialen Richtigkeitsgewähr für den Gesetzesinhalt mit der politischen Dezisionsgewalt beim Gesetzeserlaß für die Gesetzesunterworfenen unter dem Einfluß von Rousseaus Begriff der volonte generale. 62 Vgl. Grawert (Fn. 39), S. 897. 63 Vgl. ebd. (m. w. N.) zu den Ansätzen für die Entwicklung neuer Begriffe der Gesetzlichkeit in der ersten Hälfte des 19. Jh. einerseits bei Pierre Joseph Proudhon und Karl Marx, andererseits bei Friedrich Murhard und Carl Wetcker.
3. Forschungen zum Gesetzesbegriff
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Grundlage der Volkssouveränität im Gesetz verkörpere, eine Wende eintritt. Obgleich diese Lehre in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts zunächst bei weitem nicht allgemeine Zustimmung findet - und selbst diejenigen, die sich als ihre Vertreter verstehen, sie häufig eher im Sinne traditioneller Sichtweisen abschwächen, als zu deren Kritik nutzen - wird sie jedoch nunmehr unausweichlicher (und allmählich auch inhaltlich stärker bestimmender) Bezugspunkt der weiteren Diskussionen, die den Begrüf des Gesetzes im Spannungsfeld zwischen einem in ihm angenommenen kollektiven Willen der Rechtsgemeinschaft und seinem einseitigen Erlaß (sowie seiner einseitigen Durchsetzung) durch einen zumindest nicht unmittelbar mit dieser Rechtsgemeinschaft identischen Gesetzgeber reflektieren. Blickt man auf mittelalterliche Traditionen zurück, die der Zurückführung des Gesetzes auf kollektives Wissen und kollektiven Willen zugrunde liegen, so zeigt sich, daß sich "einseitiger" Ausübung herrschaftlicher Herrschaftsgewalt in vielen Bereichen der Rechtsentwicklung die Notwendigkeit einer "Gemeinschaftsüberzeugung" der von der Regelung Betroffenen entgegenstellte, wie sie etwa in Papinians Verständnis der lex als commune praeceptum Ausdruck fand64. Als Beteiligungserfordernis in Gestalt des consensus meliorum et maiorum terrae bei der territorialen Gesetzgebung schlug sich dieser Gedanke bereits im Reichsweistum von 12,31~5 nieder; am Beginn der Neuzeit wird er zunehmend als eine Mitwirkungsberechtigung ständischer Instanzen am Zustandekommen von Normen, die die durch sie vertretenen Stände betreffen, verstanden. "Übereinkunft" und "Vergleich" der Stände untereinander und mit den Fürsten sind bis in das 17. Jahrhundert eine wichtige Form der Rechtssetzung und erscheinen sodann aus naturrechtlicher Sicht als Ausformungen des auf die natürliche Freiheit gegründeten Rechts zur vertraglichen Gestaltung66. Innerhalb des Stadtregiments setzt sich daneben die noch ältere und weiterreichende Tradition eines genossenschaftlichen Zusanunenwirkens der Rechtsgemeinschaft oder doch ihrer Führungsschicht bei der Veränderung und Neuschaffung von Normen bis in die Neuzeit hinein fort ("Willkür" und "Satzung")61. - Diese städtische Tradition gibt der Gesetzgebungswissenschaft der hier betrachteten Zeit nicht nur Beispiele des rechtlich erforderten Zusanunenwirkens verschiedener Personen, Gruppen und Instanzen beim Erlaß einer Norm, sondern zeichnet ihr auch bereits den Gedanken vor, daß erst das Zusammentragen kollektiven Wissens in der Beratung durch die Rechtsgemeinschaft bzw. durch ihre Vertreter die sachliche Qualität der Regelung verbürge6B. 64 Hierzu u. zum folgenden für a. m. Grawert (Fn. 39), S. 000. Zur weiteren Stützung d ieser Vorstellung durch den Satz "Quod omnes tangit ab omnibus comprobetur" vgl. M. V . Clarke, Medieval Representation and Consent, 193,6; J. M . Scholz, Der brandenburgische Landrechtsentwurf von 1594, 1973, S. 78 f. 65 Abgedr. bei K. Zeumer, Quellensammlung, 2. Aufl. 1913, Nr. 48. 66 Vgl. auch die naturrechtliche Begründung der Satzung als Grundform des Gesetzes bei Ebel, Geschichte der Gesetzgebung (Fn. 47), S. 21. 67 Grundlegend Ebel, Die Willkür (Fn. 47). as Vgl. etwa bei Johannes Oldendorp, Von Rathschlägen, wie man gute Policey und Ordnung in Stedten und Landen erhalten möge, hdt. Übers. v. C. Forstenow 1597, S. 7 f.: "Ein Mann I kein Mann. Und: Viler Leute Rath I Ist besser denn eins Manns That."
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I. Einleitung
Einen anderen theoretischen Bezugspunkt findet die Betrachtung des Gesetzes innerhalb des Spannungsfeldes zwischen der Vorstellung von einem einseitigen Erlaßakt eines monistischen Gesetzgebers und dem Bestreben einer Zurückführung des Gesetzes auf die ihm subsumierte Rechbgemeinschaft im Gedanken der Souveränität. Seit Jean Bodin die Gesetzg.e bungsgewalt als zentrales Element der Souveränität dargestellt hat, ist die Antwort auf die Frage, ob das Gesetz vertragsartiges Produkt des Zusammenwirkens verschiedener Gewaltinhaber oder einseitiger Befehl eines zumindest institutionell einheitlich vorgestellten Gesetzgebers ist (und in welcher Person oder Institution in diesem Fall der Gesetzgeber gedacht werden, welche anderen zu bloßen Vorbereitern, Beratern, Verkündern, Exekutoren der Normgebung herabgestuft werden sollen), zugleich eine Parteinahme in verfassungsrechtlichen Grundfragen der Zeit, insbesondere im Streit um den Charakter des Heiligen Römischen Reiches. Berücksichtigung der vertraglichen Züge der Reichsgesetze auf Grund einer spezifisch ständischen Interpretation der Volkssouveränität, die den Ständen die Rolle einer Art Volksrepräsentation, dem Kaiser diejenige eines summus magistratus zuweist (Johannes Althusius); Doppelung des Reiches in maiestas realis "des Volkes" und maiestas personalis des Kaisers bei Zurechnung der Gesetzgebungsgewalt zur maiestas personalis (Matthias Bortius); schließlich Trennung der Bindungswirkung der Reichsgesetze einerseits zwischen Kaiser und Reichsständen als Verträge und andererseits gegenüber den "Reichsuntertanen" als einseitige Verpflichtungen (Johann Jacob Moser)69 sind hier nur einige wenige Stichworte, die andeuten, wie das Verständnis von Gesetzen auf dem Hintergrund der Souveränitätsdiskussion in ganz unterschiedlicher Weise durch die jeweiligen Sichtweisen von (ständischen) Beteiligungsrechten beeinfiußt sein kann, selbst wenn man nur die Erörterung der Reichsgesetze in Betracht zieht. (2) Teilweise als dem Problem der Zurückführbarkeit des Gesetzes auf den Willen der ihm unterworfenen Rechtsgemeinschaft verwandt, teilweise aber auch unter ganz anderen Gesichtspunkten, wird im 18. Jahrhundert die Frage erörtert, inwieweit das Gesetz als Mittel der Bindung auch der Herrschaftsgewalt selbst, nicht nur der Pflichtenauferlegung für die ihr unterworfenen "Untertanen" oder "Staatsbürger", zu verstehen ist. Soweit es dabei um das Gesetz allein als naturrechtliche Regel geht, verbleibt diese Fragestellung in dem bereits erörterten Spannungsfeld zwischen Naturrecht und Herrschermacht. Ihre weitreichende Bedeutung gewinnt sie aber dann, wenn sie sich auf das Verständnis des Gesetzes als einer Norm des positiven Rechts bezieht. Die politische Brisanz der Frage nach der Gebundenheit des Herrschers durch positiv-rechtliche Gesetze im 18. Jahrhundert liegt auf dem Hintergrund einer langen Tradition, die die Stellung des Fürsten gerade durch seine Ungebundenheit gegenüber Gesetzen - als princeps legibus solutus - beschreibFO, auf der Hand (obgleich erst auf der Grundlage einer neuen Bestimmung des Verhältnisses der Ausübung von Herrschaftsgewalt zu den Gesetzen im 19. Jahrhundert der Begriff des "Absolutismus" zur generellen Kennzeichnung jener zuvor beanspruchten Ungebundenheit gegenüber den Gesetzen entwickelt wird). Die Bindung der Herrschaftsgewalt durch (positiv-rechtliche) Gesetze wird für vielerlei verschiedene hoheitliche Tätigkeiten erörtert. Dabei steht die 69 Vgl. Grawert (Fn. 39), S . 883 ff.
7G Zu den Anfängen dieser Tradition jetzt Dieter Wyduckel, Princeps legibus solutus, 1979.
3. Forschungen zum Gesetzesbegriff
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Bindung durch Gesetze gerade beim Erlaß von Gesetzen (bzw. die Ungebundenheit des Fürsten als Gesetzgeber) von vornherein im Mittelpunkt und erlangt mit wachsendem Umfang und zunehmender Bedeutung der Gesetzgebung noch weiteres Gewicht. Die in dieser Frage Bindungen des Herrschers durch Gesetze erstrebenden Ansätze bilden gewissermaßen das staatsrechtliche Gegenstück zu jenen Lehren von der Gesetzgebung, die unter den Gesichtspunkten politischer Klugheit und der Gemäßheit von Gesetzen für die Staatszwecke stehen. Sie finden ihren Platz allerdings zunächst vorzugsweise in der Reichspublizistik, jedenfalls soweit es nicht so sehr um die Begründung für die positiv-rechtlichen Befugnisse des Herrschers zur Gesetzgebung als um die durch "Gesetze" auferlegten Bindungen und Beschränkungen bei dieser Befugnis geht. Unter diesem Gesichtspunkt wird etwa der Rang von Herkommen und Verträgen als "Gesetzen" des Reichsstaatsrechts und der Charakter der "leges fundamentales" diskutiert71.
c) Festigkeit und Veränderlichkeit der Norm. Dem Gesetz als im Recht der Natur vorgezeichneter Regel oder als Beschreibung historisch-sozialer Notwendigkeit haften in der juristischen Literatur des 18. Jahrhunderts häufig Merkmale wie Festigkeit, Beständigkeit und Dauerhaftigkeit an. Als Produkt der Setzungsmacht eines Herrschers, als Resultat historischer innerer Entwicklungen des Rechts und/oder der Gesellschaft, aber auch als Ausdruck eines durch "Geschmack" und "Sitten" der Völker "relativierten" Naturrechts72 erscheint es zuweilen hingegen eher schon als veränderbar, zeitgebunden und vergänglich. Diese Eigenschaften treten zumeist vollends in den Vordergrund, wenn und soweit Polizeiregelungen als Gesetze betrachtet werden. "Festigkeit" und "Veränderlichkeit" der Norm bezeichnen damit zwei weitere Pole, zwischen dem sich die Vorstellung über das Gesetz im 18. Jahrhundert in unterschiedlicher Weise entfalteten. Es wird im weiteren auf die Erörterung dieses Problemkreises in der Gesetzgebungslehre und die dabei sich herausbildenden unterschiedlichen Richtungen zurückzukommen sein. Vorab bleibt zunächst auf eine lange Tradition der Skepsis und der Ablehnung gegenüber der raschen Veränderung von Gesetzen (sowohl in ihrem Verständnis als die Grundlage des gerichtlichen Urteilens als auch in ihrem umfassenderen Verständnis als Herrscherbefehle im Rahmen verschiedener Staatsfunktionen) hinzuweisen - eine Skepsis, die sowohl zunächst von dem soeben umrissenen älteren Begriff des Rechts als auch später von der Suche nach abstrakt-allgemeinen naturrechtliehen Regeln als zeitloser Fixpunkte für menschliches Handeln getragen werden kann. Insbesondere Normen, die von vornherein als zeitlich begrenzt geltend konzipiert sind, werden zwar von Charondas Ze Caron bereits als "loix ou ordonnances tem.poraires" verstanden73 und auch in der deutschen 71 Vgl. hierzu den Überblick bei Grawert (Fn. 39), S. 883 ff., 887 ff. m. w. N. 12 Insbesondere seit Montesquieu, s. soeben schon Fn. 61 u. unten IX. 1. d). 73 Pandectes 3, 1596, 33. 36. 39.; zit. nach Grawert (Fn. 39), S. 890.
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I. Einleitung
Rechtsliteratur im 18. Jahrhundert letztlich ganz überwiegend als Gesetze betrachtet; sie erscheinen in einem erheblichen Teil dieser Literatur jedoch immerhin "als besondere, aber mit dem Gesetzesbegriff nicht selbstverständlich zu vereinbarende Arten von Gesetzen" 74•
4. Zum Gegenstand der vorliegenden Untersuchung (1) Bei der Untersuchung der Überschneidungsbereiche von Polizeiwissenschaft und Gesetzgebungslehre und ihrer Einwirkungen aufeinander soll die Frage im Mittelpunkt stehen, welchen Beitrag die Polizeilehre für die Entwicklung des Gesetzgebungsdenkeng im Absolutismus geleistet hat. Das Interesse gilt damit einem engen Ausschnitt vornehmlich vernunftrechtlich-aufklärerischer Staatswissenschaft im 18. Jahrhundert. Gegenstand ist hingegen weder die gesamte Entwicklung der Gesetzgebungswissenschaft noch die ganze Breite politischer, ökonomischer, rechtlicher, sozialer, technischer oder gar medizinischer Lehrgegenstände der kameralistischen Polizei. Ebensowenig kann das Spektrum der Beziehungen von Polizeiwissenschaft und Gesetzgebungslehren zu anderen Lehrfächern des 18. Jahrhunderts und die Fülle aktueller politisch-kultureller Diskussionsthemen, in die viele ihrer Beiträge in der Umbruchssituation insbesondere am Ende dieses Jahrhunderts verwoben waren, durchmessen werden. Selbst zu diesem eingegrenzten Gegenstand ist keinesfalls eine erschöpfende Darstellung beabsichtigt. Wenn der Überblick über den Forschungsstand zu Polizei-, Gesetzgebungswissenschaft und Gesetzesbegriff im 18. Jahrhundert soeben gezeigt hat, daß der reiche Quellenbestand jedes dieser Gebiete noch längst nicht ausgeschöpft, ja teilweise noch nicht einmal ein vollständiges Bild des vorhandenen Materials hergestellt ist, so kann in deren Überschneidungsbereich erst recht nicht mehr als ein Einstieg in eine der Vertiefung bedürftige Thematik versucht und dadurch vielleicht Anregung zu Kritik und weiterer Forschung gegeben werden. (2) Die Polizeilehre der frühen Neuzeit entwickelt ihre Auffassungen über die Gesetzgebung im Bereich der Policey besonders umfassend und ausgeprägt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Zincke, Justi, Sonnenfels, Pfeiffer und andere tragen hier in systematischer Weise ihre Lehren von der Polizeigesetzgebung und der Stellung der Policey im Gesamtgefüge der Gesetzgebung vor. Sie alle gehen dabei von einer beständigen einzelgesetzlichen Gestaltungstätigkeit der territorialstaatlichen Zentralgewalt und der ihr untergeordneten sonstigen Gewaltträger im Territorium aus. Zu Methode und Staatsdenken einiger 74
Grawert (Fn. 39) S. 890 unter Hinweis auf Titius und Moser.
4. Zum Gegenstand der vorliegenden Untersuchung
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weiterer Gesetzgebungslehrer, die in der aufklärerischen Gesetzgebungswissenschaft des späten Absolutismus umfangreiche Systeme der einzelgesetzlichen staatlichen Regelungstätigkeit vorlegen, lassen sich dabei kaum scharfe Grenzen ziehen, auch wenn diese Systeme nicht mehr vom Polizeibegriff ausgehen. Dies wird unten am Beispiel Filangieris zu verfolgen sein. Um so deutlicher erweisen sich aber die Unterschiede zu jenen ebenfalls in vernunftrechtlich-aufklärerischer Tradition stehenden Gesetzgebungslehren, die von dem Ziel eines umfassenden Gesetzbuches mit primär privatrechtlichem Inhalt geleitet werden. Sie drängen sich im letzten Quartal des 18. Jahrhunderts rasch in den Vordergrund und beenden bald die Phase, in der die einzelgesetzliche Regelungstätigkeit der Policey eudämonistisch überhöht wurde und maßgebliche Bedeutung für das zeitgenössische Gesetzgebungsdenken insgesamt erlangen konnte. Was für den Ausgang des 18. Jahrhunderts und das beginnende 19. Jahrhundert in der Entwicklung der Lehre von der Polizeigesetzgebung zu beobachten bleibt75 , sind im wesentlichen nur unterschiedliche, mehr oder weniger weitgehende und stets in sich widerspruchsvolle Ansätze innerhalb eines (theoretischen) Anpassungsprozesses an die nunmehr vorherrschenden Vorstellungen von Staat und Recht, Gesetz und Gesetzgebung, die sich nicht mehr vereinbaren lassen mit der wirtschafts- und gesellschaftstheoretischen Ausrichtung bisherigen Polizeidenkens auf die ständisch-feudale Gesellschaft und die absolutistische Herrschaftsausübung. Im folgenden wird - nach einem kurzen Blick auf die vorangegangene Zeit - diesem Entwicklungsgang entsprechend zunächst die "Blütezeit" der Auseinandersetzung mit Gesetzgebungsfragen in der Polizeilehre während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts am Beispiel der bedeutenden Systematiker der kameralistischen Polizeilehre vor der Zuwendung zu physiokratischen Wirtschaftsanschauungen zu durchmessen sein. Dabei können nicht die Werke dieser Polizeilehren in ihrer ganzen Breite betrachtet, sondern nur einige der wesentlichen Positionen zu Gesetzgebungsfragen vorgestellt werden, um auf dieser Grundlage die allgemeineren Kennzeichen herauszuarbeiten, die es rechtfertigen, idealtypisch von einer "polizeilichen Gesetzgebungslehre" in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu sprechen. Herausgearbeitet werden sollen zudem lediglich die in den Beiträgen der Polizeilehre enthaltenen Konzeptionen und Systementwürfe, auch wenn diese sich häufig von der zeitgenössischen politischen, sozialen und administrativen Realität entfernen und in dem Bemühen um Geschlossenheit des theoretischen Modells Fragen der praktischen Umsetzung zuweilen hintanstellen. Gegenstand sind also hier nicht die tatsächlichen (und 75
Unten X. ff.
3 R. Schulze
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I. Einleitung
nicht einmal die von den politisch über den Gesetzeserlaß Entscheidenden bezweckten) Wirkungsweisen der Polizeigesetzgebung, sondern darzustellen versucht wird die theoretische Bearbeitung und Überhöhung dieser Regelungspraxis durch die Polizeilehre und deren Bedeutung für das Gesetzgebungsdenken der Zeit. In dem darauf folgenden Teil werden sodann einige theoretische Ausgangsbedingungen und verschiedene Entwicklungsschritte des "Anpassungsprozesses" der Gesetzgebungslehre im Bereich der Policey während des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu umreißen sein. Während für die vorangegangene Zeit der Schwerpunkt bei den Beiträgen der Polizeilehre zur Gesetzgebungswissenschaft liegt - ein Gesamtbild der Gesetzgebungswissenschaft also keineswegs entworfen werden soll - sind für diese spätere Phase Markierungspunkte auch aus anderen Diskussionsfeldern innerhalb der Gesamtentwicklung der Gesetzgebungswissenschaft zuweilen stärker einzubeziehen, um die Haltung der Polizeilehre selbst zu Fragen der Gesetzgebung erfassen zu können. Denn nunmehr hat die Gesetzgebungswissenschaft eine zentrale Rolle für die Konstituierung eines öffentlichen Diskussionsprozesses erlangt, der wiederum in breitem Umfang auf die Polizeilehre einwirkt (und deren Einlenken auf neue Vorstellungen im "räsonierenden" Bürgertum oder Abwehrreaktionen herausfordert). Zudem mehren sich Versuche in der Gesetzgebungswissenschaft, nachdem die Idee des Erlasses umfassender Gesetzbücher verbreitete Anerkennung gefunden und erste praktische Erfolge zu verzeichnen hat, ihre weitgehend im privatrechtliehen Bereich ausgeformte Begrifflichkeit über neue allgemeine Theorien der Gesetzgebung so zu generalisieren, daß sie auch den Bereich der Policey erfassen und diesen tendenziell in eine über den Absolutismus hinausweisende Entwicklung des Rechtsund Gesetzesverständnisses einbeziehen kann. Gesetzgebungslehren für die Policey können insofern gerade in dieser Zeit als "besonderer Teil" einer umfassender ausgearbeiteten Wissenschaft auf der Grundlage der allgemeinen Gesetzgebungstheorie begegnen. (3) In der Auseinandersetzung der Polizeilehre mit gesetzgebungswissenschaftlichen Fragen treten allgemeinere Voraussetzungen und Implikationen des Polizei- und Gesetzgebungsdenkens in der Zeit des Absolutismus in verschiedenster Hinsicht zutage. Aus der Vielzahl der Gesichtspunkte, denen die Betrachtung hier gelten könnte, seien noch vorab jene drei hervorgehoben, die die folgende Darstellung in erster Linie berücksichtigen will.
Erstens haben Polizeilehre - in Hinblick auf ihre gesetzgebungswissenschaftlichen wie auf ihre sonstigen Gegenstände - und Gesetzgebungswissenschaft - in Hinblick auf die Systematisierung einzel-
4. Zum Gegenstand der vorliegenden Untersuchung
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gesetzlicher Regelungen wie bei der Vorbereitung der großen Gesetzbücher - gleichermaßen Herrschaftswissen zum Gegenstand. Seit dem 17. Jahrhundert finden verschiedene Beiträge zur Polizeilehre und Erwägungen der prudentia legislatoria ihren Platz unter den "arcana imperii". In der Zeit des Bündnisses von Vernunftrecht und Aufklärung mit dem Absolutismus stehen die Vertreter von Polizeilehre und Gesetzgebungswissenschaft damit in einem tiefen, oft allerdings aus ihrem Bewußtsein oder zumindest aus ihren Schriften verdrängten Zwiespalt: Auf der einen Seite sind sie darauf angewiesen, ihre Erkenntnisse dem "absoluten" Herrscher und seinen Beamten anzudienen. Sie müssen expansive Herrschaftsansprüche - und damit trotz gelegentlicher, aber auch dann häufig nur abstrakter Vorbehalte auch weitgehend den Zugriff auf den Wissenschaftsbereich- unterstützen, um eine politische Instanz zu finden, die ihre eudämonistischen Gestaltungsentwürfe Wirklichkeit werden lassen kann. Auf der anderen Seite meinen sie aber, daß sich die Tätigkeit des Herrschers selbst der (in der Polizei- oder Gesetzgebungswissenschaft Ausdruck erlangenden) Stimme der Vernunft und den Gedanken der Aufklärung unterordnen müsse, daß also letztlich die Wissenschaft die polizeiliche und gesetzgeberische Praxis zu leiten habe. Herrschaftswissen wird hier dem Anspruch nach in Herrschaft der Wissenschaft über die Politik verkehrt. Obwohl dieser Vorstellung die politischen Verhältnisse in Deutschland während des ganzen 18. Jahrhunderts schroff entgegenstehen, wird damit doch die Möglichkeit freigesetzt, das Wissen über "gute Policey" und "wohlgeordnete Gesetzgebung" zumindest als Kritikpotential gegen die bestehende Herrschaftsausübung zu nutzen. Es wird zu verfolgen sein, wie dies in Polizeilehre und Gesetzgebungswissenschaft in unterschiedlicher Weise und unterschiedlichem Ausmaß geschieht.
Zweitens werden die Merkmale herauszuarbeiten sein, die der polizeilichen Gesetzgebungslehre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihr eigenes Gepräge geben und sie - wie schon erwähnt - trotz zahlreicher Übereinstimmungen der wissenschaftsgeschichtlichen Grundlagen von den gesetzgebungswissenschaftlichen Vorarbeiten für die großen spätvernunftrechtlichen Gesetzbücher unterscheiden. Dabei wird teilweise eine zugespitzte, vielleicht sogar etwas überspitzt erscheinende Typisierung in Kauf zu nehmen sein, um einen Akzent auf diese Seite der gesetzgebungsgeschichtlichen Entwicklung im späten Vernunftrecht zu setzen, nachdem bislang die Kodifikationsvorhaben recht einseitig im Mittelpunkt einer primär privatrechtsgeschichtlich interessierten gesetzgebungsgeschichtlichen Forschung gestanden haben. Drittens werden Bindung und Ablösbarkeit der Polizeilehre und ihrer Vorstellungen über die Gesetzgebung gegenüber den ursprünglich beim Aufstieg des Absolutismus mit ihnen verbundenen sozial- und
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I. Einleitung
wirtschaftstheoretischen Konzeptionen zu betrachten sein. Insbesondere in der Bindung an bestimmte wirtschaftstheoretische Positionen wird dabei im Vergleich mit der Gesamtentwicklung der Gesetzgebungswissenschaft eine unterschiedliche Entwicklung zu verfolgen sein: Während die Vorstellungen der Polizeilehre über die Gesetzgebung so eng an die in Deutschland bis ins späte 18. Jahrhundert vorherrschende merkantilistische Theorie gebunden sind, daß sie mit der zunehmenden Kritik und praktischen Korrektur dieser Theorie an der Wende zum 19. Jahrhundert ihrerseits in die Krise geraten, erweist sich die Idee der Gesetzgebungswissenschaft insgesamt als wirtschaftstheoretisch wesentlich flexibler und kann gerade mit der physiokratischen und frühliberalen Kritik am Merkantilismus mit neuen Inhalten zu ihrer größten Bedeutung aufsteigen.
Erster Teil
Policey und Gesetzgebungsverständnis bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Überblick) Als die deutsche Polizeilehre in der Mitte des 18. Jahrhunderts versucht, auf vernunftrechtlicher Grundlage den polizeilichen Normbestand zu ordnen und dabei zugleich eine die polizeiliche Regelungstätigkeit umfassend systematisierende Lehre von der Gesetzgebung zu entwikkeln, blickt sie bereits auf eine mehr als zweihundertjährige Tradition literarischer Auseinandersetzung mit der Erhaltung und Herstellung der Policey im Territorium zurück. Auch die theoretischen Grundlagen für das von ihr dabei zugrundegelegte Verständnis der Gesetzgebung sind zum Teil schon seit fast zwei Jahrhunderten durch die Souveränitätslehre von Jean Bodin und seit einem Jahrhundert durch den Gesetzesbegriff von Hobbes vorgezeichnet - allerdings zunächst noch fernab von den konkreten Bedingungen in der Wirklichkeit des deutschen Territorialstaates. Aus der Entwicklung der Policey während dieses vorangegangenen Zeitraumes können hier nur für das 16. und 17. Jahrhundert wenige ganz grobe Umrisse nachgezeichnet (II. 1.) und dabei beispielhaft und eher stichwortartig Positionen der frühen Polizeiliteratur zu spezifischen Fragen der Normgebung angerissen (II. 2.) werden. Für den Übergang zum 18. Jahrhundert und dessen ersten Teil bleiben sodann einige Aspekte des sich mit dem Vordringen von Vernunftrecht, Aufklärung und neueren merkantilistischen Anschauungen vollziehenden Wandels herauszuheben (III.), soweit durch diesen Wandel unmittelbar die Grundlagen der Auseinandersetzung der spätabsolutistischen Polizeilehre mit Fragen der Gesetzgebung mitgestaltet werden. II. Zur frühen polizeilichen Gebotstätigkeit und Polizeiliteratur bis Seckendorff
1. Umrisse der Entwicklung der Policey im 16. und 17. Jahrhundert a) Seit dem späten 15. Jahrhundert begegnet in Regelungstexten oder -entwürfen der Städte, der Territorien und bald auch des Reiches das Wort Policey1• Im Mittelpunkt des Erlasses von Namen unter Verwen-
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II. Frühe polizeiliche Gebotstätigkeit und Literatur
dung des Polizeibegriffes standen anfänglich einzelne Regelungen oder umfangreiche Ordnungen, die sich viele Städte gaben oder die von Landesfürsten und anderen Stadtherren für sie erlassen wurden. Diese frühe Policey der Städte gehört allerdings noch zu den am wenigsten erforschten Bereichen in der Geschichte der Policey. - Größere Aufmerksamkeit fanden bislang schon die Reichspolizeiordnungen des 16. Jahrhunderts (1530, 1548, 1577). Sie sollten - im Anschluß an die Ziele der Landfriedensgesetzgebung2 und über das Strafrecht der Carolina mit seinen eher herkömmlichen Tatbeständen hinausgreifend3 - die innere "Befriedung" des Reiches vor allem dadurch fortsetzen, daß sie in der wirtschaftlichen, sozialethischen und religiösen Krise der aus dem Mittelalter überkommenen Ordnung auf eine Reihe neuer, als wachsende "Mißstände" und "Mißbräuche" empfundener sozialer Entwicklungen reagierten. Zu ihren Gegenständen gehörten etwa Festlegungen zur Kleiderordnung und zum Ausmaß von Feierlichkeiten ebenso wie die Pönalisierung von Gotteslästerung, Fluchen und Schwören. Mit der Abwehr von "Auf- und Vorkauf" und Monopolbildung versuchten sie, Marktstrukturen zu erhalten, unter denen die (zunehmend auch für fernere Absatzgebiete produzierende) Agrarwirtschaft und das zünftige Handwerk ihre Selbständigkeit gegenüber dem Aufschwung des "Kaufmannskapitalismus" im 16. Jahrhundert behaupten konnten. Die unmittelbare Wirkung der Reichspolizeiordnungen blieb allerdings schon deshalb gering, weil dem Reich ein hinlänglicher Durchsetzungsapparat fehlte. Ihre Bedeutung lag weitaus mehr in der Vorbild- und Legitimationsfunktion für zahlreiche im 16. und frühen 17. Jahrhundert in den Territorien ergangene Polizeiordnungen. Zu diesen territorialen Polizeiordnungen verlagert sich mit dem Erstarken der territorialstaatlichen Zentralgewalt im Verlaufe des 16. und vor allem des 17. Jahrhunderts der Schwerpunkt polizeilicher Regelungstätigkeit4. Weiterhin erläßt der Landesfürst für einzelne seiner Städte, zunehmend aber für Gruppen von Städten oder alle Städte sei1 Vgl. hierzu Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufi., S. 79 (insbes. Fn. 163), Karotine Zobel, Polizei, 1952, I. 11; zu Vorläufern und Anfängen der Nürnberger Polizeiordnungen s. J. Baader, Nürnberger Polizeiordnungen aus dem XIII. bis XV. Jh., 1861. 2 Vgl. H. Maier (Fn. 1), S. 81 f. a Zum Verhältnis von Reichspolizeiordnungen und Carolina Josef Segall, Geschichte und Strafrecht der Reichspolizeiordnungen ... , 1914, insbes. s. 67 ff. 4 Zu territorialen Polizeiordnungen vgl. in neuerer Zeit Heinz Lieberich, Die Anfänge der Polizeigesetzgebung des Herzogtums Baiern, in; Festsehr. Spindler, 19ß9, S. 307 ff ..; W. Brauneder, Der soziale und rechtliche Gehalt der Österreichischen Polizeiordnungen des 16. Jh., in: ZfHF 1976, S. 205 ff.; R. Schulze, Die Polizeigesetzgebung zur Wirtschafts- und Arbeitsordnung der Mark Brandenburg ... , 1978.
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nes Territoriums "Polizeiordnungen der Städte". Daneben treten mehr und mehr Ordnungen, die für ländliche Gebiete oder für diese und Städte gemeinsam (innerhalb einer Region oder eines ganzen Territoriums) gelten. Sie werden bis weit in das 17. Jahrhundert hinein zu einem großen Teil auf Betreiben und unter Beteiligung der Stände abgefaßt. Ihre Regelungsinhalte werden häufig an die Reichspolizeiordnungen angelehnt, mehr aber noch (auch gegenüber neuen sozialen Entwicklungen) auf tatsächliches oder behauptetes Herkommen des betreffenden Sozialkreises gestützt. Unter den wirtschaftsordnenden Regelungen gewinnt die Herstellung gesicherter technischer Rahmenbedingungen für den Warenaustausch durch die Festlegung von Maßen und Gewichten oder den Erlaß umfangreicher Marktordnungen besondere Bedeutung und zielt teilweise auf Vereinheitlichung im Territorium. Schon im 16., mehr aber noch im 17. Jahrhundert erstrecken sich dabei- wie Gustav Klemens Schmelzeisen6 gezeigt hat - die Normen der Polizeiordnungen auf Sachgebiete, die nach neuerem Verständnis elementare Bereiche des Privatrechts darstellen. Sie überschneiden sich dort mit Normen des gemeinrechtlichen Rechtsstoffes, den (von ihm mehr oder weniger beeinflußten) Aufzeichnungen und "Reformationen" einheimischer Überlieferung und lokalen Gewohnheiten, bleiben aber von diesem als "Recht" verstandenen Normbestand zumeist begrifflich und textmäßig gesondeftG. Neben den breiter angelegten Polizeiordnungen ergeht zudem im 16. Jahrhundert in den Territorien eine Vielzahl von Edikten, Reskripten, Patenten usw., die Einzelfragen oder eng gefaßte Gegenstände regeln und oft nur zeitlich begrenzt gelten sollen. Sie dienen insbesondere dem Schutz von Produktion und Handel im jeweiligen Territorium (und damit zugleich den Fiskalinteressen des Landesfürsten) oder der Absicherung ständischer Interessensphären, namentlich zwischen Stadtbürgern und ländlichem Adel. Beispielsweise konkretisieren sie die Verbote von Auf- und Vorkauf (mit besonderem Nachdruck gegen auswärtige Kaufleute), ergänzen und aktualisieren Verbote des Landhandwerks und einzelne Zunftprivilegien, schaffen Preis- und Lohntaxen und legen vor allem für Einfuhr und Ausfuhr Zölle fest. Obwohl derartige Regelungsaufgaben zum Teil in älteren Traditionszusammens Polizeiordnungen und Privatrecht, 1955. 6 Verbindungen versuchen hier allerdings zuweilen Landrechte bzw. Landrechtsentwürfe unter Einschluß von Polizeimaterien - wie der brandenburgische Entwurf von 1594 - herzustellen. Der mit dieser Zusammenfassung verbundene stärkere Geltungsanspruch für die Gesamtheit dieser gesetzten Normen mag aber auch im Falle des brandenburgischen Entwurfs zu seinem Scheitern beigetragen haben. Vgl. insbes. zur Bedeutung des bonum commune-Gedankens in diesem Entwurf und zu den an ihn geknüpften frühabsolutistischen Intentionen Johannes-Michael Scholz, Der brandenburgische Landrechtsentwurf von 1594, 1973; auch Schulze (Fn. 4), S. 105 f., 146 f.
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hängen stehen, werden auch sie seit dem 16. Jahrhundert mehr und mehr unter dem Gesichtspunkt der "guten Policey" betrachtet. Ein breites Spektrum von Einzelregelungen für sachlich, oft auch räumlich und zeitlich eng begrenzte Gegenstände stellt sich damit im Rahmen der polizeilichen Regelungstätigkeit neben die umfangreicheren Polizeiordnungen und gewinnt im Verlaufe der weiteren Entwicklung bald die größere praktische Bedeutung. Im 17. Jahrhundert überwiegen so in der polizeilichen Normgebung bereits stark Vorschriften, die begrenzte Gegenstände jeweils einzeln regeln - in neuerer Terminologie also einzelgesetzliche Regelungen7 - gegenüber den zusammenfassenden Regelungen breiterer Materien, wie sie zuvor vor allem in den Polizeiordnungen der Städte und den Reichspolizeiordnungen versucht worden waren und außerhalb der Policey sich in vielen Landund Stadtrechten gefunden hatten oder in den Frühkodifikationen des 18. Jahrhunderts wiederbegegnen sollen. b) Die Vielzahl polizeilicher Regelungen wird im allgemeinen in gesetzgebungsgeschichtlicher Betrachtung dem "Gebotsrecht" 8 zugerechnet. Dies bedeutet zwar am Beginn der Neuzeit nicht unbedingt, daß die Regelungen "einseitig" (im Unterschied zur Satzung in der Stadt und zum satzungsförmigen "Vergleich" mit den Ständen im Territorium) vom Landesfürsten ausgehen (wie es Wilhelm Ebel angenommen hat} 9 • Es kennzeichnet aber einerseits eine Lockerung der Einbindung des Regelungserlasses in älteres Rechtsdenken und andererseits eine besondere Intensität des mit diesen Normen verbundenen Durchsetzungsanspruchs. (1) Wenn sich in der frühneuzeitlichen Policey die Bindungen der Gebotstätigkeit an die älteren Vorstellungen vom Recht lockern, so bedeutet dies bis weit in das 17. Jahrhundert nicht, daß diese Vorstellungen selbst von den Verfassern polizeilicher Regelungstexte oder Schriften aufgegeben werden müssen. Sie geraten zwar von verschiedenen Ansatzpunkten hier in Zweifel. Der Großteil der Polizeiliteratur und viele Regelungstexte wenden sich aber zumindest grundsätzlich gar nicht gegen die Annahme, das "Recht" selbst bestehe unabhängig von der fürstlich-herrschaftlichen Zwangsgewalt. Die fürstlich-staatliche Funktion hinsichtlich des "Rechtes" sehen sie in erster Linie in der "Wahrung" vorgegebener Rechtsinhalte, indem der Fürst einerseits auf Grund seiner Gerichtsherrschaft das Verfahren für die "Findung" und "Weisung" von Rechtsinhalten gewährleiste (allerdings auch bei 1 s. schon oben I. 2. a Vgl. zu dieser Begrifflichkeit Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deuts·c hland, 2. Aufl. 1958. o Vgl. Schulze (Fn. 4), S. 96 ff., zu Ebel (Fn. 8), S. 59 ff.
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Rechtsungewißheit mit der Aufzeichnung und "Reformation" des "Rechtes" über den reinen Verfahrensgang hinausgreifende Voraussetzungen für die Urteilsfindung bereitstelle), andererseits das erkannte Recht gebotsmäßig durchsetze. Aber unheselladet dieses Verständnisses vom "Recht" und der daraus abgeleiteten fürstlich-herrschaftlichen Aufgabenbestimmungen gewinnt unter dem Gedanken der "Policey" die territorialstaatliche Gebotstätigkeit - sei es des Fürsten alleine, sei es unter Mitwirkung der Stände - einen größeren eigenen Handlungsraum, als er im Spätmittelalter bestanden hatte oder jedenfalls vom Rechtsdenken her zu legitimieren war. Diese Ausweitung der Gebotstätigkeit über die bloße unmittelbare Durchsetzung eines in der Rechtsüberzeugung der maßgeblichen Beteiligten (tatsächlich oder angeblich) bereits vorhandenen Normbestandes hinaus (und damit eine gewisse Verselbständigung des herrschaftlichen Normerlasses vor allem gegenüber traditionalistischem Rechtsdenken) läßt sich in der Begrifflichkeit Ebels 10 als eine Form des Übergangs vom bloßen Rechtsgebot zum "Gebotsrecht" fassen: Es wird nicht mehr nur das geboten, was zuvor durch das Urteil auf Grundlage der Rechtsüberzeugung der Gerichtsbeteiligten lediglich "gefunden" worden ist. Vielmehr werden auch Normen bewußt neu aufgestellt, wenn erst durch derartige weitergreifende Gebotstätigkeit der für die Wahrung des Rechtes erforderliche umfassende Zustand "guter Ordnung" gewährleistet erscheint. Diese neu aufgestellten Normen unterscheiden sich allerdings in der verbreiteten Vorstellung des 17. Jahrhunderts als "Policey" gerade vom "Recht" im überlieferten Verständnis. In den Polizeivorschriften vieler Regelungstexte ist der entscheidende Topos für diese Expansion der Gebotstätigkeit die "Fürsorge" für das "gemeine Beste". Diese Sorge für das "gemeine Beste" beschränkt sich nicht auf die unmittelbare Durchsetzung als bestehend vorausgesetzten Rechts, sondern realisiert sich in der Inanspruchnahme der verschiedensten Aufgaben als Herstellung "guter Policey und Ordnung". Innerhalb der als Konkretisierungen der Sorge um das "gemeine Beste" erscheinenden einzelnen Aufgabenbestimmungen wiederum entlialten sich verschiedene einander ergänzende und teilweise wiederholende einzelne Gebote unter dem Gesichtspunkt, die diesem Vorhaben gemäßen Mittel11 in geeigneter Weise und erforderlichem Umfang einzusetzen. Auch bei dieser Sichtweise wird aber in den Begründungen der Vorschriften in den einzelnen Erlaßtexten regelmäßig vermieden, jeweilige Regelungserfordernisse einerseits und Inhalte überlieferten Rechts andererseits in Gegensatz treten zu lassen. Greifen sie über traditionalistisch legitimierbare Norminhalte hinaus, so behaupten sie auch auf bislang normfreien oder überhaupt erst neu entstehenden Sachgebieten, nur jene "gute Ordnung" "aufzurichten", ohne die das Gemeinwesen und auch das in ihm zu wahrende Recht gefährdet erschienen. Wenn darüber to Vgl. Ebel (Fn. 8). 11 Hierzu jüngst Helga Wessel, Zweckmäßigkeit als Handlungsprinzip, 1978; vgl. auch Schutze (Fn. 4), S. 141 ff.
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hinaus bestehende Übung durch Polizeigebote in Frage gestellt wird, findet das fortwirkende ältere Rechtsdenken Berücksichtigung, indem die bestehenden Verhältnisse zunächst im Unterschied zu gutem alten Brauch, rechtem Maß und Zustand als eingerissene "Mißbräuche", als "Anmaßung" oder in den gegenwärtigen "verderblichen Zeiten" eingetretene "Mißstände" abgewertet werden, um sodann die "gute Ordnung" obrigkeitlich zu fixieren. Die Lockerung der Bindungen an traditionalistisches Rechtsdenken in den Polizeigeboten schlägt so bis zum Ende des 17. Jahrhunderts nicht eine grundsätzliche Ablehnung überlieferten Rechts um, sondern zeigt sich eher in einer allmählich zunehmenden Ausweitung und sachlichen Entfernung der vielfältigen konkreten Gebotsregelungen von dem hergebrachten Normbestand, den zu wahren sie häufig weiter vorgeben.
(2) Territorialstaatliches Gestaltungsstreben mit Hilfe polizeilicher Normen findet so zwar Grenzen in der erforderlichen Rücksichtnahme auf "Recht" und bestehende Übung. Soweit es aber zum Zuge kommt, verbindet sich mit ihm regelmäßig ein Geltungsanspruch, der weniger eingeschränkt und auf intensivere Durchsetzung gerichtet ist, als dies für den Großteil der als "Recht" aufgezeichneten und "reformierten" Normen des territorialstaatlichen Normenbestandes festzustellen ist. Wie jüngst Bernhard Diestelkamp 12 am Beispiel eines hessischen Gebietes gezeigt hat, kann für das 16. Jahrhundert nicht davon ausgegangen werden, daß die landesfürstliche Sammlung und Festlegung von Gesetzesrecht im allgemeinen mit dem Bestreben verbunden ist, dieses Recht im lokalen Bereich zur Geltung zu bringen, wenn dort die Beteiligten über hinreichende Normen ihres Herkommens verfügen. Das territoriale Gesetzesrecht ist für Diestelkamp grundsätzlich eher eine Ergänzung zum lokalen Recht, die der Landesfürst ohne eigenes Durchsetzungsinteresse zur Verfügung stellt. Größere Durchsetzungsintensität haben aber auch nach diesen Forschungen die im Rahmen der Policey ergehenden Gebote. Bei ihnen geht es nicht nur darum, einen Normbestand zu fixieren, um den Rechtsbeteiligten dadurch größere Gewißheit über das Recht zu geben, das ihnen im Bedarfsfall durch gerichtlichen Spruch erteilt wird. Vielmehr soll unmittelbar durch die Festlegung der Normen eine zwingende Pflichtenlage für die Untertanen geschaffen werden. Gerade unbeeinträchtigt von bestehendem "Mißbrauch" in der Übung einzelner betroffener Sozialkreise sollen die gebotenen Normen gelten, um die als "gute Ordnung" erstrebte Gestaltung Wirklichkeit werden zu lassen. Diesem Gestaltungsanspruch geben auch zahlreiche "Einschärfungen", "Declarationes" und "Erneuerungen", Ergänzungspatente über die Kanzelverlesung der vorausgegangenen Ordnung usw. Ausdruck. Sie zeigen allerdings zugleich, daß die tatsächliche Geltung auch der Polizeinormen bis in das 18. Jahrhundert mangels hinreichender verwaltungsmäßigen Durchsetzungsmöglichkei12 Das Verhältnis von Gesetz und Gewohnheitsrecht, in: Rechtshistorische Studien (Festschr. Thieme), 1977, S. 1 ff.
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ten des Territorialstaates erheblich von dem in den Regelungstexten selbst erhobenen Anspruch abwich. c) Mit der Entstehung und Ausweitung der Gebotstätigkeit unter dem Anspruch, "gute Policey" zu erhalten und herzustellen, entwickelt sich die Polizeiliteratur als zentraler Bereich frühneuzeitlicher deutscher Staatslehre. Eine Reihe von "Fürstenspiegeln" und Regimentstraktaten betrachtet im 16. und mehr noch im 17. Jahrhundert die Policey als ihren Hauptgegenstand oder zumindest einen ihrer Hauptgegenstände (häufig mit höherem Rang als etwa die Kriegskunst). Daneben fließen Erörterungen über die Policey in eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Abhandlungen ein, vor allem in primär auf religiöse und historische Gegenstände gerichtete Belehrungsschriften. Die Polizeiliteratur ist von Anfang an stark geprägt von der Anschauung der polizeilichen Praxis, zunächst sowohl der Städte als der Territorien, bald sich aber auf die Territorien (und dort auf die Belehrung und Beratung des Fürsten) konzentrierend. Diese Anschauung, der ein starker unmittelbarer Bezug der behandelten Themen zu aktuellen Problemen der Herrschaftspraxis entspricht, beruht zumeist auf eigener Tätigkeit der Verfasser in städtischen oder fürstlichen Räten oder in anderen Verwaltungsfunktionen. Als "Kameralisten" sind frühe Polizeilehrer eher auf Grund derartigen unmittelbaren Bezuges zur Tätigkeit besonders der fürstlichen Kammern in der territorialstaatlichen Verwaltung als auf Grund darüber hinausgehender, bereits konzeptionell verfestigter gemeinsamer wirtschaftspolitischer Lehren zu kennzeichnen. Wenn im folgenden die Entwicklung der frühen Polizeiliteratur im wesentlichen unter dem Aspekt ihrer Bindung an die territorialstaatlichen Verwaltungsaufgaben und insbesondere ihrer Ausrichtung auf die landesfürstliche Gebotstätigkeit betrachtet wird, entspricht dies daher einem Blickwinkel, der bei den Polizeiautoren selbst häufig durch ihr eigene!> berufliches Tätigkeitsfeld vorgegeben ist. Ohne daß es im einzelnen hier jeweils angeführt werden kann, bleibt aber zu erinnern, daß zumindest bei den frühen Autoren zwar die Bedeutung des Territorialstaates für die Gewährleistung "guter Policey" erkannt wird, der Polizeibegriff aber noch nicht auf die fürstliche Regierungstätigkeit oder überhaupt die zentrale territorialstaatliche Verwaltung zentriert ist. Wenn Policey bei ihnen neben dem Gemeinwesen selbst zunächst einen Zustand der Wohlordnung im Gemeinwesen bezeichnet, so ist dieser Zustand grundsätzlich in der gottgewollten und hergebrachten Ordnung aller Sozialkreise der Ständegesellschaft vorgegeben. Polizeilehre ist schon insofern anfänglich nach ihrem Selbstverständnis nicht allein (und scheinbar nicht einmal primär) Herrschaftslehre, sondern eine die verschiedenen Stände und Lebenskreise der älteren societas civilis umgreifende Lehre, wie diese Sozialbereiche allesamt durch die Einrichtung ihrer inneren Ordnung beitragen sollen zur Wahrung und Einrichtung guter Policey im ganzen Reiche oder in der ganzen Christenheit. Obgleich diese Sichtweise in dem Maße hinter der (sogleich noch in ihren theoretischen Grundlagen näher zu betrachtenden) Ausrichtung auf das Handeln des Fürsten zurücktritt, wie erkennbar wird, daß dieser allein politisch zu durchgreifenden Maßnahmen in der Lage ist, wird sie doch bis an das Ende des 17. Jahrhunderts keinesfalls ganz aufgegeben, wirkt etwa auch in die "Hausväterlitera-
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tur" hinein und prägt noch im 18. Jahrhundert die Staatslehre des Thomasius mit.
Am Anfang dieser Polizeiliteratur stehen Johann Oldendorp und Melchior von Osse. Beider Schriften sind noch stark von einem eher statischen Verständnis der Policey geprägt13 ; es wird noch darauf einzugehen sein, wie sich bei Oldendorp dennoch bereits Ansätze für eine instrumentelle Betrachtung polizeilicher Normgebung zeigen. Auf sie folgen am Beginn des 17. Jahrhunderts insbesondere Lauterbeck, Obrecht und Friedlieb 14• In der Mitte dieses Jahrhunderts schließlich heben sich aus einer Reihe weiterer Schriften, die sich mit der Policey befassen, Reinkingks Biblische Policey, Conrings Beiträge zu den (weitgehend vom Gemeinwohlgedanken her aufgefaßten) Aufgaben des Regenten sowie seine Arbeiten zu verschiedenen ökonomischen Fragen15 und Seckendorffs Teutscher Fürsten-Staat hervor. Diese Schrift Seckendorffs wird für die folgenden Jahrzehnte zu dem bestimmenden Werk des Polizeidenkens und kann insofern als kennzeichnend für den Entwicklungsstand, den die Polizeiliteratur vor dem 18. Jahrhundert erreicht hat, gelten. d) Oft überwiegt in den Beiträgen dieser Polizeiliteratur die Ausrichtung auf die konkreten, in der Praxis drängenden Fragen und deren pragmatische Beantwortung aus religiös-sittlicher Überzeugung und praktischer Erfahrung. Dennoch ist auch diese Literatur in die breiteren Zusammenhänge der staatstheoretisch-philosophischen Entwicklung ihrer Zeit eingebettet, wie in den letzten Jahrzehnten neben H. Maiers grundlegendem Werk eine Reihe weiterer Untersuchungen - so die Arbeiten von Pierangelo Schiera16 , Dietmar Willoweit 11 , von Christoph Link1s, Ulrich Scheuner19 , Jutta Brückner0 und Helga Wessel21 sowie verschiedene Beiträge in dem von Michael Stolleis22 herausgegebenen Band - gezeigt haben. Ohne daß der Ertrag dieser Forschungen hier nachgezeichnet werden kann, bleibt doch wenigstens stichwortartig auf Vgl. H. Maier (Fn. 1), S. 105 ff. Zu Friedlieb vgl. H. Maier (Fn. 1), S. 119; H. L. StoUenberg, Geschichte der dt. Gruppwissenschaft (Soziologie), Bd. 1, 1937, S. 60 ff. 15 Vgl. hierzu jüngst Überblick und Hinweise bei Dietmar Willoweit, Hermann Conring, in: StolZeis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jh., 1977, insbes. S. 132 ff. u . Fn. 64. 16 Dall'Arte di Governo alle Science dello Stato, Mailand 1968. 11 Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, 1975. 1s Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1'979. 19 Die Staatszwecke und die Entwicklung der Verwaltung im dt. Staat des 18. Jh., in: Beiträge z. Rechtsgeschichte (Gedächtnisschr. Conrad), 1979, s. 467 ff. 20 Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht, 1977. 21 s. Fn. 11. 22 s. in Fn. 1. 13
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einige der Faktoren des breiteren staatstheoretischen Umfeldes der frühen Polizeiliteratur hinzuweisen, soweit diese die weitere Haltung der Polizeilehre zur Gesetzgebung beeinflussen. Als Ausgangslage ist hier in Rechnung zu stellen, daß diese Literatur in vielfältiger Weise in die aus dem Spätmittelalter überkommenen (und oben für die Begründungen polizeilicher Gebote in den Regelungstexten selbst schon erwähnten) Vorstellungen von der "Rechtswahrung" eingebunden sind. Unter der Staatszweckbestimmung als Rechts- und Friedenswahrung gehört hierzu anfänglich insbesondere die Annahme, daß das Recht dem staatlichen Zugriff weitgehend entzogen und daß in göttlichem und natürlichem Recht, in Herkommen und überlieferten Schriften antiker und mittelalterlicher Lehrautoritäten die "gute Ordnung" des Gemeinwesens weithin unmittelbar vorgezeichnet sei. Die Ausweitung des territorialstaatlichen Gestaltungsstrebens bei der polizeilichen Gebotstätigkeit findet auf diesem Hintergrund ihre wirksamste Rechtfertigung dadurch, daß mit der protestantischen Lehre vom Fürstenamt und der Fürstenethik religiös-ethische Maßstäbe und Verhaltensanforderungen selbst ein Anwachsen der ordnenden und verordnenden Tätigkeit des Herrschers begründen und sich zu zentralen Elementen einer auf die monarchische Zentralgewalt der Territorien ausgerichteten Staatstheorie ausformen lassen.
Der Protestantismus wirkt so nicht nur über seine - besonders im Calvinismus ausgeprägte - Aufforderung zu Gewerbefleiß und bürgerlicher Sparsamkeit zugunsten der Schaffung "guter Policey"23. Bedeutsamer noch für die Lockerung älterer Zurückhaltung gegenüber der Nonnsetzung ist in den deutschen Territorien die lutherische Lehre vom Fürstenamt in ihrer Verbindung mit dem christlichen Sündenpessimismus. In dieser Sicht tritt die Kluft zwischen hergebrachter und von Gott gewollter Ordnung einerseits und einem scheinbar unausweichlich der "Sünde" und "unerträglichen Mißständen" zutreibenden Sozialleben andererseits zunächst kraß (und oft in barocken Formulierungen reich ausgeschmückt) hervor, um sodann dadurch überbrückt zu werden, daß der Fürst mit seinen Geboten- zumindest stellenweise und unter großen Anstrengungen - auf eine "gute Policey" hinwirkt. Wenn der Fürst tätig werden muß, um die Herausforderung des Zornes Gottes durch das Verhalten der Untertanen abzuwenden24, erscheint seine Normgebung unerläßlich für wenigstens ein Mindestmaß an weltlichem wie geistlichem Glück der Untertanen. Auf dem Hintergrund des christlichen Sündenpessimismus können sich so Ausgangspunkte der eudämonistischen Legitimationsansätze für die fürstliche Regelungstätigkeit entwickeln. Zunehmend dehnt sich damit schon durch die Fürstenamtslehre der Gestal23 Vgl. zu den vom Calvinismus ausgehenden Impulsen für eine (herrschaftlich-politische) Vermittlung christlicher Lebensvorstellungen in die soziale Wirklichkeit hinein L ink (Fn. 18), S. 230, m. w. N. 24 Vgl. als Beispiel für diese Argumentationsweise etwa unten IX. 1. a), Fn. 5.
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tungsrahmen für den Landesherren aus - verstanden weniger als eine Erweiterung von Befugnissen denn als eine umfangreichere Zuweisung von (häufig sogar als äußerst mühselig und lästig dargestellten) Pflichten vor Gott und zum Wohle des Landes. Die hergebrachten Bindungen werden dadurch nicht unwirksam; aber die hinzutretenden neuen ethisch-religiösen "Pflichten" lassen neben dem statisch-bewahrenden Element mehr und mehr die Gestaltungsaufgaben des Fürsten im Gemeinwesen in den Vordergrund treten. Legitimation und Anleitung für das Fürstenhandeln im Rahmen der (Fürsten-)Ethik und der Fürstenamtslehre reichen allerdings allein nicht mehr hin, um die wachsenden Gestaltungsmöglichkeiten und -aufgaben der Landesfürsten besonders im 17. Jahrhundert wissenschaftlich zu fassen. Das Erstarken der fürstlichen Zentralgewalt im Territorium und die Ausweitung ihres Tätigkeitskreises fordern sowohl eine Weiterentwicklung des rechtlichen Verständnisses der Herrscherstellung als auch eine darüber hinausgehende Auseinandersetzung mit den spezifischen Erfordernissen einer tatsächlich wirksamen Herrschaftsausübung heraus. In der Polizeiliteratur des 17. Jahrhunderts finden so zwei in verschiedener Hinsicht miteinander verflochtene allgemeinere Entwicklungsrichtungen der Staatslehre dieser Zeit besonderen Ausdruck: Einerseits die Entwicklung der Staatsrechtslehre in dem Bemühen, die rechtliche Stellung des Landesfürsten unter den Bedingungen des sich herausbildenden Absolutismus sicherer zu bestimmen; andererseits ein allmähliches Auseinandertreten von Politik- und Rechtslehre durch die Entwicklung eigener politischer Lehrbegriffe, die über den Kreis der herkömmlichen Maßstäbe und Argumente aus Theologie, Ethik und Jurisprudenz und über den Rahmen der älteren Lehrtradition der aristotelischen Politik an den Artistenfakultäten hinausgreifen. (1) Bei der Entwicklung der Staatsrechtslehre im Verlaufe der Diskussion um die Stellung des Landesfürsten kommt den Begriffen der maiestas (personalis und realis) und der Landeshoheit zentrale Bedeutung zu, wie in letzter Zeit vor allem die Untersuchungen von D. Willoweit und Ch. Link26 bestätigt haben. Um diese Begriffe und die Ausformung der einzelnen von ihnen abgeleiteten Befugnisse entwickelt sich eine intensive Diskussion, die teils im gemeinrechtlichen Kontext verwurzelt ist, teils auf neuere naturrechtliche Sichtweisen ausgreift und im letzten Teil des 17. Jahrhunderts mit ihren Beiträgen zur Herausbildung eines "Allgemeinen Staatsrechts"26 versucht, den zwischenzeitlich zu größerer Eigenständigkeit vorgedrungenen Lehrbegriffen in den Darstellungen zur ratio status und zur "Staatsklugheit" eine in gleichem Maße den Zeiterfordernissen genügende (staats-)rechtliche Betrachtung der Herrschertätigkeit an die Seite zu stellen. Strittig ist da25
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s. Fn. 17 f.
Hierzu jüngst Link (Fn. 18), S. 49 ff.
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bei für die Zeit bis zum Ende des 17. Jahrhunderts noch, welchen Einfluß die Lehren Bodins über die Souveränität ausgeübt haben27• Hinsichtlich der Polizeiliteratur dürfte es jedenfalls recht fragwürdig sein, wenn Erhard Dittrich Parallelen bereits zwischen Melchior von Osse und Bodin ziehen will28 • Hingegen hat in der Mitte des 17. Jahrhunderts die Auseinandersetzung mit Bodin trotz der überwiegend konservativen Sichtweisen der deutschen Staatslehre schon eine erhebliche Rolle gespielt, wie Rudolf Hokes grundlegende Forschungen insbesondere für das Werk Reinkingks gezeigt haben29 • In einem Großteil der nichtakademischen Polizeiliteratur scheint allerdings die konkret-pragmatische Vergehensweise und die Rücksichtnahme auf die rechtlich-soziale Wirklichkeit mit ihren fortbestehenden vielfältigen politischen Funktionen ~tändischer Lebenskreise dazu geführt zu haben, daß auch bei der Bodin-Rezeption eher nach und nach einzelne Elemente punktuell so aufgenommen werden, wie sie bei der Erörterung konkreter Sachverhalte jeweils verwendbar erschienen. Die Ausweitung und Festigung der rechtlichen Grundlagen der landesfürstlichen Gewalt schlägt sich auch in der Entwicklung des Gesetzesbegriffes nieder. Obgleich in der deutschen Lehre die tiefer greifenden theoretischen Neuerungen, die sich bei Hobbes mit der Lehre vom Gesetz als Herrscherbefehl verbinden, bis in das letzte Drittel des 17. Jahrhunderts nur begrenzt Anerkennung finden30, beginnt sich im 17. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit der Ausgestaltung der Majestätsrechte - wie vor allem H . Mohnhaupt gezeigt hat und bereits oben erwähnt wurde31 - und insbesondere mit dem Gesetzgebungs27 s. einerseits Link (Fn. 18). S. 36 f. (m. w. N): andererseits H . Maier, Ältere dt. Staatslehre und weltliche politische Tradition (1966), jetzt abgedr. in: ders. (Fn. 1), S. 280 ff. 2s Erhard Dittrich, Die dt. und österr. Kameralisten, 1974, S. 40. 29 Rudolf Hoke, Badins Einfluß auf die Anfänge der Dogmatik des deutschen Reichsstaatsrechts, in: Verhdlg. d. intern. Bodin-Tagg. in München, 1973, S. 315 ff. 30 Eher wird in Hobbes' erkenntnistheoretischen Auffassungen, seinem Verständnis des natürlichen Urzustandes und seiner Lehre von der Herrschermacht häufig der Gegenpol zu eigenen, von älteren Verständnissen des Rechts bestimmten Entwürfen gesucht; vgl. Link (Fn. 18), S. 38 ff. -Auch im Verlaufe des 18. Jahrhunderts trifft Hobbes verbreitet auf Ablehnung, weniger allerdings wegen seines autoritativen Gesetzesbegriffes - in der Unterscheidung von "Vorschrift" (materiale legis, Regelungsinhalt) und "Verbindlichkeit" (formale legis, Sanktionsbewehrung) also weniger wegen einer Überbetonung der zweiten Komponente des Gesetzesbegriffes -, sondern in erster Linie auf Grund einer stärkeren naturrechtliehen Verankerung des Gesetzesverständnisses und einer weiterreichenden Konkretisierung der Naturrechtspostulate wegen des mit ihm verbundenen Voluntarismus; vgl. etwa bei Heinrich Gottfried Scheidemantel, Das Staatsrecht nach der Vernunft ... , 1. T., 1770, S. 168 f., 170; s. auch sogleich noch III. Fn. 56. 31 Vgl. (auch zum folgenden) H. Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Ge-
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und dem Polizeiregal bereits unter der Frage nach der potestas legislatoria eine Sichtweise durchzusetzen, die mehr oder weniger ausgeprägt den Gesetzesbegriff mit der Regelungsmacht des Herrschers verknüpft. Auch wenn Hobbes' Satz "Auctoritas, non veritas facit legem" abstrakt meist nicht akzeptiert wird und selbst wenn die Gesetzgebungsgewalt des Landesfürsten weiter eng an seine (für das ältere Rechtsdenken vorrangige) Gerichtsgewalt geknüpft erscheint, also Gesetzgebung nicht als eigene Staatsfunktion der "Rechtswahrung" gegenübergestellt wird, so verlieren damit doch ältere Gütekriterien des Rechts an Bedeutung für den Gesetzesbegriff. Weithin fehlt es an allgemein gefaßten materialen Voraussetzungen für den Gesetzescharakter einer Norm (sofern nicht bereits von den Bestrebungen zur Erneuerung des Naturrechts neue Impulse ausgehen). Maßgebliche Bedeutung für die Kennzeichnung einer Norm als Gesetz hat am Ende des 17. Jahrhunderts eher die Rückführbarkeit auf ein "setzendes" Subjekt als der Charakter der erlassenen Norm selbst. Das Gesetz erscheint insofern zwar nicht etwa schon durch den Setzungsakt des Landesfürsten hinreichend legitimiert, aber zunächst doch durch diesen regelmäßig hinlänglich gekennzeichnet; der Begriff der voluntas legislatoria32 gewinnt zur Kennzeichnung jedenfalls des unmittelbaren Ursprunges seines Regelungsinhaltes an Bedeutung. In diesem Rahmen beginnt eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis der vom Herrscher jeweils ergriffenen oder zu ergreifenden Regelungsmaßnahmen zu den jeweils verfolgten oder zu verfolgenden Regelungszwecken auch vom Gesetzesverständnis her möglich zu werden. (2) Für die Trennung der politischen von der herkömmlichen theologisch-ethischen und rechtlichen Betrachtung in der akademischen Lehre bietet im Rahmen der Philosophie- wie H. Maier gezeigt hat33 - zunächst das aus der mittelalterlichen Tradition überkommene aristotelische Lehrsystem der Ethik, Politik und Ökonomie selbst die Grundlage. Indem es den neueren Bedürfnissen territorialer Staatlichkeit angepaßt wird, lösen sich Klugheits- und Zweckmäßigkeitserwägungen bereits teilweise aus dem religiös-ethisch-rechtlichen Kontext, in dem sie in der traditionellen Lehrweise dieses Systems standen. H. Maier hat eine Reihe der in dieser Hinsicht einsetzenden Bestrebungen seit den Melanchthonschen Ethikkommentaren vorgestellt, zugleich aber auch Grenzen und Schwächen in Hinblick auf die Ökonomie und die erforsetzesbegriff im Ancien Regime, in: Ius commune IV (1972), S. 188 ff. sowie I. 3. s2 Vgl. hierzu Mohnhaupt (Fn. 31). 33 Maier (Fn. 1), S. 105 ff., 164 ff. Weiterführend zur "Politik als ,scientia' und ,prudentia' im 16. und 17. Jahrhundert", jetzt Brückner (Fn. 20), S. 149 ff.
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1. Entwicklung der Policey im 16. und 17. Jh.
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derlieh werdende Trennung von Fürst und Staat gezeigt3 4 • Seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts unterstützen auch Beiträge aus der Rechtslehre erkennbar die behutsame Verselbständigung der politischen Lehrbegriffe gegenüber dem Recht35• Einen wesentlichen Ansatz entwickelt hierzu Althusius3fi; das entschiedenere Vorgehen bei Grotius37 mag hingegen für das Staatsdenken in Deutschland zunächst noch zu weitgehend gewesen sein. Die damit eingeschlagene Richtung setzt sich in der deutschen Staatslehre im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts forflS. Sie begegnet in einer durch die Ausrichtung auf die tatsächlichen Gegebenheiten der deutschen Staaten wirksamen Weise etwa bei Conring3 9• Selbst ein in seiner Gesamtanlage durchaus ständisch-konservativem Denken verbundenes Werk wie Reinkingks Biblische Policey vollzieht zumindest praktisch eine Trennung zwischen religiös-ethisch ausgerichtetem "Fürstenspiegel" einerseits und Erwägungen der "Regierungsklugheit" andererseits und weitet damit den Raum für Zweckmäßigkeitserwägungen in Hinblick auf die Regierungstätigkeit40 • - In voller Tragweite werden die Konsequenzen, die der Trennung zwischen der (theoretisch regelmäßig noch auf die Ethik gegründeten, dabei zunehmend aber von Zweckmäßigkeitserwägungen bestimmten) Politik und dem Recht für Entfaltung und Begrenzung staatlicher Gestaltungstätigkeit innewohnen, für die Polizeilehre aber wohl erst erkannt, nachdem diese Trennung im 18. Jahrhundert durch ein ganz anderes als das ursprünglich zugrundeliegende Rechtsverständnis im Anschluß an Chr. Wolff weitgehend wieder aufhebbar geworden ist. Soweit die bisher vorliegenden, gerade hier allerdings weiterer Vertiefung bedürftigen Forschungen erkennen lassen, wahren nahezu alle Ansätze bei der Herausbildung eigener, von Rechtslehre und Ethik unterschiedener politischer Lehrbegriffe in der deutschen Staatslehre noch die Anerkennung herkömmlichen Staatsdenkens zumindest dadurch, daß sie sich von Machiavelli und den sich auf ihn beziehenden Varianten des ratio status-Denkens distanzieren. Sie bemühen sich, trotz teilweiser begrifflicher Anpassung an diese ratio status-Lehren vor allem aus Italien und Frankreich jenen offenen Bruch zwischen den für die Herrschaftsausübung des Fürsten maßgeblichen Grundsätzen einerseits und den Geboten des göttlich-kirchlichen Rechts, des Herkommens und der Moral, den Machiavelli erkannt und von der EigenbedeuVgl. Maier (Fn. 1), S. 188 ff. Hierzu - und zur Kehrseite dieses Prozesses, der "Entpolitisierung" des Staatsrechts- Link (Fn. 18), S. 64. aß Vgl. f. a. m. Peter J. Winters, Die "Politik" des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, 1963. 37 Vgl. Link (Fn. 18), S. 63. 38 Zu weiteren Ansätzen des 17. Jh., die die Politik unter der Frage der "Nützlichkeit" aus dem Recht zu lösen beginnen, s. Link (Fn. 18), S . 63 Fn. 114. 39 Vgl. WHloweit (Fn. 15), u. a . S. 132 ff., 145. 40 Vgl. H. Maier (Fn. 1), S. 134 ff. 34
a;;
4 R. Schulze
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li. Frühe polizeiliche Gebotstätigkeit und Literatur
tung des Staates her befürwortet hat, zu vermeiden. Dementsprechend entwickeln in der Polizeilehre einige Autoren ihr Bild "guter Policey" in ausdrücklicher Entgegensetzung zu den Lehren Machiavellis41, Zwar bleibt es so nicht ohne Einfhlß auf die eigene Betrachtungsweise zumindest für konkrete Einzelbereiche des Staatshandelns, wenn der Polizeilehre in der Auseinandersetzung mit Machiaveni und an ihn anschließenden Lehren in stringent durchgeführten Modellen die Bedeutung des Zweckmäßigkeitsgesichtspunktes für die Staatslehre vorgeführt wird42. Mit der prinzipiellen Ablehnung des Machiavellismus umkleidet aber das von der Polizeiliteratur gesammelte Herrschaftswissen regelmäßig weiterhin der Mantel einer durch traditionelle rechtliche und religiöse Vorstellungen gestützten Ethik. Damit stellt sich für die Polizeiliteratur im 16. und 17. Jahrhundert nicht die Notwendigkeit, ihre Vorschläge für das Fürstenhandeln als säkulare und der Tendenz nach etatistische Lehren in methodischen und wissenschaftssystematischen Konflikt mit hergebrachten theologischen und juristisch-politischen Anschauungen zu verfechten. Anders als der Machiavellismus und anders als einige Begründer ihrer eigenen späteren vernunftrechtlich-aufklärerischen Fortentwicklung entgeht sie damit auch dem Verdikt der an der Aufrechterhaltung dieser Anschauungen interessierten Kräfte aus Kirche und Ständen43.
2. Zu den Ansätzen für die Entwicklung von Normgebungslehren in der frühen Polizeiliteratur a) Bevor die Entwicklung des Gesetzesverständnisses am Ende des
17. Jahrhunderts den soeben umrissenen Stand erreicht hat, fehlt es in
der deutschen Staatslehre an einer Wissenschaft von der Gesetzgebung,
41 So vor allem Dietrich Reinkingk; vgl. dazu H. Maier (Fn. 1), S. 131 ff.; Christoph Link, D. Reinkingk, in: Staatsdenker im 17. und 18. Jh. (Fn. 15), s. 78 ff. 42 Zum Einfluß dieser Auseinandersetzung in der Staatslehre Wesset (Fn. 11), u. a . S. 119 ff.; zum breiteren Rahmen der Entwicklung s. H. Maier, Ältere deutsche Staatslehre und westliche politische Theorie (1966), jetzt in: ders. (Fn. 1), S. 278 ff. (insbes. S. 282 ff.) sowie die Beiträge in R. Schnur (Hrsg.), Staatsräson, 1975. 43 Wenn darüber hinausgehend in Einzelfä llen etwa, wie bei H . Wesset (Fn. 11), S. 127 ff. hervorhebt, bei Johan EHas Keßler - das ältere Verständnis der Rechtswahrung und Fürstenethik tiefergreifend vom Gedanken der ratio status her aufgebrochen wird, muß dies für das 17. Jahrhundert wohl noch als Ausnahme gelten. Eher erscheint die nachdrückliche Distanzierung vom Machiavellismus zuweilen als eine Voraussetzung für den proabsolutistischen T eil der Literatur, um sich sodann auf anderer theoretischer Grundlage, im w irklichen oder vermeintlichen Einklang mit herkömmlichen Wertungen und Anschauungen, ungehinderter den konkreten Entfaltungsmöglichkeiten der Regententätigkeit unter den Bedingungen der deutschen Territor ien zu widmen . Den anwachsenden politischen Handlungsmöglichkeiten und -aufgaben der Landesfürsten im Territorialstaat trägt es so häufig theoretisch weniger anspruchsvoll und doch in den praktischen Ergebnissen zunächst hinreichend Rechnung, wenn akademische wie nichtakademische Polizeiliteratur auf dem H intergrund von Fürstenamtslehre und aristotelischer Politik eher pragmatisch im Rahmen der traditionsverbunden en Begrifflichkeit die Formeln des bonum commune und der salus publica in concreto immer weitergehend aufgefüllt und zugleich zunehmend auf die Gestaltungstätigkeit des Landesfürsten verengt betrachten.
2. Ansätze für die Entwicklung von Normgebungslehren
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die im Rahmen der politischen Lehren über das Herrscherhandeln auf klare begriffliche Grundlagen gestützt ist und zu einer geschlossenen Darstellung ihres Gegenstandes vordringt. Trotz der Ausrichtung der Polizeiliteratur auf die anwachsende Gebotstätigkeit der Landesfürsten entwickelt sich bis dahin insbesondere in der Polizeiliteratur noch keine derartige Auseinandersetzung mit den spezifischen Fragen der Normgebung bei der Erhaltung und Herstellung "guter Policey". Eine systematisierende Durchdringung des Regelungsstoffes in seiner ganzen Breite und seine Gliederung nach Regelungsformen und Normquellen in der polizeilichen Praxis erfolgt noch ebensowenig wie der Versuch einer umgreifenden wissenschaftlichen Antizipation zukünftiger Regelungstätigkeit auf der Grundlage einer auf abstrakt-allgemein gefaßten Prinzipien beruhenden Systembildung. Die Polizeiliteratur bleibt auch in ihrer Befassung mit Fragen der Normgebung bei jener kasuistischpragmatischen Betrachtungsweise, die sich mit ihren späteren vernunftrechtlichen Kritikern als bloß "handwerksmäßig" kennzeichnen läßt44 • In der Polizeilehre des 16. und des größten Teiles des 17. Jahrhunderts lassen sich somit Ansätze für eine wissenschaftliche Befassung mit den Fragen der Normgebung, die auf die im 18. Jahrhundert zum Durchbruch gelangenden Sichtweisen hindeuten, nur in sehr begrenztem Rahmen feststellen. Dennoch fordern schon hier die aktuellen Bedürfnisse der politischen Praxis, die sich vor allem in den Mißerfolgen der polizeilichen Gebotstätigkeit erweisen, partiell eine Reflektion von Wirkungsweisen und regelungstechnischen Mitteln polizeilicher Normgebung heraus. Von den spezifischen Aufgaben der polizeilichen Gebotstätigkeit her treten Fragen der Durchsetzbarkeit erlassener Normen, der Effektivität geplanter Regelungen und - allgemeiner gefaßt - der Zweckmäßigkeit der jeweiligen Maßnahmen im Verhältnis zum Regelungsziel in den Vordergrund. Dabei entwickelt sich eine Betrachtungsweise der Normentwicklung, die sich zwar noch nicht gegen das traditionalistische Rechtsdenken wendet, sich diesem aber bereits entzieht und ein erhebliches Potential für die Expansion und Innovation der im Territorium geltenden und von der zentralen fürstlichen Gewalt sanktionierten Normen darstellt45 • Der sich dabei bisweilen durchsetzende Rationalismus der Vorschläge für das Herrscherhandeln findet eine wissenschaftsgeschichtliche Grundlage am Beginn der Neuzeit bereits in frühvernunftrechtlichen Elementen des zur Blüte gelangten Humanismus, ohne daß er hier in seinem weiteren Entwicklungsgang vor dem 18. Jahrhundert verfolgt werden kann. Es muß vielmehr genügen, an Hand einiger Arbeiten früher Polizeiautoren beispielhaft zu zeigen, wie diese Literatur bei der Auseinandersetzung mit Fragen der Norm44 45
4*
Vgl. dazu unten für G. H. Zincke IV. 1., bei Fn. 10. s. auch die Hinweise soeben bei Fn. 11.
II. Frühe polizeiliche Gebotstätigkeit und Literatur
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gebung in ihren methodischen Positionen mit der Ausweitung polizeilicher Aufgaben in der Praxis punktuell über kasuistisch-pragmatische Betrachtungsweisen hinaus zur Erarbeitung verallgemeinerungsfähiger Prinzipien und neuer, nicht mehr aus dem älteren Rechtsdenken abgeleiteter Auffassungen vorstößt.
(1) Erste Ansätze einer Normgebungslehre finden sich etwa schon in der für die frühe Polizeilehre grundlegenden Schrift Oldendorps "Von Rathschlagen, wie man gute Policey und Ordnung in Stedten und Landen erhalten möge" 46 . Wenn hier Erfahrungen der Normsetzung vor allem im Stadtregiment an eine Lehre und Praxis weitergegeben werden, die sich nunmehr stärker auf die Verhältnisse der (gegenüber den Städten und jeweils untereinander in der Herrschafts- und Verwaltungsstruktur ganz verschiedenartigen) Territorialstaaten ausrichtet, so wird dadurch ein beträchtliches Maß an Abstraktion von jeweiligen konkreten Gegebenheiten gefordert. Die Entwicklung neuer Handlungsmaßstäbe gewinnt in Stadt und Land angesichts neuer wirtschaftlichsozialer Sachverhalte an Bedeutung, kann aber nicht mehr unmittelbar aus dem älteren Natur- und dem Gottesrecht und durch den Rekurs auf bewährte Übung allein erfolgen. Es stellt sich damit zudem ein Spannungsverhältnis zwischen den (weiterhin in göttlichem und natürlichem Recht und im Herkommen gesuchten) grundlegenden Ordnungsvorstellungen für die Regelungstätigkeit einerseits und den unter den konkreten und veränderlichen Verhältnissen jeweils im einzelnen zu ergreifenden Maßnahmen andererseits ein. Dieses Spannungsverhältnis führt bei Oldendorp zunächst dazu, daß das (jeweilige) positive vom göttlichen und natürlichen Recht getrennt wird. Weiterhin können damit aber auch die einzelnen positiven Gebote als zweckhaft gesetzt begriffen werden47 • Wenn Oldendorp für die konkreten Regelungsaufgaben seiner Zeit Lösungsvorschläge entwickelt, bleibt er so nicht darauf beschränkt, autoritative Vorgaben in der bisherigen Übung des eigenen Lebenskreises und in dem Vergleich mit historischen Beispielen oder mit Vorschlägen der wissenschaftsliterarischen Autoritäten zu suchen. Er kann diese Vorgaben vielmehr unter Frage nach der Zweckmäßigkeit in der konkreten Situation relativieren und modifizieren48• (2) Im weiteren Verlaufe des 16. Jahrhunderts entwickelt Melchior von Osse in seinem "Politischen Testament"49 die Polizeilehre den Verhältnissen des frühneuzeitlichen Territorialstaates entsprechend fort. Dabei verbleibt er aber zumindest im ersten, als Fürstenspiegel abgefaßten Teil dieses Testaments innerhalb von Betrachtungsweisen, die das Handeln des Herrschers
46 Dt. übers. v. C. Forstenow 1597. Vgl. H . Maier (Fn. 1), S. 111 ff. 48 Hierzu insbes. Wessel (Fn. 11), S. 101 ff. 49 Abgedr. in: 0. A. Hecker (Hrsg.), Schriften Dr. Melchiors von Osse, 1922. Zuerst teilw. als: De prudentia regnativa oder ein nützliches Bedenken, ein Regimentrecht zu bestellen, 1607. 47
2. Ansätze für die Entwicklung von Normgebungslehren
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fest in gottgegebenes und hergebrachtes "beschriebenes" Recht eingebunden sehenso. Auch die Grenzen für eine Rechtfertigung und Prüfung des Herrscherhandelns bei der Ausübung der Regierung unter dem Gesichtspunkt der Vernunftmäßigkeit zieht er recht eng. Thomasius, der das "Politische Testament" 1717 erstmals vollständig auf deutsch veröffentlicht und &ich in vielerlei Hinsicht positiv auf Osse bezieht, wirft ihm vor, er sei insoweit zu sehr dem scholastischen Denken seiner Zeit verhaftet gewesenot.
(3) Ebenfalls noch stark geprägt von mittelalterlichen Sichtweisen über die Grundlagen und Aufgaben der Gesetzgebung ist Lauterbecks "Regenten-Buch". Sein Ausgangspunkt für die Lehre vom Fürstenhandeln bleiben die Gedanken der religiösen Bindung und Begründung der Herrschergewalt und der Wahrung des hergebrachten, in seinem letzten Ursprung als göttliche Schöpfung verstandenen und schon daher auch den Fürsten verpflichtenden Rechts 52• Rechtsdarstellung und Rechtssetzung durch den Territorialherren stehen weiterhin in erster Linie unter dem Ziel, in größerem Umfang zur Schriftlichkeit des Rechtes zu "vielen guten beschriebenen Rechten" - vorzudringen. Die Schriftlichkeit des Rechts scheint größere Gewißheit der Rechtsbeteiligten über die geltenden Normen, Dauerhaftigkeit der in den Rechtsregeln eingefangenen überlieferten und in den gegenwärtigen Zeitläuften bedroht erscheinenden Ordnung des sozialen Lebens und zugleich eine stärkere Bindung des die Aufzeichnung veranlassenden und mit seiner Sanktionsdrohung versehenden Fürsten selbst an das Recht zu verbürgen. Aus dieser Perspektive erscheint die Entscheidung über das richtige Recht kraft der dem Menschen innewohnenden Vernunft nicht als Gewähr eines von den Irrtümern der Vergangenheit gereinigten und dadurch innere Geschlossenheit und Festigkeit versprechenden Normenbestandes, wie später im 18. Jahrhundert. Sie wird vielmehr zunächst insofern als Widerpart der Rechtsgewißheit aufgefaßt, als das "Urteilen nach der Vernunft" sich gegen die Forderung nach der Schriftlichkeit des Rechtes und nach einem ius certurn zu wenden scheint und dem Entscheidenden die Möglichkeit in die Hand gibt, sich selbst von "beschriebenen Rechten" zu lösen und das Recht nach seinem Wohlgefallen "zu" erdenken53• so Zur Erweiterung des Polizeibegriffs im zweiten, spezieller abgefaßten Teil der Schrift Osses und der sich darin vorbereitenden Einbeziehung des Rechts in die Gegenstände "obrigkeitlicher Verwaltung" vgl. aber H. Maier (Fn. 1), S. 117 f. 51 Vgl. Christian Thomasius, D. Melchior von Osse Testament gegen hertzog Augusto churfürsten zu Sachsen ... , 1717, insbes. S. 34 (Anm. 7) sowie S. 9 ff. (Anm. 3). 52 Vgl. Georg Lauterbeck, Regenten-Buch, 1600, insbes. BI. 69 ff. ( = Kap. IX): "Das ein Fürst oder Regent dem Rechten unterworfen sein sol." 53 V gl. ebd., Bl. 72 R ff. ( = Kap. X): "Daß man nach den beschriebenen Rechten I und nicht nach der Vernunfft richten sol I und von den Juristen", insbes. Bl. 74.
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II. Frühe polizeiliche Gebotstätigkeit und Literatur
Der Versuch des 18. Jahrhunderts, durch die Trennung zwischen einer auf die Vernunft gegründeten Gesetzgebung und einer streng an diese Gesetzgebung gebundenen und insoweit von einem eigenen Rückgriff auf Vernunftsgründe abgeschnittenen Gesetzesanwendung in der Rechtssprechung zu einer Lösung dieses Problems zu gelangen, zeichnet sich für den Bereich der Rechtsgewähr noch keineswegs ab. Wohl aber sieht Lauterbeck, daß es bestimmte Bereiche des Soziallebens gibt, in denen die Auferlegung von Normen in besonderem Maße und in besonderer Weise zur Wahrung und Herstellung guter Ordnung notwendig ist. Für die Städte vor allem ist "Vorsehung" erforderlich, sie mit "Gesetzen" zu "versehen" 54• Dabei genügt es Lauterbeck nicht, diese Gesetze als "gute" zu charakterisieren (und damit religiöse und traditionalistische Wertungen in sein Gesetzesverständnis auch für diesen Bereich aufzunehmen). Ausdrücklich beschreibt er sie zudem als "vernünftige" 55 und deutet damit an, daß hier dem Gebrauch der menschlichen Vernunft (die - trotz aller Kritik am Urteilen der Juristen nach der Vernunft bei der Rechtspflege - letztlich wiederum als Gottes Schöpfung religiös begründbar erscheint) ein besonderer Entfaltungsraum bei der Gesetzgebung gegeben ist. Anliegen Lauterbecks ist es, die geschichtliche Erfahrung sowie ethische und staatstheoretische Lehren vor allem antiker Autoren, die seit der Renaissance vermehrt zugänglich sind, mit Kenntnissen aus seiner eigenen Verwaltungstätigkeit zu verbinden und für das Handeln der Regenten seiner Zeit fruchtbar zu machen. Dies verfolgt er auf zwei Wegen: Einerseits durch die Anleitung des Fürsten zu dessen eigener Vertiefung in das Studium der "Historien", damit dieser auf der Grundlage humanistischer Bildung sein politisches Handeln besser gestalten kanns6; andererseits durch die Belehrung und Beratung des Fürsten zu drängenden Zeitproblemen auf der Grundlage dieses Bildungsstoffes. In der zweitgenannten Hinsicht bietet auch ein Regenten-Buch einen geeigneten Rahmen, um Ansatzpunkte für eine aus den "Historien" schöpfende Lehre von der Politik als Voraussetzung eines im Innern des Territoriums "gute Policey" gewährleistenden Handeln des Regenten zu entwickeln. Diese Lehre ist zwar weder im späteren Verständnis "historisch" noch auch nur im geringsten systematisch im Sinne des rationalistischen Wissenschaftsverständnisses ausgeformt. Sie impliziert aber bereits, daß es erstens überhaupt verallgemeinerbare Regeln des Herrscherhandeins gibt, daß zweitens diese sich in der Breite des humanistischer Bildung zugänglichen historischen Materials - und nicht allein in den von Theologen und Juristen herkömmlicherweise verwandten religiösen und rechtlichen Quellen - finden lassen und daß sie dementsprechend drittens über den Kreis der von Theologie und Jurisprudenz aufgestellten Lehrsätze hinausgreifen. Insofern ist in ihr der Anspruch eines gewissen Eigenraumes der Politik gegenüber der 54
Vgl. ebd., Bl. 183 ff.
ss Ebd., Bl. 183: " ... die Stätt mit guten und vernünfftigen Gesetzen ver-
sehen ... " 56 Insbes. in der "Erinnerung" zum Abschluß des Regenten-Buches, ebd., Bl. 269 ff.
2. Ansätze für die Entwicklung von Normgebungslehren
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Theologie und der Jurisprudenz angelegt (ohne den Vorrang und die Leitfunktion religiöser und rechtlicher Gebote innerhalb der Regeln politischen Handeins in Zweifel zu ziehen). Zudem beschränkt sie sich selbst im Rahmen des Regenten-Buches nicht auf eine bloße Dienstleistungsfunktion für jeweilige (vermutete) Beratungsbedürfnisse des Regenten. Lassen sich auf Grund von Erfahrung und "Historien" Regeln für das Herrscherhandeln aufstellen, so ist es Aufgabe der Lehre, diese Regeln durch "scharffe und subtile Sprüche"o7 der Regenten zu vermitteln. Pflicht eines guten Herrschers aber ist es, die Berechtigung derartiger Regeln zumindest grundsätzlich anzuerkennen, während es schlechte Regenten kennzeichnet, daß sie "keine gewisse Regel nicht leiden noch haben wollen"os. Der Anspruch der Wissenschaft auf Umsetzung ihrer Erkenntnisse durch die Politik, der sich hier noch verhalten ankündigt, tritt allerdings im Verlaufe des 17. Jahrhunderts zunächst wieder in den Hintergrund, um im Zuge der Aufklärung sodann erneut und gestärkt erhoben zu werden.
(4) Aus den "Secreta Politica" Georg Obrechts 59 schließlich spricht im frühen 17. Jahrhundert gerade in manchem "halbutopischen" 80 Ausgriff über die zeitgenössischen rechtlichen und politischen Schranken der Herrschaftsausübung bereits der obrigkeitliche, nüchtern-wirtschaftliche und bürokratische Rationalismus der durch die Schule der "frühkapitalistischen" Herausforderungen des 16. Jahrhunderts geprägten Stadtund Territorialverwaltungen. Die Polizeilehre plaziert sich im Bereich der arcana imperii und wird weitgehend eine Frage des Kalküls des Regenten bei der Nutzung der sachlichen und menschlichen Ressourcen seines Territoriums zur Hebung seiner Einkünfte, wenn Obrecht auch behauptet, mit seinen Lehren gleichermaßen "so wol grosser Herren Oeconomica administratio, als derselben Land und Leut I und auch gute Policey ... " fördern zu können61 • In diesem Rahmen wird auch die materielle Interessiertheit des Herrschers selbst deutlicher als zuvor aussprechbar. Bezeichnend ist hier, daß Obrecht unverhüllt Fragen der Rechtspflege einer Betrachtung von fiskalisch-wirtschaftspolitischem Ausgangspunkt unterwirft ("Von Auffrichtung und Anstellung etlicher Gefäll und Einkommen I so per administrationem justitial, und sonder57 Ebd., Vorr. des Verf. zum Regenten-Buch (S. 3). 58 Ebd. (S. 4). Vgl. etwa auch das Streben nach Berücksichtigung der Lehren in der Praxis bei Lauterbeck, Vorr. zur Übers. v. Claude de Seyssel, Vom Ampt der Könige I und Regierung des gemeinen Nutzes, angef. an RegentenBuch (Fn. 52), Bl. 316 R f.: "So ist auch nit gnug I daß man viel gute rähte auffs Papier bringet und I es trewlich und gut meinet I wenn denselben nicht gefolget wird ... " 59 Fünff Underschiedliche Secreta Politica von Anstellung/Erhaltung und Vermehrung guter Policey und von billicher/rechtmäßiger und nothwendiger Erhöhung eines jeden Regenten jährlichen Gefällen und Einkommen, zunächst zwn Druck gegeben 1617, sodann aber erst (auf Veranlassung und mit einer Vorr. des Sohnes v . G. Obrecht, Johann Thomas Obrecht) posthum veröffentl. 1644; schon zuvor erschienen: Politisch Bedenken und Diseurs von Verbesserung Land und Leute I Anrichtung guter Policey ... , 1606. 60 Vgl. H. Maier (Fn. 1), S. 127. 61 Obrecht, Secreta Politica (Fn. 59), 2. T., S. 9.
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li. Frühe polizeiliche Gebotstätigkeit und Literatur
lieh per media Judicialia geschicht") 62 • Dabei hält er allerdings insofern an der theoretischen Überordnung des Rechtszwecks fest, als er mit seinen Vorschlägen zur fiskal- und wirtschaftspolitischen Nutzung der Rechtspflege den Herrscher zugleich zur Verbesserung der Rechtspflegerichtungen zu veranlassen beansprucht: Durch diese Vorschläge, so meint er, mag "ein jeder Regent I gute Anlaß bekommen ... I dergleichen andere mehr Mittel I zu Beförderung und Handthabung, der Justitien, ins Werk zu richten" 63 • Für die Normgebung im Bereich der Policey und der fürstlichen Einnahmequellen wählt Obrecht den Weg, auf der Grundlage einer im Diskurs "Von Verbesserung Land und Leut I Ausrichtung guter Policey ... "14 entwickelten Konzeption verschiedene Modellordnungen vorzulegen. Dazu gehören etwa Ordnungen über öde und unbebaute Güter, über die Einziehung herrenloser Güter und des Eigentums von Verbrechern sowie über die Zwangsanlage von Geldbeträgen durch die Eltern während der Unmündigkeit ihrer Kinder, vor allem aber das Muster einer Polizeiordnung, die durch die Einrichtung eines geschlossenen Aufsichtssystems vollständige Information der Obrigkeit über die Bevölkerung und weitgehende Einwirkung auf ihr rechtlich-sittliches Verhalten außerhalb des gerichtlichen Zuständigkeitsbereiches bezweckt65. Die Erarbeitung derartiger Modellentwürfe scheint Obrecht die wesentliche Aufgabe der Polizeilehre bei der Befassung mit der Normgebung zu sein. Die Anwendung unter den verschiedenartigen konkreten Verhältnissen streift er nur kurz. Anders als das spätere Vernunftrecht sieht er dabei offenbar im Verhältnis des abstrakt entwickelten Prinzips zu seiner Umsetzung beim tatsächlichen Normerlaß in einem bestimmten räumlich-zeitlichen Umfeld kein besonderes Problem. Vielmehr meint er, seine Muster-Polizeiordnung sei auf "jede Policey" (im Sinne von: jedes Gemeinwesen) leicht "zu accomodiren" 66 (und brauche sodann nur den Untertanen durch hinreichende Verlesung und ähnliche Maßnahmen eingeprägt zu werden). b) Im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts entwickelt die Polizeilehre ihre Rechtfertigungen fürstlicher Regelungstätigkeit und ihre Ansätze für die Auseinandersetzung mit der zweckmäßigen Einrichtung dieser Regelungs62 Ebd., S. 54 ff. Zum Spektrum der Steuer(rechts)literatur des frühen 16. Jh. vgl. Dittrich (Fn. 28), S. 46 ff. m. w. N.
Ebd., S. 56. Ebd., 2. T. es Vgl. ebd., 4. T.: "Eine sondere Policey Ordnung und Constitution" (S. 183 ff.), ergänzt durch: "Fünff underschiedliche Beylagen . .." (S. 245 ff.) sowie 5. T .: "Constitutio und Ordnung I von einem Hochnützlichen Aerario Liberorum, in welches I von den Elter allerhand Summen Gelts I fürnemblich ihren Newgeborenen Kinderen ... angelegt werden" (S. 297 ff.). 66 Ebd., 4. T. Beylag B (S. 252). 63
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2. Ansätze für die Entwicklung von Normgebungslehren
57
tätigkeit auf unterschiedlichen Wegen fort. Ohne daß dies hier im einzelnen nachgezeichnet werden kann, weitet sich so nicht nur in Reinkingks bereits erwähnter "Biblischer Policey"67, sondern auch etwa in Christian Werner Friedliebs Prudentia politica christiana68 oder in Georg Engelhardt Löhneyß' "Hof-, Staats- und Regierungskunst"69 die Aufgabe der Fürsten aus, auf alle erforderlichen, auch neuartigen Mittel und Wege zu sinnen, um "gute Policey" zu schaffen.
Ihren Höhepunkt erreicht die Entwicklung der vorvemunftrechtlichen deutschen Polizeilehre mit Veit Ludwig von Seckendorffs Teutschem Fürstenstaat70• Umfassendere Würdigungen des in diesem Werk zum Ausdruck kommenden älteren Staatsdenkens und der Persönlichkeit Seckendorffs haben jüngst Gustav Klemens Schmelzeisen11 und Michael Stolleis12 gegeben. Es bleibt hier lediglich auf einige Aspekte des Polizeiund Gesetzgebungsverständnisses hinzuweisen, das die Entwicklung der vorangegangenen Zeit zusammenfaßt und zugleich schon unter dem Eindruck der neuen Tätigkeitsfelder und -formen des absolutistischen Staates steht.
Seckendorffs Begriff der Policey im Teutschen Fürstenstaat bestimmt noch keinen besonderen Zweig der (inneren) Staatsverwaltung und keine spezifische Staatsfunktion, sondem umschließt das "ganze Regiment". Policey bezeichnet dabei vor allem einen Zustand der Wohlordnung des Gemeinwesens. Dieser Zustand erwächst aber nicht im Selbstlauf aus dem eigenverantwortlichen Handeln der Vielzahl verschiedener politisch-sozialer Kräfte in der Ständegesellschaft. Er ist vielmehr nur durch das beständige Wirken des Landesfürsten zu erhalten und herzustellen. Die eher statische Beschreibung eines (erstrebten) Zustandes als "gute Policey" erhält dadurch nicht nur eine dynamische Komponente, sondern wandelt sich auch weitgehend in eine einseitig der fürstlichen Zentralgewalt zugewiesene Gestaltungsaufgabe, in die "heilsame erhaltung der policey oder gantzen regiments" 73. Vorausgesetzt wird dieser Aufgabe die Macht des Landesfürsten, "gute gesetzeund ordnungen im lande aufzurichten" 74. Der Landesfürst wird damit in Hinblick auf seine polizeiliche Aufgabe auch als "gesetzgeber"75 betrachtet. Er trägt in dieser Eigenschaft die Verantwortung 1653, 6. Aufl. 1701 ; s. dazu o. Fn. 41. 1614 ; s.o. Fn. 14. fi9 1622/24; hier verw. 2. Aufl. (hrsg. v. Gerhard), 1679. 70 1656; im folgenden zit. nach der Aufl. J ena 1737. 11 Der verfassungsrechtliche Grundriß in V. L . v. Seckendorffs "Teutschem Fürstenstaat", ZRG Germ. Abt. 87 (1970), S. 190 ff. 12 V . L. v. Seckendorff, in: Stalleis (Hr sg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahr hunde rt, 1977, S. 148 ff. 73 Seckendorff (Fn. 78), S. 205 = II 8 § 2. 74 Ebd., S . 40. 75 Ebd., S. 217 = II 8 § 8. 67
68
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II. Frühe polizeiliche Gebotstätigkeit und Literatur
dafür, daß die Polizei- und Landesordnungen in hinlänglicher Weise "gute Policey" gewährleisten, und muß insofern für deren Fortentwicklung sorgen. Diese Aufgabenzuweisung steht jedoch in doppelter Hinsicht unter ausdrücklichem Vorbehalt: Ihre religiöse Bindung wird aufrechterhalten {"das letzte ziel ist die ehre Gottes" 76), wenn auch in weiten Bereichen der Regelungstätigkeit religiös-ethische Begründungen nicht mehr unmittelbar zum Tragen kommen. Und die notwendigen Verbesserungen und Erneuerungen des Normbestandes dürfen nicht traditionalistisches und partikularistisches Rechtsdenken mißachten. Die Rücksicht auf Herkommen und lokale Verhältnisse bezeichnet dabei nicht nur eine positiv-rechtliche oder politische äußere Grenze legislatorischen Gestaltungsstrebens, sondern wird weiterhin als einer seiner inneren Maßstäbe verstanden: Wenn der Landesfürst sich als Gesetzgeber mit den Materien der Polizei- und Landesordnungen befaßt, so soll "doch alles nach maase des alten herkommens, und jedes ortes gelegenheit"77 geschehen. Unter den Inhalten polizeilicher Regelungstätigkeit kommt bei Seckendorff wirtschaftspolitischen Maßnahmen eine zentrale Bedeutung zu. In mancherlei Hinsicht bereiten sich hier schon Sichtweisen der neueren Kameralistik des 18. Jahrhunderts vor78. Der Wohlfahrtsgedanke entwickelt sich gerade mit Bezug auf wirtschaftspolitische Aufgaben zu einem entscheidenden Aspekt bei der Errichtung "guter Policey und Ordnung". Er bleibt zwar innerhalb des auf das "ganze Regiment" gerichteten Polizeidenkens eng mit der Gerechtigkeitspflege verbunden; weder "Wohlfahrtszweck" und "Sicherheitszweck" noch Funktionen des Landesfürsten als Polizeigesetzgeber und als Gerichtsherr treten schon in einen offenen Gegensatz. Aber unter der Oberfläche des auf das ganze Regiment erstreckten Polizeibegriffes zeichnet sich doch bereits ein Bruch ab zwischen den ausgreifenden wirtschaftspolitischen Gestaltungsaufgaben, die vom Wohlfahrtsgedanken getragen werden, einerseits und dem auf Rechts- und Friedenswahrung gerichteten Gesamtbild des "Fürstenstaates" andererseits79 . Auch in den allgemeinen Zielbestimmungen der Gesetzgebung deutet sich dieser Bruch aber nur an, ohne daß er schon begrifflich-systematisch voll erfaßt wird und dadurch der Ansatz erkennbar wird für eine neue Konzeption der Gesetzgebungslehre. In der erwähnten Formulierung von der Macht des Landesfürsten, "gute gesetze und ordnungen ... aufzurichten "80 ist der Rahmen des älteren Rechtsdenkens weiterhin ge76 77 78 79
Ebd., S. 205 = II 8 § 2. Ebd., S. 219 = II 8 § 9.2. Vgl. K. Zietenziger, Die alten dt. Kameralisten, 1914, S. 335. Vgl. auch Brückner (Fn. 20), S. 23 f.
2. Ansätze für die Entwicklung von Normgebungslehren
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wahrt; die Begriffe der Souveränitätslehre Bodins oder des Verständnisses des Gesetzes als Herrscherbefehl bei Hobbes kommen hier ebensowenig zum Durchbruch wie die voluntas legislatoris zu einer eigenständigen Quelle positiven Rechts überhöht wird. Die weitere Ausfüllung der Ziele der Gesetzgebung nimmt dementsprechend die wesentlichen Topoi des älteren Rechtsdenkens auf: "gerechtigkeit, friede und ruhe" 81 sollen "erhalten, das böse gestrafft und das gute befördert" 82 werden. Nur darin eingebettet findet sich die weitaus dynamischere, in der Praxis ebenso wie in den folgenden Ausführungen Seckendorffs selbst83 bereits in den Vordergrund tretende Gestaltungsaufgabe unter dem Wohlfahrtsgedanken: Zugleich soll "das vermögen des landes und der leute im schwange gebracht" 84 werden85• Auf dieser Grundlage beschränkt sich die Erörterung der landesfürstlichen Gesetzgebungstätigkeit bei Seckendorff im wesentlichen noch auf die - von kunstvoller Beherrschung der zeitgenössischen Staatslehren und großer ethischer Überzeugungskraft getragene - Zusammenstellung einer Vielzahl von Aufgabenbereichen mit teilweise neuen wirtschaftspolitischen Inhalten und die Fortentwicklung der traditionellen rechtlich-ethischen Abgrenzungen und Postulate für das Fürstenhandeln in diesen Bereichen. So wenig aber die Staatszweckbestimmung unter dem Wohlfahrtsgedanken konsequent gegenüber den auf Rechtsund Friedenswahrung gerichteten Vorstellungen verselbständigt ist, so wenig entfaltet sich auch eine eigene systematische Lehre von der Gesetzgebung, die Regelungsinhalte und -formen am Maßstab der Gemäßheit für diesen Staatszweck mit innerer Geschlossenheit mißt.
80
81
s. soeben Fn. 74 - Hervorh. R . S. Seckendorff (Fn. 70), S. 40.
Ebd. Vgl. zur weiteren Entwicklung der wirtschaftspolitischen Auffassungen Seckendorffs - vor allem zu seiner späteren Forderung einer Abschaffung des Zunftwesens in den "Additiones" zur 3. Au:fl. des Fürstenstaates- StolZeis (Fn. 72), S . 158 f. S4 Seckendorff (Fn. 70), S. 40. 85 Für eine Entfaltung landesfürstlicher Regelungstätigkeit bilden bei Seckendorff vor allem einerseits im Rahmen der Gerichtsbarkeit die Aufgabe, im Streitfall "das recht zu verordnen", und andererseits die Ausrichtung der Verordnung und des Gebrauchs bestimmter Mittel "auf bedürffenden Fall" (vgl. ebd., 3. u. 4.) weitere Ausgangspunkte, ohne daß diese hier näher betrachtet werden können. 82
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III. Prudentia legislatoria und Policey im frühen 18. Jh.
111. Prudentia legislatoria und Policey im frühen 18. Jahrhundert
1. Ausweitung der polizeilichen Regelungstätigkeit Schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts strebt die polizeiliche Regelungspraxis der größeren Territorien über ihren früheren Rahmen hinaus; diese Entwicklung verstärkt sich seit der Wende zum 18. Jahrhundert noch. Eine Fülle von Maßnahmen beschäftigt sich mit der Neubestellung im Dreißigjährigen Krieg verödeten Landes und der Wiederherstellung zerstörter Infrastrukturen, bezieht zur Gewährleistung der Policey der Städte zunehmend auch verwaltungsorganisatorische Regelungen ein\ erweitert die Privilegien und Ordnungen für das zünftige Handwerk und wendet sich über die alten ständischen Streitfragen des Landhandwerks hinaus außerzünftigen Gewerbebereichen zu. Der Schwerpunkt polizeilicher Regelungstätigkeit liegt jetzt eindeutig bei den Territorien und in ihrem Rahmen wiederum bei der nunmehr "absoluter" Herrschaft entgegenstrebenden landesfürstlichen Zentralgewalt. Das Reich wird zwar auch innerhalb dieser neuen Phase tätig (insbesondere mit dem Edikt gegen französische Manufakturwaren von 1676 und der Reichszunftordnung von 1731)2 , seine Normgebung ist aber weitgehend zugunsten territorialstaatlicher Regelungsziele instrumentalisiert. Der sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Zusammenhang dieser Veränderungen in der Praxis polizeilicher Normgebung kann hier nicht nachgezeichnet werden. Für ihn wäre teils auf die sozioökonomischen Folgeprobleme des Dreißigjährigen Krieges und mehr noch auf den allgemeineren Vorgang der Herausbildung bürgerlicher, aber von der Zunftordnung nicht mehr zu fassender Formen der Produktion - von der Spezialisierung im Handwerk über das Verlagswesen bis hin zur Manufaktur- einzugehen. Polizeiliche Normgebung an der Wende zum 18. Jahrhundert müßte sich dabei weitgehend als Verlagerung verschiedener von älteren Sozialkreisen nicht mehr wahrnehmbarer Ordnungsfunktionen auf die territoriale Zentralgewalt darstellens, würde sich aber eher als in den wirtschaftlich fortgeschrittenen Nachbarländern (wie Frankreich) und gerade aus der Konkurrenzsituation mit diesen heraus auch als eine Voraussetzung für die Initiierung dieser neuen Wirtschaftsformen und nicht allein als Mittel reglementierender Bewältigung ihrer Folge_erscheinungen erweisen4. t Vgl. insbes. Kurt Wolzendorff, Der Polizeigedanke des modernen Staats, 1918; Franz-Ludwig Knemeyer, Art. Polizei, in: Brunner, Conze, KoseHeck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 1978, S. 887; zum Verhältnis von Policey und intermediären Gewalten Dietmar WUloweit, Struktur und Funktion intermediärer Gewalten im Ancien Regime, in: Der Staat, Beih. 2, 1'978, s. 9 ff. 2 Hierzu Ingomar Bog, Der Reichsmerkantilismus, 1959; F. Blaich, Die Wirtschaftspolitik des Reichstags im Heiligen Römischen Reich, 1971; ders., Die Epoche des Merkantilismus, 1974. s Vgl. Hans Maier, Die ältere dt. Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl. 1980, s. 68 ff. 4 Für die in diesem Rahmen von der Polizeigesetzgebung eines Territo-
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2. Ideengeschichtliche Voraussetzungen für die Erneuerung der Gesetzgebungs- und PolizeiZehre Unter diesen gewandelten Bedingungen setzen am Übergang zum 18. Jahrhundert auch intensivere Bemühungen um die theoretische Grundlegung für die Gesetzgebungslehre insgesamt sowie um die Fortentwicklung und (zunächst noch schwächer) die Erneuerung der Polizeilehre ein. Ihren wissenschaftlichen Rahmen bildet der allgemeinere Umbruch des Gesellschafts- und Staatsdenkens, der von der Verbreitung merkantilistischer Wirtschaftslehren vorbereitet wird und sich sodann in rascher Folge im Aufstieg des Vernunftsrechts und in der Ausbreitung der Aufklärung fortsetzt. Die Erarbeitung von Grundpositionen einer an den deutschen Verhältnissen ausgerichteten merkantilistischen Wirtschaftslehre bei Seckendorff und mehr noch bei Johann Joachim Becher, dem wohl am fortschrittlichsten denkenden Kameralisten des späten 17. Jahrhunderts5 , und der an ihn anschließenden "Österreichischen Schule" gibt den wirtschaftspolitischen Vorstellungen, die sich schon in den älteren Polizeilehren entwickelt hatten, eine neue und klarere Grundlage. Vor allem die Wirtschaftslehren zur Handelsbilanz und Manufakturförderung gewinnen nunmehr eine in sich geschlossene Gestalt und werden in längerfristige konkrete Wirtschaftsprogramme umgesetzt6• Von diesem Wirtschaftsdenken her erhält die Policey die kameralistische Prägung, die sie in ihrem überwiegenden Teil während des 18. Jahrhunderts kennzeichnet. Der Begriff des KarneraUsmus ist zwar in der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur nicht unumstritten7. Insbesondere wäre eine zu starke Herauslösung riums wahrgenommenen Funktionen vgl. R. Schulze, Die Polizeigesetzgebung zur Wirtschafts- und Arbeitsordnung der Mark Brandenburg . .. , 1978, ins'bes. S. 60 ff., 91 ff., 183 ff. 5 Zu Leben und Werk Bechers vgl. H. Hassinger, J. J. Becher 1635- 1682, 1951 (mit Überbl. über die weit. Lit. in der Einl.); ferner hingewiesen sei noch auf Robert von Erdberg-Krczenciewski, J. J . Becher, 1896, und Otto Brunner, J. J. Bechers Entwurf einer ,Oeconomia ruralis et domestica', in: Festg. an d. österr. Staatsarchiv, 1949. s Vorbildfunktion für die spätere Literatur erlangt hier vor allem Phitipp W. Hörnigk, Oesterreich über alles I wann es nur will. Das ist: wohlmeinender Fürschlag Wie mittels einer wohlbestellten Landes-Oeconomie die Kayserlichen Erblande in Kurzem über alle andere Staat von Europa zu erheben ... , zuerst anonym 1684; in der Folge zahlr. weit. Auft. u. neuere Teilabdr., so in: Skatweit (Hrsg.), Sozialökonomische Texte H. 12/13, 1948. Zur Lehre Hörnigks als "konzentrierter Form" der von Becher entwickelten Vorstellungen vgl. K. Zielenziger, Die alten dt. Kameralisten, Beitr. z. Gesch. der Nationalökonomik 2, 1914, S. 278; W. Roscher, Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland (Gesch. d . Wiss. in Deutsch!., N.Z. 14 (1874), 2. Auft. 1924 (Neudr. 1965), insbes. S. ~2. 7 Vgl. etwa Blaich, Die Epoche des Merkantilismus (Fn. 2), S. 1 ff., 10 ff.; zum Charakter des Kameralismus als deutschem Merkantilismus auch Bog
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des deutschen Entwicklungsprozesses aus der - mit zeitlichen Verschiebungen und inhaltlichen Variationen - gesamteuropäischen Erscheinung des Merkantilismus unter diesem Begriff nicht sachgerecht. Dennoch muß eine spezifische Ausprägung der allgemeinen wirtschaftstheoretischen und -politischen Anschauungen des Merkantilismus in der deutschen Karnerallehre in zweifacher Hinsicht in Rechnung gestellt werden: Erstens paßt sich der Merkantilismus in Gestalt des KarneraUsmus den Besonderheiten der zersplitterten Herrschaftsverhältnisse Deutschlands und ihrer wirtschaftlichen Rückständigkeit gegenüber auswärtiger Konkurrenz an. Gerade diese Rückständigkeit gibt fiskalischen Sichtweisen und - wie soeben für die wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung der Normgebungspraxis angedeutet- der Ausrichtung auf eine "starke Regierung" zur Förderung der neuen Wirtschaftsform auch in der Lehre besondere Bedeutung. Der deutsche KarneraUsmus verharrt insofern lange in eng von unmittelbaren Bedürfnissen und Eingriffsmöglichkeiten des ,.Fürstenstaates" selbst ausgehenden ökonomischen Betrachtungsweisen und gelangt nur allmählich zu eher "volkswirtschaftlichen "8 Modellen. Zweitens greifen dementsprechend Lehrgegenstände, mit denen sich die deutschen Kameralisten befassen, weit über merkantilistische Wirtschaftslehren hinaus. Dabei verschmilzt die für die weitere Entwicklung bestimmende Fundierung und programmatische Umsetzung merkantilistischer Wirtschaftsiehren in Deutschland in den Schriften Seckendorffs und der "österreichischen Schule" in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit der bereits stark das Staats- und Verwaltungsdenken prägenden älteren Tradition der Polizeilehre, die in ihren soeben angesprochenen Ursprüngen mehr von christlich-eudämonistischen Auffassungen der Herrscheraufgaben als von einer bewußten Rezeption frühmerkantilistischer Anschauungen bestimmt war. In Entsprechung zur "kameralistisch bestimmten Policey"9 ließe sich insofern auch von einem "polizeilich bestimmten Merkantilismus" in Deutschland sprechen.
Neben der kameralistischen Ausrichtung wird für die Beschäftigung der Polizeilehre mit Fragen der Gesetzgebung in der weiteren Entwicklung der Umbruch des Staats- und Rechtsdenkens, der mit der Ausbreitung des Vernunftsrechts in Deutschland seit Putendorf einsetzte, maßgeblich. Wie gerade in jüngerer Zeit verschiedentlich, zuletzt von Chr. Link, gezeigt worden ist (und hier nicht weiter nachgezeichnet zu werden braucht), wirken zwar hinsichtlich einer Reihe von staatsrechtlichen Grundfragen Problemstellungen und Sichtweisen, die sich bereits im 17. Jahrhundert herausgebildet und sich weitgehend in der Lehre des Allgemeinen Staatsrechts konzentriert haben, in diesem Umbruch (und über ihn hinaus) fort 10• Die Frage nach der "Rechtsgebundenheit" des (Fn. 2), S. 6 ff. Zum weiteren Diskussionsspektrum um den KameralismusBegriff vgl. den Literaturüberblick bei Erhard Dittrich, Die dt. und österr. Kameralisten, 1974, S. 7 ff. 8 Zum Prozeß der Verlagerung der Betrachtungsweisen in diese Richtung vgl. zusammenfassend Dittrich (Fn. 7), S. 86 ff., 123. 9 So schon die Formulierung bei Funk, Die Auffassung des Begriffs der Polizei im vorigen Jahrhundert, in: Ztschr. f. d. ges. Staatswiss. 19 (1863), s. 489 ff.; 20 (1864), s. 320 ff. 1o Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1979; vgl. insbes. ebd., S. 107 ff., den überblick über die Lehren von der Geltung "bürgerlicher Ge-
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Monarchen etwa, nach dem Ausmaße seiner Bindung an oder seiner Lösung aus den "Gesetzen" 11 und nach den daraus entstehenden Konsequenzen für seine Stellung als Gesetzgeber erhält aber eine neue theoretische Grundlage, indem sich der Rechtsbegriff mit der Neubestimmung des Verhältnisses von göttlichem zu natürlichem Recht einerseits und des Verhältnisses jedes dieser beiden zum positiven Recht andererseits tiefgreifend wandelt und sich auf dieser Grundlage neue Methoden rechtswissenschaftlicher Arbeit durchzusetzen beginnen. Zwei Implikationen dieses Wandels des Rechtsverständnisses, die für die Entwicklung der Gesetzgebungslehre im 18. Jahrhundert besondere Bedeutung erlangen, sind hier vorab hervorzuheben: Da die Gesetze der Natur sich den Menschen zwar als Gebote ihrer Vernunft erschließen können, die meisten Menschen jedoch nicht zu hinreichender Erkenntnis dieser Gebote gelangen oder sich nicht dieser Erkenntnis gemäß verhalten, wird erstens die Positivierung der Gesetze der Natur zu einer der vornehmsten Aufgaben der "höchsten Gewalt" im Gemeinwesen. Dementsprechend wird zweitens der Gesetzesbegriff für das positive Recht häufig noch enger als schon im 17. Jahrhundert an die Regelungstätigkeit dieser mit Sanktionsbefugnissen ausgestatteten politischen Gewalt gebunden - mit nachhaltiger Wirkung schon durch Thomasius' Lehre vom "Zwangsmoment als Konstitutivum des Gesetzes" 12 , uneingeschränkter noch durch Chr. Wolffs faktische weitgehende Identifikation von Naturgeboten und als obrigkeitliches Gebot geltendem positiven Rechtts. Diese Ausrichtung auf die fürstlich-staatliche Gesetzgebung wird im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunächst auch von der zunehmenden Verbreitung aufklärerischen Denkens befördert. Auf der Grundlage des Fortschrittsglaubens der Aufklärung tritt als Begründung für die Ausweitung obrigkeitlicher Gestaltung neben den christlichen Sündenpessimismus die optimistische Erwartung fortschreitender "Erleuchtung" und "Vervollkommnung". Das Ideal der Vervollkommnung menschlicher Erkenntnis und menschlichen Soziallebens und das Bemühen um eine in diesem Sinne wirkende Erziehung verdrängt aber auch innerhalb der kleinen Gruppe aufklärerisch-vernunftrechtlicher Theoretiker nicht die Vorstellung, daß die Menschen in ihrer Gesamtheit oder doch in ihrem größten Teil zur Erkenntnis des Guten und zur Verwirklichung der setze" für den Herrscher im Absolutismus (von Althusius über K. F . Hommel, F. C. v. Moser, A. L. Schlözer, C. G. Svarez bis hin zu Kant). u Zu den älteren Traditionen der Lehren über den princeps legibus solutus vgl. die oben Il. 1. d) bereits angeführte Literatur sowie nunmehr besonders Dieter Wyduckel, Princeps Iegibus solutus, 1979. 12 Vgl. Link (Fn. 10), S. 265 sowie 253 ff. 1s Dazu sogleich noch 111. 3.
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ihrer Vernunft eingegebenen Bestimmung unvermögend sind. In unterschiedlicher Weise und unterschiedlichem Maße - am stärksten wohl bei Chr. Wolff 14 - reduziert sich daher das Fortschrittstreben auf die Zuweisung von Lenkungs- und Gestaltungsaufgaben an das scheinbar mit diesen Schwächen weniger behaftete "gemeine Wesen" und dessen höchste Gewalt. Je verheißungsvoller die Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaft mit dem Fortgang der Aufklärung erscheinen, desto weitgehender rechtfertigt sich von diesem Denken her der Auftrag des Gesetzgebers zur Lenkung des Soziallebens nach den neuen Einsichten.
3. Prudentia legislatoria in der naturrechtliehen Staatsklugheitslehre des frühen 18. Jahrhunderts a) Policey und prudentia legislatoria werden von den maßgeblichen Theoretikern wie Thomasius und Chr. Wolff bei der Erneuerung der Naturrechtslehre im Anschluß an Pufendorf als Sachgebiete ihrer philosophisch-spekulativen Staatslehren einbezogen. In eine umfassende Systematisierung der polizeilichen Regelungstätigkeit in der Breite, die die Normgebung in der Praxis erreicht hat, und in entsprechende Programme einer Lehre für die Polizeigesetzgebung münden die Arbeiten der Vernunftrechtstheoretiker am Beginn des 18. Jahrhunderts dennoch nicht unmittelbar ein. Unter den verschiedenen Lehrgebieten der Politik ist ihr Gegenstand zumeist eher im Seckendorffschen Verständnis der aristotelischen Begrifflichkeit15 - die pars constitutiva als die pars administrativa. Zu groß bleibt zuweilen auch noch die Distanz zu den sich in der Kameralistik neu entwickelnden ökonomischen Erkenntnissen und den von ihr auf dieser Grundlage gewiesenen konkreten Aufgabenstellungen. Die Ökonomie wird selbst von Thomasius noch weitgehend auf ihre herkömmliche unselbständige Stellung innerhalb der praktischen Philosophie beschränkt. Auch ihre Inhalte sieht er weniger aus den Gesichtspunkten merkantilistischer Wirtschaftspolitik als aus der Vorstellungswelt des eigenständigen Wirtschaftens des "Hausvaters" und aus der Wissenschaftstradition der Tugendlehre16• b) Obwohl damit konkrete Probleme aus wichtigen Bereichen polizeilicher Normgebung lediglich partiell in das Blickfeld gelangen, zeichnen sich in der Vernunftrechtstheorie des frühen 18. Jahrhunderts aber bereits wesentliche theoretische Voraussetzungen für die Auseinandersetu Vgl. hierzu J. Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht, 1977, S. 211 ff., teilw. abweichend v. W. Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht, 1970, insbes. S. 138. 15 Vgl. H. Maier (Fn. 3), S. 172. 16 Vgl. G. Bieber, Staat und Gesellschaft bei Chr. Thomasius, 1931, insbes. S. 22; Brückner (Fn. 14), S. 194 f.
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zung der Polizeilehre mit Fragen der Gesetzgebung im weiteren Verlauf des Jahrhunderts ab. Zwei Ansatzpunkte, die in der Folge nebeneinander bestehenbleiben, häufig aber auch ineinander übergehen, erlangen für diese weitere Entwicklung besondere Bedeutung. Beide begünstigen eine Entfaltung der polizeilichen Gesetzgebung und begründen die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr; sie widerstreiten einander aber teilweise in der wissenschaftssystematischen Einordnung von Policey und prudentia legislatoria und- mit Blick auf die weitere Entwicklung betrachtet - in der Frage nach den "Schranken" der Normgebung (ohne daß allerdings ihr Verhältnis zueinander und ihre Stellung innerhalb weiterer Differenzierungen der Vernunftrechtstheorie als abschließend geklärt betrachtet werden kann, wie die jüngst wieder aufgenommene Diskussion zeigtl 7). (1) Auf der einen Seite setzt sich die schon im 17. Jahrhundert vordringende Differenzierung von "Staatsklugheit" (bzw. Politik) und "Recht" begrifflich, wissenschaftssystematisch und zunehmend auch methodisch fort und weitet sich zu einem dualen System der Staatswissenschaften. Dabei erlangen in der "Staatsklugheit" rationalistische Betrachtungen unter den Gesichtspunkten der Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit in beträchtlichem Umfange eigenständige Bedeutung, müssen sich aber zumindest der Grenzen bewußt bleiben, die sich aus dem gesonderten und damit ihrem Zugriff entzogenen Aspekt des "Staatsrechts" ergeben können. Insbesondere Thomasius schafft hierfür in mehrfacher Hinsicht Voraussetzungen, obwohl er selbst die Emanzipation der Politiklehre vom Recht nicht durch deren eigenständige Ausarbeitung vorantreibt18• Erstens stellt er - wie jüngst besonders deutlich Brückner herausgearbeitet hat - neben das naturrechtliche System, das in seiner durch Putendorf erneuerten Form die zeitgenössische praktische Philosophie beherrscht, die Grundstruktur für ein zweites "wissenschaftliches System"19, indem er die Affekten- und insbesondere die Klugheitslehreauf die sogleich noch weiter einzugehen sein wird - zu systematischer Darstellung führt. Zwar nimmt die Klugheitslehre teilweise Elemente
Vgl. dazu insbes. die neueren der in Fn. 18 u. 43 angeführten Arbeiten. Aus der umfangreichen Literatur zur Staatslehre des Thomasius innerhalb seines philosophisch-juristischen Gesamtwerkes vgl. für viele andere mehr M. Fleischmann, Chr. Thomasius, in: ders. (Hrsg.), Chr. Thomasius, Leben und Lebenswerk, 1931, insbes. S. 49 ff., 56 ff., 63 ff.; Klaus Luig, Chr. Thomasius, in: Stolleis, Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, 1977, S. 288 ff. (mit einer Übersicht über die wichtigste jüngere Literatur zu Thomasius). - Zu dem (bei Thomasius s- und Arbeitsordnung ... , 1978, S. 58, 139. S. etwa auch für die ältere Argumentationsweise die Begründung des Obrechtschen Entwurfs einer Polizeiordnung, Gottes "Fluch und Straff" drohe sonst wegen "allerley Laster" bei J. Th. Obrecht, Vorr. zu Georg Obrecht, Fünff Unterschiedliche Secreta Politica . . . , 1644. o Zum Verlauf dieser Entwicklung vgl. auch Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1979, S. 135 f., insbes. Fn. 14. 1 Johann Franz PhUipp von Himberger, Lehrsätze aus der Polizey (Anh. zu F. J. Bob, Von dem System der Polizeywissenschaft), 1779, Nr. 14. s Ebd., Nr. 15 im Anschluß an Bob, Von dem System der Polizeywissenschaft, 1779, S. 74 f. u Vgl. ebd.
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zumindest nicht erklärtermaßen) in Frage gestellt10, so bietet ihr im Verlaufe des 18. Jahrhunderts die staatstheoretische und methodische Durchdringung durch das Vernunftrechtsdenken und die dadurch abgesicherte Betrachtung aus dem Blickwinkel der "Staatsklugheit" über die Lösung aus religiösen Begründungszusammenhängen hinaus auch die Grundlage für die nachhaltige Kritik älterer, nicht mehr für zeitgemäß erachteter Teile des geltenden Normbestandes. Die Folgerungen derartiger Kritik an überliefertem Recht und Brauch werden für die Praxis mit der Forderung nach gesetzgeberischer Erneuerung des Normbestandes in den verschiedensten Bereichen und nach seiner fortan regelmäßig durchzuführenden Revision, für die eigene wissenschaftliche Betätigung mit dem Bestreben nach rationaler Überprüfung und nach systematisierender Neuordnung der vorhandenen und der fortlaufend zu setzenden Normen gezogen. Zwar wird ganz überwiegend auch die Bedeutung des historischen Rechtszusammenhanges für die Gesetzgebung der Gegenwart (vor allem im Rahmen der "Relativierung" des Naturrechts11) in Rechnung gestellt. Die Überlieferung trägt aber nicht schon Gütemerkmale in sich, sondern erscheint häufig eher wegen ihres Ursprungs in vergangenen Abschnitten der Geschichte als durch überlebte Verhältnisse historisch bedingt und gibt Anlaß zu der Vermutung, sie sei einer Neuordnung bedürftig. Als charakteristisch für einen Großteil der polizeilichen Gesetzgebungslehre darf insoweit die Auffassung Justis gelten, daß die Schwächen des Normbestandes seiner Zeit in hohem Maße auf einer zu starken Bindung an die Überlieferung seit den "entferntesten Vorfahren in barbarischen Zeiten, wo man nicht den geringsten Begriff von der Gesetzgebung hatte" 12 , beruhe. Die antitraditionalistische Haltung der Polizeilehre trat schon recht früh und besonders scharf in Erscheinung, als Polizeischriftsteller die Geltungsberechtigung einheimischer überlieferter Rechte und Gewohnheiten im Handwerk schroff ablehnten. Große Teile des tradierten Rechts sanken hier vor allem unter Gesichtspunkten wirtschaftlicher Rationalität - für die Kameralistik zu "närrischen Handwerksgewohnheiten"13 und vernunftswidriger "bloßer Observanz" herab. In der Polizeipraxis brach sich die antitraditionalistische Handhabung für diesen Bereich spätestens im Anschluß an die Reichszunftordnung von 1731 Bahn. Schon zuvor aber hatte etwa Gasser einen radikalen Bruch der Normgebung mit traditionalistischen Rücksichten vertreten, als er vorgeschlagen hatte, rechtlich umstrittene Handwerksfragen 10 s oben II. 11 Dazu sogleich noch IX. 1. d). 12 Johann Heinrich Gottlob von Justi, Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, 1760/61, Bd. II, S. 499 = § 428 nota. 1a So in den Begründungen der in Fn. 5 erwähnten preußischen Handwerksprivilegien im Anschluß an die Reichszunftordnung 1731, vgl. etwa Art. XXIV Generalprivileg und Gildebrief des Tischlerwerks 1734, abgedr. bei W. Altmann, Ausgew. Urkunden .. . , T. 1, 2, Aufl. 1914, S. 339.
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"per modum novi privilegii"14 nach wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit zu regeln. Auch nach der territorialen Gesetzgebung, die der Reichszunftordnung folgt, kommt die polizeiliche Gesetzgebungslehre immer wieder auf die Bekämpfung der zäh fortlebenden15 Handwerksbräuche zurückt6. Gerade in der Resistenz dieser Bräuche scheint sie eine ständige Herausforderung für ihren Anspruch zu sehen, durch umfassende staatliche Normgebung die Rechtswirklichkeit nach ihrer wissenschaftlichen Systembildung zu gestalten. Gegen den gemeinrechtlichen Rechtsstoff richtete sich dagegen die Kritik der Polizeilehre zunächst weniger. Allmählich tritt in der weiteren Entwicklung aber auch seine Bedeutung als Teil des Normbestandes, mit dem sich nach dem von der Polizeilehre erhobenen Anspruch eine "polizeimäßige" Betrachtung befassen kann, weiter zurück hinter der Expansion gesetzgeberischer Maßnahmen und dem Bemühen um eine Systembildung, die gerade den neuen Verhältnissen, den aktuellen Erfordernissen der Wirtschaftsförderung sowie sonstiger staatlicher Intervention und der damit verbundenen Dynamik der Normentwicklung gerecht wird. Vom Standpunkt dieses umfassenden Neugestaltungsstrebeng werden die überlieferten Quellen und Auslegungen des gemeinen Rechts mehr und mehr bloßes Hindernis. Filangieri etwa widmet dem römischen Recht nur noch eine knappe und schroffe Absage, in der das Interesse an der Durchsetzung des vernunftrechtlichen Gestaltungsstrebens die fortbestehende Bedeutung des gemeinrechtlichen Rechtsstoffes völlig aus dem Blickfeld verdrängt haben17.
c) System der Regelungen. Die vernunftrechtliche Neugestaltung des Normbestandes stellt sich der polizeilichen Gesetzgebungslehre wesentlich als eine Frage der Systembildung dar. Durch die systematische Darstellung der Polizeiwissenschaft soll sowohl der Stellenwert polizeilicher Gesetzgebung innerhalb der verschiedenen Tätigkeitsbereiche und -formen staatlichen Handeins bestimmt als auch eine Handlungsanleitung innerhalb dieser Gesetzgebung selbst gegeben werden. Die Systembildung vollzieht sich dabei grundsätzlich zunächst durch eine deduktive Herleitung von vielfältigen Regelungserfordernissen und -grundsätzen, teilweise auch von konkreten einzelnen Regelungen und Regelungsvorschlägen aus den Prinzipien der Natur. Teilweise wohl unmittelbar unter dem Eindruck Descartes', gemildert aber auch unter dem Einfluß Chr. W olffs, wird die formale Stringenz des Systems selbst sogar zu einem wichtigen Richtigkeitsmaßstab, indem die Vernunftgemäßheit des jeweiligen Ansatzes sich weitgehend an seiner Darstellbarkeit more 14 Simon Peter Gasser, Einleitung zu den Oeconomischen Politischen und Cameralwissenschaften, 1729, S. 254. 15 Vgl. Rudolf Wissel, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, 2. Aufl.. 1971/74, u. a. S. 428 ff. 16 Vgl. etwa bei Justi, Kurzer systematischer Grundriß aller Oeconomischen und Cameralwissenschaften, in: ders., Gesammelte Politische und Finanzschriften, 1761 - 64, Bd. 1, S. 504 ff. (536 f.), die Forderungen nach Einschränkungen der Zunftrechte einschl. Aufhebung der Geschlo55enheit der Zünfte und Freiheit des Manufakturwesens von Zunftzwängen, sowie bei dems. (Fn. 12), S. 465 = § 394 u. a. a. St. m. 11 Vgl. bei Gaetano Filangieri, System der Gesetzgebung., Übers. v. G. C. K. Link, 1794, 5. Bd. (4. Buch), S. 4 f. 9 R. Schulze
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geometrico messen lassen muß. Das auch im Gedanken des Systems der Polizeigesetze zum Ausdruck kommende Systemstreben des Vernunftrechts nimmt darüber hinaus in vielfältiger Gestalt Ideale der Einfachheit und der natürlichen Harmonie auf, die in der Philosophie am Übergang zum 18. Jahrhundert (beeinflußt auch von Entwicklungen der Naturwissenschaften) erhebliches Gewicht erlangt hatten18• Diese Komponenten stützen bereits in der Polizeilehre der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Bemühen, die Policey über eine Darstellung more geometrico hinaus in ästhetisierender Form aufzufassen19. Dabei steht die gesetzgeberische Tätigkeit zunächst noch nicht im Mittelpunkt. Je mehr aber das Ideal der "Zusarnmenstimmung" der verschiedenen Teile der Policey aus der Deskription eines als bestehend oder zumindest ideell feststehend betrachteten Zustandes gelöst und als Herausforderung zu beständiger Gestaltungstätigkeit begriffen wird, desto mehr wird es auf Fragen der Normgebung bezogen. Die Ideale der Harmonie, Einfachheit und Klarheit und eines dadurch ermöglichten vernunftgemäßen Systems erscheinen so in der Polizeilehre der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als entscheidende Bestandteile einer fortwährend durch die Gesetzgebung herzustellenden guten Ordnung des polizeilichen Normbestandes und damit zugleich als eine Grundlage der guten Ordnung des gesellschaftlichen Lebens. Im frühen 18. Jahrhundert wird die Policey etwa bei T. L. Lau in "die innerliche und äußerliche Verfassung eines Staats"20 aufgespalten. Die "innerliche Verfassung des Staats oder sein bel Interieur"21 besteht dabei "1. In einer starcken Gesellschaft: die 2. Ein vergnügtes Leben führen (!)"22, "Des Staats äusserliche Verfassung oder sein bel Exterieur"23 zeigt sich "1. In der guten Ordnung des Volcks/der Sachen und Oerter: 2. In einer nutzbaren Zierlichkeit der Städte und des Landes"24, Diese beiden Bestandteile der Policey vereinigen sich zu einer "harmonieusen Staats-Verbindung"25, Wenn "Diensame personal- und reale Ordnungen abzufassen"~ und "Derer selben Vesthaltung/genaue Nachlebung und Observierung zu bewürken"27 bei Lau erst am Ende einer längeren Aufzählung von Aufgaben für "Policey-Collegien 1s Den vielfältigen pilosophisch-naturwissenschaftlichen Grundlagen dieses Harmonie-Ideals - vor allem in den Arbeiten von Gottfried Wilhelm Leibniz- kann hier nicht im einzelnen nachgegangen werden. 19 Vgl. H. Maier, Die ältere dt. Staats- und Verwaltungslehre, 2. Auft. 1980, S. 102 ff., sowie oben I. 1. 2o Theodor Ludwig Lau, Aufrichtiger Vorschlag von ... Einrichtung der Intraden und Einkünfften ... , 1719, S. 3. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 4. 24 Ebd. 25 Vgl. ebd. 26 Ebd., S. 5. 27 Ebd.
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und ordentliche Magistrate" angeführt werden, erweist sich aber, daß er der Gesetzgebung noch eine verhältnismäßig untergeordnete Bedeutung beimißt. Bei Zincke stellt sich die vollständige Harmonie bereits als (lediglich gedachter) Endpunkt eines beständigen Prozesses der Vervollkommnung der Policey dar; dabei ist die Polizeigesetzgebung als "eigenes Geschäft" von besonderer Wichtigkeit2S, "Innere" und "äußere Schönheit" der Policey begegnen zwar in einer vergleichbaren Gegenüberstellung wie bei Lau. Die "innere Schönheit" wird aber weniger materialisiert und mehr auf die Systematik als solche bezogen verstanden: Sie ist zunächst eine Frage der "Zusammenstimmung" verschiedener Teile eines Ganzen29, "... wenn man daher die Policey genauer betrachtet, so besteht selbige nur in dem Fortgange zur Vollkommenheit, welche in immer besserer Zusammenstimmung aller zur äusserlichen und innerlichen Schönheit der Nahrung und des bequemen Lebens gehöriger Stücke ihr Wesen findetao." Während für Zincke "die vollendete Vollkommenheit ... jemals zu hoffen"31 vergeblich wäre, vollständige Harmonie also - in Anlehnung an Chr. Wolff- gedachtes Ziel eines prozeßhaften Vorganges bleibt, verliert bei Justi eine derartige Trennung von realem Prozeß der Vervollkommnung und utopischen Ziel der Vollkommenheit ihre Schärfe. Für ihn steht die Gesetzgebungswissenschaft zwar noch am Anfang32; es erscheint aber als notwendige und lösbare Aufgabe wissenschaftlicher Arbeit, die Herstellung dieses Systems voranzutreiben. Das wissenschaftlich begründete System tritt damit dem realen "Chaos" der Polizeigesetze als ein in der Gesetzgebungswirklichkeit einlösbares Leitbild entgegen. Bei anderen Polizeischriftstellern - so bei Sonnenjelsaa - wendet sich das wissenschaftliche Systemstreben zwar nicht in diesem Maße zu kritischen Postulaten an die Gesetzgebungspraxis. Am nachhaltigsten aber erneuert unter den oben angeführten Beiträgen schließlich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Filangieris Scienzia della legislazione den Anspruch der Wissenschaft nach einer gesetzgeberischen Gestaltung der Rechtswirklichkeit nach ihrem System.
Das Bemühen um Systematisierung steht auch - und vom Interesse des Inhabers der Gesetzgebungsgewalt wie von der tatsächlichen Wirkung her wohl in erster Linie - unter dem Ziel der Effektivitätserhöhung für die fürstlich-staatliche Normgebung: " ... Gesetze, die einander widerstreiten, können gar keine Wirkung haben34." Von der Gesetzgebungslehre werden ihm aber auch darüber hinausreichende Funktionen beigemessen. Für die zukünftige polizeiliche Regelungstätigkeit soll das System einen wissenschaftlichen Rahmen bieten, der die Herstellung guter Policey erleichtert. Den bestehenden Normen der Policey bietet die innere "Zusammenstimmung" innerhalb eines derartigen Systems regelmäßig eine Bestätigung ihrer ordnungsschaffenden Funk2s Vgl. Zincke (Fn. 2), S. 404, sowie schon oben IV. 1. Vgl. ebd., S. 62 f. 30 Ebd., S. 334. 31 Ebd., S. 333. a2 Justi (Fn. 12), S. 499 = § 428 nota hält sich und seine Zeitgenossen noch für "wahre ABC-Schüler" in dieser Wissenschaft. s. auch oben IV bei Fn. 50 f. aa Vgl. oben VI. 1., insbes. bei Fn. 19 ff. 34 Vgl. Justi (Fn. 12), S. 499 = § 429. 29
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IX. Leitgedanken und Regelungsmodell
tionen für das Gemeinwesen. Hat die Systembildung insofern überwiegend Legitimationsfunktion, kann sie im Einzelfall aber auch Grundlage einer Kritik von Polizeinormen werden, indem die Fragwürdigkeit von (bestehenden oder geplanten) Regelungen aus ihrer Systemwidrigkeit abgeleitet wird. Obwohl für die Geltung von Normen (im positiven Recht) die voluntas legislatoris für ausschlaggebend erachtet wird, verbleibt die Gestaltungsaufgabe des Gesetzgebers insofern nicht in jener Beliebigkeit, in der die Feststellung "car tel est notre plaisir" zur Begründung des Normerlasses genügt35• Vielmehr scheint eine wissenschaftliche, auf die "Objektivität" der Vernunft gestützte Systematisierung einen gewissen Schutz gegenüber den Wechselfällen fürstlicher Eingebungen zu bieten. Vernunftrechtlich-aufklärerisches Denken kann so hoffen, daß die Rationalität eines wissenschaftlichen Systems der Gesetzgebung, das mit seinen im Naturrecht gegründeten abstrakten Ausgangspunkten scheinbar konkreten Herrschaftsverhältnissen und spezifischen historischen Interessenbindungen vorgelagert ist, potentiell auch der Gefahr bloßer "eigensüchtiger" Willkür und "unvernünftigen" Gutdünkens des Gesetzgebers entgegenwirkt, daß also die Gesetzgebungslehre ein die fürstliche Gestaltungswillkür bändigendes Korrelat zu der prinzipiellen Unterstützung des monarchischen Gestaltungsanspruches durch den nunmehr vorherrschenden Souveränitätsgedanken in der allgemeinen Staatslehre zu bilden vermag. Wie dabei die Gesetzgebungslehre wirksam werden kann, wird überwiegend noch nicht als Frage politischer Machtverteilung erörtert. Vielmehr steht die aufklärerische Vermittlung der Rationalität der wissenschaftlichen Systeme an den gelöst von eigenen Interessenbindungen betrachteten Fürsten im Vordergrund. Vorschläge wie die Einrichtung von Gesetzgebungskommissionen aus den "weisesten" Bürgern36 sollen zunächst eher den wissenschaftlichen Erkenntnis- und aufklärerischen Vermittlungsprozeß selbst institutionalisieren als in seinem Namen ein a• s. dazu Heinz Mohnhaupt, Potestas legislatoria und GeS'etzesbegriff im Ancien Regime, in: Ius commune IV (1·972), S. 200 ff., 205 f. - Zur Begrenzung gesetzgeberischer Willkür durch das erlassene Gesetz mit Rücksicht auf die dem Gesetz "innewohnende, eudämonistische Rationalität" jetzt D. Willoweit, Gesetzespublikation und verwaltungsinterne Gesetzgebung ... , in: Beiträge z. Rechtsgeschichte (Gedächtnisschr. Conrad), 1979, S. 601 ff. (6HI). ae So bei Filangieri (Fn. 17), 1. Bd., S. 160 ff. Filangieri stellt S'ich als "Censorg" ein "aus den weisesten und aufgeklärtesten Bürgern des Staats errichtete(s) obrigkeitliche(s) Amt" vor (ebd., S. 161). Dieser Censor soll Veränderungen der Verhältnisse, die Änderungen der Gesetze erforderlich machen, und Schwächen neu erlassener Gesetze bobachten und Änderungsvorschläge entwickeln. Zugleich soll er Neuregelungen und bestehendes Recht aufeinander abstimmen und eine Art Zentralstelle für ergänzende Auslegung der Gesetze auf die vom Gesetzgeber nicht vorgesehenen Fälle sein (vgl. ebd., S.162 ff.).
1. Vernunftrechtlich-aufklärerische Leitgedanken
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politisches Gegengewicht zur gesetzgeberischen Dezisionsgewalt der Fürsten bilden. Nur vereinzelt schlägt in der deutschen Polizeilehre während des zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts die Vorstellung von der Befähigung zur Gesetzgebungsarbeit durch Bildung, Erfahrung und eigene Betroffenheit um in die Vorstellung, die gesetzgebende Gewalt selbst sei in die Hände der "gebildeten Volksteile" überzuleiten. Und nur allmählich beginnt die Einsicht der "aufgeklärten" Bevölkerungsgruppen in die wissenschaftlichen Postulate überhaupt als politische Kraft gegenüber der (rechtlich-institutionell unbestrittenen) Gesetzgebungsgewalt des Fürsten verstanden zu werden37. d) "Relativierung" des Naturrechts. Vernunftrechtlicher Ausgangspunkt und von ihm bestimmte deduktive Methode stehen in nahezu allen Beiträgen der Polizeilehre in einem mehr oder weniger offenkundigen Spannungsverhältnis dazu, daß die vielfältigen und regional äußerst verschiedenartigen Gestaltungsaufgaben weitgehend aus der Anschauung der konkreten Verhältnisse und der praktischen Erfahrung dargestellt und pragmatische Lösungsvorschläge auf dieser Grundlage unterbreitet werden. Selbst als in Teilen der Vernunftrechtslehre - anders als noch bei Thomasius- das Verständnis für die Abhängigkeiten zwischen naturrechtliehen Postulaten und ihren jeweiligen konkreten Wirkungsfeldern zeitweilig hinter einem rigiden Absolutheitsanspruch zurücktritt, bewahrt doch gerade die Polizeilehre stärkere Einsicht in die Notwendigkeit, die Spezifik der Umstände, unter denen jeweils eine Regelung erfolgte, zu berücksichtigen. Sie ist sich dieses Erfordernisses einer "praktischen" Gesetzgebungslehre auch bei der Übernahme des vernunftrechtlichen Systemstrebens in die kameralistischen Lehrgebiete von vornherein bewußt. Bei Zincke etwa schließt alle Empirismus-Kritik es nicht aus, daß er zugleich nachdrücklich fordert, die spezifischen Gegebenheiten der geographischen Lage, der Bevölkerung usw. umfassend- u. a. durch die Anwendung kameralistischer Hilfswissenschaften - zu erforschen und sie bei der Gesetzgebung sorgfältig zu berücksichtigen38. Unter dem Anspruch auf den Rang einer "philosophischen" Wissenschaft im vernunftrechtlichen Verständnis wird es aber deshalb gerade für die polizeiliche Gesetzgebungslehre zu einem zentralen methodischen Problem, die Annahme, daß allgemeine Sätze der Natur der menschlichen Vernunft eingeboren seien, in Einklang zu bringen mit der Aufgabe, zu Systembildung und praktikablen Lösungen in einem konkreten sozialen, politischen und historischen Zusammenhang und 37 Vgl. für Justi oben IV. bei Fn. 65 f.; dazu auch Schulze (Fn. 5), S . 166 f. 38 Vgl. Zincke (Fn. 2), S. 79 ff. mit Hinweis auf die "pragmatische Historie"
und besonders die Lehren Conrings und anderer zur "Statistik", sowie ebd., S. 403 f., 961 ff.; ferner ders., Gedancken und Vorschläge von einem ... besonderen Collegio Statuum Europae Camerali, in: Leipziger Sammlungen 3. Bd. (1746), S. 941 ff.
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IX. Leitgedanken und Regelungsmodell
auf einem bestimmten, unvollkommenen Stand des eigenen Wissens und der allgemeinen Aufklärung zu gelangen. Bei der Auseinandersetzung mit diesem Problem nimmt die polizeiliche Gesetzgebungslehre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die nunmehr auch in anderen Zweigen der Vernunftrechtslehre vordringende Vorstellung auf, daß neben den "absoluten" Sätzen der Natur eine wichtige Bedeutung als Bindeglied hin zu den jeweiligen zeitlichen und örtlichen Verhältnissen den "relativen" Sätzen zukomme. Derartige "relative" Sätze tragen auch den konkreten Bedingungen, unter denen die Polizeigesetzgebung die allgemeinen Gebote der Natur zu verwirklichen helfen soll, Rechnung. Ihre Ausprägung im Verhältnis zu den absoluten Naturrechtssätzen und ihre Beziehungen zueinander werden wiederum soweit als möglich auf allgemeine Grundsätze zurückgeführt. Es bildet sich damit seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis hin zu Filangieris Unterscheidungen der "absoluten" und der "verhältnismäßigen Güte der Gesetze"119 eine Lehre von der verhältnismäßigen Güte und Geltung der Regeln der Natur heraus. Die theoretischen Grundlagen und die Leitgedanken dieser "Relativierung des Naturrechts" in der Gesetzgebungslehre seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hat Dilcher in seiner einleitend erwähnten Arbeit dargestellt40• Sie brauchen daher hier nicht weiter nachgezeichnet zu werden, als dies bereits oben für einzelne Vertreter der Polizeilehre erfolgt ist. e) Rechtfertigung landesfürstlich-staatlicher Gestaltungsansprüche. Die Verwirklichung der wissenschaftlichen Entwürfe für die "gute Ordnung" des Gemeinwesens nach den Prinzipien der Natur scheint der polizeilichen Gesetzgebungslehre im 18. Jahrhundert ganz überwiegend an eine Stärkung und Ausweitung der landesfürstlich-territorial-staatlichen Gestaltungsmöglichkeiten gebunden41 • Sieht man hier von Justis noch recht isolierten und wenig konkret vorgetragenen Erwägungen über die gesetzgebende Gewalt des Volkes und einigen erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hervortretenden Ansätzen zu einer grundsätzlichen Kritik des "Despotismus" ab, so gehört die Notwendigkeit des Bündnisses zwischen dem Teil der Wissenschaft, der sich der Aufklärung und dem Naturrecht verpflichtet fühlt, auf der einen Seite und der um den weiteren Ausbau ihrer Herrschaftsgewalt bemühten absolutistischen Monarchie auf der anderen Seite zu den in verschiedenster Weise ausgestalteten, im Kern aber ständig wiederkehrenden Leitgedanken polizeilicher Gesetzgebungslehre. Selbst daß das Mittel der GesetzgeFitangieri, übers. v. Link (Fn. 17), 1. Bd., S. 25 f., 108 ff., 130 ff., 170 ff. Gerhard Dilcher, Gesetzgebungswissenschaft und Naturrecht, in: JZ 1009, s. 1 ff. 39
40 41
s. auch oben II. 1. b); III. 2., 5.
1. Vernunftrechtlich-aufklärerische Leitgedanken
135
bung zugunsten anderer, "gebotsfreier" und insofern freiheitsschonenderer Formen der obrigkeitlichen Lenkung entschieden eingedämmt werden soll- wie bei Darjes 42 - , stellt eher eine Ausnahme dar. Vorherrschend ist vielmehr das Bemühen, verbunden mit den materiellen Vorschlägen für obrigkeitliche Gestaltungsmaßnahmen und den regelungstechnischen Erwägungen über den Gebrauch des Instruments der Gesetzgebung die Legitimationsgrundlagen gerade für diese Form staatlicher (und d. h. unter den gegebenen Bedingungen monarchischer) Lenkung zu erweitern. In der Ausrichtung des polizeilichen Gesetzgebungsdenkeng auf die Sozialgestaltungsfunktion der fürstlichen Gewalt setzen sich einerseits auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Traditionslinien fort, die auf die eingangs erwähnten Rechtfertigungen des Fürstenamtes im 16. und 17. Jahrhundert und auf die schon mit ihnen verbundenen eudämonistischen Staatsauffassungen innerhalb der älteren Kameralistik zurückdeuten4a. Unmittelbarer und stärker wirkt in ihr jedoch der ebenfalls bereits skizzierte Durchbruch zu den neuen, geschlossenen Staats- und Rechtstheorien, wie er sich mit den Vernunftsrechtslehren von Pufendorf, Thomasius und schließlich Chr. Wolff vollzogen hat. Innerhalb der vernunftrechtlichen Trias der Rechtsbindung- "durch Gottes Wort als Gläubige und Christen", "Durch die Natur und Vernunfft als Menschen und Einwohner der Welt" und "durch die Gesetze der Obrigkeit als Bürger und Glieder des Vaterlandes"44 - scheint es einerseits möglich, den Gemeinwohlgedanken von säkular-vernunftrechtlichen Wertungen her neu zu begreifen und über eine von ihm ausgehende Staatszweckbestimmung die Staatstätigkeit naturrechtlich "einzubinden". Andererseits wird aber mit dem Verständnis der positiv-rechtlichen Verbindlichkeiten als "Gesetze der Obrigkeit" im Anschluß an Bodins Souveränitätslehre und Hobbes' Gesetzesverständnis die Verfügung über die positiven Normen einseitig-herrschaftlich aufgefaßt. Sie kann von diesem Ausgangspunkt her unter den politischen Verhältnissen des 18. Jahrhunderts in erster Linie von dem nach Absolutismus strebenden Landesfürsten beansprucht werden. Nur auf dem Weg über ihn können grundsätzlich Gebote der Natur zu Gesetzen des positiven Rechts werden. Das Bild einer oft geradezu apologetischen Rechtfertigung fürstlich-staatlicher Regelungstätigkeit durch die polizeiliche Gesetzgebungslehre bliebe allerdings unvollständig, wenn es nicht auch mit der kritischen Haltung der polizeilichen Gesetzgebungslehre zu Teilen des überlieferten Rechtes45 im Zusammenhang betrachtet würde. "Natur" und "Vernunft" verkürzen sich in dieser Gesetzgebungslehre zwar häufig zu Metaphern für die von den Bedürfnissen des Absolutismus geprägte Staatsräson und rechtfertigen auch durchaus eigennützige Interessenwahrnehmung des monarchischen Gesetzgebers. Dies ist aber keineswegs gleichbedeutend mit einer bloß affirmativen Haltung zum geltenden Recht insgesamt und mit einem vollständigen Verzicht auf das Kritikpotential, das in der Naturrechtsidee gegenüber positivem Recht angelegt ist. Die Unterstützung absolutistischer Regelungstätigkeit Oben V. Dies betont H. Maier (Fn.l9), S. 262 f.; vgl. dazu aber schon einleitend I. 1. 44 Christian Thomasius, Institutiones iurisprudentiae divinae, 7. Aufi., 1720, Diss. Prooem. S. 52 = §53. 45 Vgl. soeben IX. 1. b). 42 43
136
IX. Leitgedanken und Regelungsmodell
wendet sich vielmehr in der polizeilichen Gesetzgebungslehre häufig gegen äLtere Teile des positiven Rechts (und gegen deren rechtlich-politische Träger). Diese Lehre kann zwar schon wegen ihrer Angewiesenheit auf den absolutistischen Gesetzgeber keine konsequent über den Absolutismus hinausweisenden theoretischen Konzeptionen wirksam entwickeln, wohl aber die überkommenen ständisch-feudalen Strukturen weiter erschütternde Erneuerungsprozesse innerhalb des Absolutismus fördern - etwa durch Einbrüche in die patrimonialen Herrschaftsstrukturen "intermediärer" Gewalten zugunsten (partieller) unmittelbarer hoheitlicher Beziehungen zwischen "Souverän" und Untertanen oder durch die Begünstigung wirtschaftspolitischer Maßnahmen zur Verbreitung neuer bürgerlicher Produktionsformen - ; die dadurch beförderte Herausbildung neuer sozialer Sachverhalte können sodann die späteren Kritiker des Bündnisses dieser Wissenschaft mit dem Absolutismus bei der Entwicklung ihres Sozial- und Rechtsmodells schon voraussetzen.
f) Polizeiliches "Normgebungsmonopol". Die Kritik der Gesetzgebungslehre an älterem Rechtsstoff und ihre Verbindung mit absolutistischen Gestaltungsansprüchen setzt sich in der Ablehnung eigenständiger Regelungstätigkeit älterer Rechtskreise fort. Auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die auf die landesfürstlich-staatliche Regelungsgewalt abstellende vernunftrechtliche Staatslehre noch damit konfrontiert, daß sich in einer Reihe älterer Rechtskreise eine relativ eigenständige Herrschaftsausübung und Rechtsentwicklung erhalten hat. Zu diesen Rechtskreisen zählen vor allem die Zünfte und die patrimonialen Herrschaftsbereiche des niederen Adels, insbesondere im Bereich der Gutsherrschaft46 • Die Konstruktion von praktischen und theoretischen Formen einer Zurechnung aller derartiger Regelungstätigkeit im Territorium zur fürstlichen Gewalt ist eines der Anliegen, das sich in nahezu der gesamten polizeilichen Gesetzgebungsliteratur findet. Eine vollständige Verdrängung bisheriger Rechtsträger aus der Normgebung wird dabei grundsätzlich nicht angestrebt. Vielmehr bemüht sich die Gesetzgebungslehre zuvörderst um das theoretische Modell einer einheitlichen Regelungstätigkeit im Territorium und um praktische Kontrollmöglichkeiten der "höchsten Gewalt" gegenüber der Normaufstellung durch die "Unterobrigkeiten" und andere Regelungskreise älterer ständischer Ordnung. Die Aufstellung von Normen innerhalb älterer Rechtskreise - insbesondere innerhalb der Innungen und Zünfte- hatte bereits Chr. Wolff als bloße Vorschläge jeweils Sachkundiger bezeichnet. Erst durch die fürstliche Bestätigung würden die aufgestellten Normen "zum Willen
46 Zum Verhältnis der Policey zur Ständeordnung und zu (herrschaftlichen und korporativen) intermediären Gewalten sei wiederum hingewiesen auf D. WiHoweit, Struktur und Funktion intermediärer Gewalten .. . , in: Der Staat, Beih. 2 (1978), S. 9 ff.
1. Vernunftrechtlich-aufklärerische Leitgedanken
137
des Oberen und ein Befehl desselben" 47 und erlangten damit Verbindlichkeit. In der polizeilichen Gesetzgebungslehre herrscht eine Sichtweise vor, in der die unterschiedlichen Regelungsträger als Vielzahl von Gesetzgebern aufgefaßt werden. Neben den landesfürstlichen "höchsten Gesetzgeber" tritt damit eine Reihe kleinerer "Polizeigesetzgeber", deren Gesetzgebungsmacht von der Gewalt dieses höchsten Gesetzgebers abgeleitet wird. Angeknüpft werden kann dabei auch an den Umstand, daß gerade adlige patrimoniale Obrigkeiten ihre Regelungstätigkeit etwa bei der Bestätigung oder dem Erlaß von Dorfordnungen - als Schaffung "guter Policey" begründen48. Letztlich wird damit die Gesetzgebung des Regenten auch als die einzige Regelungsquelle für die Policey vorgestellt. Zugrunde gelegt werden kann hier die bereits für das 17. Jahrhundert verzeichnete Entwicklung des Gesetzesbegriffs, in deren Fortgang in weiten Teilen der deutschen Vernunftrechtslehre nunmehr grundsätzlich alle Normen, die Rechtsgeltung (im positiven Recht) beanspruchen wollen, "ex voluntate legislatoris" hergeleitet werden müssen. Obwohl die Polizeiregelungen schon lange vor den im "privatrechtlichen" Streit von der Justiz verwandten Rechtsregeln überwiegend als "Gebotsnormen" aufgefaßt werden, setzt sich dieses Gesetzesverständnis aber erst nach der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Polizeilehre the01'etisch konsequent für die innerhalb der deutschen Territorien bestehenden Verhältnisse in der Zuordnung aller Polizeiregelungen zur Gesetzgebungsmacht des Regenten fort. Zincke führt so in seinem Aufriß zum Problem der Gesetzgeber der Polizeigesetze noch als gesonderte Formen polizeilicher Vorschriften die auf PriviLeg und Gewohnheit beruhenden Normen sowie die "Conventional-Policeygesetze" (die sich in der Begrifflichkeit W. Ebets der Satzung zuordnen würden) an4o. Wenn er insofern innerhalb des positiven Rechts von "der höchsten Gewalt gegebene" Gesetze von "durch Verträge gemachte(n) Gesetze(n) und Statuten"50 unterscheidet, sind allerdings auch ihm schon "eigentliche"Sl Gesetze nur die ersteren. In der Folgezeit setzt sich die Zurechnung aller polizeilichen Normgebung im Territorialstaat zu der "einzigen" und daher "einseitig" regelnden höchsten Gewalt noch stärker durch. In diese Gesetzgebungsgewalt ordnet sich nunmehr - im Modell der polizeilichen Gesetzgebungslehre, wenn auch längst nicht in der Handhabung der politischen Praxis - auch die patrimoniale Polizeiregelungstätigkeit adliger Herrschaften innerhalb des Territoriums ein. Die Befugnis zur Normgebung des Adels rührt so für Justi "allemal von der Obersten Gewalt, als der einzigen Gesetzgebenden Macht im Staate, her"52; die "Unterobrigkeiten" verfahren 47 Christian Wotff, Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen, 4. Aufl. 173-6, S. 421 = § 406.
48 Vgl. hierzu Schulze (Fn. 5), S. 157 ff., 160 ff. Vgl. Zincke (Fn. 2), S. 405 f. u. a. a. St. m. so Ebd., S. 346, 405. ol Vgl. ebd., S. 346; vgl. auch ebd., S. 349 f., die Definition der "positiven menschlichen Policeygesetze" als " ... solche Gesetze der höchsten Gewalt im Staat, wodurch unmittelbar gute Policey zuwege gebracht ... wird ... " 52 J. H. G. von Justi, Grundsätze der Polizeiwissenschaft, 3. Aufi., 1782, S. 330. 49
IX. Leitgedanken und Regelungsmodell
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"bloß als Bediente und Executores nach dem vermutblichen Willen des Regenten"sa. Alle entgegenstehenden Berechtigungen sind "blas die Ueberbleibsel der schlechten Regierungs-Grundsätze der vorigen Zeiten"M. Soweit eine Normgebung auf Grundlage derartiger älterer Berechtigungen den Zusammenhang der "Theile des Staatskörpers verhindern" kann, entfällt ihre Verbindlichkeit. Denn dieser "Zusammenhang ist der Grund und das Wesen aller Republiken, und darwider können keine Gerechtsame und Freyheiten von einiger Gültigkeit seyn"55, - Während damit Adel (und Städte~H~) allenfalls abgeleitete Normgebungsfunktionen wahrnehmen können, werden andere Rechtskreise - insbesondere die Handwerkszünfte und Dorfgemeinden57 - ganz aus dem Bereich der polizeilichen Normgebung abgedrängt. Die Angehörigen dieser Rechtskreise können zwar in vertragrechtlicher Weise Regelungen treffen. Polizeiliche Verfügungs- oder Straffunktionen kommen ihnen aber als "bloße Gesellschaften und Corpora" nicht zuss.
In der polizeilichen Gesetzgebungslehre bleibt dabei noch weitgehend offen, welche Regelungszuständigkeiten nach welchen Gesichtspunkten "Unterobrigkeiten" delegiert werden und nach welchen rechtlichen Kriterien der Kreis dieser Hoheitsträger von den Rechtssubjekten abgegrenzt wird, die als "bloße Gesellschaften" aus der Teilhabe an staatlichen Funktionen ganz herausgedrängt und grundsätzlich auf einen (modern ausgedrückt) privatrechtliehen Charakter beschränkt werden. Auch ist noch keinesfalls der Schritt vollzogen (oder auch nur in Angriff genommen), den konkreten Eingriff einer "Unterobrigkeit" notwendig von der Ermächtigung durch ein allgemeines Gesetz der "einzigen gesetzgebenden Macht" abhängig zu machen. Dagegen ist aber mit der Zurechnung aller Normgebung zur "Obersten Gewalt" und der prinzipiellen Unterscheidung der Normgebung von vertraglicher Gestaltung außerstaatlicher "Gesellschaften" eine Variante des Gedankens der Einzigkeit und Einheitlichkeit der staatlichen Polizeiregelungstätigkeit konsequent durchgeführt und insoweit das staatliche Normgebungsmonopol postuliert. 2. Merkmale des Regelungsmodells der Polizeilehre Finden sich die bislang umrissenen Leitgedanken und Problemstellungen- modifiziert und teilweise abgeschwächt- auch bei den Vertretern der deutschen Kodifikationsprojekte im späten Vernunftrecht, so gewinnt die Spezifik des Regelungsmodells der polizeilichen Gesetzgebungslehre dieser Zeit in einer Reihe weiterer übereinstimmender Sichtss Ebd., S. 331 = 54 Ebd., S. 465 = 55 Ebd. 56 Vgl. ebd. 57 Ebd., S. 465 f. 5S Ebd., s. 465 =
§ 386. § 393.
= § 395 f. § 394.
2. Merkmale des Regelungsmodells
139
weisen der in Kap.IVff. vorgestellten und anderer zeitgenössischer Autoren Konturen. Hierzu gehört eine grundsätzlich gleichrangige Behandlung allgemeiner und konkret-individueller Normen (ohne daß letztere zumindest theoretisch in eine Ausnahmestellung gedrängt werden), die Forderung nach beständiger Veränderbarkeit und einzelgesetzlicher Ausformung des Normbestandes und damit verbunden eine zeitlich unbegrenzte Aufgabenstellung für die Gesetzgebungslehre selbst. a) Allgemeinheit und Konkretheit der Normen. Ganz abgesehen von dem "Chaos" der Polizeinormen in der Praxis bleibt auch das Systemdenken der polizeilichen Gesetzgebungslehre noch weit entfernt davon, zu einem Regelungsmodell vorzudringen, das durchgängig eine allgemeine Geltung der Gesetze zugrunde legen, andere Regelungen auf eine diesen untergeordnete (oder zumindest eine Ausnahme-)Stellung zurückdrängen und insofern eine Struktur rechtlicher Gleichheit der einzelnen in der Gesellschaft und eine gleichmäßige Anwendung der Normen verheißen könnte. Innerhalb des Systematisierungsstrebens werden auch das Harmonie- und Vereinfachungsideal nicht etwa fortgeführt bis hin zu einem Entwurf, in dem die Policey auf der Grundlage allgemeiner, auch im positiven Recht gleichmäßig geltender und gleich anzuwendender Normen umfassend neu zu ordnen versucht wird (und damit als Teil einer gesellschaftstheoretischen Utopie oder in Gestalt einer gewagten juristischen Abstraktion den tatsächlichen rechtlich-sozialen Verhältnissen Deutschlands entfremdet werden müßte). Vielmehr steht für die polizeiliche Gesetzgebungslehre der hier betrachteten Zeit die rechtlich ungleiche Struktur der Ständegesellschaft grundsätzlich außer Frage, wenn sie auch partiell durchaus auf gewisse Nivellierungen überkommener Ungleichheiten, die die Wirksamkeit absolutistischer Herrschaftsausübung hindern, hinwirkt (etwa indem sie hergebrachte Jurisdiktionsprivilegien und -exemtionen für "PoliceySachen" nicht anerkennt59). Soweit sich vereinzelt darüber hinausgehende Kritik Bahn bricht- wie bei Justi an den für die Wirtschaftsentwicklung abträglichen Folgen der überlebten Begründungen für die privilegierte Stellung des Adels60 - , werden daraus keine weiterreichenden Folgerungen für eine umfassend gleichheitsgerichtete Funktion des Regelungssystems gezogen. Es bleibt dementsprechend durchweg anerkannt, daß neben dem als allgemeine Gesetze aufgefaßten Teil der Polizeinormen auch breite Bereiche besonderer Polizeigesetze bestehen müssen und daß diese eigenständig je nach jeweiligem Sachzusammenhang in die Systembildung einzubeziehen sind. 59 Vgl. etwa für die Aufhebung v on Exemtionen in Polizeisachen durch ein brandenburg-preußisches Patent 1735 Schulze (Fn. 5), S. 121 ff. i!O s. oben VIII. Fn. 9.
140
IX. Leitgedanken und Regelungsmodell
Dem Begriff des "allgemeinen Gesetzes" wird damit noch nicht jene strukturierende Bedeutung für das Regelungssystem beigemessen, die er wenig später im Zusammenhang mit den Kodifikationsprojekten zunächst vor allem für das Privatrecht und sodann zunehmend auch für das öffentliche Recht erhält. Die Unterscheidung von "allgemeinen Ordnungen" und "besonderen Ordnungen" (sei es in "Ansehung der Unterthanen", sei es in "Ansehung der Gegenstände" 61 ) findet sich zwar bei den meisten Polizeischriftstellern schon des bislang betrachteten Zeitraumes, beschränkt sich aber bei ihnen im wesentlichen auf eine formale Kategorisierung ohne wesentlichen Einfluß auf die rechtliche Grundstruktur des Regelungssystems. Der Gesetzesbegriff kann daher übergreifend für diese verschiedenen Arten von Normen gebraucht werden: "Leges politiae sunt vel generales vel speciales vel singulares ...62." An einzelnen Stellen scheint sich immerhin anzudeuten, daß allgemeine und besondere Polizeiregelungen in eine Rangfolge gebracht werden könnten und daß unter dem Gedanken der Konkretisierung ein inneres Gefüge der Regelungstätigkeit zu erstreben sei63, Dieser Ansatz wird aber nie konsequent durchgeführt, sondern löst sich immer wieder in eine Unterteilung der "Polizeigesetze" unterschiedlicher Geltungsbreite lediglich nach sachlichen Regelungsgebieten oder bestimmten Personengruppen auf. Er öffnet sich damit auch den Differenzierungen auf Grundlage der älteren Sozialkreise und sonstigen Statusbindungen&4, so daß sodann wiederum weitgehend nach Maßgabe dieser Verhältnisse Sonderrechte und -gebote gleichrangig neben allgemein gefaßten Vorschriften stehen können. b) "Fluktuation" des Normbestandes. Die Polizeiwissenschaft erstrebt darüber hinaus kein Gesetzessystem, durch das die polizeiliche Rege61 Vgl. etwa Justi (Fn. 12), Bd. 2, S. 512 ff. = §§ 441 ff. Justi führt dort im weiteren aus: "In Ansehung der Unterthanen kann man die Policey-Gesetze in zwey Hauptarten eintheilen, in allgemeine, die alle und jede Classen und Stände des Volkes ohne Unterschied verbinden; und in besondere, die nur diese oder jene Classe, Lebensart und Handthierung angehen." "In Ansehung der Policey-Gegenstände" unterscheidet er: "allgemeine Policey-Gesetze sind diejenigen, welche soviel möglich über alle Policey-Gegenstände Ordnungen und Vorschrift ertheilen ... Zu diesen allgemeinen Policey-Gesetzen gehören auch die Landes-Ordnungen, die man hin und wieder über die gesammte Verfaßung des Landes ertheilet hat ... " - "Was die besondern PoliceyGesetze über die einzeln Gegenstände der Policey anbetrift; so können deren soviele und mancherley seyn, als besondere Oeconomien des Sstaats, Nahrungs-Geschäfte, und andere Gegenstände der Policey giebt" (ebd., S. 514 f.
= § 443 f.). 62 Johann Heumann, Initia iuris politiae Germanorum, 1757, S. 7; vgl. auch bei Zincke (Fn. 2), S. 351 die Unterscheidung von "allgemeinen", "besonde-
ren" und "allerbesondersten" Polizeigesetzen. oa So stehen sich bei Zincke (Fn. 2), S. 407, einerseits die "Abfassung ganzer und allgemeiner Policey-Ordnungen, als rechter Grundgesetze in Policeysachen" und andererseits der ErLaß der "besondern Edicte, und Mandate . . ." gegenüber. u Zur Bindung des "Unterschied(es) der Policey" an die bestehenden Differenzierungen der Sozial- und Wirtschaftsordnung vgl. bei Zincke (Fn. 2) etwa u. a. S. 351, 344.
2. Merkmale des Regelungsmodells
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lungstätigkeit ihren Abschluß finden soll. Vielmehr befindet sich für sie der Normbestand notwendigerweise in unaufhörlicher Fluktuation. Das Gesetzessystem muß daher für fortwährende Veränderungen offenbleiben. Die Gründe hierfür werden in inneren Erfordernissen und äußeren Bedingungen der Gesetzgebung gesehen: Einerseits erscheint keine menschliche Normgebung so vollkommen, daß sie nicht verbesserungsfähig und -bedürftig wäre; andererseits sind die Umstände, unter denen die Gesetze ergehen, der Veränderung unterworfen. Das Ziel beständiger Verbesserung der Normen durch die Gesetzgebung betrifft sowohl das Einzelgesetz als auch das System der Gesetzgebung insgesamt. Die Ausgangsthese des polizeilichen Gesetzgebungsdenkens ist hier: "die Policey ist niemals unverbesserlich" 65 • Dabei kann an den Effektivitätsgedanken, der schon in der älteren Policey eine Rolle spielte, angeknüpft werden. Die Einsicht, daß es "vergebens wäre sich mit den sachen zu beladen, wo der effect oder wirkligkeit daraus nicht solte erfolgen" 66 - wie es in einer Polizeiordnung des 16. Jahrhunderts hieß-, weitet sich zu der Forderung aus, die Auswirkungen eines Gesetzes umfassend in Hinblick auf Verbesserungsmöglichkeiten zu kontrollieren67 • Vor allem aber wird unter dem Einfluß des aufklärerischen Ideals der (nicht erreichbaren, aber stets zu erstrebenden) Vollkommenheit des einzelnen wie des Gemeinwesens68 die Aufgabe beständiger Fortentwicklung der Normen zu dem Gedanken des "vernünftigen plus ultra" überhöht6 9• Die Forderung nach einer beständigen Anpassung der Normen- und unter den verschiedenen Regelungsgebieten insbesondere der Polizeinormen- an die Veränderung der äußeren Umstände konnte sich auf die Anschauung der polizeilichen Praxis, in der gesetzgeberische Maßnahmen häufig durch rasche Veränderungen der hergebrachten Verhältnisse erforderlich geworden waren, stützen70 • Die Vorstellung, daß die ti5
Zincke (Fn. 2), S. 337.
Kurfürstliche Proposition zur brandenburgischen Polizeiordnung 1550, bei Friedensburg (Hrsg.), Kurmärkische Ständeakten aus der Regierungszeit Joachims II., Bd. I, 1913, S. 785. G7 Vgl. u. a. bei Justi (Fn. 12), Bd. 2, S. 515 = § 445. 68 Zur Ausbildung der Vorstellung von einer ständigen Bewegung auf ein nie erreichbares Ziel hin bei Chr. Wotff (an den Zincke auch insoweit anschließt) sowie zu Zusammenhängen zwischen dieser Vorstellung und einem Wirtschaftsverständnis, für das das Element der Zirkulation in den Mittelpunkt rückt, J . Brückner, Staatswissenschaft, Kameralismus und Naturrecht, 1977, s. 86, 214. 69 Vgl. bei Zincke (Fn. 2), u. a. S. 62, 336. 10 Vgl. hierzu Schutze (Fn. 5), insbes. S. 16 ff., 118 ff.; für die Anpassung an Zeitumstände in der älteren Polizeilehre H. Wesset, Zweckmäßigkeit als Handlungsprinzip .. . , 1978, S . 60 f., 101 ff. - Aus den Quellen vgl. f. a. m. etwa bei Zincke (Fn. 2), S. 337: "Die Umstände derselben ("der Nahrung und des Aufnehmens" - R. S.) aber verändern sich von Zeit zu Zeit"; bei Justi ii6
IX. Leitgedanken und Regelungsmodell
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Veränderung der Umstände die Veränderung der Gesetze nach sich ziehen müsse, bildet in der Folge gewissermaßen die zeitliche Dimension der "Relativierung" des Naturrechts durch die polizeiliche Gesetzgebungslehre. Sie wirkt bis zu einem gewissen Grad der Gefahr entgegen, daß die durch den status quo geprägten Vorstellungen als zeitlose Regeln der Vernunft fixiert werden: Die Frage nach den geeigneten Formen der Anpassung des Normbestandes an veränderte Zeitverhältnisse bedeutet ständige Herausforderung zumindest zu einzelnen (im Großteil der Polizeiliteratur allerdings recht beschränkt utilitaristisch bleibenden) N euerungserwägungen. Die Lehre von der Anpassung der Nonnen an veränderte Verhältnisse ermöglicht im übrigen das Verlangen nach Korrektur, ohne stets die Gesetzgebung (und den fürstlichen Gesetzgeber!) der vorangegangenen Zeit eines Fehlers zeigen zu müssen. Sobald mit der nachträglichen Veränderung eines Gesetzes ein Fehler des Gesetzgebers eingestanden werden muß, erscheint eine derartige Revision mit Rücksicht auf die damit eingeräumte Fehlbarkeit des Monarchen unter den Bedingungen des Absolutismus nämlich nicht unproblematisch. Nicht nur bei den (sicherlich noch häufigeren) Fällen, daß ältere Regelungen in Vergessenheit geraten waren oder übersehen wurden, sondern wohl auch um das Eingeständnis von Fehlern zu vermeiden, scheint die Gesetzgebungspraxis nicht selten ohne ausdrückliche Aufhebung der ursprünglichen Regelung "Declarationes" oder Zusatzmandate mit entgegenlaufendem Inhalt erlassen zu haben. Demgegenüber versucht die Gesetzgebungslehre überwiegend, durch die Forderung nach öffentlichem Widerruf und eindeutiger Neufassung neben der jeweiligen sachlichen Verbesserung auch Rechtsklarheit und damit größere Rechtssicherheit zu gewährleisten71, c) Einzelgesetzliche Gestaltung. Das Erfordernis, auf der Grundlage rechtlicher Ungleichheit die Lebensverhältnisse durch verschiedenartige, teilweise lediglich als konkret-individuelle Regelungen faßbare Polizeivorschrüten zu ordnen, einerseits und die Anschauung und Lehre von der fortwährenden Fluktuation des Normbestandes andererseits verbinden sich in der polizeilichen Gesetzgebungslehre zu dem Modell eines systematisierten Zusammenhanges einzelgesetzlicher Regelungen. Dieses Regelungsmodell kann einerseits Vorschriften unterschiedlichen Normcharakters und Adressatenkreises in ihrer Verschiedenartigkeit zusammenfassen. (In der Polizeipraxis reicht das Spektrum hier von der Monopolvergabe oder sonstiger Privilegierung bis etwa zu Vorschriften über die Einrichtung von Verwaltungsorganen oder zu allgemein geltenden Feuerpolizeivorschriften oder Polizeistrafgesetzen.) Es ist andererseits offen für die Bedürfnisse einer gestaltenden, unter wechselnden Bedin(Fn. 12), Bd. 2, S. 457 = § 384 : Wenn der Zustand des Staates "nicht mehr eben derselbe ist, wenn sich die Umstände und Bewegungsgründe abgeändert haben, aus deren Veranlassung man dieses oder jenes Gesetz gegeben hat; so kann auch dieses Gesetz nicht mehr seine vorige Kraft und Gültigkeit behalten." 11 Vgl. für die Diskussion um diese Frage wiederum Justi (Fn. 12), Bd. 2,
s. 546
= § 446.
2. Merkmale des Regelungsmodells
143
gungen in das soziale Leben intervenierenden Gesetzgebung, indem einzelne Teile des Gesamtgefüges bei Bedarf modifiziert oder ausgetauscht und neue Teile hinzugefügt werden können. Damit wird jeweils eine erneute Überprüfung des Zusammenhanges erforderlich - in der Begrifflichkeit Zinckes, Justis und Pfeiffers also eine "Revision" des Normbestandes und mit ihr eine "Vervollkommnung" seiner "Übereinstimmung". Die Ausrichtung auf ein System einzelgesetzlicher Regelungen schließt es für die polizeiliche Gesetzgebungslehre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts prinzipiell aus, einen umfassenden gesetzgeberischen Gestaltungsakt, etwa den Erlaß eines "Policey-Gesetzbuches", anzustreben. Die beständige Revision und Verbesserung des einzelgesetzlichen Systems, nicht langfristig angelegte Arbeiten an einem umfassenden Gesetzbuch empfiehlt sie dem Gesetzgeber. Es erscheint ihr daher als Vorzug, daß die Polizeipraxis im 18. Jahrhundert weniger als in der vorangegangenen Zeit geneigt ist, breit angelegte "allgemeine PoliceyOrdnungen zu ertheilen"n. So gibt Justi zu bedenken: "... ist eine ertheilte allgemeine Policey-Ordnung kaum zehen Jahre alt; so gehöret vieles darinnen unter die veralteten und abgeschaften Gesetze"73. Er spricht zwar demgegenüber Landesordnungen mit grundsätzlicheren Regelungen größere Stabilität zu. Aber selbst für diese Landesordnungen hält er regelmäßige Verbesserungen und Veränderungen nach drei bis vier Jahrzehnten für erforderlich74. d) Permanenz der Gesetzgebungswissenschaft. Auf der Grundlage eines Regelungsmodells, wie es in den soeben umrissenen Leitgedanken Ausdruck findet, wird die beständige Beschäftigung mit der Gesetzgebung zur unerläßlichen Aufgabe der Polizeilehre wie auch anderer staatswissenschaftlicher Disziplinen. Zu dieser Aufgabe gehören u. a. Effektivitätskontrolle und Revision des Normbestandes sowie Aktualisierung des systematischen Zusammenhanges. Das für die Normsetzung geforderte Vervollkommnungsstreben reproduziert sich insofern für die Wissenschaft von der Normsetzung. Die vernunftrechtlich-aufklärerische Überzeugung von dem beständigen Aufstieg der Wissenschaften- oder, mit Franz Joseph Bobs Freiburger Antrittsvorlesung formuliert, die Abkehr "von dem Vorurtheile wider die Neuerung in den Wissenschaften" 75 - erstreckt sich auch und ge72 Ebd., S. 513 = § 442 nota. "Daher findet man auch in dem vorigen Jahrhundert, da man noch diese allgemeinen Policey-Ordnungen vor nöthig hielt, fast in jedem Lande, ältere, neuere, revidirte und verbeßerte Policey-Ordnungen" (ebd.). 73 Ebd. 74 Ebd., S. 514 = § 444. 75 Vgl. Bob, Von dem Vorurtheile wider die Neuerung in den Wissenschaften, 1768.
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IX. Leitgedanken und Regelungsmodell
rade auf die Gesetzgebungslehre. Sie soll insgesamt zu jener Offenheit für wissenschaftliche Neuerungen gelangen, die sich für die Polizeilehre mit ihrer Emanzipation als kameralistisches Fach gegenüber der aristotelischen Politik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat. "Das gemeine Sprichwort: die Alten sind auch keine Narren gewesen"76 ist Stisser in dieser Auseinandersetzung mit der traditionellen Beschränkung der Ökonomie im Rahmen der Politik geradezu als eine "Seuche" erschienen. In gleichem Sinne erscheint nunmehr die Scheu der "Staatskunst" vor neuen Sichtweisen der Gesetzgebungslehre als "Bigotterie" 77 • Die zeitgenössischen Ansätze zu einer Gesetzgebungswissenschaft werden daher nur als erste Anfänge bei der Entwicklung "der größten Willenschaft unter allen" 78 oder doch eines sehr wichtigen Zweiges der Staatswissenschaft aufgefaßt. Der Aufschwung dieser Wissenschaft erscheint nicht als ein nur temporäres Erfordernis, das in einem abschließenden gesetzgeberischen Gestaltungsakt seine Erfüllung findet und sodann einer Interpretationswissenschaft des geltenden Rechtes das Feld allein überlassen könnte. Mit einem Regelungsmodell unter dem Gedanken beständiger Veränderungen und Verbesserungen der einzelgesetzlich gefaßten Normen wird Gesetzgebungswissenschaft vielmehr selbst zur permanenten Aufgabe.
76 Vgl. Friedrich Ulrich Stisser, Programma in welchem er . . . einige Collegia über die Okonomie-Policey und Cameralwissenschaft eröffnet .. . , 1734. 11 Vgl. Justi (Fn. 12), Bd. 2, S. 499 = 428 nota ; auch Johann Bernard Hoffer, Beyträge zum Policeyrecht der Teutschen, 1764, S . 4. 78 Vgl. Justi (Fn. 12), Bd. 2, S . 498 = § 428 nota.
Dritter Teil
Wandlungen polizeilicher Gesetzgebungslehre an der Wende zum 19. Jahrhundert Hatten nach der Mitte des 18. Jahrhunderts unter den Ansätzen zu einer Systematisierung und Fortentwicklung des Normbestandes auf vernunftrechtlicher Grundlage die Beiträge der Polizeilehre eine wesentliche, über die Kameralistik hinaus beachtete Bedeutung gehabt, so wandelte sich das Bild im Verlaufe des letzten -Quartals des Jahrhunderts grundlegend. Das wissenschaftliche Interesse konzentriert sich nun auf die Arbeit an Gesetzbüchern, die der inneren Systematik vor allem des Zivilrechts dauerhafte Gestalt geben sollen; das Leitbild eines möglichst umfassenden und abschließenden Gesetzbuches bestimmt die wissenschaftliche Diskussion um die Gesetzgebung. Als schließlich im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts Preußen sein Allgemeines Landrecht erhält, die französischen Volksvertretungen die Kodifikation des Rechtes der neuen Gesellschaft zum Programm erheben und Österreich dem J osephinischen Gesetzbuch den Erlaß des Martinisehen Entwurfs in Galizien folgen läßt, gewinnt dieses Leitbild mehr und mehr auch praktische Gestalt. Weitere Bereiche des geltenden Rechts bleiben zwar in einzelgesetzliche, weiterhin zu einem großen Teil der Policey zugerechnete Regelungen gefaßt. Daneben tritt aber die Zusammenfassung vergleichbar ausgedehnter und in der Rechtswirklichkeit vergleichbar relevanter Materien durch in sich geschlossene Gesetzbücher. Sie erfassen vor allem das Zivilrecht und zunehmend das Strafrecht; in Preußen umschließt das ALR auch staatsrechtliche Gegenstände und verschiedene Materien der Policey, etwa im Gesinde- und Nachbarschaftsrecht, und gibt vor allem die berühmte grundsätzliche Beschreibung des "Amtes" der Policey (§ 10 II 17 ALR). Gesetzgebungsgeschichte des späten 18. Jahrhunderts ist so wesentlich Geschichte der - allerdings noch nicht als solche bezeichneten Kodifikation. Von diesem Leitbild und dem ihm zugrundeliegenden Staats-, Rechts- und Gesetzesverständnis her vollzieht sich die Zurückdrängung aus bisheriger Praxis und Lehre der Policey hervorgegangener Einflüsse auf die Gesetzgebungslehre und beginnt die Auflösung des soeben dargestellten Regelungsmodells auch in der Polizeilehre selbst. Für die Polizeitätigkeit selbst setzen sich zwar bis weit in das 19. Jahr10 R. Schulze
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X. Gesetzgebungswissenschaft des späten 18. Jh.
hundert hinein weder eine Beschränkung auf die Abwehr konkreter Gefahren noch eine auf rechtsstaatliehen Grundsätzen beruhende geschlossene neue Begrifflichkeit durch. Der von eigenen Beiträgen der Polizeilehre maßgeblich mitgeprägte Abschnitt der Gesetzgebungsgeschichte wird damit aber bereits verlassen. Es bleiben hier lediglich abschließend einige der Grundzüge des Prozesses der Zurückdrängung und Auflösung polizeilich geprägter Gesetzgebungsiehren und einige der zugrundeliegenden Bedingungen zu überblicken. Dieser Prozeß bereitet sich einerseits innerhalb jenes breiten literarischen Diskussionsfeldes, zu dem sich am Ende des 18. Jahrhunderts die Gesetzgebungswissenschaft ausgeweitet hat, vor (X.), andererseits auch in den Auseinandersetzungen um die wirtschafts- und rechtswissenschaftlichen Grundlagen der Polizeilehre innerhalb der Polizeiliteratur selbst - Auseinandersetzungen, die von den häufig im Rahmen der Gesetzgebungswissenschaft erörterten allgemeinen sozialtheoretischen Fragestellungen nicht unbeeinflußt bleiben können, obgleich sie nicht in gesetzgebungswissenschaftlichen Erörterungen ihren Ausgangspunkt haben müssen (XI.). Ausdruck findet dieser Prozeß in einer Reihe recht unterschiedlicher Ansätze in der Gesetzgebungslehre für die Policey am Ende des 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts (XII.). X. Entwicklungsrichtungen in der Gesetzgebungswissenschaft des späten 18. Jahrhunderts
1. Zum Gegenstandsbereich der spätvernunftrechtlichen Gesetzgebungswissenschaft Die ältere prudentia legislatoria und polizeiliche Gesetzgebungslehre hatten mit ihrem eudämonistischen Verständnis der Funktion der Gesetzgebung bereits den Weg vorgezeichnet, ein weites Spektrum staatstheoretischer und gesellschaftspolitischer Erörterungen über die Wohlordnung der Gesellschaft unmittelbar mit technisch-pragmatischen Fragestellungen hinsichtlich der Gesetzgebung zu verknüpfen. Mit zunehmender Rezeption von Montesquieus Esprit des Lois und im Rahmen der Ausweitung der Gesetzgebungsdiskussion zur politischen öffentlichen Meinungsbildung schlechthin insbesondere unter dem Eindruck der von den Physiokraten aufgeworfenen Fragen1 erlangt die Gesetzgebungslehre nach der Mitte des 18. Jahrhunderts eine noch weiterreichende Bedeutung innerhalb des europäischen Staats- und Rechtsdenkens. In einer Vielzahl von Beiträgen unterschiedlichster Fachvertreter 1 Vgl. dazu J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, (1962), 6. Aufl., 1974, S. 89, 119 ff. sowie sogleich noch XI. 1. c).
1. Gegenstandsbereich
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wird sie geradezu zum zentralen Schauplatz der heftigen zeitgenössischen Diskussion über Staatsfunktionen und Gewaltenteilung, Erziehungssystem und Verbesserung der Moral, Wirtschaftspolitik und Förderung technischen Fortschritts und vieles andere mehr. Ein immer wiederkehrender Gegenstand ist dabei die Wechselwirkung zwischen der Gesetzgebung und den aufklärerischen Idealen der menschlichen (individuellen wie sozialen) Vervollkommnung. Einerseits gilt die Gesetzgebung als entscheidendes Mittel der Verwirklichung aufklärerischer Ziele und der Festigung aufgeklärten Denkens. Andererseits setzt sie in Hinblick auf ihren richtigen Gebrauch und auf ihre praktische Wirksamkeit eine weite Verbreitung der Aufklärung voraus. Aus dieser Sicht stellt sich bereits die Frage nach den Grenzen der Befähigung eines konkreten Zeitalters zur Gesetzgebung- eine Frage, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter neuen politischen Vorzeichen und auf neuen wissenschaftlichen Grundlagen zum Scheidepunkt der Gesetzgebungsdiskussion insgesamt werden soll. Ferdinand von Lamezan etwa kommt hier vom aufklärerischen Denken her zu einer unterschiedlichen Beurteilung für den geeigneten und erforderlichen Zeitpunkt einerseits der "bürgerlichen", andererseits der "politischen" Gesetzgebung: Erst "müssen die Menschen gebessert seyn, ehe wir von einer bürgerlichen Gesezgebung reden dörfen, und die Menschen bessern, kann nur die politische Gesezgebung, wenn sie nach rechten Gründen geleitet ist" 2 • Soweit die Verwirklichung aufklärerischer Ideale an die Gesetzgebung geknüpft bleibt und nach den erreichten Fortschritten der Aufklärung die eudämonistischen Verheißungen sich zuweilen sogar noch ausweiten, wird zunächst auch der "Gesetzgeber" noch weiter hypostatisiert. Er verklärt sich zuweilen zu einem säkularen Heilsbringer, der idealtypisch als jeder sozialen Parteistellung enthoben und nahezu allwissend und omnipotent gedacht wird. "Sein aufgeklärter Verstand erkennet, und sein edles Herz verlanget alles Gute, dessen die Menschheit fähig ist, in dem weitläufigsten Umfange den er sich vorstellen kan ... Er ist zugleich ein Weiser und ein Patriot"." In derartigen idealisierenden Bildern wird das Wesen des Gesetzgebers aber bereits nicht primär von der politischen Stellung des Regenten und deren herkömmlichen religiösen und rechtlichen Legitimationen her betrachtet, sondern wesentlich durch die aufgeklärt-rationale Erkenntnisfähigkeit des "Guten" (bzw. des "Wohles" oder der "Glückseligkeit") für Gemeinwesen und einzelnen bestimmt. Auch wenn die politisch-institutionelle Gesetzgebungsgewalt des Monarchen dabei zu-
Ferdinand von Lamezan, Skizze über die Gesetzgebung, 1781. a Isaak Iselin, Versuch über die Gesetzgebung, 1700, S. 74 f.
2
10*
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X. Gesetzgebungswissenschaft des späten 18. Jh.
meist außer Frage steht\ verlagert sich die Sichtweise weiter dahin, als eigentlichen Gesetzgeber gar nicht den Monarchen, sondern die Vernunft selbst und als deren Ausdruck das aufgeklärte "Räsonnement" der am öffentlichen Leben teilhabenden Bürger insgesamt zu betrachten. In diesem vergeistigten Sinne erscheint der Kreis der an der öffentlichen Meinungsbildung Teilhabenden, regelmäßig zumindest das sich selbst für aufgeklärt erklärende (und sich dabei zugleich von der rohen "Eigensüchtigkeit" des "Pöbels" distanzierende) gebildete und besitzende Bürgertum und der sich in seiner wirtschaftlichen Stellung diesem Bürgertum teilweise annähernde Adel, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bei den Physiokraten und in der Folge in gewandelter Form schließlich bei Kant als das Subjekt der Gesetzgebung5• Die politischinstitutionelle Gesetzgebungsgewalt, die in Deutschland außerhalb der Reichsstädte und abgesehen von der kurzen jakobinischen Zeit in Mainz überall in monarchischer Hand verbleibt, erhält damit über die rein akademische Gesetzgebungswissenschaft hinaus eine breitere (und politisch zumindest zeitweise nachhaltiger wirkungsfähige) geistige Vorgabe im gesamten Meinungsbildungsprozeß des "aufgeklärten" Teiles des Volkes. Die unmittelbare Inanspruchnahme dieser Gesetzgebungsgewalt im Sinne der Lehren von der Volkssouveränität oder der (institutionellen) Gewaltenteilung - bleibt jedoch demgegenüber in der deutschen Gesetzgebungslehre stark im Hintergrund. Obwohl (und in gewisser Hinsicht gerade weil) das Bestreben nach Öffentlichkeit der Gesetzesvorbereitung sich zumeist nicht darin fortsetzt, daß die politisch-institutionelle und staatsrechtliche Gesetzgebungsmacht des Monarchen selbst grundsätzlich in Frage gestellt wird, beginnt sich das wissenschaftliche Interesse mehr von der Willensmacht und Gestaltungstätigkeit des Gesetzgebers hin zu den allgemeinen Charakteristiken des Gesetzes selbst zu verlagern. Erschien soeben bei lselin noch der Gesetzgeber als eine Art säkularer Heilbringer (wenn auch wesentlich nur noch als eine Inkarnation des aufgeklärten, "weisen" und "patriotischen" Denkens insgesamt), so wird schon wenige Jahrzehnte später die Verwirklichung der salus publica in starkem Maße allein von der Einhaltung der Form des Gesetzes bei der Rechtsetzung und von der strikten Beachtung des in dieser Form gesetzten Rechtes erwartet6 • Als sich Johann Heinrich Jung 1789, bald nach VerVgl. sogleich X. 3. s Zur Bedeutung der Vorstellung vom "räsonierenden Bürger" insbes. in der von Kant beeinfiußten Staats1ehre Rolf Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, 1973, S. 168 f.; auch R. Schutze, Statusbindung und Allgemeinheit der Bürgerrechte ... , in: Ditcher, Hoke, Pene Vidari (Hrsg.), Menschenrechte und Bürgen·echte ... , 1981. s Indem für den Begriff des Gesetzes von einer Verbindung mit jeweiligen konkreten Bestimmungen einzelner Staatsziele, Regelungsaufgaben und Ge4
1. Gegenstandsbereich
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öffentlichung seiner "Staats-Policey-Wissenschaft" mit ihrer vom Zwiespalt zwischen den Gestaltungszielen der kameralistisch-polizeilichen Tradition und dem neuerenBemühen um eine Eindämmung absolutistischer Gesetzgebung durchgezogenen "Policey der Gesetzgebung" 7, an ImmanueZ Kant wendet, schließt dieser den Entwurf seiner Antwort nunmehr mit der These: "Salus reipublicae (die Erhaltung der bloßen gesetzlichen Form einer bürgerlichen Gesellschaft) suprema lex est8 ." In den Mittelpunkt der Gesetzes- und auch eines Teiles der Gesetzgebungslehren beginnt in der Folge die Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen der "gesetzlichen Form" bürgerlicher Gesellschaft und damit vor allem einerseits mit der Form des Gesetzes selbst, andererseits mit den Bedingungen der "Herrschaft" dieses Gesetzes im sozialen und politischen Leben zu treten. Wenn die Form des Gesetzes selbst schon als Verbürgerung des öffentlichen Wohls und der individuellen Freiheit erscheint, stellt sich diesem Teil der Lehre zuvörderst die Aufgabe, die allgemeinen Merkmale dieser Form festzustellen und sie als Voraussetzung für jeden Erlaß von Normen, die Gesetzesrang beanspruchen, zu postulieren. Der Gesetzesbegriff wird insofern zwar wiederum durch bestimmte Inhalte materialisiert9 ; es handelt sich aber um allgemeine Anforderungen an jedes Gesetz unabhängig von seinem sozialen Gestaltungszweck. Demgegenüber tritt das (vor allem seit Chr. Wolff stark ausgeprägte) Bemühen zurück, bestimmte Inhalte des Rechts als konkrete, in Natur und Vernunft objektiv und sogar vollständig vorgegebene Anweisungen für Gestaltungen des sozialen Lebens zu ermitteln (und dem Gesetzgeber dadurch einzelne Gestaltungsaufgaben vorzuzeichnen, ihn zugleich aber auch zum unerläßlichen und häufig unmittelbaren Gestalter jeder sozialen Wohlordnung zu überhöhen). setzesinhalte weitgehend abgesehen wird, kann die Lehre vom Gesetz gleichermaßen Abstand gegenüber eudämonistischen, mit den absolutistischen Gestaltungszielen eng verbundenen Gesetzgebungslehren gewinnen wie in Distanz zu den konkreter gefaßten sozial- und rechtspolitischen Zielstellungen zeitgenössischer revolutionärer Lehren verbleiben (vgl. demgegenüber zum Gestaltungsauftrag für die Gesetzgebung bei J. J. Rousseau und im Anschluß an ihn in den jakobinischen Bewegungen des späten 18. und frühen 19. Jh. sogleich X. 2.). Die isolierte Betonung der gesetzlichen Form als Voraussetzung der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft in einem Teil der deutschen Staatslehre gibt insofern auch einem gewissen Rückzug aus der bisherigen exponierten Stellung als einer unmittelbar politisch wirkenden Wissenschaft Ausdruck und verlagert den Ansatzpunkt für die soziapolitische Wirksamkeit der Gesetzes- und der Gesetzgebungswissenschaft auf eine abstraktere Ebene. 7 Zu J. H. Jung (gen. Stilling) noch im weiteren unten XII. 1. s Immanuel Kant, Briefentwurf nach dem 1. 3. 1789, in: Kant's gesammelte Schriften (hrsg. von der König!. Preuß. Akademie der Wissenschaften), 2. Abt. Bd. 2, 2. Aufl. 192'2, Nr. 347 = S. 10; vgl. auch H. Reuter, J. H. Jung gen. Stilling als Staatswirtschaftler, 1930, S. 54. 9 Vor allem durch die Erfordernisse der Allgemeinheit und Festigkeit der Norm; dazu sogleich X. 3.
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X. Gesetzgebungswissenschaft des späten 18. Jh.
Wenn somit der Gesetzesbegriff den politischen Machthaber bei der Fortentwicklung des Rechts an bestimmte Formen bindet, scheint der Gedanke einer "Herrschaft des Gesetzes" auf neue Weise der politischen Macht des Regenten gegenübergestellt werden zu können, um zumindest ihren ungezügelten Gebrauch zugunsten des Schutzes individueller Freiheit einzudämmen. Allerdings zwingt eine derartige "Herrschaft des Gesetzes" nicht nur die Tätigkeit des Staates in bestimmte Bahnen. Indem schon die Erhaltung der gesetzlichen Form als Garant der Freiheit aller in der bürgerlichen Gesellschaft erscheint, auferlegt sie vielmehr unter stärkerer Abstraktion von konkreten Gesetzesinhalten als das ältere Vernunftrecht dem einzelnen die Pflicht zu strenger Gesetzestreue und gibt dem Recht und der Pflicht des Staates zur Durchsetzung der Gesetze gegenüber jedermann einen besonderen Eigenwert. Dies kann insbesondere mit Beginn der Restaurationszeit auch in eine Rechtfertigung weitreichender Beschneidungen individueller Freiheit gewendet werden10• Damit stellt sich schon bald nach dem Wandel des Gesetzesbegriffes unter dem Gedanken des Freiheitsschutzes erneut jenes ältere Problem des Umschiagens von Freiheitsverbürgerungen in die Legitimation freiheitsbeschränkenden und freiheitszerstörenden Staatshandelns, das im späten 18. Jahrhundert schon zur Diskreditierung der Staatslehre Chr. Wolffs beigetragen hatte. Mit dem zunehmenden Verlust der axiomatischen Gewißheit des Vernunftsrechts gewinnt schließlich - insbesondere seit der letzten Dekade des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluß Kants - die Erörterung philosophischer Erkenntnisproblematik innerhalb der Gesetzgebungswissenschaft stärkere Bedeutung. Gesetzgebungslehren können nicht mehr einfach deduktiv aus abstrakt-axiomatisch vorausgesetzten Prinzipien in die Vielfalt der sozialen Wirklichkeit hinein entwickelt werden; und auch die bloße "Relativierung" der Starrheit dieser Deduktion durch eine an den jeweiligen "Verhältnissen" ausgerichtete Empirie11 erscheint nun unzulänglich. Grundsätzlich gilt vielmehr die Objektivität der vorausgesetzten Prinzipien überhaupt aufgrund der subjektiven Bestimmtheit und der Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit - und nicht nur der Diversität der "Anwendungs"-Gegebenheiten 1o Wendet sich der Gedanke der Herrschaft des Gesetzes an der Wende zum 19. Jahrhundert auch gegen das Ausufern und die Unstetigkeit der von der voluntas legislatoris des "absoluten" Herrschers getragenen Policey, so erschließt sich in der Restaurationszeit gerade der Polizei mit der präventiven Tätigkeit in Hinblick auf die umfassende Gewähr öffentlicher "Sicherheit" und "Ruhe" erneut ein weites Betätigungsfeld, auf dem auch die Aufrechterhaltung der vermeintlich allein letztendlich freiheitsverbürgenden Herrschaft des "Gesetzes" die Begründung für vielfältige Beschränkungen der Freiheit liefern muß. Vgl. dazu etwa die Polizeilehre von J. P . HarZ, unten VII. 4. a). 11 s. oben IX. 1. d).
2.
Gesetzgebung und "natürlicher Freiheitsbereich"
151
von Vernunftsätzen- als fragwürdig. Die Aufgabe, ein geschlossenes, zur praktischen Verwirklichung (in jedem oder in einem konkret bestimmten Umfeld) geeignetes "System" der Gesetzgebung zu entwickeln, kann damit erst im zweiten Arbeitsschritt angegangen werden. Vorgängig erforderlich ist es innerhalb einer Gesetzgebungslehre, die sich erst auf Grund ihres "philosophischen" Charakters als wissenschaftlich versteht, sich über die Erkenntnisgesetze bei der Erarbeitung der Kriterien für "Gut" und "Wahr", "Rechtlich" und "Richtig" in der Normgebung Rechenschaft abzulegen12 • Eine wachsende Zahl von gesetzgebungswissenschaftlichen Beiträgen versteht sich schon infolgedessen weniger als unmittelbare Zuarbeit für anstehende Regelungsprojekte oder für die Aufstellung von rechtspolitischen Programmen. Ihr Ziel ist es vielmehr, über die Reftektion der Erkenntnisgesetze zunächst die Gesetze menschlicher Vernunft, die Grundlage jeder Gesetzgebung sein müssen, schärfer zu erfassen und damit auch in ihrer Tragfähigkeit sorgfältiger einzugrenzen. In ihrer praktischen Bedeutung sind diese Gesetzgebungslehren insofern statt eines als wissenschaftliches System vorgetragenen rechtspolitischen Gestaltungsvorschlages eher ein bloßer "Leitfaden" 13, der dem "Gesetzgeber" (im politisch-institutionellen Sinne) Kriterien seines Handeins und der "öffentlichen Meinung" Kriterien der Beurteilung seines Handeins geben soll. 2. Zur Diskussion um Gestaltungsaufgaben staatlicher Gesetzgebung und "natürlichen Freiheitsbereich" des einzelnen In der Auseinandersetzung mit Inhalt, Funktion und Ausmaß der Gesetzgebung am Ende des 18. Jahrhunderts erweist sich nicht mehr das Streben nach einer Ausweitung obrigkeitlicher Gestaltungstätigkeit, sondern das Bemühen um deren zumindest partielle Zurückdrängung als bestimmende Haltung der staats- und rechtswissenschaftliehen Literatur. Einen wesentlichen Ausgangspunkt bildet dabei, wie sich soeben schon andeutete, der Gedanke der natürlichen und bürgerlichen Freiheit (a). Einige Autoren führen ihn bereits zu einer grundsätzlichen Kritik an den theoretischen Grundlagen der vernunftrechtlichen Staatsund Gesetzgebungslehre insgesamt fort (dazu sogleich X. 5). Innerhalb der vernunftrechtlichen Staats- und Gesetzgebungslehre führt die Kritik freiheitsbeschränkender absolutistischer Gesetzgebung aber nicht dazu, Gesetzgebung als Mittel sozialer Ordnung grundsätzlich zu verwerfen. 12
s. dazu im folgenden etwa die Positionen von W. Butte und J. A. Bergk,
XI. 3. b) u. XII. 3. a).
13 Vgl. etwa den bei J. A. Bergk, Theorie der Gesetzgebung, 1802, S. 9 u. S. 16 formulierten Anspruch.
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X. Gesetzgebungswissenschaft des späten 18. Jh.
Ziele, Inhalte und Umfang der Gesetzgebung sollen sich mehr oder weniger weitgehend ändern. Das Spannungsverhältnis zwischen einer von staatlichen Regelungen freien "natürlichen" Entwicklung des bürgerlichen Lebens einerseits und einer (von eben diesen Prinzipien der Natur geforderten) Gestaltung des sozialen Lebens durch staatliche Gesetzgebung andererseits begegnet damit auch in den Zukunftsentwürfen dieser Lehren (b). Nicht weiter nachgegangen werden kann hier allerdings den allgemeineren philosophisch-sozialtheoretischen Grundlagen dieses Spannungsverhältnisses. Sie wären wesentlich einerseits in der älteren Frage zu suchen, inwieweit die natürliche Freiheit durch die "bürgerliche Gesellschaft" beschränkt oder gerade erst durch sie in einer dem geselligen Wesen der Menschen entsprechenden Weise voll entfaltet wird; andererseits in der neu hinzutretenden Frage, inwieweit das Wesen des "Staates" und die Grundlagen seiner Tätigkeit wiederum zu unterscheiden sind (oder gar in Widerspruch stehen) gegenüber der (nunmehr allmählich nicht mehr im traditionellen Verständnis der societas civilis begriffenen) "bürgerlichen Gesellschaft" 14 und den ihr zugrundeliegenden natürlichen Gesetzen. (a) Auf den Freiheitsgedanken hatte sich zwar schon die Gesetzgebungslehre vor und in der Zeit Chr. Wolffs und der unmittelbar an ihn anschließenden Generation (etwa eines Darjes 15) berufen. Die aufklärerisch-vernunftrechtliche Freiheitsidee emanzipiert sich aber nunmehr in weitaus stärkerem Maße von den Hoffnungen und Erwartungen, die für ihre Verwirkl!ichung in den absolutistischen Staat gesetzt worden waren. Kritisch gegenüber der Tradition des eigenen Faches wird in einem Teil der Staatslehre el"kannt, daß die Freiheitsidee während der Expansion polizeilicher Gesetzgebung im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts zuweilen auf eine praktisch nicht mehr wirkungsfähige abstrakte Beschrei!bung des status naturalis hominis beschränkt worden war. Für den status civilis innerhalb der "bürgerlichen Gesellschaft" hatte sie sich dabei in eine Rechtfertigung von Gehorsamspflichten gegenüber dem absolutistischen Staat verkehren lassen, weil dieser allein mit dem "gemeinen Besten" auch das mögliche Maß an Freiheit verwirklichen zu können schien. Demgegenüber soll Freiheit jetzt zwar weiterhin auch durch den Staat geschaffen und gewährleistet werden. Insofern wird jedoch - am folgerichtigsten entwickelt bei Rousseau, in Deutschland nur von einem Teil der Staatslehre und nur abgemildert nachvollzogen - als ihre Voraussetzung das Recht der politischen Teilhabe am Staat und besonders an seiner Gesetzgebung verstanden. Vor allem aber be14 Zum Wandel des Begriffes der bürgerlichen Gesellscllaft Manfred Riedel, Art. Bürgerliche Gesellschaft, in: Brunner, Conze, Kaselleck (Hrsg.), Ge-
schichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 19'75, S. 719 ff. m. zahlr. w. N. 1s s. oben V.
2. Gesetzgebung und "natürlicher Freiheitsbereich"
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deutet Freiheit für die deutsche Staatslehre des ausgehenden 18. Jahrhunderts Freiheit gegenüber dem Staat und damit auch Beschränkung der staatlichen Gesetzgebung zugunsten staatsfreier "Selbstgesetzgebung" der Rechtsbeteiligten. Im einzelnen kann den verschiedenen Ansätzen in der Staatslehre dieser Zeit, Freiheitsgedanken und Staatszweckbestimmung in ein neues Verhältnis zu setzen, hier nicht nachgegangen werden. Die vorherrschende Tendenz läßt sich grob dadurch kennzeichnen, daß Wohlfahrtszweck und eudämonistische Staatsbegründungen zurücktreten, ohne daß aber die Rechtfertigung staatlicher Gewalt selbst durch ihre Notwendigkeit für die Rechtserhaltung in Zweifel gezogen wird. Überwiegend werden auch der Begriff des öffentlichen Wohls oder verwandte Begriffe zur Rechtfertigung und Zielbestimmung staatlicher Tätigkeit weiterverwandt. Sie werden aber ihrer bisherigen, die staatliche Interventionstätigkeit zu Lasten natürliche und bürgerliche Freiheit rechtfertigender Inhalte weitgehend entleert. Insbesondere im Anschluß an Kant gewinnt die salus rei publicae eine neue Bedeutung, wenn sie - wie bereits erwähnt - zwar suprema lex bleibt, aber auf die "Erhaltung der bloßen gesetzlichen Form einer bürgerlichen Gesellschaft" reduziert wird16. Brüchig wird damit auch der bisherige Konsens über die weitreichende Legitimationsfunktion des "gemeinen Besten". Wenngleich dieser Begriff für die Polizeilehre zunächst noch weiterhin zentrale Bedeutung behält, gilt er doch schon im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einem Großteil der Staatslehre und der weiteren Öffentlichkeit als fragwürdige "Zauberthesis" 17 des Absolutismus. Wegen seiner Verwendung bei absolutistischen Eingriffen in den Freiheitsbereich des einzelnen ist er für einen Teil der Lehre als rechtlich unfaßbares, politisch mißbrauchtes "Flickwort" 18 diskreditiert. Er kann nach dieser Ansicht nicht einmal mehr hinlängliche Legitimationswirkung im politischen Alltag entfalten19. s. oben bei Fn. 8. So bei Johann Georg Schlosser, Briefe über die Gesetzgebung, 1789, S. 66. 1s Theodor Gottlieb von Hippel, über Gesetzgebung und Staatenwohl, aus dem Nachlaß hrsg. 1804, S. 100. 19 Ebd ..: Er könne "kaum mehr den gemeinsten Mann in sorgloser Ruhe einwiegen, und ihn über den täglichen Druck beruhigen." S. auch ebd., S. 151: "Man sollte mit dem Ausdruck allgemeines Bestes überhaupt behutsamer verfahren, da er so oft der Tyranney und der Dummheit zu Behelfen dienen mußte." Zu Leben und Persönlichkeit des Körugsberger Bürgermeisters und Polizeidirektors von Hippel (der sich als Kosmopolit und zeitweilig auch als Jakobiner verstand) vgl. jüngst auch die Bemerkungen von R.-R. Wut henow im Nachw. zu: Hippel, über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1793), Neuaufl. 1977, S. 260 f. 16
17
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X. Gesetzgebungswissenschaft des späten 18. Jh.
Zugleich wird der im Vernunftsrecht angelegte individualistische Kern des Freiheitsbegriffs energischer als zuvor von den fortbestehenden Hüllen eines korporativ-ständischen Freiheitsverständnisses20 befreit. Die einzelnen erlangen ihren Freiheitsraum im Verhältnis zueinander und zum "Staat" nicht mehr primär über ihre Zugehörigkeit zu einem jeweiligen Status innerhalb des Ständegefüges, sondern als ihnen eingeborenes Individualrecht. Den Majestätsrechten und dem "gemeinen Wohl" treten damit nicht nur die Rechte und das Wohl verschiedener Korporationen und Kollektivverbände bis hin zur Familie - wie noch bei Justi21 - gegenüber, sondern die Rechte und das Wohl "des Menschen" und "des Bürgers" werden zunehmend als die Rechte und das Wohl des Individuums expliziert. Im Hintergrund dieser neuen, stärker individualistischen und partiell antietatistischen Freiheitsverständnisse kündigt sich der t.lbergang zu frühliberalen Wirtschaftsanschauungen und einem darauf basierenden Sozialmodell an, auch wenn die wirtschaftstheoretischen Grundlagen häufig nur wenig präzise gefaßt sind und die Rezeption der Lehren Adam Smiths' erst zu wirken beginnt. Ansatzpunkte, in denen sich der unmittelbare Einfluß liberaler Wirtschaftsauffassungen auf das Gesetzgebungsdenken dieser Zeit erweist, hat Grawert umrissen22. Eine den natürlichen Prinzipien entsprechende Normgebung bedarf für diejenigen Strömungen in der Staatslehre, die sich teilweise wirtschaftsliberalen Positionen annähern, nur in beschränktem Maße der Gestalt staatlichherrschaftlicher Gesetzgebung; sie muß in breitem Rahmen zur Angelegenheit der einzelnen Rechtsbeteiligten selbst, zur "Selbstgesetzgebung" der Privaten auf der Grundlage von freiem Willen und Vertrag werden, für die staatliche Gesetzgebung vor allem Rahmenbedingungen und Sanktionen zu gewährleisten hat. "Ist nicht selbst zu handeln die Bestimmung aller vernünftiger Wesen ... ?"23 erinnert so von Hippels Schrift "Über Gesetzgebung und Staatenwohl" in ihrem Plädoyer dafür, daß es künftig dem Staatsbürger weitergehend freigestellt sein solle, durch Verträge zu bestimmen, "was jetzt so mühsam an Gesetze gebunden ist"24, und daß es Hauptpflicht der Regierung sei, dem Bürger "für Kopf und Herz einen so weiten Spielraum, als nur möglich ist zu lassen"26. Und schon zuvor meint etwa Isaak Iselin in seiner Schrift über die Gesetzgebung hinsichtlich wirtschaftsrechtlicher Regelungen: "Auch hier müssen die natürliche Freyheit und Billigkeit so wenig als möglich belästigt werden. Es wäre dieses, einen Strom wider 20 Zu d€n Unterschieden "ständischer" und neuerer "bürgerlicher" Freih eit Otto Brunner, Die Freiheitsrechte in der altständischen Gesellschaft, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1968, S. 187 ff.; K. v. Raumer, Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit, in: HZ 183 (1957), S. 55 ff.; Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jh., 1976, S. 260 ff .. 21 s. oben IV. 2. 22 Rolf Grawert, His-torische Entwicklungslinien . . . , in: Der Staat 11 (1972),
S.17 f. 23 Hippel (Fn. 18), S. 105. 24 Ebd., S. 104. 2s Ebd., S. 105.
2. Gesetzgebung und "natürlicher Freiheitsbereich"
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seinen natürlichen Lauf in ein gekünsteltes Beken (!) zwingen wollen ... Es ist aber nichts anderes nöthig als Canäle und Gräben zu machen, die auf allen Seiten das Wasser auf die Wiesen austheilen ...26."
In einigen Bereichen der Rechtsordnung zumindest erscheint ein Zustand erreicht oder doch in die Nähe gerückt, in dem die Verwirklichung der "natürlichen" Prinzipien des rechtlichen Verkehrs, jedenfalls im Verhältnis der einzelnen Bürger zueinander, wesentlich weniger abhängig von staatlich-legislatorischer Kraftentfaltung gegenüber älteren Strukturen und "beschränktem Untertanenverstand" ist als vor der Ausweitung bürgerlicher Formen des Wirtschaftens und der Ausbreitung aufgeklärt-rationalistischen Denkens. Zu einer wesentlichen Aufgabe der Gesetzgebungslehre wird es damit - zumindest dem Anspruch der meisten ihrer Vertreter nach-, staatliche Gesetzgebung entgegen den Versuchungen, denen die Inhaber der Gesetzgebungsgewalt allzu leicht nachgegeben haben, auf diejenigen Notwendigkeiten zu reduzieren, die aus dem jeweiligen Grundentwurf der Sozial- und Rechtsordnung gefordert sind. Große Intensität und Extensität der Normgebung tragen prinzipiell nicht schon die Verheißung in sich, "gute Ordnung" gestaltend herbeizuführen, sondern bringen zumindest in weiten Bereichen des Sozial- und Rechtslebens eher die Gefahr mit sich, die im bürgerlichen Leben von Natur aus angelegte Ordnung zu beeinträchtigen. Für das Recht des Staates zur Gesetzgebung im Verhältnis zur Freiheit des einzelnen tritt infolgedessen gewissermaßen eine wissenschaftliche Beweislastumkehr ein: Gesellschaftsvertragliche Vereinbarung oder andere Gründe können und müssen auch weiterhin Einschränkungen der natürlichen Freiheit im bürgerlichen Leben rechtfertigen. Dies bedarf aber in jedem Fall erst eines sorgfältig zu führenden Beweises. "Die Präsumtion ist für die Freiheit27." Entsprechend verschieben sich auch die Maßstäbe gesetzgebender Klugheit: Gesetzgebung und Gesetzgebungslehre müssen vor allem aufspüren, was ohnehin auf der Grundlage der Freiheit an Entfaltungsmöglichkeiten in der "bürgerlichen Gesellschaft" angelegt ist. In vielen Fällen vollzieht sich die natürliche Entwicklung der Dinge von selbst, und nur in einigen Bereichen muß die Gesetzgebung Entwicklungsbedingungen schaffen oder stützen. Der weniger ausgeweiteten Gesetzgebung gebührt insofern im allgemeinen der Vorzug. Indem sie der Betätigung des einzelnen größeren Raum gibt, bewirkt sie zumeist auch für die "bürgerliche Gesellschaft" insgesamt mehr: " ... wenn mit wenigen (Gesetzen - R. S.) viel ausgerichtet werden kann, warum will man dann viel, und warum sogar mit vielem wenig zu Stande bringen28 ?" 26 21
Iselin (Fn. 3), S. 33.
Hippel (Fn. 18), S. 21.
2s Ebd., S. 189.
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X. Gesetzgebungswissenschaft des späten 18. Jh.
In dieser Fragestellung ist die nunmehr in der Gesetzgebungslehre vorherrschende Empfehlung an die gesetzgebenden Regenten schon vorgezeichnet: "Eure negative Aufmerksamkeit ist bei der Gesetzgebung nöthiger als eine positive29 ." Auch aus dieser Perspektive beginnen sich Zweifel an den herkömmlichen Legitimationen der (alleinigen) Ausübung der politischen Gestaltungsgewalt durch den Monarchen einzustellen. Schon oben hatte sich bei Justi gezeigt, wie das Streben nach "Verbesserung" der Gesetzgebung in die Frage nach dem am ehesten zur Gesetzgebung geeigneten Subjekt überleitete und sich unter dem Einfluß Montesquieus der Forderung nach Gesetzgebungsgewalt für das Volk zu öffnen begann. Auch wenn die Gewaltenteilungslehre in der Folge häufig so umgeformt wird, daß die Einzigkeit der absolutistischen Herrschaftsgewalt30 mit ihr vereinbar zu bleiben scheint, gewinnen in Teilen der deutschen Gesetzgebungslehre Versuche an Raum, unter Berufung auf Rousseau Gesetzgebung, die sich an der natürlichen Freiheit ausrichten soll, wenn schon überwiegend nicht durch die Forderung nach tiefgreifenden politisch-institutionellen Machtverschiebungen, so doch zumindest in ihren theoretischen Begründungen enger an die unverzichtbare Souveränität des Volkes zu binden. Wenn der Monarch, soweit er die Gesetzgebung in der Hand hat, im Rahmen dieser Ansätze als bloßer "Geschäftsträger" des Volkes aufgefaßt wird, werden selbst innerhalb feudaler Begrifflichkeit die Verhältnisse umkehrbar: Das "Volk" erscheint als "Lehnherr" des Monarchen31. b) Trotz der Kritik an freiheitsbeschränkender Reglementierung bleibt eine auch in der Zukunft in der einen oder anderen Weise fortzuführende Gesetzgebung für die vernunftrechtliche Staatslehre des späten 18. Jahrhunderts unerläßliches Instrument innerhalb der Staatskunst und wesentliches Element der Rechtsentwicklung. Denn obgleich nunmehr die freiheitsbeschränkende Wirkung stärker in das Bewußtsein getreten ist, erscheint die Gesetzgebung dennoch ganz überwiegend zugleich als eine Voraussetzung für das Bestehen und die Ausweitung von Freiheit. Diese "freiheitskonstituierende" Wirkung der Gesetze hat insbesondere Montesquieu herausgestellt32. Die vernunftrechtliche deutsche Lehre des späteren 18. Jahrhunderts hält in ihren verschiedenen Strömungen an diesem Ansatz fest (und erneuert ihn sodann insbesondere unter dem Einfluß Kants). Soweit sie den Freiheitsgedanken als Maßstab und Zielbestimmung staatlicher Normgebung darstellt, entwickelt sie ihn dementsprechend keineswegs als Gegensatz zu der im positiven Recht vorrangig auf staatlicher Setzung und Sanktionierung beruhender Gesetzlichkeit schlechthin. Als Gegensatz erscheinen ihr vielmehr überwiegend gerade FreiEbd., S. 113. 30 s. dazu X. 3. d). 31 Hippet (Fn. 18), S. 145. 32 Hierzu Rolf Grawert, Art. Gesetz, in: Brunner, Conze, KoseHeck (Hrs.g.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 1975, S. 899. 29
2. Gesetzgebung und "natürlicher Freiheitsbereich"
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heit und Gesetzlosigkeit. Gesetze rechtfertigen sich regelmäßig durch ihre Funktion für die Freiheit, wie auch immer diese Funktion näher gefaßt und für wie notwendig ihre Eingrenzung erachtet wird. "Praktische" Gesetze beziehen sich beispielsweise für Karl Salomo Zachariä auf das, "was seyn soll" 311 ; und was sein soll, bestimmt er wiederum generell als "die Freiheit"34• Trotz der bereits vorhandenen Ansatzpunkte für ein Zurücktreten der konkreten Gestaltungsaufgaben und Interventionsziele des Gesetzgebers hinter der bloßen "gesetzlichen Form" als Garant bürgerlicher Freiheit erscheint dabei doch verbreitetermaßen am Ende des 18. Jahrhunderts - auch über die Polizeilehre hinaus - noch die Vorstellung von einem ständig tätigen Gesetzgeber mit dem Freiheitsgedanken hinlänglich vereinbar. Zwar wird überwiegend zwischen den Polizei"gesetzen" - der Hauptform der "politischen Gesetze" - und den Zivilgesetzen -den Normen für die Rechtsverhältnisse der Bürger untereinandereine deutliche Trennung vorgenommen: Die Polizeigesetzgebung unterliegt stärkerem Wechsel; ihre Ausgestaltung steht weitergehend im Belieben des Herrschers. Die Zivilgesetzgebung bedarf größerer Festigkeit, weil sie unmittelbar an gleichbleibende innere Gesetzmäßigkeiten des bürgerlichen Lebens gebunden ist. (In gewisser Weise treten auch insofern im Übergang von der älteren societas civilis zur "bürgerlichen Gesellschaft" des 19. Jahrhunderts mit ihrer Ausgliederung des Staates aus der Gesellschaft für das Gesetzgebungsverständnis herrschaftlich-staatlicher und bürgerlich-gesellschaftlicher Bereich - auf der Grundlage der älteren Unterscheidung von Policey und Recht und trotz einer noch höchst unvollkommenen Trennung von "öffentlichem" und "privatem" Recht insgesamt im neueren Verständnis- in zunehmendem Maße auseinander - mit der Konsequenz, daß die sachliche und zeitliche Priorität der Gesetzgebung im Verhältnis beider Bereiche zueinander diskutiert werden muß, wie sich soeben bei Lamezan gezeigt hat.) Dennoch beeinftußt die Vorstellung von dem ständig tätigen Gesetzgeber zunächst auch einen Teil jener reformerischen Vertreter der spätabsolutistischen Staatslehre, die sich- vor allem in der Vorbereitung des preußischen ALR oder unter seinem Eindruck - von dem (im folgenden35 noch näher zu betrachtenden) Regelungsmodell eines möglichst umfassenden Gesetzbuches leiten lassen. Die (von ihnen durchaus erKarl Salomo Zachariä, Die Wissenschaft der Gesetzgebung, 1806, S. 15. Ebd.; Abgeschwächt wird dieser freiheitsgerichtete Gesetzesbegriff bei Zachariä aber schon dadurch, daß er sich unmittelbar und uneingeschränkt nur auf "praktische" Gesetze {d. h. auf das Sozialleben gerichtete nomothetische Aussagen der Philosophie) bezieht. Ihnen stehen die "physischen" Gesetze der Natur gegenüber, und die "Gesetze des R echts" nehmen lediglich eine Zwischenstellung zwischen diesen beiden Formen des Gesetzes ein. 35 X . 4. 33
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strebte und auch nicht nur gegen die Ungewißheit älterer Rechtsaufzeichnungen, sondern auch gegen die Veränderlichkeit der Normen nach Herrscherwillkür gewandte) Sicherheit im Recht durch dessen Beständigkeit rechtfertigt es bei ihnen noch nicht, nach Erlaß des Gesetzbuches seine Anwendung und die Rechtsfortentwicklung auf seiner Grundlage vollständig aus dem Tätigkeitsfeld des Gesetzgebers auszugliedern. Vielmehr wird ein Teil dieser Aufgaben- begründet u. a. mit der Vorstellung, zu große richterliche Handlungsräume führten zu individualfreiheitsbedrohender Willkür36 und zugleich politisch getragen von der Rücksichtnahme auf die Bedenken der absolutistischen Herrscher gegenüber einer Eigenständigkeit der Justiz- insbesondere über das Institut des refere legislatif an den (damit vom theoretischen Ansatz her zu permanenter Tätigkeit bestimmten) Gesetzgeber oder an einer an seiner Stelle handelnde Gesetzeskommission überantwortet37 • Führt so für Vertreter des spätabsolutistisch-reformerischen Flügels der naturrechtliehen Staatslehre die Freiheitsidee keinesfalls zu einer strikten Ablehnung fortdauernder staatlicher Einwirkungsmöglichkeiten über eine sich beständig fortsetzende Gesetzgebung, so begegnet in der radikalen, auf Rousseau zurückgehenden Richtung das grundsätzliche Bemühen um eine freiheitsschonende Einschränkung der Gesetzgebung ebenfalls, wenn auch in ganz anderer Hinsicht, der Notwendigkeit andauernder gesetzgeberischer Steuerung des sozialen Lebens. (Ausdruck in der Gesetzgebungspraxis am Ende des 18. Jahrhunderts findet dies insbesondere in einer Vielzahl jakobinisch inspirierter Legislationsprojekte in Frankreich und Italien.) Angelegt ist diese Entwicklung zum Teil in den Lehren Rousseaus über die "verschiedenen Systeme der Gesetzgebung" und die "Einteilung der Gesetze" im "Contract social"38• Wenn Rousseau hier etwa zwischen der Beziehung der Staatsglieder untereinander, die im Interesse der Unabhängigkeit eines jeden schwach sein müsse, und ihrer Beziehung zum gesamten Staatskörper, die so bindend wie möglich sein müsse, differenziert, zeichnet er bereits vor, daß ein Rückzug der Gesetzgebung aus den (nunmehr primär der Selbstgestaltung zu überlassenden) Beziehungen der Bürger untereinander nicht einherzugehen braucht mit dem Verzicht auf intensive öffentlich-rechtliche Verpflichtung des einzelnen. Schärfer noch kommen bei ihm die unterschiedlichen Funktionen der Gesetzgebung zum Ausdruck, indem er aufzeigt, daß Freiheit sich erst 36 So schon bei J. v. Sonnenfels, Grundsätze der Policey, Handlung und Finanz (1765- 69), 8. Au.fi. 1819-22, T. 7, S. 74: " ... das Reich der Ausleger ist stets das Reich der Willkühr und Fiskalität"; s. auch oben VI. 1. 37 So in preuß. ALR Einl. § 47. 38 Jean Jacques Rousseau, Du contrat social (1762), II. ch.ll, 12 (in: Oeuvres completes (Plejade) III, 1004, S. 391 ff., 393 ff.; dt. übers. Denhardt u . Bahner, 1978.
3. "Allgemeinheit" und "Festigkeit" der Norm
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im Rahmen der Gleichheit verwirklichen kann. Grundsätzlich erscheint Gesetzgebung auch hier nur als bloßer Ausdruck, allenfalls als ein gewisses Korrektiv eines (im Sinne Montesquieus) in den jeweiligen Verhältnissen angelegten und sich aus der "Natur der Dinge" selbst bereits ergebenden Prinzips39 • Diese Funktionsbestimmung der Gesetzgebung wird jedoch insoweit durchbrachen, als es um die Herstellung eines Mindestmaßes gleichheitsverbürgender wirtschaftlich-sozialer Bedingungen geht40 • Rousseau muß hier einräumen, daß "der Lauf der Dinge stets auf der Zerstörung der Gleichheit ausgeht" 41 • Deshalb müsse "gerade die Kraft der Gesetzgebung stets danach trachten, sie (die Gleichheit - R. S.) aufrechtzuerhalten" 42 • Gesetzgebung gewinnt insoweit die Funktion eines sozialen Steuerungsmittels gegen den "Lauf der Dinge" in der bürgerlichen Gesellschaft und zu Lasten bestimmter Formen der Inanspruchnahme von Freiheit.
3. "Allgemeinheit" und "Festigkeit" der Norm als Materialisierung des Gesetzesbegriffes und spätabsolutistisches Verständnis der Gewaltenteilung a) In dem Bestreben, dem staatlichen Regelungsinstrument der Gesetzgebung vom Gesetzesbegriff selbst her innere Bindungen aufzuerlegen, versucht ein Großteil der Lehre, als Voraussetzungen für die Gesetzesqualität der Norm ein Mindestmaß an Gewährleistungen für die Sicherheit und Gleichmäßigkeit des Rechts festzulegen43 • Mit einer Ebd., eh. 11. Für Rousseau ist dabei ein gewisses Maß an wirtschaftlich-sozialer Gleichheit Voraussetzung politischer Freiheit; staatsbürgerliche Gleichheit erfordere, daß "kein Staatsbürger so reich sein darf, um sich einen anderen kaufen zu können, noch so arm, um sich verkaufen zu müssen" (ebd.). 41 Ebd. 42 Ebd. Hinsichtlich der Einwirkungen dieses Ansatzes auf die deutsche Gesetzgebungslehre des späten 1·8. Jh., denen hier nicht weiter nachgegangen werden kann, ist allerdings in Rechnung zu stellen, daß die stärkeren Bezugslinien bei der Begründung sozialer Verantwortlichkeit des Gesetzgebers zur religiös und vernunftrechtlich begründeten sozialen Pflichtenethik in der Pu.fendorf-Wotffschen Tradition führen und sich egalitäre Denkweisen im Anschluß an Rousseau nur in begrenztem Maße ungebrochen dagegen behaupten konnten.- Im übrigen konnten unter den deutschen Verhältnis,sen dieser Zeit aktuelle Praxis der Gesetzgebung und soziale Erfordernisse zuweilen auch als krasser Gegensatz erscheinen, so etwa bei Hippet (Fn. 18), S.102 f.: "Die Noth lehrt beten, und unsere Herren Tagdiebe von Finanziers vermeinen auch, daß sie arbeiten lehre - ; allein sie lehrt auch gewiß Schande und Laster, Mord und Todtschlag . . . Wir helfen den Menschen durch Gesetze, und sollten ihnen zur Arbeit Gelegenheit geben. Sie brauchen Brod, wir geben ihnen einen Stein -; zwar nicht steinerne Gesetzestafeln allein Gesetze, schwerer als Mühlsteine." 43 Grundlegend für diesen Problemkreis Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, dessen umfassende Analyse des Gesetzesbegriffes bei Moser, Pütter, Scheidemantel, Haeberlin und Gönner 39
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derartigen materialen Auffüllung des Gesetzesbegriffes setzt sie sich allerdings in Widerspruch zu Auffassungen, die bislang in der polizeilichen Gesetzgebungslehre vorgeherrscht hatten. Beherrschend für das Gesetzesverständnis der polizeilichen Gesetzgebungswissenschaft war - wie sich oben gezeigt hat - nach der Mitte des 18. Jahrhunderts die Lehre von der Verbindlichkeit der Normen als Herrscherbefehl geblieben, deren Tradition sowohl über Thomasius als über Chr. Wolff auf den voluntaristisch-absolutistischen Gesetzesbegriff von Hobbes zurückführte und zugleich (wenn auch teilweise durch die Regalienlehre eingeschränkt) die Einflüsse der Theorie Badins über die Gesetzgebungsgewalt als Kriterium der Souveränität aufwies. Konstitutiv für den Gesetzescharakter von Normen war damit überwiegend lediglich, daß diese Normen auf eine Verbindlichkeitserklärung der "höchsten Gewalt" im Gemeinwesen zurückzuführen waren und daß sie in Übereinstimmung mit den natürlichen Zweckbestimmungen des Staates und mit sonstigen Naturgeboten standen44. Über das zweitgenannte Kriterium war zwar theoretisch eine gewisse materielle Auffüllung des Gesetzesbegriffes möglich. In diese Richtung hatte insbesondere bereits die Lehre von John Locke gedeutet46, ohne daß aber in der vernunftrechtlichen deutschen Staatsrechtsliteratur - vor allem sofern sie an Chr. Wolff anschloß - während eines großen Teils des 18. Jahrhunderts zunächst die Gewähr eines "Eigenbereiches" des Menschen so weitgehend als Teil des Gesetzesbegriffes entfaltet wurde und ohne daß den aus den Staatszwecken abgeleiteten Gestaltungserfordernissen und Eingriffsbefugnissen des Staates allgemeine "materiale" Kriterien für die Gesetzesform mit derartiger theoretischer Verbindlichkeit entgegengesetzt wurden, wie es nunmehr im Zuge der wachsenden Kritik der absolutistischen Regelungspraxis für notwendig erachtet wird. Für die Kritiker absolutistischen Zugriffs auf den Freiheitsbereich des einzelnen erscheint es nach den Erfahrungen mit der utilitaristischen Inanspruchnahme von Naturrechtspostulaten zugunsten der Bedürfnisse des absolutistischen Staates unzulänglich, ein Korrektiv allein in einer konkreteren Ausformung von Naturrechtsgeboten als Grundlage einer engeren Bindung des jeweiligen materiellen Regelungsgehalts positiv-rechtlicher Normen an die Gesetze der Natur zu suchen. Wenn sich ihre Bemühungen nunmehr eher darauf richten, möglichst allen Gesetzen, unabhängig vom jeweiligen Regelungsstand, gewisse der obrigkeitlichen Disposition entzogene Anforderungen aufzuerlegen, tritt statt des wesentlich vom Herrscherbefehl her geprägten Gesetzesbegriffes eine am Freiheits-, Rechtssicherheits- und (eingeschränkter) am Gleichheitsgedanken ausgerichtete materiale Bestimmung des Gesetzesbegriffes in den Vordergrund. Zentrale Bestandteile dieser Materiali(ebd., S. 55 ff.) es entbehrlich macht, das Gesetzesverständnis einzelner deutscher Staatsrechtsautoren erneut darzustellen, und es erlaubt, die Betrachtung auf einige sich am Beginn des 19. Jh. durchsetzende Ergebnisse der Entwicklung zu konzentrieren. 44 s. oben I. 3.; III. (vgl. noch für Scheidemantel Fn. 56); IX.1. e). 45 Hierzu Grawert (Fn. 32), S. 899 m. w. N.
3. "Allgemeinheit" und "Festigkeit" der Norm
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sierung des Gesetzesbegriffes sind die Gedanken der Festigkeit der Norm und ihrer Allgemeinheit und Abstraktheit. Wesentliche Impulse gibt hierzu, wie schon einleitend46 angesprochen, das Gesetzesverständnis Montesquieus, indem es aus der nature des choses eine in den Dingen selbst begründete Regelmäßigkeit entwickelt. Aus der Lehre Rousseaus setzt sich zwar die Bindung des Gesetzes an den Willen der Rechtsbeteiligten unter dem Gedanken der volonte generale in Deutschland nur beschränkt durch. Die bei Rousseau mit dieser "Integrationsallgemeinheit" verbundene "Subsumtionsallgemeinheit" 47 , die das Gesetz von konkret-individuellen Beschlüssen (actes particulieres) abhebt, kann aber dennoch weitgehend als theoretische Anforderung an den Gesetzesbegriff übernommen werden. Neben dieser Rezeption zeitgenössischer Strömungen aus Frankreich kann auf Elemente älteren Rechtsverständnisses zurückgegriffen werden. Insbesondere die Charakterisierung des Gesetzes als eines "festen", zumindest durch eine gewisse Beständigkeit ausgezeichneten Ordnungselementes kann sich auf den älteren Rechtsgedanken des ius certurn stützen48• Aber auch die Allgemeinheit als Merkmal des Gesetzes findet ihre Bezüge bis hin zur mittelalterlichen Rechtsliteratur49 , auch wenn ihr innerhalb der ständisch gegliederten Gesellschaft nur sehr begrenzte Bedeutung zukommen konnte und sie - wie sich oben gezeigt hat etwa für die in einem großen Teil des 18. Jahrhunderts vorherrschenden Gesetzesbegriffe keine praktisch ausschlaggebende Rolle spielte. Neue Aktivität gewinnt am Ende des 18. Jahrhunderts für die deutsche Staatslehre aber vor allem das bereits fast ein Jahrhundert zuvor in England von Locke entwickelte Gesetzesverständnis50• In ihm begegnen sowohl eine inhaltliche Rückbindung der Normen an den naturrechtliehen Schutzbereich von Leben, Freiheit und Eigentum des einzelnen als auch in formeller Hinsicht eine Verknüpfung mit dem Gedanken der Volkszustimmung51 (deren Rezeption im Vergleich mit der Lehre Rausseaus weniger mit den zeitgenössischen revolutionären Ereignissen in 46 47
48
I. 3.; vgl. auch Grawert (Fn. 32), S. 899. Grawert (Fn. 32), S. 901. Hinweise hierzu u. a. bei Bernhard Diestetkamp, Das Verhältnis von Ge-
setz und Gewohnheitsrecht im 16. Jh., in: Rechtshistorische Studien (Festsehr. Thieme), 1977, S. 30. 49 Vgl. etwa Armin Wolf, Die Gesetzgebung der entstehenden Territorialstaaten, in: Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1, 19'73, S. 518. Zur frühneuzeitlichen Entwicklung auch Heinz Mohnhaupt, Untersuchungen zum Verhältnis von Privileg und Modifikation im 18. und 19. Jahrhundert, in: Ius commune V, s. 71 ff. so John Locke, The Second Treatise of Civil Government., 1690. 51 Hierzu Grawert (Fn. 32), S. 899. 11 R. Schulze
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Frankreich in Verbindung zu setzen ist und die auch in ihrer sachlichen Ausgestaltung offener für Kompromisse mit der monarchischen Souveränität ist). Vor allem wird der Gesetzesbegriff bei Locke schon gegen den dauernden Wechsel der Normen und gegen ihre Beschränkung auf die bloße Regelung einer aktuell-konkreten Gegebenheit gewendet. Das Gesetz erscheint vielmehr "als Gegenteil von arbitrary oder contemporary decrees; es ist eine unverrückbar established, eine standing I constant and lasting ... rule" 52• Die daneben allerdings weiterhin für notwendig erachtete Rechtssetzung anderer Art wird aus dem Bereich der Gesetzgebung verwiesen und als eine (im Unterschied zu bloßem Gesetzesvollzug) eigenständige weitere Art der Regelungstätigkeit aufgefaßt. Festigkeit und Allgemeinheit der Norm werden so am Anfang des 19. Jahrhunderts für den überwiegenden Teil der deutschen Gesetzgebungslehre zu einem Merkmal der Güte der Regelung. Auf der Grundlage eines allerdings von den erkenntnistheoretischen Zweifeln und dem aufkommenden Subjektivismus seiner Zeit noch recht wenig gebrochenen Bezuges zur älteren Vernunftrechtstradition faßt etwa Zachariä diese Sichtweise 1806 in der Erwartung zusammen, daß "schon das Streben nach festen und allgemeinen Grundsätzen ... für die Güte der Gesetze, für den gleichförmigen Gang der Regierung, für die Herrschaft über Zeit und Umstände" 53 bürge. Insbesondere die Allgemeinheitsforderung54 verbleibt hier nicht in der relativen Beliebigkeit einer bloßen Maxime gesetzgeberischen Handelns. Sie tritt vielmehr selbständig und mit gleichem Rang55 neben das Erfordernis einer (vernunftrechtlich begründeten) sachlichen Notwendigkeit des jeweiligen Regelungsgehaltes und wird mit diesem Erfordernis zusammen konstituierendes Element des Gesetzesbegriffes: Gesetze sind "allgemeine Urtheile ..., wodurch ein gewisser Gegenstand als objectiv nothwendig gesetzt 52 So Grawert (Fn. 32), S. 899 unter Bezug auf Lackes Second Treatise of Civil Government (Fn. 50). 53 Zachariä (Fn. 33), Vorr. S. VIII. 54 Zum breiten Spektrum der Bedeutung9IIlöglichkeiten des Allgemeinheitsbegrüfes in den Gesetzeslehren des 18. und 19. Jh. - das etwa die Vorstellung eines "substantiellen" sachlichen Gehaltes ebenso wie die Bezeichnung eines unbestimmten Adressatenkreises umfaßt und dem hier nicht im einzelnen nachgegangen werden kann - sei wiederum auf Böckenförde (Fn. 43), u. a. S. 24 f., verwiesen. ss Vgl. auch Hippel (Fn. 18), S. 197, dem "die größte Würde des Gesetzes in dem Umstand zu liegen scheint, daß es ohne Ansehen der Person sich auf jeden erstreckt ...", sowie ebd., S.161, in ansatzweiser Verbindung von Allgemeinheits- und Volksbeteiligungsgedanken: Der Monarch und seine Justizminister werden es bei Erlaß eines Zivilgesetzbuches "schwerlich vermeiden, sich auf Entscheidungen einzelner Fälle einzulassen, dagegen aber, wenn das Volk Dux, Fax und Tuba ist, mehr zu allgemeinen Grundsätzen sich erheben, als welches die wahre Würde des Gesetzbuchs ist".
3. "Allgemeinheit" und "Festigkeit" der Norm
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wird" 56 ; sie unterscheiden sich gegenüber anderen Arten von Regeln "theils durch die Allgemeinheit, theils durch die objective Nothwendigkeit des Urtheils" 57• Die Allgemeinheit grenzt damit das Gesetz auch innerhalb des Regelungssystems gegenüber dem Urteil über die objektive Notwendigkeit im Einzelfall, das in Gestalt der richterlichen Entscheidung erfolgt, ab5 s. b) Den Bemühungen um eine Materialisierung des Gesetzesbegriffes unter dem Gedanken der Festigkeit der Norm wird in vielen gesetzgebungswissenschaftlichen Beiträgen an der Wende zum 19. Jahrhundert höherer Rang noch gewährt als den Begründungen des Allgemeinheitserfordernisses. Diese Bemühungen gewinnen ihre Bedeutung in der spätabsolutistischen Gesetzgebungslehre zunächst vor allem in dem Spannungsfeld zwischen dem Bild eines zu beständiger Tätigkeit befugten und verpflichteten Gesetzgebers und der vordringenden Erwartung, die Sicherheit im Recht durch umfassende und den Wechsel der geltenden Normen möglichst weitgehend einschränkende Gesetzbücher erhöhen zu können59• Sie zielen damit innerhalb einer weiterhin in breitem Umfang vernunftrechtlich bestimmten Diskussion zumeist nicht etwa darauf ab, auf der Grundlage einer ganz neuen Rechtsquellenlehre eine prinzipielle Selbständigkeit des positiven Rechts gegenüber gesetzgeberischem Zugriff zu begründen. Ihr Schwerpunkt liegt eher darin, die wissenschaftliche Vorarbeit für möglichst ausgereifte und daher in weitestmöglichem Maße abschließende Gesetzbücher zu liefern und so die Bereitschaft des monarchischen Gesetzgebers zur Selbstbeschränkung bei der Veränderung des Normbestandes zu erhöhen. Es wird insofern auf den Gesichtspunkt der Festigkeit der Norm im Zusammenhang mit so Zachariä (Fn. 33), S. 13. - Zum Verhältnis dieses Gesetzesbegriffes zur "positiven Gesetzgebung" als Produkt der "Willkür" vgl. ebd., S. 18. 57 Ebd. Stärker noch wird das Allgemeinheitserfordernis mit der s·a chlichen Notwendigkeit des durch die Norm verfolgten Zweckes etwa in der "Theorie der Gesetzgebung" von J. A. Bergk (Fn. 13), S.14 verknüpft: Das Gesetz wird als notwendige Bedingung von etwa zu Bewirkendem betrachtet. "Was nun aber nothwendig ist, das ist auch allgemein; ein Gesetz gilt also für alle, welche nach Erreichung einer Absicht, wozu dasselbe als Bedingung gedacht wird, streben . .. " Diesem allgemeinen Gesetzesbegriff unterfallen für Bergk auch die juridischen Gesetze, weil sie sich von den Gesetzen des Denkensund Erkennens, der Ethik usw. nicht darin unterscheiden, daß sie durch Notwendigkeit und Allgemeinheit einer Regel bestimmt sind, sondern lediglich in dem durch die Gesetzesform jeweils vermittelten Inhalt und durch eine zusätzliche Freiheit bei der Wahl der "Triebfedern" zum Handeln (vgl. ebd., S. 19, 21). ss Zachariä (Fn. 33), S. 13 f.: Das Richterurteil ist ein Urteil, "das die objective Nothwendigkeit eines Gegenstandes - einer Handlung - aussagt, aber es unterscheidet sich von dem Gesetz dadurch, daß es sich nur auf einen einzelnen Fall bezieht ..." 59 Vgl. hierzu auch Grawert (Fn. 22); Mohnhaupt (Fn. 49) m. w. N. 11*
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der Diskussion um die spätvernunftrechtlichen Gesetzbücher zurückzukommen sein6o. c) An das Allgemeinheitspostulat knüpfen sich eine Reihe weitreichender Konsequenzen für das Verhältnis des Gesetzes und der Gesetzgebung zu anderen Formen von Regelungen und Regelungserlaß am Ende des 18. Jahrhunderts. Hier muß sich die Gesetzgebungslehre vor allem einerseits mit den Regelungsformen des Privilegs und Monopols, andererseits mit der Beziehung zwischen "gesetzgebender" und "ausführender" Gewalt unter den fortbestehenden Bedingungen des Absolutismus (d) auseinandersetzen. Die Forderung nach Allgemeinheit der Gesetze wendet sich zunächst primär gegen die Sonderberechtigungen "unterhalb" der Schwelle der hergebrachten Ständedifferenzierung in Adel, Bürger- und Bauernstand. Auch wenn diese Ordnung grundsätzlich anerkannt wird, sollen doch wenigstens Privileg und Monopol, die Bürger noch von Bürger rechtlich scheiden, zurückgedrängt werden. Privileg und Monopol hatten als Regelungsinstrumente in der Hand des absolutistischen Staates zwar dazu beigetragen, gegenüber zünftigem Konservativismus und adligen Herrschaftsinteressen neuen Formen bürgerlichen Wirtschaftens wie dem Verlagsystem und der Manufaktur Entfaltungsraum zu geben. Der Gebrauch dieser im älteren Verständnis freiheitsgewährenden Rechtsformen wird aber in dem Maße fragwürdig, wie sowohl neuere als auch ältere Formen bürgerlichen Wirtschaftens gerade gegenüber dem absolutistischen Staat als schutzbedürftig begriffen werden61. Freiheit zu bürgerlichem Wirtschaften soll nicht mehr als Sonderrecht in Gestalt von Privileg und Monopol im Einzelfall gewährt, sondern als natürliches Recht jedes Staatsbürgers durch generelle Normen - die lediglich partiell durch Sondernormen eingeschränkt sein können - geschützt werden. Die Freiheit einzelner durch Privileg wird damit als eine Form der Unfreiheit aller begriffen. Auch dies deutet sich bereits in dem erwähnten "Versuch über die Gesetzgebung" Iselins an: "Uebel abgefaßte Handwerks-Gerechtigkeiten, noch unverständigere ausschliessende Freyheiten zu Gunsten der Gewerbe und Manufacturen sind die Pesten der Staaten. Ein Bürger hält dadurch den anderen unter einem Joch das alle drückt62." 6o Sogleich X. 4. 61 Zum Verhältnis von Gesetzen und Privilegien im 18. Jh. vgl. Mohnhaupt
(Fn. 49); zur Verwendung des Privilegs innerhalb polizeilicher Regelungstätigkeit auch R. Schulze, Die Polizeigesetzgebung ... , 1978, S. 73 ff. sowie oben VIII. 1., IX. 1. b). s2 Iselin (Fn. 3), S . 31 f.
3. "Allgemeinheit" und "Festigkeit" der Norm
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Für die Gesamtstruktur der Rechtsordnung findet der Gedanke des allgemeinen Gesetzes über die Schranken der ständischen Zerklüftung der Gesellschaft in die großen Rechts- und Sozialgruppen hinausgreifend nur allmählich die erforderlichen weiteren rechtsbegrifflichen Voraussetzungen. In der deutschen Gesetzgebungsliteratur des späten 18. Jahrhunderts bleibt es zumeist bei dem Bemühen, in der gesetzlichen Fassung (und Begrenzung) der ständischen Ungleichheit sowohl Freiräume für übergreifende Normen in einigen Teilbereichen zu sichern, als auch Anknüpfungspunkte wenigstens für eine Generalisierung innerhalb der einzelnen Gruppen der Ständestruktur zu fixieren63 • Nur zögernd gewinnen hier als Voraussetzungen einer weiterreichenden Durchführung des Allgemeinheitsgedankens in privatrechtlicher Hinsicht die "allgemeine Rechtsfähigkeit" 64, in staatsrechtlicher Hinsicht ein als allgemein verstandener Staatsbürgerstatus65 Konturen. d) Die Materialisierung des Gesetzesbegriffes vom Allgerneinheitserfordernis her macht die Unterscheidung zwischen der Gesetzgebung und sonstiger staatlicher Regelungstätigkeit notwendig. Sie überschneidet sich damit mit der Frage, ob und wie verschiedene "Gewalten" innerhalb des Staates zu unterscheiden sind66 • Die staatstheoretischen Ausgangspunkte derartiger Unterscheidungen waren durch Bodin und Hobbes auf der einen und Grotius und Putendorf auf der anderen Seite in recht verschiedenartiger Weise abgesteckt67. Auch wenn insbesondere in der Tradition der beiden erstgenannten Staatslehrer die Gewaltengliederungsproblematik auf den modus gubernandi (im Unterschied zur forma status) beschränkt und damit die ausschließliche Innehabung der Souveränität durch den Monarchen unberührt gelassen wurde, konnten sich im 18. Jahrhundert verschiedenste institutionelle und funktionale Differenzierungen von den axiomatischen Staatszweckbestimmungen der Vernunftrechtslehre her entwickeln. Anknüpfungsmöglichkeiten ergaben sich schon aus der älteren Aufspaltung der fürstlichen Befugnisse nach Hoheitsrechten, aus der Verschiedenartigkeit der an der Herrschaftsausübung in der ständisch-feudalen Gesellschaft beteiligten politischen Kräfte (auch wenn diese Kräfte inzwischen im Absolutismus aus einer eigenständigen Herrschaftsteilhabe an der Zentralgewalt selbst erheblich zurückgedrängt waren) oder es So etwa bei Schlosser (Fn. 17) unter dem Gedanken der - vor die Einzelregelungen des Gesetzbuches zu ziehenden - Bestimmung des jeweiligen "gesetzmäßigen standes". M Hierzu Hermann Conrad, Individuum und Gemeinschaft in der Privatrechtsordnung des 18. und beginnenden 19. Jh., 1956; F. Fabricius, Relativität der Rechtsfähigkeit, 1963. 65 Zur Entwicklung des Staatsbürgerbegriffes Michael Stolleis, Untertan Bürger - Staatsbürger, 1982; zum Staatsbürgerstatus im Frühkonstitutionalismus auch Schulze (Fn. 5). 66 Grundlegend hierzu Böckenförde (Fn. 43), insbes. S. 55 ff.; s. auch oben III. 3. b), 5.; VIII. 2. 67 Vgl. hierzu und zum folgenden Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1979, S. 183 ff.; Grawert (Fn. 32), S. 879 ff., 899 ff.; sowie oben I. 3., II., III. 5.
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aus den (teilweise aus ständischen Institutionen erwachsenen) Gliederungen der territorialstaatlichen Verwaltung im 18. Jahrhundert. Am Ende des 18. Jahrhunderts werden derartige im Rahmen vorabsolutistischen und absolutistischen Staatsdenkens bereits erörterte Differenzierungen auch in Deutschland unter dem Einfluß von Locke, Montesquieu und Rousseau weitgehend unter dem Gesichtspunkt des Schutzes von Freiheitsbereichen des einzeLnen gegen fürstlich-staatlichen Zugriff betrachtet. Die Frage nach der Gliederung der "Gewalten" im Staat und ihrem Verhältnis zueinander hat damit einen den Beteiligten bewußten antiabsolutistischen Grundzug im Zusammenhang der Diskussion um den Bereich natürlicher Freiheitsrechte des einzelnen erhalten. Sie stellt den (großen) Teil der vernunftrechtlichen Staatslehre, der am Bündnis zwischen Staatswissenschaft und (erhofftermaßen) "aufgeklärtem" Absolutismus festhält, vor die Schwierigkeit, eben jenes nunmehr weithin wissenschaftlich als Vernunftgebot anerkannte Erfordernis, die "Gewalten" im Staat im Interesse freiheitsschonenderer und gleichmäßigerer Herrschaftsausübung zu ,.teilen", mit einer uneingeschränkten Bewahrung der monarchischen Gewalt auf der Grundlage der absolutistischen Souveränitätslehre in Einklang zu halten. Sowenig diese Problematik hier für die Gewaltengliederungsdiskussion im Spätabsolutismus insgesamt verfolgt werden kann, so bleibt doch zumindest kurz - beschränkt unter der Perspektive der Auswirkungen für die Einordnung polizeilicher Normgebung - in den Blick zu nehmen, wie dabei das Verhältnis von Gesetzgebung und weiterer Regelungstätigkeit angesichts des Allgemeinheitserfordernisses für den Gesetzesbegriff zu lösen versucht wurde. Im wesentlichen geht es dabei um die Frage, inwieweit derartige weitere Regelungstätigkeit abhängig von der Gesetzgebung gedacht und in letzter Konsequenz als deren bloße Anwendung aufgefaßt werden muß oder inwieweit in ihr eigenständige Regelungsformen neben der Gesetzgebung bestehen können. Von dem letztgenannten Ausgangspunkt her ist es schon im theoretischen Ansatz - abgesehen ohnehin von den Problemen einer Anerkennung durch die Staatspraxis - nicht beabsichtigt, eine vom materialisierten Gesetzesbegriff getragene Gesetzgebung auf alle Gebiete der Rechtsordnung auszudehnen. Diese Auffassung resultiert teils aus der älteren, am Ende des 18. Jahrhunderts aber noch fortwirkenden Regalienlehre, nach der sich das Gesetzgebungsregal vor allem auf das Strafund Zivilrecht erstreckt, insbesondere die polizeiliche Regelungstätigkeit aber einem eigenständigen Polizeiregal zugeordnet wird68. Unter den Staatstheoretikern der neueren Philosophie bietet ihr vor allem Locke eine Grundlage, weil bei ihm die Materialisierung des Gesetzesbegriffes einhergeht mit der Sonderung eines selbständigen weiteren Bereichs der Rechtsetzung69 : Neben der Gesetzgebung steht bei ihm nicht nur die Regelungstätigkeit in Ausführung der Gesetze, sondern auch das "Ver68 Oben III. 5. 69 s. soeben bei Fn. 52.
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der Norm
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ordnungsrecht" 70 mit selbständigem Charakter. - Aus dieser Sicht kann eine Polizeiregelungstätigkeit mit fluktuierenden und allenfalls partiell allgemein gefaßten Normen grundsätzlich als eine Form staatlicher Rechtsetzung hingenommen werden. Sie rückt aber aus dem eigentlichen Gegenstandsbereich einer Gesetzgebungslehre heraus und kann von dieser allenfalls noch unter Modifikation der prinzipiell in dieser zugrundegelegten Kriterien als atypisches Randgebiet betrachtet werden. Mit Rücksicht auf die geringere Gewähr der natürlichen Rechte des einzelnen bei dieser Form der Rechtsetzung muß allerdings darauf Bedacht genommen werden, einerseits ihren Wirkungsbereich in engen Grenzen zu halten, andererseits auch in diesen Rahmen wenigstens so weit als eben möglich mit dem Gesetzesbegriff verbundene Gütemerkmale der Normgebung hineinzutragen. Von dem anderen Ausgangspunkt her wird zumindest im theoretischen Ansatz versucht, die verschiedenen Gebiete der Regelungstätigkeit in den Wirkungsbereich des Allgemeinheitserfordernisses einzubeziehen. Von Montesquieu übernommen wird dabei die Aufteilung der Staatsfunktion in Legislative und Exekutive (die Judikative wird zumeist der letzteren zugerechnet); die Funktion der Legislative wird als Aufstellung allgemeiner Normen, die Funktion der Exekutive als Regelungstätigkeit im sachlich-persönlich engeren Bereich (im "Detail" 71) beschrieben. Die Aufspaltung der Staatstätigkeit in unterschiedliche Funktionsbereiche darf aber auf keinen Fall die für die Souveränität unerläßliche Einzigkeit der Staatsgewalt - gewährleistet in der Person des Monarchen sprengen. Da seit Hobbes und Bodin die Funktion des Souveräns primär als Gesetzgeber definiert ist72 (im Unterschied zur "rechtsgebundenen" Stellung des spätmittelalterlichen Herrschers als Gerichtsherr), muß sich für die in dieser Tradition stehende spätabsolutistische Staatslehre weiterhin alle andere Regelungstätigkeit der Gesetzgebung subordinieren. Die Wahrnehmung der exekutiven (einschließlich der judikativen) Funktion ist damit in enger Abhängigkeit von der Legislative zu halten; für eine weitere, von der Legislative unabhängige Regelungstätigkeit ist prinzipiell kein Platz. Gewissermaßen spiegelbildlich zu Rausseaus Unterordnung der exekutiven und richterlichen Gewalt unter die 70 Vgl. Grawert (Fn. 32), S. 899. Grawert hebt hervor, daß auf dieser Grundlage Polizeinormen und "Gesetzesnormen" funktionell weitgehend unverbunden nebeneinanderstehen können (vgl. auch ebd., S. 893), geht aber weniger auf die Bestrebungen zu einer Annäherung der Lehre von den Polizeinormen an die allgemeinen Gesetzeslehren und zur Integration der Policey in allgemeine Gesetzgebungstheorien ein (vgl. dazu für den Beginn des 19. Jh. noch unten XII., insbes. für Berg und Harl). 71 So bei Theodor A. H. Schmalz, Encyclopädie der Cameralwissenschaften, 1797, s. 29. 12 s. oben I. 3., II.
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Legislative auf der Grundlage des Prinzips der Volkssouveränität wird so im Rahmen spätabsolutistischer Staatslehre die Konzeption verfolgt, begrifflich unterschiedene "Gewalten" in die letztlich allein maßgebliche Regelungsgewalt des Herrschers auf der Grundlage der monarchischen Souveränität einzupassen. In erster Linie richtet sich diese Konzeption gegen eine Verselbständigung der Justiz im Verhältnis zur absolutistischen Staatsgewalt, und nur insoweit wird sie konsequent durchgeführt. Durch Auslegung und richterliche Rechtsfortbildung soll nicht die voluntas legislatoris des Souveräns relativiert oder gar unterlaufen werden73 • Dies scheint sich im Hinblick auf den gleichmäßigen Schutz der Rechtsbeteiligten insgesamt gerade daraus zu rechtfertigen, daß die Aufstellung allgemeiner Normen Angelegenheit der Legislative ist. Eine ihr entzogene Regelungstätigkeit entbehrt dieses Vorzuges und verbürgt damit die sich aus der Materialisierung des Gesetzesbegriffes ergebenden Schutzwirkungen für den einzelnen nicht. Willkür scheint insofern nicht von seiten des monarchischen Gesetzgebers, der immerhin (theoretisch) stets an das Allgemeinheitspostulat zu binden ist, sondern eher von jeder sich ihm entziehenden richterlichen Tätigkeit zu drohen74• Bei folgerichtiger Durchführung dieses Ansatzes müßte Entsprechendes auch von jeder "verwaltenden" Tätigkeit gelten. Für diesen Bereich - im wesentlichen also für die Policey - wird auch in der Tat von Vertretern dieses Ansatzes die Staatstätigkeit ebenfalls in die Aufstellung allgemeiner Normen durch die Legislative und in Maßnahmen für Einzelfälle bzw. einzelne Personen durch die Exekutive aufgespalten, und es werden prinzipiell allgemeine Gesetze als Grundlage des Staatshandeins angesehen75. Die nähere Bestimmung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen legislativer und exekutiver Funktion bleibt jedoch regelmäßig für die polizeiliche Tätigkeit zunächst noch unscharf. Insofern scheint sich zu bestätigen, daß zentrales Anliegen dieser Lehre nicht so sehr die Einbindung des Staatshandeins in allgemeine Gesetze wie die Gewährleistung der unbedingten Durchsetzbarkeit des Willens des die 73 Das Bestreben, die voluntas Iegislatoris des souveränen Herrschers unbedingt und ohne jedwede Veränderungen, die aus einer nicht unmittelbar auf die voluntas Iegislatoris zurückführbaren, auf eigenverantwortlichen Entscheidungsfreiräumen der Justiz beruhenden Rechtsprechung hervorgehen könnten, zur Geltung zu bringen, kann auf eine längere Tradition zurückblicken. Zu ihr gehören Kommentations-verbote und der Gedanke der authentischen Interpretation ebenso wie das Bestreben um eine gesetzgeberische Regelung bis in das Detail, wie es verschiedentlich etwa im preußischen ALR zum Ausdruck kommt, und auch der bereits erwähnte refere Iegislatif (Fn. 32); vgl. hierzu etwa Josef Lukas, Zur Lehre vom Willen des Gesetzgebers, in: Festg. Laband, 1908, S. 397 ff.; Hermann Conrad, Richter und Gesetz im Übergang vom Absolutismus zum Verfassungsstaat, 1971, insbes. S. 8 ff., und Heim: Mohnhaupt, Potestas legislatoris und Gesetzesbegriff im Ancien Regime, in: Ius commune IV (1972), S. 220 f. 74 s. oben Fn. 36. 75 So in dem sogleich noch näher zu umreißenden Zusammenhang etwa bei Th. A. H. Schmalz (bei Fn. 76 ff. und unten XII. 2. b).
3. "Allgemeinheit" und "Festigkeit" der Norm
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Staatsgewalt zusammenfassenden Souveräns ist. In dem Bereich der Policey ist "diese Durchsetzbarkeit aufgrund seiner Verwaltungsstrukturen ohnehin in höherem Maße gewährleistet als in der Justiz; hingegen würde sich in ihm ein konsequenter Versuch der Unterordnung der Einzelregelungen unter allgemeine Normen noch schärfer an ständischer Struktur und absolutistischer Privilegierungspraxis brechen als hinsichtlich der Anwendung des "Rechts" im Verhältnis der "Bürger untereinander" oder im Kriminalverfahren. Der Weg einer konsequenten Bindung der "exekutiven" Funktion des monarchischen Staates an seine "legislative Gewalt" bleibt in der Policey also sowohl vom absolutistischen Standpunkt her weniger erforderlich als auch schwerer gangbar. Zu dem Gedanken einer strengen Gesetzesbindung stößt die Staatslehre hier am Ende des 18. Jahrhunderts jedenfalls noch nicht vor, so unverkennbar es dafür auch einen Ansatz bildet, daß die begriffliche Unterscheidung zwischen legislativer und exekutiver Funktion in allgemeiner, über den Bereich der "Justizhoheit" hinausreichender Weise formuliert wird. Zu den wichtigsten Vertretern dieser Richtung in der spätabsolutistischen deutschen Staatslehre gehört Theodor Anton H. Schmalz, der hier beispielhaft für einen größeren Kreis von Staatsrechtslehrern gerade in Preußen stehen kann (zumal er sich in besonderem Maße mit den Kameralwissenschaften befaßt hat). Bei ihm führt die Anpassung der Gewaltenteilungslehre an die Verhältnisse des spätabsolutistischen Staates zu einer bloß funktionalen Unterscheidung von "inspektiver Gewalt" (Recht der Oberaufsicht des Staates), legislativer Gewalt und exekutiver Gewalt. Die richterliche Gewalt ordnet sich der exekutiven zu; sie ist "Anwendung des Gesetzes, also ein Theil der executiven Gewalt"76. Entscheidend für Schmalz ist, daß allein die gesetzgebende Gewalt "souverain, das ist, unabhängig"77 und daß die richterliche Gewalt in gleicher Weise wie andere Teile der Exekutive von dieser souveränen Legislative abhängig ist. Entsprechend der Aufteilung der höchsten Gewalt hinsichtlich der Justizhoheit in die "justizgesetzgebende" und die richterliche Gewalt78 unterscheidet Schmalz bei der Polizeihoheit die "polizeygesetzgebende Gewalt" und die "Polizey-Administration"7D. Eine genauere Beschreibung des theoretischen Modells, in dessen Rahmen ihm die Abhängigkeit der exekutiven von der legislativen Gewalt gewahrt erscheint, gibt er primär in Hinblick auf die Aufgaben im justiziellen Bereich. In diesem Zusammenhang vertritt er einen reinen Gesetzesanwendungs-Automatismus: Die "exekutive" - hier also vor allem die judikative - Gewalt verfahre durch Syllogismen. "Die gesetzgebende Gewalt hat im Gesetze den Obersatz des Syllogismus gegeben, die inspektive Gewalt findet durch die Untersuchung den Untersatz, und die exekutive Gewalt leitet aus beiden auch ihre Konklusion her ...80." Die Regelungstätigkeit außerhalb der Gesetzgebung ist damit zumindest in Gestalt der Rechtsprechung auf eine Umsetzung der Willensäußerung des gesetzgebenden Souveräns reduziert; die Einzelfallentscheidung erscheint rechtlich im Gesetz determiniert8t. 76 Schmalz (Fn. 71), S. 26. n Ebd. 1s Ebd., S. 26. 79 Ebd., S. 29. 80 Th . Schmatz, Ueber die exekutive Gewalt, in: ders., Kleine Schriften über Recht und Staat, 1805, S. 30 ff. (45). 81 Bei der Entscheidung von EinzeUäHen durch den Regenten und seine Verwaltung läßt sich von d-iesem Ansatz her der Angerneinheitsgedanke theoretisch zwar auch zur Voraussetzung des unmittelbaren Handeins des
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4. Der Kodifikationsgedanke Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ziehen die Arbeiten an umfassenden Gesetzbüchern, die sich zumeist in erster Linie auf privatrechtliche Materien erstrecken, zunehmend die Aufmerksamkeit gesetzgebungswissenschaftlicher Studien und auch der breiteren öffentlichen Diskussion um Fragen der Gesetzgebung auf sich. Das Gesetzbuch scheint im Unterschied zu der bloßen wissenschaftlichen oder gewohnheitsrechtliehen Überlieferung und Fortentwicklung der Normen, aber auch zu ihrer einzelgesetzlichen Abfassung die größere Klarheit und Festigkeit des geltenden Rechts zu verbürgen und zugleich auch durch eine je nach politischen und sozialen Verhältnissen so weit wie möglich reichende abstrakt-allgemeine Festlegung der Tatbestände den Kreis privilegierter Rechtsstellungen zumindest einzugrenzen und "willkürliche" Weiterentwicklung der Rechtsstellungen einzudämmen. Die Materialisierung des Gesetzesbegriffes von den Gedanken der Festigkeit und der Allgemeinheit der Norm verknüpft sich daher weitaus mehr mit den Vorhaben zur Erstellung umfassender Gesetzbücher als mit dem Erlaß einzelgesetzlicher Regelungen. Diese Zuwendung eines großen Teiles der Gesetzgebungslehre zum Leitbild des zumindest die privatrechtlichen Materien, zuweilen aber auch weitere Gegenstände möglichst umfassend enthaltenen Gesetzbuches mündet u. a. in den Erlaß des preußischen ALR von 1794 und des Österreichischen ABGB von 1811 ein, bereitet aber auch der Diskussion um die Rezeption in Frankreich erstellter Codes82 während der napoleonischen Hegemonie in einigen deutschen Staaten den Boden. Eine auch nur umrißhafte Darstellung der staats-, sozial- und wirtschaftstheoretischen Vorstellungen und der gesetzgebungsgeschichtlichen Traditionen, die sich mit diesen Gesetzgebungsvorhaben jeweils verbanden, sowie der gesetzgebungswissenschaftlkhen Diskussionen, die sich um das ihnen zugrundeliegende Regelungsmodell oder um einzelne Regenten selbst machen. Ein Eigenbereich der nicht legislativen Staatsfunktion(en) gegenüber dem gesetzgebenden Regenten läßt sich aber nicht begründen, denn dieser faßt ja als Souverän d:ie Staatsgewalt insgesamt zusammen. Die am Ende des 18. Jahrhunderts viel erörterte Machtspruchsproblematik ist insofern aus dieser Sicht nicht von der Gewaltenteilung her zu lösen (jedenfalls, wenn der Regent seine durch Intervention in den Gang der Justiz getroffene Sachentscheidung auf [allgemeine] Gesetze zu stützen behauptete), sondern erscheint allein als eine Frage der sachgerechten Handhabung der Staatsgewalt entsprechend der "Natur" des Rechts: Daß der Regent im Einzelfall nicht in den Lauf der Justiz eingreifen darf, "das liegt nicht in der Natur der richterlichen Gewalt, sondern in der Natur des Gegenstandes, des Rechts nämlich, dessen Sicherheit der Zweck des Staates ist, also genau geprüft und genau entschieden werden muß" (Schmalz [Fn. 71] , S. 27). s2 Code civil von 1804; Code de commerce 1806; Code de procedure civile 1807; Code penal1810.
4. Der Kodifikationsgedanke
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Projekte ranken, kann im Rahmen des hier zu behandelnden Gegenstandes nicht erstrebt werden. Sie erscheint auch angesichts der bereits vorliegenden Arbeiten, die sowohl Einzelfragen nachgehen wie Gesamtüberblicke über Theorie und Praxis dieser Gesetzgebungsvorhaben geben und aus denen eine Auswahl eingangs83 bereits angeführt wurde, nicht erforderlich, zumal auch die Linien der gesetzgebungswissenschaftlichen Tradition, die durch das 18. Jahrhundert hindurch zu diesen Gesetzgebungsvorhaben und in ihrem theoretischen Umfeld besonders zu Johann Friedrich Reitemeier hinführen, durch Dilchers Beitrag84 schon nachgezeichnet wurden. Mit Blick auf das Verhältnis der gesetzgebungswissenschaftlichen Leitbilder bei den Arbeiten an den spätvernunftrechtlichen Gesetzbüchern zum Regelungsmodell der polizeilichen Gesetzgebungslehre bleiben hier nur einige wenige Gesichtspunkte kurz herauszuheben. Im zeitlichen Verhältnis ist zunächst in Rechnung zu stellen, daß eine massive Zuwendung der Gesetzgebungswissenschaft zum Leitbild des Gesetzbuches erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, befördert vor allem durch den Fortgang oder die Wiederaufnahme der Gesetzgebungsvorhaben in Preußen und Österreich, zu verzeichnen ist. Traditionslinien des Gedankens des umfassenden Gesetzbuches - insbesondere in Hinblick auf die Festlegung der privatrechtliehen Normen - lassen sich zwar in der Rechtslehre zumindest bis hin zu Leibniz zurückverfolgen. Es ist hier auch zu erinnern, daß oben bereits bei Julius von Rohr85 Erörterungen über die Möglichkeit umfassender Bereinigung des Norm·bestandes begegneten. In der Praxis der Rechtsetzung zeigen sich wohl noch darüber hinaus mancherlei Übergänge zwischen Landrechten und Landrechtsentwürfen der vorvernunftrechtlichen und vor- oder frühabsolutistischen Tradition und den Ansätzen zur Erarbeitung von Gesetzbüchern im Verlaufe des 18. Jahrhunderts bis hin zu den Coccejischen Entwürfen86 und den Maximil'ianeischen Codici87• Ein annähernd 83 s.o. I. 2. Zusammenfassend vgl. insbes. Franz Wieacker, Privatrechtsgescll.ichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 322 ff. 84 Gesetzgebungswissenschaft und Naturrecht, JZ 1969, S. 1 ff. 85 s.o. III. 3. d). - Auch etwa J. P. von Ludewig, Die von Sr. König!. Majestät ... neu angerichtete Profession ... , 1727, S. 719., erörterte in seiner aus Anlaß der Einrichtung der Kameralprofessur in Halle- und dreizehn Jahre nach dem ersten (gescheiterten) Anlauf zu einem umfassenden Gesetzbuch in Preußen - verfaßten Schrift die Frage eines umfassenden Rechtsbuchs (und sprach sich für eine längerfristige Vorbereitung aus; zunächst erschien ihm die Sammlung der Edikte in Kriegs- und Polizeisachen in einem Gesetzbuch ratsam, "welches ... wohl einem Codici Iustinianeo gleichen, auch noch die Zahl von dessen Novellis wohl vielmahls übertreffen möchte"). 86 In der Folge der preußischen Cabinetsordre vom 30. 12. 1746; vgl. Wieacker (Fn. 83), S. 328 f. m. w. N. 87 Codex juris Bavarici criminalis 1751; Codex juris Bavarici judicialis
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X. Gesetzgebungswissenschaft des späten 18. Jh.
vergleichbares wissenschaftliches Interesse wie die Vorhaben im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts haben aber frühere Gesetzgebungen, selbst die Maximilianeiscllen Codid in Bayern, nicht hervorrufen können. Oft beschränken sich die Erörterungen auf das konkrete einzelne Vorhaben. Wenn sie unter dem Eindruck eines solchen Vorhabens - wie etwa Jakob Friedrich von Bielefelds "Staatskunst" 88 in der Folge des von Cocceji verfolgten Projekts- zu territorialstaatlich übergreifenden allgemeineren Erwägungen hinführen, begründen sie wohl keinen größeren und kontinuierlicheren Diskussionszusammenhang, als er zumindest im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts für die Erörterung von Fragen der einzelgesetzlichen Regelungstätigkeit im Rahmen der Policey zu verzeichnen ist. Eine beherrschende Stellung innerhalb gesetzgebungswissenschaftlicher Erörterungen dieser Zeit (bis hin zu den Kontroversen um die Vorschläge der Physiokraten für eine Verbesserung der Gesetzgebung) jedenfalls wird man dem Gedanken des Gesetzbuches im Vergleich mit der Aufmerksamkeit, die der Systematisierung und Fortentwicklung einzelgesetzli-cher Regelungstätigkeit gewidmet wurde, kaum zumessen können. Bei der Einordnung der einzelnen spätvernunftrechtlichen Gesetzbücher in den Rahmen übergreifender gesetzgebungsgeschichtlicher Entwicklungen ist zudem zu bedenken, daß der Begriff und eine geschlossene theoretische Konzeption der Kodifikation sich erst an der Wende zum 19. Jahrhundert und in dessen ersten Jahrzehnten, vor allem unter dem Eindruck der Arbeiten von Jeremy Bentham, voll herausbilden89 • Nur als Kennzeichnung fortschreitender Annäherung an ein theoretisch noch nicht voll entfaltetes (und in der Praxis noch weniger erreichtes) Ideal der Gesetzgebung kann daher insbesondere hinsichtlich der preußischen ALR von einer Kodifikation gesprochen werden. Einschränkungen werden nicht nur erfordert durch die in diesem Gesetzbuch noch zugrundegelegte Rangfolge der Rechtsquellen - mit der Folge einer Subsidiarität der "Kodifikation" gegenüber dem partikularen Recht89 a, die allerdings in der Praxis nur beschränkt wirksam geworden ist. Wichtiger noch ist in dem hier betrachteten Zusammenhang, daß die "Kodifikation" des Rechts noch nicllt dazu führt, daß der Gesetzgeber hinter seinem einmal geschaffenen Werk zurücktreten kann - daß also die Entwicklung hier noch keineswegs unmittelbar vor jenem Umschlag 1753; Codex Maximilianeus Bevaricus 1756. Die Gesetzbücher sind vor allem das Werk von Wiguläus Aloysius Frh. von Kreittmayr. as J. F. Baron von Bielefeld, Lehrbegriff der Staatskunst (zunächst franz. 1760), dt. 2 Bde. 1761. su Vgl. J. Lukas, B enthams Einfluß auf die Geschlossenheit de r Kodifikation, in: AöR 26 (1910), S. 67 ff. ; P. Caroni, Art. Kodifikation, in: HRG II. Bd., 1978, Sp. 907. sua ALR Einl. § 21.
5. Zuwendung zum historischen Rechtsstoff
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von einem umfassenden naturrechtliehen Gestaltungsauftrag an die Gesetzgebung zu einem aus dem nunmehr vorhandenen Normsystem schöpfenden frühen Gesetzespositivismus steht, der später in der voll ausgeprägten Konzeption von der vollständigen und abschließenden Erfassung des geltenden Rechts durch die Kodifikation angelegt sein wird. So pedantisch der Gesetzgeber im Rahmen dieser Spätvernunftrechtlichen Kodifikation zuweilen in die "Pünktlichkeit" 90 der Detailregelung herabsteigt, so wenig ist er zunächst auch bereit, seine voluntas legislatoris nach dem Erlaß des Gesetzes ganz zugunsten der "Willkür" wissenschaftlicher und richterlicher Auslegung und Rechtsfortbildung zurücktreten zu lassen. Refere legislatif (an den Monarchen bzw. an eine Gesetzeskommission Wie im ALR) und authentische Interpretation (wie im ABGB) bleiben im theoretischen Ansatz Mittel eines Fortwirkens der Entscheidungsmacht des Gesetzgebers in die Anwendung des kodifizierten Rechtes hinein und zeigen, daß der Gedanke der "Festigkeit" der Norm und damit der Sicherheit im Recht gegenüber dem Zugriff des Gesetzgebers in dieser Annäherung an das Kodifikationsideal erst begrenzt Gestalt gewonnen hat. 5. Zuwendung zum historischen Rechtsstoff und Ansätze zur
Gesetzgebungskritik im ausgehenden 18. Jahrhundert
Daneben beginnt schließlich eine anwachsende Strömung in der Staatslehre und besonders in der Rechtswissenschaft des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts bereits, die zentrale Bedeutung der Gesetzgebung als Form der Rechtsentwicklung und damit Gesetzgebungslehre zumindest in ihrer bisherigen Stellung als wesentlicher Zweig der Staatswissenschaft grundsätzlich in Frage zu stellen. Im Hintergrund stehen recht verschiedenartige Ansätze einer geistigen Neuorientierung, die von Neubegründungen derratioals Prinzip menschlichen und als Grundlage staatlichen Handeins unter Verzicht auf die axiomatische Gewißheit des vorkantischen Naturrechts und unter kritischer Würdigung der auf dieser Gewißheit beruhenden Rechtfertigungen weit ausgreifender staatlicher Gestaltungsansprüche bis hin zu völliger Abkehr von dem - nur noch als bloßen Utilitarismus empfundenen - Rationalismus überhaupt reichen. Die Stelle der "Vernunft" -und zwar sowohl derjenigen, die vom Absolutismus zur Formulierung seiner Ansprüche an den einzelnen benutzt worden ist, als auch derjenigen, die in der Französischen Revolution zur Gottheit erhoben wird - beginnen nunmehr für einen Teil der letztgenannten Richtung die - nicht mehr im Sinne der naturrechtliehen Affektenlehre domestizierte - Emotionalität und uo Vgl. zu dieser bereits von Sonnenfels gebrauchten Formulierung oben VI. bei Fn. 28.
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X. Gesetzgebungswissenschaft des späten 18. Jh.
ein dadurch geprägter Subjektivismus einzunehmen. Gesetzgebung und prudentia legislatoria können aus dieser Sicht allenfalls lästige Notwendigkeiten aufgrund vorhandener und zum Teil auch als unvermeidlich anerkannter obrigkeitlicher Einflußnahme auf das gesellschaftliche Zusammenleben, nicht aber mehr eudämonistische Verheißung, Weg zur "Glückseligkeit" für einzelne und Gemeinwesen im Sinne der älteren protestantischen Ethik und der Aufklärung, bedeuten. Innerhalb der Rechtswissenschaft erwächst die Gegnerschaft zur Gesetzgebungslehre aus einem Teil jener Lehrrichtungen, die die Beschäftigung mit dem historischen Rechtsstoff methodisch oder rechtspolitisch zu fundieren suchen, damit die zunächst eher archivalisch-pragmatische Pflege und Fortentwicklung des historischen Rechts gegen die vorherrschenden Sichtweisen der Naturrechtslehre wenden und die methodische Verselbständigung der Rechtswissenschaft gegenüber der Naturrechtsphilosophie einleitenD!, Wenn sie auch insofern dem Vorfeld der Historischen Rechtsschule angehören, ist bei ihnen allerdings nicht selten die Gesetzgebungskritik und die aus ihr hervorgehende Zuwendung zum historischen Recht noch stärker eingebunden in die politische Kritik des Spätabsolutismus (bei gleichzeitiger Ablehnung einer revolutionären radikalen Erneuerung) und in die verfassungsrechtlichen Bestrebungen nach einer politisch-institutionellen Eindämmung absolutistischer Macht als später in den von Savigny und Eichhorn geprägten Richtungen. Vom Standpunkt derartiger Gesetzgebungskritik scheint sich in dem historisch "gewachsenen" positiven Recht eine Verbürgung zumindest eines gewissen Handlungsraumes des einzelnen zu bieten, ohne daß dafür erst die legislatorische Tätigkeit des Staates abgewartet und die Gewähr der Rechtsstellung im positiven Recht von der voluntas legislatoris (und der mit ihr verbundenen Gefahr der .,Willkür") des jeweiligen Gesetzgebers abhängig gemacht zu werden braucht. Demgegenüber droht die Gewährleistung der Freiheit mit dem Mittel der Gesetz gebung gerade jene absolutistische Staatsgewalt, von der die größte Gefährdung der Freiheit ausgeht, zu mobilisieren und unter dem Versprechen besserer Gewähr der Freiheit deren immerhin durch den vorhandenen Bestand positiven Rechts ermöglichten Schutz zu zerstören. Eine Gesetzgebungswissenschaft, die zu der Verwirklichung ihrer theoretischen Erkenntnisse auf die Tätigkeit dieses Staates angewiesen ist, und notwendig die Erwartungen immer wieder auf dessen einschneidendstes Gestaltungsmttel, die Gesetzgebung, lenken muß, verliert damit nicht nur an Bedeutung für die Rechtswissenschaft92 • Sie kann geradezu als bestän91 Zusammenfassend zu den Entwicklungen im Vorfeld der Historischen Rechtsschule Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 348 ff., 377 ff. m. zahlr. w. N. 02 Der kritischen Haltung gegenüber der Gesetzgebungswissenschaft entspricht es auch, daß innerhalb der Rückbesinnung auf "deutschrechtliche" Traditionen der Beitrag früher, "ungelehrter Gesetzgeber" für die Gesamtentwicklung der Gesetzgebung größeres Gewicht erhält; vgl. dazu schon
5. Zuwendung zum historischen Rechtsstoff
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dige Gefährdung all des Schutzes, den das historische positive Recht gegenüber dem Absolutismus bieten kann, wirken und damit als wissenschaftliche Gegnerin des (historisch verstandenen) Rechts und seiner Wissenschaft erscheinen93 • Gesellschaftstheoretisch und politisch umfaßt das Spektrum der grundsätzlichen Kritiker bisheriger Gesetzgebungsfreudigkeit außerordentlich vielschichtige und selten eindeutig gefaßte Positionen. Einen frühen Einbruch in die noch vorherrschende, aufklärerisch-vernunftrechtlich begründete Zustimmung zum gesetzgeberischen Gestaltungsanspruch stellt es insbesondere nach der Aufforderung des preußischen Königs zur öffentlichen Diskussion des Entwurfs des Preußischen Gesetzbuches dar, daß Johann Georg Schlossers "Briefe über die Gesetzgebung" 94 die Erörterung, wie dieser Entwurf zu verbessern sei, zu der Fragestellung ausweiten, ob überhaupt die Zeit für eine Gesetzgebung geeignet sei. Creutz, Der wahre Geist der Gesäze, 1767, Anrede (ein allerdings insgesamt recht systemloses und oberflächliches Werk von zweifelhaftem wissenschaftlichem Wert). 93 Entsprechend gewinnt jetzt auch von seiten der vernunftrechtlich ausgerichteten Gesetzgebungslehre die Polemik gegen das historische (germanistische wie romanistische) Rechtsdenken und die Ausrichtung der Rechtswissenschaft auf den empirisch erfaßbaren positiv-rechtlichen Normbestand noch an Schärfe. Christian Daniel Erhard, Versuch über das Ansehen der Gesetze, 1791, S. 41 ff., fordert so Verständlichkeit der Gesetze, damit das Volk sie nicht "für ein Chaos von Rabulisterey und Chikane, für eine wächserne Nase" halte. Deswegen dürfe, was Rechtens sei, nicht erst aus "Gesetzbüchern fremder Nationen, aus hunderterley unzusammenhängenden Urkunden, vermoderten Urteilsbüchern, alten Sprichwörtern, und aus einem Wuste langgedehnter ... Localverordnungen" zu entnehmen sein. Es müsse vielmehr aus einem zusammenhängenden und widerspruchsfreien System der Gesetze hervorgehen. Und Carl Dresler, über das Verhältnis des Rechts zum Gesetze, 1803, S. 3 f., betont, daß die Philosophie des Rechts die Ansprüche an die Gesetzgebung festzulegen habe und über die Gesetzgebung das positive Recht und mit ihm die positive Rechtslehre an die philosophische Rechtswissenschaft heranzuführen sei. Die verbreitete positiv-rechtliche Ausrichtung in der Juristenerziehung erscheint ihm als eine "höchst einseitige Ausbildung des Scharfsinnes, der nur immer im Einzelnen sich umhertrieb ... , indeß der ganze Mensch, von dem verworrenen Gewebe des Positiven gefesselt, und in blinde Schranken eingehüllt wurde. So häufig erlag alle Geistesfreiheit unter der erdrückenden Last des Positiven" (ebd.). 94 s. oben Fn. 17). Zu Schlossers Stellungnahme zur preußischen Gesetzgebung Eric Wolf, Große Rechtsdenker der dt. Geistesgeschichte, 4. Auf!.. 1963, S. 449; Jens Uwe Heuer, Allgemeines Landrecht und Klassenkampf, 1960, S.159; R. Schulze, Johann Georg Schlosser und die Idee eines r einen Zivilrechts-Gesetzbuches, in: ZffiF 1979, S. 317 ff. Zu Schlossers weiterem (vielseitigen, oft aber auch widerspruchsvollen) Werk und zu seiner Biographie Detlev W. Schumann, Ein!. zu: Schlosser, Kleine Schriften, Neudr. 1972, m. w. N.; Ulrich im Hof, Isaak !seHn und die Spätaufklärung, 1007, insbes. S. 220 f.; Ingegrete Kreienbrink, Johann Georg Schlossers Streit mit Kant, in: Festschr. D. Schumann, 1970, S. 246 ff., sowie die ältere Arbeit von Altred Nicolorius, J. G. Schlossers Leben und literarisches Wirken, 1844. Zu Schlossers Haltung in einem badischen Machtspruchkonflikt auch J. Federer , Recht und Juristen im alten Baden, Festschr. z. Eröffnung des BGH, 1950, S. 49 ff. (68 ff.).
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XI. Polizeidenken des späten 18. Jh.
Eine innere Bindung des Gesetzgebers durch die Vernunftpostulate der Gesetzgebungslehre an Erfordernisse der Rechtssicherheit, der persönlichen Freiheit und des bürgerlichen Wirtschaftens wird bei ihm nicht mehr erhofft; Gesetzgebung scheint ihm vielmehr unter den bestehenden Verhältnissen stets vom "Despotismus" in den Dienst genommen werden zu können95. Soweit die Ernüchterung über das Schicksal aufklärerischer und vernunftrechtlicher Verheißungen im Zeitalter des Absolutismus nicht in einen allgemeinen philosophischen Skeptizismus oder in eine mystizistische Religiosität überleitet96, zeichnet sich mit zuweilen recht deutlich rechtspolitischer Argumentation ab, welche für die Gesetzgebung günstigeren Verhältnisse erstrebenswert sind. Schlosser legt dabei die Annahme einer weitgehenden Interessenkonvergenz von Adel und Drittem Stand97, die darauf gegründete Möglichkeit eines antiabsolutistischen Zusammenwirkens beider sozialer Gruppen mit Hilfe überkommener Institutionen der Ständeverfassung und die Forderung nach staatsrechtlicher Absicherung der Machtverteilung und -ausübung durch - nicht von der Willkür des Monarchen abhängige - konstitutionelle Festlegungen zugrunde. Nur ein Staat, der auf derartiger Absicherung gegen absolutistische Willkür beruht, scheint "einer guten Gesetzgebung fähig"9S zu sein. Solange dieser Zustand aber nicht erreichbar ist, muß zumindest der zivilrechtliche Bereich soweit als möglich von jedem Zugriff der Gestaltungstätigkeit des absolutistischen Gesetzgebers freigehalten werden.
XI. Wandlungen im Polizeidenken des späten 18. Jahrhunderts Die Frage nach einer Ordnung des positiven Rechts, die die Freiheit des einzelnen weitestmöglich schonen und sie sogar gegenüber staatlicher Reglementierung verbürgen soll, gewinnt am Ende des 18. Jahrhunderts auch innerhalb der Polizeilehre selbst an Gewicht. Sie erschüttert in erheblichem Maße jene euphorische Befürwortung und eudämonistische Rechtfertigung der breit ausgreifenden Normgebung des Absolutismus, die die Systematisierungs- und Regelungsvorschläge dieser Lehre in den vorangegangenen Jahrzehnten begleitet hatte. Die herkömmlichen Grundlagen, aus denen heraus die Polizeilehre bislang ihre eigenständigen Beiträge zur Gesetzgebungslehre geleistet hatte, werden durch neue, ihres eudämonistischen Gehaltes weitgehend entleerte Sichtweisen der Policey innerhalb der Naturrechtsphilosophie in Frage gestellt. H. Maier und F .-L. Knemeyer haben dies - besonders mit 95 So meint Schlosser (Fn. 17), S.10 f., die Forderung nach Verbesserung der Gesetzgebung finde unter den gegebenen Verhältnissen nur Gehör, weil sie eine "Simplifizierung der Regierungs-Maschine, und der Gesetze" bewirken können und derartige "Simplifications-Systeme so geschickt sind, den Despotismus zu befördern". 96 Zu diesen Elementen im Denken vor allem des älteren Schlosser vgl. Schumann (Fn. 94). 97 Schlosser (Fn. 17), 5. Brief über die Gesetzgebung, S. 120. 98 Ebd., S. 126.
1. Verlust kameralistischer Bestimmtheit
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Blick auf den Polizeibegriff bei Johann Gottlieb Fichte und später bei Georg Wilhelm Friedrich Regel- eindringlich dargestellt~. Die Polizeilehre beginnt sich ihrer Grundlagen zudem dadurch ungewiß zu werden, daß die Forderungen nach größerer Freiheit des einzelnen, namentlich freierer wirtschaftlicher Betätigung, in den einzelnen in ihr zusammentreffenden Wissensgebieten nachdrücklicher und in konkreteren Formen erhoben werden. Ausschlaggebend ist hier einerseits der Verlust der wirtschaftstheoretischen Grundlagen der staatlichen Reglementierung mit dem Aufkommen neuer volkswirtschaftlicher Schulen, andererseits und mehr noch die sich nunmehr durchsetzende Betrachtung der Policey aus der Sicht der zu neuen Selbstverständnissen vordringenden Rechtswissenschaft, teils in Gestalt einer stärkeren Verlagerung zur rechtlichen Betrachtungsweise gegenüber der "Staatsklugheit" im Rahmen der philosophisch-spekulativen Staatswissenschaften, teils aber auch schon unter dem Einfluß der sich methodisch aus diesem Kontext herauslösender positivrechtlich-historisch ausgerichteter Ansätze.
1. Der Verlust an kameralistischer Bestimmtheit in der Policey a) Die Notwendigkeit einer umfassenden staatlichen Regulierung des Wirtschaftsgeschehens unter den Zielen der aktiven Handelsbilanz und der Bevölkerungsvermehrung wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunächst von der physiokratischen Wirtschaftstheorie, die sich in Frankreich ausbildet und bald auch Anhänger in Deutschland findet, in Frage gestellt. Fran