Poetische Interaktion: Französisch-deutsche Lyrikübersetzung bei Friedhelm Kemp, Paul Celan, Ludwig Harig, Volker Braun 9783110312935, 9783110312874

The achievements of Friedhelm Kemp, Paul Celan, Ludwig Harig, and Volker Braun in the field of poetic translation repres

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German Pages 407 [408] Year 2013

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Table of contents :
Wege französisch-deutscher Lyrikvermittlung: Kemp, Celan, Harig, Braun
1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion: Paradigmen der literarischen Übersetzung im Epochenkontext
1.1 Imitatio: Die Übersetzung als Aneignung antiker Vorbilder im Klassizismus
1.1.1 Jacques Amyots Plutarch-Übersetzung
1.1.2 Perrot d’Ablancourts ›französischer‹ Tacitus
1.1.3 Jacques Delilles Georgica-Übersetzung
1.2 „Fremde Aehnlichkeit“ oder poetische Erweiterung: Übersetzungskonzepte um 1800
1.2.1 Die Abkehr von den Belles Infidèles
1.2.2 „Eine Farbe der Fremdheit“ – Strategien der Sprachverfremdung
1.2.3 Die poetische Übersetzung als Erweiterung des Originals
1.3 „Es kommt auf den Sinn nicht an“ – oder doch? Übersetzung bei Rudolf Borchardt und Walter Benjamin
1.3.1 Status und Funktion der Übersetzung
1.3.2 „Widerhall“ und „Echo“: Übersetzungstheorie und -praxis
1.4 Zwischen poetischer Interaktion und Konventionalisierung: Zur Theorie der Lyrikübersetzung nach 1945
1.4.1 Die Abkehr von normativen Übersetzungsidealen seit den sechziger Jahren
1.4.2 Lyrikübersetzung als poetische Interaktion
1.4.3 „Treue durch Veränderung“? Übersetzung zwischen Autonomie und Orthonymie
2 Vom Besatzungssoldaten zum Lyrikvermittler: Der Übersetzer Friedhelm Kemp
2.1 Kemp im Kontext der Literaturvermittlung vor und nach 1945
2.1.1 Die Instrumentalisierung französischer Literatur durch den NS-Staat
2.1.2 Jenseits der Propaganda: Kemps Feldpostbriefwechsel mit Louis Emié
2.1.3 Lyrikvermittlung in Periodika und Anthologien nach 1945
2.2 Zwischen Poetisierung und Transformation: Kemp als Übersetzer von Jules Supervielle, Charles Baudelaire und Yves Bonnefoy
2.2.1 Die Tendenz zur Poetisierung
2.2.2 Das Streben nach Anschaulichkeit
2.2.3 Die Mechanismen der Orthonymie
2.2.4 Umdichtung und Transformation
3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“: Paul Celan als Übersetzer von René Char, Henri Michaux und Yves Bonnefoy
3.1 „Einmaligkeit“, „Anderssein“: Celans Übersetzungspoetik
3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?
3.2.1 Argumentum e silentio: ein Gedicht für und gegen René Char
3.2.2 Übersetzen in eine „›grauere‹ Sprache“
3.2.3 „Wörtlichkeit“ und „Anderssein“
3.2.4 Dernière marche: Celans letzte Char-Übersetzung
3.3 Intensivierung und „dichterische Wörtlichkeit“: Celan als Übersetzer von Henri Michaux
3.4 Celans Übersetzungsentwürfe aus dem Werk von Yves Bonnefoy
4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig
4.1 Vom „Assistant d’allemand“ zum „waghalsigen“ Übersetzer
4.2 Zur Frage der Übersetzbarkeit von Queneaus Werk
4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative
4.3.1 „Handgriffe Kunstkniffe Glattschliffe“: Klangspiele französisch/deutsch
4.3.2 „Wicht“, „Licht“, „Gedicht“: Das Spiel mit dem Reim
4.3.3 „Metrisch“ – „Dissimetrisch“: Queneaus deutsche Alexandriner
4.3.4 „Raffiniert konstruierte Transfähre“: Intensivierung durch Transformation
4.4 Die Cosmogonie im Kontext: Französische Literatur in Harigs Werk
5 „Des Verfassers Gefährte“: Volker Braun als Übersetzer von Alain Lance
5.1 Braun im Kontext der Literaturvermittlung in SBZ und DDR
5.1.1 Rezeptionsmuster in der SED-gelenkten Übersetzungspraxis
5.1.2 „War eine meiner Türen französisch“: Alain Lance und sein Übersetzer Volker Braun
5.2 Polyphones Sprechen: Politische Diskursivität und intertextuelle Verfahren in Brauns Übersetzungen
5.2.1 Téhéran soixante-huit – Teheran 68
5.2.2 Comme j’en ai traversé de ces villes opaques – Der Umweg durch die Fremde
5.2.3 Printemps – Frühling
5.2.4 Neutron suprême – Höchstes Neutron
5.2.5 Aux amis de l’est – An die Freunde im Osten
Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Rechtenachweis
Bild- und Textanhang
Abbildungsnachweis
Personenregister
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Poetische Interaktion: Französisch-deutsche Lyrikübersetzung bei Friedhelm Kemp, Paul Celan, Ludwig Harig, Volker Braun
 9783110312935, 9783110312874

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Angela Sanmann Poetische Interaktion

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

79 ( 313 )

De Gruyter

Poetische Interaktion Französisch-deutsche Lyrikübersetzung bei Friedhelm Kemp, Paul Celan, Ludwig Harig, Volker Braun

von

Angela Sanmann

De Gruyter

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

ISBN 978-3-11-031287-4 e-ISBN 978-3-11-031293-5 ISSN 0946-9419 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com

Für Daniel

... noch im (scheinbar) restlosen „Aufgehen“ bleibt der „Aufgehende“ mit seiner – auch sprachlichen – Einmaligkeit, mit seinem Anderssein. Paul Celan

Dank Die Entstehung der vorliegenden Arbeit wurde von zahlreichen Menschen aufmerksam begleitet. Ohne den vielfältigen Zuspruch, der mir zuteil wurde, hätte sie nicht zustande kommen können. Mein besonderer Dank gilt zuallererst den Betreuern dieser Arbeit, Professor Ernst Osterkamp (Humboldt-Universität zu Berlin) und Professor Christine Lombez (Université de Nantes). Beide haben mein Cotutelle-de-thèse-Projekt von Anfang an begleitet, intensiv gefördert und durch fachlichen Rat unterstützt. Professor Jean-Yves Masson (Université de Paris IV-Sorbonne) und Professor Patricia Oster-Stierle (Universität des Saarlandes) danke ich für die Vorgutachten im Rahmen des Cotutelle-de-thèse-Verfahrens. Bertrand Badiou von der Unité de Recherche Paul Celan (ENS Paris) war und ist mir für Fragen zu Paul Celan ein wichtiger Ansprechpartner. Für seine wertvollen Hinweise sowie für die Erlaubnis, unveröffentlichte Dokumente aus Celans Nachlass zu zitieren, möchte ich ihm herzlich danken. Für Abdruckgenehmigungen aus dem Werk Paul Celans gilt mein Dank auch Eric Celan. Zu großem Dank verpflichtet, insbesondere auch für die Einsicht in unveröffentlichte Dokumente und für Abdruckgenehmigungen, bin ich Yves Bonnefoy, Volker Braun, Ludwig Harig, Friedhelm Kemp (†), Alain Lance sowie Cornelia Kemp und Benno Rech. Für Abdruckgenehmigungen danke ich auch folgenden Personen und Institutionen: François Boddaert, Marie-Claude Char, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Karl Dedecius, Éditions Gallimard, Le Mercure de France, Christian Marchaud, Micheline Phankim, Jean-Marie Queneau, Marie Antoinette Radmer und Erika Wilton. Eine wichtige finanzielle Hilfe und eine ideelle Bereicherung bedeuteten für mich das Promotionsstipendium und die dazugehörigen Förderprogramme der Studienstiftung des deutschen Volkes. Das Cotutelle-dethèse-Stipendium der Deutsch-Französischen Hochschule (DFH) wiederum hat mir verschiedene Forschungsreisen und einen zweisemestrigen Aufenthalt an der Université de Nantes ermöglicht. Beiden Institutionen möchte ich an dieser Stelle Danke sagen. Außerdem danke ich Jean-Pierre Lefebvre, Hans T. Siepe und Dirk Weissmann für wichtige fachliche Hinweise.

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Dank

Ein ganz herzlicher Dank gilt meinen Eltern und meinem Bruder Christian für ihre beständige Unterstützung. Für bereichernde Gespräche und Korrekturhilfen danke ich Juliette Aubert, Bertrand Brouder, MarieFrance Deux, Klaus Johann, Aenne Oetjen, Rainer G. Schmidt und Lisa Schoß. Daniel, danke, dass du da bist. Deine Anregungen, dein aufmerksamer Blick und deine Zuversicht sind mir unendlich wertvoll.

Inhalt Wege französisch-deutscher Lyrikvermittlung: Kemp, Celan, Harig, Braun ..........1 1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion: Paradigmen der literarischen Übersetzung im Epochenkontext .....................11 1.1 Imitatio: Die Übersetzung als Aneignung antiker Vorbilder im Klassizismus .............................................................................................12 1.1.1 Jacques Amyots Plutarch-Übersetzung .........................................15 1.1.2 Perrot d’Ablancourts ›französischer‹ Tacitus ...............................17 1.1.3 Jacques Delilles Georgica-Übersetzung ...........................................19 1.2 „Fremde Aehnlichkeit“ oder poetische Erweiterung: Übersetzungskonzepte um 1800 ................................................................24 1.2.1 Die Abkehr von den Belles Infidèles .................................................25 1.2.2 „Eine Farbe der Fremdheit“ – Strategien der Sprachverfremdung ................................................27 1.2.3 Die poetische Übersetzung als Erweiterung des Originals ........33 1.3 „Es kommt auf den Sinn nicht an“ – oder doch? Übersetzung bei Rudolf Borchardt und Walter Benjamin .....................42 1.3.1 Status und Funktion der Übersetzung ..........................................44 1.3.2 „Widerhall“ und „Echo“: Übersetzungstheorie und -praxis ......55 1.4 Zwischen poetischer Interaktion und Konventionalisierung: Zur Theorie der Lyrikübersetzung nach 1945 ..........................................68 1.4.1 Die Abkehr von normativen Übersetzungsidealen seit den sechziger Jahren .................................................................69 1.4.2 Lyrikübersetzung als poetische Interaktion ..................................71 1.4.3 „Treue durch Veränderung“? Übersetzung zwischen Autonomie und Orthonymie .........................................75 2 Vom Besatzungssoldaten zum Lyrikvermittler: Der Übersetzer Friedhelm Kemp ........................................................................81 2.1 Kemp im Kontext der Literaturvermittlung vor und nach 1945 ...........81 2.1.1 Die Instrumentalisierung französischer Literatur durch den NS-Staat ..........................................................................83 2.1.2 Jenseits der Propaganda: Kemps Feldpostbriefwechsel mit Louis Emié .............................93 2.1.3 Lyrikvermittlung in Periodika und Anthologien nach 1945 .....106

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Inhalt

2.2 Zwischen Poetisierung und Transformation: Kemp als Übersetzer von Jules Supervielle, Charles Baudelaire und Yves Bonnefoy .................................................. 124 2.2.1 Die Tendenz zur Poetisierung ..................................................... 131 2.2.2 Das Streben nach Anschaulichkeit ............................................. 135 2.2.3 Die Mechanismen der Orthonymie ............................................ 143 2.2.4 Umdichtung und Transformation ............................................... 156 3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“: Paul Celan als Übersetzer von René Char, Henri Michaux und Yves Bonnefoy ............................................................................................. 167 3.1 „Einmaligkeit“, „Anderssein“: Celans Übersetzungspoetik ................. 167 3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique? .................................................... 177 3.2.1 Argumentum e silentio: ein Gedicht für und gegen René Char .... 182 3.2.2 Übersetzen in eine „›grauere‹ Sprache“ ...................................... 193 3.2.3 „Wörtlichkeit“ und „Anderssein“ ............................................... 198 3.2.4 Dernière marche: Celans letzte Char-Übersetzung ....................... 209 3.3 Intensivierung und „dichterische Wörtlichkeit“: Celan als Übersetzer von Henri Michaux ............................................... 215 3.4 Celans Übersetzungsentwürfe aus dem Werk von Yves Bonnefoy .... 229 4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig .......................................................... 240 4.1 Vom „Assistant d’allemand“ zum „waghalsigen“ Übersetzer ............. 240 4.2 Zur Frage der Übersetzbarkeit von Queneaus Werk ............................ 245 4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative ................. 252 4.3.1 „Handgriffe Kunstkniffe Glattschliffe“: Klangspiele französisch/deutsch ................................................ 252 4.3.2 „Wicht“, „Licht“, „Gedicht“: Das Spiel mit dem Reim ........... 255 4.3.3 „Metrisch“ – „Dissimetrisch“: Queneaus deutsche Alexandriner ................................................ 260 4.3.4 „Raffiniert konstruierte Transfähre“: Intensivierung durch Transformation ........................................ 266 4.4 Die Cosmogonie im Kontext: Französische Literatur in Harigs Werk ... 281 5

„Des Verfassers Gefährte“: Volker Braun als Übersetzer von Alain Lance ................................................ 286 5.1 Braun im Kontext der Literaturvermittlung in SBZ und DDR ........... 286 5.1.1 Rezeptionsmuster in der SED-gelenkten Übersetzungspraxis ....................................................................... 287 5.1.2 „War eine meiner Türen französisch“: Alain Lance und sein Übersetzer Volker Braun ........................ 297

Inhalt

XIII

5.2 Polyphones Sprechen: Politische Diskursivität und intertextuelle Verfahren in Brauns Übersetzungen ...........................................................................302 5.2.1 Téhéran soixante-huit – Teheran 68 .................................................302 5.2.2 Comme j’en ai traversé de ces villes opaques – Der Umweg durch die Fremde ....................................................307 5.2.3 Printemps – Frühling .......................................................................310 5.2.4 Neutron suprême – Höchstes Neutron ...........................................317 5.2.5 Aux amis de l’est – An die Freunde im Osten ..............................320 Zusammenfassung und Ausblick ..............................................................................327 Literaturverzeichnis ....................................................................................................337 Rechtenachweis ...........................................................................................................373 Bild- und Textanhang .................................................................................................375 Abbildungsnachweis ...................................................................................................390 Personenregister ..........................................................................................................391

Wege französisch-deutscher Lyrikvermittlung: Kemp, Celan, Harig, Braun Die vorliegende Studie widmet sich den Lyrikübersetzungen von Friedhelm Kemp, Paul Celan, Ludwig Harig und Volker Braun und lenkt damit den Blick auf einen äußerst fruchtbaren, in weiten Teilen allerdings noch unerschlossenen Bereich französisch-deutscher Lyrikvermittlung seit dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem gewählten Korpus soll das Phänomen des poète traducteur1 in den Vordergrund rücken, also des übersetzenden Lyrikers, der seine Übertragungen als individuelle Lesarten der Originaltexte konzipiert.2 Wie es zu zeigen gilt, repräsentieren die genannten Übersetzer diesen Übertragungsmodus in je unterschiedlicher Weise. Für die vierziger bis siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die den zeitlichen Fokus der folgenden Untersuchungen bilden, herrscht in der komparatistischen Forschung bislang die Annahme einer Dominanz von „schnellen, versierten, glatten Übersetzer[n]“3 und „literarischen Importeuren“4 vor. Als einziges Gegenbeispiel im französisch-deutschen Sprachbereich gilt bisher das übersetzerische Werk von Paul Celan (1920–1970), das entsprechend intensiv erforscht ist.5 Die hier vorgelegte Studie möchte auf1

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Der Begriff poète traducteur wird im Folgenden im Anschluss an Christine Lombez verwendet, vgl. Lombez (2003), hier bes. S. 50–55, sowie Lombez (2009), S. 9. Dort heißt es: „Dans le domaine de la traduction de poésie, le cas des poètes qui traduisent est sans doute le plus parlant. Leur qualité de ›créateurs‹ de poésie leur confère, pour ainsi dire, un regard ›de l’intérieur‹ sur cette expérience singulière que constitue, pour un poète, la traduction du poème d’un autre. Souvent la relation de poète à poète suppose une psychologie particulière et jouit dans la traduction d’une grande liberté d’approche réciproque. Cela n’exclut en rien que le poète traducteur puisse acquérir une haute compétence linguistique“. Forschungsliteratur wird hier und im Folgenden mit Hilfe von Kurztitelangaben aus Name und Jahreszahl zitiert. Die Begriffe „übersetzen/Übersetzung“ und „übertragen/Übertragung“ werden im Folgenden als Synonyme eingesetzt. Zur Differenzierung unterschiedlicher Übersetzungsbegriffe vgl. Schreiber (1993). Apel/Kopetzki (2003), S. 123. Ebd. Die Begriffsverwendung von Apel/Kopetzki ist nicht zu verwechseln mit dem bei Gisèle Sapiro eingesetzten Begriff der „importateurs littéraires“, der dort als terminus technicus fungiert. Vgl. Sapiro (2008), S. 399. Monographien zu Celans Übersetzungswerk und -poetik haben z. B. Olschner (1985), Ivanović (1996), May (2004), Harbusch (2005), Amthor (2006) und Pennone (2007) vorgelegt.

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zeigen, dass nicht nur Paul Celan, dessen herausragende Rolle als Übersetzer außer Frage steht, das Übersetzen als „Arbeit an der Sprache“6 verstanden hat, sondern auch so unterschiedliche Übersetzer wie Friedhelm Kemp (1914–2011), Ludwig Harig (*1927) und Volker Braun (*1939) nach einer poetologisch reflektierten Auseinandersetzung mit den Originaltexten strebten und in ihren Übersetzungen individuelle Lesarten der Ausgangstexte vorgelegt haben. Insgesamt repräsentieren die vier ausgewählten Übersetzer die vielgestaltige Praxis einer bedeutsamen Phase französisch-deutscher Lyrikvermittlung, die mit der historischen Zäsur von 1945 einsetzt.7 Wurde die französische Lyrik im deutschsprachigen Raum während des NS-Regimes marginalisiert bzw. propagandistisch instrumentalisiert, hat sie nach dem Ende des Krieges bis in die siebziger Jahre hinein weite Verbreitung gefunden. In dieser Hochphase französisch-deutscher Lyrikübersetzung kommt den in der vorliegenden Studie behandelten Übersetzern eine besondere Bedeutung zu. Während Celan, Harig und Braun als poètes traducteurs beim Übersetzen ihre eigene Poetik geltend gemacht haben, lässt sich Friedhelm Kemp, einer der ersten französisch-deutschen Lyrikvermittler nach 1945, als typologische Scharnierfigur begreifen: Er situiert sich zwischen Übersetzern mit vorwiegend dienendem Vermittlungsverständnis auf der einen Seite und den poètes traducteurs auf der anderen. Begleitet und beeinflusst wurde die Praxis der vier Übersetzer von ihrem intensiven persönlichen Austausch mit den französischen Lyrikern, deren Gedichte sie ins Deutsche übertragen haben. Dieser je individuelle kommunikative Rahmen figuriert im Folgenden unter dem Begriff fraternité poétique. René Char hat diese Bezeichnung in einem Brief an Paul Celan vom 23. November 1954 geprägt, um die Intensität ihres literarischen Austauschs und vor allem um Celans Engagement bei der Vermittlung seiner, Chars, Texte an das deutschsprachige Publikum hervorzuheben. In dem Brief heißt es: „[...] de votre part, cette fraternité poétique me touche infiniment, veuillez le croire. L’allègement, c’est de vous dire MERCI.“8 Die persönliche und geistige Verbundenheit, die sich in den fraternités poétiques zwischen Autoren und poètes traducteurs niederschlägt, ist selten frei von Spannungen. Es wird zu zeigen sein, dass die poetologischen Affinitäten, die den französischdeutschen Lyrikaustausch ermöglicht haben – wie bei Char und Celan –, in Distanznahmen umschlagen können, wodurch im Extremfall bereits begonnene Übersetzungsprojekte in Frage gestellt werden. 6 7 8

Apel/Kopetzki (2003), S. 123. Die Verfasser beziehen sich hier vor allem auf die Übersetzungspraxis der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Zur Diskussion der Zäsursetzung im Jahr 1945 vgl. den Anfang von Kap. 2.1. DLA: Celan: D 90.1.1295/4.

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Im Verlauf der Studie soll deutlich werden, dass der dezidiert dialogische Impetus der fraternités poétiques mit dem Selbstverständnis der vier Übersetzer korrespondiert, das sich an ihren Übertragungsstrategien ablesen lässt. Über biographische Konstellationen hinaus werden sowohl die theoretischen als auch die historischen Kontexte ihrer Vermittlungspraxis zu untersuchen sein. Relevant sind dabei zum einen die theoretischen Paradigmen, zum anderen die je spezifischen Publikationsbedingungen für Übersetzungen französischer Lyrik in den Besatzungszonen, in der Bundesrepublik sowie in der DDR. Erstmals wird damit der Versuch unternommen, die Praxis einzelner Lyrikübersetzer auf breiter Ebene an die historisch-poetologischen Koordinaten der französisch-deutschen Literaturvermittlung zwischen den vierziger und siebziger Jahren rückzubinden. Denn obwohl die Problematik der Lyrikübersetzung und insbesondere die Praxis der poètes traducteurs in den letzten Jahren einen regelrechten Forschungsboom ausgelöst haben,9 steht eine vergleichende Überblicksdarstellung zur französisch-deutschen Lyrikübersetzung im gewählten Zeitraum noch aus. Auch hinsichtlich der Spezialforschung zu einzelnen Übersetzern besteht ein Ungleichgewicht: Existiert eine große Anzahl von Monographien zur Übersetzungspoetik und -praxis von Paul Celan, fehlen bislang Einzeluntersuchungen zur Übersetzertätigkeit von Kemp, Harig und Braun. Wie die vorliegende Studie zeigen wird, vertreten die vier genannten Übersetzer trotz aller Unterschiede in der Praxis insofern einen gemeinsamen methodischen Ausgangspunkt, als sie das Lyrikübersetzen als je individuelle, nicht normierbare Auseinandersetzung mit dem Original begreifen. Ihre von spezifischen historischen und poetologischen Prämissen geprägte Herangehensweise besteht darin, beim Übersetzen durch Intensi9

Vgl. die Publikationen des Sonderforschungsbereichs Literarische Übersetzung (1985–1993) an der Universität Göttingen, die internationale Konferenz The author-translator in the european literary tradition in Swansea (Wales) im Jahr 2010 sowie die folgenden Sammel- bzw. Tagungsbände: Österreichische Dichter als Übersetzer. Salzburger komparatistische Analysen (Pöckl 1991); Les traces du traducteur. Actes du colloque international à Paris, 10–12 avril 2008 (Nowotna 2009); Das Fremde im Eigenen. Die Übersetzung literarischer Texte als Interpretation und kreative Rezeption (Klinkert 2011). Neben Veröffentlichungen mit einer weitgefassten Perspektive auf das Phänomen der Literatur- und Lyrikübersetzung, z. B. Poetry & translation: The art of the impossible (Robinson 2010) und Canon et traduction dans l’espace franco-allemand (Weinmann 2011), finden sich auch umfangreiche Monographien zu einzelnen Übersetzern, etwa Chateaubriand traducteur: De l’exil au Paradis perdu (Bougeard-Vetö 2005), oder zu Übersetzungen aus dem Werk eines Autors, z. B. Making the mirror visible. Deutsche Übersetzungen englischer Lyrik: W. H. Auden (Acartürk-Höß 2010). Ausdruck des steigenden Forschungsinteresses für das Phänomen der Literaturübersetzung ist auch die im Jahr 2007 eingerichtete August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur für die Poetik der Übersetzung am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin.

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vierungen, Umakzentuierungen oder Tilgungen eine eigene Lesart des Ausgangstexts zu gestalten. Im Anschluss an Henri Meschonnic, der im Übersetzungsvorgang eine Wechselwirkung zwischen Autor- und Übersetzerpoetik, eine „interaction de deux poétiques“,10 erkennt, wird dieses ästhetische Programm im Folgenden als ›poetische Interaktion‹ bezeichnet. Der individuelle interpretative Zugriff des Übersetzers kennzeichnet die Übertragungen als Resultate eines vielschichtigen Sprach- und Texttransfers. Mit Hilfe ihrer dialogisch konzipierten Strategien streben die ausgewählten Übersetzer keine möglichst ›treue‹ Kopie des fremdsprachigen Werks an, sondern vielmehr eine ihrerseits interpretationsbedürftige Gedichtfassung. Diese bleibt zwar stets auf das Original bezogen, insistiert aber auf ihrer eigenen Literarizität. In dieser Hinsicht grenzen sich die genannten poètes traducteurs von einem auf die Unsichtbarkeit des Übersetzers zielenden Verfahren ab, das zeitgleich etwa die Übersetzungen von Karl Krolow11 und Stephan Hermlin12 repräsentieren. Während Krolow und Hermlin die Übersetzung als Vermittlungsmedium mit dienender Funktion begreifen, betonen Celan, Harig und Braun die Präsenz der eigenen Übersetzerstimme. Durch welche poetologischen bzw. politischen Implikationen die von ihnen übersetzten Gedichte zu Resonanzräumen werden, in denen sich semantische und klangliche Dimensionen des Originals vertiefen und vervielfachen, wird im Einzelnen herauszuarbeiten sein. Friedhelm Kemp, der im gewählten Zeitraum kaum als Lyriker hervorgetreten ist,13 stellt innerhalb der Konstellation der vier ausgewählten Übersetzer einen Sonderfall dar, weil er auf der Schwelle zwischen dienender Literaturvermittlung und poetischer Interaktion steht. Aufgrund dieser Scharnierposition ist er für die zugrunde liegende Fragestellung von besonderem Interesse, weil an seiner Übersetzungspraxis die unterschiedlichen übersetzungspoetologischen Optionen besonders augenfällig werden. Kemps breitgefächertes, durchaus heterogenes Spektrum von Strategien, mit denen er seine Übersetzungen mal als Verständnishilfe, mal als individuelle Lesart gestaltet hat, spiegelt nicht nur sein unablässiges Ringen um ein dem Originaltext gemäßes Vorgehen, sondern zeugt darüber hinaus von dem mitunter widersprüchlichen Verhältnis zwischen seiner Übersetzungsreflexion und -praxis. Im kritischen Nachvollzug dieser methodischen Vielfalt sollen verschiedene Etappen von Kemps übersetzerischem Schaffen charakterisiert und von den Strategien einer nach künstlerischer Autonomie strebenden Übersetzung, wie sie bei Celan, Harig und 10 11 12 13

Meschonnic (1973), S. 308. Vgl. Kap. 2.1.3 und Kap. 3. Vgl. Kap. 5.1.1. Zu Kemps Selbstverständnis als Übersetzer und zu seinen eigenen Gedichtpublikationen vgl. Kap. 2.2.

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Braun anzutreffen sind, abgegrenzt werden. Da sich allerdings auch Kemp, obgleich mit Vorbehalten, diesem Übersetzungsmodus angenähert hat, ermöglicht ein kontrastierender Vergleich seiner Praxis mit derjenigen der poètes traducteurs ein differenzierteres Verständnis des Paradigmas poetische Interaktion. Wie in den einzelnen Untersuchungen außerdem deutlich werden soll, haben alle vier Übersetzer tradierte Ideale der literarischen Übersetzung implizit oder explizit mitreflektiert und diese Auseinandersetzung in ihre Praxis einfließen lassen. Deshalb widmet sich das erste Kapitel der vorliegenden Studie historischen Übersetzungskonzepten, in denen die grundlegende Dichotomie zwischen Ausgangs- und Zielsprache aus unterschiedlichen Perspektiven verhandelt wird. Zunächst rückt das im französischen Klassizismus idealtypisch herausgebildete Primat der Einbürgerung in den Blick, das dem Übersetzer bei der zielsprachlichen Textgestaltung eine nahezu unbegrenzte Freiheit einräumt. Wie zu zeigen sein wird, steht für die ›imitierenden‹, mit dem Ausgangstext konkurrierenden Übersetzungen, die auch als Belles Infidèles (dt. „Schöne Ungetreue“) bezeichnet werden, weniger der Vermittlungsgedanke im Vordergrund als das Streben nach literarischer Virtuosität – zumal in einer Epoche, die noch keinen gefestigten Original-Begriff und somit keine klare Abgrenzung zwischen Übersetzungs- und Schreibpraxis kannte (Kap. 1.1). Einen methodischen Gegenpol zum Primat der Einbürgerung bildet die vorwiegend deutschsprachige Praxis der Verfremdung um 1800, die eine Markierung der Distanz zwischen Ausgangs- und Zieltext anstrebt: Sprachliche und kulturelle Spezifika des Originals sollen gerade nicht eingebürgert werden, sondern in der Übersetzung als solche erkennbar sein, damit der fremdartige Charakter des Originals bestehen bleibt. Jenseits der Problematik von Einbürgerung und Verfremdung stellt Novalis den individuellen Eigenanteil des Übersetzers in den Vordergrund und formuliert mit seiner Vorstellung vom Übersetzer als „Dichter des Dichters“ ein Konzept, das in neuem Kontext und unter veränderten Vorzeichen für die Übertragungen der poètes traducteurs nach 1945 bedeutsam wurde (Kap. 1.2). Einflussreich und für die Übersetzungspraxis nach 1945 relevant sind auch die Konzepte von Walter Benjamin und Rudolf Borchardt, die beide in unterschiedlicher Weise die künstlerische Autonomie der Übersetzung neu zu bestimmen suchen: Benjamins sprachphilosophische Perspektive nobilitiert die Übersetzung als dasjenige Medium, mit dem sich der Mensch der „reinen Sprache“14 annähern könne. Dem steht Borchardts Konzept einer Neuerschaffung 14

Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4.1: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Hrsg. von Tillman Rexroth. Frankfurt am Main 1991, S. 9– 21, hier: S. 13.

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des Originals in der Zielsprache gegenüber, das zu Benjamins Position sowohl Konvergenzen als auch signifikante Unterschiede aufweist (Kap. 1.3). Zu den diskutierten Übersetzungsparadigmen steht die Tätigkeit von Kemp, Celan, Harig und Braun in einem spannungsreichen, von Anknüpfung und Widerspruch geprägten Verhältnis: Unter veränderten historischen Bedingungen nehmen die genannten Übersetzer die überlieferten Verfahren kritisch auf und überführen sie in eigene, individuell nuancierte Strategien jenseits normativer Ideale. Zeitlich parallel zu ihrer Übersetzungspraxis hat sich seit den sechziger Jahren auch in der Forschung eine Abkehr von normativen Konzepten vollzogen, die nun in ihrer epochengeschichtlichen Gebundenheit erkannt werden. An ihre Stelle treten zunehmend deskriptive Analysemodelle, die den interpretativen Zugriff des Übersetzers berücksichtigen. Diese Ansätze greift die vorliegende Studie auf, um ihre übersetzungstheoretischen Implikationen zu diskutieren. Von besonderem Interesse sind dabei Konzepte zur literarischen Übersetzung als einer Sonderform von Intertextualität, die Frage der Übersetzbarkeit lyrischer Texte insgesamt sowie die Mechanismen der Konventionalisierung poetischer Spezifika (Kap. 1.4). Diese Auseinandersetzung soll zugleich die den Analysen von Kemps, Celans, Harigs und Brauns Übersetzungen zugrunde liegende Methodik erläutern und begründen. Jedem der vier Übersetzer ist ein eigenes Kapitel gewidmet (Kap. 2–5), wobei sich die Reihenfolge nach den Publikationsdaten ihrer jeweils ersten publizierten Gedichtübertragung richtet. Vor dem zeithistorischen sowie dem je spezifischen biographischen und poetologischen Hintergrund ihrer Übersetzungspraxis zielen die hier vorgelegten Beispielanalysen in Form von Einzeluntersuchungen und Mehrfachvergleichen auf die individuelle Funktion des übersetzten Gedichts in seinem Entstehungskontext. Ausgangspunkt ist dabei die von Harald Kittel formulierte Grundfrage: „Was wurde wann, warum, wie übersetzt, und warum wurde es so und nicht anders übersetzt?“15 Der methodischen Verknüpfung von historischer Kontextualisierung und Übersetzungsanalyse liegt die Auffassung zugrunde, dass „das eigentliche Faszinosum der Übersetzungsforschung“ in der Wechselwirkung zwischen den verschiedenen kulturellen Kontexten von Ausgangs- und Zieltext besteht.16 In den folgenden Untersuchungen geht es demnach nicht nur um die bloße Feststellung von Abweichungen zwischen Ausgangstext und Übersetzung – seien dies Zuspitzungen, Umdeutungen oder Auslassungen thematischer, stilistischer oder metrischer Elemente des Originals –, sondern vor allem um die Frage, ob die jeweiligen Verschiebungen im 15 16

Kittel (1988), S. 160. Greiner (2004), S. 12.

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Gesamtkontext des übersetzten Gedichtes motiviert erscheinen, und wenn ja, wodurch. Für die Gestaltung einer individuellen Lesart des fremdsprachigen Originaltextes sind neben thematischen auch stilistische Affinitäten des Übersetzers entscheidend, die es im Detail herauszuarbeiten gilt. Darüber hinaus wird nach den Konsequenzen gefragt, die sich aus der Interaktion zwischen Autor- und Übersetzerpoetik für die Interpretation des Originals bzw. der Übersetzung ergeben. Auf diese Weise sollen charakteristische Übertragungsstrategien identifiziert und an das Werk des jeweiligen Übersetzers rückgekoppelt werden, und zwar sowohl an dessen poetologische Reflexionen als auch an die eigene literarische Schreibpraxis. Denn ein hervorstechendes Charakteristikum der Praxis von poètes traducteurs liegt, so die Ausgangsthese, gerade darin, dass Übersetzungen und eigene schriftstellerische Werke jeweils in einem komplexen Verweisungsverhältnis stehen. Diesem soll im Einzelnen nachgegangen werden. Einer der ersten Übersetzer, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs publizistisch hervorgetreten sind, war Friedhelm Kemp, der bereits in seiner Zeit als Besatzungssoldat in Frankreich Übersetzungen französischer Lyrik angefertigt hatte. Als Vermittler französischer Literatur hat er in der literarischen Landschaft der Bundesrepublik über Jahrzehnte eine herausgehobene Rolle gespielt, die in der vorliegenden Arbeit zum ersten Mal eingehend untersucht werden soll. Dabei wird zunächst Kemps Übersetzertätigkeit vor 1945, mit der er sich von der ideologisch gesteuerten Literaturvermittlung durch den NS-Staat abgrenzt (vgl. Kap. 2.1.1), auf der Grundlage von unveröffentlichtem Archivmaterial zu untersuchen sein. Hier erweist sich sein Feldpostbriefwechsel mit dem französischen Lyriker Louis Emié als aufschlussreiches Zeitdokument über die Bedingungen des Übersetzens in Kriegszeiten (Kap. 2.1.2): Ohne die von Emié an der Zensur vorbeigeschleusten Büchersendungen, die Kemp mit modernen französischen Gedichten bekannt machten, hätte dieser nach Kriegsende nicht zu einem Protagonisten französisch-deutscher Lyrikvermittlung in den westlichen Besatzungszonen werden können. Der Einfluss dieser geheimen Korrespondenz auf Kemps Übersetzertätigkeit wird im Kontext der breitgefächerten Publikationslandschaft der Nachkriegszeit deutlich, aus der zentrale Zeitschriften und Anthologien exemplarisch vorgestellt werden (Kap. 2.1.3). Kemp hat bis zu seinem Tod im März 2011 nicht nur ein äußerst umfangreiches übersetzerisches Werk vorgelegt, sondern die Rezeption einzelner französischer Lyriker besonders nachhaltig geprägt, sei es durch Prosafassungen von Baudelaires Fleurs du mal oder durch Übersetzungen aus dem Werk von Yves Bonnefoy, mit dem ihn ebenfalls ein intensiver Austausch verband. Kapitel 2 der vorliegenden Studie versucht eine kritische Würdigung des Übersetzers Fried-

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helm Kemp, die neben seiner prominenten Vermittlerrolle auch die je nach Schaffensphase unterschiedlichen Prioritäten seiner Übersetzungspraxis thematisiert: Weisen seine frühen Übersetzungen poetisierende Tendenzen auf, so orientiert sich Kemp seit den sechziger Jahren an dem Primat der Anschaulichkeit, das jedoch immer wieder auch zu Konventionalisierungen führt. In Einzelfällen gestaltet Kemp beim Übersetzen eigene Lesarten und öffnet sich damit gegenüber Konzepten, die dem übersetzten Text literarischen Eigenwert verleihen. Anhand ausgewählter Beispiele seiner zwischen den vierziger und sechziger Jahren entstandenen Gedichtübersetzungen von Jules Supervielle, Charles Baudelaire und Yves Bonnefoy wird das Spektrum von Kemps Strategien aufgezeigt und ihr oft konflikthaftes Verhältnis zu seinen übersetzungstheoretischen Reflexionen diskutiert. Paul Celan, der seit 1948 in Paris gelebt hat, ist fraglos der bekannteste poète traducteur des hier untersuchten Korpus. Obwohl sein umfangreiches übersetzerisches Werk bereits seit den siebziger Jahren intensiv untersucht wird, standen seine Übersetzungen aus den Werken von René Char und Henri Michaux bislang nur selten im Fokus der Celan-Philologie. Dabei erweist sich ihre Untersuchung als besonders gewinnbringend für ein umfassendes Verständnis seiner komplexen Übersetzungspoetik, in der unterschiedlichste Verfahren wie Transformation, Umdeutung oder Wörtlichkeit nebeneinanderstehen. Unterscheidet die Celan-Forschung prinzipiell zwischen einer frühen und einer späten Phase seiner Übersetzungspraxis, so gelten die frühen Übersetzungen wie die von Rimbauds Bateau Ivre oder Valérys La Jeune Parque als „Gegenübersetzungen“17, die auf inhaltlicher und formaler Ebene in Opposition zum Ausgangstext treten; für die später entstandenen Übertragungen zeitgenössischer französischer Autoren wird hingegen eine Dominanz von Verfahren der Wörtlichkeit angenommen und mit einer Zurücknahme von Celans individueller Übersetzerstimme gleichgesetzt. Diese Forschungsmeinung soll im Folgenden differenziert und um neue Facetten angereichert werden: Zum einen wird an aussagekräftigen Übersetzungsbeispielen aufzuzeigen sein, dass sich Celan beim Übersetzen von Char und Michaux keineswegs auf eine „wörtliche Nachschrift“18 beschränkt. Zum anderen soll deutlich werden, dass Celan über verschiedene Strategien der „dichterische[n] Wörtlichkeit“19 verfügt, die nicht per se eine möglichst neutrale Wiedergabe anstreben, sondern gezielt zur Gestaltung einer individuellen Lesart des Originals beitragen. Von 17 18 19

Vgl. die Studie zu Celans Übertragungen von Harbusch (2005), die den Begriff „Gegenübersetzungen“ im Titel trägt. Dieser Begriff wurde von Bernhard Böschenstein geprägt, vgl. Olschner (1985), S. 57. FN, S. 398.

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besonderem Interesse wird dabei die Genese einzelner Übersetzungen sein, da die verschiedenen, im Nachlass erhaltenen Textfassungen die Eingriffe Celans dokumentieren und Rückschlüsse auf sein Textverständnis bzw. auf seine Herangehensweise erlauben, auch und gerade im Vergleich mit anderen Übersetzern. Neben Celans Char- und Michaux-Übersetzungen sollen erstmals auch die unveröffentlichten, von der Forschung bislang unbeachtet gebliebenen Übersetzungsentwürfe aus dem Werk von Yves Bonnefoy in den Fokus rücken.20 Trotz ihres fragmentarischen Charakters können in diesen Gedichtfassungen Strategien identifiziert werden, die sich an die Prämissen von Celans Übersetzungspoetik rückbinden lassen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch der Vergleich mit Friedhelm Kemps Bonnefoy-Übersetzungen, da er die divergierenden Strategien der Übersetzer augenfällig macht. Vor dem Hintergrund aktueller Forschungsarbeiten und unter Berücksichtigung eines in Deutschland bislang unveröffentlichten Briefes von Celan an den Übersetzer Karl Dedecius aus dem Jahr 1960 soll das vorherrschende Bild von Celans Übersetzungsverständnis präzisiert und teilweise neu akzentuiert werden. Der Übersetzer, Lyriker und Romancier Ludwig Harig hat sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs intensiv mit französischer Literatur beschäftigt, genauer gesagt seitdem er im Rahmen seiner Lehrerausbildung von 1948 bis 1949 als „Assistant d’allemand“21 in Lyon tätig war und auf Anregung seines Bekannten Roland Cazet erste Übersetzungen aus dem Französischen anfertigte (Kap. 4). Im Jahr 1955 machte ihn sein literarischer Mentor Max Bense auf den französischen Schriftsteller Raymond Queneau aufmerksam, dessen lyrisches Werk fortan im Zentrum von Harigs Übersetzertätigkeit stand. Mit welchen Strategien Harig die angeblich unübersetzbaren sprachartistischen Gedichte Queneaus ins Deutsche übertragen hat und welche Verbindungslinien zwischen seiner Schreib- und Übersetzungspraxis bestehen, wird anhand seiner Übersetzungen des parodistischen Langgedichts Petite cosmogonie portative bzw. der Queneau’schen Sonette aufgezeigt. Mit diesem Kapitel wird erstmals der Versuch unternommen, Harigs Übersetzungspraxis wissenschaftlich fundiert und im Rückgriff auf unveröffentlichtes Archivmaterial zu analysieren. Als einziger Übersetzer des gewählten Korpus hat der in Dresden geborene Schriftsteller Volker Braun nicht direkt aus dem Französischen übersetzt, sondern seine Fassungen von Alain Lance’ Gedichten auf Basis von Interlinearübersetzungen (Kap. 5) angefertigt. Es wird zu zeigen sein, dass dieses Verfahren im Kontext der fraternité poétique zwischen Lance und 20 21

Vgl. Böschenstein (2008), S. 214. Vgl. Ludwig Harig: Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf. Roman. München/Wien 1996, S. 143.

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Braun einen methodisch günstigen Ausgangspunkt für die Gestaltung individuell akzentuierter Übersetzungen darstellt. Die Praxis des „Nachdichtens“, bei der Lyriker philologisch genaue Rohfassungen in eine poetische Form bringen, war auch für die vom SED-Regime geförderten Anthologien ausländischer Lyrik von Bedeutung, wie im politischen Kontext der Literaturvermittlung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in der DDR dargelegt wird (Kap. 5.1.1). In Abgrenzung von dieser gesteuerten Literaturvermittlung wird aufgezeigt, unter welchen Bedingungen der literarische Austausch zwischen Lance und Braun stattfand (Kap. 5.1.2). Die leitenden Fragen der anschließenden Übersetzungsanalysen zielen zum einen auf die geschichtliche Signatur und die politische Stoßrichtung von Brauns Vermittlertätigkeit (Kap. 5.2), zum anderen auf die Verbindungslinien zwischen seinen Übersetzungsstrategien und seinem eigenen Werk. Insgesamt widmet sich die vorliegende Studie vier zentralen Persönlichkeiten der deutsch-französischen Lyrikvermittlung nach 1945, die als Übersetzer und Übersetzungspoetologen agierten. Angesichts der historisch reflektierten Strategien, mit denen sie ihre je individuellen Lesarten der französischen Originaltexte gestalten, muss das Bild eines maßgeblich von „literarischen Importeuren“22 bestimmten Austauschs zwischen den vierziger und siebziger Jahren korrigiert werden. Mit der Kombination theoretischer, historischer und textanalytischer Ansätze möchte die Studie zeigen, dass sich in der dialogisch konzipierten Übersetzungspraxis bzw. in den begleitenden theoretischen Reflexionen der ausgewählten Übersetzer nach 1945 ein neues Paradigma der Lyrikübersetzung herausbildet, das sich im Anschluss an Henri Meschonnic als poetische Interaktion bezeichnen lässt. Bei der Untersuchung dieses Paradigmas wird auch das Selbstverständnis der Übersetzer zu konturieren sein, die für ihre Übertragungen literarischen Eigenwert beanspruchen.

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Apel/Kopetzki (2003), S. 123.

1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion: Paradigmen der literarischen Übersetzung im Epochenkontext Die Paradigmen der Einbürgerung des Ausgangstextes bzw. der Verfremdung der Zielsprache kennzeichnen zwei Strategien, deren oft als aporetisch erkannte Dichotomie die Übersetzungsreflexionen seit der Antike bestimmen und bis heute unter verschiedenen Blickwinkeln immer wieder kontrovers diskutiert werden. Beide Verfahren, die nur in seltenen Fällen in Reinform Anwendung finden, existieren in ihrer je spezifischen Stoßrichtung sprach-, länder- und epochenunabhängig. In der europäischen Geschichte der literarischen Übersetzung haben sich diese Paradigmen im französischen Klassizismus bzw. in der deutschen Romantik idealtypisch herausgebildet. Während die Praxis der adaptierenden Einbürgerung des Originals in die Zielkultur, auch bekannt unter dem Begriff der Belles Infidèles,1 den Aufstieg der französischen Nationalsprache seit dem 16. Jahrhundert begleitet, beeinflussen die sprachmimetischen Verfremdungsstrategien die Entwicklung der deutschen Nationalsprache und -literatur seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Für ein erwachendes Nationalbewusstsein in Dienst genommen, erlangt die Übersetzung als poetisches Exerzitium sowie als Vermittlungsmedium literarischer Stoffe und poetischer Formen eine zentrale Bedeutung. Fungiert das Übersetzen in beiden Ländern als Instrument der Sprachpflege und Sprachnobilitierung, so erhält es allerdings je unterschiedliche Funktions- und Statuszuschreibungen. Die folgenden Kapitel setzen sich das Ziel, die genannten Übersetzungsverfahren der Belles Infidèles (Kap 1.1) bzw. der Epoche um 1800 (Kap 1.2) anhand von prägnanten Textbeispielen in ihrem (sprach-)historischen Kontext zu erläutern und dabei immer auch die von dem jeweils vorherrschenden Ideal abweichenden Strömungen und Impulse zu berücksichtigen. Auf der Grundlage der Diskussion verschiedener Übersetzungsfunktionen und ihrer epochengeschichtlichen Kontexte lassen sich die Aktualisierungen tradierter Verfahren in der Übersetzungspraxis des 1

Vgl. zum kanonisierten Begriff Belles Infidèles (dt. „schöne Ungetreue“) Kap. 1.1. Eine umfassende Studie zum Phänomen der Belles Infidèles hat Zuber (1995) vorgelegt.

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

20. Jahrhunderts bei Rudolf Borchardt und Walter Benjamin (Kap. 1.3) und insbesondere im Bereich der Lyrikübersetzung nach 1945 einordnen und erhellen (Kap. 1.4).

1.1 Imitatio: Die Übersetzung als Aneignung antiker Vorbilder im Klassizismus An der Schwelle zwischen Mittelalter und Renaissance vollzieht sich in der französischen Übersetzungspraxis eine grundlegende Wende vom philologisch-dokumentarischen zum künstlerisch-literarischen Übersetzen, dessen Tradition bis ins 18. Jahrhundert hinein vorherrschen wird. Bis ins 15. Jahrhundert dominieren in Frankreich Übersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen, die, oft vom Adel in Auftrag gegeben, als Instrument der Wissensvermittlung dienen.2 Im Zuge der Herausbildung der französischen Nationalsprache im 16. Jahrhundert wird der Übersetzung ein neuer Status und eine neue Funktion zugesprochen. 1539 setzt François I. (1494–1547) mit dem Edikt von Villers-Cotterêts die französische Sprache als juristische Amtssprache ein und schafft damit auch die Voraussetzung für eine Stärkung der Rolle der französischen Sprache im Bereich der Literatur.3 Nicht nur gegenüber dem Lateinischen, sondern auch gegenüber dem Italienischen, das bereits seit Dantes Divina Comedia als ausgereifte Literatursprache gilt, hat sich das Französische nun zu profilieren.4 Dieses emanzipatorische Streben bedient sich auch und gerade des Mediums der literarischen Übersetzung. Das in diesem Kontext herausgebildete Ideal einer freieren, einbürgernden Übersetzungsweise herrscht in der klassizistischen Epoche autoren- und gattungsübergreifend vor. Liegt der Schwerpunkt der Übersetzungspraxis im 16. und 17. Jahrhundert auf der Vermittlung philosophisch-historischer Texte und verschiebt er sich im 18. Jahrhundert auf die europäische Dramen- und Romanproduktion, so zeigen sich die einbürgernden und poetisierenden Strategien auch und gerade in den Übersetzungen lyrischer Texte, insbesondere in den französischen Fassungen der Dichtungen Vergils.

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Vgl. dazu Stackelberg (1972), S. 5–9. Zur Förderung von Übersetzungen durch den französischen Adel siehe Nies (2009), S. 22 ff. Zur historischen Entwicklung der französischen Sprache und Literatur im 16. Jahrhundert vgl. Leeker (2008), S. 798–804. Die Prädominanz des Italienischen im 16. Jahrhundert zeigt sich auch darin, dass sich Du Bellay bei seiner Sprachkodifizierung an Sperone Speronis Dialogo delle lingue (1542) orientiert und zentrale Gedanken Speronis auf die französische Sprache überträgt. Siehe Reichenberger (1998), S. 903 f.

1.1 Imitatio: Die Übersetzung als Aneignung antiker Vorbilder im Klassizismus

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Zehn Jahre nach dem genannten Edikt von François I. publiziert der französische Schriftsteller Joachim Du Bellay 1549 sein poetologisches Manifest La Deffence, et Illustration de la Langue Françoyse.5 Darin spricht er dem Französischen das Potential einer Literatursprache zu, das nur noch durch eine Ausweitung des Wortschatzes einerseits und stilistische Verfeinerungen andererseits entfaltet werden müsse, um mit dem Italienischen, Griechischen und Lateinischen konkurrieren zu können.6 Auch das Übersetzen gilt Du Bellay dabei als Instrument zur Nobilitierung der französischen Sprache, wenn es auch in seiner Abhandlung eine durchaus widersprüchliche Rolle einnimmt: Du Bellay differenziert nämlich zwischen der Tätigkeit des Übersetzens, das sich für wissenschaftliche Abhandlungen eigne, und der freieren Übertragungsform der ›Imitatio‹, die beim Übertragen literarischer Texte zu bevorzugen sei.7 Bloßes Übersetzen im Sinne einer Paraphrase („traduire“ bzw. „transcrire“8) lehnt Du Bellay als eine für die Weiterentwicklung der französischen Sprache schädliche Tätigkeit ab9 und befürwortet ausdrücklich die Praxis der „immitation“ [sic],10 also das Adaptieren und Assimilieren antiker Vorbilder: „Se compose donq’ celuy, qui voudra enrichir sa Langue, à l’immitation des meilleurs Aucteurs Grez, & Latins: & à toutes leurs plus grandes vertuz, comme à un certain but, dirrige la pointe de son Style.“11 Im Rückgriff auf Konzepte des freien Nachdichtens bei Cicero und Horaz definiert Du Bellay die Prämissen des Übersetzens neu. In seiner rhetorischen Abhandlung De optimo genere oratorum (46 v. Chr.) hatte sich Cicero, mit Bezug auf seine eigenen Übersetzungen aus dem Werk von Demosthenes und Aischines, gegen die Praxis der Wort-für-Wort-Übersetzung ausgesprochen.12 Ein zweiter Bezugspunkt neben Cicero ist Horaz. Die in seinem Literaturbrief De arte poetica (18–13 v. Chr.) dargelegten rhetorischen Prinzipien von Imitatio 5

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Joachim Du Bellay: La Deffence, et Illustration de la Langue Françoyse. In: Œuvres complètes. Sous la direction d’Olivier Millet par Richard Cooper, Francis Goyet, Marie-Dominique Legrand, Michel Magnien, Robert Mélançon, Daniel Ménager et G. Hugo Tucker. Préparé par Francis Goyet et Olivier Millet. Bd. 1. Paris 2003. Vgl. Du Bellay: La Deffence, et Illustration de la Langue Françoyse, S. 23. Du Bellays begriffliche Unterscheidung zwischen „traduire“ und „immitation“, von Stackelberg ausführlich erläutert (1966, S. 172; 1972, S. 17), wird in der Forschung immer wieder unterschlagen, woraus die irrtümliche Annahme erwächst, Du Bellay habe die Übersetzertätigkeit prinzipiell abgelehnt; so bei Maurer (1976, S. 235) und Ballard (1992, S. 150). Du Bellay: La Deffence, et Illustration de la Langue Françoyse, S. 43. Ebd., S. 30 bzw. S. 43. Ebd., S. 31. Ebd. Vgl. M. Tullius Cicero: De inventione. Über die Auffindung des Stoffes / De optimo genere oratorum. Über die beste Gattung von Rednern. Lateinisch-deutsch. Hrsg. und übersetzt von Theodor Nüßlein. Düsseldorf/Zürich 1998, S. 349.

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

und Aemulatio, die Nachahmung und Überbietung literarischer Vorbilder,13 entwickeln sich für die Übersetzer der klassizistischen Epoche zur treibenden Kraft bei der Bereicherung und Nobilitierung der französischen Sprache. In der Praxis gehen sie mit der umfassenden Einbürgerung sprachlicher oder kultureller Spezifika bzw. mit der poetisierenden oder explikativen Ausschmückung der Originaltexte noch über Ciceros Ansatz hinaus. Die Stoßrichtung der imitierenden Übersetzungspraxis spiegelt sich auch in einem spezifischen Vokabular wieder, dessen sich die Übersetzer in ihren Reflexionen und Selbstaussagen bedienen, dazu zählt z. B. die Wendung „naturaliser une œuvre“.14 Antoine Berman erläutert, wie sich die französischen Übersetzer des Klassizismus das Original und seine Sprache zugunsten ihres eigenen literarischen Ausdrucksvermögens instrumentalisierend aneignen, wenn er sagt: „l’original [est] considéré comme un ›trésor‹ qu’il s’agit d’annexer à la langue et à la culture nationale“.15 Resultat dieser einbürgernden Praxis ist eine „traduction ethnocentrique“16, eine auf die Zielsprache und die Zielkultur fokussierte Textfassung. Dass sich die französischen Literaten die antiken Werke derart unbefangen aneignen, lässt sich nur vor dem Hintergrund der fließenden begrifflichen Grenzen zwischen Original und Übersetzung bzw. zwischen Adaption und Plagiat17 verstehen, die erst im Zuge der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts ausdifferenziert und gefestigt werden. Im Folgenden wird beispielhaft eine Traditionslinie der klassizistischen Übersetzungspraxis herausgegriffen, die von Jacques Amyot über den Tacitus-Übersetzer Perrot d’Ablancourt bis zu Jacques Delille führt, dem Übersetzer von Vergils Georgica. Dabei gilt der Fokus zunächst dem Plutarch-Übersetzer Jacques Amyot, einem klassizistischen Übersetzer avant la lettre.18 Er war ein besonders einflussreicher Literaturvermittler, dessen französische Fassungen antiker Werke sowohl im eigenen Land als auch im europäischen Kontext zu literarischen Vorbildern avancierten. Anhand seiner französischen Fassung von Plutarchs Bíoi parálleloi soll 13 14 15 16

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Vgl. Stackelberg (1972), S. 3. Vgl. Abbé Prévost zu seiner Übersetzung von Samuel Richardsons Lettres Angloises ou Histoire de Miss Clarisse Harlov. In: Wilhelm Graeber: Französische Übersetzervorreden des 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1990, S. 127. Berman (1991), S. 12. Die Begriffe „ethnocentrique“ und „inauthentique“ sind in Antoine Bermans Konzept (2002) äquivalent: „La traduction inauthentique ne comporte à l’évidence aucun risque pour la culture et la langue nationales, si ce n’est de manquer tout rapport avec l’étranger“ (S. 238). Der Begriff des Plagiats erhält erst im 18. Jahrhundert eine negative Konnotation. Vgl. Ballard (1992), S. 151. Stackelberg (1966, S. 168) vergleicht die Wirkung von Amyots Plutarch-Übersetzung auf die französische Literatur mit derjenigen von Martin Luthers Bibelübersetzung auf die deutsche Literatur.

1.1 Imitatio: Die Übersetzung als Aneignung antiker Vorbilder im Klassizismus

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gezeigt werden, inwiefern das Primat der Klarheit und Verständlichkeit die Eingriffe des Übersetzers legitimieren sollte. 1.1.1 Jacques Amyots Plutarch-Übersetzung Zehn Jahre nach Erscheinen von Du Bellays kritischer Stellungnahme zur Praxis des Übersetzens veröffentlicht Jacques Amyot (1513–1593) seine französische Fassung von Plutarchs Bíoi parálleloi unter dem Titel Vies parallèles des hommes illustres grecs et romains (1559). Mit dieser von François I. in Auftrag gegebenen Übersetzung avanciert Amyot nicht nur zum führenden Vermittler des griechischen Geschichtsschreibers, sondern beeinflusst auch das literarische Schaffen seiner Zeitgenossen.19 Neben der Nobilitierung der französischen Zielsprache steht für Amyot das Ideal der „clarté“20 im Vordergrund, da er Plutarchs Werk mit Hilfe seiner explikativ-einbürgernden Übersetzung bei einem großen Lesepublikum bekanntmachen will – „[il] veut faire lire et comprendre“.21 Das Prinzip der Treue gegenüber dem Original tritt angesichts dieser Vermittlungsaufgabe in den Hintergrund, wie Amyot in seinem Vorwort ausführt: [L]’office d’un propre traducteur ne gist pas seulement à rendre fidèlement la sentence de son autheur, mais aussi à représenter aucunement et à adombrer la forme du style et manière de parler d’iceluy, s’il ne veut commettre l’erreur que feroit le peintre, qui ayant pris à pourtraire un homme au vif, le peindroit long là où il seroit court, et gros là où il seroit gresle, encore qu’il le feist naifvement bien ressembler de visage.22

Mit dem aus der Malerei stammenden Begriff „adombrer“ (lat. „adumbrare“: skizzieren, andeuten) benennt Amyot eine zentrale Forderung seiner Übersetzungspoetik, die er durch verdeutlichende Einschübe sowie die Anpassung kultureller Spezifika umsetzt.23 Angesichts dieser Eingriffe zieht Amyots Plutarch-Übersetzung auch harsche Kritik auf sich. In seinem Vortrag De la traduction (1635) fordert der Académicien ClaudeGaspar Bachet de Méziriac vom Übersetzer unbedingte Treue gegenüber antiken Werken: „[Que le traducteur] n’ajoute rien à ce que dit son Au19 20 21 22

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So behauptet Michel de Montaigne, die Lektüre Amyots habe ihn zum Schreiben in französischer Sprache ermutigt. Siehe Michel de Montaigne: Les Essais. Édition établie par Jean Balsamo, Michel Magnien et Catherine Magnien-Simonin. Paris 2007, S. 382. Cary (1963), S. 20. Ebd. Jacques Amyot: Aux lecteurs. In: Plutarch: Les vies des hommes illustres de Plutarque, traduites du grec par Amyot, Grand-Aumônier de France; avec des notes et des observations, par MM. Brotier et Vauvilliers. Nouvelle édition, revue, corrigée et augmentée par E. Clavier, Bd. 1. Paris 1801, S. XXV–LVI, hier S. LV. Vgl. dazu Norton (1984), S. 163.

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

teur, qu’il n’en retranche rien, & qu’il n’y rapporte aucun changement qui puisse altérer le sens.“24 Um Amyots Plutarch-Fassung als Negativbeispiel zu etablieren, zählt de Méziriac zahlreiche explikative Wendungen auf, die dem Leser die Figuren der griechischen Mythologie nahebringen sollen: Zephyr, den Gott des Westwindes, beschreibt der Übersetzer als „[Zéphyr] qui est celui du Ponent“.25 Und Pluto wird als „dieu de la richesse“ charakterisiert.26 Amyot bemüht sich an den genannten Stellen um eine leichte Verständlichkeit der Elemente antiker Kultur, an anderen Stellen bürgert er sie hingegen in die christlich-abendländische Lebenswelt seiner Leser ein: Die Begleiter Alexanders des Großen erscheinen als „gentilshommes de chambre“ (Kammerherren)27, „Theos wird zu ›le bon dieu‹ [und] Daimon zu ›le diable‹“.28 Neben diesen Erläuterungen enthält Amyots Plutarch-Übersetzung auch Erweiterungen ohne explikativen Charakter, die Antoine Berman der rhetorischen Praxis der amplificatio zuordnet.29 Diese poetisierende Strategie, die der Übersetzung den Status eines literarischen Kunstwerks verleihen soll, schlägt sich in metaphorischen Ausschmückungen nieder. So intensiviert Amyot den Ausdruck des Originals, indem er diskursive Wendungen durch bildhafte Ausdrücke ersetzt: Anstelle der Wendung „parler à quelqu’un avec hardiesse“ heißt es bei Amyot „parler des grosses dents“; eine Greisin wird umschrieben als „une femme prochaine de la fosse“.30 Trotz de Méziriacs Kritik an Amyots Übersetzung reicht deren Wirkung weit über Frankreichs Grenzen hinaus und steuert die Plutarch-Rezeption im europäischen Ausland.31 Einer der berühmtesten französischen Übersetzer des 17. Jahrhunderts, der Amyots einbürgernde Verfahren fortgeführt hat, ist Nicolas Perrot d’Ablancourt. Er wendet in seinen Übersetzungen vor allem ausschmückende Strategien an, die Elemente des Originals veranschaulichen und mit literarischen Referenzen ausstatten.

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Claude-Gaspar Bachet de Méziriac: De la traduction [1635]. Introduction et bibliographie de Michel Ballard. Arras 1998, S. 8. Zitiert nach: Méziriac: De la traduction, S. 17. Amyot verwendet hier die für das 13. Jahrhundert nachgewiesene Schreibweise „ponent“. Seit dem 16. Jahrhundert gilt auch die Schreibweise „ponant“. In: Le Petit Robert (2007), S. 2006. Méziriac: De la traduction, S. 17. Diese Beispiele nennt Schwarz (1924), S. 38. Diese Beispiele nennt Stackelberg (1972), S. 26. Berman (1991), S. 12. Ebd., S. 15. So dient Amyots Fassung der Vies parallèles dem englischen Übersetzer Thomas North als Grundlage für seine 1579 erschienene Version unter dem Titel Lives of the Noble Grecians and Romans, die für Shakespeares historische Dramen eine wichtige Bezugsquelle darstellt. Vgl. Denton (2007), S. 1416.

1.1 Imitatio: Die Übersetzung als Aneignung antiker Vorbilder im Klassizismus

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1.1.2 Perrot d’Ablancourts ›französischer‹ Tacitus Der Jurist Nicolas Perrot d’Ablancourt (1606–1664), seit 1637 Mitglied der Académie Française, knüpft in seinen Übersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen – von Lukian von Samosata, Plutarch, Tacitus und Xenophon – an die Übersetzungspraxis Jacques Amyots an.32 Als einer der wenigen Übersetzer seiner Zeit hat er sich stets darum bemüht, die Eingriffe in den Originaltext in Anmerkungen zu erläutern. In der an den Literaten Valentin Conrart adressierten Widmung seiner Übersetzung von Lukians Histoire véritable (1654) betont er, dass er keine bloßen Übersetzungen anfertigen wolle: „cela n’est pas proprement de la Traduction; mais cela vaut mieux que la Traduction; et les Anciens ne traduisoient point autrement“.33 In diesem Zusammenhang rechtfertigt er die Loslösung vom Wortlaut und Sinngehalt des Originals, indem er auf die unterschiedlichen Gebräuche verweist, die in der Antike bzw. im damaligen Frankreich herrschen: „Je ne m’atache [...] pas tousjours aux paroles ni aux pensées de cét Autheur [i. e. Lukian, A. S.]; et demeurant dans son but, j’agence les choses à nostre air et à nostre façon. Les divers temps veulent non seulement des paroles, mais des pensées différentes.“34 Angesichts d’Ablancourts gravierender Eingriffe in den Originaltext Lukians hat der französische Philologe Gilles Ménage (1613–1692) den Begriff der Belle Infidèle35 (dt. „schöne Ungetreue“) geprägt, eine metaphorische Bezeichnung, die ursprünglich durchaus positiv gemeint war. Auch d’Ablancourts Übersetzungen aus dem Werk des römischen Historikers Cornelius Tacitus sind durch zahlreiche Ausschmückungen gekennzeichnet. Ein besonders komplexes Beispiel findet sich in d’Ablancourts Fassung von Tacitus’ Germania, wo in Abschnitt 43 die Kriegsführung der Harier folgendermaßen beschrieben wird: Ceterum Harii super vires, quibus enumeratos paulo ante populos antecedunt, truces insitae feritati arte ac tempore lenoncinantur: nigra scuta, tincta corpora; atras ad proelia noctes legunt ipsaque formidine atque umbra feralis exercitus ter-

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Ballard (1992) sieht in d’Ablancourt eine „résurgence purifiée de celle d’Amyot, c’est-àdire un acte d’adaptation et de création autant que de traduction, et qui ne s’embarrasse pas de fidélité formelle“ (S. 196). D’Ablancourt: À Monsieur Conrart. In: Nicolas Perrot d’Ablancourt: Lettres et préfaces critiques. Publiées avec une introduction, des notices, des notes et un lexique par Roger Zuber. Paris 1972, S. 186. – Mit dem Begriff „Anciens“ rekurriert d’Ablancourt implizit auf Du Bellays Begriff der Imitatio sowie auf Ciceros Abwehr der Wort-für-Wort-Übersetzung. Ebd. Gilles Ménage: Menagiana ou Les bons mots et remarques critiques, historiques, morales et d’érudition. Recueillis par ses amis. Bd. 2. Paris 1729, S. 186. Vgl. dazu Stackelberg (1988), S. 16.

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

rorem inferunt, nullo hostium sustinente novum ac velut infernum aspectum; nam primi in omnibus proeliis oculi vincuntur.36

D’Ablancourt schmückt Tacitus’ Ausführungen mit einem Vergleich aus: De tous ces peuples les Ariens sont les plus puissans & les plus redoutez, & augmentent encore la terreur de leur nom par artifice; Car ils noircissent leurs corps & leurs boucliers avant que d’aller au combat, & choisissent la nuit la plus noire, de sorte qu’ils ressemblent à une armée infernale, dont on ne sçauroit souffrir la veuë; Car les yeux sont les premiers vaincus aussi bien en guerre qu’en amour.37 [Hervorhebung A. S.]

D’Ablancourt sieht in der Hinzufügung des Komparativs „qu’en amour“ ein Mittel der Stilverfeinerung – „pour égayer la pensée à l’imitation de l’auteur“.38 Diese Aussage ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen benennt d’Ablancourt sein Verfahren der „imitation de l’auteur“ und die zugrunde liegende Strategie der aemulatio explizit als Form eines literarischen Wettstreits mit dem Ausgangstext, zum anderen erläutert er mit dem Begriff „égayer“ auch den ästhetischen Effekt seiner Ausschmückung: die Anpassung seiner Übersetzung an den Lesergeschmack. Tatsächlich fügt die französische Fassung dem Original jedoch noch eine zusätzliche Bedeutungsdimension hinzu, wenn die auf die visuelle Wahrnehmung konzentrierte Kriegstaktik der Harier durch den Komparativ „qu’en amour“ mit dem von Petrarca geprägten Topos des Liebeskriegs verknüpft wird.39 Dieser aus literaturhistorischer Sicht anachronistische Einschub erweist sich als eine motivierte Intervention, die über die Strategie der poetisierenden Ausschmückung hinausgeht. Auch der Übersetzer Jacques Delille (1738–1813) hat sich dem Prinzip der Imitatio verpflichtet und dieses, wie es im Folgenden zu zeigen gilt, auf den Bereich des Versepos übertragen.

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In: Tacitus: Germania. Lateinisch/deutsch. Übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1995, S. 58–60. Tacitus: Les œuvres de Tacite. De la traduction de N. Perrot Sieur d’Ablancourt. Quatrième édition, reveuë & corrigée. Paris 1658, S. 743. Tacitus: Les œuvres de Tacite. Traduction de d’Ablancourt, S. 845. Vgl. den Beginn des Sonetts CVII aus Petrarcas Canzoniere, in dem das Motiv des Liebeskriegs direkt auf die Augen der geliebten Frau bezogen wird: „Non veggio ove scampar mi possa omai: / sì lunga guerra i begli occhi mi fanno, / ch’i’ temo, lasso, no’l soverchio affanno / distruga ’l cor che triegua non à mai.“ In: Francesco Petrarca: Canzoniere, Triumphe, Verstreute Gedichte. Italienisch und Deutsch. Aus dem Italienischen von Karl Förster und Hans Grote. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Hans Grote. Düsseldorf/Zürich 2002, S. 176 f.

1.1 Imitatio: Die Übersetzung als Aneignung antiker Vorbilder im Klassizismus

19

1.1.3 Jacques Delilles Georgica-Übersetzung Die Strategien der Einbürgerung und Ausschmückung prägen im französischen Klassizismus nicht nur die Übersetzungen historischer oder dramatischer Stoffe, sondern auch einen Großteil der Übersetzungen epischer Dichtung.40 In der Nachfolge von Amyot und d’Ablancourt verfasst der Schriftsteller Jacques Delille 1769 eine französische Fassung von Vergils Georgica im Stil der Belles Infidèles, an die er hohe künstlerische Ansprüche stellt. Ganz bewusst entscheidet er sich für die Übersetzung eines Versepos – Delille bezeichnet die Georgica als „Poëme Géorgique“41 –, von der er sich einen günstigen Einfluss auf die Entwicklung der französischen Sprache verspricht. Im Discours préliminaire zu seinen Géorgiques heißt es entsprechend:42 Notre langue, resserrée jusqu’ici dans ces deux genres [i. e. tragédie et comédie, A. S.], est restée timide et indigente, et n’acquerra jamais ni richesse ni force, si, toujours emprisonnée sur la scène, elle n’ose se promener librement sur tous les sujets susceptibles de la grande et belle poésie.43

Zwei Aspekte sind für Delille bei der Wahl von Vergils Georgica entscheidend: der Landbau als poetisches Sujet sowie der Versuch, ein antikes Versepos in französischen Alexandrinern zu gestalten. Mit der Entscheidung für den Gebrauch des Alexandriners distanziert sich Delille von der 1743 erschienenen Prosaübersetzung der Vergil’schen Werke von PierreFrançois Guyot Desfontaines.44 Dessen Behauptung, Versübersetzungen mangele es angesichts von Füllwörtern notwendigerweise an inhaltlicher Präzision, versucht Delille mit dem Hinweis auf die der Poesie eigenen „Harmonie“ zu entkräften, die eine Prosafassung nicht zu vermitteln imstande sei. So heißt es in Delilles Vorwort: J’ai préféré de [sic] traduire en vers, parce que, quoi qu’en dise l’Abbé des Fontaines, la fidélité d’une traduction de vers en prose est toujours très infidèle. Un

40

41 42 43 44

Die Praxis der Romanübersetzung wird in der vorliegenden Arbeit ausgeklammert. Die Vorreden der Übersetzer zeigen jedoch, dass im 18. Jahrhundert auch in diesem Bereich einbürgernd-poetisierende Übersetzungsstrategien vorherrschten, vgl. dazu den Kommentar von Pierre-Antoine de La Place zu seiner Übersetzung von Sarah Fieldings Roman L’Orphéline Angloise ou Histoire de Charlotte Summers. In: Graeber: Französische Übersetzervorreden des 18. Jahrhunderts, S. 126. Jacques Delille: Discours préliminaire. In: Vergil: Les Géorgiques de Virgile, traduction nouvelle en vers françois, enrichies de notes et de figures; par. M. Delille, Professeur en l’Université de Paris, au College de la Marche. Paris 31770. S. 5–55, hier S. 9. Delille hat 1805 Miltons Langgedicht Paradise Lost übersetzt. Delille: Les Géorgiques/Discours préliminaire, S. 19. Vgl. dazu D’Hulst (1990), S. 121.

20

1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

des premiers charmes des vers est l’harmonie. Or, l’harmonie de le prose ne sauroit représenter celle des vers.45

Die Frage nach der Angemessenheit von Prosa- oder Versübersetzungen ist auch im 19. Jahrhundert kontrovers diskutiert worden46 und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein aktuell geblieben.47 Dabei stellen Delilles Übersetzungen auch zweihundert Jahre nach ihrem Erscheinen noch einen zentralen Referenzpunkt dar: So beruft sich der einflussreiche Übersetzungswissenschaftler Efim Ėtkind in seinem Plädoyer für die Versübersetzung Un art en crise (1982) explizit auf die Leistungen des VergilÜbersetzers Jacques Delille.48 Die für Versdichtungen konstitutive „union du sens et des sons, des images et de la composition, du fond et de la forme“49 verlangt Ėtkind zufolge notwendigerweise eine Übersetzung in Versen, wie Delille sie in den französischen Fassungen der Georgica bzw. der Aeneis vorgenommen hat. Vernachlässige man hingegen beim Übersetzen von Gedichten die charakteristische gegenseitige Durchdringung von Form und Inhalt, so erhalte man keine „paraphrase sémantique du poème“,50 sondern degradiere vielmehr die zielsprachliche Textfassung zu einem „anti-poème“.51 Auch bei Delille steht die Überführung der lateinischen Hexameter in französische Alexandriner ganz im Dienste der Wiedergabe spezifisch poetischer Elemente wie „l’hardiesse, le mouvement, l’harmonie, les figures“, in denen er, wie es heißt, den besonderen „mérite de la Poésie“ erkennt.52 Delilles französische Georgica-Fassung markiert einerseits einen Höhepunkt in der Tradition der Belles Infidèles, da sie Boileaus Kriterien des „bon goût“ wie „clarté“, „bienséance“ und „pureté“ in ästhetisch anspruchsvoller Weise umsetzt.53 So kritisiert Delille in seinem Discours préliminaire aus45 46 47

48

49 50 51 52 53

Ebd., S. 42. Zur Position von Gérard de Nerval, der von Gedichten wie Bürgers Lenore oder Goethes Der König in Thule sowohl Vers- als auch Prosaübersetzungen angefertigt hat, vgl. Lombez (2004), S. 27–41. Bei Friedhelm Kemp stellt sich die Alternative zwischen Prosa- und Versübersetzung bei seiner Übertragung von Charles Baudelaires Fleurs du mal, auch und gerade in Abgrenzung von Stefan Georges Baudelaire-Übersetzung, vgl. Kap. 2.2.2. Zur Gestaltung des Alexandriners in Ludwig Harigs Queneau-Übersetzungen vgl. Kap. 4.3.3. So kontrastiert Ėtkind z. B. Delilles in Alexandrinern gehaltene Aeneas-Übersetzung (1805) mit der von extremer Wörtlichkeit geprägten Fassung von Pierre Klossowski aus dem Jahr 1964, in welcher er, Ėtkind, ein Beispiel für die von ihm konstatierte „Krise“ der Versübersetzung im Französischen sieht. Vgl. Ėtkind (1982), S. 263 f. Ėtkind (1982), S. XI. Ebd. S. XVII. Ebd. Ebd., S. 44. Delille war seit 1772 Mitglied der Académie Française und hatte von 1778–1796 sowie von 1802 bis zu seinem Tod 1813 einen Lehrstuhl im Fach Poésie latine am Collège de France inne.

1.1 Imitatio: Die Übersetzung als Aneignung antiker Vorbilder im Klassizismus

21

drücklich einen Treue-Begriff, der die vom klassisch gebildeten Publikum geforderte „bienséance“ vernachlässigt: J’ai toujours remarqué qu’une extrême fidélité en fait de traduction étoit une extrême infidélité. Un mot est noble en Latin; le mot François qui y répond est bas; si vous vous piquez d’une extrême exactitude, la noblesse du style est donc remplacée par de la bassesse.54

Andererseits kündigt sich in Delilles Versbehandlung, wie zu zeigen sein wird, implizit eine Distanznahme von der einbürgernden Übersetzungspraxis an. Und auch die im Vorwort formulierte Einsicht in die enge Verflechtung einer Sprache mit den kulturellen Spezifika eines Landes, der man sich im Medium der Übersetzung annähern könne, zeugt von Delilles Skepsis gegenüber den Übersetzungen seiner Zeit.55 Nur wenige Jahre nach Herders Schrift Von der griechischen Literatur in Deutschland (1766),56 in der die Praxis der Belles Infidèles scharf kritisiert wird, erkennt Delille in der Übersetzung ein Instrument, das die Zielsprache verfremden und dadurch bereichern kann, denn, so heißt es, „la langue dans laquelle on traduit, prend imperceptiblement la teinture de celle dont on traduit“.57 Entsprechend steht Delilles durchaus kritische Auseinandersetzung mit dem Ideal der Belles Infidèles in einem spannungsreichen Verhältnis zu seiner eigenen Übersetzungspraxis. Konventionelle und innovative Elemente existieren in seinen französischen Vergil-Fassungen nebeneinander und situieren Delille auf der Schwelle zwischen zwei Übersetzungsepochen. Orientiert sich Delille bei der Wahl des Vokabulars eng am Publikumsgeschmack, so zeigt er sich bei der Versgestaltung unkonventioneller. Einerseits passt er Vergils Versepos dem Bildungshorizont des französischen Lesers an, indem er sich der klassischen französischen Versform des Alexandriners bedient und diese streng in Paarreimen anordnet, andererseits behandelt er den Alexandriner und die Position der Mittelzäsur recht frei. Ein besonders sprechendes Beispiel für Delilles formalen Gestaltungswillen findet sich im dritten Buch der Georgica, wo der erbitterte Kampf zweier Stiere im Motiv einer Welle geschildert wird, die sich an der Küste bricht. Original und Übersetzung lauten wie folgt:

54 55 56 57

Delille: Les Géorgiques/Discours préliminaire, S. 48. Zur Tilgung der „mots bas“ in Delilles Übersetzung vgl. Stackelberg (1972), S. 55. Vgl. Delille: Les Géorgiques/Discours préliminaire, S. 41. Johann Gottfried Herder: Von der griechischen Literatur in Deutschland. In: Ders.: Frühe Schriften 1764–1772. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985. S. 303–365. Vgl. hierzu Kap. 1.2.1. Delille: Les Géorgiques/Discours préliminaire, S. 41. Delille geht jedoch nicht so weit, die syntaktischen Strukturen der Ausgangssprache in die Zielsprache zu transponieren, wie es Johann Heinrich Voß in seinen Homer-Übersetzungen tun wird. Vgl. dazu Kap 1.2.

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

Ad terras immanè sonat per saxa, nec ipso Monte minor procumbit; at ima exaestuat unda Vorticibus, nigramque alte subjectat arenam. (III, V. 239-241) Un flot de loin blanchit, s’allonge, s’enfle & gronde: Soudain le mont liquide élévé dans les airs, Retombe: un noir limon bouillonne sur les mers.58

Delilles Übersetzungsstrategie erweist sich als eine doppelte: Das Streben nach Anschaulichkeit koinzidiert mit einem formalen Experiment – wie der Übersetzer in seinem Vorwort erläutert: „Lorsque Virgile, peignant un flot qui tombe, a fait ces vers admirables, [...] pour rendre la pesanteur de cette chute, j’ai cru pouvoir hasarder une coupe de vers nouvelle.“59 Die einzelnen Elemente dieser Meeres-Szenerie werden von Delille zu einem klimaktisch komponierten, rhythmisch unterstützten Spannungsbogen verbunden: Steigert der erste Vers das Sprechtempo in der Beschreibung der heranbrausenden Wellen durch die enumeratio der Verben („blanchit, s’allonge, s’enfle & gronde“), so betont der zweite Vers die Plötzlichkeit („soudain“), mit der sich der Wasserberg erhebt, um dann mit Beginn des dritten Verses herabzustürzen. Mit diesem plötzlichen Fallen hält die Schilderung selbst inne, die Mittelzäsur des Alexandriners erfolgt nach dem Verb „retombe“, d. h. bereits nach der zweiten Silbe. Der zweite Halbvers umspielt in gesetztem Duktus den dunklen /o/-Nasal: „un noir limon bouillonne au fond des mers“. Delilles Vorziehen der Mittelzäsur verstößt offenbar aus semantischen Gründen bewusst gegen die von Boileau aufgestellten strengen Regeln für die Mittelzäsur des Alexandriners.60 Angesichts dieser formalen Neuerung erweist sich Delille als ein Übersetzer, der sich mitunter von herrschenden literarischen Normen befreit und seine Übersetzung individuell zu konturieren sucht. Durch seinen Anspruch, zwischen dem „goût vif pour la Poésie“, seiner „plus grande admiration pour Virgile“ und dem „grand respect pour le Public“61 zu vermitteln, wird er zu einer herausgehobenen Scharnierfigur zwischen der

58 59 60

61

Delille: Les Géorgiques/Discours préliminaire, S. 51. Vgl. auch S. 166 f. Die explikative Wendung „mont liquide“ (dt. „flüssiger Berg“) schwächt die im Original angelegte Metapher ab. Delille: Les Géorgiques/Discours préliminaire, S. 38. Im ersten Gesang der Art poétique (1674) von Boileau heißt es: „Ayez pour la cadence une oreille sévère: / Que toujours dans vos vers, le sens, coupant les mots, / Suspende l’hémistiche, en marque le repos.“ In: Nicolas Boileau: Art poétique. In: Ders.: Œuvres complètes. Introduction par Antoine Adam. Édition établie et annotée par Françoise Escal. Paris 1966, S. 159. Delille: Les Géorgiques/Discours préliminaire, S. 54.

1.1 Imitatio: Die Übersetzung als Aneignung antiker Vorbilder im Klassizismus

23

klassizistischen und der romantischen Epoche.62 In seiner Vorstellung stehen sich Ausgangs- und Zieltext gleichberechtigt gegenüber: „traduire, c’est importer en quelque façon dans sa langue, par un commerce heureux, les trésors des langues étrangères“.63 Übersetzen als ›glücklicher Tauschhandel‹, der das Original neu akzentuiert – mit diesem Schlagwort lässt sich das Übersetzerideal von Jacques Delille fassen. Wie die Kapitel 1.1.1 bis 1.1.3 gezeigt haben, erweisen sich der in den klassizistischen Übersetzungskonzepten herrschende Begriff der Imitatio und die damit verbundene Übersetzungspraxis als äußerst vielgestaltig: Sie reichen vom Popularisierungsstreben eines Jacques Amyot über die anspielungsreichen Ausschmückungen in d’Ablancourts Tacitus-Übersetzungen bis hin zu den formalen Innovationen des Vergil-Übersetzers Delille. Den hier untersuchten Übersetzern gemeinsam bleibt das Streben, beim Übersetzen zuallererst der französischen Sprache und der Nationalliteratur dienen zu wollen. Dass Jacques Amyot ausgerechnet durch seine einbürgernde Plutarch-Übersetzung als einer der „pères de la prose française“64 in die Literaturgeschichte eingegangen ist, wirft ein erhellendes Licht auf den Status und die Funktion der Übersetzung in einer für die Übersetzungsgeschichte zentralen Epoche wie dem Klassizismus.65 Als in mehrfacher Hinsicht wegweisend zeigt sich demgegenüber Jacques Delilles Ansatz, der die poetische Gestaltungskraft des Übersetzers von den kulturund sprachgeschichtlich bedingten Normen seiner Epoche abzulösen sucht. Damit vollzieht er einen ersten Schritt hin zu einer textspezifischen Übersetzungspoetik. Darüber hinaus lässt sich seine Einsicht in die Notwendigkeit der Distanzmarkierung zwischen Sprachen und Kulturen in den Übersetzungskonzepten um 1800 weiterverfolgen, wo sie zu einem neuen Paradigma der Sprachverfremdung erhoben wird.

62

63 64 65

In Frankreich wird der Übergang vom Ideal der Einbürgerung zum Primat der Wörtlichkeit maßgeblich von zwei Übersetzern vollzogen: François-René de Chateaubriand (1768– 1848) setzt sich im Vorwort zu seiner 1836 erschienenen Übersetzung von Miltons Paradise Lost eine „traduction littérale“ zum Ziel, während sich Leconte de Lisle (1818–1894) mit seiner Fassung der Illias (1867) an einer historisch-rekonstruierenden Übersetzung versucht. Dazu Lombez (2003), S. 24. Delille: Les Géorgiques/Discours préliminaire, S. 41 f. Vgl. Jean-Jacques Ampère: Anciens auteurs français – Amyot. In: Revue des deux mondes. 4. Serie, Bd. 26 (1841), S. 717–733, hier S. 717. Zum Einfluss der Ideale des französischen Klassizismus auf Johann Christoph Gottsched vgl. Apel (1982), S. 36–39.

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

1.2 „Fremde Aehnlichkeit“ oder poetische Erweiterung: Übersetzungskonzepte um 1800 Bei aller Vielgestaltigkeit der Übersetzungskonzeptionen um 1800 zeichnet sich eine grundlegende Stoßrichtung ab: Die Übersetzer und Gelehrten dieser Zeit grenzen sich vom Paradigma der Belles Infidèles ab und streben nach einer grundsätzlichen Neubestimmung von Status und Aufgabe literarischer Übersetzungen in die deutsche Sprache. So finden sich zwischen den sechziger Jahren des 18. und den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch konzeptionelle Erweiterungen des Übersetzungsbegriffs, die sich im Spannungsfeld des erwachenden historischen Bewusstseins und der aufkeimenden Philologie einerseits sowie dem romantischen Poesieverständnis andererseits verorten. In einer Epoche, in der sich die deutsche Sprache als Nationalsprache konstituiert, wächst das Interesse an fremden Sprachen und fremden Literaturen, von deren Rezeption sich die Übersetzer sowohl formästhetische als auch thematische Bereicherung erhoffen. Gleichzeitig soll dem zielsprachlichen Publikum ein lebendiger Eindruck von der fremden Struktur und dem fremden Klang des Ausgangstextes vermittelt werden. In diesem Zusammenhang spielt der von Goethe 1827 geprägte Begriff der „Weltliteratur“ eine zentrale Rolle, mit dem er die literarischen Produkte eines sprach- und grenzüberschreitenden ›Handelsverkehrs‹ bezeichnet – den Übersetzern weist er in diesem Austausch eine herausgehobene Rolle zu.66 Hat Friedrich Schlegel in seinen posthum erschienenen Notizen zur Philosophie der Philologie (1797) behauptet, dass erst noch zu klären wäre, „was eine Übersetzung sey“,67 so umfasst der Resonanzraum dieser Aussage ein breites Spektrum möglicher Ansätze: Neben der prinzipiellen Infragestellung der Übersetzbarkeit literarischer Texte stehen neu zu er66

67

In Goethes Aufsatz zu Alexandre Duvals Drama Le Tasse heißt es: „Ueberall hört und lies’t man von dem Vorschreiten des Menschengeschlechts, von den weiteren Aussichten der Welt- und Menschenverhältnisse. Wie es auch im ganzen hiemit beschaffen sein mag [...], will ich doch von meiner Seite meine Freunde aufmerksam machen, daß ich überzeugt sey, es bilde sich eine allgemeine Weltliteratur, worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle vorbehalten ist. Alle Nationen schauen sich nach uns um, sie loben, sie tadeln, nehmen auf und verwerfen, ahmen nach und entstellen, verstehen oder mißverstehen uns, eröffnen oder verschließen ihre Herzen: dieß alles müssen wir gleichmüthig aufnehmen, indem uns das Ganze von großem Werth ist.“ In: Johann Wolfgang von Goethe: Le Tasse. In: Ders.: Ästhetische Schriften 1824–1832. Über Kunst und Altertum V–VI (= Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 22). Hrsg. von Anne Bohnenkamp. Frankfurt am Main 1999, S. 353–357, hier S. 356 f. Friedrich Schlegel: Zur Philologie. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner. Bd. 16. Paderborn 1981, S. 35–81, hier S. 54.

1.2 „Fremde Aehnlichkeit“ oder poetische Erweiterung: Übersetzungskonzepte um 1800

25

probende, die deutsche Sprache bis an ihre Grenze verfremdende Übersetzungsstrategien bei Johann Heinrich Voß und Wilhelm von Humboldt sowie die Annäherung von Übersetzung und Dichtung bei August Wilhelm Schlegel und Novalis. Im Zuge dieser begrifflichen und strategischen Neuausrichtung wird auch die Rolle des Übersetzers neu bestimmt. Er agiert nicht mehr als Eroberer literarischer Werke, sondern als Entdecker und Vermittler, der die eigene Nationalsprache durch die Berührung mit fremden Sprachen und Kulturen erweitern will. Kein Nachahmer antiker Vorbilder, sondern ein übersetzender Leser und Interpret, der mit dem Eingeständnis der notwendigen Begrenztheit seines jeweiligen Übersetzungsansatzes das Medium der Übersetzung selbst als ein potentiell unendliches, unabschließbares erkennt. Herder verknüpft die Aufgabe des Übersetzers mit einer grundlegenden Aufwertung seiner Rolle für die deutschsprachige Literatur,68 wenn er im Jahr 1767 fragt: „Wo ist ein Übersetzer, der zugleich Philosoph, Dichter und Philolog ist: er soll der Morgenstern einer neuen Epoche in unsrer Literatur sein!“69 Wenn im Folgenden zentrale Beispiele aus der Übersetzungstheorie und -praxis um 1800 vorgestellt werden, so liegt der Fokus auf der Differenzierung der verschiedenen Konzepte. Hat Jiří Levý treffend festgestellt, dass sich in der „Übersetzungsmethode der europäischen Romantik [...] der Individualismus in dem Bemühen [äußere], alle individuellen Züge der Vorlage, ihr zeitliches und nationales Kolorit, die Stilmerkmale, ja sogar den Wortlaut zu wahren“,70 so gilt es, die jeweiligen Verfahren der Übersetzer auch in ihren unterschiedlichen Stoßrichtungen zu beschreiben. Ziel der folgenden Kapitel ist demnach weniger eine umfassende Darstellung der Übersetzungsproblematik in der Epoche um 180071 als vielmehr eine Darlegung einzelner bedeutsamer Übersetzungsstrategien und ihrer ästhetischen Motivationen. 1.2.1 Die Abkehr von den Belles Infidèles Bevor die Übersetzer und Gelehrten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts positiv formulieren, worin sie die Aufgabe und Zielsetzung der literarischen Übersetzung sehen, verständigen sie sich darüber, welche Per68 69 70 71

Zu Theorie und Praxis des Übersetzens bei Johann Gottfried Herder zuletzt CouturierHeinrich (2012). Johann Gottfried Herder: Von den deutsch-orientalischen Dichtern. In: Ders.: Frühe Schriften 1764–1772. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985, S. 277–295, hier S. 293. Levý (1969), S. 27. Vgl. hierzu die umfassenden Studien von Huyssen (1969), Apel (1982, hier bes. S. 84– 147), Berman (2002) und Kitzbichler/Lubitz/Mindt (2009).

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

spektiven sie grundsätzlich ablehnen. Im Fokus dieser Kritik steht das Prinzip der Imitatio und die von ihm legitimierte einbürgernde Übersetzungspraxis der Belles Infidèles, die bis ins 18. Jahrhundert hinein in Frankreich vorherrscht, aber auch in Deutschland von aufklärerischen Denkern wie Johann Christoph Gottsched rezipiert und verbreitet wird. Vollzieht sich die Prägung neuer übersetzungstheoretischer Konzepte als bewusster Abstoßungsprozess „contre les traductions ›à la française‹“,72 so darf nicht übersehen werden, dass das Paradigma der Einbürgerung kein spezifisch französisches ist, sondern über Sprach- und Landesgrenzen hinaus Verbreitung und Zustimmung gefunden hat. Auch wenn die Dichotomie zwischen Einbürgerungs- und Verfremdungsideal historisch gesehen mit Frankreich und Deutschland verknüpft ist, handelt es sich jedoch nicht um sprachspezifische Übersetzungsstrategien. August W. Schlegel und Friedrich Schleiermacher gehören zu den Übersetzungstheoretikern, die diesen Umstand mitreflektiert haben. Eine der frühesten expliziten Abwehrreaktionen gegen das Ideal der einbürgernden Übersetzung stammt von Johann Gottfried Herder. In seinem Literaturbrief Von der griechischen Literatur in Deutschland (1766) verurteilt er den imperialistischen Impetus der Belles Infidèles und stellt ihm einen Ansatz entgegen, der die historische, kulturelle und sprachliche Distanz zwischen Original und zielsprachlichem Leser berücksichtigt: Die Franzosen, zu stolz auf ihren Nationalgeschmack, nähern demselben alles, statt sich dem Geschmack einer anderen Zeit zu bequemen. Homer muss als Besiegter nach Frankreich kommen, sich nach ihrer Mode kleiden, um ihr Auge nicht zu ärgern […]: französische Sitten soll er an sich nehmen, und wo seine bäurische Hoheit noch hervorblickt, da verlacht man ihn als einen Barbaren. – Wir armen Deutschen hingegen, noch ohne Publikum beinahe und ohne Vaterland, noch ohne Tyrannen eines Nationalgeschmacks, wollen ihn sehen, wie er ist.73

Herders polemische Kritik zielt nicht allein auf die Hegemonie des „goût classique“, sondern, in einem grundsätzlicheren Sinn, auf die Vorherrschaft der französischen Sprache als der in Europa führenden Literaturund Gesellschaftssprache. Identifiziert Herder das Französische bzw. die Franzosen mit der einbürgernden Praxis der Belles Infidèles, so übersieht er, dass es zur gleichen Zeit auch deutschsprachige Befürworter dieser Übersetzungsart gegeben hat. Umgekehrt folgert Herder aus seiner – in problematischem Sinne – länderspezifischen Perspektive, die „armen Deut72

73

Berman (2002), S. 62. Die Opposition gegenüber den Übersetzungsverfahren der Belles Infidèles ist nicht der einzige Auslöser für die von Herder mitinitiierte verfremdende Übersetzungspraxis. Herder schließt sich auch an die von Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger formulierte Kritik an Gottscheds klassizistischer Dichtungspoetik an. Breitingers zentraler Referenzpunkt ist dabei Bodmers Milton-Übersetzung von 1727. Herder: Von der griechischen Literatur in Deutschland, S. 307.

1.2 „Fremde Aehnlichkeit“ oder poetische Erweiterung: Übersetzungskonzepte um 1800

27

schen“, denen sowohl ein Nationalstaat als auch eine ausgereifte Literatursprache fehle, verträten ein ungleich produktiveres Übersetzungsverständnis. Die erhöhte Aufmerksamkeit für die inhaltlichen und stilistischen Spezifika des Originals, die sich in Herders Literaturbrief niederschlägt, versteht sich vor dem Hintergrund des erwachenden historischen Bewusstseins bei Übersetzern und Gelehrten sowie dem aufkommenden Geniekult in der Epoche des Sturm und Drang. Der ethisch-ästhetische Paradigmenwechsel von der Einbürgerung des Originals zur sprachmimetischen Verfremdung der Zielsprache, mit der Herausbildung der Philologie im frühen 19. Jahrhundert eng verknüpft, zeigt sich jedoch nicht nur in deutschsprachigen Übersetzungen. 1836 hat zum Beispiel der französische Autor François René de Chateaubriand seine Übersetzung von Miltons Langgedicht Paradise Lost vorgelegt, in der er sich dem Ideal der „littéralité“ (dt. „Wörtlichkeit“) verschreibt.74 Im Folgenden werden die Verfahren der Spracherweiterung durch Assimilierung fremdsprachlicher Spezifika an zentralen Übersetzungsbeispielen erläutert. 1.2.2 „Eine Farbe der Fremdheit“ – Strategien der Sprachverfremdung Eine der zentralen spracherneuernden Übersetzungsleistungen des späten 18. Jahrhunderts stellt die von Johann Heinrich Voß angefertigte Übersetzung der homerischen Epen Ilias und Odyssee dar, die in letztgültiger Fassung im Jahr 1802 erschien. Dieses Publikationsdatum markiert hinsichtlich der Odyssee den Schlusspunkt einer langjährigen Überarbeitungsphase, die von einer Wende in Voß’ Übersetzungsverständnis zeugt. Bei der ersten Fassung von 1781 hatte er vor allem die Erwartungen des Lesepublikums im Blick: „Mein Vorsatz ist“, so heißt es, „die Odyssee den Teutschen so verständlich zu geben, als sie’s Homers Zeitgenossen war; und nichts weiter.“75 In den folgenden Jahren verlagert sich Voß’ Augenmerk hin zu den Spezifika des Originals und zielt auf die Gestaltung der Hexameter. Friedrich Gottlieb Klopstock hat in seinem Christus-Epos Messias (1751– 1773) als Erster das griechische Versmaß in die deutsche Dichtung eingeführt. Richtet sich Voß mit diesem Verfahren gegen die Tradition der 74

75

Mit Blick auf Chateaubriands Übersetzung muss die These von Kitzbichler (2009) eingeschränkt werden, die besagt, „das Konzept größtmöglicher Formtreue, wie es von Humboldt und anderen vertreten wurde, [habe] in anderen europäischen Literaturen [weder] Analogien noch Nachahmer gefunden“ (S. 18). Zum Übersetzer Chateaubriand vgl. Bougeard-Vetö (2005). Johann Heinrich Voß: Anzeige, die Voßische Uebersetzung der Odyssee betreffend. In: Der Teutsche Merkur vom Jahr 1779, Nr. 7 (Julius), S. 196 f.

28

1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

Homer-Übersetzungen seiner Zeit und fordert er die Lesegewohnheiten der Deutschen in einem bis dato unbekannten Maße heraus, so gewinnt für ihn die Vermittlung der Eigenheiten griechischer Sprache und Literatur besondere Bedeutung. Mit der angestrebten „Amalgamierung von deutschen und griechischen Sprachgewohnheiten“76 verwirklicht er ein Gegenmodell zur einbürgernden Übersetzungspraxis der französischen Klassizisten. Anstatt Homer dem Publikumsgeschmack seiner Zeit anzupassen, will Voß den Charakter des griechischen Epenverses im Deutschen nachvollziehbar machen: „Diesen Reiz gleichschwebender Bewegung, und gleichgemessener Umfänge von Taktschritten“, betont er, „fühlt jedes, auch ungebildete Ohr, wie unter Griechenlands und Italiens Frühlingshimmel, so in den winternden Nordländern“.77 Die systematische Anpassung der deutschen Sprache an die griechischen Versstrukturen gründet auf Voß’ umfangreichen Studien zu einer angenommenen Verwandtschaft zwischen den beiden Sprachen. Die daraus entstandene Schrift Die Zeitmessung der deutschen Sprache, die den Gebrauch des quantitierenden Versmaßes im Deutschen legitimiert, erscheint 1802. Als Grundlage der Transposition fungiert die Einteilung des deutschen Wortschatzes in lange, kurze und mittelzeitige Silben, die eine Gestaltung quantitierender Verse ermöglichen soll.78 Im Folgenden werden einzelne Strategien erläutert, die Voß bei der Bildung der deutschen Hexameter in seiner Odyssee-Übersetzung anwendet. Die Unterschiede zwischen Voß’ Odyssee-Fassungen von 1793 und 1802 lassen sich anhand des gezielten Einsatzes eines antiken Versfußes nachvollziehen: des vierzeitigen, aus zwei Längen bestehenden Spondeus. Während Klopstock den Spondeus in den Hexametern des Messias meist durch einen Trochäus ersetzt hatte,79 versucht Voß, gegen die Regeln der deutschen Sprache, den Spondeus durch zwei lange, gleichgewogene Silben nachzubilden und sich auf diese Weise dem griechischen Vorbild anzunähern.80 In dieser Hinsicht radikalisiert Voß das Verfahren der Sprachverfremdung, wenn er den Hexameter im Deutschen durch eine Verknüpfung von Spondeen und Daktylen zu dynamisieren sucht. Die Bildung von Wortkomposita spielt für die Ausgestaltung von Voß’ Hexametern eine entscheidende Rolle. Dabei versucht Voß, sich möglichst eng an die griechische Vorlage zu halten. So weicht der Ausdruck „aus einem

76 77 78 79 80

Ebd., S. 51. Johann Heinrich Voß: Die Zeitmessung der deutschen Sprache. Beilage zu den Oden und Elegien. Königsberg 1802, S. 174–176. Häntzschel (1977), S. 59. Vgl. Kitzbichler (2009), S. 19. Häntzschel (1977), S. 61.

1.2 „Fremde Aehnlichkeit“ oder poetische Erweiterung: Übersetzungskonzepte um 1800

29

der reichsten Geschlechter“81 (14. Gesang, V. 211) der Wendung „von wohlbegüterten eltern“,82 und so wird die Wendung „der Donnerer Zeus Kronion“83 (14. Gesang, V. 268) von dem Ausdruck „der donnerfrohe Kronion“84 abgelöst.85 Ebenfalls im vierzehnten Gesang der Odyssee hat Voß einen übersetzten Vers verändert, damit sowohl die Wortstellung als auch der Versrhythmus der griechischen Vorlage möglichst genau entsprechen. In Vers 243 bezeichnet Odysseus sein von Krieg und Irrfahrt geprägtes Leben als ein gottgewolltes Schicksal, wenn es heißt: Über mich Armen verhängte der Rath Kronions ein Unglück (1781)86

Die betonte Endstellung des Götternamens Zeus erreicht Voß, indem er aus dem Eigennamen die zweite Silbe des Spondeus bildet, was auf den deutschen Leser besonders ungewöhnlich gewirkt haben muss: Doch mir armen beschied unheil der ordner der welt Zeus (1802)87

In diesem Vers nähert sich Voß seinem selbstgesteckten Ziel, da er sowohl die Wortfolge als auch das antike Versmaß im Deutschen umsetzt. Nicht nur für die deutsche Homer-Rezeption stellen Voß’ Fassungen von Ilias und Odyssee eine zentrale Etappe dar; auch für die Weiterentwicklung der deutschen Epik hat sich die Assimilierung des Hexameters, den z. B. Goethe für seine 1797 entstandene Idylle Herrmann und Dorothea verwendet, als bedeutsam erwiesen. Neben Johann Voß zählt auch Wilhelm von Humboldt zu den deutschsprachigen Übersetzern um 1800, die beim Übersetzen Verfahren zur „Erweiterung der Bedeutsamkeit und der Ausdrucksfähigkeit der eigenen Sprache“88 ausloten. Humboldt hat dieses Vorhaben in seiner in den 1790er Jahren begonnenen und 1816 veröffentlichten metrischen Über-

81 82 83 84 85 86 87 88

Homer: Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß von 1781. In: Ders.: Ilias/Odyssee. Mit einem Nachwort von Wolf Hartmut Friedrich und Literaturhinweisen von Frieder Schönnagel. München 1979, S. 631. Homer: Homers Odyssee von Johann Heinrich Voss, Bd. 2 (13.–24. Gesang). Mit einer Karte des Kefallenischen Reichs und einem Grundrisse vom Hause des Odysseus. Königsberg 21802, S. 32. Voß: Homer/Odyssee (1781), S. 632. Voß: Homer/Odyssee (1802), S. 35. Vgl. dazu Häntzschel (1977), S. 68. Voß: Homer/Odyssee (1781), S. 632. Voß: Homer/Odyssee (1802), S. 34. Vgl. dazu Häntzschel (1977), S. 72 f. Wilhelm von Humboldt: Einleitung. In: Aeschylos Agamemnon metrisch übersetzt von Wilhelm von Humboldt. In: Ders.: Übersetzungen (= Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, Bd. 8). Hrsg. von Albert Leitzmann. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1909. Berlin 1968, S. 117–146, hier S. 130.

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setzung von Aischylos’ Agamemnon-Tragödie zu realisieren versucht. Insgesamt hat Humboldt fast zwanzig Jahre an seiner deutschen AgamemnonFassung gearbeitet, doch erst seit 1804, im Anschluss an das Studium von Voß’ Abhandlung über die Zeitmessung der deutschen Sprache (1802), setzt er sich eine streng sprachmimetische Übersetzung zum Ziel, in der er das der griechischen Sprache zugrunde liegende System des quantitierenden Metrums auf die deutsche Sprache anwendet. Unterwirft er sich in dieser Übersetzung dem Ideal der „einfachen Treue“,89 das ihm zufolge erst eine die sprachlichen Formen des Originals bewahrende Strategie zu erreichen erlaubt, so vollzieht er damit auch eine dezidierte Abgrenzung von der einbürgernden Praxis der Belles Infidèles, in der Erläuterungen, Straffungen und Tilgungen nicht nur legitim, sondern ausdrücklich erwünscht sind. Humboldt spricht sich gegen diesen das Original verdeckenden Ansatz aus, wenn er sagt, man dürfe „nicht verlangen, dass das, was in der Ursprache erhaben, riesenhaft und ungewöhnlich [sei], in der Uebertragung leicht und augenblicklich fasslich seyn solle“.90 Aus dieser Kritik zieht Humboldt eine doppelte Konsequenz: Er möchte die Leser seiner Agamemnon-Übersetzung nicht nur mit spezifischen Elementen der griechischen Kultur und Mythologie konfrontieren,91 sondern auch mit dem Versmaß des Hexameters. In dieser zweifachen Zielsetzung sind ästhetische und kulturelle Aspekte aufs Engste miteinander verknüpft. In seiner Einleitung zum Agamemnon heißt es bei Humboldt: Wenn man in ekler Scheu vor dem Ungewöhnlichen noch weiter geht, und auch das Fremde selbst vermeiden will, so wie man wohl sonst sagen hörte, dass der Uebersetzer schreiben müsse, wie der Originalverfasser in der Sprache des Uebersetzers geschrieben haben würde [...], so zerstört man alles Uebersetzen und allen Nutzen desselben für die Sprache und Nation.92

Das Übersetzen hat Humboldt zufolge sowohl gegenüber der deutschen Sprache als auch gegenüber der deutschen Nation eine Aufgabe zu erfüllen, die sich als eine Bereicherung durch Fremdes versteht. Diese Herausforderung lässt sich jedoch nicht mit Hilfe leicht verständlicher deutscher Fassungen antiker Werke bewältigen, sondern nur durch Übersetzungen, 89 90 91 92

Humboldt: Einleitung zum Agamemnon, S. 132. Ebd., S. 133. Vgl. die Gegenüberstellung von Wilamowitz’ und Humboldts Übersetzungen in Kap. 1.3. Humboldt: Einleitung zum Agamemnon, S. 132. Im Fortgang seiner Ausführungen übt Humboldt Kritik an der Übersetzungspraxis der Belles Infidèles und identifiziert diese (ähnlich wie Herder in seinem Literaturbrief) mit der französischen Sprache: „Denn woher käme es sonst, dass, da doch alle Griechen und Römer im Französischen, und einige in der gegebenen Manier sehr vorzüglich übersetzt sind, dennoch auch nicht das Mindeste des antiken Geistes mit ihnen auf die Nation übergegangen ist, ja nicht einmal das nationelle Verstehen desselben [...] dadurch im Geringsten gewonnen hat?“ In: Humboldt: Einleitung zum Agamemnon, S. 132 f.

1.2 „Fremde Aehnlichkeit“ oder poetische Erweiterung: Übersetzungskonzepte um 1800

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die sowohl in sprachlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht „eine gewisse Farbe der Fremdheit“93 an sich tragen. In Humboldts Konzept ist das eigene Interesse an Spracherweiterung im Medium der Übersetzung eng mit dem Respekt vor dem Ausgangstext und seinen kulturellen und sprachlichen Spezifika verflochten. Im Primat der Spracherweiterung koinzidieren Voß’ und Humboldts Ansätze mit dem Konzept des Theologen, Philosophen und PlatonÜbersetzers Friedrich Schleiermacher, das dieser in seiner Rede Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens94 am 24. Juni 1813 in der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin dargelegt hat. Fokussiert auf Übersetzungen im Bereich von Wissenschaft und Kunst, entwirft er darin erstmals eine Systematik der zwei im europäischen Raum dominierenden Übersetzungsstrategien und fasst die grundlegende Dichotomie zwischen Einbürgerung und Verfremdung in einer berühmt gewordenen Formel zusammen: „Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe, und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.“95 Diese Opposition, die sich anhand der deutschen sprachmimetischen Übersetzungen seiner Zeitgenossen einerseits – Schleiermacher spricht hier von einem „assimilirenden Prozeß der Sprache“96 – und den französischen Belles Infidèles andererseits illustrieren lässt, findet sich ihrem Grundmotiv nach bereits in Herders Literaturbrief von 1766. Mit Blick auf die französischen Adaptionen antiker Literatur heißt es dort, Homer müsse „als Besiegter nach Frankreich kommen“,97 oder, mit Schleiermachers Worten, der Autor müsse sich auf den Leser zubewegen. Spricht sich Schleiermacher dezidiert und ohne Einschränkungen für die erstgenannte, den Leser herausfordernde und das Original respektierende Übersetzungsweise aus, so formuliert er auch das aus diesem Ansatz abzuleitende Kriterium für eine gelungene Übersetzung. Dieses sieht er in einer „Haltung der Sprache, die nicht nur nicht alltäglich ist, sondern die auch ahnden läßt, daß sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Aehnlichkeit hinübergebogen sey“.98 Friedmar Apel beschreibt das Ideal dieser Übersetzungsstrategie als „eine stärker gestaltende Form der Interlinearversion“.99 Ver-

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Humboldt: Einleitung zum Agamemnon, S. 132. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens. In: Kritische Gesamtausgabe, 1. Abteilung, Bd. 11: Akademievorträge. Hrsg. von Martin Rössler unter Mitwirkung von Lars Emersleben. Berlin/New York 2002, S. 67–93. Schleiermacher: Methoden des Uebersetzens, S. 74. Ebd., S. 93. Herder: Von der griechischen Literatur in Deutschland, S. 307. Schleiermacher: Methoden des Uebersetzens, S. 81. Apel (1982), S. 144.

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fremdendes Übersetzen soll Schleiermacher zufolge nicht punktuell, sondern in einem breit angelegten Vermittlungsprogramm praktiziert werden, das er als „ein Verfahren im Großen, ein Verpflanzen ganzer Litteraturen in eine Sprache“100 versteht. Die Leser sollen sich schrittweise an die fremden Elemente in den Übersetzungen gewöhnen können. Schleiermacher zielt demnach beim deutschen Publikum auf einen längerfristigen Lernprozess, wenn er sagt: Denn der Zweck ist ja offenbar damit nicht erreicht, daß ein überhaupt fremder Geist den Leser anweht; sondern wenn er eine Ahnung bekommen soll, sei es auch nur eine entfernte, von der Ursprache und von dem was das Werk dieser verdankt, und ihm so einigermaßen ersetzt werden soll, daß er sie nicht versteht: so muß er nicht nur die ganz unbestimmte Empfindung bekommen, daß was er liest nicht ganz einheimisch klingt; sondern es muß ihm nach etwas bestimmtem anderem klingen; das aber ist nur möglich, wenn er Vergleichungen in Masse anstellen kann.101

Im Gegensatz zu den Befürwortern der Belles Infidèles, aber auch in Opposition zu den Übersetzern der deutschen Aufklärung, etabliert Schleiermacher ein explizit historisch bedingtes, auf die sprachgeschichtliche Situation des Deutschen zugeschnittenes Konzept, dessen begrenzten zeitlichen Gültigkeitsanspruch102 er ebenso vorwegnimmt wie die eingeschränkte sprachspezifische Eignung der von ihm favorisierten verfremdenden Übersetzungsmethode. Nur eine Sprache, die „nicht in zu engen Banden eines klassischen Ausdrucks gefangen lieg[e], außerhalb dessen alles verwerflich ist“, eigne sich zu weitreichenden Erweiterungen qua Übersetzung und nicht nur zu „Nachbildungen“.103 Trotz der Konzentration auf die sich im Übersetzungsvorgang vollziehende „Sprachbewegung“104 reflektiert Schleiermacher in seiner Akademie-Rede durchaus auch auf den individuellen Eigenanteil des Übersetzers, der sich in der fremdsprachlichen Fassung eines Originalwerkes niederschlägt. In ganz grundsätzlichem Sinne spricht er zunächst von dem wechselseitigen Einfluss zwischen dem Menschen, der sein Idiom im täglichen Gebrauch beeinflusst, und dem jeweiligen Sprachsystem.105 Schleiermacher deutet zudem an, dass sich auch zwischen der Schreib- und der Übersetzungstätigkeit eines Autors Wechselwirkungen ergeben, wenn es heißt: „Noch andere Schwierigkeiten zeigen sich, wenn der Uebersetzer auf sein Verhältniß zu der Sprache sieht, in der er schreibt, und auf das Verhältniß seiner Uebersetzung zu seinen 100 101 102 103

Schleiermacher: Methoden des Uebersetzens, S. 82. Ebd. Ebd., S. 93. Ebd., S. 73; 82. Schleiermacher denkt hier m. E. an die Tradition der Belles Infidèles, auch wenn er sie nicht explizit benennt. 104 Vgl. Apel (1982). 105 Schleiermacher: Methoden des Uebersetzens, S. 71.

1.2 „Fremde Aehnlichkeit“ oder poetische Erweiterung: Übersetzungskonzepte um 1800

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anderen Werken.“106 [Hervorhebung A. S.] Schleiermacher ist sich offensichtlich der spezifischen Doppelrolle des übersetzenden Autors durchaus bewusst, doch da sie in der Kontroverse um einbürgernde bzw. verfremdende Übersetzungsstrategien nicht unmittelbar relevant ist, begnügt er sich hier mit Andeutungen. Diese von ihm angedeutete Verbindungslinie zwischen der Tätigkeit des Schriftstellers und der des Übersetzers steht hingegen im Zentrum der Reflexionen von August Wilhelm Schlegel und von Novalis, die bereits um 1800 entstanden sind. 1.2.3 Die poetische Übersetzung als Erweiterung des Originals Die Namen des Shakespeare-Übersetzers August Wilhelm Schlegel (1767– 1845) und des Schriftstellers Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1772– 1801) stehen für einen in mehrfacher Hinsicht erweiterten Übersetzungsbegriff. Wie Herder und Schleiermacher betonen auch sie die Empfänglichkeit der deutschen Sprache für die Aufnahme fremdsprachiger Literatur. Novalis spricht neben den römischen Übersetzern der Antike in erster Linie den deutschen Übersetzern eine genuine Anlage zur Literaturvermittlung zu.107 Schlegel betont seinerseits die „Biegsamkeit“108 der deutschen Sprache, wobei er diese Eigenschaft nicht als gegeben ansieht, sondern in ihr das Resultat einer konzentrierten Arbeit mit und an der Sprache erkennt.109 Von den bislang vorgestellten Übersetzungskonzeptionen unterscheiden sich die Ansätze von A. W. Schlegel und Novalis insofern, als sie im Übersetzungsvorgang eine genuin kreative Dimension erkennen und damit die tradierte Dichotomie von Treue und Veränderung zu überwinden suchen. Anders als Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher will A. W. Schlegel den Status der Übersetzung nicht als solchen markiert wissen, sondern plädiert für eine Wirkungsäquivalenz zwischen Original und Übersetzung, wenn er betont, es sei „alles sorgfältig zu entfernen, was daran erinnern könnte, daß man eine Kopie [hier: eine Übersetzung, A. S.] vor sich hat“.110 Demnach strebt er kein eigens zu prägendes, den ziel-

106 Ebd., S. 80. 107 Vgl. Novalis’ Brief an A. W. Schlegel vom 30. November 1797 in: Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich Hardenbergs, Bd. 1: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe. Hrsg. von Richard Samuel. München/Wien 22004, S. 648. 108 In: A. W. Schlegel: Vorerinnerung. In: Ders.: Geschichte der klassischen Literatur (= Kritische Schriften und Briefe, Bd. 3). Hrsg. von Edgar Lohner. Stuttgart 1964, S. 13–22, hier S. 18. 109 Vgl. A.W. Schlegel: Vorerinnerung/Geschichte der klassischen Literatur, S. 18. 110 A. W. Schlegel: Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters. In: Ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 7 (= Vermischte und kritische Schriften, Bd. 1). Hrsg. von Eduard Bö-

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sprachlichen Leser fremd anmutendes Übersetzeridiom an, sondern vielmehr eine Verschmelzung von Übersetzer- und Dichtersprache, die zentrale Spezifika des Originals nachbildet.111 In seinen Übertragungen von Shakespeares Dramen, die er ab 1797 veröffentlicht hat, sucht Schlegel das Ideal einer „poetische[n] Übersetzung“112 zu verwirklichen, zu deren Prämissen er die Wahrung der metrischen Form des Originals zählt. Im Gegensatz zu Voß, dessen Assimilierungsverfahren ihm zu weitreichend sind, bevorzugt er eine abgemilderte Form der sprachmimetischen Strategie. In seiner 1796 erschienenen Rezension übt Schlegel Kritik an Voß’ hexametrischer Homer-Fassung, wenn er sagt, der Übersetzer habe sich „überall an die griechische Ordnung anschmiegen wollen, nicht so nah wie möglich, (dies wäre sehr zu loben), sondern so nah wie es in [der deutschen Sprache] unmöglich [sei]“.113 Trotz der besonders betonten „Biegsamkeit“ des Deutschen steckt Schlegel der Aufnahme sprachlicher Spezifika engere Grenzen als andere Übersetzer seiner Zeit. Dabei ist seine eigene Aufgabe höchst ambitioniert: Als erster deutscher Übersetzer hat er sich das Ziel gesetzt, die Dramen Shakespeares in Blankversen, d. h. in fünfhebigen, reimlosen Jamben zu gestalten. In diesem Streben grenzt sich Schlegel von anderen deutschen Übersetzern ab, die für Shakespeares dramatische Werke entweder ein bereits im Deutschen eingebürgertes Versmaß wie den Alexandriner verwenden oder aber eine Prosafassung bevorzugen.114 Offensichtlich geht es Schlegel nicht um die metrische Gestaltung an sich, sondern um die Übernahme des im Original verwendeten Versmaßes, in dem er ein bedeutungstragendes Element literarischer Werke erkennt. Dazu heißt es: das Silbenmaß soll kein bloß äußerlicher Zierat sein, und es ist es bei echten Gedichten auch nicht, sondern es gehört zu den ursprünglichen und wesentlichen Bedingungen der Poesie. Ferner, da alle metrischen Formen eine entschiedene Bedeutung haben, [...] so ist es einer der ersten Grundsätze der Übersetzungskunst, ein Gedicht so viel nur immer die Natur der Sprache erlaubt in demselben Silbenmaß nachzubilden.115

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cking. Reprograf. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1846. Hildesheim/New York 1971. S. 24–70, S. 63. Das Verhältnis zwischen A. W. Schlegels Verfremdungsstrategien und Schleiermachers Konzept ist in der Forschung umstritten: Während Apel (1982, S. 119) eher die Nähe zu Novalis gegeben sieht, ziehen Huyssen (1969, S. 77; 86) und Koller (1984, S. 124) eine Verbindungslinie zu Schleiermacher. A. W. Schlegel: Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters, S. 61. A. W. Schlegel: Homers Werke von Johann Heinrich Voß. In: Ders.: Sämmtliche Werke 10 (= Vermischte und kritische Schriften, Bd. 4). Hrsg. von Eduard Böcking. Hildesheim/New York 1971, S. 115–192, hier S. 163. Borcks Shakespeare-Übersetzung in Alexandrinern erschien 1741. Christoph Martin Wielands Prosa-Fassung wurde zwischen 1762 und 1766 veröffentlicht. A. W. Schlegel: Vorerinnerung/Geschichte der klassischen Literatur, S. 17.

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In Bezug auf Shakespeares Dramen erschöpft sich Schlegels Begriff der „poetischen Übersetzung“ jedoch nicht im Primat der Nachbildung des Blankverses. Vielmehr sieht er in ihr eine paradox anmutende Übertragungsform, die, wie er sagt, „in gewissem Sinne noch treuer als die treueste prosaische sein könnte“.116 Weiter heißt es zu seinem Programm einer durch poetische Gestaltung zu erlangenden Treue: Wenn es nun möglich wäre, [Shakespeare] treu und zugleich poetisch nachzubilden, Schritt vor Schritt dem Buchstaben des Sinnes zu folgen, und doch einen Theil der unzähligen, unbeschreiblichen Schönheiten, die nicht im Buchstaben liegen, die wie ein geistiger Hauch über ihm schweben, zu erhaschen!117

Besonders augenfällig wird Schlegels Bemühen um poetische Gestaltung bei der Übersetzung von Shakespeares Wortspielen, die er als charakteristisches Element des Originals einstuft. Gleichzeitig erkennt er darin eine Herausforderung, der die deutsche Sprache (bislang) nur in begrenztem Maße gewachsen sei.118 Mit dem Wortspiel widmet sich Schlegel einem literarischen Stilmittel, dessen wörtliche Übertragung nur in Ausnahmefällen zu Wirkungsäquivalenz führt. Zu groß sind die Unterschiede zwischen dem Wortmaterial der verschiedenen Sprachen und den daraus zu gewinnenden klanglichen Effekten. Der Übersetzer wird demnach, wenn er die Funktion des Wortspiels im Kontext aufrechterhalten will, geradezu zu einer freien Umsetzung gezwungen. So auch Schlegel: In seiner Übertragung von Shakespeares Komödie The Merchant of Venice erfindet er ein neues Wortspiel, da er das im Original vorgeformte nicht direkt ins Deutsche transponieren kann. Im Dialog zwischen Lorenzo und Lanzelot in der fünften Szene des dritten Aktes heißt es:119 Lorenzo: I shall answer that better to the commonwealth, than you can the getting up of the negro’s belly: the Moor is with child by you, Launcelot. Launcelot: It is much that the Moor should be more than reason; but if she be less than an honest woman, she is, indeed, more than I took her for.

116 A.W. Schlegel: Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters, S. 62. 117 Ebd., S. 39–40. 118 Schlegel bezeichnet die Übertragung von Wortspielen als „eine[] Sache, wozu die deutsche Sprache am allerungeschicktesten [sei], weil sie immer nur arbeiten, niemals spielen [wolle]“. In: A. W. Schlegel: Nachschrift des Uebersetzers an Ludwig Tieck. In: Ders.: Sämmtliche Werke 4 (= Poetische Uebersetzungen und Nachbildungen nebst Erläuterungen und Abhandlungen. Zweiter Theil). Hrsg. von Eduard Böcking. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1846. Hildesheim/New York 1971, S. 123–130, hier S. 128. 119 Das folgende Beispiel bezeichnet Charlotte M. Craig (1989) als „recreation of Shakespeare’s punning“ (S. 220).

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Lorenzo: How every fool can play upon the word! [V. 40–48; Hervorhebung A. S.]120

Schlegels Wortspiel, das den im Original angelegten Gleichklang „Moor – more“ ersetzen soll, wirkt jedoch etwas konstruiert: Lorenzo: Das kann ich besser vorm Gemeinwesen verantworten als Ihr Eure Streiche mit der Mohrin. Da Ihr ein Weißer seid, Lanzelot, hättet Ihr die Schwarze nicht so aufgeblasen machen sollen. Lanzelot: Es tut mir leid, wenn ich ihr etwas weiß gemacht habe: aber da das Kind einen weisen Vater hat, wird es doch keine Waise sein. Lorenzo: Wie jeder Narr mit den Worten spielen kann! [Hervorhebungen A. S.]121

Die Homophonie zwischen den Worten „Weißer – weiß gemacht“ bzw. „weise – Waise“ ersetzt zwar die klanglichen Effekte des Originals, doch auf inhaltlicher Ebene mangelt es Schlegels Wortspiel an logischer Kohärenz. Dessen ungeachtet gilt es, hier das Bemühen des Übersetzers zu konstatieren, den Spezifika des Dramenverses gerecht zu werden, anstatt sich, wie Wieland, auf eine Wort-für-Wort-Übertragung zu beschränken und das Wortspiel zu ignorieren.122 Auch wenn Schlegels Wortspiel nicht so eingängig ist wie das englische, so passt es sich doch in den dialogischen Kontext ein, in dem Lorenzo auf Lanzelots ›pun‹ rekurriert, wenn er sagt: „How every fool can play upon a word.“ (V. 48) Hier erweist sich Schlegels Aussage, dass in der Poesie „wörtliche Übersetzung [...] noch lange keine Treue“ sei, als bedeutsam, da eine rein inhaltlich orientierte Paraphrase des Wortspiels die dramatische Funktion der Polysemie der Dramenverse unterschlägt und damit die Dynamik der Gesprächsszene suspendiert.123 Dass Schlegel die spezifischen Anforderungen und Aporien des von ihm angestrebten Ideals einer „poetischen Übersetzung“, die nur an einem herausgehobenen Beispiel aufgezeigt wurde, durchaus selbstkritisch und nicht unironisch reflektiert, zeigt das 1827 verfasste 120 William Shakespeare: The Merchant of Venice (= Shakespeares Werke, Bd. 2). Übersetzt von A. W. Schlegel. Englisch und deutsch. Hrsg. von L. L. Schücking. Darmstadt 1961, S. 477–550, hier S. 527. 121 William Shakespeare: Der Kaufmann von Venedig (= Sämtliche Dramen in drei Bänden, Bd. 1: Komödien). Übersetzt von A. W. Schlegel. Nach der 3. Schlegel-Tieck-Gesamtausgabe von 1843/44. München 1988, S. 595–669, hier S. 646. 122 Vgl. William Shakespeare: Der Kauffmann von Venedig (= Theatralische Werke in 21 Einzelbänden, Bd. 6). Übersetzt von Christoph Martin Wieland. Im Auftrag der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur nach der ersten Zürcher Ausgabe von 1762 bis 1766 neu hrsg. von Hans und Johanna Radspieler. Zürich 1993, S. 91. 123 Schlegel: Vorerinnerung/Geschichte der klassischen Literatur, S. 17.

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Widmungsgedicht Als Julia an die Schauspielerin Sophia Müller, in dem die Unmöglichkeit einer dem Original in allen Punkten äquivalenten Übersetzung im Motiv des Echos gefasst wird. Über seine Arbeit am ›deutschen Shakespeare‹ heißt es: „Dem Genius des großen Britten / War ich begeistert nachgeschritten, / Doch lockt’ ich auf die deutsche Flur / Ein Echo seiner Worte nur.“124 In Novalis’ Reflexionen über die Möglichkeiten und Grenzen einer künstlerischen Übersetzung nehmen August Wilhelm Schlegels Shakespeare-Fassungen, die als Wendepunkt in der deutschsprachigen Rezeption des Dramatikers gelten, eine zentrale Rolle ein. Wie Novalis in seinem bereits zitierten Brief an A. W. Schlegel vom 30. November 1797 ausführt, gilt sie ihm als vorbildliches Beispiel für eine ›erweiternde Übersetzung‹.125 Dieser Begriff versteht sich im Rahmen der im BlüthenstaubFragment Nr. 68 (1797/98) etablierten Typologie, in der Novalis drei Übersetzungsweisen – die ›grammatische‹, die ›verändernde‹ und die ›mythische‹ – voneinander abgrenzt.126 Die erste Übersetzungsform, die ›grammatische‹, lässt sich mit Schleiermachers Vorstellung der „Paraphrase“127 verknüpfen. Sie ist jedoch für Novalis nur als Ausschlusskriterium von Interesse, da sie keinen künstlerischen Impetus zulasse und, wie er sagt, allein „diskursive Fähigkeiten“128 erfordere. Spezifischere Kompetenzen seien für eine ›verändernde‹ Übersetzung nötig, die Novalis folgendermaßen definiert: Zu den verändernden Übersetzungen gehört, wenn sie ächt seyn sollen, der höchste poetische Geist. Sie fallen leicht ins Travestiren, wie Bürgers Homer in Jamben, Popens Homer, die Französischen Übersetzungen insgesamt. Der wahre Übersetzer dieser Art muß in der That der Künstler selbst seyn, und die Idee des Ganzen beliebig so oder so geben können. Er muß der Dichter des Dichters seyn und ihn also nach seiner und des Dichters eigner Idee zugleich reden lassen können.129

124 A. W. Schlegel: Als Julia. In: Sämmtliche Werke, Bd. 1: Poetische Werke, Erster Theil. Hrsg. von Eduard Böcking. Reprograf. Nachdruck der dritten, sehr vermehrten Ausgabe Leipzig 1846. Hildesheim/New York 1971, S. 295. 125 Vgl. Novalis an A. W. Schlegel: „Nur für uns [Deutsche] sind Übersetzungen Erweiterungen gewesen.“ In: Novalis: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe, S. 648. 126 Novalis zufolge lassen sich die drei Übersetzungsformen nicht nur auf das Übersetzen von Büchern beziehen: „Nicht bloß Bücher, alles kann auf diese drey Arten übersetzt werden.“ In: Novalis: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub 1797/1798. In: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich Hardenbergs, Bd. 2. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl. München 22005, S. 255. Welche Art der Übertragung Novalis hier meint, bleibt offen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist diese Frage jedoch nicht von unmittelbarer Relevanz. 127 Schleiermacher: Methoden des Uebersetzens, S. 73. 128 Novalis: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub 1797/1798, S. 255. 129 Ebd.

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Als zentraler Gedanke dieses Passus lässt sich die Opposition zwischen zwei Arten der ›verändernden Übersetzung‹ festhalten, die Novalis jeweils unterschiedlich bewertet:130 Kritisch beurteilt er die Tendenz zum „Travestiren“ und führt als Negativbeispiele die einbürgernden Übersetzungen von Bürger und Pope sowie die Belles Infidèles („die Französischen Übersetzungen insgesamt“) an. Greift Novalis hier, ähnlich wie Herder im zitierten Literaturbrief, mit dem Lehnwort ›travestiren‹ (frz. „se travestir“ – „sich verkleiden“) einen Begriff aus dem Wortfeld des Schauspiels auf, so unterstreicht er damit seine Ablehnung willkürlich adaptierender Übersetzungsmethoden.131 Zu einer „ächten“ verändernden Übersetzung gehört für Novalis hingegen der „höchste poetische Geist“, den er den genannten Übersetzern abspricht.132 Im Zusammenhang des Blüthenstaub-Fragments Nr. 68 nennt er zwar keine Beispiele für dieses Ideal, erläutert jedoch die damit verbundene Rolle des Übersetzers als „Künstler“, der zum „Dichter des Dichters“ werde, indem er beim Übersetzen in einen Dialog mit dem Originalautor trete. Novalis zufolge hat die wahre ›verändernde Übersetzung‹ eine zweistimmige zu sein, in der sich Dichterstimme und Übersetzerstimme gleichzeitig vernehmen lassen, ohne sich gegenseitig zu verdecken. Mit der Forderung nach einer Gleichzeitigkeit zweier Stimmen im übersetzten Werk suspendiert Novalis die tradierte Opposition von Treue und Veränderung, an deren Stelle ein Prozess der ›Erweiterung‹ rückt. Diesem Ansatz liegt das Verständnis eines „offenen“, interpretationsbedürftigen Kunstwerks zugrunde, dem eine im konventionellen Sinne „treue“ Übersetzung nicht gerecht werden kann. Die künstlerische Berechtigung zum ›verändernden Übersetzen‹ wird bei Novalis an ein vertieftes Verständnis des Ausgangstexts gekoppelt, das wiederum willkürliche Eingriffe oder gar Verfälschungen ausschließen soll. Dazu heißt es im Blüthenstaub-Fragment Nr. 29: „Nur dann zeig ich, daß ich einen Schrift130 Siehe dazu Huyssen (1969): „Das dichterisch Schöpferische kennzeichnet aber eben gerade den nicht nur im negativen, sondern auch im positiven Verständnis verändernden Übersetzer.“ (S. 129) Anders argumentiert Kitzbichler (2009), die in der Bestimmung der „verändernden Übersetzung“ bei Novalis eine Aufwertung der französischen Belles Infidèles erkennt: „Als Beispiel für die verändernden Übersetzungen, die das Fremde dem Eigenen anverwandeln, führt [Novalis] neben Bürgers jambischer ›Ilias‹ und Alexander Popes gereimtem ›Homer‹ auch die sonst geschmähten französischen Arbeiten an“ (S. 44). Diese Lesart übersieht m. E. Novalis’ Differenzierung zwischen der ›ächten verändernden‹ und der ›travestirenden‹ Übersetzung. 131 Bei Herder heißt es, in Frankreich müsse sich Homer „nach [französischer] Mode kleiden“, d. h. die Homer-Übersetzungen müssen sich dem in Frankreich geltenden poetischen Regelwerk der klassizistischen Epoche unterwerfen. Vgl. Herder: Von der griechischen Literatur in Deutschland, S. 307. 132 Für diese Lesart spricht außerdem Novalis’ pejorativ konnotierte Wendung, die verändernden Übersetzungen „[fielen] leicht ins Travestiren“. In: Novalis: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub 1797/1798, S. 255.

1.2 „Fremde Aehnlichkeit“ oder poetische Erweiterung: Übersetzungskonzepte um 1800

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steller verstanden habe, wenn ich in seinem Geiste handeln kann, wenn ich ihn, ohne seine Individualität zu schmälern, übersetzen und mannigfach verändern kann.“133 Das ›mannigfache Verändern‹ soll also gerade nicht zu einer Beliebigkeit von Form und Ausdruck führen,134 sondern zu ›Erweiterungen‹ des Originals, die sich aus dem individuellen Lektüreverständnis des Übersetzers ergeben.135 Was Novalis damit fordert, erweist sich als übersetzungstechnisches Paradoxon: Treue wird in der ›verändernden Übersetzung‹ gerade durch die vom Übersetzer vorgenommenen Eingriffe erreicht, d. h. Treue und Veränderung bedingen sich gegenseitig. Den Charakter der von Novalis legitimierten ›Erweiterungen‹ genauer zu konturieren wird allerdings durch fehlende Präzisierungen erschwert: Weder in Bezug auf Schlegels Shakespeare-Übersetzungen noch hinsichtlich seiner eigenen fragmentarischen Übersetzung der Horaz-Ode III 25 mit dem Titel Quo me, Bacche führt er konkrete Beispiele an.136 Einzig Novalis’ Brief an A. W. Schlegel vom November 1797 enthält insofern einen Hinweis, als er darin die Tätigkeit des Übersetzens mit der des Dichtens gleichsetzt, wenn er sagt: „Übersetzen ist so gut dichten, als eigne Wercke zu stande bringen – und schwerer, seltner. Am Ende ist alle Poësie Übersetzung.“137 In diesem letzten Satz spielt Novalis auf die dritte und letzte Stufe seiner Übersetzungstypologie an, die ›mythische‹ Übersetzung. Sie steht in keinem unmittelbaren Bezug zur Übersetzungspraxis, sondern bezeichnet eine genuin romantische Vorstellung geschichts- und kunstphilosophischer 133 Novalis: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub 1797/1798, S. 238. 134 So bei Huyssen (1969), S. 129. 135 Dazu heißt es bei Novalis: „Der wahre Leser muß der erweiterte Autor seyn. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niedern Instanz schon vorgearbeitet erhält. Das Gefühl, vermittelst dessen der Autor die Materialien seiner Schrift geschieden hat, scheidet beym Lesen wieder das Rohe und Gebildete des Buchs – und wenn der Leser das Buch nach seiner Idee bearbeiten würde, so würde ein 2ter Leser noch mehr läutern, und so wird dadurch daß die bearbeitete Masse immer wieder in frischthätige Gefäße kömmt die Masse endlich wesentlicher Bestandtheil – Glied des wircksamen Geistes.“ In: Novalis: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub 1797/1798, S. 282. 136 Novalis’ fragmentarische Nachdichtung der Horaz-Ode III 25 Quo me, Bacche von 1799 wird in seiner Sammlung Letzte Gedichte (1799–1800) unter der Nr. 23 als eigenständiges Werk angeführt. In: Novalis: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, S. 131. Hans Jürgen Balmes sieht in der deutschen Fassung der Horaz-Ode eine Verwirklichung von Novalis’ Konzept der ›verändernden Übersetzung‹, bei der Novalis zum „Dichter des Dichters“ wird. Dazu heißt es bei Balmes: „[In] den Versen 6–12 folgt [Novalis] Horaz recht wörtlich, den angesprochenen Gott Bacchus (vgl. Horaz: ›Quo me, Bacche, rapis tui / Plenum‹) ersetzt er jedoch durch Fülle meines Herzens (Z. 2), die nun zum Gott des Rausches (Z. 3) wird. Die inspirierende Macht, die Horaz in dem Bild des Gottes personifizierte [...], verlegt N. so nach innen: der Topos der Fülle des Herzens wird zur Chiffre des dichterischen Vermögens des Gemüts.“ In: Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 3: Kommentar von Hans Jürgen Balmes. München 22002, S. 58. 137 Novalis: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe, S. 648.

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

Prägung, die auf den Anbruch des Goldenen Zeitalters als einer Durchdringung des ›poetischen und des philosophischen Geistes‹ verweist.138 Obwohl Novalis’ übersetzungstheoretische Reflexionen sich allein in fragmentarischen Notizen und in Briefen niederschlagen, konturieren sie einen zentralen Beitrag zur Funktion und zum Status der literarischen Übersetzung sowie zum neuen Rollenverständnis des Übersetzers um 1800. In Abgrenzung von den sprachmimetischen Strategien eines Humboldt oder eines Voß einerseits und den sowohl in Frankreich als auch in Deutschland verbreiteten einbürgernden Tendenzen andererseits, begreift er die ›verändernde Übersetzung‹ als einen individuell nuancierten, historisch gebundenen139 und daher prinzipiell unabschließbaren Vermittlungsvorgang, der das Original in der je spezifischen Lesart des Übersetzers neu gestaltet und erweitert. Als Resonanzraum bleibt dabei das utopische Moment von Novalis’ Übersetzungsbegriff stets mitzudenken. Als dezidierte Gegenbewegung zur normativen Übersetzungspoetik der Belles Infidèles steht die Epoche um 1800 in Deutschland ganz im Zeichen einer Erweiterung des Übersetzungsbegriffs, der neu zu erprobende Strategien hervorbringt. Hatten Übersetzer wie Jacques Amyot und Nicolas Perrot d’Ablancourt noch ein von außen an die Übersetzungspraxis herangetragenes poetisches Regelwerk zu befolgen, so streben vorwiegend deutschsprachige Übersetzer gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Autonomisierung der Übersetzertätigkeit und der ihr zugrunde liegenden Reflexionen an, die das Original und seine sprachästhetischen Spezifika in den Mittelpunkt stellen. Friedrich Schlegels Grundfrage, „was eine Übersetzung sey“,140 wird von Übersetzern und Gelehrten wie Johann Heinrich Voß, Wilhelm von Humboldt, August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schleiermacher auf je unterschiedliche Weise beantwortet. Als gemeinsamer Ausgangspunkt gilt, mal in radikaler, mal in abgemilderter Form, das Streben nach Spracherweiterung und „Sprachbewegung“.141 Unter neuen Voraussetzungen finden im 20. Jahrhundert bestimmte Aspekte dieses Ansatzes Eingang in große Übersetzungswerke wie Rudolf Borchardts Dantes Comedia deutsch (1930) sowie in einflussreiche Übersetzungsreflexionen wie Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers (1923).

138 Vgl. Novalis: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub 1797/1798, S. 255. Auch in den Materialien zu Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen klingt das Motiv eines künftigen Goldenen Zeitalters an: „Das ganze Menschengeschlecht wird am Ende poëtisch. Neue goldene Zeit.“ In: Novalis: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe, S. 397. 139 Novalis betont die historische Prägung von Übersetzungen, wenn er sagt, Schlegels „deutsche[r] Shakespeare [sei] jetzt besser, als der Englische“ [Hervorhebung A. S.]. In: Novalis: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe, S. 648. 140 Friedrich Schlegel: Zur Philologie, S. 54. 141 Vgl. die gleichnamige Studie von Friedmar Apel (1982).

1.2 „Fremde Aehnlichkeit“ oder poetische Erweiterung: Übersetzungskonzepte um 1800

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Nicht nur in der Weimarer Republik, sondern auch in der Übersetzungspraxis und -theorie der Nachkriegszeit finden sich aktualisierende Rückgriffe auf sprachmimetische, die Zielsprache verfremdende Verfahren. Auch Novalis’ antinormativer, die Dichotomie von Treue und Veränderung in das Primat einer dialogischen Zweistimmigkeit überführender Ansatz erweist sich insofern als zukunftsweisend, als er in der Praxis zahlreicher poètes traducteurs des 20. Jahrhunderts eine konkrete Ausformung erhält: In je unterschiedlicher Weise zeugen ihre Übersetzungen von dem zugrundeliegenden Prinzip einer „Treue durch Veränderung“.142 Initiieren die sprachmimetischen Verfahren in der Epoche der deutschen Romantik eine dialogische Beziehung zwischen Ausgangs- und Zielsprache,143 so etabliert sich in der Lyrikübersetzung im 20. Jahrhundert ein dialogisches Verhältnis zwischen dem Original und dem übersetzten Gedicht, die beide als künstlerisch gestaltete Texte gelten. Die in den vorangehenden Kapiteln dargelegten Übersetzungsstrategien von Imitatio und Verfremdung haben sich in den epochenspezifischen Kontexten des französischen Klassizismus bzw. der deutschen Romantik herausgebildet. Die (sprach)historischen Entstehungsbedingungen literarischer Übersetzungen haben sich im 20. Jahrhundert entscheidend gewandelt, denn viele Faktoren und Kriterien, die zur Ausbildung der beiden Paradigmen führten, wie die Entwicklung und Pflege der Nationalsprachen, sind in dieser Form nicht mehr relevant. Folglich entbehren die mit ihnen verknüpften Ansätze der Einbürgerung und Verfremdung einer kultur- und sprachgeschichtlichen Legitimation. Im Bewusstsein der Epochenspezifik verwenden auch die im Zentrum der vorliegenden Studie stehenden poètes traducteurs nach 1945 einbürgernde oder verfremdende Verfahren, doch sie unterlegen ihnen jeweils neue, dialogisch ausgerichtete Perspektiven und integrieren die historischen Ansätze in ihre individuelle Auseinandersetzung mit dem Original. Die theoretischen Reflexionen des Übersetzers und Linguisten Henri Meschonnic spielen für das Verständnis dieses poetischen Dialogs zwischen Original und Übersetzung eine entscheidende Rolle, und zwar in besonderem Maße seine Charakterisierung der literarischen Übersetzung als einer „interaction de deux poétiques“.144

142 Siever (2010), S. 134. 143 Berman (1999, S. 23) erkennt in den sprachmimetischen Übersetzungskonzepten um 1800 ein „désir d’établir un rapport dialogique entre langue étrangère et langue propre“. 144 Meschonnic (1973), S. 308.

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

1.3 „Es kommt auf den Sinn nicht an“ – oder doch? Übersetzung bei Rudolf Borchardt und Walter Benjamin Mit Rudolf Borchardt (1877–1945) und Walter Benjamin (1892–1940) rücken zwei herausragende Übersetzer und Übersetzungstheoretiker des 20. Jahrhunderts ins Blickfeld, deren zum Teil widerstreitende Positionen für die Praxis der Lyrikübersetzung nach 1945 bedeutsam geworden sind. Während Benjamins Beschäftigung mit dem Phänomen der Übersetzung von einem genuin sprachphilosophischen Interesse motiviert ist, lässt sich Borchardts Übersetzertätigkeit als Teil seines kulturpolitischen Programms der „schöpferische[n] Restauration“145 begreifen. Auf der einen Seite steht die geschichtsphilosophische Reflexion über die messianische Vorstellung einer „reinen Sprache“, auf der anderen Seite der „Kampf gegen die Verschleuderung des Erbes der klassischen deutschen Philologie“.146 So unvereinbar die geistigen Hintergründe des Linksintellektuellen Benjamin und des Kulturkonservativen Borchardt auch sein mögen, so frappierend sind die Konvergenzen in ihren Übersetzungsreflexionen.147 Borchardts Gespräch über Formen (1905) und Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers (1921) überschneiden sich nicht nur in dem Streben, die von Humboldt und Schleiermacher geprägten Übersetzungskonzepte historisch-kultureller Distanznahme zu aktualisieren. Beide Ansätze zielen zudem auf eine grundlegende Neubestimmung von Funktion und Status übersetzter Werke. Ganz im Sinne von Borchardts Appell: „Wer ein griechisches Buch lesen will und nicht Griechisch kann, soll Griechisch lernen“,148 entbinden sie die Übersetzung von ihrer Bestimmung als Verständnishilfe und erheben sie in den Rang eines Kunstwerks. Wie es aufzuzeigen gilt, werden dabei tradierte Dichotomien von Treue und Freiheit wegen ihres normativen Charakters verworfen. Die genannten Parallelen dürfen jedoch nicht über die Differenzen zwischen Benjamins 145 Rudolf Borchardt: Schöpferische Restauration. In: Ders.: Reden. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hrsg. von Marie Louise Borchardt unter Mitarbeit von R. A. Schröder und S. Rizzi. Stuttgart 21998, S. 230–253. 146 Osterkamp (1981), S. 205. Vgl. Borchardt im Gespräch über Formen. In: Rudolf Borchardt: Prosa 1. Hrsg. von Gerhard Schuster. Stuttgart 2002, S. 17 f. 147 Borchardt und Benjamin sind sich – trotz ihres gemeinsamen Bekanntenkreises um Hugo von Hofmannsthal – nie persönlich begegnet; schriftliche Äußerungen zum Werk des anderen existieren nur vonseiten Benjamins. In einem Brief an E. Schoen schreibt Benjamin 1918, er lehne die Person Rudolf Borchardts ab, seine Werke entlockten ihm aber „Anerkennung ja Entzückung“ (S. 419). In: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. 1 (1910– 1918). Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt am Main 1995, S. 419. Zum ambivalenten Verhältnis zwischen Rudolf Borchardt und Walter Benjamin vgl. Osterkamp (1981) und Matz (2011). 148 Borchardt: Gespräch über Formen, S. 15.

1.3 „Es kommt auf den Sinn nicht an“ – oder doch?

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und Borchardts Perspektiven hinwegtäuschen, die sich auch in dem je unterschiedlichen Verhältnis von Übersetzungstheorie und -praxis manifestieren: Borchardts Reflexionen stehen in einem engen Bezug zu seinem umfangreichen Übersetzungswerk, in dem sich philologisches Interesse und poetischer Gestaltungswille miteinander verbinden.149 Mit seinem Essay Die Aufgabe des Übersetzers, der als Vorwort zu seinen Baudelaire-Übersetzungen fungiert, hat Benjamin einen der wirkmächtigsten Beiträge zur Übersetzungstheorie im 20. Jahrhundert geleistet und diese damit als Gattung auf eine neue Stufe gehoben.150 Jenseits der Belange der Übersetzungspraxis lotet er darin die philosophische Problematik des Sprachtransfers aus: Dabei greift er zum einen auf das Primat der Sprachverfremdung um 1800 zurück, zum anderen rekurriert er auf das Ideal der Wörtlichkeit, das die Theorie und Praxis der Bibelübersetzung bis zum Humanismus dominiert hat und noch im 20. Jahrhundert von jüdischen Übersetzern wie Martin Buber und Franz Rosenzweig umgesetzt wurde.151 Das vorliegende Kapitel verfolgt ein doppeltes Ziel: Zunächst werden die Konvergenzen und Differenzen zwischen Borchardts und Benjamins Übersetzungskonzepten herausgearbeitet, bevor deren Verbindungslinien zu den Verfahren der Lyrikübersetzer nach 1945 aufgezeigt werden. Benjamins und Borchardts Ansätze fungieren als Bindeglied zwischen den Übersetzungsepochen des 18. und des 20. Jahrhunderts. Wie es im Folgenden aufzuzeigen gilt, opponieren sie mit ihrem Rückgriff auf tradierte Konzepte der Sprachverfremdung gegen die seit Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland dominierende Übersetzungspraxis der Einbürgerung.152

149 Neben dem spracherneuernden Großprojekt Dantes Commedia deutsch (1930) hat Borchardt auch Übersetzungen antiker griechischer und lateinischer Texte von Pindar, Platon und Aischylos, Horaz, Tibull und Tacitus angefertigt. Einen weiteren Schwerpunkt seines Schaffens bilden Übertragungen englischer Lyriker aus dem 19. Jahrhundert wie Swinburne oder Dante Gabriel Rossetti. 150 Benjamin hat Gedichte bzw. Prosatexte u. a. von Baudelaire, Balzac, Jouhandeau, SaintJohn Perse, Tzara, D’Annunzio, Aragon und Bloy übersetzt. Vgl. Walter Benjamin: Kleinere Übersetzungen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Supplement 1. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Sholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1999. 151 Das Ideal der Wort-für-Wort-Übersetzung biblischer Texte gründet auf der Annahme von deren Sakralität, vgl. den Eintrag „Hebräische Bibel“ in: Neues Lexikon des Judentums. Hrsg. von Julius H. Schoeps. Gütersloh/München 1992, S. 184, sowie den Eintrag „Schriftauslegung“ in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5 (P–Se). Hrsg. von Hans Dieter Betz. Tübingen 31961, S. 1516 f. 152 Burdorf (2001), S. 449. Osterkamp (1981), S. 229.

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

1.3.1 Status und Funktion der Übersetzung Rudolf Borchardts und Walter Benjamins Reflexionen zum autonomen Status der Übersetzung als künstlerisches Werk richten sich gegen die auf Breitenwirksamkeit zielende Übersetzungspraxis um 1900. Einer ihrer prominentesten Gegenspieler ist der zu dieser Zeit äußerst renommierte Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931), dessen Übersetzungsverständnis im Folgenden näher betrachtet werden soll. Seine Übertragungen antiker griechischer Werke sind dem Primat der Verständlichkeit verpflichtet und sollen die Tragödiendichter und Philosophen einem großen Publikum nahebringen. In seinem Vorwort zu seiner deutschen Fassung von Euripides’ Hippolytos mit dem Titel Was ist übersetzen? (1891/1902)153 erklärt Wilamowitz die Vermittlung griechischer Literatur zur nationalen Verpflichtung, in deren Rahmen die Altphilologie ihr Verständnis antiker Schriften an den Leser weiterzugeben habe. Er vertritt die Auffassung, die deutsche Sprache sei inzwischen zur stilbildenden Übersetzersprache gereift: „Ins Deutsche übersetzten [sic]“, so Wilamowitz, „heißt in Sprache und Stil unserer großen Dichter übersetzen.“154 Der affirmative Gestus, mit dem Wilamowitz das Deutsche zur autonomen Literatursprache deklariert, lässt sich an das nationalistisch geprägte Selbstverständnis vieler Gelehrter der Gründerzeit rückbinden.155 In diesem Zusammenhang übt Wilamowitz Kritik an den GriechischÜbersetzern der Epoche um 1800, allen voran an Schleiermacher, dessen Platon-Übersetzung er jeden praktischen Nutzen abspricht: „Schleiermachern verdanken wir es, daß wir den wirklichen Platon wieder verstehn: aber ist etwa seine Übersetzung lesbar? liest sie jemand?“156 Wilamowitz’ Ziel besteht darin, das deutsche Lesepublikum an die antike Literatur heranzuführen, anstatt ihm die Originaltexte durch schwerverständliche Übersetzungen zu „verekeln“.157 Hinter dem Bestreben zur Popularisierung antiker Texte steht ein kulturpessimistisch grundiertes Programm, das sich, so Wilamowitz, dem sinkenden Bildungsniveau in Deutschland entgegenstemmen soll:

153 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Was ist übersetzen? In: Ders.: Reden und Vorträge. Berlin 21902, S. 1–26. 154 Ebd., S. 12. 155 Dieses Sprachverständnis direkt an das Jahr der Reichsgründung 1871 zu knüpfen, wie Kauffmann (2000, S. 133) es tut, birgt die Gefahr einer vereindeutigenden Korrelierung zwischen geschichtlichen Ereignissen und sprachlichen Entwicklungen. Dem Gründungsjahr des Deutschen Reiches kommt im Rahmen dieses Paradigmenwechsels m. E. eher ein symbolischer Wert zu. 156 Wilamowitz-Moellendorff: Was ist übersetzen?, S. 8. 157 Ebd.

1.3 „Es kommt auf den Sinn nicht an“ – oder doch?

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Und daß den Deutschen die hellenische Poesie in solchen [i. e. lesbaren, A. S.] Übersetzungen dargeboten wird, ist nur eines der Mittel, die not tun, um dem sittlichen und geistigen Verfalle zu steuern, dem unser Volk immer rascher entgegen geht; es ist vielleicht nur ein schwaches Mittel, aber wir Philologen verfügen allein darüber: wir müssen das unsere thun als Deutsche.158

Um die Lektüre seiner Tragödienfassungen zu erleichtern, tilgt Wilamowitz systematisch charakteristische Elemente der griechischen Kultur und Mythologie, indem er diese in den Horizont der deutschen Zielsprache bzw. der christlichen Religion einbürgert – ein Verfahren der Einebnung kultureller Spezifika, wie es schon die Übersetzungen im französischen Klassizismus kennzeichnete.159 So legt Wilamowitz in seiner Übersetzung von Aischylos’ Agamemnon von 1901 der Iphigenie ein „tischgebet“ bzw. einen biblischen „psalm“ in den Mund, obwohl im Original von einem „Trankopfer“ die Rede ist.160 Aufgrund solcher ahistorischen Reproduktion einbürgernder Übersetzungsstrategien verharren Wilamowitz’ Tragödien-Fassungen im Anachronismus. Die zeitgenössische Beliebtheit seiner Theaterübersetzungen hat dies indes nicht geschmälert.161 Borchardts und Benjamins übersetzungstheoretische Ansätze lassen sich als Opposition gegen die popularisierende Literaturvermittlung um 1900 verstehen. Gleichzeitig gehen beide insofern über die direkte Konfrontation mit den Tendenzen der zeitgenössischen Altphilologie und der von ihr legitimierten einbürgernden Übersetzungspraxis hinaus, als sie die Mitteilungsfunktion der literarischen Übersetzung prinzipiell in Frage stellen. Sie entbinden die literarische Übersetzung von ihrer dienenden Funktion als Verständnishilfe und richten ihren Fokus auf die Form bzw. auf deren Umsetzung im zielsprachlichen Text. Aus dieser Zweckfreiheit heraus erheben sie die Übersetzung in den Rang eines Kunstwerks. Eine vergleichende Analyse ihrer Übersetzungspoetiken darf sich jedoch nicht auf die Frage nach den Abgrenzungsbestrebungen zu zeitgenössischen Positionen beschränken. Von besonderer Bedeutung ist auch die Frage nach dem Einfluss von Elementen der jüdischen Kultur und Religion auf ihre Theoriebildung. Gert Mattenklott betont den Zusammenhang zwi158 Ebd., S. 2. 159 Vgl. Kap. 1.1. 160 Wilamowitz’ Übersetzung der 5. Strophe der 2. Szene lautet: „an frohen festen pries beim tischgebet / der jungfrau reiner mund / des vaters glück / mit kindlich liebevollem psalm“ (Z. 236–239). In: Aischylos: Aischylos’ Agamemnon. Griechischer Text und deutsche Übersetzung von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Berlin 1885, S. 2. – Seinem eigenen Verfahren gemäß bezeichnet Wilamowitz die einbürgernde Übersetzungspraxis, die vor allem in Frankreich bis ins 19. Jahrhundert gängig war, als vorbildhaft, wenn er betont, „daß die Romanen [sic] von den Verirrungen des Übersetzens in ausländische Formen fast frei“ seien. In: Wilamowitz-Moellendorff: Was ist übersetzen?, S. 12. 161 Vgl. Apel (1982), S. 158.

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schen der prekären gesellschaftlichen Position jüdischer Intellektueller in der Weimarer Republik und der utopischen Perspektive ihrer Übersetzungskonzepte: Die Übersetzungen ins Deutsche durch jüdische Autoren deutscher Sprache sind im ersten Drittel dieses [20.] Jahrhunderts durch steil formulierte Programme umstellt. Ein Grund für ihre anspruchsvolle Exzentrik ist, dass der neu erwachte Antisemitismus dazu nötigt, Übersetzungen ins Deutsche nicht nur pragmatisch zu begründen, sondern allererst zu rechtfertigen. Für einen Juden gibt es aber zu dieser Zeit kein Argument, das dafür sprechen könnte, irgendeine europäische Sprache als Zielsprache besonders hervorzuheben. [...] Bei Gustav Landauer und Fritz Mauthner, Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig, Martin Buber und Walter Benjamin ist deshalb die Zielsprache nicht irgendein nationales Idiom, sondern ein säkulares Äquivalent der Sprache Gottes, ein innerweltlich transzendentes Esperanto jenseits von Staatsvolk, Staatsraum und Nationalsprache.162

Tatsächlich vertritt Benjamin in seiner Schrift Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen (1916) sowie in der Vorrede zu seinen BaudelaireÜbersetzungen eine sprachphilosophische Perspektive, in der die ›reine Sprache‹, d. h. die für den Menschen unwiederbringlich verlorene adamitische Sprache, als utopischer Fluchtpunkt des Übersetzens fungiert. Dass Borchardt in Mattenklotts Aufzählung jüdischer Übersetzer in der Weimarer Republik nicht genannt wird, ist so folgerichtig wie vielsagend. Denn in der aufgerufenen Konstellation nimmt Borchardt tatsächlich eine besondere Position ein: Während Benjamin Elemente der jüdischen Mystik mit den Übersetzungskonzepten der Romantik verknüpft, spielt das Judentum in Borchardts Schriften keine explizite Rolle, was insofern nicht verwundert, als er seine jüdische Herkunft allein im Modus kritischer Distanznahme reflektiert hat.163 Folglich fehlt bei ihm die Referenz auf eine utopische ›reine Sprache‹, wie sie in den Schriften der von Mattenklott angeführten jüdischen Übersetzer diskutiert wird. Borchardt versteht sich zuallererst als Schriftsteller deutscher Sprache, und auch sein philologisches Interesse nimmt in der deutschen Sprache ihren Ausgangspunkt. Die Historizität und die Formbarkeit der Sprache spielen für ihn sowohl auf theoretischer Ebene eine zentrale Rolle, z. B. im Gespräch über Formen, als auch auf praktischer Ebene, wie in seiner Übersetzung von Dantes Divina Co-

162 Mattenklott (1999), S. 6. 163 Gerhard Schuster zufolge ist das Judentum für Borchardt „eine Gegenwelt, die er mit unbeteiligter Bewunderung respektiert, ohne ihr auf sein eigenes Denken Einfluß zu erlauben“. In: Gerhard Schuster: Einleitung. In: Borchardt, Rudolf/Buber, Martin: Briefe, Dokumente, Gespräche 1907–1964. In Zusammenarbeit mit Karl Neuwirth hrsg. von Gerhard Schuster (= Schriften der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft, Bd. 2). München 1991, S. 7–35, hier S. 11.

1.3 „Es kommt auf den Sinn nicht an“ – oder doch?

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media.164 Mit beiden Werken grenzt sich Borchardt dezidiert von der Position seines Kontrahenten Wilamowitz-Moellendorff ab. 1.3.1.1 „Inkommensurables“ übersetzen: Borchardts Dantes Comedia deutsch Mit seiner ersten übersetzungstheoretischen Schrift Gespräch über Formen (1905) verfasst Rudolf Borchardt einen radikalen Gegenentwurf zu Wilamowitz’ „gönnerhafte[r] Kulturvermittlung“.165 Dies bedeutet jedoch nicht, dass seine eigene Übersetzertätigkeit nicht selbst kulturpolitische Zielsetzungen verfolgt. Borchardts Übersetzungsverfahren sind, so Friedmar Apel, bewusst „in kulturelle Veränderung anstrebende Strategien eingebettet“.166 Der Unterschied zu Wilamowitz’ Ansatz besteht nun gerade darin, dass Borchardt eine hermeneutische Eigenleistung des Lesers einfordert und sein Unternehmen nicht per se auf Massenwirksamkeit hin anlegt – im Gegenteil. Borchardts Argumentation, im Gespräch über Formen von seinem alter ego Arnold vorgetragen, vollzieht sich in zwei Schritten: Zunächst spricht er Wilamowitz’ Popularisierungsbestreben die Legitimation ab, indem er die dem Kunstwerk bzw. der Übersetzung inhärente „Inkommensurabilität“ in den Vordergrund rückt, die nicht durch modernisierende Verfahren aufgeweicht werden dürfe: Inkommensurabilität. Unermeßlichkeit und Unmeßbarkeit alles dessen, was Form hat. Ein Kunstwerk, das Form hat, ist inkommensurabel bis in jede äußerlichste Vereinzelung hinein. [...] Man kann sich an einem Menschen nicht schwerer vergehen, als indem man ihn glauben macht, es gäbe leichte Wege zum Schweren, oder, das Schwere sei eigentlich leicht, oder: das Inkommensurable lasse sich eigentlich doch irgendwie unter eine Mensura bringen. Und jetzt sagen Sie mir: Was gibt es leichteres als die Wilamowitzische Übersetzung einer griechischen Tragödie?167

In Anlehnung an Wilhelm von Humboldts Forderung, eine Übersetzung dürfe die Dunkelheiten des Originaltextes nicht künstlich erhellen, plädiert Borchardt hier für eine Übersetzungsweise, die den Leser nicht von der 164 Ein besonders emphatisches Bekenntnis zur deutschen Sprache findet sich in Borchardts Brief an Martin Buber vom 10. November 1930, wo es heißt: „Was immer man übersetze, als Deutscher, hat man nicht nur ins Deutsche – irgendwie Deutsche – zu übersetzen, wenn es leben soll, sondern, wie Faust sagt, ›in sein geliebtes Deutsch‹“ [Hervorhebung original]. In: Rudolf Borchardt/Martin Buber: Briefe, Dokumente, Gespräche 1907–1964. In Zusammenarbeit mit Karl Neuwirth hrsg. von Gerhard Schuster (= Schriften der RudolfBorchardt-Gesellschaft, Bd. 2). München 1991, S. 59. 165 So Friedmar Apel in seinem Nachwort zu Borchardts Übersetzungen von A. C. Swinburne. In: Swinburne. Deutsch von Rudolf Borchardt. Als Paralleldruck mit dem Urtext hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Friedmar Apel (= Schriften der RudolfBorchardt-Gesellschaft, Bd. 1). München 1990, S. 91–108, hier S. 94. 166 Apel (1989), S. 11. 167 Borchardt: Gespräch über Formen, S. 22.

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

eigens zu erbringenden Verstehensleistung entbindet.168 Im Fortgang des Dialogs radikalisiert Borchardt seine Position, wenn er die Übersetzung generell von der Aufgabe der inhaltlichen Vermittlung freispricht: Es „kommt auf den ›Sinn‹ nicht an; es kommt nicht an auf das, was bleibt, wenn die Formen zerbrochen sind. Die Formen als freie Erscheinungen wollen als das, was sie sind, nicht als das, wozu sie angeblich dienen, ergriffen sein.“169 Eine Voraussetzung für das schöpferische ›Ergreifen‹ der Formen des Originals sieht Borchardt im „künstlerischen Antrieb“ des Übersetzers, der „neue Formen mit neuem Daseinsrecht schafft, wo er nur zu reproduzieren scheint“.170 Angesichts des „Bankrott[s] der Sprache und des Stiles“,171 den er in Wilamowitz’ Übersetzungen erkennt, konkretisiert Borchardt seinen Anspruch, wenn er sagt, „der einzige Sinn des Übersetzens auf unserm Niveau [sei], Stil durch Stil wiedergeben“.172 Diese Äußerung steht im Zusammenhang mit dem kulturpolitischen Programm seiner Rede zur Schöpferischen Restauration (1927): Mit Hilfe von Übersetzungen sollen literarische Traditionen aus ihrer „historischen Versteinerung“173 herausgelöst werden. Eine solche ›Wiederbelebung‹ ließe sich jedoch nicht durch willkürliche Modernisierungen erreichen, sondern nur durch eine Beibehaltung des historischen und kulturellen Abstands zwischen Original und Leser, den Borchardt dazu bewegen will, genau diese „Distanz zu ertragen“ (Hervorhebung original).174 In besonders radikaler Weise realisiert Borchardt seine Forderung nach Distanzmarkierung in seiner sprachverfremdenden Übersetzung von Dantes Divina Comedia, deren Perspektive sich vor dem Hintergrund der widerstrebenden Übersetzungskonzeptionen ihrer Entstehungszeit zwischen 1910 und 1930 versteht. Hat Borchardt in Bezug auf die Übersetzung antiker Literatur das Vorgehen von Wilamowitz kritisiert, so setzt er sich hier in Opposition zu Dante-Übersetzern wie Paul Pochhammer (1841–1916) oder Karl Witte (1800–1883). Borchardt kritisiert die Strategien eines „Klassizismus, der [Dante] assimilierte, seine Kanten abschliff, die tragischen Unebenheiten glättete und ihn für den Lyrismus aller Zeiten 168 169 170 171

Siehe Humboldt: Einleitung zum Agamemnon, S. 133. Vgl. Kap. 1.2.2. Borchardt: Gespräch über Formen, S. 29. Ebd., S. 51. Borchardt: Dante und deutscher Dante. In: Prosa 2. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hrsg. von Marie Louise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn. Stuttgart 1959, S. 354– 388, hier S. 355. 172 Brief von Borchardt an Rudolf Alexander Schröder vom 17. August 1907. In: Rudolf Borchardt/Rudolf Alexander Schröder: Briefwechsel 1908–1918 (= Gesammelte Briefe, Bd. 8). In Verbindung mit dem Rudolf-Borchardt-Archiv bearbeitet von Elisabetta Abondanza. München/Wien 2001, S. 109. 173 Apel/Kopetzki (2003), S. 121. 174 Borchardt: Gespräch über Formen, S. 24.

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auf Geziertheiten herunterstimmte“.175 In einer Gegenreaktion auf die einbürgernden Tendenzen eines „Jahrhundert[s] verlogener Übersetzerei“176 spricht er sich für eine Wiederaufnahme der „grossen Übersetzungstraditionen [...] der Frühromantik“177 aus. Tatsächlich versucht Borchardt in Dantes Comedia deutsch den von Schleiermacher formulierten – und von Benjamin aufgegriffenen – Anspruch zu verwirklichen, den Leser mit der sprachlichen und kulturellen Fremdheit des Originals zu konfrontieren.178 In diesem Sinne hat Borchardt für seine Dante-Fassung ein eigenes, „vorlutherisch anmutendes Übersetzerdeutsch“179 erfunden, das die Distanz spürbar macht, die den Leser vom Original aus dem frühen vierzehnten Jahrhundert trennt. In einer Zuspitzung von Schleiermachers Formel über die verschiedenen Arten des Übersetzens reflektiert Borchardt sein eigenes Vorgehen: „Ich habe [den] Leser beim Schopfe gepackt und mit einem groben Ruck [...] sechs Jahrhunderte rückwärts geworfen. Da ich Dante nicht zu seinem Zeitgenossen machen konnte, habe ich ihn zu Dantes Zeitgenossen gemacht.“180 Auch an Humboldts Position schließt Borchardt mit seiner Dante-Übersetzung an: Hatte dieser die „ekle[] Scheu vor dem Ungewöhnlichen“181 bei der Lektüre von Übersetzungen kritisiert, so sucht Borchardt, Dantes Versepos von „moderner Deutung“ zu befreien, „die alles erklärt, alles entschuldigt, alles abstumpft, verwechselt und alles verdünnt, indem sie alles auf ihre Weise beschönigt und verweichlicht“.182 175 In: Rudolf Borchardt: Erwiderung in Sachen ›Dante deutsch‹. In: Ders.: L’italia e la poesia tedesca. Aufsätze und Reden 1904–1933. Frankfurt am Main 1988, S. 72–81, hier S. 76. 176 Ebd., S. 72. 177 Brief von R. Borchardt an R. A. Schröder vom 5. Februar 1908. In: Borchardt/Schröder: Briefwechsel 1908–1918, S. 142. 178 Osterkamp (1981) schätzt das Verhältnis zwischen Benjamins Theoriebildung und Borchardts Übersetzungen als besonders eng ein, wenn er sagt: „Die sprachbildende Phantasie, mit deren Hilfe Borchardt die fremde Sprache mit der eigenen versöhnt, läßt so sein Übersetzungswerk nachgerade zum Paradigma für die Benjaminsche Übersetzungstheorie werden“ (S. 231). Osterkamp bezieht sich u. a. auf Borchardts Germania-Übersetzung, die Benjamin in einem Brief an Ernst Schoen aus dem Jahr 1918 als „Markstein in der Geschichte der Beziehung des Deutschen zum Lateinischen“ bezeichnet hat. In: Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 460. 179 Borchardt: Erwiderung in Sachen ›Dante deutsch‹, S. 80. 180 Ebd., S. 75. 181 Humboldt: Einleitung zum Agamemnon, S. 132. 182 Ebd., S. 78. – Dante-Übersetzer wie Paul Pochhammer oder Karl Witte strebten demgegenüber eine Popularisierung des italienischen Versepos im deutschsprachigen Raum an. Die von Pochhammer gewählte Form der Stanze, aber auch die verbreitete „Vereinfachung des Satzbaus“ und die „Verdeutlichung des Wortlautes“ dienen diesem Ziel (Kauffmann 2000, S. 134). Auch zu Georges Dante-Übersetzung, deren Fügungen sehr viel glatter klingen, hat sich Borchardt in ein Konkurrenzverhältnis begeben, wie er selbst betont: „Ich habe [...] das dem Werke Georges diametral Entgegengesetzte getan. [...] Meine ›Co-

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Die ersten Verse von Dantes Inferno lauten im Original und in Borchardts Übersetzung wie folgt: Nel mezzo del cammin di nostra vita Mi ritrovai per una selva oscura, Che la diritta via era smarrita. E quanto a dir qual era è cosa dura Questa selva selvaggia ed aspra e forte, Che nel pensier rinnuova la paura! Tanto è amara, che poco è più morte: Ma per trattar del ben ch’i’vi trovai, Dirò dell’ altre cose ch’io v’ho scorte.183 In mitten unseres lebens an der fahrt erfand ich mich in einem finsteren hagen, dass ich der rechten strassen irre ward: Ach harter pein, und wem er glich, zu sagen, der hagen, ein wild wald rauch und ungeheure, der an gedanken mir erneut das zagen! Tod ist viel saurer nicht denn seine säure! doch kund zu thun, was heils ich dort empfieng, sag ich, was mehr ich traf von abenteure:184

Anstatt sich eines vorgeformten Wortschatzes zu bedienen, wie Wilamowitz es fordert, setzt Borchardt für seine Dante-Übersetzung ein neues Idiom aus archaischen, dialektgebundenen oder neu erfundenen Ausdrücken zusammen. Dass es sich bei dem Resultat um keine historisch verifizierbare Rekonstruktion vergangener Sprachstufen handelt, ist Borchardt durchaus bewusst: „Nicht zehn, nicht drei dieser Verse“, so heißt es, „hätten zwischen 1350 und 1400 in Deutschland gedichtet worden sein [können].“185 In diesem Sinne betont Frank Hofmann den starken „poetische[n] und phantasmagorische[n] Anteil dieser Arbeit an der Sprache“.186 Den Grad poetischer Imagination gegenüber dem der historischphilologischen Verifizierbarkeit höher zu veranschlagen heißt jedoch nicht, die ästhetische Innovationskraft von Borchardts Dante deutsch in

183

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media‹ ist nicht ›schön‹, nein, ›schön‹ habe ich sie nicht gewollt.“ In: Borchardt: Erwiderung in Sachen ›Dante deutsch‹, S. 75. Zitiert nach: Dante Alighieri: Tutte le opere di Dante Alighieri. Nuovamente rivedute nel testo dal Dr. Edward Moore. Oxford 31904, S. 1. Hans-Georg Dewitz zufolge hat Rudolf Borchardt diese Ausgabe besessen und für seine Übersetzung benutzt. Sie ist in Borchardts Nachlass erhalten. Vgl. Dewitz (1971), S. 81. Rudolf Borchardt: Dantes Comedia deutsch. Hrsg. von Marie Louise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn und Ulrich Ott. Stuttgart 1967, S. 15. Borchardt: Epilegomena zu Dante. II: Divina Comedia. In: Ders.: Prosa 2. Hrsg. von Marie Louise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn. Stuttgart 21992, S. 472–532, hier S. 527. Hofmann (2002), S. 188.

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Frage zu stellen. Denn die Kombination verschiedener sprachlicher Ebenen stellt die extreme Wandelbarkeit des Deutschen unter Beweis, dessen „Skala der Ausdrucksmöglichkeiten“ in der Übersetzung durch die „Einbeziehung von siebenhundert Jahren [...] Sprachgeschichte [stark erweitert]“ wird.187 Nur ein für Borchardts Vorgehen charakteristisches Übersetzungsbeispiel sei hier genannt. Im zwölften Gesang des Paradiso ist vom heiligen Dominikus die Rede (V. 70–105), der den verwilderten Weingarten – ein biblisches Motiv für den verrohten, von Unwissenheit geprägten Zustand der Christenheit188 – zu pflegen und instand zu setzen sucht: Ma per amor della verace manna, In picciol tempo gran dottor si feo, Tal che si mise a circuir la vigna, Che tosto imbianca, se il vignaio è reo189 einzig zu lieb der wahrhaftigen manna In kurzer frist stund er ein meister spähe, als dass ihm zu thun ward um den wingert, der serbelet, wo kein winzer dazu sehe.190 (V. 84–87)

In den zitierten Versen von Borchardts Übersetzung lässt sich seine Strategie der Sprachverfremdung beobachten, da hier zwei seltene Substantive eingefügt werden: Der Begriff „wingert“ bezeichnet im rheinhessischen bzw. oberfränkischen Dialekt den Weinberg.191 Das Verb „serbelen“, mit dem Borchardt die italienische Form „imbiancare“ (dt. „bleich werden“) wiedergibt, entstammt dem Mittelhochdeutschen und bezeichnet das Hinsiechen oder Kränkeln von Menschen, Tieren oder Pflanzen.192 Offensichtlich entscheidet sich Borchardt dezidiert gegen das gebräuchliche Verb „verrotten“, das z. B. Karl Witte in seiner Fassung benutzt.193 Der durchschnittliche Leser ohne fundierte Kenntnisse des Mittelhochdeutschen wird zwar den zitierten Vers nicht verstehen, dies ist jedoch für 187 Dewitz (1971), S. 270. Zur Auflistung und Erläuterung der von Borchardt in Dante deutsch verwendeten Begriffe aus dem Mittel- oder Frühneuhochdeutschen, dem Alemannischen, dem Oberdeutschen oder auch dem Fachvokabular des Bergbaus vgl. Dewitz (1971, S. 165–186). 188 Das Motiv des verwüsteten Weinstocks findet sich z. B. bei Jeremia 48, 32–33. In: Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Stuttgart 1980. 189 Dante: Tutte le opere, S. 120. 190 Borchardt: Dantes Comedia deutsch, S. 370. 191 Vgl. den Eintrag „wingert“. In: DWB, Bd. 30, Sp. 337–364. 192 Dewitz (1971, S. 187) zitiert die Stelle als „besonders augenfälliges Beispiel für die weitgehend bruchlose Integration eines dem Neuhochdeutschen unbekannten Wortes in das sprachliche Gefüge“ der deutschen Fassung. 193 Vgl. Dante Alighieri: Dante Alighieris Göttliche Komödie. Übersetzt von Karl Witte. Berlin 1865, S. 420 f.

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Borchardt, dessen Übersetzungen ausdrücklich nicht für ein breites Publikum bestimmt sind, kein Gegenargument. Apel erläutert in diesem Zusammenhang, Borchardts Leser müsse „innerhalb dieser Fiktion [i. e. die Dante-Übersetzung, A. S.] als aktiver Beobachter eines Experiments am Prozeß der Entstehung eines Werkes, ja sogar einer neuen poetischen Sprache teilnehmen“.194 Borchardts radikale Absage an jede Art von verständnisfördernden Eingriffen im übersetzten Text stößt seinerzeit auf geteiltes Echo. Der Romanist Karl Vossler erkennt Borchardts unkonventionelles Kombinieren von Elementen verschiedener Sprachstufen als literarische Leistung eines Übersetzers an, der seine Tätigkeit aus dem funktionalistischen Kontext der Inhaltsvermittlung befreit. Dazu heißt es: Und nun tritt das schauspielerische Übersetzen nicht mehr als bestellte Leistung, sondern, ohne Rücksicht auf Nachfrage, Publikum, Kraftersparnis usw., als Selbstzweck auf und hat plötzlich seine eigene Inspiration, seine eigene Sehnsucht, seinen eigenen Lyrismus. Das äußerste und merkwürdigste Beispiel dieser Art dürfte der ›Deutsche Dante‹ von Rudolf Borchardt sein. Was ehedem ein Begleitgefühl des Übersetzungsdienstes war, wird jetzt zum Agens und erzeugt ein Künstlergeschlecht von Übersetzern, in denen der Sprachgeschmack seine zartesten und letzten Blüten treibt.195

So emphatisch sich Vosslers Lob ausnimmt, so vernichtend ist das Urteil des Schweizer Literaturkritikers Federigo Hefti in seiner Rezension mit dem sprechenden Titel Gotische Experimente mit Dante (1930): Borchardts Übersetzung, so Hefti, sei „unnütz“196, da sie sich dem unmittelbaren Verständnis des Lesers entziehe. Die bis an die Grenzen des Verstehbaren gesteigerte Sprachverfremdung in Borchardts Dante-Übersetzung lässt sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, mit dem bei Benjamin thematisierten Streben nach Spracherweiterung korrelieren. 1.3.1.2 Übersetzungstheorie als Sprachphilosophie bei Walter Benjamin Im Vorwort zu seinen Übersetzungen der Tableaux parisiens von Charles Baudelaire, Die Aufgabe des Übersetzers (1921), formuliert Benjamin eine sprachphilosophische Legitimation der literarischen Übersetzung. Utopischer Fluchtpunkt seiner Konzeption ist die Vorstellung einer adamitischen, „reinen Sprache“, in der er den unwiederbringlich verlorenen, göttlichen Ursprung der verschiedenen Einzelsprachen verortet. Mit dem „empirischen Akt der Übersetzung“ hat Benjamins Verständnis, wie Paul de Man betont, nur wenig zu tun.197 Sein Antipode, der Altphilologe Wi194 195 196 197

Apel (1989/90), S. 98. Karl Vossler: Geist und Kultur in der Sprache. Heidelberg 1925, S. 196 f. Zitiert nach: Borchardt: Erwiderung in Sachen ›Dante deutsch‹, S. 72. Man (1997), S. 197.

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lamowitz-Moellendorff, wird in Benjamins Übersetzungsreflexionen nicht namentlich genannt. Dies erklärt sich vermutlich dadurch, dass Benjamins Reflexionen zur literarischen Übersetzung weit weniger leserorientiert sind als die Borchardts. Tatsächlich hält Benjamin die Rolle des Rezipienten für die ästhetische Begutachtung des Originals für irrelevant. Im ersten Satz des Vorwortes zu seinen Baudelaire-Übersetzungen, Die Aufgabe des Übersetzers, heißt es entsprechend: „Nirgends erweist sich einem Kunstwerk oder einer Kunstform gegenüber die Rücksicht auf den Aufnehmenden als fruchtbar.“198 Die „eigentümliche und hohe Zweckmäßigkeit“199 des Übersetzens erkennt Benjamin in der virtuellen Versöhnung zwischen Ausgangs- und Zielsprache, die in einem religiös konnotierten Transformationsvorgang die Vorstellung einer „reinen Sprache“ aufruft. Der Übersetzer hat deshalb die Aufgabe, die in den Übersetzungsprozess involvierten Einzelsprachen immer wieder neu miteinander zu konfrontieren. Nicht die Vermittlung von Sinngehalten soll dabei im Vordergrund stehen.200 Denn die Aussage eines literarischen Texts stellt, Benjamin zufolge, per se die unwesentlichste seiner Komponenten dar, die im Rahmen einer Übersetzung zudem nur ungenau wiedergegeben werden könne.201 Nicht nur das Primat der Inhaltsvermittlung wird in Benjamins Konzeption suspendiert, auch die Frage nach der „Übersetzbarkeit“ eines Werkes formuliert er neu. Nicht die konkreten sprachlichen Herausforderungen und die mit ihnen verbundenen Aporien stehen im Zentrum, sondern die sich stetig wandelnden geschichtlichen Konstellationen, in denen ein Original und seine potentiellen Übersetzungen zueinander stehen. Neben der literarischen Kritik gilt Benjamin die Übersetzung als ein Medium des individuellen „Fortlebens“ des Originals, das aufgrund seiner zeitlichen Bedingtheit keine Ausschließlichkeit beanspruchen kann, sondern sich gerade in seinem ephemeren Charakter legitimiert. Benjamin favorisiert dabei die Praxis der „Interlinearversion“, wie sie durch die Bibelübersetzungen seit dem Spätmittelalter geprägt wurde.202 Sein Begriff der „Interlinearversion“ zielt dabei auf eine Erweiterung der Zielsprache durch die Konfrontation mit dem fremden Idiom, wie sie sich auch in Luthers Bibelübersetzung sowie in Hölderlins Sophokles- oder Voß’ Homer-Fassungen vollzieht.203 In diesem Zusammenhang beruft sich Benjamin nicht, 198 199 200 201

In: Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 9. Ebd., S. 11. Vgl. hierzu Man (1997), S. 194. Vgl. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers: „[Das Wesentliche der Dichtung] ist nicht Mitteilung, nicht Aussage. Dennoch könnte diejenige Übersetzung, welche vermitteln will, nichts vermitteln, als die Mitteilung – also Unwesentliches“ (S. 9). 202 Vgl. Werner (2011), S. 150–152. 203 Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 19.

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wie es zu erwarten wäre, auf Schleiermacher oder Humboldt, sondern rekurriert auf Rudolf Pannwitz, der in seiner Schrift Krisis der europäischen Kultur (1917) eine Verfremdung der Zielsprache beim Übersetzen fordert, wenn er sagt: „Unsere übertragungen, auch die besten, gehen von einem falschen grundsatz aus, sie wollen das indische, griechische, englische verdeutschen, anstatt das deutsche zu verindischen, vergriechischen, verenglischen“.204 Dieses an die Interlinearversion gekoppelte Verfremdungsverfahren205 tritt in Benjamins Konzeption in Konflikt mit einer anderen Strategie, wonach sich die Zielsprache ein spezifisches Element der Ausgangssprache anzueignen habe: die „Art des Meinens“. Hiermit zielt Benjamin auf die jeweilige Relation ab, in der in einer Sprache Bezeichnendes und Bezeichnetes zueinander stehen. In der Übersetzung als einem Vorgang der Sprachversöhnung sollen sich diese verschiedenen „Arten des Meinens“ gegenseitig ergänzen, wenn auch nur punktuell. Eine vollständige Ergänzung und damit eine ›Erlösung‹ aller Einzelsprachen in der göttlichen Ursprache identifiziert Benjamin innerhalb seines geschichtsphilosophischen Denkens mit dem Ende der Geschichte. Unter dem Blickwinkel der Spracherlösung zeigt sich die Übersetzung bei Benjamin nicht mehr als funktionalisierter Transfer von Inhalten, sondern als ein rein sprachrelationaler Vorgang. Diese Sichtweise fasst Benjamin zusammen in der knappen These, dass „Übersetzung eine Form“ sei.206 Mit „Form“ bezeichnet er hier die der Übersetzung inhärente Möglichkeit der Bezugnahme auf die im Original zu erlösende fremde Sprache. Die Übersetzung ist Benjamin zufolge das einzige Medium, mit dem sich der Mensch der ›reinen Sprache‹ als einer alle Einzelsprachen in sich versöhnenden Ursprache zu nähern vermag. Mit der Loslösung von der pragmatischen Vermittlungsfunktion nobilitiert Benjamin die Übersetzung als Instrument der Sprachergänzung. Wie sich aber diese Sprachergänzung vollziehen lässt – mittels einer „Interlinearversion“ oder durch die „Anbildung“ der fremden „Art des Meinens“207 –, diese Frage gilt es im Kontext von Benjamins Baudelaire-Übersetzungen neu zu stellen. Die von Benjamin angestrebte Koinzidenz zwischen virtueller Sprachversöhnung und realer Spracherweiterung lässt sich zu Borchardts Dante-Übersetzung in Beziehung setzen. Als „theoretisch[e] Legitimation“208 (Ernst Osterkamp) für Borchardts Übersetzungspraxis ließe sich 204 Rudolf Pannwitz: Krisis der europäischen Kultur. Nürnberg 1947, S. 191. 205 Wie jedoch diese Nachbildung der „Art des Meinens“ in der Übersetzung konkret zu realisieren sei, führt Benjamin nicht aus. Ob und in welchem Maße Benjamin dieses Verfahren selbst zur Anwendung bringt, wird in Kap. 3.3 näher untersucht. 206 Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 10. 207 Ebd., S. 14. 208 Osterkamp (1981), S. 231.

1.3 „Es kommt auf den Sinn nicht an“ – oder doch?

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Benjamins Konzept jedoch nur dann in Anspruch nehmen, wenn die ihm zugrunde liegende Intention mit Borchardts übereinstimmen würde. Dies ist jedoch, wie Fred Lönker zeigt, nur bedingt der Fall: Aus seiner Sicht sind die beiden Konzepte insofern inkompatibel, als Benjamins Übersetzeraufsatz „sprachtheologisch“, Borchardts Übersetzungskonzeption jedoch „anthropologisch“ [dies meint hier sprach- und kulturgeschichtlich, A. S.] fundiert sei.209 Für unvereinbar hält Lönker zudem Benjamins utopische Vorstellung einer „reinen Sprache“ und Borchardts Primat des poetischen Ausdrucks.210 Osterkamps und Lönkers Thesen lassen sich jedoch insofern miteinander verknüpfen, als das Resultat von Borchardts Spracharbeit in Dante deutsch tatsächlich den von Benjamin formulierten Forderungen nach Spracherweiterung und Distanzerhalt entspricht. Dass Benjamin und Borchardt jedoch auf unterschiedlichen Wegen zu diesen Überzeugungen kommen, darf, wie Lönker betont, nicht übersehen werden. Auch hinsichtlich ihres Verständnisses der ›Aufgabe des Übersetzers‹ besteht zwischen Benjamins und Borchardts Konzept eine wesentliche Differenz, die sich in der je unterschiedlichen Konnotation der Motivik von Echo und Widerhall manifestiert. Wie „seltsam verschlungen Ähnlichkeiten und Unterschiede [zwischen Borchardts und Benjamins Übersetzungskonzepten] sich darstellen und wie zuweilen reale Ähnlichkeiten das Resultat höchst unterschiedlicher Voraussetzungen in der Theorie sein können“,211 ist eine erst jüngst wieder aufgeworfene Frage, der im Folgenden mit Blick auf theoretische Äußerungen und konkrete Übersetzungsbeispiele nachgegangen werden soll. 1.3.2 „Widerhall“ und „Echo“: Übersetzungstheorie und -praxis Echo und Widerhall sind zwei zentrale Motive in Walter Benjamins und Rudolf Borchardts übersetzungstheoretischen Schriften. Die unterschiedlichen Bedeutungsnuancen lassen auf den spezifischen Status des ›Übersetzers‹ in Abgrenzung zu dem des ›Dichters‹ schließen, den Benjamin und Borchardt ihren Konzepten zugrunde legen. Diesen gilt es, an ihren eigenen Übersetzungen exemplarisch zu überprüfen. Benjamin trifft, im Ge209 Lönker (1997), S. 216. 210 Lönker (1997), S. 216. Die Bedeutung des ›Ausdrucks‹ beim Übersetzen hebt Borchardt in einem Brief an Martin Buber im Zusammenhang mit dessen Bibelübersetzung hervor. Dort heißt es: „Sie haben deutsche Bezeichnungen zusammengestückt, keinen deutschen Ausdruck plastisch geschaffen. [...] Wirkung, nichts anderes hat der Übersetzer im neuen Medium zu reproduzieren, nicht die der Originalsprachstruktur angehörigen Bildungsverhältnisse.“ In: Briefwechsel Borchardt/Buber, S. 57. 211 Matz (2011), S. 70.

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gensatz zu Borchardt, eine präzise Unterscheidung zwischen der ›Aufgabe des Dichters‹ und der ›Aufgabe des Übersetzers‹, die er an ihrem jeweiligen Verhältnis zur Sprache festmacht. Während der Dichter eine „naive, erste, anschauliche“ Intention auf die Sprache habe, stelle sich die des Übersetzers als eine „abgeleitete, letzte, ideenhafte“ dar.212 Aus diesem Grund verortet Benjamin die Sprache der Übersetzung auch auf einer anderen Ebene als die des Originals. Um die von ihm getroffene Differenzierung der sprachlichen Ebenen zu veranschaulichen, prägt Benjamin den Begriff des „Bergwalds der Sprache“:213 Das Original befindet sich innerhalb dieses ideellen Bereichs, während die Übersetzung als Resultat einer Sprachvermittlung außerhalb dessen situiert ist und nur aus der Distanz mit dem Original kommuniziert: Die Übersetzung aber sieht sich nicht wie die Dichtung gleichsam im innern Bergwald der Sprache selbst, sondern außerhalb desselben, ihm gegenüber und ohne ihn zu betreten, ruft sie das Original hinein, an demjenigen einzigen Orte hinein, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache zu geben vermag.214

Ein „Widerhall“, wie er in Benjamins Übersetzungskonzeption gefasst wird, ist nur durch eine die Zielsprache verfremdende Wort-für-WortÜbersetzung möglich, die weder auf die Vermittlung von Inhalten noch auf Wirkungsäquivalenz abzielt, sondern auf die Nachbildung der fremden Sprachstrukturen. Was sich in der Übersetzung als „Widerhall“ des Originals manifestiert, fasst Benjamin an anderer Stelle mit den Begriffen von dessen „Überleben“ bzw. „Fortleben“.215 Obwohl Benjamin Übersetzungen als Kunstwerke versteht, sieht er in ihnen, angesichts der „allzu großen Flüchtigkeit, mit welcher der Sinn an ihnen haftet“, keine genuin literarischen Texte. Übersetzte Gedichte sind aus Benjamins Sicht weder interpretier- noch neu übersetzbar; die hermeneutischen Verstehensinstrumente versagen an ihnen.216 Dies gilt ihm jedoch nicht als Negativ-Urteil, sondern bietet vielmehr Anlass zur Nobilitierung des Übersetzens als einem Instrument zur Annäherung an die „reine Sprache“. Dass sein Interesse an Übersetzungen nicht um des Textes, sondern „allein um der Sprachen willen“217 besteht, hat Benjamin immer wieder betont. In seiner 1926 erschienenen Rezension zu Alfred Wol212 213 214 215 216

Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 16. Ebd. Ebd. Ebd., S. 11. Dazu Benjamin: „Übersetzungen [...] erweisen sich unübersetzbar nicht wegen der Schwere, sondern wegen der allzu großen Flüchtigkeit, mit welcher der Sinn an ihnen haftet“. In: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 20. 217 Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 21.

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fensteins Verlaine-Übersetzungen heißt es dazu: „Wer übersetzt, arbeitet in zwei Sprachen. Sein Material – vielmehr: sein Organ – ist neben seiner Muttersprache nicht sowohl der fremde Text als vielmehr dessen Sprache.“218 Wenn Benjamin eine klare Trennlinie zwischen Übersetzer und Autor zieht, so wehrt er sich gegen die Identifikation einer genuin kreativen Tätigkeit (der Dichtung) mit einem nachbildenden Vorgang (der Übersetzung). Borchardt hingegen zieht zwischen den Tätigkeiten des Schreibens und des Übersetzens keine klare Grenze. In seiner emphatisch eingesetzten Echo-Motivik nähert er die Vorgehensweisen von Dichter und Übersetzer vielmehr so weit aneinander an, dass sie quasi koinzidieren. Im Nachwort zu seinen Übersetzungen provenzalischer Troubadour-Dichtung von 1924 heißt es entsprechend: „Der Dichter, der übersetzt, kann nur so übersetzen, wie er auch dichten müsste: er reproduziert keine Kunstwerke, sondern er erwidert auf den Hall, der ihn getroffen hat, mit dem unwillkürlichen Widerhalle, auf die Gestalt die ihm auftaucht, mit dem Entwurfe der sie gestaltet.“219 Das Motiv des Widerhalls ist offensichtlich bei Borchardt ungleich positiver besetzt als bei Benjamin; zugespitzt formuliert ließe sich im ersten Fall von der Übersetzung als poetisch geformter Antwort auf das Original und im zweiten von der Übersetzung als eines flüchtigen ›Abglanzes‹ desselben sprechen. Verwendet Benjamin die Metapher des „Überlebens“, so prägt Borchardt den Begriff der ›Wiedergeburt‹,220 der die Grenzen einer interlingual gefassten Übersetzungskonzeption sprengt. Dies führt er in Bezug auf Hofmannsthals Übersetzung von Euripides’ Trauerspiel Alkestis aus, wenn er sagt, sie sei vor allem ein Kunstwerk Hofmannsthals [...] und erst in jedem sekundären und tertiären Sinne das, was man eine Übersetzung nennt. Ja, die Grenzen zwischen Übersetzung und dämonisch bildender Phantasie vermischen sich unaufhörlich, und es ist gut, daß sie es tun; hier beweist die Übersetzung ihr Recht dazusein.221

218 Walter Benjamin: Übersetzungen [Rezension zu Verlaine- bzw. Rimbaud-Übersetzungen von A. Wolfenstein und F. v. Rexroth]. In: Ders.: Kritiken und Rezensionen (= Gesammelte Schriften, Bd. 3). Hrsg. von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt am Main 1991, S. 40–41, hier S. 40. 219 Rudolf Borchardt: Nachwort zu Die großen Trobadors. Deutsch von Rudolf Borchardt. München 1924. In: Borchardt: Die großen Trobadors. In: Ders.: Prosa 2. Hrsg. von Marie Louise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn. Stuttgart 21992, S. 343–353, hier S. 353. 220 Bei Borchardt heißt es zu seinem Vorgehen bei den Trobador-Übersetzungen: „Diese uralten Dichter eines untergegangenen Volkes hat er wiedergeboren, weil sie ihm unsterbliche lebendige Gestalten sind“ [Hervorhebung A. S.]. In: Borchardt: Nachwort zu Die großen Trobadors, S. 353. 221 Borchardt: Gespräch über Formen, S. 49 f.

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Anders als Benjamin sieht Borchardt sich selbst „in erster Linie als Dichter und erst in folgender als Übersetzer“.222 Die Konvergenz von Benjamins und Borchardts Ansätzen in der Utopie der Sprachversöhnung, wie sie sich anhand von Beispielen aus Borchardts Dante-Übersetzung nachvollziehen lässt, existiert demnach nur bis zu einem bestimmten Punkt. In der vergleichenden Auseinandersetzung mit den Motiven von Echo und Widerhall wird zudem deutlich, dass Borchardt den übersetzten Text primär als literarischen Text fokussiert.223 Demgegenüber steht Benjamins utopische Emphase, mit der er die Übersetzung als theologisch-spekulative Denkfigur etabliert. Tatsächlich hat Borchardt neben seinen sprachverfremdenden Übersetzungen auch mitteilungsorientierte Übersetzungen angefertigt, wie beispielsweise diejenigen aus dem Werk von Algernon C. Swinburne (1837– 1909). Angesichts der je spezifischen sprachlich-historischen Charakteristika eines Werks greift Borchardt auf je unterschiedliche Übersetzungsverfahren zurück und überführt sie in seinen eigenen literaturgeschichtlichen Kontext. Denn auch wenn er als Übersetzer ästhetische Zugeständnisse um der Verständlichkeit willen radikal ablehnt, so erhebt er keine Übersetzungsstrategie zur textunabhängigen Norm. Aufgrund seiner Methodenvielfalt erscheint es nahezu unmöglich, „einen exemplarischen Text für Borchardts sich an jedem Text veränderndes Übersetzungsverfahren auszuwählen“.224 Ein allen Übersetzungen Borchardts gemeinsamer Impetus gründet jedoch unzweifelhaft in der Ansicht, eine Übersetzung habe sowohl zeitliche als auch kulturelle Distanzen zwischen dem Publikum und dem fremdsprachigen Autor zu bewahren, anstatt sie mit Rücksicht auf den Leser zu verdecken. Das lyrische Werk Swinburnes hat für Borchardt über Jahre hinweg eine zentrale Rolle gespielt; das erste Mal erwähnt er den englischen Lyriker im Gespräch über Formen.225 Im Fall der exemplarisch herausgegriffenen Übersetzung von Swinburnes Gedicht A forsaken garden (1876) von 1919 gestaltet Borchardt seine eigene Lesart des Originals und erklärt damit die Überset222 Vgl. Borchardts Brief vom 5. August 1912 an Hofmannsthal. In: Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel. Text. Bearbeitet von Gerhard Schuster (= Gesammelte Briefe, Bd. 1. Hrsg. von Gerhard Schuster und Hans Zimmermann). München/Wien 1994, S. 105. 223 In den Epilegomena zu Dante. I: Einleitung in die Vita Nova heißt es dazu bei Borchardt: „[Weil] nur Poesie zur Poesie die Wege zu weisen vermag, und das Gewahren eines verschollenen Zeitgeistes und einer abgeschiedenen Zeit-Tonart nur schöpferisch vor sich gehen kann; nicht in den Formen der Version, sondern nur in denen des Zauberstabes und der Beschwörung.“ In: Borchardt: Prosa 2. Hrsg. von Marie Louise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn. Stuttgart 21992, S. 389–471, hier S. 389. 224 Apel (1982), S. 214. 225 Vgl. Borchardt: Gespräch über Formen, S. 29; 48.

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zung zu einem Zeugnis seiner individuellen Auseinandersetzung mit Swinburnes Text.226 Anders als in der Dante-Übersetzung, in der sich sein individueller Zugang besonders in der Strategie der Sprachverfremdung zeigt, fokussiert er bei Swinburne die konkrete Umformung bestimmter inhaltlicher Elemente. Dass er die Verfremdungsstrategie nicht als Selbstzweck ansehe, betont Borchardt in seiner Erwiderung auf Heftis Dante-Kritik – und zwar gerade mit dem Hinweis auf seine Swinburne-Übertragungen: „Habe ich vielleicht in meiner Übertragung der Gedichte Swinburnes geringe Neigung gezeigt, fließend wiederzugeben, was im Originale fließt und da, wo der Stil es zuläßt, durchsichtig und wohlklingend zu übersetzen?“227 Erteilt Borchardt den Kriterien von Schönheit und Verständlichkeit für seine Dante-Übersetzung mit dem Hinweis auf die unüberwindbare historische Distanz zwischen Original und Leser eine Absage, so bemüht er sich im Falle der Swinburne-Übersetzung durchaus um poetischen Wohlklang. Trotz solcher deutlicher Unterschiede soll im Folgenden keine grundlegende Opposition zwischen Borchardts einzelnen Übersetzungen etabliert werden. Ziel ist es vielmehr, die unterschiedlichen Stoßrichtungen von Borchardts komplexer Übersetzungsmethodik aufzuzeigen, die sowohl sprachrelational ausgerichtete als auch mitteilungsorientierte Ansätze einschließt. Es ist nicht übertrieben, wenn man Swinburne bzw. seinem Werk eine Außenseiterrolle zuschreibt, sowohl zu Lebzeiten als auch posthum. Auch Borchardt gilt Swinburnes Werk als eine „völlig außerhalb des deutschen Publikumsverständnisses stehende Poesie“.228 Friedmar Apel hat an Borchardts 1919 erschienener Übersetzung von Swinburnes A forsaken garden (1876) aufgezeigt, dass die Rekonstruktion formaler Elemente nur einen Schritt auf dem Weg zu einer „künstlerische[n] Übersetzung“229 im Borchardt’schen Sinne bedeutet. In seiner Swinburne-Fassung erfahren verschiedene inhaltliche Elemente des Originals eine deutliche Umakzentuierung. Dessen erste Strophe lautet: A forsaken garden In a coign of the cliff between lowland and highland, At the sea-down’s edge between windward and lee,

226 Swinburne. Deutsch von Rudolf Borchardt. Als Paralleldruck mit dem Urtext hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Friedmar Apel (= Schriften der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft, Bd. 1). München 1989/1990, S. 91. 227 Borchardt: Erwiderung in Sachen ›Dante deutsch‹, S. 75. 228 Rudolf Borchardt: Nachwort zur zweiten Auflage des deutschen Swinburne. In: Ders.: Prosa 4. Hrsg. von Marie Louise Borchardt unter Mitarbeit von Ulrich Ott und Ernst Zinn. Stuttgart 1973, S. 167–170, hier S. 167. 229 Rudolf Borchardt: Schröders Horaz. In: Ders.: Prosa 2. Hrsg. von Marie Louise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn. Stuttgart 21992, S. 310–316, hier S. 315.

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Walled round with rocks as an inland island, The ghost of a garden fronts the sea. A girdle of brushwood and thorn encloses The steep square slope of the blossomless bed Where the weeds that grew green from the graves of its roses Now lie dead.230

In einem Gegenentwurf zur christlichen Paradiesvorstellung des Gartens Eden beschreiben die zitierten Verse einen menschenleeren, verwitterten Garten, der in der Absenz von Leben fast unwirklich erscheint. In den folgenden neun Strophen des Gedichts dominieren Motive der Abwesenheit, die neben Menschen, Tieren und Objekten auch abstrakte Elemente wie Bewegung oder Sprache miteinschließt. In der ersten Strophe von Borchardts Swinburne-Fassung lässt sich ein Nebeneinander verschiedener Übersetzungsstrategien konstatieren: Der verlassene Garten

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In der Beuge der Kluft zwischen Tiefland und Steilland, Wo die Dün einlenkt aus Wind gegen Lee, In Blöcke gepackt wie ein Binnland-Eiland Gespenst eines Gartens starrts auf See. Nur Strupp und Gedörn, wie ein Ringwall, hüten Das entblätterte Beet, Steilhang im Geviert, Wo das Kraut, einst grün von der Gruft seiner Blüten, Zuckt und friert.231

Die Wahl entlegener Vokabeln wie „Strupp“232 oder „Gedörn“233 zeugt zunächst von Borchardts Impetus, die bestehende Distanz zwischen Original und Leser zu betonen. In vielerlei Hinsicht orientiert sich Borchardts Fassung auch direkt am Ausgangstext, wenn er die Strukturen der Syntax sowie das Reimschema nachbildet, ähnlich lautende Komposita schafft oder phonologische Äquivalenzen einfügt.234 Mit Blick auf die inhaltliche Auseinan230 In: Algernon Charles Swinburne: Poetical works 3 (= The complete works of A. C. Swinburne, Bd. 3). Edited by Sir Edmund Gosse and Thomas James Wise. London/New York 1925, S. 18. 231 Algernon Charles Swinburne: Der verlassene Garten. Deutsch von Rudolf Borchardt. In: Rudolf Borchardt: Gedichte 2 – Übertragungen 2. Hrsg. von Marie Louise Borchardt und Ulrich Ott unter Beratung von Ernst Zinn. Stuttgart 21994, S. 280–282, hier S. 280. 232 Vgl. den Eintrag „Strupp“. In: DWB, Bd. 20, Sp. 142–143. 233 Vgl. den Eintrag „Gedörn“. In: DWB, Bd. 4, Sp. 2032–2037. 234 Eine Ausnahme bildet hier Borchardts Verzicht auf das Einrücken der beiden Schlussverse. Für eine detaillierte Analyse von Borchardts Übersetzung siehe Apel (1982, S. 209– 224) bzw. Apel (1989). Kritik an Apels Deutung von Borchardts Swinburne-Übersetzung artikuliert Neumann (2007), S. 114, Anm. 60.

1.3 „Es kommt auf den Sinn nicht an“ – oder doch?

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dersetzung unterstreicht Apel, dass „auch ein Verfechter der mitteilungsorientierten Übersetzungskonzeption“ Borchardts Fassung akzeptieren könne, „wenn er sich an den Archaismen und ungewöhnlichen Wortformen“ nicht störe.235 Die von Borchardt vorgenommenen Änderungen zielen darauf ab, die im Original angelegte radikale Sinn-Negation abzumildern.236 Diese Akzentverschiebung vollzieht sich auf mehreren Ebenen: Anstatt die im Original angelegte Motivik abgestorbener Natur als solche nachzubilden, deutet er sie in eine Motivik des Leidens um (V. 6–8). Borchardt überführt das Motiv der Vernichtung in den jahreszeitlich bestimmten Zyklus von Leben, Absterben und Wiederaufleben, auf den auch Swinburnes Text anspielt, indem er den Motiven des Frühlings („the weeds that grew green“, V. 7) Motive des Herbstes („blossomless bed“, V. 6) voranstellt. Genau diese Allusionen greift Borchardt auf und gestaltet das Motiv des Winters besonders plastisch, wenn er an die Stelle der im Original evozierten Vernichtung („the weeds that grew green“ / „Now lie dead“) den Eindruck frostiger Kälte („zuckt und friert“) setzt. Der gravierendste Eingriff, den Borchardt bei der Übertragung des Swinburne-Gedichts vornimmt, ist jedoch das Auslassen der letzten Strophe. Hier kulminiert der vom lyrischen Sprecher empfundene Sinn- und Weltverlust in einem Paradoxon, das jedoch kein Heilsversprechen mehr transportiert; der ›Tod des Todes‹.237 Borchardt tilgt das Motiv unhintergehbarer Finalität („Death lies dead.“) und lässt seine deutsche Gedichtfassung mit der neunten Strophe schließen: Hier Todes Geschäft aus ist es für immer, Hier kommt kein Wandel als einer zuletzt, Aus dem Grab ihrer Tat aufsteigen sie nimmer, Die kein Leben gelassen als fremd und zerfetzt Erd, Felder und Dorn auf wilderndem Rasen: Weil Regen und Sonn, hat dieses Gewähr, Bis von letzten Wettern auf Land geblasen Rollt das Meer.238 235 Apel (1989), S. 20. 236 Ebd. 237 Die zehnte Strophe von Swinburnes Gedicht A forsaken garden lautet: „Till the slow sea rise and the sheer cliff crumble, / Till terrace and meadow the deep gulfs drink, / Till the strength of the waves of the high tides humble / The fields that lessen, the rocks that shrink, / Here now in his triumph where all things falter, / Stretched out on the spoils that his own hand spread, / As a god self-slain on his own strange altar, / Death lies dead.“ In: Swinburne: Poetical works 3, S. 20. 238 Swinburne: Der verlassene Garten, S. 282. Im Original lautet die neunte Strophe: „Here death may deal not again for ever; / Here change may come not till all change end. / From the graves they have made they shall rise up never, / Who have left nought living to ravage and rend. / Earth, stones, and thorns of the wild ground growing, / While the sun and the rain live, these shall be; / Till a last wind’s breath upon all these blowing / Roll the sea.“ In: Swinburne: Poetical works 3, S. 20.

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

Gegen die Stoßrichtung von Swinburnes Gedicht lässt Borchardt seinen deutschen Text mit dem Motiv der Meereswogen enden und setzt der Starrheit des Todes die Bewegung der Wellen entgegen. Damit beschönigt und verharmlost er den Ausgangstext und nimmt ihm den Charakter allumfassender Negativität. Diese in ihrer Radikalität durchaus problematische Umdeutung wird durch einen weiteren Eingriff Borchardts in den zitierten Schlussversen der neunten Strophe gestützt. Übersetzt Borchardt den Halbvers „these shall be“ – der sich bei Swinburne auf die zuvor erwähnten Elemente „earth, stones, and thorns“ bezieht – mit der Wendung „hat dieses Gewähr“, so tauscht er die Pluralform des Demonstrativpronomens „these“ gegen die Singularform „dieses“. Da als möglicher Bezugspunkt dieses Pronomens nur Swinburnes Gedicht selbst bzw. Borchardts Übersetzung in Frage kommt, wie Apel zeigt, lässt sich hier von einer Strategie übersetzerischer Selbstreflexion sprechen.239 Borchardt rekurriert mit der Verwendung des Demonstrativpronomens im Singular auf eine implizite Bedeutungsdimension des Originals, die in dem Paradox besteht, dass das lyrische Sprechen selbst von der allumfassenden Sinn-Negation in A forsaken garden ausgenommen ist und demnach als eine letzte Instanz der Sinnhaftigkeit fungiert. Borchardt affirmiert mit der Wendung „hat dieses Gewähr“ die in Swinburnes Gedicht vollzogene Fortdauer des lyrischen Sprechens auf doppelte Weise: Er benennt das „Weiterleben“ von Swinburnes Gedicht und vollzieht es gleichzeitig in seiner eigenen Übersetzung. Im Fall von Swinburnes Der verlassene Garten dient Borchardts Übersetzung demnach nicht nur als Instrument der „schöpferischen Restauration“, sondern auch als eine Metareflexion auf die Stoßrichtung des kulturpolitischen Programms. Trotz Borchardts individueller Auseinandersetzung mit dem Original sind sein Fernziel der Restauration und seine verharmlosenden Akzente kritisch zu beurteilen. Angesichts seiner zum Teil gravierenden Eingriffe in Swinburnes Text zeigt sich, dass Borchardt beim Übersetzen keine breitenwirksame Literaturvermittlung anstrebt, sondern vielmehr, wie er selbst betont, „seine Lektüre publiciert, seine Art zu lesen vervielfältigt“.240 Eine so enge Wechselwirkung zwischen Übersetzungstheorie und -praxis wie bei Rudolf Borchardt lässt sich bei Walter Benjamin nicht ausmachen. Thomas A. Keck spricht gar von der „fast janusköpfigen Gestalt der theoretischen und der praktischen Arbeit des Übersetzers Benjamin“.241 239 Apel (1989), S. 22. 240 Hier bezieht sich Borchardt auf seine Übersetzungen der altionischen Götterlieder. Siehe Borchardt: Altionische Götterlieder unter dem Namen Homers. In: Ders: Prosa 2, S. 109–130, hier S. 127 f. 241 Keck (1997), S. 241. Vgl. dazu auch Apel (1982, S. 167–192); Lönker (1991, S. 212–219); Krapoth (1997, S. 284).

1.3 „Es kommt auf den Sinn nicht an“ – oder doch?

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Besonders kontrovers diskutiert wird in der Forschung eine zentrale These aus Benjamins Vorwort, die sich auf die „Wörtlichkeit“ als einer notwendigen Bedingung für das Aufscheinen der „reinen Sprache“ im Übersetzungsvorgang bezieht. Eine „wahre Übersetzung“, so Benjamin, lasse sich nur erreichen durch „Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers“.242 Welche Ebene fokussiert Benjamin in diesem Zitat, die lexikalische oder die syntaktische? Verknüpft man den zitierten Satz einerseits mit dem Begriff der „Interlinearversion“ als einer Wort-für-Wort-Übersetzung und andererseits mit dem Verweis auf Hölderlins Sophokles-Übersetzungen, in denen die deutsche Sprache „vergriechischt“243 werde, so müsste der Fokus auf der syntaktischen Struktur der Ausgangssprache liegen. Anhand von Benjamins Übersetzungen wird jedoch deutlich, dass er nur selten versucht, die syntaktischen Strukturen der Ausgangssprache nachzubilden. Willy R. Berger führt als Beispiel die im Nachlass enthaltene Übersetzung des Gedichts Les deux bonnes sœurs an, in der eine Inversion dem Duktus des Deutschen zuwiderläuft: „Et la bière et l’alcôve en blasphèmes fécondes / Nous offrent tour à tour, comme deux bonnes sœurs, / De terribles plaisirs et d’affreuses douceurs.“244 Benjamin übersetzt: „Und Sarg und Lager geil bei Fluch und Schwarm / Uns reichen wechselnd wie barmherzge Schwestern / Gräßlicher Süße und Genüsse Lästern.“ [Hervorhebung A. S.]245 Von dieser Ausnahme abgesehen, strebt Benjamin häufig sogar das Gegenteil einer syntaktisch treuen Übersetzung an, wenn er genuin französische Verbformen (z. B. Partizipialkonstruktionen) mit Hilfe der für die deutsche Sprache charakteristischen Wortkomposita wiedergibt. Dieses Verfahren zeigt sich in einer Strophe aus Baudelaires Gedicht Petites Vieilles, in der die ›Alten Frauen‹ vor dem Hintergrund des Großstadtlärms evoziert werden.246 Original und Übersetzung lauten wie folgt: Ils rampent, flagellés par les bises iniques, Frémissant au fracas roulant des omnibus247 Herzloser Winde Geißelhieb im Rücken Ziehn sie verstört vom Wagenlärm vorbei.248

242 Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 18. 243 So die Forderung des von Benjamin zustimmend zitierten Rudolf Pannwitz. In: Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 20. 244 Baudelaire: Œuvres, Bd. 1, S. 114. 245 Walter Benjamin: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen (= Gesammelte Schriften, Bd. 4.1). Hrsg. von Tillman Rexroth. Frankfurt am Main 1991, S. 77. 246 Vgl. Berger (1975), S. 649 f. 247 Baudelaire: Œuvres, Bd. 1, S. 89. 248 In: Benjamin: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen, S. 32–39.

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

In Benjamins Fassung wird die deutsche Sprache gerade nicht durch die Konfrontation mit einer fremden Sprache erweitert, sondern in idiomatischer Weise eingesetzt. Diese Praxis steht in Widerspruch zu der von ihm zitierten Forderung von Rudolf Pannwitz,249 die deutsche Sprache beim Übersetzen von der Ausgangssprache verändern zu lassen, d. h. sie zu ›französisieren‹. Thomas A. Keck betont, dass es Benjamin gerade nicht um die „Übernahme der syntaktischen Regeln des Französischen“ gehe und er in seinen Übersetzungen Gallizismen stets zu vermeiden suche.250 Benjamins Sprachversöhnung vollziehe sich demnach nicht in der Nachbildung fremdsprachiger syntaktischer Normen, sondern in einer dem jeweiligen Originalvers korrespondierenden Klanggestaltung in der Zielsprache.251 Als Beispiel führt Keck zwei Verse aus Baudelaires Gedicht Le Soleil an, wobei er die klangliche Dominanz der [i]-Laute im Original besonders hervorhebt: „C’est lui [i. e. le rayon du soleil, A. S.] qui rajeunit les porteurs de béquilles / Et les rend gais et doux comme des jeunes filles“ [Hervorhebung A. S.]. Benjamins Fassung lautet: „An ihm verjüngen sich die Invaliden / Als sei den Alten Mädchenglück beschieden.“ Keck erkennt in der von Benjamins Übersetzung vollzogenen Imitation der [i]-Laute einerseits „eine besondere Treue jenseits der Sinntreue“. Andererseits entstehen seiner Meinung nach intendierte Mehrdeutigkeiten durch die Aufspaltung der Wendung „porteurs de béquilles“ (dt. „Krückenträger“) in die deutschen Begriffe „Invalide“ bzw. „Alte“ sowie durch den Gebrauch des Kompositums „Mädchenglück“ für die Wendung „gais et doux comme des jeunes filles“. Sie erschweren dem Leser das unmittelbare Verständnis der Übersetzung. Ob jedoch Benjamin tatsächlich diese künstlich herbeigeführte Verunklarung des Sinns meint, wenn er fordert, dass die Übersetzung sich die ›Art des Meinens‹ der Ausgangssprache anbilden solle? Darauf läuft jedenfalls Kecks Argumentation hinaus, wenn er sagt, Benjamin „entzieh[e] den Text einer eindeutigen referentiellen Deutbarkeit und entfern[e] ihn so von der Sprache der Mitteilung, gegen die er mißtrauisch ist, ebenso von einer aufgesetzten Sprache der Poesie. Er [Benjamin] möchte den Text der reinen, der wah249 Pannwitz: Krisis der europäischen Kultur, S. 191. 250 Keck (1997), S. 257. 251 Vgl. dazu die Kritik von Keck (1997, S. 257) an Lönkers „zu wörtlicher BenjaminInterpretation“: „Auch Benjamins eigene Diktion, wie sie sich im Übersetzer-Aufsatz darstellt, [ist] ergänzungsbedürftig; sie allzu wörtlich zu nehmen, wie Lönker es in diesem Fall zu tun scheint, führt zwangsläufig zu Fehlschlüssen. Denn mit der ›Wörtlichkeit in der Syntax‹ ist wohl doch nicht gemeint, daß französische syntaktische Regeln auf die deutsche Sprache angewandt werden, zumal Benjamin ja gerade nicht den Satz, sondern das Wort, also nicht die Regeln, sondern die einzelnen Elemente des textlichen Universums als das Urelement des Übersetzers betrachtet. Und auch die spezielle Zusammenordnung der Wörter oder ihre Reihenfolge scheinen nicht gemeint zu sein.“

1.3 „Es kommt auf den Sinn nicht an“ – oder doch?

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ren Sprache öffnen.“252 Gegen Kecks Argumentation lässt sich einwenden, dass die jeweiligen Spezifika der klanglichen Versgestaltung das Verhältnis zwischen der französischen und der deutschen Sprache unberührt lassen. Dass Benjamin in den zitierten Versen ein klangmimetisches Verfahren anwende, um auf diesem Wege die „reine Sprache“ hervortreten zu lassen, erscheint daher im Zusammenhang seiner Übersetzungskonzeption wenig plausibel. Vermutlich handelt es sich vielmehr um den Versuch, die deutsche Gedichtfassung mit vergleichbaren poetischen Qualitäten auszustatten, wie das Original sie aufweist. Für dieses Vorgehen, das auf eine klangliche Wirkungsäquivalenz zwischen Original und Übersetzung abzielt, findet sich jedoch in Benjamins Vorrede keine theoretische Begründung. Neben der Nachbildung klanglicher Spezifika des Originals finden sich in Benjamins Baudelaire-Übersetzungen wider Erwarten auch eher mitteilungsorientierte Tendenzen. Hermann Krapoth führt in diesem Zusammenhang zahlreiche Beispiele für Perspektivverschiebungen an, deren Einsatz sich in zweierlei Hinsicht auswirkt:253 Einerseits wird „die vom Subjekt zum Objekt laufende Bewegungsrichtung umgekehrt“, andererseits wird die Direktheit des französischen Verses durch die indirekte Ausdrucksform im Deutschen gemindert, wie in der Übersetzung von Baudelaires Gedicht Les aveugles.254 Im Original heißt es: „Vois! je me traîne aussi! mais, plus qu’eux hébété, / Je dis: Que cherchent-ils au Ciel, tous ces aveugles?“255 (V. 13–14) Die Suchbewegung der Blinden am Himmel wird bei Benjamin durch einen Vorgang der Offenbarung ersetzt: „Sieh her! So schleich auch ich! doch nahm mich dies / Oft Wunder: Was verrät sich Dort den Blinden?“256 Die hier vollzogene Perspektivverschiebung unterlegt dem Original eine neue Bedeutungsdimension und deutet die bestehende Subjekt-Objekt-Relation um: Aus den suchenden Blinden werden empfangende, aus einem leeren Himmel, bar jeder Transzendenz, wird ein Ort der Verheißung. Diese Umakzentuierung verstärkt Benjamin noch zusätzlich, indem er das vorausgehende Adjektiv „hébété“ (dt. „verblüfft, verwundert“) mit der Wendung „nimmt mich wunder“ wiedergibt. Genau wie die Blinden wird auch das lyrische Ich in einen Zustand der Passivität versetzt. Darüber hinaus intensiviert der Begriff „Wunder“ die Vorstellung einer bevorstehenden Epiphanie.

252 253 254 255 256

Keck (1997), S. 255. Krapoth (1997), S. 270–276. Ebd., S. 270. Baudelaire: Œuvres, Bd. 1, S. 92. In: Benjamin: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen, S. 39.

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

Durch die genannten Interventionen gestaltet Benjamin seine eigene Lesart des Gedichts Les aveugles, ähnlich wie Borchardt dies in seiner Fassung von Swinburnes A forsaken garden tut. Mildern Borchardts Eingriffe die bei Swinburne angelegte Sinn-Negation, so entschärft Benjamin die von Baudelaire evozierte Gottverlassenheit der Blinden, indem er die im Original suspendierte göttliche Instanz implizit wieder einsetzt.257 Zwar bleibt der Inhalt der göttlichen Botschaft auch bei Benjamin unbestimmt, doch die Wendung „Was verrät sich Dort den Blinden?“ [Hervorhebung A. S.] setzt voraus, dass sich ihnen etwas verrät. Diese Umdeutung opponiert gegen Baudelaires Negation der Transzendenz und konturiert Benjamins eigenes, engeres Verhältnis zur Religion. Anders als in der Vorrede dargelegt, setzt Benjamin, wie das zitierte Beispiel zeigt, also durchaus auch inhaltsbezogene Übersetzungsstrategien ein.258 Bruchlos lassen sich Benjamins theoretische Reflexionen offensichtlich nicht auf seine Übersetzungspraxis anwenden. Dies darf jedoch insofern nicht verwundern, als die Stoßrichtung seiner Vorrede tatsächlich weniger eine unmittelbar praxisbezogene als vielmehr eine erkenntnistheoretische ist. Sie zielt auf die Frage nach dem Verhältnis der Sprachen untereinander bzw. nach der Grundlage ihrer wechselseitigen Übersetzbarkeit jenseits historisch bedingter Verwandtschaftsbeziehungen. Damit überschreitet sie den Zusammenhang von Benjamins Baudelaire-Übersetzungen und beansprucht einen autonomen Status.259 Mit seinem Essay Die Aufgabe des Übersetzers vollzieht Benjamin daher eine doppelte Grenzüberschreitung, die dessen immense Wirkmacht im 20. Jahrhundert überhaupt erst ermöglicht hat: So wie er die Übersetzung von ihrer dienenden Bestimmung als Verständnishilfe befreit, so entbindet er auch den Paratext selbst von seiner explikativen Funktion und nobilitiert damit die übersetzungstheoretische Reflexion als philosophische Textgattung. Obwohl Benjamin die Übersetzung als interlinguale Relation mit dem utopischen Fluchtpunkt der „reinen Sprache“ begreift – und nicht als konkrete Gestaltung einer individuellen Lesart des Originals –, hat sein Aufsatz die poètes traducteurs nach 1945 wie Paul Celan und Ludwig Harig nachhaltig beeinflusst. Ihre intensive Beschäftigung mit Benjamins Reflexionen schlägt sich vor allem in der Bezugnahme auf bestimmte Konzepte nieder, sei es die „Übersetzbarkeit“, die „Wörtlichkeit“ oder die „Interlinearversion“. Diese Termini und die zugrunde liegenden Vorstellungen werden im 257 Doetsch (2004), S. 113. 258 Grunwald (2009) hat aufgezeigt, wie Benjamin in seiner Übersetzung des BaudelaireGedichts Les sept vieillards die Identifikation zwischen dem lyrischen Ich und der biblischen Judasfigur aufbricht und in der Folge seine antizionistisch motivierte Lesart dieses Tableau parisien gestaltet. Vgl. S. 571–596, hier bes. S. 586–592. 259 Vgl. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 13.

1.3 „Es kommt auf den Sinn nicht an“ – oder doch?

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Rahmen ihrer eigenen Übersetzungspoetiken weitergedacht, neu akzentuiert oder auch umgedeutet (vgl. Kap. 3 und 4).260 Konvergiert Walter Benjamins Übersetzungsverständnis mit dem von Rudolf Borchardt in der Prämisse der Distanzmarkierung zwischen Original und Übersetzung, so lassen sich beim Vergleich ihrer Ansätze doch merkliche Unterschiede feststellen. Während in Borchardts Praxis, deren vielseitiges Methodenspektrum sowohl Strategien der Sprachverfremdung als auch Verfahren der inhaltlichen Umdeutung aufweist, die Bereiche von Übersetzung und Dichtung einander angenähert werden, scheidet Benjamin die „Aufgabe des Übersetzers“ streng von der „Aufgabe des Dichters“. Bei Borchardt erweist sich zudem die Forderung nach Distanzerhalt zwischen Ausgangstext und Leser als ambivalenter als bei Benjamin, da sie seinem Streben nach „Einbürgerung [des Originals] in den ewigen Vorrat deutscher Poesie“261 zuwiderläuft. Außerdem verweist der Begriff der „Distanz“ bei Borchardt nicht nur auf den Abstand zwischen den Sprachen, sondern auch auf die Spannung zwischen Autoren- und Übersetzerpoetik, die sich in der zielsprachlichen Fassung niederschlägt. Mitunter tendiert Borchardt jedoch in seinen eigenen Übersetzungen dazu, den Ausgangstext durch inhaltliche Umdeutungen zu entschärfen, wie in seiner Fassung von Swinburnes A forsaken garden. Abseits von solchen verharmlosenden Tendenzen und unter neuen historischen bzw. poetologischen Vorzeichen werden die dialogischen, die selbstreflexiven und in Einzelfällen auch die sprachverfremdenden Momente von Borchardts Übersetzungspraxis nach 1945 wieder aktuell: Sie stellen die primären Distinktionsmerkmale derjenigen Übersetzungen dar, die Paul Celan, Ludwig Harig und Volker Braun aus den Werken zeitgenössischer französischer Lyriker angefertigt haben (vgl. Kap. 3, 4 und 5). In je unterschiedlicher Weise lassen sich die übersetzerischen Werke von Walter Benjamin und Rudolf Borchardt, in denen die auf Distanzmarkierung abzielenden Konzepte der Romantik auf eine neue Grundlage gestellt werden, als Ideengeber für die Praxis der Lyrikübersetzung der zweiten Jahrhunderthälfte verstehen.

260 Seit den achtziger Jahren schlägt sich die Rezeption von Benjamins Aufsatz auch in dekonstruktivistischen Sprach- und Texttheorien nieder und generiert eine Vielzahl philosophischer Kontroversen, vgl. Hirsch (1997). Benjamins Übersetzerpraxis rückt hingegen eher selten in den Blick. Bezeichnend für diese ungleich verteilte Aufmerksamkeit ist die Tatsache, dass das Benjamin-Handbuch keinen gesonderten Eintrag zu Benjamins Übersetzungen enthält, vgl. Lindner (2006). 261 So Borchardt im Nachwort zu seinen Übersetzungen provenzalischer Trobador-Dichtung. In: Borchardt: Die großen Trobadors, S. 353. 1926 gab Rudolf Borchardt eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik von Walther von der Vogelweide bis zu Annette von DrosteHülshoff mit dem Titel Ewiger Vorrat deutscher Poesie heraus.

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

1.4 Zwischen poetischer Interaktion und Konventionalisierung: Zur Theorie der Lyrikübersetzung nach 1945 Im 20. Jahrhundert bildet sich in Theorie und Praxis eine neue Auffassung der Lyrikübersetzung als literarischer Text heraus. Der neue Status der Übersetzung als eigenständiges, wenn auch in vielfältiger Weise auf den Ausgangstext bezogenes Kunstwerk eröffnet eine veränderte, von der historisch geprägten Dichotomie zwischen Treue oder Freiheit losgelöste Perspektive, die im folgenden Kapitel nachvollzogen werden soll. Die Absage an tradierte Übersetzungsideale wird durch die Erkenntnis motiviert, dass die normativen, am Primat von Ausgangs- oder Zielsprache ausgerichteten Konzepte epochengeschichtlich gebunden sind (Kap. 1.4.1). In diesem Sinne charakterisiert der französische Lyriker, Linguist und Übersetzer Henri Meschonnic das neue Übersetzungsverständnis: Au XXe siècle, la traduction se transforme. Elle passe peu à peu de la langue au discours, au texte comme unité. […] Elle découvre qu’une traduction d’un texte littéraire doit fonctionner comme un texte littéraire, par sa prosodie, son rythme, sa signifiance, comme une des formes de l’individuation, comme un forme-sujet. Ce qui déplace radicalement les préceptes de transparence et de fidelité.262

Von normativen Zwängen befreit, rückt der produktive Eigenanteil des Übersetzers mit seiner jeweiligen sprachlich-kulturellen Prägung in den Blick. In diesem Zusammenhang ist die Praxis der poètes traducteurs von besonderem Interesse, da diese ihre eigenen ästhetischen Affinitäten und individuellen Schreibstrategien beim Übersetzen fruchtbar machen. Das übersetzte Gedicht wird dabei als individuelle Lesart des Ausgangstexts verstanden und damit als eine spezifische Antwort auf das Original. In der Übersetzung manifestiert sich demnach nicht nur eine Wechselwirkung zwischen zwei Sprachen und zwei Kulturen, sondern auch zwischen Autor- und Übersetzerpoetik. In diesem Sinne lässt sich in der Übersetzung eine interlinguale Relation zwischen Ausgangs- und Zielsprache erkennen, aber auch eine intertextuelle Relation zwischen Original und Übersetzung (Kap. 1.4.2). Das Phänomen der produktiven Wechselwirkung zwischen Ausgangsund Zieltext bezeichnet Henri Meschonnic als „interaction poétique“, ein Begriff, den er in Abgrenzung vom Übersetzungsideal der Transparenz wie folgt definiert: „On lui [i. e. la notion de transparence] oppose la traduction comme réénonciation specifique d’un sujet historique, interaction de deux poètiques, décentrement, le dedans-dehors d’une langue et des textualisa262 Meschonnic (2007), S. 42 f. Einen Überblick über theoretische Ansätze zur Literarizität von Übersetzungen bietet Pennone (2007), Kap. I.1.

1.4 Zwischen poetischer Interaktion und Konventionalisierung

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tions dans cette langue.“263 Im Anschluss an Meschonnics Konzept wird im Folgenden der Begriff „poetische Interaktion“ verwendet.264 Um sich diesem Phänomen anzunähern, kombiniert das vorliegende Kapitel eine historische und eine methodologische Perspektive. Zum einen wird die schrittweise Abkehr von tradierten Übersetzungsnormen in den sechziger Jahren erläutert. Dabei steht die zeitliche Koinzidenz zwischen der Neuorientierung der Übersetzungstheorie und der dialogisch ausgerichteten Praxis von poètes traducteurs wie Paul Celan oder Ludwig Harig im Vordergrund. Anschließend werden verschiedene Positionen der historisch-deskriptiven Übersetzungsforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutiert, die die Lyrikübersetzung als dialogisch konzipiertes Medium einstufen. Damit soll das methodische Instrumentarium bereitgelegt werden, das in den textspezifischen Analysen der französisch-deutschen Lyrikübersetzungen in den Kapiteln 3 bis 5 der vorliegenden Studie zur Anwendung kommt. Im Zentrum dieser Analysen stehen Beispiele aus den Übersetzungen, die Kemp, Celan, Harig und Braun aus dem Werk von Lyrikern wie Supervielle, Char, Michaux, Bonnefoy, Queneau und Lance angefertigt haben. 1.4.1 Die Abkehr von normativen Übersetzungsidealen seit den sechziger Jahren Der erste Schritt zu einer Neubewertung des Übersetzungsvorgangs besteht in der Reflexion der Kontextgebundenheit der tradierten Normen, die sich in der Praxis der Belles Infidèles einerseits und im Konzept der Sprachverfremdung um 1800 andererseits idealtypisch herausgebildet haben. Die von Schleiermacher formulierte Grundopposition, nach der entweder der Schriftsteller dem Leser oder der Leser dem Schriftsteller angenähert werden solle, verliert in dem Maß an Relevanz, in dem das kreative Potential des Übersetzers in den Blick rückt und das Streben nach Normierung einer als Kunstform erkannten Tätigkeit abnimmt.265 Diese Neuperspektivierung vollzieht sich jedoch nicht linear. Noch 1965 behauptet der Romanist Hugo Friedrich in seiner Schrift Zur Frage der Übersetzungskunst, in der er sich kritisch mit Rainer Maria Rilkes Übersetzung des Sonnet IV von Louise Labé auseinandersetzt, eine ungebrochene Gültigkeit der um 1800 entstandenen Übersetzungskonzepte. Gleichzeitig konstatiert er, dass sich die zeitgenössischen Übersetzer offensichtlich nicht mehr an diesem Ideal orientieren: 263 Meschonnic (1973), S. 307 f. 264 Lombez (2009) verwendet den Begriff der „interaction poétique“ im Sinne einer „interaction culturelle“ (S. 246) zwischen Deutschland und Frankreich, durch die, im Medium der Übersetzung, poetische Formen wie z. B. die Ballade oder das Lied in der französischen Literatur heimisch gemacht wurden. Siehe dazu Lombez (2009), bes. S. 194–215. 265 Vgl. Levý (1969).

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1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion

Forderungen wie diejenigen Schleiermachers und Humboldts werden nun aus keiner neueren und neuesten Theorie der Übersetzungskunst mehr weichen. Freilich, die Praxis des neueren und neuesten Übersetzens befolgt sie nur selten, selten auch dann, wenn die Übersetzer bedeutende Dichter sind.266

Friedrich stellt sich hier gegen die Praxis der poètes traducteurs und damit auch gegen Rilkes Verfahren, ohne auf dessen Übersetzungspoetik einzugehen.267 In diesem Zusammenhang fordert Friedrich sogar, der „Begriff der Übersetzungskunst [müsse] literarästhetisch geschützt“268 werden, um Übersetzungen, die den tradierten Anforderungen nicht entsprechen, aus dem Forschungsfeld auszuschließen. Dagegen hat Dieter Lamping zu Recht eingewandt,269 „Kunst, auch Übersetzungskunst, [lasse] sich nicht ›literarästhetisch‹ schützen [...]. Denn das wäre vermutlich das Ende poetischer Freiheit und ästhetischer Vielfalt.“270 Um sich den vielgestaltigen Strategien der Lyrikübersetzung im 20. Jahrhundert anzunähern, reicht es Lamping zufolge nicht aus, auf programmatischen Forderungen zu insistieren, die [von Friedrich aus gesehen, A. S.] in einem spezifischen, 150 Jahre zurückliegenden literar- und sprachhistorischen Kontext entstanden sind. In Bezug auf Friedrichs Kritik an Rilkes Übersetzungen betont er: „Die Berufung auf [Schleiermachers und Humboldts] Entwürfe hat die Entwicklung anderer Blickwinkel verhindert, die auch und gerade für moderne Übertragungen und für die Rilkes fruchtbar sein könnten.“271 Tatsächlich hatte zum Zeitpunkt von Friedrichs Forderung bereits ein Umdenken eingesetzt. Schon 1963 charakterisiert Fritz Güttinger die literarische Übersetzung als eine individuelle „geistige Auseinandersetzung“272 des Übersetzers mit dem Ausgangstext. Dabei lenkt er den Blick vom Sprachtransfer hin auf das Gestaltungspotential des Übersetzers: Die Übersetzungen sind verschieden, weil die Übersetzer es sind. Übersetzen heißt sich mit einem Text auseinandersetzen, und das Ergebnis [...] ist nicht mehr das Werk, sondern das Werk in einer bestimmten Sicht. Es kann deshalb etwas wie eine Einfürallemal-Übersetzung gar nicht geben […]. Das Übersetzen ist nicht die rein sprachliche Angelegenheit, als die es gemeinhin [...] angesehen wird.273

266 267 268 269 270 271 272 273

Friedrich (1965), S. 12. Zum übersetzerischen Werk Rainer Maria Rilkes vgl. Dieterle (2004). Friedrich (1965), S. 21. In seiner Rezension von Hugo Friedrichs Schrift schreibt Maurer (1967, S. 135): „Sollten wir wirklich dazu verurteilt sein, auf dem Gebiete der Übersetzungskunst [...] unverrückbare Maßstäbe, aber keine diesen Maßstäben adäquate lebendige Literatur zu haben?“ Lamping (1996), S. 68. Ebd., S. 49. Auch Maurer (1976, S. 248 f.) kritisiert eine epochenunabhängige Fortführung der Übersetzungskonzepte der Romantik. Güttinger (1963), S. 56. Ebd.

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Auch in den Reflexionen der Übersetzer wird der Übersetzungsvorgang nicht allein als Transfer zwischen Ausgangs- und Zielsprache begriffen. So heißt es in einem Brief von Paul Celan an Adolph Hofmann vom 18. Mai 1960: „Uebersetzen – das bedeutet einen langen Umgang mit dem zu Uebersetzenden, mit dessen Sprache überhaupt und mit dessen Sprache im besonderen, d. h. im Gedicht.“274 Celan grenzt hier zwei konstitutive Dimensionen des poetischen Ausdrucks voneinander ab: Auf der einen Seite wurzelt der Ausgangstext in einem bestimmten sprachlichen System; auf der anderen Seite wird er von den individuellen poetischen Strategien des Verfassers geprägt. Die Aufmerksamkeit des Übersetzers darf sich Celan zufolge nicht allein auf das Verhältnis zwischen den Sprachen richten, sondern muss sich auch gegenüber dem individuellen poetischen Duktus des Ausgangstexts positionieren. Die Umsetzung dieser doppelten Perspektive kann, wie im Folgenden aufzuzeigen sein wird, nur eine einzelfallspezifische sein. 1.4.2 Lyrikübersetzung als poetische Interaktion Die Auffassung von der literarischen Übersetzung als einer poetischen Interaktion zwischen Ausgangs- und Zieltext bildet sich im Rahmen der Kontroverse zur Übersetzbarkeit von Lyrik heraus. So begründet Roman Jakobson in seinen Essais de linguistique générale (1963), warum er lyrische Texte prinzipiell für unübersetzbar hält: En poésie, les équations verbales sont promues au rang de principe constructif du texte. [La] paronomase règne sur l’art poétique, que cette domination soit absolue ou limitée, la poésie par définition, est intraduisible. Seule est possible la transposition créatrice.275

Stuft Jakobson Wortspiele und Gleichklänge als textkonstitutive Elemente der Lyrik ein, so hält er ihre Übersetzung für unmöglich und erkennt allein in der „transposition créatrice“ ein legitimes Medium der Vermittlung. Um die von Jakobson thematisierte ›kreative Transposition‹ nicht ins Belieben des jeweiligen Übersetzers zu stellen, fordert Henri Meschonnic eine ›Poetik der Lyrikübersetzung‹: „Cette transposition est laissée à la mythologie de la création subjective. C’est elle justement qu’il s’impose de théoriser et questionner en retour cette définition de la traduction qui laisserait tout ce qui est ›poésie‹ hors de son champ.“276 Ein erster Schritt in Meschonnics Konzeption besteht in der Suspension der tradierten Normen von Treue und Freiheit sowie in der Abkehr von der interlingua274 Paul Celan: Brief an Adolph Hofmann vom 18. Mai 1960. In: FN, S. 517. 275 Roman Jakobson: Essais de linguistique générale. Paris 1963, S. 86. 276 Meschonnic (1973), S. 309 f., Anm. 2.

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len Sichtweise auf den Übersetzungsvorgang. Sein eigenes Übersetzungsverständnis liegt weniger in einer interlingual als in einer intertextuell ausgerichteten Perspektive begründet.277 Mit dieser Statusbestimmung der Übersetzung schärft Meschonnic den Blick für die je individuelle Wechselwirkung zwischen Autor- und Übersetzerpoetik und ihrem jeweiligen historisch-kulturellen Kontext. Entsprechend erkennt er in der Übersetzung eine „réénonciation spécifique d’un sujet historique“,278 deren Voraussetzung in der Reflexion der sprachlichen und kulturellen Distanz zwischen Original und Übersetzung besteht. In Abgrenzung von „ethnozentrischen“279 Betrachtungsweisen, die den zielsprachlichen Kontext zum gültigen Maßstab nehmen, favorisiert Meschonnic eine dezentrierte Perspektive, in der weder dem heimischen noch dem fremden kulturellen Horizont ein Primat zugestanden wird. Vielmehr geht es ihm um die Markierung der Distanz zwischen Ausgangs- und Zieltext: Le décentrement est un rapport textuel entre deux textes dans deux languescultures jusque dans la structure linguistique de la langue, cette structure linguistique étant valeur dans le système du texte. L’annexion est l’effacement de ce rapport, l’illusion du naturel, le comme-si, comme si un texte en langue de départ était écrit en langue d’arrivée, abstraction faite des différences de culture, d’époque, de structure linguistique. Un texte est à distance: on la montre, ou on la cache. Ni importer, ni exporter.280

Eine gelungene Übersetzung versteht Meschonnic demzufolge als eine „contradiction tenue“,281 d. h. als unaufgelösten, ausgehaltenen Widerspruch zwischen den spezifischen kulturellen Kontexten, zwischen Ausgangs- und Zielsprache sowie zwischen Autor- und Übersetzerpoetik. Die poetische Interaktion, so Meschonnic, soll den spezifischen Status der Übersetzung ins Bewusstsein bringen, anstatt ihn zu verschleiern. Meschonnics Konzept, das die Übersetzung als Relation zwischen zwei literarischen Texten fokussiert, ist seit den achtziger Jahren von zahlreichen Übersetzungswissenschaftlern und Komparatisten im frankophonen und im deutschsprachigen Raum aufgegriffen und weitergeführt worden. Während Meschonnic selbst den von Julia Kristeva geprägten 277 Vgl. Meschonnic (1999), S. 177. Auch für Cary (1985, S. 35) tritt die Bedeutung des Sprachtransfers in den Hintergrund, während die Aufmerksamkeit für den jeweiligen kulturhistorischen Zusammenhang einer Übersetzung steigt. 278 Meschonnic (1973), S. 307 f. 279 Antoine Berman (2002, S. 17) bewertet eine sich dem Primat der Verständlichkeit unterwerfende Übersetzung, d. h. eine „traduction ethnocentrique“, prinzipiell kritisch, wenn es heißt: „J’appelle mauvaise traduction la traduction qui, généralement sous couvert de transmissibilité, opère une négation systématique de l’étrangeté de l’œuvre étrangère.“ 280 Meschonnic (1973), S. 307. Vgl. zu Meschonnics Begriff des „effacement“ den Terminus der „invisibility“ bei Venuti (1995). 281 Meschonnic (1999), S. 55.

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Terminus „intertextualité“ im Rahmen seiner Übersetzungstheorie vermeidet,282 wird er von anderen Forschern explizit auf das Phänomen Übersetzung angewandt. So begreift Werner von Koppenfels das ebenso konflikthafte wie produktive Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext als „Spielform von Intertextualität“,283 die sich in einem sprachliche und kulturelle Grenzen reflektierenden literarischen Prozess manifestiert: Die ästhetisch fruchtbare Spannung zur Fremdvorlage, die als Charakteristikum von Intertextualität schlechthin zu gelten hat, ist im janushaften Status der literarischen Übersetzung exemplarisch ausgebildet: Sie ist Reproduktion und Produktion zugleich, kritische Analyse und poetische Synthese, orientiert sich am fremden wie am eigenen Sprachsystem, an fremder und eigener Zeit und Gesellschaft, am übersetzten und am übersetzenden Autor.284

Peter V. Zima wiederum versteht Übersetzungen nicht als mehr oder weniger treue Widerspiegelungen des Originals, sondern als Manifestationen einer „inneren“ bzw. „äußeren Intertextualität“.285 Mit dem Begriff der „inneren Intertextualität“ bezieht sich Zima auf die Übersetzung als literaturimmanenten Prozess, der von literarischen und stilistischen Normen beeinflusst wird. Der Begriff der „äußeren Intertextualität“ verweist hingegen auf die Auseinandersetzung mit den ideologischen, moralischen und politischen Diskursen einer sprachlichen Situation. Als grundsätzliche Prämisse einer intertextuellen Betrachtungsweise der Übersetzung lässt sich die Absage an jede Form von Hierarchisierung zwischen Ausgangs- und Zieltext begreifen. Die Übersetzung versteht sich weder als defizitäre Kopie noch als Nobilitierung des Originals, sie ist „dem Original nicht untergeordnet und daher auch nicht nur daraufhin zu betrachten, ob sie – gemessen am Original – gut oder schlecht ist. Sie ist anders. Sie ist dasselbe anders.“286 Die hier konstatierte Differenz zwischen Originaltext und Übersetzung schlägt sich beim Übersetzen sowohl in Form von Bedeutungsverlusten als auch in Form von Bedeutungszugewinnen nieder, wie Barbara Folkart betont:

282 Bei Kristeva heißt es: „[...] jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest als eine doppelte lesen“ [Hervorhebung original]. In: Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Jens Ihwe (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft 2. Frankfurt am Main 1972, S. 345–375, hier S. 348. 283 Koppenfels (1985), S. 138. 284 Ebd., S. 139. Zu dialogischen Übersetzungen Paul Celans von Péret, Apollinaire, Rimbaud, Valèry, Supervieille u. du Bouchet siehe Pennone (2007). 285 Zima (1992), S. 201. 286 Frey (1990), S. 24 f.

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[La traduction] ajoute toujours de la valeur, crée inévitablement des distorsions [...], des décalages ou des sollicitations [...] qui permettent de toucher du doigt à la ré-énonciation, de mesurer le décalage énonciatif qui se creuse entre la voix de l’instance de réénonciation et celle de l’instance d’énonciation, d’appréhender le dire du traducteur en flagrant délit de conflit avec celui de l’auteur.287

Das Verständnis der in der Übersetzung stattfindenden intertextuellen Wechselwirkung zwischen Autor- und Übersetzerpoetik, die Barbara Folkart hier beschreibt, muss hinsichtlich der Referenzen auf Dritt-Texte erweitert werden. Die Frage nach intertextuellen Bezügen stellt sich sowohl für das Original als auch für die Übersetzung. Denn nicht nur der Autor kann mit intertextuellen Referenzen arbeiten, die in die Zielsprache übernommen oder durch andere ersetzt werden. Auch der Übersetzer selbst kann seiner zielsprachlichen Gedichtfassung neue Referenzen hinzufügen und damit die intertextuelle Vernetzung auf andere Werke ausweiten. „La relation intertextuelle“, so betont Freddie Plassard, „ne se restreint pas à la relation au texte original, mais englobe les emprunts sous toutes leurs formes que fait le traducteur aux différentes sources qu’il est amené à consulter.“288 Wird eine Übersetzung durch (markierte oder unmarkierte) Zitate angereichert oder mit versteckten Allusionen auf DrittTexte ausgestattet, so lässt sich von einer „Universalisierung des Dialogs“289 zwischen Ausgangs- und Zieltext sprechen. Im Fall der poètes traducteurs können die intertextuellen Anleihen nicht nur Dritt-Texten entstammen, sondern auch dem eigenen Werk entnommen sein. Diese Anleihen beschränken sich nicht ausschließlich auf den Einsatz bestimmter Motive. Auch komplexe Schreibstrategien, die für das eigene schriftstellerische Werk des übersetzenden Autors charakteristisch sind, kommen in den Übertragungen der poètes traducteurs zum Einsatz. Literarische Übersetzungen, so lässt sich festhalten, weisen eine „doppelt intertextuelle Struktur“290 auf: Diese schlägt sich zum einen im Verhältnis zwischen Ausgangstext und Übersetzung nieder, zum anderen im Verhältnis von Original und Übersetzung zu Dritt-Texten. Wie der Übersetzer die „ästhetisch fruchtbare Spannung“291 zwischen Ausgangstext und Übersetzung gestalten kann und welche Rolle dabei Veränderungen und Bedeutungsverschiebungen im Dienst einer gesteigerten Form der Treue spielen, wird im Folgenden diskutiert.

287 288 289 290 291

Folkart (1991), S. 127. Plassard (2007), S. 177. Lehmann (1987), S. 241 f. Lehmann (1987), S. 52. Vgl. dazu May (2004), S. 52. Koppenfels (1985), S. 139.

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1.4.3 „Treue durch Veränderung“? Übersetzung zwischen Autonomie und Orthonymie Zielt das Streben vieler poètes traducteurs im 20. Jahrhundert auf eine individuelle Auseinandersetzung mit dem Original und dessen spezifischen sprachlichen und kulturellen Elementen, so erhebt die Übersetzung als Resultat dieser Wechselwirkung keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit, sondern versteht sich als Manifestation einer spezifischen Lesart des Ausgangstexts. Anstatt als unsichtbarer Vermittler in der Übersetzung zu verschwinden, agiert der Übersetzer als Ko-Autor, der das Original interpretiert und aus seiner Sicht konkretisiert. Yves Bonnefoy spricht in diesem Zusammenhang von der „forme particulière de lecture qu’est l’entreprise du traducteur“,292 die sich in der Übersetzung als einer individuell nuancierten Lesart niederschlägt: Une tâche, bien claire: que le traducteur lise, librement, qu’il suive librement, hardiment, sa voie dans le texte. Et ce lui sera donc produire un texte lui-même, un texte qui, rapporté à l’original, pourra certes paraître lacunaire ou s’en écarter, dangereusement: puisqu’il aura absolutisé un aspect de l’œuvre, celui qu’a privilégié sa lecture, alors que cet écrit tient assurément en réserve une multitude de dimensions.293

Motiviert durch thematische oder stilistische Affinitäten, kann der Übersetzer einzelne Bedeutungsschichten des Ausgangstexts hervorheben und zuspitzen, während andere Dimensionen in den Hintergrund treten. Gerade bei der Übersetzung von Gedichten, in denen die unauflösliche Synthese zwischen Inhalt und Form in Elementen wie Metaphern, Wort- und Klangspielen, Reimschemata und Metrum gegeben ist, entsteht oft überhaupt erst dann eine Form der Äquivalenz, wenn in signifikanter Weise Veränderungen vorgenommen werden: Daher rührt der in Auseinandersetzung mit dem Übersetzungskonzept von Novalis geprägte Begriff der „Treue durch Veränderung“.294 Armin Paul Frank spricht in diesem Zusammenhang von dem „Zwang zur übersetzerischen Freiheit“.295 Eine Wort-für-Wort-Übersetzung, die die jeweilige Funktion der im Ausgangstext angewandten Stilmittel vernachlässigt, führt hingegen zu „leere[r] Korrektheit“.296 Bei Meschonnic heißt es über die spezifischen Anforderungen der Lyrikübersetzung: 292 Yves Bonnefoy: La communauté des traducteurs. In: Ders.: La communauté des traducteurs. Strasbourg 2000, S. 17–44, hier S. 23. 293 Ebd., S. 24. 294 Siever (2010), S. 134. Vgl. dazu Kap. 1.2.3. 295 Frank (1986), S. 1. 296 Kloepfer (1967), S. 114. Kloepfer verwendet den Begriff der „leeren Korrektheit“ im Zusammenhang mit den Aporien, die sich beim Übersetzen von Arthur Rimbauds Prosagedicht Métropolitain ergeben.

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Parce que ce n’est pas de la langue qu’il y a à traduire, mais ce qu’un poème a fait à sa langue, donc il y a à inventer dans la langue d’arrivée des équivalences de discours: prosodie pour prosodie, métaphore pour métaphore, calembour pour calembour, rythme pour rythme.297

Sieht sich der Übersetzer bei der Übertragung lyrischer Texte zur Freiheit gezwungen, wenn er Wort- oder Klangspiele mit dem Material der Zielsprache neu erfindet, so kann er sich eines nahezu unbegrenzten Repertoires an Übersetzungsstrategien bedienen, die, historisch reflektiert, seine je individuelle Lesart des Ausgangstextes konturieren.298 Auf diese Weise aktualisieren die poètes traducteurs Übersetzungsverfahren der Intensivierung, der kontextuellen Transposition oder der Transformation. Das angestrebte Ziel besteht in der Gestaltung eines literarischen Texts, der als solcher interpretiert werden kann. In diesem Zusammenhang spricht Barbara Folkart von dem Streben nach „[p]oetically viable translations – those that actually succeed in being poems“.299 Um den Begriff der übersetzerischen Freiheit von willkürlichen Eingriffen in den Ausgangstext abzugrenzen, unterscheidet Dieter Lamping zwischen den auf mangelndem Sprach- oder Textverständnis beruhenden „defizienten“ Abweichungen und den motivierten „poetischen“300 Abweichungen, die sich z. B. auf thematische Affinitäten zurückführen lassen. Im Rahmen der als defizient einzustufenden Unterschiede zwischen Ausgangs- und Zieltext ist die Problematik konventionalisierender Verfahren von besonderem Interesse. Das Phänomen der Konventionalisierung besteht darin, dass charakteristische Elemente des Originals wie etwa bildliche Ausdrücke und ungewöhnliche Wendungen in der Übersetzung abgeschwächt oder durch idiomatische Formulierungen ersetzt werden, ohne dass durch diese Veränderungen eine konsistente neue Lesart des Originals entstünde. Ein solcher Rückgriff auf das in der Zielsprache bereits etablierte Stil- und Formenrepertoire vollzieht sich oft gerade dann, wenn die fremdsprachliche Gestaltung des Ausgangstexts eigentlich eine individuelle Eigenleistung des Übersetzers verlangen würde. Die Gründe für konventionalisierende Tendenzen, die das Verständnis des Originaltexts zunächst scheinbar erleichtern, lassen sich in vielen Fällen nicht mit mangelnder Sprachkenntnis vonseiten des Übersetzers erklären. Da zu297 Meschonnic (1999), S. 58 f. 298 Güttinger (1963): „Wie weit die Übersetzung sich vom Wortlaut der Vorlage entfernt, um dieselbe Wirkung zu erzielen, wird von Fall zu Fall verschieden sein; manchmal genügt eine wörtliche Übertragung, manchmal bleibt kein Wort dasselbe“ (S. 70). Dass Fritz Güttinger das Verfahren einer Wort-für-Wort-Übertragung weder idealisiert noch zum Tabu erklärt, ist für die anti-normative Perspektive vieler Übersetzungswissenschaftler der sechziger Jahre bezeichnend. 299 Folkart (2007), S. 141. 300 Lamping (1996), S. 60.

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dem das Ideal der „clarté“, das in der Praxis der Belles Infidèles Nivellierungen und Anpassungen an den zielsprachlichen Kontext ausdrücklich legitimiert hatte, seit langem überholt ist, stellt sich die Frage nach der Motivation glättender Eingriffe in der Übersetzungspraxis des 20. Jahrhunderts ganz neu. Ein Erklärungsversuch stammt von den Linguisten Jean-Claude Chevalier und Marie-France Delport, die sich mit den für den Übersetzungsvorgang virulenten Wahrnehmungsmechanismen beschäftigen. Ignoriert ein Übersetzer die sprachlich-stilistischen Besonderheiten des Originals, so die Annahme von Chevalier/Delport, geschieht dies oft weniger aus Unaufmerksamkeit oder mangelnder Sprachkenntnis, sondern vielmehr aus einer unreflektierten Abhängigkeit von kulturell und sprachlich tradierten Benennungsstereotypen. Diese vorgeprägten Denkbilder werden mit Bezug auf den von Bernard Pottier geprägten Terminus als „Orthonyme“301 bezeichnet. Dessen Definition lautet: Pour tous les référents usuels d’une culture, la langue dispose d’une appellation qui vient immédiatement à l’esprit de la communauté. Cette dénomination immédiate sera dite l’orthonyme. La couleur de cette page → blanc. Le fait de mettre des mots les uns à la suite des autres sur un papier → écrire. [...] L’orthonyme est donc la lexie (mot ou toute séquence mémorisée) la plus adéquate, sans aucune recherche connotative, pour désigner le référent.302

Steigert sich die Verwendung von Orthonymen im übersetzten Text zu einem identifizierbaren Charakteristikum, das mit einem erhöhten Maß an unmittelbarer Verständlichkeit einhergeht, lässt sich von „Orthonymie“ sprechen.303 Diese versteht sich als eine „représentation spontanée, simplifiée, habituelle de ›la réalité‹ évoquée“, als „l’ordinaire formulation des 301 Der von Chevalier/Delport verwendete literaturwissenschaftliche Terminus „Orthonym“ bezeichnet ursprünglich, in Abgrenzung zu den Begriffen „Pseudonym“ und „Heteronym“, den Verfassernamen. Im Kontext der Konventionalisierungstendenz ist das Präfix „ortho“ insofern relevant, als es auf die vorgenommene ›Richtigstellung‹ eines als ungewöhnlich empfundenen Ausdrucks verweist, wie Lombez (2009, S. 133) betont. In ihrer Studie zu deutschen Gedichten in französischen Übersetzungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erläutert Lombez (2009, S. 132–138) verschiedene Beispiele dieses von Chevalier/Delport diskutierten Verfahrens im Bereich der Wortwahl und der Syntax. 302 Chevalier/Delport (1995), S. 90. Vgl. dazu Bernard Pottier: Théorie et analyse en linguistique. Paris 1987, S. 45. 303 Der Islamwissenschaftler und Übersetzer Stefan Weidner sieht in der Abwehr des Nichtverstehens ein epochenspezifisches Phänomen der Gegenwart: „Ich halte es für einen totalitären Charakterzug unserer Zeit, dass wir das Nichtverstehen nicht ertragen, dass wir ihm gegenüber keine Toleranz aufbringen, dass wir es übertünchen, verschleiern, ja ausrotten, wo wir nur können. Dass wir – und da sind die Übersetzer noch die Harmlosesten – aus dem Verstanden-werden-wollen, Verstanden-werden-müssen die Ideologie unserer Zeit gemacht haben“ (Weidner 2010, S. 27). Weidner kritisiert hier die Verabsolutierung des Verständlichkeitspostulats, die sich den hermeneutischen Herausforderungen, die gerade auch fremdsprachliche literarische Texte mit sich bringen, verschließt.

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choses [...], celle qui invariablement appelle la même appréciation: ›C’est comme ça que ça se dit‹“.304 In welchem Maße der Rückgriff auf Orthonyme die charakteristischen Nuancen des Ausgangstexts nivellieren kann, illustrieren Chevalier/Delport anhand von Gustave Flauberts Roman Bouvard et Pécuchet. Dort heißt es in einem Satz: „On avait en face de soi les champs, à droite une grange, avec le clocher de l’église, et à gauche un rideau de peupliers.“305 Die deutsche Fassung von Erich Marx ignoriert die spezifische Sprecherperspektive, in der sich die Motive von Kirchturm und Scheune gegenseitig überlagern, und stellt mit Hilfe der Konjunktion „und“ eine neutrale Anordnung der Gebäude her: „Gegenüber sah man die Felder vor sich, rechts eine Scheune und den Kirchturm, links eine Wand von Pappeln.“306 Rekurriert der deutsche Flaubert-Übersetzer auf eine geläufige Repräsentation von Realität, in der Kirchturm und Scheune unabhängig voneinander existieren, so opfert er – ob bewusst oder unbewusst – die individuelle Ausdrucksweise des Sprechers.307 Nicht nur im Bereich der Übersetzung narrativer Texte, sondern auch und gerade in der Praxis der Lyrikübersetzung finden sich vergleichbare Glättungen. Neben den Abweichungen, die das komplexe ästhetische Gefüge des Ausgangstexts konventionalisieren, rücken im Folgenden die poetisch motivierten Modifizierungen in den Vordergrund, für die Lamping das Beispiel von Rilkes Übersetzung des Sonnet IV von Louise Labé anführt. Die Autonomie des Übersetzers zeigt sich Lamping zufolge gerade darin, dass er den eigenen ästhetischen Affinitäten folgt und seinen Übersetzungen eine individuelle Signatur verleiht. Wo andere Übersetzungskritiker in Rilkes Labé-Übertragungen vor allem ungerechtfertigte Freiheiten gegenüber dem Original erkennen,308 fördert Lamping Spuren von Rilkes individueller Auseinandersetzung mit Werk und Leben von Louise Labé zutage. Er stößt in Rilkes Gedichtfassungen zwar ebenfalls auf problematische Abweichungen, konturiert aber gleichzeitig individuelle Umakzentuierungen, die den 304 Chevalier/Delport (1995), S. 93. Vgl. zum Begriff der Orthonymie auch Weinmann (2009), S. 38–55. 305 Zitiert nach Chevalier/Delport (1995), S. 88. 306 Gustave Flaubert: Bouvard und Pécuchet. Deutsch von Erich Marx. Mit Essays von Raymond Queneau, Lionel Trilling und Jorge Luis Borges sowie einem Glossar im Anhang. Zürich 1979, S. 31. Vgl. Chevalier/Delport (1995), S. 89. 307 Bei Chevalier/Delport (1995, S. 90) heißt es, der Übersetzer bedürfe einer gesteigerten Aufmerksamkeit „pour résister au poids du monde et de l’ordinaire organisation que nous nous en forgeons. Pour conserver aux choses les rapports où les place une phrase et les empêcher de suivre leur pente, de retrouver l’ordonnancement habituel que nous leur conférons.“ 308 Vgl. Friedrich (1965), S. 12–21. Albrecht (1998, S. 282) meint, Rilkes Übersetzungsstil zeichne sich durch „eine bizarre Mischung aus ›uneigennütziger‹ Kongenialität und ›eigennütziger‹ übersetzerischer Freiheit aus“.

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persönlichen Zugang des Übersetzers zum Ausgangstext dokumentieren. Das übersetzte Sonett IV versteht Lamping als Produkt einer poetischen Interaktion zwischen Labés Gedicht und Rilkes eigenem schriftstellerischen Werk wie etwa dem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.309 Dementsprechend bezeichnet er einzelne Verse aus Rilkes LabéÜbersetzung als „›Variationen‹ Rilkescher Gedanken“.310 Ähnliche dialogische Verfahren beobachtet Lamping auch bei anderen Lyrikübersetzern im 20. Jahrhundert, die den Übertragungsvorgang nicht als reinen Sprachtransfer, sondern als vielschichtigen Transformationsprozess begreifen: Übertragungen wie die Rilkes (oder Benjamins oder Celans) legen, übersetzend, einen Text aus, und sie setzen diese Auslegung poetisch um. Sie transponieren den Text nicht einfach in eine andere Sprache, sie formulieren und sie formen ihn auch um. So schaffen sie einen zumindest teilweise neuen Text, der dem alten – sei es vom Wortlaut, sei es vom Sinn, sei es vom Stil, sei es von der Form her – nie ganz entspricht. Sie sind mit einem Wort als Übersetzungen zugleich Umsetzungen von Interpretationen und Reflexionen des übersetzten Textes.311 [Hervorhebung original]

Lamping präzisiert seinen Begriff der interpretatorischen „Umsetzung“, wenn er die Übersetzung als Resultat einer „Textverarbeitung“ bzw. als „Produkt von Interferenz von eigenem und fremdem Wort“ bezeichnet.312 In historischer Perspektive bezieht sich Lamping auf Novalis’ Konzept der ›verändernden Übersetzung‹, die dem Übersetzer die Rolle vom „Dichter des Dichters“ zuweist:313 Novalis geht davon aus, dass in dieser Übersetzungsform nicht nur die Stimme des Autors, sondern auch die Stimme des Übersetzers präsent ist. Die Vorstellung einer Gleichzeitigkeit der Stimmen findet sich auch bei Lamping, dessen historisch reflektierte Analogie zu Novalis sich bis in die Wortwahl hinein verfolgen lässt, wenn er eine Übersetzung wie die von Rilke als „›hybrid‹“ und „›zweistimmig‹“ bezeichnet.314 In der von Lamping diskutierten, dialogisch-widerstreitenden Überlagerung von Autor- und Übersetzerstimme im übertragenen Text erkennt Christine Lombez ein Charakteristikum der Übersetzung als spezifischer Form der „réécriture“, die für sich den Status eines literarischen Texts beansprucht. Dazu heißt es: 309 310 311 312

Vgl. Lamping (1996), S. 54–57. Ebd., S. 57. Ebd., S. 64. Ebd., S. 65. Ähnlich argumentiert Wittbrodt (1995, S. 326): „Das Verfahren der adaptierenden Gedichtübersetzung oder auch Umdichtung [...] ist ein Verfahren der literarischen Textverarbeitung mit dem Ziel, das Original zu reproduzieren, sowie mit dem Ziel, einer ›eigenen Äußerungsabsicht‹ oder auch einer eigenen Wirkungsabsicht des Übersetzers Ausdruck zu verschaffen.“ [Hervorhebung original] 313 Zu Novalis’ Übersetzungsverständnis vgl. Kap. 1.2.3. 314 Lamping (1996), S. 64 f.

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N’est-ce pas dans ce conflit (ou ce dialogue?) des énonciations que la notion de réécriture revêt son plein sens, dans le subtil feuilleté de voix et d’écritures [...] qui la constitue, et dont le flux savamment orchestré fait, précisément, ›œuvre‹?315

Der vorliegenden Studie liegt im Anschluss an Christine Lombez, Dieter Lamping und Henri Meschonnic ein normativitätskritisches Übersetzungsverständnis zugrunde, das der Zweistimmigkeit übersetzter Texte Rechnung trägt. Dabei wird jeweils nach der inneren Kohärenz der in den Übersetzungen gestalteten Lesarten zu fragen sein sowie nach der Art und Weise, wie die sprachlich-kulturelle Distanz zwischen Ausgangs- und Zieltext reflektiert wird. Über Lampings methodischen Ansatz hinaus, der vor allem thematische Überschneidungen zwischen Rilkes Labé-Übersetzung und Rilkes eigenem Werk fokussiert, gilt es, in den Analysen der vorliegenden Studie auch Parallelen zwischen den Schreib- und den Übersetzungsstrategien der poètes traducteurs zu untersuchen, die über gemeinsame Motivfelder hinausgehen. Entsprechend zielt das leitende Interesse der Untersuchung in einem umfassenderen Sinne auf die Verbindungslinien zwischen den Verfahren der vier ausgewählten Lyrikübersetzer und den jeweiligen historischpolitischen bzw. poetologischen Prämissen ihrer Tätigkeit. Dabei wird zu zeigen sein, dass sich das neue Übersetzungsparadigma der poetischen Interaktion in einem – impliziten oder expliziten – Bekenntnis zur individuellen poetischen Auseinandersetzung mit dem Original niederschlägt. Das mit der poetischen Interaktion verbundene Prinzip der „Treue durch Veränderung“316 spielt in der Übersetzungspraxis der hier diskutierten Lyrikübersetzer und poètes traducteurs nach 1945 eine zentrale Rolle, wenn auch mit je unterschiedlicher Akzentuierung. Gemeinsam ist ihnen der Versuch, die aus der Konfrontation verschiedener sprachlich-kultureller Kontexte resultierende Spannung im Übersetzungsvorgang produktiv zu gestalten, anstatt sie zugunsten der Ausgangs- oder Zielsprache aufzulösen. Mit dem folgenden Kapitel rücken zunächst der Lyrikübersetzer Friedhelm Kemp und die historische Kontextualisierung seiner Übersetzertätigkeit vor und nach 1945 in den Vordergrund. Der Fokus der Übersetzungsanalysen zielt auf die sich wandelnden Charakteristika seiner Vermittlungspraxis, deren unterschiedliche Etappen anhand seiner Übertragungen von Charles Baudelaire, Jules Supervielle und Yves Bonnefoy dargestellt und problematisiert werden.

315 Lombez (2008), S. 78. 316 Siever (2010), S. 134.

2 Vom Besatzungssoldaten zum Lyrikvermittler: Der Übersetzer Friedhelm Kemp 2.1 Kemp im Kontext der Literaturvermittlung vor und nach 1945 Die Markierung des Jahres 1945 als „Stunde Null“ der deutschsprachigen Literatur wurde in der Forschung bereits vor langer Zeit – und mit guten Gründen – revidiert.1 Da viele Schriftsteller der Nachkriegszeit an tradierten Ausdrucksformen festgehalten, die Gräuel der NS-Diktatur verdrängt und in ihren Werken konsequent ausgespart haben,2 lässt sich weniger von einem Neuanfang als von einem ahistorischen Streben nach Kontinuität sprechen. Eine Reihe gewichtiger Gegenbeispiele bilden indessen Autoren wie Paul Celan, Ingeborg Bachmann oder Heinrich Böll, deren Umgang mit der deutschen Sprache von einer tiefgreifenden Reflexion der jüngsten geschichtlichen Ereignisse zeugt. Auch für den Bereich der literarischen Übersetzung erweist sich die Annahme einer radikalen Zäsur im Jahr 1945 als problematisch,3 da die Entwicklungen der Übersetzungs- und Publikationspraxis im Dritten Reich komplexer und widersprüchlicher waren, als es zunächst scheinen mag. Die restriktive Kulturpolitik des NS-Regimes hatte seit 1933 nicht einfach zu einem Einfuhrverbot ausländischer Literatur geführt, sondern die Literaturvermittlung nach propagandistischen Zwecken ausgerichtet und reglementiert. Während der Umfang an übersetzter Literatur zwischen 1933 und 1939 zunächst sogar anwuchs, wurde er nach Ausbruch des Krieges drastisch reduziert und sank im Jahr 1944, wie Kate Sturge herausstellt, auf ein Drittel des Standes von 1933.4 Dieser Rückgang übersetzter 1 2 3 4

Vgl. Korte (2004), S. 581–582. Vgl. auch Fritz J. Raddatz: Wir werden weiterdichten, wenn alles in Scherben fällt – Der Beginn der deutschen Nachkriegsliteratur. In: Die Zeit vom 12. Oktober 1979, S. 33. Vgl. Werner Bergengruens Gedichtband Die heile Welt (1950). Eine Anknüpfung an konservative ästhetische Traditionen zeigt sich u. a. bei Autoren wie Hans Carossa, Georg Britting und Ina Seidel. Der Annahme einer ›Stunde Null‹ im Bereich der literarischen Übersetzung um 1945 wird beispielsweise bei Apel/Kopetzki (2003, S. 122) mit Nachdruck widersprochen. Sturge (2007), S. 1772. Wolfgang Rössig gibt in seiner Bibliographie Literaturen der Welt in deutscher Übersetzung im Bereich zeitgenössischer französischer Lyrik zwischen 1933 und

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Literatur, der im Deutschland der Nachkriegszeit zu einem „weltliterarischen Nachholbedarf“5 geführt hat, ist u. a. auf einen Beschluss der Reichsschrifttumskammer vom 15. Dezember 1939 zurückzuführen, der die Verbreitung von Übersetzungen „schöngeistiger, populärwissenschaftlicher und biographischer Literatur“6 aus Frankreich und England während des Krieges untersagte. Neben der propagandistisch instrumentalisierten Literaturvermittlung durch den NS-Staat gab es während des Zweiten Weltkriegs jedoch auch private Initiativen von Übersetzern, die französische Gedichte rezipierten, Anthologien vorbereiteten und damit unter prekären Bedingungen eine Kontinuität im literarischen Austausch zwischen Frankreich und Deutschland gewährleisteten. In publizistischer Hinsicht stellte das Kriegsende im Jahr 1945 insofern eine Zäsur dar, als die Übersetzer ihre Arbeiten erst ab diesem Zeitpunkt an die Öffentlichkeit tragen und damit die Marginalisierung fremdsprachiger Lyrik, die der NS-Staat betrieben hatte, überwinden konnten. Wenn im Folgenden verschiedene Formen der Literatur- und Lyrikvermittlung zwischen 1933 und 1945 anhand ausgewählter Beispiele nachgezeichnet werden, gilt es grundsätzlich zu unterscheiden zwischen der offiziellen Übersetzungsförderung durch das NS-Regime für propagandistische Zwecke (Kap. 2.1.1) und den privaten Initiativen deutscher Übersetzer. Als besonders prominentes Beispiel rückt Friedhelm Kemp (1914–2011) in den Fokus, der in seiner Zeit als Wehrmachtssoldat in Frankreich und im Baltikum durch den französischen Schriftsteller Louis Emié zur Rezeption und Übersetzung moderner französischer Lyrik angeregt wurde. Eine besondere Rolle nimmt ihr Feldpostbriefwechsel aus den Jahren 1941 bis 1942 ein, der zur Quelle für Kemps breitgefächerte Übersetzungsarbeiten wurde (Kap. 2.1.2). Anschließend gilt es, Kemps 1946 einsetzende publizistische Tätigkeit als Lyrikvermittler im vielgestaltigen Kontext literarischer Zeitschriften und Anthologien der Nachkriegszeit zu verorten (Kap. 2.1.3). Diese historisch akzentuierten Ausführungen sollen den überaus ambivalenten Status der Lyrikübersetzung zwischen 1933 und 1945 erhellen: Während des Dritten Reiches wurde sie einerseits für ideologische Zwecke des NS-Regimes manipuliert, andererseits konnte sie, im Rahmen privater Initiativen fernab der nationalsozialistischen Propaganda, dazu beitragen, die Feindbilder zwischen Franzosen und Deutschen zu überwinden. An die historischen Kapitel über die Wege der Lyrikvermittlung vor und nach 1945 schließen sich in einem zweiten Schritt die Analysen zu Friedhelm Kemps übersetze-

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1945 allein eine Übersetzung von Saint-John Perse’ Eloges (Preislieder, übersetzt von Rudolf Kassner) in der Zeitschrift Corona (Nr. 8, 1938) an. Vgl. Literaturen der Welt in deutscher Übersetzung. Eine chronologische Bibliographie. Hrsg. von Wolfgang Rössig. Stuttgart 1997, S. 1938. Literaturen der Welt in deutscher Übersetzung (1997), S. 7. Barbian (2010), S. 271.

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rischem Werk an (Kap. 2.2). Anhand ausgewählter Übersetzungen der Gedichte von Charles Baudelaire, Yves Bonnefoy und Jules Supervielle gilt es, verschiedene Übersetzungsstrategien zu untersuchen und diese an Kemps übersetzungstheoretische Reflexionen zurückzubinden. Insgesamt zielt das vorliegende Kapitel darauf ab, die herausgehobene Position Friedhelm Kemps als Pionier der französisch-deutschen Lyrikvermittlung zu beleuchten, zu kontextualisieren und kritisch zu hinterfragen. 2.1.1 Die Instrumentalisierung französischer Literatur durch den NS-Staat Nicht nur die Vermittlung deutschsprachiger Literatur der NS-Zeit, sondern auch die Übersetzung fremdsprachiger literarischer Werke unterlag dem „Gesetz vom Vorrang der Politik vor der Ästhetik“7 und wurde somit ganz auf propagandistische Zwecke ausgerichtet und im Sinne des Nationalsozialismus gleichgeschaltet. Gemäß der „Anordnung über schädliches und unerwünschtes Schrifttum“8 vom 25. April 1935 waren bei der Auswahl der zu übersetzenden bzw. zu publizierenden Werke zwei Verbotslisten von zentraler Bedeutung: Zum einen wurden diejenigen Publikationen für den Vertrieb und Verleih verboten, die „das nationalsozialistische Kulturwollen gefährden“,9 zum anderen die angeblich jugendgefährdenden Schriften. Auf dem Index belletristischer Werke fanden sich große Teile der ›Literatur der Moderne‹, darunter sowohl deutsche als auch internationale Autoren.10 Insgesamt herrschte in der Reichsschrifttumskammer eine grundlegende Skepsis gegenüber der Praxis des Übersetzens vor, da diese angeblich die Reinheit der deutschen Sprache und Kultur bedrohte.11 In diesem Zusammenhang sprach sich Propagandaminister Joseph Goebbels auch gegen den vermeintlich schädlichen Einfluss französischer Literatur aus.12 7 8 9 10 11

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Zitat aus R. Erckmanns Rede Probleme und Aufgaben unseres Schrifttums (1941). Zitiert bei Barbian (2010), S. 277. Barbian (2010), S. 251. Eine Neufassung der Anordnung vom 15. April 1940 verbot auch die Lagerhaltung von Schriften, „die den kulturellen und politischen Zielen des nationalsozialistischen Staates widersprechen“ (Barbian (2010), S. 260). Barbian (2010), S. 251. Ebd., S. 255. Sturge (2007), S. 1769. Vgl. hierzu die Kritik von Hans Franke an „jener wilden, sinnlosen Übersetzerei, die in den Jahren vor der nationalsozialistischen Revolution den deutschen Buchmarkt belastete“. Hans Franke: Unerwünschte Einfuhr. In: Die neue Literatur 38 (Oktober 1937), Heft 10, S. 501–508, hier S. 501. Michels (1993) rekonstruiert Goebbels’ verzerrtes Frankreich-Bild anhand von Einträgen aus dessen Tagebüchern: „Für Goebbels war Frankreich einerseits eine dekadente, dem Verfall preisgegebene Nation, die zu Recht ihre Großmachtstellung mit der Niederlage im

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Für die Zeit zwischen der Machtübernahme des NS-Regimes 1933 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 lässt sich anhand der Einträge in den Spezialbibliographien eine Dominanz der Neuauflagen bereits edierter Übersetzungen gegenüber Neuübersetzungen beobachten. Diese Tendenz zum Wiederauflegen von „tried-and-tested titles“13 steht in direktem Zusammenhang mit den Bemühungen vieler Verleger, die strengen Zensurvorschriften zu umgehen.14 Sie manifestiert sich ebenfalls im Bereich der französischen Literatur, wo neben Klassikern wie Alexandre Dumas Verfasser von historischen Romanen wie Octave Aubry oder Lucile Decaux im Vordergrund standen.15 Bei den Neuübersetzungen fremdsprachiger Texte zwischen 1933 und 1945 wurden diejenigen Werke vom NS-Regime gefördert, die im Sinne der nationalsozialistischen Kulturpropaganda als geeignet galten. Bei der rigiden Auswahl spielten auch gattungsspezifische Kriterien eine wichtige Rolle. Zum einen konzentrierte sich die Literaturvermittlung auf breitenwirksame Unterhaltungsliteratur wie Wildwest- oder Detektivgeschichten aus dem anglophonen bzw. skandinavischen Bereich, deren Rezeption den eskapistischen Tendenzen in der Bevölkerung Vorschub leisten sollte.16 Zum anderen wurden Werke ›germanischen‹ Ursprungs bevorzugt, die in einem vermeintlich engen Bezug zur ›Volksseele‹ der Deutschen stehen, wie der altisländische Edda-Mythos oder das altsächsische Epos Heliand.17 Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Vermittlung politischer Schriften, die sich für die Europa-Propaganda des NS-Regimes in Dienst nehmen ließen.

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Sommer 1940 verloren hatte und sich nie mehr davon erholen sollte, andererseits glaubte er, das deutsche Volk sei immer noch anfällig für die ›Frankophilie‹ und die französische Lebensart stelle nach wie vor eine Versuchung für das Siegervolk dar“ (S. 154 f.). Sturge (2007), S. 1772. Vgl. Sturge (2007): „Taken together with the direct censorship of some foreign literature, the increase in reprints slowed literary innovation: existing translations became more strongly established while new, unfamiliar ones became less and less frequent“ (S. 1772). Vgl. Sturge (2007), S. 1773. Sturge (ebd.) führt in diesem Zusammenhang auch Honoré de Balzac an, wohingegen Barbian (2010) betont, dass selbst „Werke von Balzac, Boccaccio, Diderot, Maupassant und Zola […] als ›schädlich und unerwünscht‹ eingestuft“ worden seien (S. 270). Einen offiziellen Index wie das ›Verzeichnis englischer und nordamerikanischer Schriftsteller‹ von 1942 (vgl. Barbian 2010, S. 273) gab es m. W. für die französische Literatur nicht. Sturge (2007), S. 1772. Ebd. In diesem Sinne heißt es in Hermann Burtes Vortrag Die europäische Sendung der deutschen Dichtung vom 27. Oktober 1940: „Die kommende Klassik wird die Volksnähe der deutschen Volksbücher haben, die Einheit von Mensch und Erde, wie die Edda, die schottischen Balladen, die serbischen Lieder, das homerische Gedicht; wir stammeln nur davon, aber es wird da sein in Licht und Laut!“ In: Hermann Burte: Die Dichtung im Kampf des Reiches: Weimarer Reden 1940. Hamburg 1941, S. 53–75, hier S. 72. Vgl. dazu Barbian (1995), S. 440, und Hausmann (2004), S. 49 f.

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Für die vom NS-Staat gesteuerte Vermittlung ausländischer Literatur spielte der Bereich der Lyrikübersetzung eine vergleichsweise geringe Rolle, was insofern verwundert, als der deutschsprachigen Lyrik seit 1933 vom NS-Regime eine besondere Relevanz zugeschrieben wurde.18 In seiner Rede vom 10. Oktober 1942 auf dem Weimarer Dichtertreffen hob Joseph Goebbels die Rolle der Lyrik hervor, als er sagte: „Die deutsche zeitgenössische Dichtung ist eine wirkende Kraft in unserem Volke geworden. [...] Sie hat jedoch vorläufig erst im Bereiche des lyrischen Schaffens den unmittelbaren breiten Anschluß an die deutsche Gegenwart gefunden.“19 Der marginalisierte Bereich der Gedichtübersetzung steht im Kontrast zum umfangreichen Schaffen linientreuer deutschsprachiger Lyriker während der NS-Herrschaft.20 Auch ein so offensives Bekenntnis zur Lyrikvermittlung wie der folgende Kommentar von Walter Josten in der Zeitschrift Die neue Literatur vom Juni 1942 hat diese Lage – trotz seines regimetreuen Duktus – nicht verändert: Denn jede in einer fremden Zunge geschriebene Versdichtung von Wert ist erst durch eine deutsche Übertragung – Dank der Meisterschaft der deutschen Sprache und dank dem aufgeschlossenen deutschen Sinn für fremde Dichtkunst! – zum Bildungsbesitz aller Völker der Erde geworden. Mit berechtigtem Stolz dürfen wir sagen: Die deutsche Sprache ist die Weltsprache der Poesie!21

Josten ruft hier die in der Romantik geprägte Vorstellung einer deutschsprachigen ›Weltliteratur‹ 22 auf, um die angebliche Dominanz der deutschen Kultur und ihre gleichzeitige Offenheit gegenüber fremden literarischen Erzeugnissen zu betonen.23 Tatsächlich wird jedoch in der Bibliographie Anthologien mit französischen Dichtungen für den Zeitraum von 1931 bis 1943 nur eine einzige bilaterale Publikation mit Übersetzungen französischer Lyrik angeführt.24 Die von Franz Konrad Hoefert25 in der 18 19 20 21

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Vgl. dazu Hausmann (2004, S. 40) über den „SA-Barden“ Gerhard Schumann. Die Rede wird zitiert nach dem Abdruck unter dem Titel Im Geisteskampf des Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Politik 32 (1942), Heft 11, S. 719–729, hier S. 724. Vgl. beispielsweise die von Karl Hans Buehner herausgegebene Anthologie: Dem Führer. Gedichte für Adolf Hitler. Stuttgart 31942. Hier waren u. a. Gedichte von Erwin Guido Kolbenheyer, Agnes Miegel, Ina Seidel, Will Vesper und Josef Weinheber vertreten. Walter Josten: Kommentar in Die neue Literatur 43 (Juni 1942), Heft 6, S. 142 f., hier S. 144. Sturge (2007) betont das Interesse der NS-Redakteure an ausländischer Naturlyrik: „Nazi commentators praised the peasant novel, the war story, the nature poem, and particular versions of the historical novel, all genres already popular in 1933“ (S. 1769). Zum Begriff der „Weltliteratur“ vgl. Kap. 1.2. Sturge (2004), S. 118. Vgl. die Bibliographie Anthologien mit französischen Dichtungen (= Übersetzte Literatur in deutschsprachigen Anthologien. Eine Bibliographie, Teilbd. 5). Hrsg. von Angela Kuhk, Udo Schöning, Stefan Schulze. Stuttgart 2002. Einleitung, S. X. Franz Konrad Hoefert war Mitglied im Arbeitsausschuss der Fachgruppe 3c (Sprecher) der Fachschaft Bühne der Reichstheaterkammer. Außerdem war Hoefert als Herausgeber literarischer und musikalischer Werke sowie als Rezitator, Sprecher und Übersetzer tätig.

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Reihe Die Fahne der Dichter 26 herausgegebene zehnseitige Publikation mit dem Titel Dichter Frankreichs in deutscher Sprache 27 lässt sich zudem aufgrund ihres geringen Umfangs nicht als Anthologie bezeichnen.28 Es handelt sich vielmehr um eine Textsammlung, die an eine literarische Veranstaltungsreihe in Berlin gekoppelt war.29 Nicht nur wegen ihres singulären Status soll sie im Folgenden näher betrachtet werden.30 Textauswahl und Präsentation verraten die verlegerischen Intentionen des Herausgebers, der sein Unternehmen ganz in den Dienst der NS-Propaganda stellt. Den französischen Gedichten und ihren Übersetzungen stellt Hoefert folgenden Text voran: Ich habe bewußt in dieser Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich nicht nur ein Problem gesehen, das auf den Wegen von Parteien gelöst wird, sondern ein Problem, das zunächst den beiden Völkern psychologisch nahegebracht werden muß, da es nicht nur verstandes-, sondern auch gefühlmäßig [sic] vorbereitet werden muß.31 Adolf Hitler

Hoefert verwendet hier ein (leicht abgewandeltes) Zitat aus der Rede, die Hitler am 7. März 1936, dem Tag des Einmarsches deutscher Truppen ins entmilitarisierte Rheinland, vor dem Reichstag gehalten hatte.32 Im Zusammenhang der Ansprache lautete der zitierte Satz:

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Vgl. Jahrbuch der deutschen Sprecher. Bearbeitet und hrsg. von dem Arbeitsausschuß der Fachgruppe 3c (Sprecher) der Fachschaft Bühne in der Reichstheaterkammer. Dr. Leonhard Blaß, Oscar Fambach, Franz Konrad Hoefert. Berlin 1938, S. 73. Die Reihe Die Fahne der Dichter erschien zwischen 1932 und 1942 in Berlin. Dichter Frankreichs in deutscher Sprache (= Die Fahne der Dichter, Heft 3). Hrsg. von Franz Konrad Hoefert. Berlin 1936. Das Heft besteht aus sechs unpaginierten Blättern (einschließlich Einbandblättern) und besitzt kein Inhaltsverzeichnis. Auf der vorletzten Seite findet sich die Ankündigung eines Vortrags französischer Gedichte durch den Herausgeber Franz Konrad Hoefert, der am 21. Oktober 1936 im Meistersaal (ein seit 1913 existierender Veranstaltungsort in der Nähe des Potsdamer Platzes) in Berlin stattfinden sollte. Die für die Lesung vorgesehene Textauswahl stimmt nicht mit den abgedruckten Gedichten überein. Siehe Anthologien mit französischen Dichtungen (2002), Einleitung, S. X. Dichter Frankreichs in deutscher Sprache, S. 1. Ursprünglich stellte dieser Satz also kein Vorwort im Sinne eines explikativen Paratextes dar, wie es in der Einleitung zu der Bibliographie Anthologien mit französischen Dichtungen (2002) nahegelegt wird: „Als Rarität ist die lediglich zehn Seiten umfassende Publikation Dichter Frankreichs in deutscher Sprache [...] zu bezeichnen, die 1936 anonym mit einem Vorwort Adolf Hitlers erscheint“ (S. XIII). Das Heft ist jedoch nicht „anonym“ erschienen: Der Herausgeber, Franz Konrad Hoefert, wird auf der Rückseite des Heftes genannt. Ungenau ist auch die Angabe im Nachtrag der Bibliographie Weltliteratur in deutschen Versanthologien des 19. Jahrhunderts (Berlin 1996), wo es heißt, der „Publikation [sei] ein Spruch Adolf Hitlers als Motto vorangestellt“ (S. 535). – Seit 1940 wurde in NS-nahen Zeitschriften zugunsten der besseren Lesbarkeit im internationalen Rahmen nicht mehr die Frakturschrift, sondern die Antiqua verwendet (siehe Hartmann 1998, S. 312). In Hoeferts Sammlung findet sich diese für Modernität stehende Schriftform schon früher, nämlich 1936.

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Ich habe mich in den letzten drei Jahren bemüht, langsam, aber stetig die Voraussetzungen für eine deutsch-französische Verständigung zu schaffen. [...] Ich habe aber bewußt in dieser Verständigung nicht nur ein Problem gesehen, das auf den Wegen von Pakten gelöst wird, sondern ein Problem, das zunächst den beiden Völkern psychologisch nahegebracht werden muß, da es nicht nur verstandes-, sondern auch gefühlsmäßig vorbereitet werden soll.33

Trotz der offensichtlichen militärischen Aggression, die die Besetzung des Rheinlandes durch die deutschen Truppen darstellte, behauptete Hitler in seiner Rede, eine Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich anzustreben. Dass diese Beteuerungen haltlos waren und rein strategischen Zielen dienten, trat spätestens mit dem Frankreichfeldzug im Jahre 1940 offen zutage. In der zitierten Reichstagsrede beharrte Hitler jedoch auf seinem Verständigungswillen und hob neben der politisch-diplomatischen Kommunikation besonders die psychologischen bzw. emotionalen Faktoren hervor, die es bei der Annäherung zwischen der deutschen und der französischen Bevölkerung zu berücksichtigen gelte. Franz Konrad Hoefert hat nun Hitlers Satz ohne Quellenangaben vom Kontext der Reichstagsrede abgetrennt, seinem Heft Dichter Frankreichs in deutscher Sprache als Motto vorangestellt und ihn damit zu einem Paratext in neuem Zusammenhang gemacht. Eine grundlegende Umdeutung des Hitler-Zitats vollzieht Hoefert, indem er den Bezugsrahmen des Satzes verschiebt. Aus der ursprünglichen Argumentation herausgelöst, rekurriert die Wendung „diese[] Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich“ nicht mehr auf den vorangehenden Satz, sondern verweist selbstreflexiv auf die Publikation Dichter Frankreichs in deutscher Sprache. Der Begriff der „Verständigung“ lässt sich nun auf die darin vollzogene Vermittlung französischer Lyrik an das deutsche Publikum beziehen. Indem Hoefert Hitlers Satz in einen mottoartigen Paratext transformiert, hebt er den Vorgang der Lyrikübersetzung als eine notwendige Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen jenseits politischer Diplomatie hervor, der die Annäherung nicht nur rational, sondern auch emotional zu verwirklichen sucht. Den Ausdruck „Pakte“, der im Kontext der Reichstagsrede für Militärbündnisse zwischen Deutschland und Frankreich stand, hat Hoefert durch den auf die beiden Länder bezogenen Begriff „Parteien“ ersetzt. Auf welche Weise die ausgewählten Autoren, ihre Texte und die deutschen Übersetzer für die Frankreich-Propaganda des NS-Regimes instrumentalisiert wurden, lässt sich nicht nur an der Zusammenstellung der Texte, sondern auch an den Details ihrer Präsentation nachvollziehen. Zunächst lässt sich feststellen, dass die Textauswahl in inhaltlicher Sicht 33

Adolf Hitler: Rede in der Reichstagssitzung am 7. März 1936. In: Max Domarus (Hrsg.): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Bd. I: Triumph. Zweiter Halbband 1935–1938. Wiesbaden 1973, S. 583–597, hier S. 588.

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sehr inkonsistent erscheint, da es weder eine thematische noch eine zeitliche Verknüpfung zwischen den einzelnen Beiträgen gibt. Das leitende Kriterium des Herausgebers bei der Textzusammenstellung war offensichtlich ein anderes. Beim ersten Gedicht scheint der Fall eindeutig zu sein: Beginnt das Heft nämlich mit der ersten Strophe von Nicolas Martins Gedicht An Deutschland,34 einem enthusiastischen Loblied auf Deutschland und die Deutschen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, so wird eine auch angesichts der aggressiven deutschen Militärinterventionen ungebrochene Zuneigung des französischen Volks zu seinen deutschen Nachbarn unterstellt. In der Übersetzung von Maria Oexle lautet der Anfang von Martins Gedicht:

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Deutschland, o Deutschland, mein Herz gehört Dir! Glaube der Väter und Hoffnung blüh’n hier. Land der schlichten, natürlichen Seelen, In denen sich Träume und Wissen vermählen. Land der Überlieferung, der männlichen Treu’, Stätte der Gastfreundschaft, herzlich und frei! Seltsames Tal wo die Frau ohne Fehle, Lieblich und zart wie der Blumen Seele. Wo niemand vergeblich mahnet zur Pflicht, Wo Kunst und Liebe ein göttliches Licht. Glaube der Väter und Hoffnung blüh’n hier, Deutschland, o Deutschland, mein Herz gehört Dir.35

Mit diesem taktisch eingesetzten Eigenlob aus der Feder eines Franzosen, das um die Begriffe „Glaube“ (V. 2), „Treue“ (V. 5), „Gastfreundschaft“ (V. 6) und „Liebe“ (V. 10) kreist, ist bereits eine der politischen Botschaften formuliert, die die Gedichtpublikation zu transportieren hat. Einem ähnlichen propagandistischen Impetus folgt der Abdruck von Jules Romains’ Text Was mir in Deutschland am meisten gefallen hat?, der sich in Form und Duktus eher als Prosastück denn als Gedicht erweist.36 Die Wahl zweier verschiedener Übersetzungen von Baudelaires Gedicht Les plaintes d’un Icare hingegen wurzelt wohl in dem Bestreben, mit Stefan

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Nicolas Martin war nicht nur als Lyriker, sondern auch als Vermittler deutschsprachiger Lyrik tätig. Im Jahr 1860 publizierte er den Band Poètes contemporains en Allemagne. Sein Gedicht À l’Allemagne, von dem in Hoeferts Publikation der Beginn in deutscher Sprache abgedruckt worden ist, entstammt dem Band: Ariel. Sonnets & chansons suivis d’une traduction de Pierre Schlémihl, ›L’homme qui a vendu son ombre‹. Paris 1842, S. 25–31. Zu Nicolas Martin als ›poète oublié‹ bzw. als ›poète essayiste et chroniqueur de la vie parisienne‹ vgl. Lombez (2009), S. 29 bzw. 64. Nicolas Martin: An Deutschland. In: Dichter Frankreichs in deutscher Sprache, S. 2. Bei der Textauswahl stellt die Einhaltung der selbstgewählten Gattungsgrenze für Hoefert offensichtlich kein zentrales Kriterium dar.

2.1 Kemp im Kontext der Literaturvermittlung vor und nach 1945

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George und Rainer Maria Rilke zwei prominente (verstorbene) deutsche Lyriker als ›Nachdichter‹ zu präsentieren, die den literarischen Anspruch der Publikation garantieren.37 Ebenfalls von den Übersetzern her gedacht scheint die Aufnahme von Paul Claudels Der heilige Philipp und Francis Jammes’ Gebet, daß die Anderen glücklich seien, abgedruckt in den Fassungen von Bernhard von der Marwitz bzw. von Ernst Stadler. Die Motive des Gottvertrauens in höchster Bedrängnis (Claudel) bzw. der Selbstbescheidung eines gläubigen Christen (Jammes) lassen sich auch in der angespannten politischen Lage in Deutschland im Jahr 1936 aktualisieren. Bei den Übersetzern wird im Falle von Ernst Stadler ganz klar der literarische Rang fokussiert. Darüber hinaus kommt jedoch der Angabe, dass beide Übersetzer im Ersten Weltkrieg in Frankreich gefallen sind, eine entscheidende Bedeutung zu.38 Ihre Rolle innerhalb dieser Publikation ist die von Märtyrern, die sich für die Vermittlung französischer Lyrik eingesetzt haben und im Krieg auf französischem Boden gefallen sind. Dem Leser sollen zwei tragische deutsche Schicksale vermittelt werden, die die Vorstellung eines um Verständigung mit Frankreich bemühten Deutschland zusätzlich untermauern. In diesen ideologisch motivierten editorischen Mechanismen manifestiert sich die im Motto angesprochene ›gefühlsmäßige‹ Einwirkung auf den Leser, dessen Meinung über Deutsche und Franzosen bzw. über das Verhältnis beider Völker mit Hilfe der Lyrikvermittlung gesteuert werden soll. In Hoeferts Heft Dichter Frankreichs in deutscher Sprache stehen nicht die französischen Gedichte und ihre Übersetzungen im Vordergrund, sondern deren Komposition und Präsentation, die bis ins Detail auf den gewünschten emotionalen Effekt hin justiert sind.39 Die einzige französisch-deutsche Lyriksammlung, die zwischen 1931 und 1943 erschienen ist, war, so lässt sich festhalten, eine den Zielen der nationalsozialistischen Propaganda verpflichtete Publikation, deren 37

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In der multilateralen Lyrikanthologie Die schönsten Gedichte der Weltliteratur sind keine Übersetzungen von Rilke oder George vertreten, da laut Herausgeber die „Verleger und Nachlaßverwalter“ die entsprechende Erlaubnis nicht erteilt hatten. Vgl. Die schönsten Gedichte der Weltliteratur. Ein Hausbuch der Weltlyrik von den Anfängen bis heute. Gesammelt und geordnet von Ludwig Goldscheider. Wien/Leipzig 1933, S. 471. Im Detail lauten die Angaben: „Deutsche Nachdichtung von Bernhard von der Marwitz (gefallen 1917 in Frankreich)“ und „Deutsche Nachdichtung von Ernst Stadler (gefallen 1914 in Frankreich)“. In: Dichter Frankreichs in deutscher Sprache, S. 7, 8. – Tatsächlich ist Bernhard von der Marwitz nicht 1917, sondern am 18. September 1918 gefallen. Zu den Sterbedaten anderer Übersetzer finden sich keine Informationen, was den Charakter der obigen Hinweise als propagandistische Indienstnahme unterstreicht. Außer den genannten Texten wurden folgende Beiträge in das Heft aufgenommen: Aphorismen von Jean-Jacques Rousseau, Henry Beyle-Stendhal, Gustave Flaubert, Jules Renard und Jean Cocteau (jeweils ohne Angabe des Übersetzers); Charles Le Goffics Die Bäuerin („Deutsche Nachdichtung von Gustav Steinbömer (Manuscript)“) und Jean Moréas’ Das Leben („Deutsche Nachdichtung von Rolf von Ungern-Sternberg (Manuscript)“).

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Herausgeber alle verlegerischen Mittel ausgeschöpft hat, um Hitlers Politik in den Augen der deutschen Leser zu rechtfertigen. Dass auch nach dem Ausbruch des Krieges bestimmte Übersetzungsprojekte im Dienst der nationalsozialistischen Propaganda binnen kürzester Zeit realisiert werden konnten, zeigt das Beispiel des von Bernhard Payr40 herausgegebenen Textbandes Phönix oder Asche? Frankreichs geistiges Ringen nach dem Zusammenbruch, in dem politische Schriften französischer Autoren versammelt, vom Herausgeber ausführlich kommentiert und in einen historischen Kontext gestellt worden sind. Die Veröffentlichung dieses Buches steht in Zusammenhang mit dem Weimarer Dichtertreffen vom 23. bis zum 26. Oktober 1941, das unter dem Motto „Die Dichtung im kommenden Europa“ von Joseph Goebbels ausgerichtet worden war. Von den einunddreißig ausländischen Intellektuellen aus vierzehn europäischen Ländern, die an dieser Veranstaltung teilgenommen haben, stammten allein sieben aus Frankreich:41 Es waren die Schriftsteller bzw. Verlagsvertreter Marcel Jouhandeau, Pierre Drieu La Rochelle, Ramon Fernandez, Jacques Chardonne, Robert Brasillach, Abel Bonnard und André Fraigneau.42 Aus diesem Anlass unternahmen Chardonne, Fernandez und Jouhandeau unter der Leitung von Gerhard Heller, „Sonderführer der Propagandastaffel“ in Paris, eine Reise quer durch das Deutsche Reich. Die vom 4. Oktober bis zum 3. November 1941 dauernde Fahrt führte die Reisenden auch durch Österreich und das Protektorat Böhmen und Mähren.43 Beim Schriftstellertreffen in Weimar nahmen sie dann an der Gründungszeremonie der ›Europäischen Schriftstellervereinigung‹ teil, zu deren Präsidenten – gegen seinen Willen – der Schriftsteller Hans Carossa ernannt wurde.44 Von einem gleichberechtigten Austausch bzw. einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen den geladenen Intellektuellen aus Deutschland bzw. aus den europäischen Nachbarländern kann jedoch nicht die Rede sein. Eckhard Michels bezeichnet die französischen Teilnehmer als Staffage für die Europapropaganda des Dritten Reiches [...], bei der es galt, Kulturschaffende aus möglichst vielen Ländern zusammenzuführen, um die (kulturelle) Einheit des alten Kontinents gegen die angeblichen Bedrohungen von außen zu demonstrieren. Die eingereisten Franzosen erhielten jedoch nicht die Gelegenheit, sich der deutschen Öffentlichkeit als Vertreter der französischen Kultur zu präsentieren.45

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Bernhard Payr war Leiter des Zentrallektorats der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums. Vgl. Hausmann (2004), S. 38. Siehe Dufay (2001), S. 82 f. Vgl. Dufay (2001), S. 83, und Hausmann (2004), S. 147. Vgl. Hausmann (2004), S. 147. Vgl. Dufay (2001), S. 92, und Hausmann (2004), S. 49–59. Michels (1993), S. 156 f.

2.1 Kemp im Kontext der Literaturvermittlung vor und nach 1945

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Wie eng die Verknüpfung zwischen der Teilnahme der französischen Autoren am Dichtertreffen und der ihnen anschließend zuteilwerdenden Übersetzungsförderung gewesen ist, hat François Dufay aufgezeigt: „Einen unmittelbaren Vorteil zogen die Weimarreisenden ohne Zweifel aus ihrer Reise nach Deutschland: Sie wurden ins Deutsche übersetzt.“46 Den Beleg für diesen Zusammenhang hat Jan-Pieter Barbian in Form einer Anweisung von Joseph Goebbels an Wilhelm Baur vom 26. Oktober 1941 angeführt, in der es heißt, die neuen ausländischen Mitglieder der Europäischen Schriftstellervereinigung sollten „in jeglicher Weise gefördert werden“.47 Umgesetzt wurde diese Förderung mit dem von Bernhard Payr herausgegebenen Band Phönix oder Asche? Frankreichs geistiges Ringen nach dem Zusammenbruch.48 Die durchweg enthusiastischen Berichte über das Dichtertreffen und die Eindrücke von ihrer Deutschlandreise, die Jacques Chardonne, Abel Bonnard, Marcel Jouhandeau49 und Robert Brasillach kurz nach ihrer Rückkehr in französischen oder belgischen Zeitschriften publiziert haben, sind hier nur wenige Monate später in deutscher Übersetzung erschienen. Im Vorwort erläutert Bernhard Payr, dass ihm das „bearbeitete Material [...] zum großen Teil über den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg zugänglich“ gemacht worden sei, die Textauswahl war also von zentraler Stelle getroffen worden.50 Anhand der Datierung des Vorwortes auf den 15. Februar 1942 wird deutlich, dass die Beiträge der fran-

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Dufay (2001, S. 135): „Tatsächlich hatte Goebbels im Anschluss an das Weimarer Dichtertreffen angeordnet, dass die Übersetzung und Verbreitung der Werke der Mitglieder der Europäischen Schriftstellervereinigung gefördert werden sollten. Die Autoren sollten auf diese Weise belohnt und ihr möglicher Boykott kompensiert werden. Vor allem aber wollte man sie als lebende Beweise dafür vorführen, dass die Eliten der besetzten Länder die neue Ordnung Europas bejahten.“ Barbian (1995), S. 445. Vgl. Hausmann (2004), S. 150–152. Auch die Rede des Marshall Pétain vom 25. Juni 1940 zum Waffenstillstandsabkommen zwischen Frankreich und Deutschland bzw. Italien wird hier wiedergegeben. In seinem Bericht Über die deutsch-französischen Beziehungen reproduziert Jacques Chardonne, damaliger Verleger der Éditions Stock in Paris, die Gemeinplätze nationalsozialistischer Propaganda über ein von Deutschland dominiertes „Neues Europa“: „Die Deutschen von heute sind nicht ein Volk von Kriegern. Sie sind ein Volk von Konstrukteuren, sie wollen Europa neu bauen, und von den besiegten Nationen verlangen sie nichts als ein wenig Intelligenz. [...] Der Deutsche hat niemals die Franzosen verachtet, und er hat sie niemals beleidigt. Heute ist das Gefühl des Deutschen für die Franzosen noch wärmer, sympathisch und selbst hochschätzend. Deutschland weiß, daß das Neue Europa ohne Frankreich nicht möglich ist, und es wünscht deshalb ein einiges Frankreich“ (Brüsseler Zeitung vom 16. November 1941). In: Bernhard Payr: Phönix oder Asche? Frankreichs geistiges Ringen nach dem Zusammenbruch. Dortmund 1942, S. 373–375, hier S. 374. Bernhard Payr: Vorwort. In: Phönix oder Asche? Frankreichs geistiges Ringen nach dem Zusammenbruch, S. 7 f., hier S. 8.

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zösischen Schriftsteller unmittelbar nach Erscheinen ins Deutsche übersetzt worden sind.51 In Payrs eigenem Beitrag mit dem Titel Deutschland und die Zusammenarbeit rekapituliert er das Zustandekommen der Übersetzungen von Chardonnes, Bonards, Jouhandeaus und Brasillachs Texten, in denen er ein Dokument der Verständigung zwischen Franzosen und Deutschen erkennt: Fast alle Mitglieder der französischen Delegation berichteten im Anschluß an [das] Dichtertreffen [...] und die vorangegangene gemeinsame Dichterfahrt durch das Deutsche Reich in den verschiedensten französischen Zeitschriften über die tiefen und nachhaltigen Eindrücke, die ihnen der mehrwöchentliche Aufenthalt in Deutschland vermittelt hatte. Die wichtigsten dieser Berichte gelangen anschließend im Wortlaut zum Abdruck. Sie offenbaren den Geist einer echten Verständigungsbereitschaft und den Willen zu einer ehrlichen kulturellen Zusammenarbeit.52

Sowohl im Bereich der Lyrik als auch im Feld der politischen Literatur, so lässt sich festhalten, hat das NS-Regime das Medium der französischdeutschen Übersetzung für seine propagandistischen Zwecke instrumentalisiert und dadurch ihr interkulturelles Vermittlungspotential pervertiert. Die übersetzten Texte wurden nicht um ihrer selbst willen, sondern allein im Hinblick auf eine ideologische Indienstnahme publiziert und von den Herausgebern entsprechend inszeniert. Dass es während des Zweiten Weltkriegs abseits der nationalsozialistischen Lenkung auch unideologische Formen der Literaturvermittlung gegeben hat, zeigen private Initiativen deutscher Übersetzer, in denen die Grundlage für die in den Nachkriegsjahren zahlreich publizierten französisch-deutschen Lyrikübersetzungen geschaffen wurde.53 Als besonders prominentes Beispiel wird im Folgenden der (Brief-)Dialog zwischen dem Übersetzer Friedhelm Kemp und dem französischen Schriftsteller Louis Emié nachgezeichnet.

51 52 53

Ebd. – Payrs Hinweis, sein Vorwort sei „am Tage vor dem Einrücken zum Heeresdienst“ entstanden, korreliert die Literatur als propagandistische Waffe mit dem Einsatz im Kriegsdienst. Bernhard Payr: Deutschland und die Zusammenarbeit. In: Phönix oder Asche? Frankreichs geistiges Ringen nach dem Zusammenbruch, S. 348–365, hier S. 364. Bereits 1938 erschien im Amsterdamer Exil-Verlag Querido eine von Alfred Wolfenstein herausgegebene Gedichtsammlung Stimmen der Völker. Die schönsten Gedichte aller Zeiten und Länder, in der auch französische Lyriker wie Villon, Maeterlinck, Rimbaud und Apollinaire vertreten waren. Vgl. Anthologien mit französischen Dichtungen (2002), Einleitung, S. 22.

2.1 Kemp im Kontext der Literaturvermittlung vor und nach 1945

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2.1.2 Jenseits der Propaganda: Kemps Feldpostbriefwechsel mit Louis Emié Die Übersetzertätigkeit von Friedhelm Kemp (1914–2011) wurde durch den persönlichen Austausch mit dem französischen Lyriker und Journalisten Louis Emié (1900–1967) überhaupt erst in ihrem breiten Spektrum ermöglicht.54 Auch wenn ein solcher literarischer ›Handelsverkehr‹ in Kriegszeiten die Ausnahme war, lässt sich das Jahr 1945 nicht als voraussetzungsloser Anfangspunkt der französisch-deutschen Lyrikvermittlung bezeichnen. Vielmehr stellt das Jahr der deutschen Kapitulation einen Wendepunkt in publizistischer Hinsicht dar, wie sich an einem Beispiel aufzeigen lässt. Kemp berichtet rückblickend, er habe während des Kriegs auch Maurice Scève übersetzt:55 „Einige seiner von mir übertragenen Zehnzeiler hätten damals in der Neuen Folge der Zeitschrift ›Corona‹ erscheinen sollen; was die Luftangriffe des Jahres 1944 verhinderten.“56 Abgesehen von dieser (gescheiterten) Publikationsperspektive bestand für Kemp während des Kriegs kaum Aussicht, seine Übersetzungen zu veröffentlichen. Von der großen Anzahl seiner Publikationen in der Nachkriegszeit Rückschlüsse auf Kemps publizistische Ambitionen ziehen zu wollen, birgt daher eine methodische Schwierigkeit: Es würde bedeuten, seiner Beschäftigung mit der französischen Lyrik während der Kriegsjahre im Nachhinein eine teleologische Perspektive zu unterlegen, die Kemp in dieser Weise nie hatte. Die Rezeption französischer Autoren und der literarische Dialog mit Emié waren für ihn zunächst von rein privatem Interesse. Dass die in diesem Rahmen entstandenen Übersetzungen an die Öffentlichkeit getragen werden konnten, war nur aufgrund eines günstigen Zusammenspiels persönlicher, politischer und editorischer Faktoren nach 1945 möglich – für Friedhelm Kemp war diese Entwicklung, die ihn zum professionellen und überaus einflussreichen Übersetzer hat werden lassen, vor Kriegsende keineswegs absehbar. Anhand der umfangreichen Feldpostkorrespondenz zwischen Kemp und Louis Emié aus den Jahren 1941/42 sowie an Kemps Übersetzungen und seinen Kriegstagebüchern lässt sich erkennen, wie intensiv seine Rezeption moderner französischer Literatur in seiner Zeit als Besatzungssol54 55 56

Sämtliche unveröffentlichte Dokumente von Friedhelm Kemp und Louis Emié, die im Folgenden zitiert werden, befinden sich in Kemps Nachlass im DLA Marbach [DLA: A: Kemp]. Louis Emié hatte Kemp 1942 mit den Gedichten von Maurice Scève vertraut gemacht. Vgl. Emiés Brief an Kemp vom 14. September 1942. In: DLA: A: Kemp. Friedhelm Kemp: ›Alles ist neu zu sagen‹. In: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 11 (1997), S. 369–378, hier S. 371. Kemps Fassungen von 39 Zehnzeilern aus Scèves Délie, 1946 beim Verlag Heinrich F. S. Bachmair in Starnberg erschienen, stellen seine erste publizierte Lyrikübersetzung dar.

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dat gewesen ist. Weder sind die Rahmenbedingungen dieses literarischen Dialogs in Zeiten nationalsozialistischer Überwachung bislang von der Forschung beachtet worden, noch hat eine systematisierende und kontextualisierende Auseinandersetzung mit den daraus entstandenen Publikationen stattgefunden. In den Feuilletonbeiträgen zu Friedhelm Kemp wird meist von der Zäsur des Jahres 1945 ausgegangen und damit suggeriert, dass seine Übersetzertätigkeit erst nach Kriegsende eingesetzt habe. So heißt es z. B. bei Wolfgang Matz, Kemp sei „zu einem der wichtigsten Vertreter jener Generation [geworden], die nach dem Kriege all das zu entdecken, aufzuholen, wiederherzustellen hatte, was durch die Jahre der Diktatur unterdrückt, zerstört oder aus Deutschland ausgesperrt worden war“.57 Ein Grund für die noch ausstehende Beschäftigung mit dem unveröffentlichten Archivmaterial liegt gewiss in der Tatsache, dass sich Friedhelm Kemp bislang kaum öffentlich zu seinem Austausch mit Louis Emié geäußert hat. In seinem Aufsatz Vom Vergnügen des Übersetzens (1965) spricht Kemp ebenso anspielungsreich wie selbstironisch von seinem Aufenthalt als Besatzungssoldat in Bordeaux und seiner Bekanntschaft mit Emié: [W]idrige Umstände verhinderten […], daß ich Frankreich selber vor dem Abschluß meines Studiums kennenlernte; bis es dann zwangsweise und in einem Kostüm geschah, das seinen Träger dort nicht gerade beliebt machte. Und doch verdanke ich es einer Begegnung eben jener Jahre, daß mir nun auch die lebenden Dichter Frankreichs, darunter Saint-John Perse, und zugleich die des sechzehnten Jahrhunderts näherkamen.58

Einzig in einem kurzen Beitrag über seinen Kontakt zu Saint-John Perse, der gemeinsam mit den Fragebogen zu Kemps Perse-Übersetzungen publiziert worden ist, nennt Kemp den Namen Louis Emiés: [C’est] à l’amitié du poète Louis Emié que je dois la connaissance des textes français de Saint-John Perse parus jusqu’à la Seconde Guerre mondiale. C’était l’été 1941: j’étais alors soldat, caporal, interprète au ›Kriegsgefangenen-Bezirkskommando‹ à Bordeaux. Louis Emié m’initia à quelques-uns de ses auteurs favoris: Joë Bosquet, Eluard, Pierre Emmanuel, Léon-Paul Fargue, [...] Saint-John Perse.59

57 58

59

Wolfgang Matz: Einmal für immer. Übersetzer, Mittler, Freund: Friedhelm Kemp wird neunzig. In: Süddeutsche Zeitung vom 11. Dezember 2004, S. 20. In: Kemp: Vom Vergnügen des Übersetzens, S. 42. Präziser äußert sich Kemp in seinen Lebenserinnerungen: „In einer Buchhandlung lernte ich einen französischen Dichter halbspanischer Herkunft kennen […], er versorgte mich mit den ausgefallensten kleinen Broschüren moderner französischer Literatur.“ In: Friedhelm Kemp: Das Widersprüchliche und das Durchlässige. Lebenserinnerungen 1914 bis 1945. In: Kränzewinder, Vorhangraffer, Kräuterzerstoßer und Bratenwender. Friedhelm Kemp zum 85. Geburtstag. Sonderausgabe von Metaphorá. Zeitschrift für Literatur und Übertragung 3, Nr. 5 (1999). München 1999, S. 136–148, hier S. 142. Friedhelm Kemp: Kommentar zu den Annotations de Saint-John Perse. In: Cahiers Saint-John Perse. Dirigé par Jean-Louis Lalanne. Nr. 6. Paris 1983, S. 41–43, hier S. 43.

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Den Ursprung seines Interesses an der französischen Sprache und Literatur erkennt Kemp hingegen in einem literarischen Schlüsselerlebnis seiner Jugend: der Lektüre von Baudelaires Gedichtsammlung Les Fleurs du mal. Als Vermittler dieser Lese-Erfahrung hatte auch damals ein französischer Soldat fungiert, der während des Ersten Weltkriegs in Kemps Heimatstadt Köln stationiert gewesen war: „Ein Offizier der französischen Besatzungstruppen des Rheinlands hatte nach dem Ersten Weltkrieg eine kleine Auswahl der Fleurs du mal zurückgelassen und eben diese Miniaturausgabe fiel uns eines Nachmittags […] in die Hände.“60 Es war das Gedicht Recueillement, an dem sich der Heranwachsende mit einer ersten Übersetzung versuchte, und fortan weitete er seine Lektüren auf die Werke französischer Autoren wie Flaubert, Verlaine, Rimbaud und Mallarmé aus.61 Im Rückblick schreibt Kemp dieser ersten Begegnung mit Baudelaires Gedichten eine für seine spätere Übersetzertätigkeit entscheidende Rolle zu: „Das kleine Vorkommnis dieses Findens, Lesens und Übersetzens hat für mich immer etwas Providentielles behalten.“62 Im November 1938 wurde Kemp mit einer Arbeit über Baudelaire und das Christentum63 bei Gerhard Rohlfs, dem Nachfolger des von den Nationalsozialisten verdrängten Münchner Ordinarius für Romanistik Karl Vossler promoviert. Anschließend wandte er sich verstärkt der zeitgenössischen französischen Literatur zu, die er vor allem durch die in der Rothschild’schen Bibliothek in Frankfurt ausliegende Zeitschrift Nouvelle Revue Française kennenlernte. Dass die ideologische Überwachung und Steuerung des kulturellen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich durch die Nationalsozialisten nicht lückenlos war, wurde ihm bereits durch das bloße Vorhandensein dieser Zeitschrift in Deutschland bewusst:64 „Die Zensur der Nazis war löchrig“, schreibt Kemp rückblickend, „und es gab überall Leute, die behilflich waren, diese Löcher unauffällig offenzuhalten.“65 Die Strategien der Zensurvermeidung sollten auch bei Kemps Rezeption französischer Literatur während der Kriegsjahre eine wichtige Rolle spielen. Knapp ein Jahr nach seiner Promotion, am 1. Oktober 1939, wurde Friedhelm Kemp eingezogen und dem Nachrichtendienst der Fernsprecher-Ersatz-Kompanie 9 bei Kassel zugeteilt. Im Mai des Folgejahres kam er über Umwege durch Holland und Belgien nach

60 61 62 63 64 65

Friedhelm Kemp: Vom Vergnügen des Übersetzens, S. 39. Ebd., S. 39 f. Ebd., S. 40. Friedhelm Kemp: Baudelaire und das Christentum. Marburg/Lahn 1939. In der NRF stieß Kemp 1938 u. a. auf Georges Bernanos’ antifaschistisches, gegen die Franco-Anhänger gerichtetes Pamphlet Les grands cimetières sous la lune. Kemp: Lebenserinnerungen 1914 bis 1945, S. 141.

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Frankreich.66 Laut Tagebucheintrag war Kemp seit dem 28. April 1941 als Militärdolmetscher beim Kriegsgefangenen-Bezirkskommando in Bordeaux stationiert67 und dort dem Kommandanten Oberst von Poschinger als zweiter Adjutant unterstellt.68 Seine Aufgabe bestand darin, den Vorgesetzten bei dessen Rundgängen durch das „Frontstalag 184“ zu begleiten, in dem Kriegsgefangene (hauptsächlich Algerier und Marokkaner69) Waldarbeit verrichteten. Am 2. September 1941 lernte Kemp in der Buchhandlung Féret in Bordeaux den französischen Lyriker und Journalisten Louis Emié kennen, wie Kemp im Tagebuch notiert: „On me présente chez Ferret [sic] à Luis [sic] Emié, nous parlons à bâtons rompus, il m’invite pour jeudi soir.“70 Auch die erste Verabredung mit Emié am 4. September 1941 wird festgehalten: „vers 9 ½ chez M. Emié […] mi-français, mi-espagnol, du côté de sa mère. Nous parlons à bâtons rompus d’Aragon, de Michaux, Supervielle, Cocteau, Gide; [il] travaille à la Petite Gironde.“71 In den folgenden Wochen muss ein sehr enger persönlicher Kontakt zwischen Kemp und Emié entstanden sein, denn der Name des französischen Lyrikers wird fast jeden Tag in Kemps Tagebuch genannt. Den Austausch von Texten und Büchern dokumentiert Kemp sorgfältig, so z. B. die Lektüre von Emiés Sonett Cadence du matin am 17. September 1941.72 Auch nachdem Friedhelm Kemp am 4. November 1941 mit der Schreibstubeneinheit, der er inzwischen zugeteilt worden war, nach Polen, Russland und anschließend ins Baltikum verschickt worden war, riss sein Kontakt zu Louis Emié nicht ab.73 Der Feldpostbriefwechsel zwischen dem französischen Journalisten und Lyriker in Bordeaux und dem deutschen Soldaten und Übersetzer an der Ostfront beförderte in den folgenden Monaten nicht nur persönliche Nachrichten quer durch Europa, son66 67 68 69 70 71 72

73

Ebd., S. 142. An anderer Stelle datiert Kemp seine Ankunft in Bordeaux auf Mai 1941. In: Kemp: Lebenserinnerungen 1914 bis 1945, S. 142. Vgl. Kemps Kriegstagebuch der Jahre 1940/41. In: DLA: A: Kemp. Vgl. Kemps auf den 3. Juli 2007 datierten autobiographischen Bericht in: DLA: A: Kemp. Vgl. Kemps Kriegstagebuch der Jahre 1940/41. In: DLA: A: Kemp. Ebd. La Petite Gironde ist eine 1872 gegründete Tageszeitung, die bis 1944 in Bordeaux erschien. Dieses Sonett hatte Emié mit einer Widmung an Kemp versehen und ihm zusammen mit fünfzehn anderen Sonetten in einer handschriftlichen Kopie übergeben, auf deren Deckblatt steht: „Louis Emié. Seize Sonnets. Mars-Septembre 1941. Copie manuscrite par l’auteur pour son ami Friedhelm Kemp, à laquelle il a joint les brouillons et esquisses du Sonnet ›Cadence du Matin‹. Bordeaux, le 8 octobre 1941.“ In: DLA: A: Kemp. Am 4. November 1941 hat Kemp seinen Aufbruch aus Bordeaux im Tagebuch dokumentiert: „sehr früh aufgestanden, verladen [...] bis 12h, Abfahrt, erste Etappe Courtras, Licht, keine Heizung“ [Courtras ist eine kleine, etwa 60 Kilometer nordwestlich von Bordeaux gelegene Stadt, Anm. A. S.]. In: DLA: A: Kemp.

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dern auch eine Vielzahl an Dokumenten zeitgenössischer französischer Literatur in Form von handschriftlichen Kopien, Zeitschriften, Büchern und Broschüren, die Emié für Kemp in Bordeaux erwarb. Um bei den Zensurbehörden der Wehrmacht möglichst wenig Aufsehen zu erregen, wurde eine Deutsche als quasi neutrale Mittlerperson in den Briefverkehr eingeschaltet, die Emié jeweils als Absender oder Empfänger vertreten hat: „Mlle von Rolshausen“,74 vermutlich eine Oberst von Poschinger unterstellte Sekretärin des Kriegsgefangenen-Bezirkskommandos in Bordeaux, war spätestens seit August 1941 mit Friedhelm Kemp bekannt,75 während Emié sie erst im Zusammenhang mit ihrer Botenrolle kennenlernen sollte, wie aus seinem Schreiben an von Rolshausen vom 3. November 1941, kurz vor Kemps Abreise aus Bordeaux, hervorgeht: Mademoiselle, Je vous serais infiniment reconnaissant de vouloir bien faire parvenir aujourd’hui à M. Kemp les papiers ci-contre. Je crois qu’ils l’intéresseront – et vous savez qu’il quitte Bordeaux demain mardi. Puis-je compter sur votre extrême obligeance? Je me permettrai de venir vous voir afin de faire votre connaissance un de ces prochains jours. Croyez, Mademoiselle, à tout mon respect Louis Emié76

Der Zensurstelle sollte der Eindruck vermittelt werden, es handle sich um einen Briefwechsel zwischen Kemp und Fräulein von Rolshausen. Tatsächlich waren die Sendungen jedoch zweifach bestückt: zusätzlich zu den Briefen, die zwischen Kemp und von Rolshausen hin- und hergingen, lagen jeweils die Nachrichten von und an Kemp bzw. Emié bei, die allerdings nicht auf den ersten Blick als Briefe erkennbar waren, da die Korrespondenten in den allermeisten Fällen auf Anrede und Unterschrift verzichteten. In seinem ersten Brief an Kemp vom 6. November 1941 setzte Emié zusätzlich ein §-Zeichen vor den Beginn jeden Absatzes, wohl um dem Dokument einen offiziellen Anschein zu verleihen. Trotz der 74

75 76

Vgl. Kemps Brief an Emié vom 5. bis 7. Januar 1942. Eine Reproduktion dieses Briefes befindet sich im Anhang. In: DLA: A: Kemp. Der ersten Briefsendung von Emié an Kemp vom 7. November 1941 lag ein Begleitschreiben von Rolshausens bei, in dem es heißt: „Lieber Herr Kemp, voilà meine erste Tätigkeit als ›Postillon d’amour‹ zwischen Ihnen beiden. Ich fand den Brief heute morgen und will ihn gleich weiterschicken. […] Wie war wohl Ihre ›Reise‹? Sicherlich sehr unbequem und unerfreulich, zum Trost dafür aber sehr viele Bücher! Wie ist Ihr neuer Chef? Nächstens mal mehr! Einstweilen viele herzliche Grüße! Mücke Rolshausen.“ (In: DLA: A: Kemp) Hinter dem Spitznamen „Mücke“ verbirgt sich Baronin Maria-Josepha von Rolshausen (1914–2006). – Emié bezeichnet die Feldpostkorrespondenz mit Friedhelm Kemp in seinem Brief vom 30. März 1942 als „un dialogue qui se tient par l’effet d’un miracle“. In: DLA: A: Kemp. In Kemps Tagebuch finden sich am 18. und am 29. August 1942 Einträge über gemeinsame Abendessen mit von Rolshausen und Oberst von Poschinger. In: DLA: A: Kemp. Am gleichen Tag schreibt Emié an Kemp: „Je voudrais que tout cela vous parvienne aujourd’hui même avant votre départ – et j’espère que Mlle von Rolshausen aura la gentillesse extrême de vous le faire parvenir. Bon courage.“ In: DLA: A: Kemp.

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verschiedenen Vorsichtsmaßnahmen, die Emié und Kemp im Rahmen ihres Briefverkehrs getroffen haben, ist es bemerkenswert, dass ein deutscher Soldat an der Ostfront und ein französischer Schriftsteller im besetzten Südwesten Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs in so umfangreichem Maße miteinander korrespondieren konnten, zumal eine Reihe der von Emié versandten Gedichte eindeutig der Résistance-Lyrik zuzurechnen sind, z. B. Paul Eluards Gedicht Liberté, das Emiés Brief vom 27. Juni 1942 beilag.77 Nach dem heutigen Stand der Forschung wurden Feldpostbriefe im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht jedoch nur stichprobenartig und dann auch nur relativ schematisch kontrolliert.78 Anders wäre es auch kaum erklärlich, dass der Briefverkehr nicht aufgedeckt und unterbunden wurde.79 Das Kriegsgeschehen selbst und die damit verbundenen Gefahren sind in Kemps Feldpostbriefwechsel mit Emié nur selten zur Sprache gekommen. Wurde der Kriegszustand erwähnt, so geschah dies meist in Zusammenhang mit Übersetzungsprojekten, deren Verwirklichung durch die prekären Umstände gefährdet war. In Emiés Brief vom 30. Januar 1942 geht es beispielsweise um Übersetzungen seiner Gedichte ins Deutsche, um die er Kemp bittet: Avez-vous reçu une lettre de moi, dans laquelle je vous demandais de traduire quelques sonnets de moi […]? En effet, Jean Bouhier (qui dirige les Cahiers de l’Ecole de Rochefort) va publier un cahier consacré à des poètes allemands; en retour, il y aura en Allemagne un cahier des poètes français. Je dois y figurer et je serais heureux que les traductions soient votre fait. Mais aurez-vous le temps, maintenant, dans la neige et la guerre, de vous occuper de tout cela?80

Warum der Briefwechsel zwischen Kemp und Emié gegen Ende des Jahres 1942 unterbrochen und erst nach dem Krieg wieder aufgenommen wurde, ließ sich bislang nicht rekonstruieren. Es ist denkbar, dass die Zensurbehörden die Identität der beiden Briefpartner herausgefunden und 77 78 79

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In: DLA: A: Kemp. Vgl. Latzel (1998), S. 26. Zumal die Beteiligten durchaus Risiken eingegangen sind: So nannte von Rolshausen in einem Brief an Kemp vom 7. Dezember 1941 Emiés Nachnamen, obwohl dessen Identität ja geheim bleiben sollte: „Lieber Herr Kemp, haben Sie tausend Dank für Ihre zahlreich bei uns eintrudelnden Briefe, incl. den Zeilen für Emié, die ich sofort weitergeleitet habe.“ Der Brief von Kemp an Emié vom 5. bis 7. Januar 1942 wiederum trug eine vollständige Unterschrift: „Tante belle cose, Friedhelm Kemp“. In: DLA: A: Kemp. Es ist unklar, ob die beiden Lyrikpublikationen tatsächlich zustande gekommen sind. In Kemps Archiv finden sich keine Exemplare der genannten Anthologien. Wie gegensätzlich die Alltagserfahrungen des Lyrikers und Journalisten in Frankreich und des Frontsoldaten Kemp im Baltikum zu dieser Zeit gewesen sein müssen, betont Emié im gleichen Brief an Kemp, als er ihm von seiner Urlaubsreise nach Nizza berichtet: „Mais j’ai honte de dire tout cela à quelqu’un qui habite des villes détruites, des villes de neige et de mort. Je me tais ...“ In: DLA: A: Kemp.

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daraufhin ihre Korrespondenz unterbunden haben. Der letzte von den insgesamt fünfunddreißig erhaltenen Feldpostbriefen Emiés, die Kemp während des Krieges erhalten hat, ist auf den 2. November 1942 datiert. Laut Tagebuch hielt sich Kemp ab Dezember 1942 nicht mehr im Baltikum, sondern in Warschau und Stettin auf. Vielleicht hat auch dieser Ortswechsel zu erschwerten Zustellungsbedingungen geführt. In seinem autobiographischen Bericht von 2007 spricht Kemp von der „›force majeure‹ de l’époque“, an der seine Briefkorrespondenz mit Emié gescheitert sei.81 Der Abbruch der Korrespondenz kann auch mit der Vermittlerin Fräulein von Rolshausen zusammenhängen. In ihrem Schreiben vom 16. Oktober 1942 heißt es, sie werde demnächst von Paris nach Deutschland zurückgeschickt und könne dann ihre Vermittlertätigkeit nicht mehr ausführen.82 Erst am 15. Dezember 1945 setzte der Briefkontakt mit einer Postkarte Kemps aus München wieder ein, die Emié am 3. Januar 1946 beantwortete. Von diesem Zeitpunkt bis zu Emiés Tod 1967 hat sich ihre Briefkorrespondenz fortgesetzt. Emié empfahl seinem Briefpartner weiterhin Texte zeitgenössischer französischer Autoren, so z. B. die Aphorismensammlung Epreuves, exorcismes von Henri Michaux.83 Seinem Brief vom 8. März 1948 legte Emié einen von Pierrette Sartin verfassten Artikel aus den Cahiers de Paris über die aktuelle französische Lyrik bei. Rückblickend bekräftigt Kemp den Stellenwert seines literarischen Austauschs mit Emié: „L’amitié de Louis Emié fut pour moi un enrichissement sans pareil dont je ne cesse de profiter.“84 Der Einfluss von Emiés Büchersendungen und Lektüre-Empfehlungen auf Kemps Rezeption moderner französischer Literatur und damit auch auf seine rege Übersetzertätigkeit im und nach dem Krieg ist kaum zu überschätzen: Von den insgesamt neunzehn französischen Lyrikern, deren Gedichte Kemp bis 1950 in deutschen Fassungen veröffentlicht hat, gehen dreizehn Namen direkt auf Emiés Anre81

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DLA: A: Kemp. Am 24. September 1942 berichtete Emié seinerseits von Schwierigkeiten im Redaktionsbüro der Petite Gironde. Die folgende Briefpassage benennt weniger den konkreten Anlass von Emiés Befürchtungen als die ständige Bedrohung, der er sich als Journalist im besetzten Frankreich ausgesetzt sah: „En ce moment, j’ai de grosses préoccupations d’ordre professionnel. Je ne puis vous en dire plus long pour l’instant: j’attends une décision qui doit venir de Paris, et non point de ma maison mais ... Comprenez-vous? Cela m’ennuie beaucoup [...]. Dans quelques jours peut-être, il me sera possible de vous apporter quelques éclaircissements. Pour l’instant j’ignore la sauce à laquelle je vais être mangé.“ In: DLA: A: Kemp. Im Wortlaut heißt es dort: „Nun macht mir aber Sorgen, wer dann an meiner Stelle den Postillon d’amour macht zwischen Ihnen und E. Da ich neulich zufällig mit Frl. Töpfer sprach, die evtl. nicht unter den Austausch fällt, […] frug ich sie gleich, ob sie es nicht übernehmen könnte, was sie sofort freudigst zusagte […]. Nun müssen Sie halt den Daumen drücken, dass Frl. Töpfer hier bleiben kann.“ In: DLA: A: Kemp. Vgl. Emiés Brief an Kemp vom 17. Juni 1946. In: DLA: A: Kemp. Autobiographischer Bericht Kemps (2007). In: DLA: A: Kemp.

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gungen zurück:85 Louis Aragon, Joë Bosquet, André Breton, Paul Claudel, Paul Eluard,86 Pierre Émmanuel, Léon-Paul Fargue, Pierre Jean Jouve, Charles Péguy, Maurice Scève, Jules Supervielle, Patrice de la Tour du Pin – und natürlich Louis Emié selbst.87 Innerhalb des Feldpostbriefwechsels zwischen Bordeaux und der Ostfront lassen sich drei Vermittlungswege unterscheiden, auf denen Emié die literarischen Rezeptionslinien Kemps mitgesteuert hat. Je nachdem, wie schwer die jeweils gewünschten Gedichte in Bordeaux zugänglich waren, musste Emié die Texte abschreiben, wie im Fall von Saint-John Perse88 oder auch von seinen eigenen unveröffentlichten Gedichten. Aus der Korrespondenz geht beispielsweise hervor, dass Emiés Sonett Cadence du Matin, das Kemp zum ersten Mal im September 1941 gelesen hatte, einer erneuten Überarbeitung unterzogen worden war, deren Ergebnisse er Kemp zuschickte. Am 6. November 1941 schrieb Emié an Kemp: „Je viens de recopier deux fois le sonnet [= Cadence du Matin, A. S.] dont je 85

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Nicht berücksichtigt sind hier die Übersetzungen aus den Werken von Baudelaire, Mallarmé, Michaux und Lautréamont, die Kemp nachweislich bereits vor seiner Begegnung mit Louis Emié gekannt hat. So finden sich in Bezug auf Henri Michaux folgende Einträge in Kemps Tagebuch: für Dienstag, den 2. September 1941 (den Tag, an dem Kemp Emié zum ersten Mal in der Buchhandlung Féret begegnet ist): „traduction de Michaux, comme samedi et dimanche“, in: DLA: A: Kemp. Diese Angabe zeigt, dass Kemp schon mit Michaux vertraut gewesen sein muss, bevor er mit Emié über dessen Schriften gesprochen hat. Ob jedoch seine Übersetzung von Plume (vgl. Eintrag vom 3. September 1941) auf eigene Lektüren oder auf Emiés Empfehlung hin entstanden ist, muss vorerst offenbleiben. Kemps deutsche Fassung unter dem Titel Ein gewisser Plume ist erschienen in: Prisma 1 (1946/47), Heft 4, S. 22–24. Vgl. Eluards Gedicht Ta chevelure d’orange (aus: Au défaut du silence, 1925) in den Übersetzungen von Friedhelm Kemp und Gerd Henninger (Kap. 2.2.1). Die genannten Lyriker und ihre Werke spielen an folgenden Stellen in Kemps Kriegstagebuch bzw. im Briefwechsel eine Rolle: Aragon: Tagebucheintrag vom 5. September 1941 bzw. Emiés Briefe vom 27. Juni 1942 und 9. September 1942; Bosquet: Emiés Briefe vom 28.–29. Dezember 1941 und 2.–6. Februar 1942; Breton: Emiés Briefe vom 23. Februar 1942 und 27. Oktober 1942; Claudel: Emiés Briefe vom 25. November 1941, 2. April 1942 und 3.–5. Oktober 1942; Eluard: Emiés Briefe vom 5. Dezember 1941, 28.–29. Dezember 1941, 29. Januar 1942, 26. März 1942, 27. Juni 1942, 17. Oktober 1942; Émmanuel: Emiés Briefe vom 25. November 1941, 5. Dezember 1941, 18. April 1942, 27. Juni 1942, 9. September 1942 sowie Kemps Brief vom 5.–7. Januar 1942; Fargue: Emiés Briefe vom 8. Mai 1942, 21. Juli 1942, 31. Juli 1942, 17. Oktober 1942; Jouve: Emiés Briefe vom 8. Mai 1942 und 27. Juni 1942; Péguy: Emiés Brief vom 31. Juli 1942; Scève: Emiés Brief vom 14. September 1942; Supervielle: Tagebucheintrag vom 5. September 1941 und 15. Dezember 1941 sowie Emiés Briefe vom 5. Dezember 1941, Weihnachten 1941, 2.–6. Februar 1942, 27. Juni 1942; de la Tour du Pin: Emiés Brief vom 18. Februar 1942. Zu Emiés eigener Lyrik vgl. Emiés Briefe vom 6. November 1941, 28.–29. Dezember 1941, 30. Januar 1942, 21. Juli 1942, 14. September 1942 sowie Kemps Brief vom 20. Februar 1942. In: DLA: A: Kemp. Kemp schreibt in seinen Lebenserinnerungen: „[Emié] schrieb die im Handel unauffindbaren Gedichte von Saint-John Perse für mich ab.“ In: Kemp: Lebenserinnerungen 1914 bis 1945, S. 142.

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vous entretiens plus haut. Je l’ai déjà amélioré – et peut-être en restera-til?“ Einige Zeit später, in seinem Brief vom 28./29. Dezember 1941, ging Emié ein weiteres Mal auf sein Gedicht ein und forderte Kemp auf, es ins Deutsche zu übersetzen: vous devez bien traduire le sonnet J’habite ici (que vous avez dû recevoir) et l’autre, Cadence du matin. – Je pense que ce ne sera pas pour vous un trop gros travail – et il me ferait tant de plaisir que les traductions de ces poèmes soient faites par vous.89

Abgesehen von Ausnahmefällen, in denen bestimmte Gedichte oder Gedichtsammlungen nicht im Buchhandel erhältlich waren, kaufte und verschickte Emié neben den betreffenden Bänden auch Zeitschriften und Anthologien. In seinem Brief an Emié vom 5. bis 7. Januar 1942 betont Kemp – er befand sich in diesen Tagen laut Kriegstagebuch „quelque part dans la neige […] en route pour la capitale de la Ruthénie“90 –, dass die Lektüre französischer Literatur einen festen Platz in seinem Frontalltag einnehme und er die Büchersendungen aus Bordeaux nicht mehr missen wolle: Je sais que je vous fais beaucoup de travail et qu’il est fort difficile d’avoir tous ces livres à Bordeaux. Mais vous pouvez imaginer comme mes soirées sont longues, de 5 heures à minuit. Je vous suis donc plus reconnaissant pour tous les envois […]. Je ne sais pas si Mlle v. R. [i. e. Frl. v. Rolshausen, Anm. A. S.] va quitter Bordeaux, en tout cas, j’espère que vous pouvez vous arranger avec elle. Excusez mon écriture détestable et la pauvreté de cette missive. Mais je vous écris appuyé sur une mallette, entouré d’une pétaudière d’une dixaine d’hommes. À bientôt! Tante belle cose Friedhelm Kemp 91

Unter den dreizehn von Emié empfohlenen Lyrikern, die Kemp in der Nachkriegszeit in deutschen Übersetzungen vorgestellt hat, war seine Rezeption Jules Supervielles, aus dessen Werk er allein bis 1949 fünfzehn Gedichtübersetzungen in Anthologien und Zeitschriften veröffentlichte, mit Abstand am umfangreichsten.92 Woher Kemp die jeweiligen Gedichte 89 90 91

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In: DLA: A: Kemp. Ebd. Ebd. In einem späteren Brief vom 8. Mai 1942 betont Emié die Schwierigkeiten bei der Bücherbeschaffung in Bordeaux: „Il faut des ruses d’indien sioux pour obtenir ce que l’on veut, en ce moment!“ In: DLA: A: Kemp. Vermutlich hatte sich die Lage der Buchhändler in der Zwischenzeit durch die anhaltende Besetzung der Stadt durch die deutsche Wehrmacht weiter verschlechtert. Kemps Supervielle-Übersetzungen bis 1950 heißen: Die Augen der Toten (Les Yeux de la morte); Musée Carnavalet (Musée Carnavalet). In: Die Fähre 1 (1946), S. 544; Bürde (Lourde), Gemetzel (Tuérie), Zu beiden Seiten der Pyrenäen (Les deux côtés des Pyrénées), Die Gefangene (La captive), Huldigung an das Leben (Hommage à la vie). In: Lancelot. Der Bote aus Frankreich. Heft 3 (1946), S. 38–47; Die Stadt der Tiere (La Ville des Animaux), Die Bäume (S’il n’était pas d’arbres à ma fenêtre). In: Dichtung der Gegenwart: Frankreich. Hrsg. von Carl August Weber (1947), S. 148; Da nun von Tag zu Tag ... (Puisque nos battements ...), Spitze der Flamme (Pointe de Flamme). In: Die Wandlung. Eine Monatsschrift 2 (1947), S. 492 f.; Der Vogel (L’Oiseau), Tauschen (Échanges).

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kannte, lässt sich zum großen Teil aus dem Briefwechsel erschließen: So kündigte Emié in seinem Brief vom 5. Dezember 1941 beispielsweise an, er habe beim Buchhändler Féret Supervielles Band Gravitations (1925/1932) für Kemp bestellt.93 Am 18. Dezember 1941 vermerkte Kemp in seinem Tagebuch: „Wieder Bücher aus Bordeaux.“ Für die Weihnachtstage findet sich der Eintrag: „Supervielle und Lorca übersetzt.“94 Vermutlich ist der Band Gravitations also mit der Büchersendung vom 15. Dezember 1941 bei Kemp in Warschau angekommen, wo er noch bis Anfang 1942 stationiert war. In diesem Band sind drei der fünfzehn Supervielle-Gedichte enthalten, die Kemp übersetzt hat: Échanges,95 Les Yeux de la morte und Pointe de flamme.96 Dass Kemp schon während des Kriegs angefangen hat, Gedichte von Supervielle zu übersetzen, zeigen auch Übersetzungsentwürfe, die er auf dem Briefpapier des „Kriegs-Gefangenen Bezirkskommandos H“ notiert hat:97 Auf einem maschinenschriftlichen Dokument des Kommandanten, vermutlich Oberst von Poschinger, datiert auf den 1. September 1941 und adressiert an den Chef des Militärverwaltungsbezirks Bordeaux, finden sich Übersetzungsfragmente in Kemps Handschrift. Auf der Rückseite steht, maschinenschriftlich, die deutsche Übersetzung von Supervielles Gedicht Le Matin du monde (Der Morgen der Welt), mit handschriftlichen Korrekturen versehen. Offensichtlich hat Kemp dieses offizielle Dokument, das als Begleitschreiben für Berichte des „Frontstalags 184“ vom August 1941 fungiert haben muss, als Papierersatz gedient.98 Als Entstehungsda-

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In: Die Fähre 2 (1947) S. 108; Hinter dem Schweigen (Derrière le silence), Die Spur (Le Sillon), Tauschen (Échanges). In: Das Forum – Die Goldene Brücke (1947), S. 41–42. Diese letzte Übersetzung wird in Friedhelm Kemps Bibliographie 1939–1984 nicht angeführt. Bereits am 15. Dezember 1941 notierte Kemp den Namen „Supervielle“ in sein Kriegstagebuch. In: DLA: A: Kemp. In: DLA: A: Kemp. Die Genese der Échanges-Übersetzung ist insofern schwer zu rekonstruieren, als Kemps Tagebuch vom 5. September 1941 bereits einen Entwurf enthält, der also zwei Tage nach der ersten Begegnung mit Emié entstanden sein muss (in: DLA: A: Kemp). Vermutlich hat Emié ihm den Band Gravitations schon bei ihrem ersten Treffen gezeigt. Von Supervielles Gedicht Pointe de flamme liegen mindestens zwei weitere Übersetzungen unter dem Titel Flammenspitze vor, eine von Helmut Bartuschek, publiziert in der von ihm herausgegebenen Anthologie Der Gallische Hahn – Französische Gedichte von der Zeit der Troubadours bis in unsere Tage, Berlin (Ost) 1957, S. 289 f., sowie eine von Paul Celan (1967, GW 4, S. 363). – Aus dem Band Les Amis inconnus (1934) hingegen stammen die Gedichte: La Ville des Animaux, L’Oiseau und Le Sillage; und in der Sammlung 1939–1945 finden sich die Texte: Lourde, Tuerie, Des deux côtés des Pyrénées, S’il n’était pas d’arbre à ma fenêtre, Hommage à la vie und La Captive. Aus dem Band Le Forçat innocent (1930) hat Kemp die Gedichte Musée Carnavalet und Derrière le silence ausgewählt und aus dem Band La Fable du Monde (1938) den Text Puisque nos battements. DLA: A: Kemp. Andererseits ist es verwunderlich, dass der Brief erhalten ist und nicht abgeschickt wurde. Vermutlich handelt es sich um den Entwurf eines offiziellen Schreibens.

2.1 Kemp im Kontext der Literaturvermittlung vor und nach 1945

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tum dieser Supervielle-Übersetzung Der Morgen der Welt kommen zwei Zeiträume in Betracht: Möglicherweise ist sie zur gleichen Zeit entstanden wie die deutsche Fassung von Échanges, nämlich in der ersten Septemberwoche 1941, kurz nach dem ersten Treffen von Kemp und Emié. Die Datierung des Briefformulars, das Kemp als Schreibpapier benutzt hat, spräche für diese erste zeitliche Einordnung. Es ist aber auch denkbar, dass Kemp das Gedicht erst nach Erhalt des Bandes Gravitations in den Weihnachtstagen 1941 übersetzt hat. Da Kemps Bibliographie keinen Hinweis auf eine Veröffentlichung von Supervielles Der Morgen der Welt enthält, muss davon ausgegangen werden, dass diese frühe Übersetzung unpubliziert geblieben ist. Auch die Genese von Kemps Übersetzung des berühmten Aragon-Gedichts Les lilas et les roses99, in dem die Besetzung von Paris durch das NS-Regime im Juni 1940 angeprangert wird, lässt sich rekonstruieren. Dieses Gedicht, 1941 in dem Band Le Crève-Cœur bei Gallimard erschienen, erhält Kemp laut Tagebucheintrag am 5. September 1941 von Emié.100 Kemps deutsche Fassung Der Flieder und die Rosen erscheint 1947 in der Anthologie Dichtung der Gegenwart: Frankreich.101 Neben der Empfehlung einzelner Gedichtbände spielt im Briefwechsel auch die Vermittlung französischer Literatur durch Anthologien und Zeitschriften eine wichtige Rolle. Eine besonders ergiebige Quelle war die Anthologie de la nouvelle poésie française (1928), die Emié am 25. November 1941 an Kemp in Warschau geschickt hat.102 Es war vermutlich diese Textsammlung, die letzteren zu den Übersetzungen von Paul Claudels La vierge à midi, Georges Duhamels Sous un figuier d’Avignon und Max Jacobs Le Kamichi angeregt hat.103 99 100 101

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Eine weitere Übersetzung dieses Gedichtes von Rolf Schneider findet sich in der Anthologie: Tränen und Rosen. Krieg und Frieden in Gedichten aus fünf Jahrtausenden. Hrsg. von Achim Roscher. Berlin (Ost) 1965, S. 407. DLA: A: Kemp. Louis Aragon: Der Flieder und die Rosen. Deutsch von Friedhelm Kemp. Dichtung der Gegenwart: Frankreich. München 1947, S. 68. Bereits 1946 hat der österreichische Lyriker und Essayist Ernst Waldinger seine Fassung von Aragons Gedicht in der Zeitschrift Die Fähre veröffentlicht. Vgl.: Die Fähre 1 (1946), S. 550. Vgl. Emiés Brief an Kemp vom 25. November 1941. Vgl. Paul Claudel: La vierge à midi; Georges Duhamel: Sous un figuier d’Avignon, Max Jacob: Le Kamichi. In: Anthologie de la nouvelle poésie française. Nouvelle édition revue et corrigée. Ohne Herausgeber. Paris 241928, S. 142 f.; S. 217 f.; S. 332 f. Die Übersetzungen von Claudel und Duhamel wurden 1947 in der Textsammlung Dichtung der Gegenwart: Frankreich (1947) veröffentlicht (vgl. Paul Claudel: Die Jungfrau im Mittag, S. 100; Georges Duhamel: Elegie, S. 53), während die Jacob-Übersetzung 1948 in der Zeitschrift Das goldene Tor erschienen ist (vgl. Max Jacob: Das Kamichi, Das goldene Tor 3 (1948) S. 325). Woher Kemp die Gedichte der übrigen drei Autoren kannte, die er bis 1950 übersetzt hat (Jean Cassou, Gabriel Audisio und Marius Grout), ließ sich bislang nicht rekonstruieren. Möglicherweise hat Kemp diese in den von Emié zugesandten Ausgaben der Nouvelle Revue Française bzw. der Résistance-Zeitschrift Fontaine entdeckt. Lautréamonts Werk hatte Kemp hingegen

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Dass Kemp nicht alle literarischen Urteile Emiés geteilt hat, zeigen seine Übersetzungen von Aragon und Reverdy. Beide Autoren hat Kemp ins Deutsche übertragen, obwohl Emié sie in seinen Briefen zum Teil kritisch kommentiert hat. So schickte Emié am 11. April 1942 Auszüge aus Aragons Gedicht Cantique à Elsa, um Kemp ein Beispiel dafür zu zeigen, wie er sagte, „ce qui se fabrique ici“. Trotzdem hat Kemp diesen Text übersetzt und unter dem Titel Gesang für Elsa 1947 im Schweizer Journal/Revue Suisse publiziert.104 Eine ungleich schärfere Kritik formulierte Emié in Bezug auf die Lyrik Pierre Reverdys, von deren Lektüre er Kemp in seinem Brief vom 27. Juni 1942 abgeraten hat.105 In seinem Brief vom 3. Januar 1946, der erste nach der mehr als dreijährigen Zwangspause, betont Emié die Notwendigkeit, die zu übersetzenden Texte streng auszuwählen: Je crois que pour vos futures traductions, il faudrait que vous établissiez un plan d’ensemble. Il y a des œuvres inconnues en Allemagne qui valent la peine d’être traduites. Ne vous attardez pas trop auprès des ›feux de pailles‹.106

Nicht alle der in Kriegszeiten entstandenen Übersetzungen Kemps sind nach 1945 publiziert worden. In bestimmten Fällen ermöglichten jedoch auch die unveröffentlicht gebliebenen Übersetzungen einen Austausch, der sich in gegenseitiger Anerkennung zwischen Autor und Übersetzer manifestiert hat. Da Kemp seine Übersetzungstätigkeit in den Kriegsjahren gerade nicht mit einer unmittelbaren Publikationsperspektive betrieb, rückte für ihn das Übersetzen als freundschaftlicher Akt und versöhnende Geste in den Vordergrund, wie an folgendem Beispiel deutlich wird: Auf Emiés Empfehlung hin hatte Kemp Pierre Émmanuels Gedicht Jour de Colère übersetzt.107 Zu einem anderen Gedicht Émmanuels mit dem Titel Tombeau d’Orphée (1941) und dessen Übersetzung äußert sich Kemp zum wiederholten Male; veröffentlicht hat er seine deutsche Fassung jedoch

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schon vor dem Krieg kennengelernt. In Kemps Privatbibliothek befindet sich eine Ausgabe von Lautréamonts Œuvres complètes (Paris 1938) mit folgendem Vermerk: „Friedhelm Kemp Oberursel Okt. 38“. Louis Aragon: Gesang für Elsa. Deutsch von Friedhelm Kemp. In: Schweizer Journal. Revue Suisse 13 (1947), Heft 2, S. 25–28. Emié schreibt: „De Reverdy, il n’y a vraiment rien à lire. C’est une poésie hybride, un peu informe, et ce que vous en connaissez par les anthologies peut vous suffir amplement.“ In: DLA: A: Kemp. Kemp hat 1970 gemeinsam mit Max Hölzer den Band Quellen des Windes (Sources du vent, 1929) von Reverdy übersetzt und veröffentlicht. Pierre Reverdy: Quellen des Windes. Deutsch von Max Hölzer und Friedhelm Kemp. München 1970. In: DLA: A: Kemp. Emié hat Kemp den Band Jour de Colère am 9. September 1942 zugeschickt. In: DLA: A: Kemp. Vgl. Pierre Émmanuel: Tag des Zorns. Deutsch von Friedhelm Kemp. In: Hochland 42 (1949/50), Heft 2, S. 118; Wiederabdruck in: Anthologie der französischen Dichtung von Nerval bis zur Gegenwart. Bd. 2: Die Zeitgenossen. Ausgewählt und hrsg. von Flora Klee-Palyi. Wiesbaden 1953, S. 312.

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nicht. In einem seiner Feldpostbriefe an Emié vom 5. bis 7. Januar 1942 spricht Kemp über die Schwierigkeiten, die ihm die Lektüre von Émmanuels Tombeau d’Orphée bereite. Aus diesem Grund bediene er sich der Übersetzung als eines hermeneutischen Instruments, das ihm das Textverständnis erleichtere: „Pour mieux saisir, je m’applique à traduire quelques fragments ce qui est extrêmement difficile.“ Im gleichen Zusammenhang bittet Kemp Emié, seine (noch unvollendete) Übersetzung an den befreundeten Autor Pierre Émmanuel zu schicken, „comme un faible signe de reconnaissance et d’échange à travers les frontières“.108 Am 20. Februar 1942 äußert sich Kemp erneut zu seiner Übersetzung: La traduction du Tombeau s’achemine lentement vers un état provisoire; mais il faudra que je la reprenne plus tard, après avoir gagné un peu de distance et après m’a [sic] éclairci sur certains endroits qui me restent obscurs. J’ai fait cette traduction comme un exercice pour assouplir mes moyens d’expression.109

Verknüpft man die verschiedenen Aussagen zur Tombeau-Übersetzung, so wird deutlich, dass Kemp die verschiedenen Funktionen des Übersetzens immer im Zusammenhang sieht: Es fungiert als Medium des kulturellen Austausches, des hermeneutischen Erkenntnisgewinns und als sprachliche Fingerübung.110 Allen Feindbildern der nationalsozialistischen Ideologie zum Trotz hat Kemp als Übersetzer dazu beigetragen, die Literaturvermittlung zwischen Frankreich und Deutschland während der Kriegsjahre wenigstens partiell aufrechtzuerhalten.111 Das Jahr 1946 brachte für Kemp 108 DLA: A: Kemp. 109 Brief von Friedhelm Kemp an Louis Emié vom 20. Februar 1942. In: DLA: A: Kemp. 110 Wie positiv Kemps ideologieresistente Haltung und sein Streben nach Austausch auf die französischen Autoren gewirkt haben, lässt sich an der ersten persönlichen Begegnung zwischen Friedhelm Kemp und Pierre Émmanuel ablesen, die 1959 bei einem literarischen Kolloquium im französischen Lourmarin stattfand. Émmanuel sah in Kemp aufgrund seiner ambitionierten Vermittlertätigkeit einen Freund, obwohl dieser als Wehrmachtssoldat zur Feindesmacht Deutschland gehört hatte: Diese Ambivalenz schlägt sich in den Worten nieder, mit denen er Kemp den anderen Kolloquiumsteilnehmern vorstellte: „›Da sehen Sie meinen Freund Friedhelm Kemp; während des Krieges erhielt er mit meinem Wissen durch Dritte meine Gedichte, mais en tant qu’allemand je le haïssais‹“ [Hervorhebung original]. Siehe Kemp: Lebenserinnerungen 1914 bis 1945, S. 142. 111 Eine Besonderheit des Austauschs zwischen Emié und Kemp liegt in der Reziprozität ihrer französisch-deutschen Literaturvermittlung. Noch in Bordeaux fertigt Kemp französische Übersetzungen aus Goethes Werk an, wie Emié in seinem Tagebuch notiert: „Samedi 27 septembre: F. K... a traduit pour moi deux pensées de Goethe sur la poésie.“ Es folgen zwei übersetzte Passagen aus Goethes Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans. Vgl. Louis Emié: Mémorial. Introduit par Pierrette Sartin. Présentation et appareil critique de Francesco Maria Mottola. Bordeaux 2000, S. 76 f. Nach seiner Abfahrt aus Bordeaux übersetzte Kemp nicht nur Textauszüge von Eduard Mörike (vgl. Emiés Brief vom 30. März 1942), sondern übermittelte Emié auch Informationen zu dem österreichischen Schriftsteller und Übersetzer Rudolf Kassner (vgl. Emiés Anfrage vom 23. Februar 1942). In seinem Brief vom 18. Februar 1942 legte Emié seinem Briefpartner die Lektüre von André Gides Aufsatz über Goethe nahe (erschienen in Ausgabe Nr. 38

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eine entscheidende Wende, da er von nun an seine im Krieg entstandenen Gedichtübersetzungen veröffentlichen konnte. Die fremdsprachige Lyrik, die die vom NS-Regime gesteuerte Literaturvermittlung marginalisiert hatte, nahm in der Publikationspraxis der Nachkriegszeit eine prominente Rolle ein. Da jedoch in den vier Besatzungszonen verschiedene kulturpolitische Konzepte umgesetzt wurden, ist auch der Stellenwert der Literatur je individuell zu bewerten. Im Fokus des folgenden Kapitels stehen neben der besonders auflagenstarken französisch-deutschen Literaturzeitschrift Lancelot. Der Bote aus Frankreich aus der Zone d’occupation française verschiedene Periodika und Anthologien, in denen Friedhelm Kemp neben anderen Übersetzern französische Lyrik in deutschen Fassungen vorstellte. Dabei soll aufgezeigt werden, dass Kemps herausgehobene Rolle als Pionier der französisch-deutschen Lyrikvermittlung in der Nachkriegszeit in eine vielfältige Herausgeber-, Übersetzer- und Kritikertätigkeit mündete, die er bis ins hohe Alter ausgeübt hat. Der Schwerpunkt des Kapitels richtet sich auf die Koordinaten der literarischen Landschaft zwischen Kriegsende und den sechziger Jahren sowie auf die ästhetischen Charakteristika der Lyrikübersetzungen, die mit dem zugrunde liegenden Vermittlungsanspruch teilweise in Widerspruch stehen. 2.1.3 Lyrikvermittlung in Periodika und Anthologien nach 1945 Nachdem die Herrschaft des NS-Regimes und seine restriktive Literaturpolitik mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen am 8. Mai 1945 zu Ende gegangen waren, manifestierte sich in der deutschen Bevölkerung ein literarischer Nachholbedarf. Als Reaktion auf dieses Bedürfnis sah Friedhelm Kemp 1946 einen merklichen Zuwachs an Übersetzungen voraus: Deuten nicht alle Zeichen der Zeit darauf, daß wir uns, nach einer mehr oder minder völligen und gewaltsamen Abschnürung, auf ein [...] Nachholen vorbereiten und mit diesem auf eine Flut des Übersetzens gefaßt machen müssen? Wir haben vieles aufzuarbeiten, und in dieser eifrigen Herübernahme vollzieht sich ein unserem Wesen gemäßer, durch die Zeitlage legitimierter Prozeß, vorausgesetzt allerdings, daß es nicht bei bloßer Herübernahme bleibt, sondern zugleich eine wirkliche Anverwandlung, Einverleibung und Auseinandersetzung in schöpferischen Antwortleistungen stattfindet.112

(1932) der NRF). In: DLA: A: Kemp. Daraufhin fertigte Kemp eine deutsche Übersetzung dieses Textes an, die 1947 in der Zeitschrift Prisma erschien (André Gide: Goethe als Dramatiker. Deutsch von Friedhelm Kemp. In: Prisma 1 (1947), Heft 7, S. 8–13). 112 Friedhelm Kemp: Vom Übersetzen. In: Deutsche Beiträge 1 (1946/47), S. 147–158, hier S. 152.

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Kemp verknüpft die Notwendigkeit einer breit angelegten Literaturvermittlung mit der Forderung nach einer reflektierten und künstlerisch anspruchsvollen Übersetzungspraxis. Inwieweit die Zeitschriften- und Anthologiebeiträge deutschsprachiger Übersetzer diesen Anforderungen genügen konnten, wird im Folgenden näher zu untersuchen sein. Über das Nachholbedürfnis der Bevölkerung hinaus betont der Schriftsteller Heinrich Böll die produktive Wirkung des Übersetzens auf die deutschsprachigen Autoren und sagt von sich selbst, dass er „oft lieber übersetzte als selbst schrieb: Etwas aus einer fremden ins Gelände der eigenen Sprache hinüberzubringen“ sei „eine Möglichkeit, Grund unter den Füßen zu finden“.113 Offenbar besaß das Übersetzen für manche deutschsprachigen Schriftsteller der Nachkriegszeit auch eine kompensatorische Funktion. Der von Kemp artikulierte Nachholbedarf und die von Böll thematisierte Affinität der Schriftsteller zum Übersetzen kamen den Bestrebungen der Besatzungsmächte nach einer Demokratisierung der deutschen Bevölkerung entgegen.114 Die literaturpolitischen Maßnahmen sahen in den vier Zonen jedoch sehr unterschiedlich aus. In der französischen und der amerikanischen Besatzungszone nahm die Literaturvermittlung als Instrument der Re-Education einen besonderen Stellenwert ein, während die Briten sich am „Prinzip der Nichteinmischung“115 orientierten. Joseph Jurt zitiert in diesem Zusammenhang einen Brief des französischen Außenministeriums an General Koenig, den Chef der französischen Militärregierung, in dem es mit Blick auf die Rolle des Buches bei der Demokratisierung der Deutschen heißt: „Il n’y a pas de meilleure propagande culturelle que celle qui peut se faire par le moyen du livre.“116 Die von der französischen Besatzungsmacht angestrebte Re-Education qua Literaturtransfer war Teil eines Sicherheitskonzeptes, das die Wiederherstellung eines kritischen Bewusstseins in der deutschen Bevölkerung forderte.117 So hieß es in einem offiziellen Schreiben: „[Il faut] restaurer, chez les Allemands, les valeurs fondamentales de la réflexion et de l’esprit critique dans leur sens le plus élevé.“118 113 114 115 116 117

Heinrich Böll: Frankfurter Vorlesungen. München 31974, S. 61. Vgl. Jurt (2008), S. 209 f. Jurt (2008), S. 210. Ebd., S. 218. Bei Rainer Hudemann (1993, S. 241 f.) heißt es dazu: „Zu altüberlieferten Vorstellungen von militärischer Sicherheit und ökonomischer Suprematie kam ein neuer, rasch an Bedeutung gewinnender Aspekt: der Abbau von Aggressions- und Expansionspotentialen in der deutschen Gesellschaft durch eine aktive Demokratisierungspolitik. Demokratisierung war eben nicht eine eigenständige Säule neben der Sicherheitspolitik, sondern sie bildete einen Teil des neuen Sicherheitskonzeptes. Gerade und nur deshalb konnte auch die Kulturpolitik einen so hohen quantitativen Stellenwert innerhalb der französischen Politik erhalten.“ 118 Diese Äußerung zitiert Mombert (1987, S. 233 f.) aus dem Protokoll einer ›Commission chargée d’arrêter les directives de la diffusion du livre français en Allemagne‹ vom 5. August 1947.

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Zu diesem Zweck wurde die Übersetzung und Verbreitung französischer Literatur in großem Stil vorangetrieben, wenn auch in einem streng kontrollierten Rahmen: Für Fragen der Zensur sowie für die Lizenz- und Papiervergabe war die Direktion der Besatzungsmacht verantwortlich.119 Trotz dieser Restriktionen war die Verbreitung der französischen Literatur gegenüber Werken anderer Sprachen in der Nachkriegszeit besonders groß,120 wie Alfred Andersch in einem Beitrag aus dem Jahr 1951 betont: Besonderer Erfolg der Franzosen. Die gesamte neue französische Literatur von Sartre bis Bernanos kommt in Deutschland heraus, die großen Alten wie Gide, Claudel, Bloy werden gleichfalls neu aufgelegt und abgesetzt. Periodenweise beherrscht die französische Dramatik mit Sartre, Anouilh, Salacrou, Camus, Pagnol das Theater […]. Die Amerikaner stehen erst an zweiter Stelle, was den literarischen Einfluss auf die deutsche Jugend angeht.121

In den ersten Nachkriegsjahren sind viele Zeitschriften gegründet worden, die den Literatur- und insbesondere den Lyriktransfer in entscheidendem Maße befördert haben. Anhand des Vorworts der 1947 von Carl August Weber in der amerikanischen Besatzungszone herausgegebenen Textsammlung Dichtung der Gegenwart: Frankreich lässt sich der zugrunde liegende Vermittlungsgedanke dieser Publikationen exemplarisch erfassen. Dort heißt es: Den deutschen Leser, der sich erst zaghaft wieder der internationalen Diskussion nähert, mag manche Fragestellung und manche formale Lösung fremdartig und un-

119 Mombert (1987, S. 229) führt in diesem Zusammenhang die Dienststellen des Bureau Édition, der Production industrielle sowie der Direction de l’Éducation Publique (DEP) an. 120 Joseph Jurt (2008, S. 220) nennt eine 1949 in der Zeitschrift Das Buch veröffentlichte Liste, in der für die Zeit ab 1945 knapp 700 französische Werke in deutscher Übersetzung aufgeführt sind. Im Vorwort heißt es, der große Umfang an Übersetzungen sei „umso verwunderlicher, als in dieser Zeit sich den Verlegern durch Papier- und Materialknappheit ungeheure Schwierigkeiten entgegenstellten, während der Lesehunger nach langen Jahren der Abgeschlossenheit von der Außenwelt äußerst rege war“. – Hans Mayer hingegen hat die intensive Übersetzungsförderung in den Besatzungszonen kritisch bewertet: „Die Literatur in den drei westlichen Besatzungszonen war in ihrer Entwicklung beeinträchtigt [...], nicht zuletzt durch die divergierenden Konzepte der drei westlichen Besatzungsmächte. Diese, erfüllt von der Vision der Reeducation, versuchten, die Umerziehung einer ehemals potenten, nun aber abgesunkenen Kulturnation dadurch zu praktizieren, dass man möglichst viel aus dem eigenen Vorrat anbot und zur Nachahmung empfahl. Das war eine große Zeit für amerikanische [und] französische Schriftsteller; nunmehr mit Unterstützung der Besatzungsmacht, was oft hinauslief auf private Vorlieben irgendeines Kulturoffiziers, ins Deutsche übersetzt und von der deutschen lizenzierten Presse gerühmt zu werden. Haften blieb nicht viel. Denn Sartre, Camus, Hemingway und Faulkner hätte man in Deutschland auch sonst entdeckt, doch manches Papier von dem raren Kontingent hätte für den Druck deutscher Autoren verwendet werden können.“ In: Hans Mayer: Stationen der deutschen Literatur – Die Schriftsteller und die Restauration, die zwei Deutschlands und die Konvergenz: In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Juni 1979. Beilage Bilder und Zeiten, o. S. 121 Alfred Andersch: Jugend am Schmelzpott einer Kultur. In: Aussprache 1 (1951), S. 7–13, hier 7–8.

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gewohnt anmuten. Er wird sich inhaltlich bewußt werden müssen, daß Frankreich weiter über Themen sprach, über die Deutschland zwölf Jahre lang schwieg.122

Der Herausgeber ermuntert die Leser, ihre Scheu vor der großenteils noch unbekannten Literatur des Nachbarlands zu überwinden und die „Erkenntnisse und Werte der französischen Dichtung in [ihr] Weltbild einzubeziehen“.123 Folgt direkt auf dieses Vorwort der Aufsatz Die französische Sprache im Dienste des Friedens von Jean Schlumberger, so offenbart sich ein doppelter Impetus der literarischen Transferleistung: Mit Blick auf das Fernziel der Völkerverständigung und der langfristigen Friedensstiftung sollte den deutschen Lesern ein erneuter Anschluss an die Strömungen der europäischen Geistesgeschichte ermöglicht werden. Im Feuilleton des Tagesspiegels stieß der kulturpolitische Impetus von Webers Textsammlung auf ein sehr positives Echo. Der Rezensent Hellmut Jaesrich hob die Qualität der Übersetzungen hervor, die, „meistens von der Hand Friedhelm Kemps oder des Herausgebers, gerade geeignet [seien], ein unvorgebildetes Publikum anzulocken“.124 Neben der Präsentation französischer Lyrik, die Kemp seit 1946 im Rahmen verschiedener Publikationen betrieb, stehen seine Beiträge zur Kontextualisierung und Interpretation französischer Gedichte: Die Lyrik des Nachbarlands sollte dem deutschsprachigen Publikum nicht nur zugänglich, sondern auch verständlich gemacht werden. Eine erste Quintessenz seiner Auseinandersetzung mit den durch Louis Emié vermittelten Gedichten findet sich in Kemps Essay Die französische Lyrik seit dem Ersten Weltkrieg. Versuch einer Überschau, der 1949 in der

122 Carl August Weber (Hrsg.): Vorwort. In: Dichtung der Gegenwart: Frankreich. München 1947, S. 5–6, hier S. 6. 123 Ebd. 124 Hellmut Jaesrich: Anthologie der Lebenden [Rezension zu Dichtung der Gegenwart: Frankreich]. In: Tagesspiegel vom 1. Juni 1947. Beilage Das neue Buch, S. 2. Nicht nur die deutsche Feuilletonkritik hat positiv auf Kemps Vermittlertätigkeit reagiert. Auch von französischen Lesern mit deutschen Sprachkenntnissen kamen anerkennende Rückmeldungen, wie Emié in seinem Brief vom 10. April 1947 mit Bezug auf Kemps Übersetzung seines Gedichtes Je t’avais donné ma lumière berichtet, das in der Zeitschrift Karussel unter dem Titel Mein Licht, das du von mir empfangen veröffentlicht worden war. Vgl. Louis Emié: Mein Licht, das du von mir empfangen. Deutsch von Friedhelm Kemp. In: Das Karussel 2 (1947) Heft 16, S. 22–25. Bei Emié heißt es: „Mon cher Friedhelm, […] j’ai été excessivement touché par votre traduction du poème liminaire de L’Etat de Grâce. Mais, vous le savez, je n’entends pas un mot de votre langue; aussi me pardonnerez-vous d’avoir immédiatement communiqué votre traduction à mon amie Yanette [Delétang-Tardif, A. S.] […]. [V]oici ce qu’elle m’écrit à son sujet: ›J’ai regardé mot à mot la traduction de K. […]. Cela m’a l’air excellent. Il est arrivé à garder le rythme de votre poème et, ce qui est extraordinaire, sa transparence si je peux dire, latine. L’immense vocabulaire de la langue allemande offre des possibilités sans fin pour la rime, par exemple […]. Enfin, quoiqu’il y ait une assez grande liberté dans le jeu de la transposition, il me semble que rien de votre mouvement intérieur n’ait été trahi.‹“ [Hervorhebung original] In: DLA: A: Kemp.

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Zeitschrift Hochland erschien. Hier verknüpft sich die Tätigkeit des Übersetzers mit der des Literaturwissenschaftlers und Kritikers.125 Auch in Organen wie Das Forum126 und Der Ruf 127 wurde ausländische Literatur vorgestellt. Die 1946 gegründete Zeitschrift Das goldene Tor vertrat explizit eine internationale Perspektive, wie im Geleitwort des Herausgebers Alfred Döblin deutlich wird: „Daß wir das Fenster nach dem Ausland weit öffnen, versteht sich von selbst. Man lebt weder in der Gesellschaft noch unter Völkern allein: für die Deutschen, die mehr übersetzten als andere, keine Neuigkeit.“128 Ein besonders prominentes Organ der Lyrikvermittlung in der französischen Besatzungszone, das exemplarisch erläutert werden soll, war die Zeitschrift Lancelot. Der Bote aus Frankreich. Von Jacqueline Grappin129 im April 1946 in privater Initiative in BadenBaden begründet,130 versteht sich Lancelot als Reaktion auf den Umstand, dass die deutsche Bevölkerung der französischen Besatzungszone keine aus Frankreich stammenden Presseorgane oder Bücher kaufen oder beziehen konnte und auch in der Reisefreiheit extrem eingeschränkt war, wie François Labbé ausführt: „[Jusqu’en] 1949 les frontières de la France sont fermées aux citoyens allemands; il est impossible d’acheter ou de recevoir des journaux, des revues ou des livres français.“131 Über einen Zeitraum

125 Friedhelm Kemp: Die französische Lyrik seit dem Ersten Weltkrieg. Versuch einer Überschau. In: Hochland 42 (1949/50), Heft 3, S. 139–153; 261–275. 126 Im Heft 4 (1947) der Zeitschrift Das Forum sind unter dem Titel Die goldene Brücke Lyrikübersetzungen aus sieben Sprachen versammelt, darunter auch mehrere Übersetzungen von Friedhelm Kemp und Georg Schneider. 127 In der Zeitung Der Ruf wurde zwar viel über ausländische Literatur berichtet, übersetzte Gedichte wurden jedoch relativ selten abgedruckt. 128 In: Alfred Döblin: Geleitwort. In: Das goldene Tor 1 (1946), S. 3–6, hier S. 6. Im ersten Heft (1946) des Goldenen Tors finden sich Gedichte von Charles Baudelaire (übersetzt von F. Kemp); im zweiten Heft von Jean Cassou (übersetzt von Helena Strassova). In Heft 8/9 (1947) sind Stéphane Mallarmés Gedichte L’azur, Soupir und Don du Poème (übersetzt von W. Kiechler) vertreten. Auch in Jean Paul Samsons Aufsatz Französische Literatur (Heft 1/1947) spielt die Gattung Lyrik eine wichtige Rolle. 129 Jacqueline Grappin war damals mit dem Germanisten Pierre Grappin (1915–1977) verheiratet, der u. a. von Juli 1945 bis Mai 1946 als Chargé de Mission (Referent) bei der Zentralverwaltung der ZOF in Baden-Baden fungierte sowie von Mai 1946 bis März 1947 als Mitarbeiter von General Koenig beim Kontrollrat der Alliierten in Berlin. Siehe: Internationales Germanistenlexikon: 1800–1950, Bd. 3. Hrsg. von Christoph König und Birgit Wägenbaur. Berlin/New York 2003, S. 598–599. 130 Wackenheim (1987, S. 389) hat aufgezeigt, dass Jacqueline Grappin infolge der kritischen Haltung einiger Kulturoffiziere und Journalisten zum Lancelot ihren Arbeitsplatz erst nach Koblenz und später nach Neuwied verlegt hat. 131 Labbé (1984), S. 87. Auch Alfred Grosser betont, dass zur Zeit der französischen Besatzung „die Bewohner von Mainz oder Freiburg [...] keine Möglichkeit hatten, eine französische Zeitung zu kaufen“. In: Alfred Grosser: Geschichte Deutschlands seit 1945. Eine Bilanz. München 1974, S. 83 f. Ebenso Vincent Wackenheim (1987, S. 389).

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von fünf Jahren in 32 Ausgaben erschienen,132 machte Lancelot den deutschen Lesern Beiträge aus dreißig verschiedenen französischen Presseorganen wie Cahiers du Sud, Europe, La Gazette des Lettres, Les Lettres françaises und Nouvelles littéraires zugänglich und legte damit einen Grundstein für die literarisch-kulturelle Verständigung zwischen Franzosen und Deutschen nach dem Krieg.133 Dass die erste Ausgabe in einer Auflage von etwa 95 000 Exemplaren in allen vier Besatzungszonen erscheinen konnte,134 ermöglichte die Unterstützung General Koenigs, der nicht nur die Druckerlaubnis erteilte, sondern auch bei der Beschaffung von Papier behilflich war.135 Die Zeitschrift Lancelot ist jedoch nicht allein aufgrund ihres Status als einer von der französischen Besatzungsmacht geförderten Privatinitiative bemerkenswert.136 Sie erweist sich zudem als Kreuzungspunkt für Literaten und Literaturvermittler verschiedenster Couleur, die in einem je unterschiedlichen Verhältnis zum NS-Regime gestanden hatten. Neben einem Übersetzer wie Friedhelm Kemp, der bereits als Wehrmachtssoldat in privater Initiative französische Lyrik übersetzt hatte, zählte in der Anfangszeit mit Gerhard Heller auch ein ehemaliges Mitglied der Propaganda-Staffel in Paris zu den Mitarbeitern von Jacqueline Grappin.137 Er war gemeinsam mit Hans Paeschke, der später die Zeitschrift Merkur gründete, 132 133 134 135

Labbé (1984), S. 90. Oster (2008), S. 235, Anm. 12. Labbé (1984), S. 91; Oster (2008), S. 236. Oster (2008), S. 236. In einem Zeitschriftenbeitrag von Jacqueline Grappin heißt es: „Le fait que ›Lancelot‹ soit toléré et protégé prouve d’ailleurs assez que certains Français de làbas, par leur patrimoine et leur intelligence, ont compris l’importance du rôle qui leur incombe. [...] Ils ont compris qu’il n’y a pas deux façons de servir la France et la paix aux yeux du monde, même en Allemagne.“ Jacqueline Grappin: ›Lancelot‹, le messager français en Allemagne. In: Lettres Françaises. Grand hebdomadaire littéraire, artistique, politique vom 8. November 1946, S. 5. 136 Jurt (2008), S. 219, Anm. 98. 137 Gerhard Heller hatte sich laut Hausmann (2004, S. 153) bereits zum Jahreswechsel 1945/1946 im französisch besetzten Baden-Baden niedergelassen. Patricia Oster (2008, S. 236, Anm. 17) hat Hellers Behauptung widerlegt, der zufolge die Idee zur Gründung der Zeitschrift seine eigene gewesen sei. In Hellers Erinnerungen heißt es: „J’envisageais donc avec un éditeur de Constance de créer une revue, pour publier des textes français traduits en allemand. Il nous fallait, évidemment, l’autorisation des services d’Occupation. Je les ai contactés fin 1945. Mon projet leur plut, mais ils le reprirent à leur compte: éditant eux-mêmes une telle revue, ils m’en proposèrent la direction. J’ai donc, pendant deux ans, animé cette revue qui s’appelait ›Lancelot, le messager de France‹. Nous avons eu un assez grand succès auprès de tout un public, d’autant plus affamé que la littérature allemande elle-même renaissait lentement de ses cendres.“ In: Gerhard Heller: Un Allemand à Paris 1940–1944. Avec le concours de Jean Grand. Paris 1981, S. 191. Friedhelm Kemp zufolge war Gerhard Heller während des Krieges sowohl mit dem faschistisch gesinnten Autor Drieu La Rochelle als auch mit dem in der Résistance engagierten Autor und Publizisten Jean Paulhan befreundet. In: Friedhelm Kemp: Lebenserinnerungen 1914 bis 1945, S. 142.

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für Fragen der Übersetzung sowie für die Herstellung und den Vertrieb der Zeitschrift zuständig, nicht jedoch für die Textauswahl, die Jacqueline Grappin vorbehalten war.138 Der spiritus rector des Lancelot wiederum, Louis Aragon, entstammte der französischen Résistance. Diese heterogenen biographischen Hintergründe der Mitarbeiter und Förderer des Lancelot zeugen von den ambivalenten Mechanismen des Literaturbetriebs in den Besatzungszonen. Über die pazifistisch-humanistische Zielsetzung der Zeitschrift Lancelot, die der deutschen Bevölkerung mittels literarischer und politischer Beiträge den Wiederanschluss an die Tradition der europäischen Geistesgeschichte ermöglichen sollte, heißt es in einem Kommentar von Louis Aragon: ›Lancelot‹, dans l’Allemagne désarçonnée et mystérieuse de la défaite, [...] a devant lui une tâche immense [...]. [C]’est dans chaque allemand qu’il s’agit, avec acharnement, avec patience, d’aller réveiller l’homme, l’être humain. À ce point de la conscience, où ne parviennent ni la contrainte des lois, ni la force armée: mais la poésie, la pensée, l’expression des sentiments.139

Die Wiederbelebung humanistischer Werte in der deutschen Bevölkerung durch die Verbreitung lyrischer und philosophischer Werke steht Aragon zufolge im Zentrum des Lancelot. In seinen eigenen Versen, die als Motto auf dem Titelblatt der Zeitschrift fungieren, verknüpft sich dieses Bekenntnis zur Menschlichkeit mit einer grundsätzlichen Absage an Krieg und Gewalt: La terre accouchera d’un soleil sans batailles. Il faut que la guerre s’en aille. Mais seulement que l’homme en sorte triomphant.140

Aragons Verse entfalten ihre Programmatik im Zusammenspiel mit den Charakteristika des titelgebenden Lancelot, der als Ritter von König Artus’ Tafelrunde zum gemeinsamen kulturellen Gedächtnis von Deutschen und Franzosen gehört. In diesem Sinne soll die Figur des Lancelot, wie Patricia Oster betont, die beiden Völker an ihre Wurzeln erinnern, die in der „Vorstellung mittelalterlicher höfischer Ideale“141 wie Treue, Friedfertigkeit und Hingabe liegen.142 In der Vignette auf dem Deckblatt der Zeit138 Labbé (1984), S. 88. 139 Louis Aragon: Kommentar zu Lancelot in der Chronique du Comité national des écrivains. In: L’Ordre. Édité par Emile Buré. Nr. 407 (1946). Zitiert bei Wackenheim (1987, S. 394 f., Anm. 12) und Oster (2008, S. 238). 140 In deutscher Fassung (ohne Angabe des Übersetzers) steht das Motto auf der Innenseite des Deckblattes: „Die Erde wird eine Sonne ohne Schlachten entbinden / Der Krieg muß uns endlich entschwinden / Wenn aus ihm nur der Mensch sieghaft aufersteht.“ 141 Oster (2008), S. 237. 142 Ein die Programmatik der Zeitschrift erläuterndes Vorwort gibt es im Lancelot nicht.

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schrift wird Lancelot nicht als Kämpfender dargestellt, sondern als berittener Bote im Dienste der Verständigung, der statt eines Schwertes einen großen Schlüssel in der Hand hält.143 Verweist der Schlüssel auf eine kommunikative ›Öffnung‹ zwischen Deutschen und Franzosen, so betont das Motiv des Pferdes, das über einen tiefen Abgrund zu springen scheint, den Impetus zur Überwindung bestehender Differenzen zwischen den Völkern. Patricia Oster bezeichnet das ethische Selbstverständnis des Lancelot, das sich in den inhaltlichen und gestalterischen Elementen der Zeitschrift artikuliert, als einen „ritterlichen ›pacte de générosité‹“.144 Das Bestreben des Lancelot, an die verschütteten humanistischen Werte der deutschen Bevölkerung anzuknüpfen, steht, wie Patricia Oster aufgezeigt hat, in diametralem Gegensatz zum Selbstverständnis einer anderen prominenten Zeitschrift der Nachkriegszeit mit dem Titel Die Wandlung.145 Hier werden, wie im Namen des Organs angelegt, angesichts der ideologischen Indoktrinierung der Deutschen unter der NS-Herrschaft ein radikaler Bruch und ein grundlegender gesellschaftlicher Neuanfang gefordert. Ungleich pessimistischer als die Aussagen aus dem Umfeld des Lancelot nimmt sich folglich auch die Perspektive des Philosophen Karl Jaspers aus, der im Geleitwort zur ersten Ausgabe der Wandlung im November 1945 bei den Deutschen nicht nur einen Mangel an bindenden Werten und moralischen Grundsätzen, sondern auch den vollständigen Verlust des kulturellen „Erinnerungsbesitzes“ konstatiert.146 Auf die Wiederbelebung historisch tradierter Erinnerungen zielt aber gerade die Figur des Lancelot.147 Die opponierenden Programme der beiden Zeitschriftenprojekte Lancelot und Die Wandlung offenbaren die kontroversen und zum Teil unvereinbaren Vorstellungen darüber, welche Art der kulturpolitischen Neuorientierung im Nachkriegsdeutschland angemessen sei. Das heißt jedoch nicht, dass die (französisch-deutsche) Lyrikübersetzung in der Wandlung keine Rolle ge-

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Oster (2008), S. 237 Oster (2008), S. 234. Vgl. hierzu Oster (2008). Im Zusammenhang heißt es bei Karl Jaspers: „Wir haben fast alles verloren: Staat, Wirtschaft, die gesicherten Bedingungen unseres physischen Daseins, und schlimmer noch als das: die gültigen, uns alle verbindenden Normen, die moralische Würde, das einigende Selbstbewußtsein als Volk. […] Haben wir wirklich alles verloren? Nein, wir Überlebenden sind noch da. Wohl haben wir keinen Besitz, auf dem wir ausruhen können, auch keinen Erinnerungsbesitz; wohl sind wir preisgegeben im Äußersten; doch daß wir am Leben sind, soll einen Sinn haben. Vor dem Nichts raffen wir uns auf.“ In: Karl Jaspers: Geleitwort. In: Die Wandlung. Eine Monatsschrift 1 (1945/46), S. 3–6, hier S. 3. Wieder abgedruckt in: Karl Jaspers: Geleitwort für die Zeitschrift Die Wandlung. In: Hoffnung und Sorge: Schriften zur deutschen Politik 1945–1965. München 1965, S. 27–30, hier S. 27. 147 Oster (2008), S. 231–248, hier bes. S. 244–246.

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spielt habe: Im sechsten Heft der Wandlung von 1946 finden sich beispielsweise zwei von Friedhelm Kemp übersetzte Gedichte Jules Supervielles.148 In der Lyrikvermittlung stützt sich das Demokratisierungsbestreben des Lancelot auch auf die Übersetzung von Résistance-Gedichten von Paul Eluard, Louis Aragon, Pierre Émmanuel und Robert Desnos.149 Die Lektüre dieser Texte war nach Auffassung vieler Franzosen auch für die deutsche Bevölkerung geeignet, denn diese thematisierten, wie es in einem Zeitschriftenbeitrag hieß, nicht nur une révolte contre l’oppression momentanée de notre pays par le fascisme allemand, mais [aussi une révolte] contre toute forme d’oppression politique […]. À la lumière de cette idée les poèmes de la Résistance française semblaient aussi valables pour un public allemand que pour un public français.150

Die Verbreitung von Résistance-Lyrik in Deutschland wurde jedoch nicht von allen französischen Intellektuellen begrüßt. Einige von ihnen fürchteten, dass eine allzu intensive Beschäftigung mit dem Werk französischer Widerstandskämpfer die deutsche Bevölkerung ihrerseits anstacheln könnte, gegen die Besatzungsmacht aufzubegehren.151 Trotz dieser kritischen Stimmen nahmen die Gedichte der Résistance und die Lyrik insgesamt einen herausgehobenen Part im Lancelot ein. In nahezu jeder Ausgabe wurden französische Gedichte aus verschiedenen Epochen in zweisprachiger Fassung abgedruckt: Angefangen bei den Troubadouren Guiraut de Borneil und Marcabru, über Autoren des 19. Jahrhunderts wie Marceline Desbordes-Valmore bis zu Lyrikern des 20. Jahrhunderts wie Louis Aragon, Jean Cayrol, Paul Eluard, Pierre Émmanuel, Eugène Guillevic, Charles Péguy und Jules Supervielle wurde dem Lesepublikum ein breites Spektrum französischer Literatur präsentiert. Um die Rezeption zu erleichtern und bestimmte ästhetische Aspekte zur Geltung zu bringen, waren die Übersetzungen oft von Vorworten begleitet, die die Gedichte in den Kontext der französischen Literaturgeschichte einordneten. Zu den Übersetzern des Lancelot, die nicht immer namentlich genannt werden, 148 Zweisprachig abgedruckt wurden Supervielles Gedichte Puisque nos battements ... und Pointe de Flamme. In der Wandlung sind außerdem Übersetzungen lyrischer Texte von Arthur Rimbaud (Les Effarés – Die Verzückten; Bateau Ivre – Trunkenes Schiff, Heft 4/1946 bzw. 11/1946), La Fontaine (Drei Fabeln, Heft 6/1946) und Guy de Maupassant (Les oies sauvages – Die Wildgänse, Heft 4/1948) erschienen. 149 Zur Rolle der Résistance-Lyrik im Lancelot vgl. Oster (2008), S. 241–242. 150 La Quinzaine culturelle de Constance. In: La France en Allemagne. Nr. 1 (Juli 1946), S. 20, o. Verf. Vgl. Wackenheim (1987), S. 392. 151 Vgl. den Beitrag von Jacqueline Grappin, in dem sie einen französischen Journalisten zitiert: „Je me demande quel but poursuivent ceux qui publient en zone française d’occupation en Allemagne une revue qui a pour dessein de montrer aux Allemands ce qu’a été la résistance française.“ Jacqueline Grappin: ›Lancelot‹, le messager français en Allemagne. In: Lettres Françaises. Grand hebdomadaire littéraire, artistique, politique. Nr. 133, 8. November 1946, S. 5.

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zählen neben Friedhelm Kemp auch Friedrich Hagen, Hans Paeschke, Lore Kornell und Franz von Rexroth. Die literarische Qualität ihrer Gedichtübersetzungen ist jedoch nicht unumstritten. Während Louis Aragon sich positiv zu Hans Paeschkes Übersetzung seines Gedichtes Cantique à Elsa152 geäußert hat,153 sieht François Labbé die Fassungen französischer Lyrik im Lancelot aus der zeitlichen Distanz heraus eher kritisch: [Les] traductions sont assez archaïques dans leur forme: tournures de phrase démodées, inversions déroutantes et forcées, primauté accordée à la rime, emploi des temps inhabituel et vieillot ... Heureusement les poèmes sont publiés dans les deux langues, mais ›Lancelot‹ n’était pas uniquement destiné aux romanistes ...154

Inwieweit tatsächlich eine Diskrepanz zwischen dem Vermittlungsanspruch der Übersetzungen und ihrer literarästhetischen Angemessenheit bestanden hat, wird exemplarisch anhand von Friedhelm Kemps Übersetzungen aus dem lyrischen Werk von Jules Supervielle (Kapitel 2.2) nachzuvollziehen sein, die 1946 mit einem Vorwort von Louis Aragon im Lancelot veröffentlicht worden sind.155 Neben den Zeitschriften spielten bei der Verbreitung französischer Lyrik auch die meist zweisprachigen Anthologien eine bedeutsame Rolle.156 François Labbés oben zitierte kritische Beobachtungen zu den Lyrikübersetzungen aus der Zeitschrift Lancelot lassen sich auch auf einen Großteil der Anthologiebeiträge beziehen. Denn hier stehen ausschmückende und konventionalisierende Wendungen neben altertümlichen Ausdrücken und erzwungenen Reimpaaren. Diese Lyrikanthologien vollzogen neben den Zeitschriften den ersten Schritt im Vermittlungsprozess und boten den deutschen Lesern seit 1946 einen epochenübergreifenden Querschnitt französischer Lyrik, zu der die Verbindung zwölf Jahre lang stark eingeschränkt war. Einzig in der politisch neutralen Schweiz konnten auch während des Krieges einzelne Sammlungen französischer Lyrik in deutscher Übersetzung erscheinen. Dort kamen 1944 gleich drei Anthologien auf den Markt, deren Titel wie folgt lauten: Nachdichtungen französischer 152 Louis Aragon: Cantique à Elsa (Preislied auf Elsa). Übersetzung von Hans Paeschke. In: Lancelot. Der Bote aus Frankreich. Heft 1 (1946), S. 36–59. 153 Bei Aragon heißt es: „La qualité des traductions, pour autant que je puisse juger par celle du ›Cantique à Elsa‹ (un défi et une réussite) y est tout à fait exceptionnelle. C’est un document de premier ordre pour la connaissance de la France, non pas un morceau d’agitation, mais un temoignage de la force intellectuelle de notre pays.“ In: Kommentar zu Lancelot in der Chronique du Comité national des écrivains. In: L’Ordre. Édité par Emile Buré. Nr. 407 (1946). Vgl. Wackenheim (1987), S. 394. 154 Labbé (1984), S. 97. 155 Jules Supervielle: Gedichte. Übertragen von Friedhelm Kemp. In: Lancelot. Der Bote aus Frankreich. Heft 3 (1946), S. 36–47. 156 Zu französisch-deutschen und deutsch-französischen Gedichtanthologien von 1943 bis 1945 vgl. Hausmann (2009b).

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Lyrik 157, Neues französisches Heldenlied 158 und Frankreich erwacht 159. Die erstgenannte, vom Schweizer Schriftsteller Hans Kaeslin herausgegebene Textsammlung basiert auf einer von Emil Staiger getroffenen Auswahl von Ronsard bis Verhaeren. In Kaeslins Übersetzungen, die großenteils in einem poetisierenden und altertümelnden Duktus gehalten sind, laufen die deutschen Reimpaarbildungen mitunter Gefahr, den Ausgangstext zu verzerren, wie in der deutschen Fassung von Emile Verhaerens Gedicht Le vent. Die erste Strophe des Originals lautet: Sur la bruyère longue infiniment, Voici le vent cornant Novembre; Sur la bruyère, infiniment, Voici le vent Qui se déchire et se démembre, En souffles lourds, battant les bourgs; Voici le vent, Le vent sauvage de Novembre.160

In Kaeslins Fassung heißt es: Auf der gedehnten öden Heide hornt November, Auf gedehnter öder Heide. Der Wind brach los, Ein Wind wie Messers Schneide. Er reißt sich wütend selbst in Stücke. Durch die verstreuten Weiler braust Er hin Und saust Und bohrt sich pfeifend in des Strohdachs Lücke.161

[Hervorhebung A. S.]

157 Hans Kaeslin: Nachdichtungen französischer Lyrik. Zürich 1944. Es handelt sich um einen Privatdruck der Vereinigung Oltner Bücherfreunde in einer Auflage von 500 Exemplaren. 158 Nouvelle poésie épique de la France – Neues französisches Heldenlied. Proben aus der Lyrik der französischen Widerstandsbewegung. In französischen Originalen von Jacques Destaing, Maurice Hervent, Paul Vaille, Louis Maste und anonymen Dichtern sowie in deutschen Nachdichtungen von Hans Mühlestein. Zürich/Genf [1944]. Dieser Band ist im Verlag der Partei der Arbeiter erschienen. In der Bibliographie Anthologien mit französischen Dichtungen (2002) wird eine andere (gekürzte?) Ausgabe von Mühlesteins Anthologie aus dem Jahr 1946 genannt (S. 15), die in Singen/Hohentwiel in einem Umfang von 45 statt 51 Seiten bei der Oberbadischen Druckerei und Verlagsanstalt erschienen ist. 159 Frankreich erwacht. Französische Zeitgedichte übertragen von Hans Urs von Balthasar. Luzern 1944. 160 Emile Verhaeren: Le vent. In: Poésie complète 4: Les villages illusoires. Les Apparus dans mes chemins. Édition critique établie par Michel Otten et présentée par Christian Angelet. Lüttich 2005, S. 125–129, hier S. 125. 161 Emile Verhaeren: Der Wind. In: Kaeslin: Nachdichtungen französischer Lyrik, S. 48–50, hier S. 48.

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Der Übersetzer spielt in der deutschen Fassung auf die Redensart „etwas steht auf Messers Schneide“ an, die zwar das benötigte Reimwort liefert („Heide“/„Schneide“), inhaltlich jedoch nicht zum gegebenen Kontext passt. Um den Zwängen des Reimschemas zu entsprechen, wird der Ausgangstext konventionalisiert.162 Abgesehen von vergleichbaren stilistischen Inkongruenzen erweist sich Kaeslins Übersetzungspublikation aufgrund der zeithistorischen Umstände als bedeutsam, stellt sie doch eine der wenigen deutschsprachigen Anthologien französischer Dichtung dar, die während des Zweiten Weltkriegs in privater Initiative publiziert worden sind.163 Die zweite Anthologie mit dem Titel Nouvelle poésie épique – Neues französisches Heldenlied hat der Schriftsteller und Historiker Hans Mühlestein in eigener Übersetzung im Zürcher Verlag der Partei der Arbeiter herausgebracht. Seine Proben der Lyrik der französischen Widerstandsbewegung umfassen sowohl Gedichte von Louis Aragon (unter seinem Pseudonym Jacques Destaing) als auch von Autoren wie Maurice Hervent, Paul Vaille, Louis Maste und von anonymen Verfassern. Wie sehr sich diese Übersetzungspublikation als Zeitzeugnis versteht, lässt sich an einem Detail von Mühlesteins Fassung der den Gedichten vorangestellten Dédicace à la France ablesen. Diese Widmung stammt von einem „Poète anonyme, en 1943 éditeur de l’ouvrage illégal ›Le Musée Grevin‹“, d. h. von Louis Aragon, der hier wie so oft anonym publiziert. Sie lautet: Je vous salue, ma France, où le peuple est habile A ces travaux qui font les jours émerveillés Et que l’on vient de loin saluer dans sa ville Paris, mon cœur, trois ans vainement fusillé!164

In Mühlesteins ›Nachdichtung‹ aus dem Jahr 1944 wird der Bezug auf die Okkupation von Paris durch die Nationalsozialisten, die zum Entstehungszeitpunkt der Widmung seit drei Jahren andauerte, aktualisiert und auf vier Jahre heraufgesetzt: Sei mir gegrüsst, mein Frankreich! Dein emsiges Volk ist am Werke, Und schafft Tage des Glanzes. Von fernher kommt alles geschart, Dich zu grüssen, zu grüssen Paris, das blutende Herz deiner Stärke, Mein Herz, das vier Jahre hindurch vergeblich gemordet ward.165 162 Manche Reimpaare aus Kaeslins Übersetzungen wirken fast unfreiwillig komisch, so z. B. in den Anfangsversen der deutschen Fassung von André Cheniers Sternenflug, in denen es heißt: „O schöne Sommernacht, da Licht und Schatten / Sich, leise ineinanderspielend, gatten.“ 163 Vgl. die Bibliographie Anthologien mit französischen Dichtungen (2002), Einleitung, S. X; XIV. 164 Louis Aragon: Dédicace à la France. In: Mühlestein: Nouvelle poésie épique – Neues französisches Heldenlied, S. 6. 165 Ebd., S. 7.

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Anstatt die französische Widmung als solche zu übersetzen, behandelt Hans Mühlestein sie wie ein Nachrichtenmedium, das über aktuelle politische Entwicklungen in Frankreich Auskunft gibt. In der zweisprachigen Gegenüberstellung von Original und Übersetzung wird damit die Geschichte der seit 1940 besetzten und 1944 befreiten Stadt Paris für den Leser ein Stück weit erfahrbar.166 Neben den genannten Anthologien von Kaeslin und Mühlestein hätte im Jahr 1944 noch ein weiteres Übersetzungsprojekt mit französischer Lyrik realisiert werden sollen, das von Karl Epting, dem Direktor des Deutschen Instituts in Paris (1940–44), bei René Lasne und Georg Rabuse in Auftrag gegeben worden war.167 Neben dem in der Provence als Wachmann eingesetzten Lyriker Georg Schneider168 hätten auch die Besatzungssoldaten Helmut Bartuschek, Gerhart Haug, Kurt Reidemeister, Wolf von Niebelschütz und Franz von Rexroth Übersetzungen beisteuern sollen.169 Vorbild für diese Publikation war die bereits 1943 bei den Éditions Stock erschienene, zweisprachige Anthologie de la poésie allemande des origines à nos jours, ebenfalls von René Lasne und Georg Rabuse herausgegeben.170 Da die geplante Textsammlung jedoch nach der Befreiung Frankreichs und der darauffolgenden Schließung des Deutschen Instituts im August 1944 nicht abgeschlossen werden konnte, veröffentlichten die genannten Übersetzer in der Nachkriegszeit eigene Sammlungen französischer Lyrik.171 Als erster erschien der von Franz von Rexroth in Saarbrücken herausgegebene zweisprachige Band Französische Lyrik aus acht Jahrhunderten (1946).172 Das Phänomen des Reimzwangs tritt bei Rexroth im Zusammenhang mit Inversionen auf, die das Verständnis des Ausgangstexts er166 Im Rahmen einer Rezension zu Hans Urs von Balthasars Anthologie Frankreich erwacht in der Schweizer Rundschau wird die Publikation von Hans Mühlestein aufgrund ihrer Zweisprachigkeit lobend hervorgehoben. In: Emil Lerch: Rezension zu Frankreich erwacht. In: Schweizer Rundschau. Monatsschrift für Geistesleben und Kultur. Heft 6 (1945), S. 472–474, hier S. 473. 167 Vgl. Hausmann (2009b), S. 196–202. Zum literarischen Leben in Frankreich unter der deutschen Besatzung vgl. R. O. Paxton, O. Corpet, C. Paulhan: Archives de la vie littéraire sous l’occupation. À travers le désastre. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Hôtel de Ville von Paris (Mai–Juli 2011). Paris 2011. 168 Zu Georg Schneiders übersetzerischer und schriftstellerischer Tätigkeit siehe Hausmann (2009a), S. 85–93. 169 Hausmann (2009b), S. 195 f. 170 Vgl. dazu Hausmann (2009b), S. 191. 171 Hausmann (2009b), S. 195–199. Vgl. auch: Arthur Rimbaud: Illuminationen. Mit einem Vorwort von Paul Verlaine. Übertragen und hrsg. von Gerhart Haug. Hamburg 1947. Sowie: Mallarmé – Dichtungen. In Auswahl übersetzt und hrsg. von Kurt Reidemeister. Krefeld 1948. 172 Französische Lyrik aus acht Jahrhunderten. Französisch-deutsch. Hrsg. von Franz von Rexroth. Saarbrücken 1946. Neben eigenen Übersetzungen hat Franz von Rexroth auch ältere Übersetzungen aufgenommen, die u. a. von Stefan George und Rainer Maria Rilke stammen. Vgl. Franz von Rexroth (Hrsg.): Vorwort. In: Ders.: Französische Lyrik aus acht Jahrhunderten, S. 5.

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schweren, wie in der Fassung von Paul Valérys Gedicht Le bois amical (Der Freundschaftswald). In der zweiten Strophe heißt es dort: „Nous marchions comme des fiancés / Seuls, dans la nuit verte des prairies; / Nous partagions ce fruit des féeries / La lune, amicale aux insensés.“173 Der letzte Vers wird bei Rexroth wie folgt wiedergegeben: „Wie Verlobte gingen wir dahin / Einsam in der grünen Nacht der Wiesen, / Frucht der Zauberspiele zu genießen, / Mond, der jenen Freund, die ohne Sinn.“174 An dieser Stelle wird zwar das Reimschema eingehalten, doch die Inversion bei gleichzeitiger elliptischer Verknappung erschwert das Verständnis merklich. Friedrich Hans Hermanns Auswahl von Gedichtübersetzungen Aus fünf Jahrhunderten französischer Poesie (1947),175 dem Vorwort zufolge zwischen 1939 und 1944 entstanden, versteht sich explizit nicht als Anthologie. Über die Entstehung der Textsammlung heißt es bei Hermann: Ich entschied mich [...] zu jedem einzelnen Text einerseits zufolge einer inneren Beziehung zu seinem Inhalt, andererseits gemäß meinen Möglichkeiten, daraus ein deutsches Gedicht zu gestalten, das als solches auch allein bestehen kann. [...] Es ist selbstverständlich, dass die so entstandene Sammlung nicht als Anthologie im üblichen Sinne betrachtet werden will; eine solche könnte sich wohl erst als Auslese der besten vorhandenen Nachdichtungen verschiedener Autoren ergeben.176

Von besonderem Interesse ist in dieser Sammlung die fragmentarische Übersetzung von Paul Valérys Gedicht La Jeune Parque, eines der anspruchsvollsten französischen Gedichte des 20. Jahrhunderts. Auch in Hermanns Valéry-Übersetzung gilt das Primat des Reimes, wie die Gegenüberstellung von Original und Übersetzung zeigt. In einer Ansprache der Parze an die Sterne, die „inévitables astres“, heißt es bei Valéry: Vous qui dans les mortels plongez jusques aux larmes Ces souverains éclats, ces invincibles armes, Et les élancements de votre éternité, Je suis seule avec vous, tremblante, ayant quitté Ma couche177 173 Französische Lyrik aus acht Jahrhunderten, S. 328. 174 Ebd., S. 329. Zum Vergleich die zweite Strophe von Helmut Bartuscheks Übersetzung mit dem Titel Der freundliche Wald aus der von ihm im Berliner Aufbau-Verlag herausgegebenen Anthologie Der gallische Hahn. Französische Gedichte von der Zeit der Troubadours bis in unsere Tage (1957, S. 265), ebenfalls im umarmenden Reim gestaltet: „Ganz alleine schritten wir dahin / Durch die grüne Auen-Nacht wie ein Pärchen; / Wir genossen, wie die Frucht im Märchen, / Einen Mond, recht nach der Träumer Sinn.“ 175 Aus fünf Jahrhunderten französischer Poesie. Nachdichtungen französischer Lyrik von Friedrich Hans Hermann. Freiburg im Breisgau 1947. Ähnlich wie bei Franz von Rexroth fehlen auch hier die zeitgenössischen Lyriker: Keiner der Autoren der beiden Sammlungen wurde nach 1885 geboren. 176 Aus fünf Jahrhunderten französischer Poesie, S. 5. 177 Paul Valéry: La Jeune Parque. In: Aus fünf Jahrhunderten französischer Poesie, S. 134. Offensichtliche Fehler in der Abschrift werden hier korrigiert wiedergegeben.

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In Hermanns Fassung lauten die Verse: ihr Sterne [...] Die ihr in Menschenbusen bis zur Zähre Den Strahlenblitz der unbesiegten Speere Machtvoll verschießt aus ewiggoldnem [sic] Reihn, Ich steh vor meinem Hag mit euch allein178

Ein altertümelndes Wort wie „Zähre“ (Träne) wird beispielsweise als (unreines) Reimwort für den Begriff „Speere“ eingesetzt. Darüber hinaus zeigt sich in diesem Textausschnitt eine Tendenz zur poetisierenden Ausschmückung, wenn der Begriff „mortels“ mit „Menschenbusen“ wiedergegeben und die Wendung „votre éternité“ mit einem Farbadjektiv zu dem Ausdruck „ewiggoldene[ ] Reihn“179 angereichert wird. Unter den deutschsprachigen Lyrikern der Nachkriegszeit ist auch Karl Krolow als Herausgeber und Übersetzer französischer Gedichte mit Anthologien wie Nachdichtungen aus fünf Jahrhunderten französischer Lyrik (1948)180 und Die Barke Phantasie (1957)181 hervorgetreten. Krolow ging es beim Übersetzen französischer Lyrik nicht allein um die Vermittlung fremdsprachiger Gedichte, sondern auch um die Fortentwicklung der Lyrik im 178 Paul Valéry: Die junge Parze. In: Aus fünf Jahrhunderten französischer Poesie, S. 135. Georg Schneider, der Paul Valéry während des Zweiten Weltkriegs durch die Vermittlung des rumänischen Philosophen Pius Servien kennengelernt hatte, bemühte sich ebenfalls um eine Übersetzung der Jeune Parque, schloss diese jedoch nicht ab. Zu Schneiders ValéryÜbersetzung vgl. Hausmann (2009b), S. 200–201. Schneiders im Ellermann-Verlag erschienene Sammlung Kleine französische Anthologie (1947) umfasst neben Texten von Lyrikern wie Victor Hugo, Stéphane Mallarmé, Paul Verlaine und Arthur Rimbaud auch fünf Gedichte Valérys: Helena, Die Badende, Gesicht, Ein deutliches Feuer, Orpheus. Im Vorwort beschreibt Schneider die prekären Bedingungen seiner Übersetzertätigkeit in Kriegszeiten: „Die Übertragungen dieser Gedichte entstanden in Südfrankreich. Während Lichtbüschel wie kristallene Zypressen dem kahlen Gestein der Provence entstiegen, stahl der Verfasser dieser Strophen dem militärischen Dienst jene Augenblicke ab, in denen diese Verse in einer anderen Sprache ihre neue Gestalt gewannen.“ In: Kleine französische Anthologie. Übersetzt, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Georg Schneider. Hamburg 1947, S. 20. 179 Die erste vollständige deutsche Übersetzung der Jungen Parze stammt von Paul Celan aus dem Jahr 1960. Vgl. dazu Pennone (2007), S. 248–319, hier S. 248. 180 Nachdichtungen aus fünf Jahrhunderten französischer Lyrik. Deutsch von Karl Krolow. Hannover 1948. 181 Die Barke Phantasie. Zeitgenössische französische Lyrik. Übertragen von Karl Krolow. Düsseldorf/Köln 1957. Im literarischen Feuilleton wurde Krolows Anthologie unterschiedlich bewertet. Während Heinz Piontek Krolows Übersetzungen als „bezwingende Entsprechungen“ in einem „bewundernswerte[n] Deutsch“ bezeichnete (Heinz Piontek: Fremde Lyrik. In: Zeitwende – Die neue Furche. Hrsg. u. a. von Wolfgang Böhme und Rudolf Alexander Schröder. Hamburg. Nr. 10 (1957), S. 708–709, hier S. 709), attestierte der Romanist Bernhard Böschenstein dem Übersetzer eine „mangelhafte Beherrschung des Französischen“, die zu „Entstellungen des Sinnes“ führe. Vgl. Bernhard Böschenstein: Neue französische Lyrik. In: Neue deutsche Hefte. Beiträge zur europäischen Gegenwart (1957), Heft 39, S. 649–650, hier S. 649.

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deutschsprachigen Raum. Von zentraler Bedeutung sind für ihn deshalb die von französischen Lyrikern ausgehenden Anregungen, die, wie es im Vorwort der Anthologie Die Barke Phantasie heißt, „am Ende der deutschen Lyrik der Jahrhundertmitte zugute kämen“.182 In seinem Aufsatz Der Lyriker als Übersetzer zeitgenössischer Lyrik (1960) betont Krolow rückblickend die Affinität vieler deutschsprachiger Lyriker zum Übersetzen: Der Himmel, der kleine Himmel über dem deutschen Gedicht, wurde aufgerissen. [...] Nach Kriegsende sind wir in unserem Lande geradezu in einen Rausch des Übersetzens geraten. Die Begegnung des zeitgenössischen deutschen Lyrikers mit übersetzter fremdsprachiger Lyrik [...] gehört zu den notwendig gewordenen Auseinandersetzungen.183

Fungiert die Übersetzung bei Krolow in erster Linie als Rezeptionsmedium für ausländische Literatur, so tritt das Element des poetischen Dialogs zwischen Übertragung und Ausgangstext in den Hintergrund. Dementsprechend wird die Bedeutung des individuellen Zugangs des Übersetzers zum Original relativiert, wenn er sagt, das Übersetzen sei für den Lyriker eine Möglichkeit, „der eigenen Sensibilität zu entkommen“, weil man sich dabei im „Vergessen der eigenen Person“184 übe. Dass sich der Übersetzer ganz dem Original zu überantworten und in ihm quasi zu verschwinden habe, verdeutlicht Krolow an anderer Stelle, wenn er den von Novalis geprägten Topos der Zweistimmigkeit der Übersetzung aufgreift und umdeutet.185 Anders als in Novalis’ Konzept der zweistimmigen ›verändernden Übersetzung‹, soll die Stimme des Übersetzers bei Krolow gerade nicht als solche vernehmbar sein; sie weicht der Stimme des jeweils zu übersetzenden Originals: „Der schwindelerregende Wachtraum des Lyrikers, der Lyrik übersetzt hat, ist die Vorstellung, mit mehreren Stimmen gleichzeitig zu sprechen, mit vielen Stimmen, in verschiedenen Höhen und Tiefen, ausgenommen die Stimme, die seine eigene ist.“186 Krolows Forderung, der Übersetzer solle sich im Vollzug seiner Tätigkeit unsichtbar bzw. ›unhörbar‹ machen, manifestiert sich auch in seinen eigenen französisch-deutschen Gedichtübersetzungen: Sie lassen kaum Anhaltspunkte für eine individuell akzentuierende, das Original um spezifische Bedeutungsdimensionen erweiternde Lesart erkennen.187 182 Karl Krolow: Vorwort. In: Ders.: Die Barke Phantasie, S. 5–8, hier S. 8. Zum Einfluss französischer und spanischer Lyrik auf Krolows Schreiben vgl. Anderle (1977). 183 Karl Krolow: Der Lyriker als Übersetzer zeitgenössischer Lyrik. In: Ders.: Schattengefecht. Frankfurt am Main 1964, S. 67. 184 Krolow: Der Lyriker als Übersetzer zeitgenössischer Lyrik, S. 72. 185 Zu Novalis’ Konzept der ›verändernden Übersetzung‹ vgl. Kap. 1.2.3. 186 Krolow: Der Lyriker als Übersetzer zeitgenössischer Lyrik, S. 83. 187 Im Nachwort zu dem Band Nachdichtungen aus fünf Jahrhunderten französischer Lyrik bezeichnet Krolow sein Verfahren als einen „Ausgleich zwischen philologischer Akribie und weitherziger Paraphrasierung des Originals“. In: Krolow: Nachwort. In: Ders.: Nachdichtungen aus fünf Jahrhunderten französischer Lyrik, S. 132.

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2 Vom Besatzungssoldaten zum Lyrikvermittler: Der Übersetzer Friedhelm Kemp

Von einem die Individualität des Übersetzers einschränkenden Übersetzungsverständnis wie dem Krolows grenzen sich Übersetzer wie Paul Celan, Ludwig Harig und Volker Braun dezidiert ab und stellen ihr eine – wenn auch je unterschiedlich akzentuierte – dialogische Herangehensweise entgegen. Genau dieses dialogische Prinzip der poètes traducteurs steht im Fokus der vorliegenden Arbeit. Davon unbenommen bleibt das Verdienst des Übersetzers Karl Krolow, das in der breitgefächerten Vermittlung französischer Gedichte besteht, die auch damals in Deutschland noch weitgehend unbekannte Lyriker wie Eugène Guillevic, Jean Follain und Henri Michaux einschließt. Seit Ende der fünfziger Jahre ist die Anzahl der Anthologien in der Bundesrepublik zurückgegangen. Werden für die Jahre 1941 bis 1950 allein einundzwanzig und für die Jahre von 1951 bis 1960 immerhin zehn französisch-deutsche Lyrikanthologien verzeichnet,188 so sind für die Zeit von 1961 bis 1970 nur noch sechs Sammlungen angegeben.189 Der Publikationsschwerpunkt verlagert sich in dieser Zeit hin zu zweisprachigen Lyrikausgaben einzelner Autoren.190 Nach den epochenübergreifenden Überblicksdarstellungen der Anthologien zeigt diese Tendenz eine Individualisierung von Autor- und Übersetzerfigur an. Während einzelne Lyriker mit ihrem Werk in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken, entwickeln literarisch besonders versierte Übersetzer und poètes traducteurs individuelle Überset188 Ein besonders ambitioniertes Projekt aus den frühen Jahren der Bundesrepublik war die von Flora Klee-Palyi im Jahr 1953 herausgegebene zweibändige Anthologie der französischen Dichtung von Nerval bis zur Gegenwart (Wiesbaden 1953). In zwei Teilbänden bot sie sowohl den Précurseurs als auch den Contemporains ein Forum. Unter den 123 Übersetzungen dieses Bandes gibt es 103 Neuübersetzungen, die das historische Gewicht dieser Textsammlung begründen. Hier findet sich auch Kemps Übersetzung von Supervielles Gedicht Échanges mit dem Titel Tauschen, die er bereits 1941 angefertigt hatte (vgl. Kemps Tagebucheintrag vom 5. September 1941). Pennone (2007, S. 16–19) vergleicht die Échanges-Übersetzungen von Friedhelm Kemp und Paul Celan miteinander. 189 Vgl. die Bibliographie Anthologien mit französischen Dichtungen (2002), Einleitung, S. X. 190 Vgl. die folgenden zweisprachig angelegten Ausgaben: René Char: Poésies. Dichtungen 1. Vorwort von Albert Camus. Hrsg. von Jean-Pierre Wilhelm unter Mitarbeit von Christoph Schwerin. Ins Deutsche übertragen von Paul Celan, Johannes Hübner und JeanPierre Wilhelm. Frankfurt am Main 1959; ders.: Poésies, Dichtungen 2. Hrsg. von Johannes Hübner. Ins Deutsche übersetzt von Gerd Henniger, Johannes Hübner und Lothar Klünner. Frankfurt am Main 1968; Paul Eluard: Choix de poèmes. Ausgewählte Gedichte. Französisch und Deutsch. Hrsg. von Johannes Hübner. Übersetzt von Friedrich Hagen, Gerd Henniger, Stephan Hermlin et al. Mit einer Einführung von Georges-Emmanuel Clancier. Berlin/Neuwied 1963; Henri Michaux: Dichtungen, Schriften 1. Aufgrund der von Henri Michaux unter Mitwirkung von Christoph Schwerin getroffenen Auswahl in Übertragungen von Kurt Leonhard und eigenen Übertragungen hrsg. von Paul Celan. Frankfurt am Main 1966; ders.: Dichtungen, Schriften 2. Aufgrund der von Henri Michaux unter Mitwirkung von Christoph Schwerin getroffenen Auswahl in Zusammenarbeit mit dem Autor übertragen von Kurt Leonhard. Frankfurt am Main 1971; Francis Ponge: Lyren (= Ausgewählte Werke, Bd. 1). Deutsch von Katharina Spann. Frankfurt am Main 1965.

2.1 Kemp im Kontext der Literaturvermittlung vor und nach 1945

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zungsstrategien, die sich im Spannungsfeld zwischen ihrer eigenen Poetik und dem zu übersetzenden Text situieren und die von Kemp bereits 1946 geforderte „Anverwandlung [und] Auseinandersetzung in schöpferischen Antwortleistungen“191 zu realisieren suchen. Auch in diesem Kontext nimmt Kemp selbst eine wichtige Rolle ein: Hatte er in den Nachkriegsjahren als Pionier der französisch-deutschen Lyrikvermittlung in Zeitschriften und Anthologien publiziert, so veröffentlichte er 1957 seine Übersetzungen von Saint-John Perse, der drei Jahre später den Nobelpreis für Literatur erhalten sollte.192 In dieser Zeit begann auch Kemps Beschäftigung mit der Lyrik von Yves Bonnefoy. Vermittelt wurde der Kontakt durch den elsässischen Lyriker Claude Vigée, den Kemp bei einem literarischen Kolloquium im französischen Lourmarin im Jahr 1959 kennengelernt hatte.193 In einem Brief an Bonnefoy vom 31. Januar 1961 heißt es dazu: [Je] suis un lecteur assidu de vos livres depuis que votre ami Claude Vigée me les a recommandés, lors d’une rencontre à Lourmarin en juillet 59. Lentement, votre recueil ›Hier régnant désert‹ m’a tellement fasciné que j’ai commencé à en traduire certains morceaux.194

Im Anschluss an diesen Brief begann eine intensive Korrespondenz zwischen Bonnefoy und seinem Übersetzer, in deren Rahmen auch Fragen zum Verständnis einzelner Verse diskutiert wurden.195 Eine weitere Anregung, Bonnefoy zu übersetzen, war die Lektüre von H. U. Stettlers Übersetzung des Gedichts Veneranda196 aus Bonnefoys Band Hier régnant désert, in der Kemp „einige Fehlübersetzungen“ und „krasse Willkürlichkeiten“ beobachtet hatte. „Dies reizte mich so“, schreibt er rückblickend, daß ich mich selbst an einer Übersetzung versuchte. Es blieb dann nicht bei diesen Strophen und dem Zyklus, zu dem sie gehören, der ganze Band folgte nach, und die Gedichte sind inzwischen auch erschienen.197

191 Kemp: Vom Übersetzen, S. 152. 192 Vgl. Saint-John Perse: Anabasis. Französisch und deutsch. Mit einem Essay von T. S. Eliot. Unter Benutzung der Erstfassung von Walter Benjamin, Bernard Groethuysen und Herbert Steiner übertragen von Friedhelm Kemp. Neuwied/Rhein 1957. 193 Vgl. Kemps Brief an Emié vom 17. Dezember 1959. In: DLA: A: Kemp. – In Lourmarin schloss Kemp Bekanntschaft mit französischen Schriftsteller/innen, die er im Krieg zu übersetzen begonnen hatte, wie z. B. Pierre Émmanuel oder Yanette Delétang-Tardif. 194 In: DLA: A: Kemp. 195 Vgl. den Fragebogen zu dem Band Hier régnant désert, den Bonnefoy am 30. August 1961 mit Erläuterungen an Kemp gesandt hat. Die Seitenangaben beziehen sich auf Kemps Handexemplar der Erstausgabe, das folgende Widmung trägt: „Pour Friedhelm Kemp ces poèmes Hier régnant désert avec l’amitié d’Yves Bonnefoy Sarrebruck 25 février 1961“. In: DLA: A: Kemp. 196 In: Panorama moderner Lyrik. Hrsg. von Günther Steinbrinker und Rudolf Hartung. Gütersloh [1960], S. 488. 197 Kemp: Das Übersetzen als literarische Gattung. In: Sprache im technischen Zeitalter 21 (1967), S. 45–58, hier S. 56.

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2 Vom Besatzungssoldaten zum Lyrikvermittler: Der Übersetzer Friedhelm Kemp

Die Rede ist hier vom Erstdruck seiner Bonnefoy-Übersetzung Herrschaft des Gestern: Wüste in der Neuen Rundschau von 1961,198 auf den 1969 die zweisprachige Buchausgabe in der von Kemp selbst herausgegebenen Reihe Contemporains des Kösel-Verlags folgte.199 Kemps rege publizistische Tätigkeit im Bereich französischer Literatur, so lässt sich festhalten, zeugt von einer intensiven Beschäftigung mit Lyrikern verschiedener Epochen und sticht schon rein quantitativ aus der Übersetzungsfülle der Nachkriegszeit heraus.200 Im deutschen Sprachraum gibt es keine zweite Vermittlerpersönlichkeit, die in ähnlichem Umfang den französisch-deutschen Literaturaustausch in Kriegszeiten mitgestaltet und nach Kriegsende an die Öffentlichkeit getragen hat. Vor dem hier aufgezeigten literaturhistorischen Hintergrund der französisch-deutschen Lyrikvermittlung vor und nach 1945 soll im Folgenden ein Spektrum von Übersetzungsstrategien analysiert werden, mit denen sich Kemp den lyrischen Werken von Supervielle, Baudelaire und Bonnefoy genähert hat. Dabei gilt es, neben dem Verfahren der ProsaÜbersetzung auch die Tendenz zur Konventionalisierung (Orthonymie) zu untersuchen. Erst anhand detaillierter Einzelanalysen erschließen sich Kemps Übersetzungsverständnis und die daraus resultierende Praxis und lassen sich von den Strategien Stefan Georges oder Paul Celans abgrenzen.

2.2 Zwischen Poetisierung und Transformation: Kemp als Übersetzer von Jules Supervielle, Charles Baudelaire und Yves Bonnefoy Im Rahmen der französisch-deutschen Lyrikvermittlung nach 1945 nimmt der Übersetzer, Herausgeber und Literaturkritiker Friedhelm Kemp nicht nur eine herausgehobene, sondern auch eine in doppeltem Sinne widersprüchliche Rolle ein. Zum einen erfahren seine Übersetzungen eine auffallend heterogene Rezeption: Von der Feuilletonkritik stets enthusiastisch begrüßt, sind sie von der Forschung bislang nur am Rande wahrgenommen worden. Zum anderen erweist sich Kemps Übersetzertätigkeit selbst als ambivalent, da seine umfangreichen theoretischen Reflexionen zur Problematik der Lyrikübersetzung nicht immer bruchlos in die übersetzerische Praxis überführt werden. Lassen sich viele seiner Verfahren und Stra198 Yves Bonnefoy: Herrschaft des Gestern: Wüste. Deutsch von Friedhelm Kemp. In: Die Neue Rundschau 72 (1961), Heft 3, S. 611–635. 199 Yves Bonnefoy: Hier régnant désert – Herrschaft des Gestern: Wüste. Deutsch von Friedhelm Kemp. München 1969. 200 In der Bibliographie Anthologien mit französischen Dichtungen sind Kemp bis zum Jahr 1995 einhundertneunundsiebzig Einträge zugeordnet. Siehe die Bibliographie Anthologien mit französischen Dichtungen (2002), S. 193.

2.2 Zwischen Poetisierung und Transformation

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tegien unmittelbar an die schriftlich fixierten Grundüberzeugungen rückkoppeln, weichen andere merklich von ihnen ab. Diese werkinternen und werkexternen Widersprüche stehen im Fokus des folgenden Kapitels, das sich an die zeithistorische Kontextualisierung von Kemps bereits während des Zweiten Weltkriegs einsetzender Übersetzertätigkeit anschließt. Indem Beispiele aus seiner Übersetzerpraxis mit Selbstaussagen konfrontiert und in ihrem Wechselverhältnis erhellt werden, soll erstmals ein vielschichtiges Porträt dieses Pioniers der französisch-deutschen Lyrikvermittlung entstehen. Dabei werden die Disparitäten zwischen der theoretischen und der praktischen Dimension seines Übersetzungswerkes an aussagekräftigen Beispielen aufgezeigt und problematisiert. In der Feuilletonkritik201 gilt Friedhelm Kemp, dessen übersetzerisches Werk vier Jahrhunderte und weit über dreißig französische Lyriker umfasst, seit langem als einer der produktivsten und versiertesten Übersetzer französischer Lyrik nach 1945.202 Stellvertretend sei hier der Literaturkritiker Rolf Vollmann zitiert: Der Allerbekannteste in der Welt der Lyrik? Friedhelm Kemp, gar keine Frage; groß auch als Übersetzer, jeder Leser Baudelaires [...] kennt seine Prosaübertragungen, wer auf Unbekannteres aus ist, seinen Saint-John Perse [...].203

Bereits 1963 hat Fritz Usinger in seiner Laudatio die „innere Einheit“ und die „geistige Geschlossenheit“ 204 von Kemps übersetzerischem Werk hervorgehoben, dem er Anspruch auf künstlerische Eigenständigkeit zuschreibt: Ist ein Übersetzer […] ein Autor, der sich selbst manifestiert? Kann er es im Bereich der Übersetzung, und hat er […] ein Recht dazu? Dies alles sind Zweifel, die nicht ohne eine Begründung auftreten […], und gerade in Friedhelm Kemp haben wir einen Übersetzer, der uns die positiven Antworten dazu in der überzeugendsten Weise demonstriert.205

Die hier angenommene Nähe zwischen übersetzerischem und dichterischem Schaffen in Kemps Werk wurde in den vergangenen Jahrzehnten 201

202

203 204 205

Vgl. auch Hanns Grössel: Längerer Brief an Friedhelm Kemp zu seinem 70. Geburtstag. In: Akzente. Dezember 1984, Heft 6, S. 481–487; Helmut Mayer: Friedhelm Kemp – Ein Leser wie Dichter ihn erträumen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Dezember 2009, S. 32; Norbert Miller: Friedhelm Kemp als Übersetzer. In: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 19 (2005), S. 251–262. Für seine Lyrikübersetzungen aus dem Französischen erhielt Kemp u. a. folgende Preise: Übersetzerpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (1963); JosephBreitbach-Preis (1998); Horst-Bienek-Preis (2007, gemeinsam mit Yves Bonnefoy); Medaille München leuchtet – Den Freunden Münchens in Silber (2010). Rolf Vollmann: Sonette satt, ungefähr 600 Stück [Zu: Das europäische Sonett (2 Bände), hrsg. von Friedhelm Kemp, Wallstein 2002]. In: Die Zeit vom 30. April 2003, S. 46. Fritz Usinger: Übersetzerpreis – Rede auf den Preisträger. In: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1963. Darmstadt 1963, S. 46–55, hier S. 47. Ebd.

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2 Vom Besatzungssoldaten zum Lyrikvermittler: Der Übersetzer Friedhelm Kemp

weder überprüft noch mit Kemps Selbstaussagen in Beziehung gesetzt. Die Forschung hat Kemp bislang entweder sehr einseitig als Verfasser der Prosaübertragungen von Baudelaires Fleurs du mal wahrgenommen,206 ihn in Abgrenzung von prominenten poètes traducteurs wie z. B. Paul Celan vorschnell auf die Rolle des ›sinntreuen Übersetzers‹ festgelegt 207 oder ihn gänzlich ignoriert.208 Diese Rezeptionspraxis wird den Verdiensten Kemps, einem der „kenntnisreichsten wie reflektiertesten Übersetzer der Gegenwart“,209 nicht gerecht.210 Dabei ist durchaus darauf hingewiesen worden, dass Kemps Beiträge zum Übersetzen wegen ihrer „engen Verbindung von Theorie und Praxis sehr ernstgenommen werden“ müssten.211 In der Nachbemerkung zu seinen als Lesehilfe konzipierten Prosaübertragungen von Baudelaires Fleurs du mal (1962) unterstreicht Kemp seine zweifach empfundene Verpflichtung, als Übersetzer dem „Dichter und seinen Lesern einen echten Dienst zu erweisen“.212 Im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang sieht Kemp die Verantwortung des Übersetzers in der Sensibilisierung des Zielpublikums für sprachliche und kulturelle Unterschiede, wie in der Dankesrede zum Joseph-Breitbach-Preis (1998) deutlich wird: [Es] wäre nichts dringlicher als [...] die Wahrnehmung des Fremden, des Fremdartigen, der irreduziblen Andersheit zu kräftigen. Sobald das, was man uns als interkulturelle Vermittlung anpreist, sich mit vermeintlichen Gemeinsamkeiten zufrieden gibt, laufen wir Gefahr, einander aufs Gründlichste zu verfehlen. Eine wahrhaft fruchtbare Verständigung unter den Völkern, zwischen den Kulturen erfolgt meiner Überzeugung nach nur durch ein schärferes Erkennen der Unterschiede, der Verschiedenheiten, die unsichtbar zu werden drohen, wenn die gegenseitige Sprachkenntnis weiter ab- statt zunimmt, oder wenn eine AllerweltsEinheitssprache das seelisch-geistige Gepräge der einzelnen Nationen verwischt.213

206 Wittbrodt (1995), S. 135 f. 207 Vgl. Pennone (2007), S. 19. 208 Ausnahmen bilden die Ausführungen zu Kemps Jaccottet-Übersetzungen bei Christine Lombez (2003, S. 112–117) sowie zu Kemps Bonnefoy-Übersetzungen bei Weiand (2007 bzw. 2011). 209 Apel/Kopetzki (2003), S. 124. 210 Friedhelm Kemp hat seit 1939 literaturwissenschaftliche Studien und Beiträge publiziert. Vgl. Friedhelm Kemp: Bibliographie 1939–1984. Bearbeitet von Margot Pehle. Marbach am Neckar 1984. 211 Apel/Kopetzki (2003, S. 102) beziehen sich hier auf Kemps Aufsatz Das Übersetzen als literarische Gattung (in: Sprache im technischen Zeitalter 21 (1967), S. 45–58). 212 Friedhelm Kemp: Nachbemerkung des Übersetzers. In: Charles Baudelaire: Les Fleurs du mal – Die Blumen des Bösen. Aus dem Französischen übertragen von Friedhelm Kemp. Mit einem Nachwort von Karl Maurer. Frankfurt am Main/Hamburg 1962, S. 281–283, hier S. 282. 213 Friedhelm Kemp: Dankesrede anlässlich der Entgegennahme des Joseph-Breitbach-Preises. In: Kränzewinder, a. a. O., S. 58.

2.2 Zwischen Poetisierung und Transformation

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Die Differenzen zwischen den Sprachen und Kulturen im Medium der Übersetzung zu vergegenwärtigen, anstatt sie zu verschleiern oder einzuebnen – so ließe sich Kemps Zielsetzung zusammenfassen. Im Folgenden werden Gedichtübersetzungen Friedhelm Kemps aus verschiedenen Schaffensperioden (von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die sechziger Jahre hinein) analysiert – zum Teil auch in Abgrenzung zu den Fassungen anderer Übersetzer. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Umsetzung seiner theoretisch dargelegten Programmatik gerichtet mit dem Ziel, Reflexion und Praxis wechselseitig zu erhellen. Eine methodische Schwierigkeit ergibt sich aus dem Umstand, dass Kemps Äußerungen zu Fragen der Lyrikübersetzung eine Zeitspanne von über vierzig Jahren umfassen. Vertritt Kemp einige seiner Grundpositionen – wie das Primat der Anschaulichkeit – mit großer Konsequenz, so unterliegen andere Kriterien der Modifikation, die es entsprechend nachzuzeichnen gilt. Charakteristisch für Kemps Übersetzungsverständnis ist die konsequent proklamierte Abwehr normativer Maßstäbe – sie steht repräsentativ für die Haltung vieler deutschsprachiger Lyrikübersetzer der Nachkriegszeit. In seinem Aufsatz Das Übersetzen als literarische Gattung (1967) erkennt Kemp in der Übersetzbarkeit eines Textes eine relative, „veränderliche Proportion“ und bestimmt damit das Verhältnis zwischen Original und Übersetzung als ein dynamisches, das durch die je individuellen geschichtlichen, gesellschaftlichen und sprachlichen Faktoren beeinflusst wird. Demzufolge ließe sich das Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext „nicht als etwas Statisches, sondern immer zugleich als eine Spannung, einen Prozeß begreifen“.214 Kemp setzt sich mit dieser Äußerung in offenen Widerspruch zu konservativ geprägten Positionen wie der des Romanisten Hugo Friedrich, der noch 1965 eine uneingeschränkte, d. h. text- und kontextunabhängige Gültigkeit von Schleiermachers Übersetzungsmaximen behauptet hat.215 Mehr als dreißig Jahre später bekräftigt Kemp seine antinormative Haltung, wenn er sagt, „ein Gedicht [könne] immer neu, immer anders übersetzt, abgespiegelt, porträtiert, abgewandelt, anverwandelt, verfremdet, travestiert, parodiert werden“.216 In den zwei zitierten Schriften stellt Kemp zum einen den normativen Anspruch von Übersetzeridealen per se in Frage, zum anderen nimmt er den Übersetzer implizit in die Entscheidungspflicht, welchen Aspekt des jeweiligen Gedichtes er in der Übersetzung nachbilden möchte. Aus der Affirmation des je individuellen Zugangs zum Originaltext leitet Kemp die Vorstellung einer werkbezoge-

214 Kemp: Das Übersetzen als literarische Gattung, S. 46. 215 Vgl. Kap. 1.4.1. 216 Kemp: Einige Anmerkungen zu Problemen der Übersetzung von Gedichten. In: Kränzewinder, a. a. O., S. 45–52, hier S. 47.

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2 Vom Besatzungssoldaten zum Lyrikvermittler: Der Übersetzer Friedhelm Kemp

nen Übersetzerpoetik ab, „die statt in abstracto alles zu umgreifen und gelten zu lassen, entschieden parteiisch aus dem einen Punkt der Betroffenheit durch ein einziges Gedicht, eine Strophe, einen Vers heraus argumentierte“.217 Ob und in welchem Maße Kemp selbst zu solchen textspezifischen Übersetzungsstrategien gefunden hat, wird zu überprüfen sein. Hat sich Friedhelm Kemp immer wieder explizit gegen überzeitliche Ideale beim Übersetzen ausgesprochen, so lassen sich aus seinen Übersetzungen bzw. aus seinen theoretischen Schriften doch bestimmte Maßstäbe ableiten, nach denen er sein Vorgehen ausrichtet. Die Frage nach der Realisierung der gesetzten Ziele wird im Folgenden leitend sein, zumal Kemp eine solche Überprüfung selbst angeregt hat: „[Meine Übersetzungen wären] daraufhin zu prüfen, ob sie die von mir geforderte Bedingung, daß jede Übersetzung die Spanne und den Abstand zum Original fühlbar mitliefere, erfüllen.“218 Diese Art der Überprüfung legitimiert sich jedoch seiner Ansicht nach nur unter der Voraussetzung, dass man seine deutschen Gedichtfassungen nicht „naiv als vollkommene Eindeutschung, als Gebilde, die durch und durch für sich selbst gelten wollen“,219 rezipiere, sondern mit Blick auf ihren spezifischen Status als übersetzte Texte. Die von Kemp angeführte Prämisse für einen Abgleich zwischen theoretischer Vorgabe und praktischer Umsetzung erfordert zunächst eine Erläuterung seiner methodischen Differenzierung verschiedener Übersetzungsformen: Ausgehend von der durch Schleiermacher systematisch erfassten Dichotomie zwischen der Einbürgerung des Originals in den zielsprachlichen Kontext und der Beibehaltung seiner sprachlichen und kulturellen Fremdheit220 kontrastiert Kemp zwei Begriffskonzepte: Die „Nachdichtung“ im Sinne einer Einbürgerung (oder „Eindeutschung“) strebe danach, ein „möglichst vollkommenes deutsches Gedicht, einen quasi autonomen literarischen Text“ zu gestalten.221 Abgegrenzt wird die „Nachdichtung“ von der „Übertragung“, die ihren spezifischen Status explizit ausstellt und auf künstlerische Eigenständigkeit verzichtet: „Fremde Eigenheit“, so Kemp, „[wird in der Übertragung] nicht aufgehoben, [sondern kommt] als sie selber gebrochen und im Abstand zur Erscheinung.“222 Über Schleiermacher hinausgehend unterscheidet Kemp im Bereich der „Nachdichtung“ zwischen dem Verfahren der „hybride[n] Übersetzung“,223 das er in Hölderlins Sophokles-Übersetzung oder in 217 218 219 220 221 222 223

Ebd., S. 49. Kemp: Das Übersetzen als literarische Gattung, S. 58. Ebd. Vgl. zum Paradigma der Sprachverfremdung Kap. 1. Kemp: Vom Übersetzen französischer Dichtung, S. 18. Ebd. Ebd., S. 22.

2.2 Zwischen Poetisierung und Transformation

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Rudolf Borchardts Dante- und Troubadour-Übersetzungen verwirklicht sieht, und dem der „Umdichtung“.224 Anfang der sechziger Jahre zeigt sich Kemp gegenüber der ›hybriden Übersetzung‹ als dem „Denkmal einer einmaligen Begegnung zwischen zwei Geistern“ noch skeptisch: Für das Fußvolk der Übersetzer [...] sind das scheu anzustaunende Eroberungszüge, die Umwertungen gleichkommen und über unser Handwerk ins Unbetretbare hinausgreifen.225

Strebe die Nachdichtung nach „Ebenbildlichkeit“ zum Original, setze sich die Übertragung allein die „Abbildlichkeit“ zum Ziel.226 Letztere charakterisiert Kemp im Anschluss an Pierre Jean Jouve227 mit einer Metapher aus der Porträtmalerei als „skizzenhafte Umrisszeichnung“ 228 und artikuliert damit implizit eines seiner zentralen Anliegen, das er in der bescheiden anmutenden Prosaübertragung befriedigt sieht – dieses lässt sich mit den Begriffen ›Anschaulichkeit‹ oder ›Sinntreue‹ bezeichnen. Kemp erläutert die Zielsetzung dieser Übersetzungsform, wenn er sagt, die Übertragung im Sinne einer Skizze „sollte nach größter Treue des Sinnes trachten; jeder Gedanke sollte seine Schärfe, jedes Bild seine sinnliche Deutlichkeit behalten“.229 Der methodisch-kritische Stellenwert, den das Streben nach Anschaulichkeit für Kemps Übersetzungsverständnis hat, zeigt sich an seinen Baudelaire-Übertragungen sowie an den von ihm selbst untersuchten fremden Übersetzungen. Neben der Anschaulichkeit sind drei weitere Tendenzen für Kemps Übersetzungspraxis prägend: In seinen frühen Übersetzungen, die in den ersten Nachkriegsjahren veröffentlicht wurden, finden sich Beispiele für poetisierende Strategien, die das Original stilistisch überhöhen und durch zusätzliche Adjektive ausschmücken. Diese Tendenz nimmt seit den sechziger Jahren merklich ab. Seine Übersetzungen aus den lyrischen Werken von Yves Bonnefoy bzw. von Jules Supervielle zeugen zudem von semantisch relevanten, das Ausdruckspotential des Originals schmälernden Tilgungen, die sich mit dem Phänomen der Orthonymie als einem Vorgang der (unbewussten) Konventionalisierung erklären lassen. In Einzelfällen manifestieren sich bei Kemp auch Ansätze zum dialogischen Verfahren der Interaktion, die mit einer Umakzentuierung seiner übersetzungspoetologischen Prämissen seit dem Ende der sechziger Jahre einhergehen (Kap. 2.2.4). Da Kemp beim Übersetzen jedoch nur 224 Hier nennt Kemp z. B. Kleists Fassung von La Fontaines Fabel Die beiden Tauben als Beispiel. In: Kemp: Vom Übersetzen französischer Dichtung, S. 19. 225 Ebd., S. 22. 226 Ebd., S. 18. 227 Friedhelm Kemp: Treue der Übersetzung? In: Hölderlin-Jahrbuch 24 (1984/85), S. 207–217, hier S. 207. 228 Kemp: Vom Übersetzen französischer Dichtung, S. 24. 229 Ebd.

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2 Vom Besatzungssoldaten zum Lyrikvermittler: Der Übersetzer Friedhelm Kemp

selten eigene Lesarten des Ausgangstexts gestaltet, lässt er sich, im Gegensatz zu den drei anderen Übersetzern des für die vorliegende Studie ausgewählten Korpus, nicht als poète traducteur bezeichnen; zumal sein eigenes lyrisches Werk sehr schmal ist: In der Anthologie De profundis. Deutsche Lyrik in dieser Zeit. Eine Anthologie aus zwölf Jahren (1946) hat Kemp fünf eigene Gedichte veröffentlicht, die während des Zweiten Weltkriegs entstanden sind.230 In der gleichen Anthologie finden sich außerdem die drei Gedichte Es gilt, Freilich und Immer, die Kemp unter dem Pseudonym Friedrich Umbran publiziert hat.231 Dass Kemp sich selbst zuallererst als Übersetzer und Literaturvermittler und weniger als Autor gesehen hat, belegen seine Reflexionen zum Begriff der Autorschaft. Rückblickend und von sich selbst in der dritten Person sprechend, heißt es bei Kemp: Autorschaft? Für wen? Für niemand anders zunächst als für sich, um sich ein wenig deutlicher zu werden, als dieser Mittelpunkt, der jeder junge Mensch für sich ist. Und als den er sich doch nur empfindet, wenn er sich mitteilt. Reden genügt nicht, da sind gleich zuviel Gegenredner, Besserwisser, Alleswisser. Also schreibt er: Briefe, Gedichte; also übersetzt er, anverwandelt sich, was ihn anmutet, bewirbt sich um Aufnahme in eine andere Familie, um Zutritt zu einer Brüderschaft der Stark-, der Neugesinnten. Aus Notdurft, mit wachsender Lust an einer immer freieren Genauigkeit; im Fortgang wird es fast ein unwillkürliches Tun, über dem man, stolpernd, strauchelnd, ins Laufen, ins Springen gerät. Aus Anteilnahme, teilhabend, Teil werdend, so hofft man. Man nimmt, man gibt; und ahnt doch früh schon: auf ein Werk ist es bei Dir nicht abgesehen.232

Im letzten Satz dieser Reflexion – hier spricht Kemp sich selbst mit Du an – wird deutlich, dass er zwischen dem „Werk“ eines Schriftstellers und seinem eigenen literarischen Schaffen als Übersetzer und Literaturvermittler differenziert. Demnach sieht er sich selbst nicht als einen übersetzen230 Friedhelm Kemp: Gedichte [Auf das Jahr 1944; De profundis clamamus, domine terrorum ; Wintertod – In memoriam Felix Swoboda ; Schwichtige doch dieses Übermaß ; Eigentum]. In: De profundis. Deutsche Lyrik in dieser Zeit. Eine Anthologie aus zwölf Jahren. Hrsg. von Gunter Groll. München 1946, S. 198–205. Diese Publikation wird in Kemps Bibliographie (1939–1984) nicht genannt. Zu Friedhelm Kemps 90. Geburtstag erschien außerdem der folgende Gedichtband: Friedhelm Kemp: Einmal für immer. Gedichte. Hrsg. von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Mit vierzehn Typographien von Josua Reichert. WaakirchenKrottenthal 2004. 231 Friedrich Umbran: Gedichte. In: De profundis. Deutsche Lyrik in dieser Zeit, S. 431–434. Auch diese drei Gedichte werden in Kemps Bibliographie (1939–1984) nicht angeführt. Für den Hinweis auf Kemps frühe Gedichtveröffentlichungen danke ich herzlich Hans T. Siepe. Zum Hintergrund von Kemps Publikation unter Pseudonym vgl. die Erläuterungen in folgender Anthologie, in der zwei Gedichte von Friedrich Umbran erneut abgedruckt worden sind: Aus zerstäubten Steinen. Texte deutscher Surrealisten. Hrsg. von Bernhard Albers. Aachen 1995, S. 62 f. 232 In: Friedhelm Kemp: Aus gehörigem Abstand. Schrägblick auf den Übersetzer als Autor. In: Bibliographie Friedhelm Kemp 1939–1984. Bearbeitet von Margot Pehle. Marbach am Neckar 1984, S. 13–16.

2.2 Zwischen Poetisierung und Transformation

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den Lyriker bzw. als poète traducteur. Wie sich Kemps Selbstverständnis als Übersetzer in seiner Praxis niederschlägt, soll in den folgenden Kapiteln anhand von Textbeispielen nachgezeichnet werden. Dabei rückt zunächst das Phänomen der Poetisierung in den Blick. 2.2.1 Die Tendenz zur Poetisierung In Kemps frühen, vorwiegend in Zeitschriften und Anthologien veröffentlichten Übersetzungen französischer Lyrik, die zum Großteil schon während des Zweiten Weltkriegs entstanden sind, zeigen sich Tendenzen der Poetisierung, seien diese explikativer oder ausschmückender Art. Ob die Definition der Poetisierung als „intentionale Stilerhöhung im Bereich von Wortwahl und Syntax bis hin zur Verkitschung“233 auf Kemps Übersetzungen zutrifft, soll im Folgenden an ausgewählten Beispielen überprüft werden. Zunächst lassen sich verschiedene Einzelstellen in den Blick nehmen, die Kemp besonders aufwendig gestaltet hat, zum Beispiel in seiner Fassung von Paul Eluards Gedicht Ta chevelure d’orange. Der vierte Vers lautet in Original und Übersetzung: Eluard: „La forme de ton cœur est chimérique“234 Kemp: „Die Form deines Herzens ist Wunder und Fabel“235

Kemp überführt das französische Adjektiv chimérique in das SubstantivPaar „Wunder und Fabel“. Auf diese Weise weckt er zwar Assoziationen an geheimnisvolle Traum- und Märchenwelten, tilgt jedoch den ambivalenten Aspekt des Trügerischen, Undeutlichen und Unfassbaren, der im französischen Begriff chimérique angelegt ist.236 Auch in seiner Übersetzung von Louis Aragons Gedicht Les lilas et les roses, das die Besetzung von Paris durch die Nationalsozialisten am

233 Schreiber (1993), S. 273. 234 Paul Eluard: Ta chevelure d’orange. In: Ders.: Œuvres complètes 1. Préface et chronologie de Lucien Scheler. Textes établis et annotés par Marcelle Dumas et Lucien Scheler. Paris 1968, S. 166. 235 Paul Eluard: Dein apfelsinenes Haar. Deutsch von Friedhelm Kemp. In: Carl August Weber (Hrsg.): Dichtung der Gegenwart: Frankreich. München 1947, S. 147. 236 Wie deutlich sich Kemps Ausschmückung im übertragenen Vers niederschlägt, zeigt der Vergleich zu der Übersetzung Gerd Henningers: „Die Form deines Herzens ist schemenhaft.“ In: Paul Eluard: Choix de poèmes. Ausgewählte Gedichte. Hrsg. von Johannes Hübner. Neuwied 1963, S. 103. Unabhängig von der Frage, ob Henninger mit dem Adjektiv schemenhaft, das die Betonung eher auf das Gespenstisch-Unwirkliche des Herzens legt, eine angemessene Lösung gefunden hat, wird die gegensätzliche Herangehensweise der beiden Übersetzer deutlich.

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14. Juni 1940 evoziert, greift Kemp zu einer poetisierenden Strategie. Der neunte Vers lautet im Original bzw. in der Übersetzung: Aragon: „Le triomphe imprudent qui prime la querelle“237 Kemp: „Den Taumel des Triumphes voran ob Schlacht und Stürmen“238

Kemp spaltet den Begriff querelle (dt. „Fehde, Streit“) in den zweigliedrigen Ausdruck „Schlacht und Stürme“ auf und verknüpft das Motiv der kriegerischen Auseinandersetzung mit der Vorstellung einer entfesselten Naturgewalt. Auf diese Weise verstärkt er die dem Original inhärente KriegsMotivik und steigert die Dramatik des Verses.239 Die Tendenz zur Intensivierung des poetischen Ausdrucks manifestiert sich auch in Kemps Übersetzung von Supervielles Gedicht Des deux côtés des Pyrénées (1939) über den Spanischen Bürgerkrieg aus dem Zyklus Poèmes de la France malheureuse. Der Beginn des Originals lautet: Des deux côtés des Pyrénées

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Un son plus triste de guitare Qu’il se venait des doigts d’un mort A traversé l’Andalousie Et s’achemine vers le Nord. C’est une musique transie Mais qui cherche à se faire entendre, Et se voudrait encore tendre Quand c’est un râle au fond du sort. Espagne, est-ce bien toi dans ces fusils qui brillent, Est-ce ainsi que l’on meurt, par paquets inégaux, Que vont dire tes saints de pierre et tes taureaux Pour se tirer dessus ce grand air de famille ... Et de tous les côtés l’on ne voit que des frères, Mêmes sourcils épais et visages austères Mille âmes mélangées à du sang tout pareil Où s’enlise et grésille un unique soleil. [...] 240

237 Louis Aragon: Les lilas et les roses. In: Ders.: Œuvres poétiques complètes 1. Préface de Jean Ristat. Édition publiée sous la direction d’Olivier Barbarant, avec, pour ce volume, la collaboration de Daniel Bougnoux, François Eychart, Marie-Thérèse Eychart, Nathalie LimatLetellier et Jean-Baptiste Para. Paris 2007, S. 714. 238 Louis Aragon: Der Flieder und die Rosen. Deutsch von Friedhelm Kemp. In: Carl August Weber: Dichtung der Gegenwart: Frankreich (1947), S. 68. 239 Ungleich spröder nimmt sich dagegen die Übersetzung von Ernst Waldinger aus, in der es heißt: „Den törichten Triumph, der unsern Zwist verdrängt“. In: Louis Aragon: Der Flieder und die Rosen. Deutsch von Ernst Waldinger. In: Die Fähre, Heft 1 (1946), S. 550. 240 Jules Supervielle: Œuvres poétiques complètes. Paris 1996, S. 407.

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In Kemps Übersetzung heißt es: Zu beiden Seiten der Pyrenäen

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Guitarre klagend und betrübter, Als spiele eines Toten Hand, Durch Andalusien klang es leise Und zieht gen Norden in das Land. Ist eine sterbensmüde Weise, Doch will sie noch zu Ohren dringen Und möchte zart und zärtlich klingen, Die schon verröchelt in des Schicksals Sand. Bist du das, Spanien, du in diesen blanken Läufen, Und stirbt man so, zerrissen, stückweis und zerschlagen, Was werden deine steinern Heiligen und deine Stiere sagen? Daß die Erschossenen so sehr den Schützen gleichen ... Auf allen Seiten sind nur Brüder rings zu schauen, Die gleichen strengen Mienen, Gestrüpp der gleichen Brauen, Und tausend Seelen sind demselben Blut vermischt, Wo eine einzige Sonne im roten Sand verzischt. [...] 241

Die ausschmückende Tendenz von Kemps Übersetzung erlaubt nicht nur die Rekonstruktion des Reimschemas der ersten Strophe (abcbcddb), sondern auch die Gestaltung eines eingängigen Rhythmus. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang die Verdopplung bzw. Verdreifachung der Adjektive; ein Verfahren, das Kemp in der ersten Strophe gleich zweimal anwendet. Der elegische Ton des Eingangsverses „un son plus triste de guitare“ wird bei Kemp durch die Hinzufügung eines Partizips intensiviert: „Guitarre klagend und betrübter“ [Hervorhebung A. S.]. Auch in Vers 7 wird diese Strategie fortgeführt. Hier Original und Übersetzung im Vergleich (V. 5–7): C’est une musique transie / Mais qui cherche à se faire entendre / Et se voudrait encore tendre Ist eine sterbensmüde Weise, / Doch will sie noch zu Ohren dringen / Und möchte zart und zärtlich klingen [Hervorhebung A. S.]

Hier gliedert Kemp das französische Adjektiv „tendre“ in die Bedeutungsdimensionen „zart“ und „zärtlich“ auf und fügt dem deutschen Vers auf diese Weise etwas Spielerisches hinzu, das dem für ein Klagegedicht betont nüchternen Duktus des Originals entgegensteht. Auch hier zeichnet sich 241 Jules Supervielle: Zu beiden Seiten der Pyrenäen. Deutsch von Friedhelm Kemp. In: Lancelot. Der Bote aus Frankreich. Heft 3 (1946), S. 41.

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ein Streben des Übersetzers nach rhythmischem Gleichmaß ab: Während in der ersten Strophe des Originals achtsilbige Verse (octosyllabes) dominieren, weisen die Verse 5 bis 7 in Kemps Fassung jeweils 9 Silben auf. In der zweiten Strophe dient die Strategie der Intensivierung weniger der poetischen Ausschmückung als der Anschaulichkeit. Originalvers und Übersetzung lauten: Supervielle: „Est-ce ainsi que l’on meurt, par paquets inégaux“ Kemp: „Und stirbt man so, zerrissen, stückweis und zerschlagen“

Kemps Fassung stellt dem Ausdruck „par paquets inégaux“ (dt. „in ungleichen Bündeln“) drei Adjektive entgegen und betont damit die grauenerregende Verstümmelung der Kriegsopfer. Anders als in der ersten Strophe von Des deux côtés des Pyrénées, wo sich die hinzugefügten Adjektive als poetisierende Füllwörter allein im Hinblick auf das Reimschema rechtfertigen lassen, ist hier die Form der freieren Übersetzung dem Original angemessen. Neben Ergänzungen um des Reimes und des Rhythmus willen finden sich bei Kemp auch Versuche, den Ausgangstext zu konkretisieren; so auch in seiner Fassung der Pyrénées: Um die im Original vorgegebene Form des dreistufigen Reims auf „Hand“ (V. 2) und „Land“ (V. 4) abzuschließen, fügt Kemp das Reimwort „Sand“ (V. 8) hinzu und expliziert damit die im Original abstrakt gehaltene Szenerie. In der gleichen Übersetzung zeigt sich jedoch auch ein Fall, in dem sich Kemps Verfahren der Konkretisierung am Gesamtzusammenhang des Originals orientiert und damit größtmögliche Anschaulichkeit bei gleichzeitiger motivischer Korrespondenz mit dem Ausgangstext anstrebt. Die Verse 11 bis 13 lauten: Que vont dire tes saints de pierre et tes taureaux Pour se tirer dessus ce grand air de famille ... Et de tous les côtés l’on ne voit que des frères242 Was werden deine steinern Heiligen und deine Stiere sagen? Daß die Erschossenen so sehr den Schützen gleichen .... Auf allen Seiten sind nur Brüder rings zu schauen

Kemp konkretisiert die im Original abstrakt angelegten Motive von Schusswechseln („se tirer dessus“) und Familienähnlichkeiten („ce grand air de famille“), wenn er die Täter („Schützen“) und Opfer („Erschossene“) des Spanischen Bürgerkriegs als Menschen benennt, die sich „gleichen“. In Kemps Fassung dienen die Begriffe „Schützen“ und „Erschossene“ als Präfigurationen der „Brüder“ (V. 13), die stellvertretend für das gesamte spanische Volk stehen. Auf diese Weise intensiviert die deutsche 242 Jules Supervielles: Œuvres poétiques complètes, S. 407.

2.2 Zwischen Poetisierung und Transformation

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Übersetzung die paradoxe Situation des Bürgerkriegs, in der sich ein Volk selbst bekämpft. Die hier dargestellte Tendenz poetischer Ausgestaltung mündet in den sechziger Jahren in ein Streben nach Anschaulichkeit, das auf allzu starke Eingriffe in den Originaltext verzichtet. 2.2.2 Das Streben nach Anschaulichkeit Bereits in seiner frühen übersetzungstheoretischen Schrift Vom Übersetzen französischer Dichtung (1962) erhebt Kemp die Anschaulichkeit des übersetzten Textes zum entscheidenden Distinktionsmerkmal, dem er eine höhere Priorität zuschreibt als der Rekonstruktion formaler Gedichtelemente. Kritisch bewertet Kemp folglich diejenigen Übersetzungen, die seiner Meinung nach den Aspekt der Anschaulichkeit angesichts von „Silbenzwang und Reimnot“243 preisgeben, sich an „das unübersehbar Zutageliegende“ halten und dafür „schiefe Bilder, ungenaue Gedanken [und] falsche Satzkonstruktionen“ in Kauf nehmen.244 Beispielhaft lässt sich der Konflikt zwischen Anschaulichkeit und Formtreue anhand eines von Kemp 1962 durchgeführten Vergleichs zwischen Stefan Georges 1901 in Reimen verfasster Übersetzung von Baudelaires Fleurs du mal und seiner eigenen Prosaübertragung (1961) aufzeigen. In der Vorrede zur ersten Ausgabe der Blumen des Bösen hatte George betont, seine Übersetzung sei von der „ursprünglichen reinen freude am formen“ geprägt und wolle „weniger eine getreue nachbildung als ein deutsches denkmal“ schaffen.245 Hier zeichnet sich schon die Diskrepanz zwischen Kemps und Georges Zielsetzungen ab, die sich anhand der ersten Strophe von Baudelaires Sonett CXI Femmes damnées (Verdammte Frauen) nachvollziehen lässt: Charles Baudelaire: Femmes damnées Comme un bétail pensif sur le sable couchées, Elles tournent leurs yeux vers l’horizon des mers, Et leurs pieds se cherchant et leurs mains rapprochées Ont de douces langueurs et des frissons amers.246

243 Kemp: Nachbemerkung zu Die Blumen des Bösen (1962), S. 282. 244 Kemp: Anmerkungen zu Problemen der Übersetzung von Gedichten, S. 45. 245 Stefan George: Vorbemerkung. In: Ders.: Baudelaire. Die Blumen des Bösen. Umdichtungen (= Sämtliche Werke, Bd. 13/14). Hrsg. von der Stefan-George-Stiftung. Stuttgart 1983, S. 5. 246 Charles Baudelaire: Œuvres complètes 1. Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois. Paris 1975, S. 113.

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Übersetzung von Stefan George: Verdammte Frauen Wie rinder sinnend auf den uferkieseln So blicken sie zum fernen himmelsrand · Mit sanftem sehnen und mit fieberrieseln Verschlingt sich fuss mit fuss und hand mit hand.247

Kemps Äußerungen zu Georges Übersetzung fokussieren die Frage nach der detailgetreuen Wiedergabe der Gedichtszenerie und der Beibehaltung der vom Original vorgegebenen Stilhöhe. So heißt es in Bezug auf den vierten Vers: „›verschlingt sich hand mit hand‹ ist schön und genau“ – doch, so fügt Kemp einschränkend hinzu: „›fuß mit fuß‹ sagt eigentlich etwas zuviel“.248 Offensichtlich ist es Kemp nicht nur um das sinnliche Erfassen der beschriebenen Vorgänge zu tun, sondern auch um die Berücksichtigung des Informationsumfangs, den das Original seinem Leser offeriert. Kritik äußert Kemp ansonsten an gerade den Stellen, wo er die im Gedicht entworfene Szenerie verfälscht oder ihre Details getilgt sieht: „ärgerlich, und nur aus Georges asketischer Mißachtung aller ›zarten Empirie‹ begreiflich, sind [...] die harten ›uferkiesel‹, auf denen die Arme ruhen müssen, ohne daß man im übrigen erfährt, ob es sich um Meerkiesel oder um die eines Baches, eines Flusses handelt.“249 Neben der Anschaulichkeit spielt für Kemp auch die Wahrung der Stillage des Originals eine entscheidende Rolle – gerade die sieht er jedoch von George missachtet, der, wie Kemp ausführt, in seinen Übersetzungen „vor allem auf Würde und Hoheit erpicht [war], wobei er, was dem widerstrebte, meist überhöhte und veredelte“.250 Diese Tendenz der Nobilitierung erkennt Kemp beispielsweise in der Wortwahl von „Rinder“ („bétail“) und von „sinnend“ („pensif“).251 Kemps eigene, 1960 auf Anregung von Walther Killy252 begonnene und 1962 veröffentlichte Prosaübersetzung der Fleurs du mal, die er Georges Umdichtung entgegenstellt, motiviert sich gerade aus der von ihm angestrebten „größte[n] Treue des Sinnes, bei der jeder Gedanke [...] seine Schärfe und jedes Bild seine sinnliche Deutlichkeit behalten [solle]“.253 In diesem Sinne setzt er seine Prosaübertragung Verdammte Frauen der George-Fassung entgegen: 247 248 249 250 251 252 253

George: Baudelaire/Die Blumen des Bösen, S. 135. Kemp: Vom Übersetzen französischer Dichtung, S. 25. Ebd., S. 26. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd., S. 24. Ebd.

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Wie Vieh, nachdenkliches, so ruhn sie auf dem Sand und wenden ihre Augen nach dem Horizont der Meere; und ihre Füße suchen, ihre Hände greifen sich in süßem Sehnen und mit bitterem Schaudern.254

In Abgrenzung zu Georges Fassung hat Kemp nun Begriffe gewählt, die seiner Meinung nach dem Vokabular des Originals näher kommen: Der bei George als zu gewählt kritisierte Begriff „Rinder“ weicht dem herkömmlicheren des „Viehs“ und das Adjektiv „sinnend“ wird durch „nachdenklich“ ersetzt. Außerdem übersetzt Kemp „le sable“ wörtlich mit „Sand“ und tilgt das von George als Reimwort eingesetzte Kompositum „Uferkiesel“. In dem fast dreißig Jahre später entstandenen Aufsatz Einige Anmerkungen zu Problemen der Übersetzung von Gedichten (1990) beschäftigt sich Kemp erneut mit deutschen Übersetzungen von Baudelaires Fleurs du mal (diesmal mit dem Sonett Spleen LXXV ) und richtet auch hier ein besonderes Augenmerk auf die Elemente von Sinnlichkeit und Anschaulichkeit, die er unter dem Begriff von „Baudelaires Realismus“ zusammenfasst.255 Kemp zufolge wird in Georges gereimter Übersetzung die realistische Komponente „unanschaulich behandelt“.256 Im Original heißt es: Spleen Pluviôse, irrité contre la ville entière, De son urne à grands flots verse un froid ténébreux Aux pâles habitants du voisin cimetière Et la mortalité sur les faubourgs brumeux. 5

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Mon chat sur le carreau cherchant une litière Agite sans repos son corps maigre et galeux; L’âme d’un vieux poète erre dans la gouttière Avec la triste voix d’un fantôme frileux. Le bourdon se lamente, et la bûche enfumée Accompagne en fausset la pendule enrhumée, Cependant qu’en un jeu plein de sales parfums, Héritage fatal d’une vieille hydropique, Le beau valet de cœur et la dame de pique Causent sinistrement de leurs amours défunts.257

254 Baudelaire: Les fleurs du mal. Die Blumen des Bösen. Aus dem Französischen übertragen von Friedhelm Kemp. Mit einem Nachwort von Karl Maurer. Frankfurt am Main 1962, S. 209. 255 Friedhelm Kemp: Charles Baudelaire und das Christentum. Marburg/Lahn 1939. 256 Kemp: Anmerkungen zu Problemen der Übersetzung von Gedichten, S. 51. 257 Baudelaire: Œuvres complètes 1, S. 72.

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Die Übersetzung von Stefan George lautet: Trübsinn (1901) Der regen-mond scheint alle welt zu hassen · Aus seiner urne giesst er kalten graus Auf eines nahen friedhofs bleiche sassen Und sterben auf die nasse vorstadt aus. 5

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Mein magres tier mit ruheloser posse Am estrich hin nach einem lager sieht · Mit trüber stimme fröstelnd in die gosse Die seele eines toten dichters flieht. Der brummbass klagt mit den verkohlten scheiten Die fistelnd die verschnupfte uhr begleiten Und im gemisch von schmutzigen parfümen – Die überbleibsel einer krankenstube – Pikdame und der schöne karobube Sich toter liebestage düster rühmen.258

Impliziert George durch das gewählte Verfahren der Umdichtung gerade einen Verzicht auf Genauigkeit in der bildlichen Wiedergabe, stuft Kemp diese als unverzichtbares Element ein und kritisiert folglich die ›Unanschaulichkeit‹ von Georges Gedichtversion: In seiner ›Umdichtung‹ [...] ist die Katze abhanden gekommen, (denn das ›magre tier‹ könnte ebenso gut ein Hund sein); ›bourdon‹ und ›gouttière‹ sind falsch übersetzt (letztere wohl dem Reim zuliebe; aber der Dichter befindet sich doch eher in einer Dachstube, von der aus man die Gosse nicht wahrnimmt); der Herzbube hat sich in den unerheblicheren Karobuben verwandelt und die wassersüchtige Kartenschlägerin, die diese Mansarde vorher bewohnt hat, hat einer Krankenstube Platz gemacht; wobei man zudem noch versucht ist, die ›überbleibsel einer krankenstube‹ als Apposition zu dem ›gemisch von schmutzigen parfümen‹ zu lesen, statt sie auf die Spielkarten zu beziehen.259

In diesen Sätzen wird deutlich, welche Schwerpunkte Kemp als Übersetzungskritiker setzt: Ihm geht es weniger um Baudelaires Behandlung der Sonettform als um die möglichst originalgetreue Rekonstruktion der düster-morbiden Faubourg-Szenerie. Auch Margot Melenk betont das Fragmentarische von Georges Übersetzung, wenn sie dieser einen „kaleidoskopartigen Charakter“ bzw. eine ›disparate‹ Behandlung der Bildelemente attestiert: „Aus den ersten beiden Versen ist in der phantasievollen Folge von Bildfragmenten die Einheit eines Zimmers (3.1–2) schwer herauszulesen. Die Parfüme sind von dem Kartenspiel gelöst, verselbständigt, und 258 George: Baudelaire/Die Blumen des Bösen, S. 87. 259 Kemp: Anmerkungen zu Problemen der Übersetzung von Gedichten, S. 51.

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das Kartenspiel selbst fehlt ganz: ›Pikdame und der schöne Karobube‹ treten unvermittelt gleich in eigener Person auf.“260 Gerade diese Details versucht Kemp in seiner Prosaübertragung zu bewahren: Spleen Der Regenmonat, auf die ganze Stadt erbost, gießt finstre Kälte in großem Schwall aus seinem Krug dem bleichen Volk des nahen Kirchhofs und Sterblichkeit hernieder auf die nebelgrauen Vorstädte. Meine Katze, die sich auf den Fliesen eine Streu sucht, regt ruhlos ihren räudig dürren Leib; die Seele eines alten Dichters irrt in der Traufe, mit den Jammerlauten eines frierenden Gespensts. Dumpf klagend tönt die schwere Glocke, und das halbverrauchte Scheit begleitet im Falsett die heisere Standuhr, während in einem Kartenspiel voll schmutziger Gerüche – Verhängnisvolle Erbschaft einer wassersüchtigen Alten – der schöne Herzbube und Piquedame schauerlich von ihrer toten Liebe plaudern.261

Nicht alle übersetzerischen Entscheidungen Kemps lassen sich aus der Abgrenzung von der George’schen Fassung ableiten. Wird „Mon chat“ wörtlich mit „Meine Katze“ wiedergegeben, so wählt Kemp für „bourdon“ die Wendung „schwere Glocke“ anstelle des von George bevorzugten „brummbass[es]“. Diese Entscheidung scheint jedoch keine zwangsläufige, sondern eine interpretative zu sein; denn „bourdon“ kann sowohl im Sinne eines „basse continue de divers instruments“262 aufgefasst werden – was Georges Neologismus „brummbass“ semantisch durchaus zu stützen scheint – als auch im Sinne der von Kemp bevorzugten „grosse cloche à son grave“.263 Der Blick ins Wörterbuch schmälert die Plausibilität von Kemps Urteil, George habe „falsch übersetzt“.264 Rückblickend spricht Kemp seiner Form der Prosaübersetzung eine größere Aktualität zu als der gereimten Nachdichtung: „Ich war überzeugt, daß eine Prosaversion heute, wie eine Radierung oder eine Lithographie (statt eines Gemäldes) geeigneter sei, das, was der Dichter hier evoziert, eindringlich wiederzugeben, als ein bemühtes Reimgebilde.“265 Kemp strebt also kein deutschsprachiges Baudelaire-Sonett, sondern einen rhythmisch durchge260 Melenk (1974), S. 94. 261 Baudelaire: Les fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen. Aus dem Französischen übertragen von Friedhelm Kemp. Mit einem Nachwort von Karl Maurer. Frankfurt am Main 1962, S. 123. 262 Hachette Dictionnaire encyclopédique. Grand format. Édité sous la responsabilité d’Emmanuel Fouquet. Paris 2001, S. 201. 263 Ebd. 264 Kemp: Anmerkungen zu Problemen der Übersetzung von Gedichten, S. 51. 265 Ebd., S. 52.

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formten Text an, der den Leser bei seiner Annäherung ans Original begleitet: Als keineswegs unergiebiger Ersatz für die durch die Preisgabe von Metrum und Reim erlittenen Verluste erwies sich die Möglichkeit, Satzführung und Satzgliederung im Deutschen so durchzubilden, dass sie, mit einer Art säuberlicher Schattenhaftigkeit sich begnügend, für das Ohr poetische Qualität gewannen.266

In der präzisen Ausgestaltung der Großstadtmotive von Baudelaires Sonett Spleen lässt sich Kemps Ideal der Anschaulichkeit schlüssig nachvollziehen. Nicht nur in den Baudelaire-Übersetzungen, auch in seinen Fassungen der Gedichte des Lyrikers Yves Bonnefoy (geb. 1923) schlägt sich Kemps Streben nach Anschaulichkeit nieder. Nachdem Kemp 1959 von Claude Vigée auf Yves Bonnefoy aufmerksam gemacht worden war,267 stieß er in einer internationalen Lyrikanthologie auf die erste deutsche Übersetzung von Bonnefoys Gedicht Veneranda aus dem Band Hier régnant désert (1958), angefertigt von H. U. Stettler. Das Original lautet: Veneranda I Il vient, il est le geste d’une statue, Il parle, son empire est chez les morts, Il est géant, il participe de la pierre, Elle-même le ciel de colère des morts. Il saisit. Il attire et tient sur son visage, Lampe qui brûlera dans le pays des morts, L’infime corps criant et ployé de l’orante, Il le protège de l’angoisse et de la mort.268

Bonnefoys Gedicht Veneranda (dt. „Anbetungswürdige“) steht in dem Zyklus Le visage mortel (Das tödliche Antlitz) in einem größeren Zusammenhang anderer Gedichte mit dem gleichen Titel. Im ersten der insgesamt drei gleichnamigen lyrischen Texte wird das für den gesamten Band emblematische Motiv der „orante“, der betenden Frau, eingeführt, das auf urchristlichen Wandgemälden in den römischen Katakomben als Symbol für die im Frieden Gottes lebende Seele steht.269 Bei Bonnefoy heißt es: „L’orante

266 Ebd., S. 46. 267 Vgl. dazu Friedhelm Kemp: ›Alles ist neu zu sagen‹. In: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 11 (1997), S. 369–378, hier S. 371. 268 Bonnefoy: Hier régnant désert. In: Ders.: Poèmes. Préface de Jean Starobinski. Paris 2007, S. 142. 269 Vgl. Yves Bonnefoy: Beschriebener Stein und andere Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Deutsch von Friedhelm Kemp. München 2004, S. 348.

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est seule dans la salle basse très peu claire“ (V. 1).270 Sein Gedicht evoziert die Figur nicht in der charakteristischen Haltung mit geöffneten Armen, sondern in einer niedrigen Kammer, vermutlich in kniender Haltung. An diese Vergegenwärtigung schließt Veneranda I an, wo in der zweiten Strophe vom „infime corps criant et ployé de l’orante“ die Rede ist. Anders als in der traditionellen christlich-antiken Wandmalerei erscheint die „orante“ hier als Leidende, von Angst und Tod Bedrohte. Bei H. U. Stettler heißt es: Veneranda Er naht, Gebärdenspiel der Standfigur, Er spricht. Sein Bannkreis: bei den Toten; Riesenwuchs, von Steinen stammend, Vom Zorngebälk der Toten. Er greift. Auf seinem Antlitz lagert, Lüster für das Land der Toten, Der Gnom, ein Schrei, vom Morden matt: Er schafft ihm Schutz vor Angst und Toten.271

Kemp berichtet, ihn hätten die „Fehlübersetzungen“ und „krasse[n] Willkürlichkeiten“ in der deutschen Fassung von Stettler in solchem Maße gereizt, dass er sich zu einem eigenen Übersetzungsversuch herausgefordert gefühlt hätte.272 Tatsächlich kann man Stettlers Fassung angesichts sinnentstellender Eingriffe, lexikalischer Irrtümer273, Tilgungen und holperiger Wendungen nur als misslungen bezeichnen: Die deutsche Fassung vermag ihrem Leser das Original nicht einmal ansatzweise nahezubringen. Am gravierendsten erscheint die Tilgung der Figur der orante (der Betenden) bzw. ihre Ersetzung durch den Begriff „Gnom“. Dieser Eingriff suggeriert im Deutschen eine schauerphantastische Szenerie, die im Original nicht angelegt ist. Schwer nachvollziehbar ist auch die Entscheidung des Übersetzers, das auf den zerbrechlichen Körper („l’infime corps“) der Betenden bezogene Adjektiv „ployé“ mit der Wendung „vom Morden matt“ wiederzugeben. Aus der im Original knienden Betenden wird bei Stettler ein mordendes Fabelwesen. Kemps Fassung, die 1961 in der Neuen Rundschau veröffentlicht wurde, lautet wie folgt: 270 Bonnefoy: Herrschaft des Gestern: Wüste (1969), S. 28–29. 271 Panorama moderner Lyrik. Gedichte des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Günther Steinbrinker und Rudolf Hartung. Gütersloh [1960], S. 488. 272 Kemp: Das Übersetzen als literarische Gattung, S. 56. 273 Bei der Wahl des Begriffs „Zorngebälk“ als Entsprechung für die Wendung „ciel de colère“ wurden die Begriffe „charpente“ (Gebälk) und „ciel“ (Himmel) miteinander vertauscht.

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Veneranda I Er kommt, er ist Gebärde eines Standbilds, er spricht, sein Reich ist bei den Toten, er ist Riese, hat teil am Stein, an dem steinernen Zorn-Himmel der Toten. Er greift. Er hebt und hält sich vors Gesicht, Lampe, die brennen wird im Land der Toten, den winzigen, den schreiend krummen Leib der Beterin, er schirmt ihn vor der Angst und vor dem Tod.274

In Abgrenzung zu den willkürlich erscheinenden Veränderungen in Stettlers deutscher Fassung bemüht sich Kemp um Präzision und Anschaulichkeit. Heißt es in Vers 3 und 4 des Originals: „[Il] participe de la pierre, / Elle-même le ciel de colère des morts“, bewahrt Kemp den doppelten Bezug des Steins zum Personalpronomen „il“ und zum „ciel de colère“, wofür er eine Wiederholung des Motivs in Kauf nimmt: „er ist Riese, hat teil am Stein, / an dem steinernen Zorn-Himmel der Toten“ [Hervorhebung A. S.]. In der deutschen Fassung der ersten Strophe behält Kemp zudem sämtliche anaphorische Strukturen bei („Il vient“; „il est geste“; „il parle“; „il est géant“): „Er kommt“; „er ist Gebärde“; „er spricht“; „er ist Riese“. Plastisch übersetzt hat Kemp auch das bereits erwähnte, für Bonnefoys Veneranda-Gedichte zentrale Motiv der „orante“: „den winzigen, den schreiend krummen Leib der Beterin“ (V. 7). Wie nah sich der Übersetzer mit seiner deutschen Fassung ans Original zu halten versucht, wird auch in der wörtlichen Entsprechung des Partizips „criant“ („schreiend“) deutlich. Problematisch wird die Tendenz zur Anschaulichkeit, wenn Kemp sie nicht mit dem jeweils zu übertragenden Gedicht und seinen stilistischen Eigenheiten abgleicht, sondern sie zu einem textunabhängigen Ideal erhebt und damit seinem eigenen Primat einer nicht normativen, sondern strikt werkbezogenen Übersetzerpoetik zuwiderhandelt. Je nachdem, welchen Text er im Deutschen gestalten will, entspricht oder widerstrebt seine Übersetzerstrategie der textinternen Dynamik des Originals. Trotz seiner theoretisch fundierten und konsequent vertretenen Ablehnung normativer Konzepte bildet Kemp in seiner Übersetzungspraxis mit dem Streben nach Anschaulichkeit offensichtlich ein kontextunabhängiges Ideal heraus. Anstatt das Bemühen um die präzise Wiedergabe detailreicher Motive, wie er es in den Prosa-Übertragungen aus dem Werk Baudelaires praktiziert hat, als ein autoren- bzw. textspezifisches anzusehen, überträgt er dieses Primat auf die deutschen Fassungen der Gedichte Yves 274 Bonnefoy: Herrschaft des Gestern: Wüste (1961), S. 623.

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Bonnefoys. Zwar kann sich eine Übersetzung wie die von Bonnefoys Veneranda dank ihrer Genauigkeit gegenüber der eines weniger souveränen Übersetzers wie H. U. Stettler profilieren. Wie sich anhand weiterer deutscher Bonnefoy-Fassungen zeigen wird, birgt Kemps Streben nach Anschaulichkeit jedoch auch die Gefahr, ungewöhnlich abstrakte und sperrige Bildsequenzen zu konkretisieren und die spezifische Ausdruckskraft des Originals zu nivellieren. Dieser Tendenz wird im Folgenden nachgegangen. 2.2.3 Die Mechanismen der Orthonymie Das Phänomen der Konventionalisierung und Einebnung spezifischer Elemente des Ausgangstexts haben die Linguisten Chevalier und Delport unter dem Begriff der „Orthonymie“ untersucht.275 Auch Friedhelm Kemp diskutiert die Gefahr, dass ein Übersetzer die Individualität eines Textes schmälert, indem er ungewöhnliche Ausdrücke durch idiomatische Wendungen ersetzt. Wer sich mit Griffen in den Vorrat des Eingebürgerten, Durchgesetzten, des Üblichgewordenen begnügt, wo er sich dem älteren oder neueren Dichter doch eben um seiner Originalität und Andersartigkeit willen zugewandt hat, der ist bald mit Recht vergessen. Wer das Idiom, in das hinein er übersetzt, über Gebühr, über das Maß des Geduldeten hinaus verfremdet, läuft Gefahr, den Leser, den er doch zu diesem Dichter verführen möchte, abzuschrecken.276

Formuliert Kemp mit eigenen Worten die seit Schleiermacher diskutierte Frage, ob der Leser dem Autor oder der Autor dem Leser angenähert werden solle, so zielt seine Argumentation auf eine Kompromisslösung, die in jeder Übersetzung neu gefunden werden müsse. Obwohl Kemp in seinen theoretischen Schriften ein Sensorium für die Spezifika des Originals beweist, lassen einige seiner Übersetzungen darauf schließen, dass er seinen Forderungen gerade dann zuwiderhandelt, wenn er die Anschaulichkeit der deutschen Fassung durch sperrige Wendungen gefährdet sieht. Konfrontiert das Original seinen Leser mit allzu ungewöhnlichen Motiven, so tendiert Kemp dazu, diese Elemente einzuebnen. Die aus diesem Verfahren resultierende Diskrepanz zwischen Kemps theoretischen Forderungen und ihrer praktischen Umsetzung soll mit Hilfe einiger Textbeispiele erläutert werden. Das Phänomen der Orthonymie im Sinne einer Entkonkretisierung des im Original angelegten Verweisungszusammenhangs manifestiert sich 275 Vgl. Kap. 1. 276 Kemp: Anmerkungen zu Problemen der Übersetzung von Gedichten, S. 47.

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in Kemps Übersetzung von Jules Supervielles Gedicht Lourde, das dieser gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in seiner Heimat Uruguay verfasst hat. Er war 1939 nach längeren Aufenthalten in Frankreich erneut nach Uruguay gereist, wo er, vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht, bis 1945 blieb. Sein Gedicht Lourde lautet wie folgt: Lourde à A. Ruano Fournier 277

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Comme la Terre est lourde à porter! L’on dirait Que chaque homme a son poids sur le dos. Les morts, comme fardeau, N’ont que deux doigts de terre, Les vivants, eux, la sphère. Atlas, ô commune misère, Atlas, nous sommes tes enfants, Nous sommes innombrables, Toute seule est la Terre Et pourtant et pourtant Il faut bien que chacun la porte sur le dos, Et même quand il dort, encore ce fardeau Qui le fait soupirer au fond de son sommeil, Sous une charge sans pareille! Plus lourde que jamais, la Terre en temps de guerre, Elle saigne en Europe et dans le Pacifique, Nous l’entendons gémir sur nos épaules lasses Poussant d’horribles cris Qui dévorent l’espace. Mais il faut la porter toujours un peu plus loin Pour la faire passer d’aujourd’hui à demain.278

Supervielles Gedicht Lourde liest sich als Variation auf den Mythos des Titanen Atlas, der das Himmelsgewölbe auf Kopf und Schultern zu tragen hat.279 In seiner Version des Mythos rekurriert es auf die vor allem in der Malerei verbreitete Darstellung von Atlas als Träger der Weltkugel, wenn er dessen Rolle den Menschen – als den Nachkommen des Giganten („Atlas, ô commune misère, / Atlas, nous sommes tes enfants“, V. 6–7) – zuschreibt. Sie laden sich das Gewicht des Globus und damit das Leiden 277 Der Widmungsträger des Gedichts Lourde, Agustín Ruano Fournier, seit 1940 mit Supervielle bekannt, gehörte der Universität von Montevideo an und unterstützte 1944 Supervielles Plan, dort eine Reihe von Vorträgen zu halten. Vgl. Supervielle: Œuvres poétiques complètes, S. 903. 278 Supervielle: Œuvres poétiques complètes, S. 422 f. 279 Vgl. Eintrag „Atlas“ in: Edward Tripp: Reclams Lexikon der antiken Mythologie. Übersetzung von Rainer Rauthe. Stuttgart 72001, S. 117 f.

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an der Vergänglichkeit der irdischen Existenz auf: „Comme la terre est lourde à porter! L’on dirait / que chaque homme à son poids sur le dos“ (V. 1–2). Die Sprechinstanz differenziert die Lebenden und die Toten, indem sie Letzteren eine (säkularisierte) Form von Erlösung zuspricht, die darin besteht, dass diese nicht mehr die Last der Weltkugel zu stemmen haben, sondern nur noch das Erdreich über ihrer Grabstätte: „Les morts, comme fardeau, / N’ont que deux doigts de terre, / Les vivants, eux, la sphère“ (V. 3–5). In Supervielles Gestaltung der Atlas-Figur verknüpft sich die zeitenthobene Dimension des Mythos mit einem expliziten Gegenwartsbezug, der in Vers 15 den zweiten Teil des Gedichts einleitet. Variiert und intensiviert dieser die Aussage des Eingangsverses („Comme la terre est lourde à porter!“), so betont er die Steigerung des menschlichen Leids in Zeiten des Krieges („Plus lourde que jamais, la terre en temps de guerre“), dessen zentrale Schauplätze er geographisch voneinander abgrenzt: „[La terre] saigne en Europe et dans le Pacifique“ (V. 16). Mit seiner doppelten Blickrichtung situiert sich der Sprecher am Entstehungsort des Gedichtes: in Südamerika. Von diesem – aus europäischem Blickwinkel – dezentrierten Beobachtungspunkt aus verfolgt er die Kriegsereignisse und verweist mit dem Begriff „Pazifik“ auf den Überfall der Japaner auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbour (Hawaii) am 7. Dezember 1941, der zum Kriegseintritt der USA führte. Die Schlussverse verknüpfen die Zeitzeugen-Perspektive des französischen Schriftstellers Supervielle mit dem mythologischen Atlas-Motiv und münden in einen Appell an die Schicksalsgemeinschaft der vom Krieg betroffenen Menschen. Im dritten Heft der Zeitschrift Lancelot. Der Bote aus Frankreich von 1946 eröffnet Kemps Übersetzung Bürde eine Reihe von fünf SupervielleGedichten, von denen zwei einen konkreten Zeitbezug aufweisen. In seinem vorangestellten Kommentar unterstreicht Louis Aragon zum einen die Bedeutung, die das „amerikanische[] Exil“ für das poetische Werk Supervielles hatte, zum anderen benennt er den Entstehungszeitraum der ausgewählten Gedichte von 1939 bis 1945280 und unterstreicht damit den für das Textverständnis bedeutsamen historisch-geographischen Entstehungskontext. Genau dieser wird in Kemps deutscher Gedichtfassung durch die Tilgung einzelner Schlüsselwörter abgeschwächt:

280 Louis Aragon: Kommentar zu Jules Supervielle. In: Lancelot. Der Bote aus Frankreich. Heft 3 (1946), S. 36–37, hier S. 36.

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Bürde 281 Für A. Ruano Fournier

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Wie schwer ist die Erde zu tragen! Als ging jeder menschliche Rücken Krumm unter die Last ihrer Kugel gebückt. Unten die Toten drückt Nur ein wenig lockere Erde, Die Lebenden stemmen den ganzen Ball. Atlas, o deine und unsre Beschwerde, Atlas, wir sind deine Kinder, Unzählige überall, Und es ist eine einzige Erde; Und dennoch, dennoch nicht minder Muss jeder sie tragen auf seinem Rücken, Selbst im Schlafe noch spürt er sie drücken Und stemmt in den Tiefen des Schlummers mit Keuchen Die Last ohnegleichen. Schwerer als je diese Erde des Krieges, Europa im Blute und blutende Meere, Wir hören sie ächzen, indes fast die Schultern versagen, Ihre Schreie verschlingen Den Raum, den sie gräßlich durchschlagen. Doch gilt es, die Last zu behalten und vorwärts zu dringen, Um die Erde von heute ins Morgen zu bringen.282

Kemp ersetzt in seiner Fassung die Bezeichnung „Pazifik“ (V. 16) durch den abstrakteren Ausdruck „Meere“ und entkonkretisiert auf diese Weise die im Original angelegte Kriegsszenerie. Dadurch wird der Gesamtzusammenhang des Gedichts enthistorisiert. Die sowohl nach Osten als auch nach Westen gerichtete Doppelperspektive des Sprechers, der die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs von Uruguay aus verfolgt, wird bei Kemp auf den Blick nach Europa und die angrenzenden Meere reduziert. Die Verwendung des Gattungsbegriffs Meere weitet die Verheerungen des Krieges ins Globale, aber damit auch ins Zeitlose aus: Bleiben Europa und die Meere als alleinige Referenzpunkte zurück, so geht der dem Original inhärente, konkrete Bezug zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs verloren. Auf diese Weise schwächt die deutsche Fassung die für Super281 Die Übersetzung des Gedichttitels „Lourde“ (dt. „schwer“) mit dem Begriff „Bürde“ belegt Kemps Streben nach Anschaulichkeit: Das im Original auf den Begriff „terre“ (V. 1, 15) bezogene Adjektiv wird im Deutschen durch ein Substantiv ersetzt, das einen altertümlichen Beiklang hat. Durch diese Ersetzung wird der Gedichttitel einerseits konkretisiert, andererseits wird der Bezug zwischen dem Titel und den Versen im Vergleich zum Original abgeschwächt. 282 Jules Supervielle: Bürde. Übertragen von Friedhelm Kemp. In: Lancelot. Der Bote aus Frankreich. Heft 3 (1946), S. 39.

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vielles Gedicht charakteristische Verschmelzung von Zeitkritik und mythischer Überlieferung. Gleichzeitig verstärkt Kemp das Blut-Motiv, indem er das Substantiv „Blut“ in Form des Adjektivs „blutende“ wiederholt und damit auf ein poetisierendes Stilmittel zurückgreift, das im Original in der Form nicht vorliegt. Neben der Entkonkretisierung, wie sie anhand von Kemps SupervielleÜbersetzung Bürde dargelegt wurde, manifestiert sich das Phänomen der Orthonymie auch in einer Tendenz zur Konventionalisierung, wie seine Übersetzung von Yves Bonnefoys Gedichtzyklus Menaces du Témoin aus dem Band Hier régnant désert (1958) zeigt, die unter dem Titel Herrschaft des Gestern: Wüste (1961/1969) veröffentlicht worden ist. Bonnefoys Gedicht lautet wie folgt: Menaces du témoin I

5

Que voulais-tu dresser sur cette table, Sinon le double feu de notre mort? J’ai eu peur, j’ai détruit dans ce monde la table Rougeâtre et nue, où se déclare le vent mort Puis j’ai vieilli. Dehors, vérité de parole Et vérité de vent ont cessé leur combat. Le feu s’est retiré, qui était mon église, Je n’ai même plus peur, je ne dors pas. II

5

Vois, déjà tous chemins que tu suivais se ferment, Il ne t’est plus donné même ce répit D’aller même perdu. Terre qui se dérobe Est le bruit de tes pas qui ne progressent plus. Pourquoi as-tu laissé les ronces recouvrir Un haut silence où tu étais venu? Le feu veille désert au jardin de mémoire Et toi, ombre dans l’ombre, où es-tu, qui es-tu? III Tu cesses de venir dans ce jardin, Les chemins de souffrir et d’être seul s’effacent, Les herbes signifient ton visage mort.

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Il ne t’importe plus que soient cachés Dans la pierre l’église obscure, dans les arbres Le visage aveuglé d’un plus rouge soleil,

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Il te suffit De mourir longuement comme en sommeil, Tu n’aimes même plus l’ombre que tu épouses. IV Tu es seul maintenant malgré ces étoiles, Le centre est près de toi et loin de toi, Tu as marché, tu peux marcher, plus rien ne change, Toujours la même nuit qui ne s’achève pas. 5

Et vois, tu es déjà séparé de toi-même, Toujours ce même cri, mais tu ne l’entends pas, Es-tu celui qui meurt, toi qui n’a plus d’angoisse, Es-tu même perdu, toi qui ne cherches pas? V Le vent se tait, seigneur de la plus vieille plainte, Serai-je le dernier qui s’arme pour les morts? Déjà le feu n’est plus que mémoire et que cendre Et bruit d’aile fermée, bruit de visage mort.

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Consens-tu de n’aimer que le fer d’une eau grise Quand l’ange de ta nuit viendra clore le port Et qu’il perdra dans l’eau immobile du port Les dernières lueurs dans l’aile morte prises? Oh, souffre seulement de ma dure parole Et pour toi je vaincrai le sommeil et la mort, Pour toi j’appelerai dans l’arbre qui se brise La flamme qui sera le navire et le port Pour toi j’élèverai le feu sans lieu ni heure, Un vent cherchant le feu, les cimes du bois mort, L’horizon d’une voix où les étoiles tombent Et la lune mêlée au désordre des morts.283

Der aus fünf Gedichten bestehende Zyklus Menaces du témoin eröffnet Bonnefoys Gedichtband Hier régnant désert mit einer Inszenierung des Verlorenseins, der Ausweglosigkeit und der Absenz: Die Erde entzieht sich (vgl. II, V. 3), die Wege verlöschen (vgl. II, V. 1), das vom Sprecher-Ich adressierte Du ist ein von sich entfremdetes (vgl. IV, V. 1). Die Gleichzeitigkeit von innerer Einsamkeit und äußerer Ödnis wird im Begriff désert kondensiert, wenn es heißt: „Le feu veille désert au jardin de mémoire“ (II, V. 9). Im Adjektiv „désert“ (dt. „einsam, verlassen“) klingt auch die 283 Bonnefoy: Menaces du témoin. In: Ders.: Poèmes. Préface de Jean Starobinski. Paris 2007, S. 117–121.

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Bedeutung des homonymen Substantivs „le désert“ (dt. „Wüste“) mit an.284 In seinem Zyklus Menaces du témoin vergegenwärtigt Bonnefoy die Wüste als verdorrten „jardin de mémoire“ (II, V. 7), als einen Ort, an dem das Absterben der Pflanzenwelt („cimes du bois mort“ (V, V. 14)) und das Sterben des Du („Il te suffit / De mourir longuement comme en sommeil“ (III, V. 7–8)) sich gegenseitig bespiegeln: „Les herbes signifiaient ton visage mort“ (III, V. 3). Von der ersten Strophe an wird das allgegenwärtige Todes-Motiv mit einem Ritual korreliert, bei dem das vom lyrischen Ich angesprochene Du auf einem Altartisch eine doppelte Flamme entzündet, „le double feu de notre mort“ (I, V. 2). Im Mittelpunkt dieses Vorgangs steht weniger die Verehrung einer göttlichen Instanz als die Affirmation der Vergänglichkeit menschlichen Lebens.285 Diese Form der Resignation des Du geht einher mit der Abwesenheit von Angst (vgl. I, V. 8; IV, V. 7) und mit Gefühllosigkeit (vgl. III). Das Korrelat zu dieser emotionalen Erstarrung stellt das erloschene Feuer dar, das in der Vergangenheit als Orientierungspunkt (I, V. 7) fungiert hatte und nun im „Garten der Erinnerung“ (II, V. 7) überdauert, bevor es schließlich, im Rahmen eines zweiten Rituals, vom Sprecher-Ich erneut aufgerufen wird: Das in der ersten Strophe initiierte Motiv der doppelten Flamme setzt sich hier in weiteren zweigliedrigen Wendungen fort, die zunächst den Verlust des Feuers („Déjà le feu n’est plus que mémoire et que cendres“ (V, V. 3)) und dann die mit seinem Wiederaufflammen verbundenen Hoffnungen ausstellen: „La flamme qui sera le navire et le port“ (V, V. 12). Figurierte das Doppelfeuer am Zyklusbeginn als Zeichen des Todes, so steht es am Schluss für die ersehnte Überwindung von Schlaf und Tod (V, V. 10). Wie gefährdet diese Zukunftsvision ist, zeigt sich an der gegenläufigen, von Aufwärts- und Abwärtsbewegungen geprägten Binnenstruktur der letzten Strophe des Schlussgedichts (V, V. 13–16): Pour toi, j’élèverai le feu sans lieu ni heure Un vent cherchant le feu, les cimes du bois mort, L’horizon d’une voix où les étoiles tombent Et la lune mêlée au désordre des morts.286

Zwei widerstrebende Kräfte begegnen sich hier: Das Sprecher-Ich initiiert mit seinem ›Aufruf‹ die im Verb „élever“ angelegte Aufwärtsbewegung der neu entzündeten Flamme (V. 1), die sich zunächst im Motiv des aufkommenden Windes, der Baumwipfel (V. 2) und des Horizonts fortsetzt, be284 Das Adjektiv „être désert“ und das Substantiv „le désert“ sind sowohl homophon als homograph. 285 Vgl. Naughton (1984), S. 98. 286 Bonnefoy: Poèmes, S. 121.

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vor in den beiden Schlussversen eine Abwärts- und damit eine Gegenbewegung einsetzt. Das Hinabstürzen der Gestirne („les étoiles tombent“) bildet den prekären Höhepunkt eines Orientierungsverlusts, der sich schon einige Zeilen zuvor abgezeichnet hat, da die Sterne offensichtlich ihre Leit- und Trostfunktion eingebüßt haben: „Tu es seul maintenant malgré ces étoiles“ (IV, V. 1). Nicht nur die Sterne, auch der Mond wird von der finalen Abwärtsbewegung erfasst und bleibt dem Totenreich verhaftet: „la lune mêlée au désordre des morts“ (V, V. 16). Die Zuversicht, die sich im Appell des Sprecher-Ich an das Feuer, den Wind, den Horizont und den Mond niederschlägt, wird ins Futurische verlegt („J’élèverai le feu [...], un vent [...], L’horizon [...], Et la lune“ (V, V. 13–16 ) und steht damit bis zuletzt unter Vorbehalt, zumal der letzte Vers mit einem TodesMotiv („désordre des morts“) endet. Der erste Zyklus von Bonnefoys zweitem Gedichtband schließt mit Evokation des Mondes, der nicht am Himmel auf-, sondern im Totenreich untergeht. Kemps Fassung lautet: Drohungen des Zeugen I Was wolltest du errichten über diesem Tisch? Wars nicht in einem Feuer unser beider Tod? Ich hatte Furcht, in dieser Welt zerstörte ich den Tisch, den rot und nackten; der da geht, der Wind, ist tot. 5

Dann kam das Alter. Draußen, wahres Wort und des Windes Wahrheit stritten länger nicht. Das Feuer wich zurück, das meine Kirche war, abhanden kam mir selbst die Furcht, ich schlafe nicht. II Sieh, schon verschließen sich die Wege, die du gingst, nicht einmal dieser Aufschub bleibt dir noch, verloren hinzuwandern. Erde, die nicht trägt, ist deiner Schritte Hall am gleichen Ort.

5

Was ließest du den Dornen jene hohe Stille, in der du kamst? Unkenntlich wuchs sie zu. Im Garten der Erinnerung hält vereinsamt das Feuer Wacht, und du, Schatten im Schatten, wo bist, wer bist du? III Du kommst nicht mehr in diesen Garten, des Leidens Pfade und Alleinseins löschen hin, die Kräuter zeigen dein erstorbenes Gesicht.

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Nicht mehr kümmerts dich, daß sie versteckt sind dort, im Stein die dunkle Kirche, in den Bäumen erblindet einer Sonne röteres Gesicht. Dir aber genügt ein langes Sterben wie im Schlaf, und selbst das Dunkel, in das du einsinkst, liebst du nicht. IV Du bist allein jetzt, unerachtet dieser Sterne, nah ist die Mitte dir und ist dir fern, du gingst, du kannst noch gehen, nichts mehr ändert sich, die gleiche Nacht stets, und sie endet nicht.

5

Und sieh, schon bist du von dir selbst getrennt, stets dieser gleiche Schrei, du aber hörst ihn nicht, bist du der Sterbende, du ohne Angst, bist du verloren denn, du der nicht sucht? V

5

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Der Wind verstummt, Meister der ältesten Klage, werd ich der Letzte sein, der für die Toten sich waffnet? Schon ist das Feuer nur Erinnerung noch, nur Asche, Laut eines Flügels, der sich schloß, Gesichts, das erlosch. Bist du bereit, das Eisen nur zu lieben eines grauen Wassers, wenn jetzt der Engel deiner Nacht kommt und den Hafen schließt und im regungslosen Wasser des Hafens den letzten Schein verliert, der sich im toten Flügel fing? Oh, wolle nur an meinem harten Worte leiden und ich für dich will siegen über Schlaf und Tod, für dich will ich im Baum, der bricht, die Flamme rufen, die das Schiff und die der Hafen sein wird. Für dich will ich das Feuer aufrufen ohne Ort und Stunde, einen Wind, der dieses Feuer sucht, und Wipfel dürren Holzes, und einer Stimme Horizont, an dem die Sterne stürzen, und dann den Mond, der aus dem Wust der Toten steigt.287

Kemp nimmt in seiner Übersetzung Drohungen des Zeugen zwei Eingriffe vor, die nicht nur die Semantik der jeweiligen Verse, sondern die Charakteristika von zwei für den Gesamtzyklus relevanten Motiven beeinflussen und diese, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, in mehrfacher Hinsicht konventionalisieren. 287 Erstabdruck: Yves Bonnefoy: Drohungen des Zeugen. In: Herrschaft des Gestern: Wüste (1961), S. 611–613. Danach aufgenommen in: Yves Bonnefoy: Hier régnant désert. Herrschaft des Gestern: Wüste. Deutsch von Friedhelm Kemp. München 1969, S. 7, 9.

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Zunächst tilgt Kemp in der ersten Strophe das in die Ritual-Szene eingebettete Motiv der doppelten Flamme („le double feu de notre mort“), da er die Verdopplung nicht auf das Feuer selbst, sondern auf Ich und Du bezieht: „Was wolltest du errichten über diesem Tisch? / Wars nicht in einem Feuer unser beider Tod?“ (I, V. 1–2). Kemp unterlegt also Bonnefoys TodesMotiv eine Dimension der Erlösung und des Trostes, indem er den gemeinsamen Tod „in einem Feuer“ (Hervorhebung A. S.) als unhintergehbare Vereinigung von Ich und Du inszeniert. Gerade diese Perspektive, die dem Tod einen Teil seines Schreckens nimmt, stellt eine Verharmlosung von Bonnefoys Gedicht dar. Entsprechend der euphemistischen Umdeutung ist der übersetzte Vers „Wars nicht in einem Feuer unser beider Tod?“ mit Rilkes Liebes-Lied in Verbindung gebracht und affirmativ als „Rilke-Echo“288 bezeichnet worden. Bei Rilke heißt es: „Doch alles, was uns anrührt, dich und mich, / nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich, / der aus zwei Saiten eine Stimme zieht“289 (V. 8–10, Hervorhebung original). Unabhängig davon, ob die intertextuelle Assoziation zwingend ist oder nicht, zeigt sich an ihr in jedem Fall, wie tiefgreifend der interpretative Eingriff ist, den Kemp in seiner Übersetzung vornimmt. Bonnefoys ungewöhnliches Motiv des „double feu de notre mort“ wird im Deutschen durch eine tradierte Imagination der Liebesvereinigung ersetzt, womit ein Irritationsmoment des Originals entfällt. An die Stelle von Bonnefoys neuartiger Bildlichkeit tritt in der Übersetzung ein etablierter Topos der Liebeslyrik. Kemps Eingriff lässt sich daher weniger als Umsetzung einer eigenständigen Lesart verstehen denn als eine konventionalisierende, Bonnefoys Vers an traditionelle Formen der Liebesdichtung rückbindende Interpretation, die den melancholisch-resignativen Impetus des Originals und dessen herausfordernde Hermetik tilgt. Nicht nur zu Beginn der deutschen Fassung von Menaces du témoin wird ein individuell geprägtes Motiv durch ein konventionelles ersetzt, sondern auch an deren Ende, in Teil V, in dem Bonnefoy eine verfremdete MondMetaphorik gebraucht. In Original und Übersetzung heißt es: Pour toi j’élèverai le feu sans lieu ni heure, Un vent cherchant le feu, les cimes du bois mort L’horizon d’une voix où les étoiles tombent Et la lune mêlée au désordre des morts.290 (V. 13–16) 288 Bei Weiand (2011, S. 189) heißt es: „Aus dem double feu wird ‚ein‘ Feuer, aus notre mort die Emphase von unser ‚beider‘ Tod. Rhythmisch ist die Übersetzung isometrisch, zweimal Alexandriner, und damit erhabener in Diktion und Wirkung als die Folge von elf, dann von zehn Silben bei Bonnefoy. In dieser formvollendeten Ausrundung klingt bei Kemp ein Rilke-Echo an. Gemeint ist das Liebes-Lied aus der Sammlung Neue Gedichte (1907/08).“ 289 Rainer Maria Rilke: Liebes-Lied. In: Ders.: Gedichte 1895 bis 1910 (= Werke, Bd. 1). Hrsg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt am Main/Leipzig 1996, S. 450. 290 Bonnefoy: Poèmes, S. 121.

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Für dich will ich das Feuer aufrufen ohne Ort und Stunde, einen Wind, der dieses Feuer sucht, und Wipfel dürren Holzes, und einer Stimme Horizont, an dem die Sterne stürzen, und dann den Mond, der aus dem Wust der Toten steigt.291

Indem Kemp die von Bonnefoy vorgenommene Verfremdung des MondMotivs aufhebt, tilgt er die für die Schluss-Strophe des Zyklus prägende Ambivalenz der Aufwärts- und Abwärtsbewegung: In seiner Fassung ist der Mond vom Sturz der Sterne ausgenommen und steigt über dem „Wust der Toten“ (V. 16) auf. Kemp greift hier auf eine literarisch tradierte Mond-Motivik zurück und ebnet auf diese Weise ein spezifisches Element des Originals ein, das gerade nicht den Aufstieg des Mondes, sondern dessen Verhaftetsein im Menschlich-Vergänglichen fokussiert.292 Während Bonnefoys Zyklus mit der Evokation der Toten („morts“) endet, schließt Kemps Fassung mit dem Mondaufgang und vollzieht damit bereits die Bewegung des ›Aufrufens‹ des Sprecher-Ichs, die im Original jedoch ins Futurische verlegt ist. Heißt es im Original: „Pour toi j’élèverai [...] la lune“, so wird das Zukünftige eines Vorgangs betont, der noch nicht begonnen hat. Gerade diese Differenz zwischen der Ankündigung und dem Vollzug des Mondaufgangs ist es, die die deutsche Fassung nivelliert und damit ein Spannungsmoment des Gedichtzyklus ausspart. Kemps euphemistische Umdeutung der Mond-Motivik widerstrebt nicht nur der resignativen Grundstimmung des Zyklus Menaces du témoin, sondern auch der Gesamtstruktur des Gedichtbandes Hier régnant désert. In dessen letztem Zyklus À une terre d’aube findet zwar eine Wendung ins Hoffnungsvolle statt, diese ist jedoch nicht mit dem Mond, sondern mit dem Sonnenaufgang in der Morgendämmerung verbunden.293 Mit seiner impliziten Kontrastierung zwischen Gestern und Heute bzw. zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird diese tageszeitliche Verortung schon im Bandtitel Hier régnant désert angekündigt. Hat Kemp in seinen theoretischen Schriften selbst auf die zyklische Zusammengehörigkeit von Bonne-

291 Bonnefoy: Herrschaft des Gestern: Wüste (1969), S. 9. 292 Bonnefoys englische Übersetzer versuchen auf je unterschiedliche Weise, diesen Akzent beizubehalten. Bei Anthony Rudolf heißt es: „Moon merging with the chaos of the dead“ (in: Bonnefoy: Yesterday’s wilderness kingdom – Hier régnant désert. Translated from the french by Anthony Rudolf. With a foreword by John E. Jackson. London 2000, S. 19). Die Fassung von Galway Kinnell und Richard Pevear lautet: „And the moon stained with the disorder of the dead“ (in: Yves Bonnefoy: Early Poems 1947–1959. Translated from the french by Galway Kinnell and Richard Pevear. Athens 1991, S. 181). 293 Vgl. Bonnefoys Gedicht Aube, fille des larmes, in dem es heißt: „Aube, soulève, prends le visage sans ombre, / Colore peu à peu le temps recommencé“ (V. 10–11). In: Bonnefoy: Poèmes, S. 165.

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foys Texten hingewiesen,294 so verwundert die Umakzentuierung des Mond-Motivs in Drohungen des Zeugen, zumal sie nicht nur für den betreffenden Zyklus, sondern für den gesamten Band die genannten Konsequenzen hat. Auch Paul Celan hat damit begonnen, diesen Zyklus zu übertragen, allerdings liegen von ihm nur einzelne, unvollständige Entwürfe vor, die unpubliziert geblieben sind.295 Zum Vergleich werden im Folgenden die von Celan übersetzten Verse zitiert und auf ihre Implikationen hin befragt. I Was wolltest du auf diesem Tisch hier richten so wenn nicht das Doppelfeuer, zur Feier unsres Tods? Mir wurde Angst, dem Tisch, dem rötlich-nackten, Ich fürchtete mich in dieser

[entspricht V. 1–4]

Dann ward ich alt. Und draußen: wahres Wort und wahrer Wind bekämpften sich nicht mehr Das Feuer wich, das mir die Kirche war Ich habe keine Angst mehr, ich schlafe auch Ich ängstig mich nicht nicht mehr mehr,

[entspricht V. 5–8]

294 So heißt es bei Kemp über die Bedeutung des lyrischen Zyklus bei Bonnefoy: „Bilder, Zeichen, Wörter – ja, nur im Durchgang wollen sie jeweils gelten. Ihre Bedeutungen verfärben, verschieben sich von Vers zu Vers, von Gedicht zu Gedicht, von Zyklus zu Zyklus; nicht, weil sie nun etwas anderes sagen, sondern indem sie es anders sagen, in anderer Nachbarschaft, auf etwas anderes hin unterwegs.“ In: Friedhelm Kemp: Nachwort. In: Bonnefoy: Beschriebener Stein, S. 339–345, hier S. 342 f. Zu zyklischen Kompositionsprinzipien in lyrischen Texten vgl. Graf (2011), bes. S. 15–32. 295 Wann diese Fragmente entstanden sind, lässt sich nach der derzeitigen Materiallage nicht eindeutig klären: Seit Ende 1958 war Celan im Besitz des genannten Bandes, den Bonnefoy Celan und seiner Frau mit folgender Widmung zugeeignet hat: „Pour Paul et Gisèle Celan ces quelques poèmes, HIER REGNANT DESERT avec toute l’amitié d’Yves Bonnefoy, 26 novembre 1958“. Die Widmung befindet sich auf der inneren Titelseite. In: Celan Bibliothek DLA. Die fragmentarischen Übersetzungen, die Celan mit Bleistift in sein Buchexemplar von Hier régnant désert eingetragen hat, wurden von der CelanForschung bislang nicht analysiert. Allgemein zu Celans entwurfartigen Übersetzungsfragmenten aus dem Werk von Yves Bonnefoy und der methodischen Problematik, die mit ihrer Analyse einhergeht, siehe Kap. 3.4.

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V Es schweigt der Wind, er war der Herr der Klage Sollt ich der letzte sein, der für die Toten ficht? Schon ist das Feuer nichts als Asche und Erinnern296

[entspricht V. 1–3]

Für dich richt ich das Feuer, ortlos und stundenfrei Den Wind zum Feuer hin297

[entspricht V. 13 f.]

Zwei Tendenzen sind in Celans Übersetzungsentwurf erkennbar, die sich beide an seine (Übersetzungs-)Poetik rückbinden lassen. Zum einen ist dies die wörtliche Nachschrift bei der Wiedergabe des Feuer-Motivs in der ersten Strophe („double feu de notre mort“; I, V. 2); es lautet bei ihm „das Doppelfeuer, zur Feier unsres Tods“.298 Im Vergleich zu Kemp hält sich Celan enger an das Original und bewahrt die Zweigliedrigkeit des FeuerMotivs. Auch in der fünften Strophe wird diese duale Komponente von Celan stärker herausgearbeitet, als dies bei Kemp oder selbst im Original der Fall ist, wenn es heißt: „Schon ist das Feuer nichts als Asche und Erinnern“. Celan bildet im betreffenden Vers ein Begriffspaar, das in seiner Verknüpfung von Konkretum („Asche“) und dem Abstraktum („Erinnern“) eine große Ähnlichkeit aufweist zu Wendungen aus seinem eigenen lyrischen Werk wie Mohn und Gedächtnis (Bandtitel), Bei Wein und Verlorenheit (Gedichttitel) oder „Gold und Vergessen“ (Wendung).299 Seine Affinität zu der Kombination von konkreten und abstrakten Begriffen spitzt die von Bonnefoy angelegte Paarbildung von „Asche“ und „Erinnern“ noch einmal zu. Der Einsatz der Neologismen in der Wendung „[das Feuer] ortlos und stundenfrei“ (V, V. 13) verweist wiederum auf Celans Streben nach neuen Wortbildungen, das sich auch in vielen seiner vollendeten Übersetzungen niederschlägt. Obwohl diese Einzelbeobachtungen angesichts des fragmentarischen Charakters von Celans Übersetzungsentwürfen unter Vorbehalt stehen, lässt sich festhalten, dass Celan seine Übersetzerstimme auch in diesen Skizzen mit Hilfe verschiedener Strategien markiert und dabei oft zu anderen Lösungen kommt als Friedhelm Kemp. 296 Diese drei Zeilen sind in Celans Exemplar von Bonnefoys Band Hier régnant désert mit dem Bleistift unterhalb des Originals notiert. In: Celan Bibliothek DLA. 297 Diese beiden Zeilen stehen in Celans Buchexemplar oberhalb des Originaltexts. In: Celan Bibliothek DLA. 298 Auch die englischen Bonnefoy-Übersetzer wählen eine wörtliche Übertragung und halten sich näher an das Original: Bei Rudolf heißt es „the double fire of our death“ (Bonnefoy: Yesterday’s wilderness kingdom, S. 15), und die Fassung von Kinnell/Pevear lautet: „the twofold fire of our death“ (Bonnefoy: Early poems 1947–1959, S. 173). 299 Vgl. Mohn und Gedächtnis (Celan: KG, S. 25); Bei Wein und Verlorenheit (Celan: KG, S. 126); „Gold und Vergessen“ in Argumentum e silentio (Celan: KG, S. 86).

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2.2.4 Umdichtung und Transformation Ob und in welchem Umfang Friedhelm Kemp neben den poetisierenden Übersetzungen und den nach Anschaulichkeit strebenden, ›sinntreuen‹ Prosaübertragungen von Baudelaires Sonetten auch eigensinnigere, das französische Original transformierende Übersetzungen geschaffen hat – diese Frage wurde von der Forschung bislang kaum diskutiert, sondern vorschnell verneint. Auch Kemps theoretische Auseinandersetzung mit dialogischen Übersetzungsverfahren ist meines Erachtens zu Unrecht marginalisiert worden.300 Tatsächlich hat sich Kemp immer wieder mit den Methoden des freieren Übersetzens beschäftigt, seine Perspektive auf dieses Verfahren mit den Jahren fortentwickelt und in nicht unerheblichem Maße modifiziert. Im Nachwort zu seinen Baudelaire-Übertragungen (1962) vertrat Kemp noch eine strikt ablehnende Haltung gegenüber „jede[r] angemaßte[n] Herrlichkeit“301 vonseiten des Übersetzers, dessen Werk keinerlei Anspruch darauf erheben dürfe, als „eigenständige[s] poetische[s] Gebilde zu gelten“.302 Zu diesem Zeitpunkt schien Kemp noch eine strikte Bescheidenheitsethik zu vertreten, die im Bereich der Lyrikübersetzung nicht unproblematisch ist. Nur wenige Jahre später, in einem Aufsatz von 1967, revidierte Kemp seine Haltung und sprach literarischen Übersetzungen unter bestimmten Bedingungen eine „künstlerische Berechtigung“ oder zumindest eine „bescheidene dichterische Qualität“ zu.303 Wie motiviert sich diese Neubewertung? Kemp selbst verweist in diesem Zusammenhang auf seine Übersetzung von Bonnefoys Gedicht La voix de ce qui a détruit aus dem Band Hier régnant désert, die für ihn eine Sonderstellung einnimmt, da er bei ihr – so meine These – die ästhetischen Möglichkeiten freierer Übersetzungsstrategien auszuloten versucht. Als einziges Gedicht fehlte die Übersetzung von La voix de ce qui a détruit im Vorabdruck seiner deutschen Fassung Herrschaft des Gestern: Wüste in der Neuen Rundschau von 1961.304 Erst die 300 Wittbrodt (1995), S. 17. 301 Kemp: Nachbemerkung zu Die Blumen des Bösen (1962), S. 282. Der Teilsatz „in der Hoffnung freilich, durch den Verzicht auf jede angemaßte Herrlichkeit dem Dichter und seinem Leser einen echten Dienst zu erweisen“ wurde in der Neuauflage von Kemps Baudelaire-Übersetzungen durch eine abgeschwächte Formulierung ersetzt: „in der Hoffnung freilich, durch diese Zurückhaltung dem Dichter und seinen Lesern einen Dienst zu erweisen“. Hier zeigt sich bereits eine punktuelle Modifikation von Kemps skeptischer Haltung gegenüber freien Übersetzungen. In: Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen – Les Fleurs du Mal. Vollständige zweisprachige Ausgabe. Aus dem Französischen übertragen, hrsg. und kommentiert von Friedhelm Kemp. München 92002, S. 416. 302 Kemp: Nachbemerkung zu Die Blumen des Bösen (1962), S. 282. 303 Kemp: Das Übersetzen als literarische Gattung, S. 58. 304 Auch in Kemps Vortrag Die Kunst der Übersetzung im Rahmen seines Poetik-Lektorats an der Ludwig-Maximilian-Universität in München im Sommersemester 1962, das ihm Anlass gab, sich mit einer Reihe anderer Gedichte des genannten Bandes näher auseinander-

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zweisprachige, im Kösel-Verlag erschienene Buchausgabe von 1969 umfasste das komplette Manuskript. War das genannte Gedicht in der Neuen Rundschau stillschweigend ausgelassen worden,305 so erläutert Kemp das Zustandekommen dieser Lücke in dem bereits erwähnten Vortrag von 1967: In [Hier régnant désert] steht gegen Ende ein kurzes dreistrophiges Gedicht, das mir gehörige Schwierigkeiten bereitet hat. Ich sah nicht, wie es herüberzuholen wäre; ich verstand es auch nicht, und in meiner Ratlosigkeit entschloß ich mich, es vorläufig unübersetzt zu lassen.306

Die intensive Reflexion über die (vorläufige) Unübersetzbarkeit von Bonnefoys Gedicht zeugt von Kemps ausgeprägtem Problembewusstsein und widerspricht der zitierten Naivitätsthese Friedmar Apels.307 Auf einem Fragebogen an Bonnefoy schreibt Kemp zu diesem Gedicht: 73: ce poème est presque intraduisible si l’on veut garder la légèreté du rythme et l’exactitude de la pensée. Jusqu’ici toute tentative fut vaine. Pourriez-vous consentir que je l’écarte – bien à regret – de la traduction? 308

In seinem Brief vom 7. September 1961 erteilt Bonnefoy seinem Übersetzer die Erlaubnis, das betreffende Gedicht auszulassen.309 Bevor Kemp sich schließlich doch an einer Übertragung des folgenden Gedichtes La voix de ce qui a détruit versucht hat, bat er den Autor selbst um Auskunft: „einmal näher erläutert“, so heißt es, „gewann das Gedicht im Zusammenhang des Buches rasch Sinn und Verstand“.310 Im Original lautet es: La voix de ce qui a détruit Sonne encor dans l’arbre de pierre, Le pas sur la porte ordinaire Peut encor refuser la nuit.

305 306 307 308 309 310

zusetzen, blieb der Text unerwähnt. Erstdruck des Vortrags: Neue Zürcher Zeitung, 7. Oktober 1962. Anschließend Abdruck in: Die Kunst der Übersetzung. Achte Folge des Jahrbuchs Gestalt und Gedanke. Hrsg. von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München 1963. Unter dem Titel Vom Übersetzen französischer Dichtung findet sich der Vortrag auch in der Textsammlung Kunst und Vergnügen des Übersetzens. Opuscula aus Wissenschaft und Dichtung Nr. 24. Pfullingen 1965, S. 18–38. In: Neue Rundschau 72 (1961), S. 611–635. Der Textfolge des Bandes Hier régnant désert entsprechend, müsste die Übersetzung von La voix de ce qui a détruit auf Seite 634 stehen, zwischen dem zweit- und drittletzten Gedicht (Hier, immer hier und Die gleiche Stimme, immer). Kemp: Das Übersetzen als literarische Gattung, S. 56. Apel/Kopetzki (2003), S. 124. DLA: A: Kemp. Die Ziffer 73 benennt hier die Seitenangabe des Gedichtes in der französischen Erstausgabe von Bonnefoys Band Hier régnant désert, der 1958 im Verlag Mercure de France in Paris erschienen ist. DLA: A: Kemp. Ob Bonnefoy seine Auskünfte zu La voix de ce qui a détruit mündlich oder schriftlich gegeben hat, lässt sich aus Kemps Formulierung nicht eindeutig bestimmen. In der erhaltenen Briefkorrespondenz zwischen Bonnefoy und seinem deutschen Übersetzer aus den Jahren 1961 bis 1987 findet sich keine diesbezügliche Angabe.

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D’où vient l’Œdipe qui passe ? Cependant il a gagné. Une sagesse immobile Devant lui a succombé. Le Sphinx qui se tait demeure Dans le sable de l’Idée. Le Sphinx qui parle se déforme A l’informe Œdipe livré.311

Im Anschluss an die Programmatik seiner ersten lyrischen Publikation, L’Anti-Platon (1947), konfrontiert Yves Bonnefoy in La voix de ce qui a détruit den Bereich abstrakter philosophischer (Wahrheits-)Konzepte mit der empirischen Wirklichkeit des Menschlich-Diesseitigen und wählt für diese Konfrontation die Ödipus-Mythe als Folie. Die erste der drei jeweils vierzeiligen Strophen setzt, ohne expliziten Bezug zum mythischen Stoff, mit dem Auftritt zweier abstrakt agierender Entitäten ein: La voix (V. 1) und Le pas (V. 3) stehen in einer das gesamte Gedicht dominierenden parallelen Struktur zueinander: „La voix de ce qui a détruit / Sonne encor dans l’arbre de pierre. / Le pas sur la porte ordinaire / Peut encor refuser la nuit“ (V. 1– 4). Der zweimalige Einsatz des Wortes „encor“ (V. 2, 4) versetzt die Szenerie in eine zeitlich ambivalente Perspektive, die sich zwischen den Polen ›immer noch‹ und ›gerade noch‹ aufspannt: In Vers 2 verstärkt das retrospektive „encor“ den Nachhall der ›zerstörerischen Stimme‹, die im Fortgang des Gedichts als Stimme der Sphinx identifiziert wird. Im Übergang zur zweiten Strophenhälfte wandelt sich der retrospektive zu einem prospektiven, auf die kurze Frist vor Einbruch der Nacht hindeutenden Fokus. Diesem kann allein der „pas sur la porte ordinaire“ (V. 3) Einhalt gebieten. Wird Ödipus in der zweiten Strophe als einzige mythologische Figur beim Namen genannt, so spiegelt sich darin die herausgehobene Rolle, die ihm im Gedichtzusammenhang insgesamt zukommt – die Sphinx wird hingegen erst in der letzten Strophe als solche identifiziert. Nicht nur an dieser Stelle markiert Bonnefoy die Distanz zwischen seinem Gedicht und dem Mythenstoff: Indem er der Figur des Ödipus einen bestimmten Artikel beigibt („l’Œdipe“), lässt er ihn quasi als menschlichen Typus auftreten. Ödipus, der Fremde, ist der Sphinx, die in einer metonymischen Verschiebung als „sagesse immobile“ vergegenwärtigt wird, diametral entgegengesetzt: „D’où vient l’Œdipe qui passe?“ (V. 5), heißt es von Ödipus, der sich in zweifachem Sinne als ›Vorübergehender‹ erweist: Er kommt einerseits als Reisender aus Korinth nach Theben und wird andererseits als schwacher, der Vergänglichkeit unterworfener Mensch dargestellt.

311 Bonnefoy: Poèmes, S. 173.

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Ebenso wie Ödipus erhält auch die Sphinx eine doppelte Attribuierung: Heißt es in Vers 7 bis 8: „Une sagesse immobile / Devant lui a succombé“, so liest sich das Adjektiv „immobile“ nicht nur als Indikator der Totenstarre, die den Körper der Sphinx nach ihrem Selbstmord erfasst hat, sondern auch als Verweis auf die Unverrückbarkeit der von ihr repräsentierten Wahrheit. Der Begriff der „sagesse immobile“ lässt sich zudem mit Bonnefoys Kritik an in sich abgeschlossenen philosophischen Konzepten verbinden, die, wie er in seinem Aufsatz Les tombeaux de Ravenne (1980) ausführt, dem Menschen den Zugang zur Welt der sinnlichen Erscheinungen verstellen: „Voici ce monde sensible. En vérité bien des obstacles en ont de toujours masqué l’accès. Le concept n’est qu’un parmi d’autres.“312 Um als Sterblicher die Macht der Sphinx zu brechen und den auf Theben lastenden Fluch aufzuheben, muss Ödipus folgendes Rätsel lösen: „Was ist es, das am Morgen auf vier Füßen geht, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei?“313 Diese Rätselfrage wird bei Bonnefoy jedoch nur rückblickend thematisiert, wenn von Ödipus’ Sieg über die Sphinx die Rede ist („Cependant il a gagné / Une sagesse immobile / Devant lui a succombé“, V. 6–8). Das adversative Verhältnis zwischen Sphinx und Ödipus, zwischen göttlicher Weisheit und menschlicher Fehlbarkeit, wird durch das bereits in der ersten Strophe eingeführte Strukturelement des Parallelismus (V. 9/11) intensiviert. In Form einer Antithese wird die Verwandlung der Sphinx evoziert, deren Starrheit in dem Moment der Auflösung anheimfällt, in dem Ödipus die Rätselfrage löst: „Le Sphinx qui se tait demeure / Dans le sable de l’Idée. / Le Sphinx qui parle se déforme / À l’informe Œdipe livré.“ (V. 9–12, Hervorhebung A. S.) In dieser Strophe spitzt Bonnefoy seine Kritik am konzeptuellen Denken zu und verweist mit Hilfe der Majuskel auf die Ideenlehre Platons. Die enge Verknüpfung zwischen Schweigen und Starrheit sowie zwischen Sprechen und Auflösung hat Daniel Leuwers betont: [Le Sphinx] a perdu tout son pouvoir depuis le passage d’Œdipe. Il n’est plus le détenteur jaloux de l’Idée, que son silence lui attribuait, car les mots de l’humain partage ont maintenant prévalu [...]. La voix du Sphinx succombe et fait place à celle d’Œdipe. La figure omnisciente s’effondre au profit de celui qui assume en

312 Bonnefoy: Les tombeaux de Ravenne. In: L’Improbable et autres essais suivi de Un rêve fait à Mantoue. Paris 1996, S. 13–30, hier S. 24. Auch in Bonnefoys Gedichtserie L’Anti-Platon (1947) beansprucht das unmittelbare Erleben sinnlicher Eindrücke einen größeren Einfluss auf den Menschen als die Rezeption philosophischer „Ideen“. Im ersten Gedicht der Serie heißt es: „Ce rire couvert de sang [...] pèse plus lourd dans la tête de l’homme que les parfaites Idées, qui ne savent que déteindre sur sa bouche.“ In: Bonnefoy: Poèmes, S. 33. Vgl. Naughton (1984), S. 94. 313 Vgl. den Eintrag „Ödipus“. In: Edward Tripp: Reclams Lexikon der antiken Mythologie. Übersetzung von Rainer Rauthe. Stuttgart 72001, S. 385 f.

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aveugle son destin et dont le salut ne lui a ouvert que ce destin risqué, aux prises avec le meurtre et la menace incestueuse.314

In der mythologischen Konstellation wird ein göttliches Wesen von einem sterblichen Menschen besiegt; in Bonnefoys Gedicht unterliegt die Sphinx als metaphysische Instanz dem Menschlich-Vergänglichen, das der „informe Œdipe“, der unfertige, unabgeschlossene Ödipus vertritt. In seinem berühmt gewordenen Brief an Howard L. Nostrand von 1963 skizziert Bonnefoy die Differenz zwischen seiner eigenen Vorstellung des Vergänglichen als der höchsten Wahrheit und der Deklassierung empirischer Erscheinungen bei Platon: „Ce que j’avais envie de tenir pour le plus réel, c’était ce que Platon tenait, lui, pour le néant le plus pur: la réalité de hasard, l’instant fugitif, l’informe.“315 Bonnefoys Eintreten für das Unfertige und Unvollkommene verknüpft das Gedicht auch mit der ›ars poetica‹ des Gedichtbandes, das sich gegen ästhetisierende Traditionslinien der französischen Lyrik wendet.316 Die dargelegte Lesart des Gedichts La voix de ce qui a détruit illustriert exemplarisch Bonnefoys 1972 erhobene Forderung, die Einzeltexte seiner Gedichtbände nicht nur in ihren jeweiligen (zyklischen) Zusammenhängen wahrzunehmen, sondern sie auch an sein poetologisches Grundverständnis rückzubinden: [Je] n’écris pas de poèmes, s’il faut entendre par ce mot un ouvrage bien délimité, autonome [...], ce que j’écris, ce sont les ensembles dont chacun de ces textes n’est qu’un fragment: car ces derniers n’existent pour moi, dès leur début, que dans leur relation avec tous les autres, si bien qu’ils n’ont de raison d’être et même de sens que par ce que ces autres tendent à être et à signifier en euxmêmes.317

Da Friedhelm Kemp die Dominanz zyklischer Strukturen in Hier régnant désert selbst wiederholt betont hat, soll bei der Analyse seiner Übersetzung ein besonderes Augenmerk auf die Berücksichtigung der intertextuellen Dependenzen zwischen La voix de ce qui a détruit und den anderen Gedichten des Bandes gerichtet werden.318 Als Leitfaden fungieren darüber hinaus auch Kemps eigene Erläuterungen zu seiner Auseinandersetzung 314 Leuwers (1988), S. 22. 315 Yves Bonnefoy: Lettre à Howard L. Nostrand. In: Richard Vernier: Yves Bonnefoy ou les mots comme le ciel. Tübingen/Paris 1985, S. 109–118, hier S. 115. Hier sei auf das 25. und 26. Kapitel von Platons Phaidon verwiesen, in dem von der Unveränderlichkeit des „wahre[n] Seins“ in Abgrenzung von der Veränderlichkeit des sinnlich Wahrnehmbaren die Rede ist. In: Platon: Sämtliche Dialoge. Bd. 2. Hrsg. von Otto Apelt et al. Hamburg 1998, S. 65 f. 316 Vgl. den programmatischen Titel von Bonnefoys Gedicht L’imperfection est la cime in: Bonnefoy: Herrschaft des Gestern: Wüste (1969), S. 26–27. 317 Yves Bonnefoy: Entretiens sur la poésie. Neuchâtel 1981, S. 19 f. 318 Vgl. Kemp: Vom Übersetzen französischer Dichtung, S. 35, sowie Kemp: Das Übersetzen als literarische Gattung, S. 56.

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mit Bonnefoys Ödipus-Gedicht. Die Übersetzung von Friedhelm Kemp lautet: Stimme derer, die uns verdarb, tönt noch im Baum aus Stein. Trat wer zur Tür herein, verwirft er draußen die Nacht. 5

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Woher der Rätselrater, der vorbeikommt? Er gewann. Starr lag im Sand eine Weisheit, die auf sein Wort zersprang. Im reinen Geiste die Sphinx bleibt, wenn sie schweigt. Der sie zu reden zwingt, unfertig ein Mensch, fertigt sie ab.319

In Kemps eigenen Äußerungen fällt zunächst auf, dass Bonnefoys Rekurrenz auf die Ödipus-Mythe unkommentiert bleibt. Zwar ist von einem „spruchhaft vorgetragenen abstrakten Gedanken“ die Rede, doch wird dieser nicht näher bestimmt. Eine größere Wichtigkeit schreibt der Übersetzer stattdessen der Spannung zwischen dem abstrakten Gedankengang und dessen Gestaltung in „kinderliedhaften Strophen“ zu. Das von Kemp beobachtete „erleichtert Gelöste, das fast Hingeträllerte“ wird jedoch von ihm weder am Text belegt, noch lässt es sich in den Gesamtzusammenhang des von Motiven der Leere und Ödnis geprägten Gedichtbandes mit seiner melancholisch-reflexiven Grundstimmung einordnen. Es ist deshalb nur schwer nachvollziehbar, warum Kemp die Besonderheit des Gedichtes gerade darin sieht, „daß Hochabstraktes, Anspielungsreiches hier locker vorgebracht wird, als sei am Ende alles, nach so vielen dunklen und schweren Quälungen, ein wie [sic] gedankenloser Refrain im Munde eines Kindes“.320 Sieht Kemp ein inneres Spannungsmoment zwischen gnomischem und liedhaftem Ausdruck, so wird dieses in seiner deutschen Fassung zumindest nicht erkennbar, da er gerade die syntaktischen Strukturen verändert, die im Original eine liedhafte Eingängigkeit vermitteln könnten: die Parallelstrukturen und die sie verstärkenden Strukturwörter. Die Tilgung der Parallelismen der ersten Strophe („La voix de ce qui a détruit“ / „Le pas sur la porte ordinaire“, V. 1/3) geht mit einem weiteren Eingriff einher, dessen Notwendigkeit sich nicht aus dem Verständnis des Originaltextes erschließt, sondern eher auf Kemps – offensichtlich textübergreifend verfolgtes – Streben nach Anschaulichkeit zurückzuführen ist: 319 Bonnefoy: Herrschaft des Gestern: Wüste (1969), S. 59. 320 Kemp: Das Übersetzen als literarische Gattung, S. 56 f.

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Der im Original abstrakt agierenden „voix de ce qui a détruit“ ordnet Kemp ein direktes Objekt bei, eine Art Sprecher-Wir, und transitiviert dadurch das im Original intransitiv gebrauchte Verb „détruire“, wenn es heißt „Stimme derer, die uns verdarb“ (V. 1). Zudem legt er das ursprünglich unbestimmte Genus der sich hinter der Stimme verbergenden Sprechinstanz auf ein Femininum fest, das schon hier auf die Sphinx vorausweist.321 Genau wie in Vers 1 die Abstrakta veranschaulicht und dadurch vereindeutigt werden, so weicht das Abstraktum „le pas sur la porte ordinaire“ (V. 3) einer personifizierenden und damit konkreteren Wendung („Trat wer zur Tür herein“). Nach den Parallelismen in Vers 1 und 3 löst Kemp auch die antithetisch gesetzten Parallelen in Vers 9 und 11 („Le Sphinx qui se tait demeure“ / „Le Sphinx qui parle se déforme“) auf, indem er einen Subjektwechsel vollzieht, der den Fokus der letzten Strophe von der Sphinx auf Ödipus verschiebt. Nicht die Sphinx zeigt sich in der deutschen Fassung als Agens, sondern ihr Widersacher: Nicht die Sphinx spricht, sondern Ödipus zwingt sie zum Sprechen, nicht die Sphinx verwandelt sich („se déforme“), sondern sie wird von Ödipus besiegt oder, in dem etwas flapsigen Wortlaut der deutschen Fassung, ›abgefertigt‹. In der überlieferten Mythe hingegen stürzt sich die Sphinx von den Burgmauern in die Tiefe. Welche Erklärung lässt sich für Kemps gravierenden, den Selbstmord der Sphinx tilgenden Eingriff finden, der offensichtlich dem Bemühen des Übersetzers um einen liedhaften Duktus widerstrebt? Die Antwort auf diese Frage liefert der Übersetzer selbst, wenn er der Bewahrung des Wortspiels („se déforme / informe“) der letzten Strophe eine besondere Priorität zuschreibt. Tatsächlich scheint seine Lösung „unfertig ein Mensch, fertigt sie ab“ insofern angemessen zu sein, als sie die bereits erwähnte ›ars poetica‹ von Bonnefoys Gedichtband wieder aufgreift. Diese besteht in der Überzeugung, daß das Fertige, das Vollendete, das vollkommen Schöne etwas Dämonisches, etwas geradezu Tödliches sei. Darum heißt es in einem anderen Gedicht [i. e. L’imperfection est la cime, A. S.], die Schönheit gehöre zerstört, zerschlagen, wie hier die Sphinx, das magisch verschlossene Wesen, das in der Begegnung mit dem unfertigen Menschen zerspringt und so das gehemmte Leben wieder freigibt.322

321 Ein Blick auf die Übersetzung von Naughton (1984) zeigt, dass ein solcher Eingriff hätte vermieden werden können: „The voice of destruction / Still resounds within the stony tree“ (S. 94), heißt es in der englischen Fassung; im Deutschen wäre eine äquivalente Wendung möglich gewesen: „Die Stimme der Zerstörung / tönt noch im Baum aus Stein.“ 322 Kemp: Das Übersetzen als literarische Gattung, S. 57 f.

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Kemp rechtfertigt seine Lösung im Rückbezug auf andere Gedichte des Bandes und versucht, zentrale Grundgedanken des Autors in der deutschen Version beizubehalten. Ein weiterer Eingriff vonseiten Kemps, der auf die phonetische Ausschmückung durch den Einsatz von Gleichklängen abzielt, tilgt die mit Bonnefoys Konfrontation zwischen Diesseitigem und Jenseitigem unauflöslich verbundene Kritik an der Ideenlehre Platons, wenn es heißt: „Im reinen Geiste die Sphinx / bleibt, wenn sie schweigt.“ (V. 9–10; Hervorhebung A. S.) Weicht das Signalwort „Idée“ in Vers 10 der abstrakten Wendung „im reinen Geiste“, geht ein für Bonnefoys lyrisches Gesamtwerk entscheidender Bezugspunkt verloren. Friedhelm Kemp setzt sich im Kommentar zu seiner BonnefoyÜbersetzung mit den verschiedenen sprachlichen und inhaltlichen Aspekten auseinander – nur zu seiner Gestaltung des Ödipus-Motivs äußert er sich nicht, obwohl er diesem Element besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Erneut zeigt sich hier ein Widerspruch zwischen der theoretischen Vorgabe und ihrer praktischen Umsetzung. Anstatt Ödipus wie im Originaltext in den Versen 5 und 12 auftreten zu lassen, ersetzt Kemp den Eigennamen durch zwei Begriffe, mit denen er die Figur in zweifacher Hinsicht konkretisiert: Mit Hilfe eines archaisierenden Stilmittels, des epitheton, bezeichnet er Ödipus zunächst als „Rätselrater“ und schließt damit andere mögliche Attribute wie „König von Theben“ oder „Vatermörder“ aus. Einerseits muss dieses Verfahren erstaunen, da Kemp eine solche „interpretierende Wortwahl“323 in anderen Zusammenhängen als unzulässig kritisiert hat. Andererseits rückt die Konstellation zwischen Sphinx und Ödipus auch bei Bonnefoy das Rätsel ins Zentrum, weswegen Kemps Eingriff durchaus motiviert erscheint. Auf die spezifizierende Lesart der Ödipus-Figur folgt in Vers 12 eine universalisierende, die Ödipus als „Menschen“ erfasst. Auch diese interpretierende Übersetzungsgeste wirkt im Zusammenhang mit dem von Kemp nachgestalteten Wortspiel „unfertig – fertigt sie ab“ durchaus schlüssig: Als „Rätselrater“ steht Ödipus der überirdischen Macht der Sphinx gegenüber, an deren Rätsel die Bürger Thebens bislang gescheitert waren. Wenn Ödipus als vergänglicher, ›unfertiger Mensch‹ einen Sieg über die „sagesse immobile“ der Sphinx erringt, wird die im Original angelegte Dialektik zwischen der Sphäre des Vergänglichen und dem philosophisch-abstrakten Bereich endgültiger Wahrheiten noch einmal zugespitzt. Darüber hinaus verstärkt Kemps Wahl des Begriffs „Mensch“ den Bezug zwischen Bonnefoys Gedicht und dem zugrunde liegenden Mythenstoff, da er nicht nur die Figur 323 Kemp kritisiert die „interpretierende Wortwahl“ z. B. anhand einer Übersetzung von Marcel Jouhandeaus Ehechroniken. In: Kemp: Das Übersetzen als literarische Gattung, S. 47.

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des Ödipus bezeichnet, sondern gleichzeitig auch das Lösungswort für das von der Sphinx aufgegebene Rätsel (V. 6) nennt. Angesichts dieses transformierenden Verfahrens lässt sich Kemps Übersetzung, ungeachtet der zum Teil gravierenden Eingriffe, als poetische Inszenierung der mythischen Rätselfrage lesen. Hatte Kemp in seinem Aufsatz von 1967 gefordert, dass „jede Übersetzung die Spanne und den Abstand zum Original fühlbar“324 machen solle, so scheint seine Übersetzung von La voix de ce qui a détruit diese Forderung zu erfüllen. Sie entfernt sich zwar immer wieder deutlich vom Original, nähert sich ihm jedoch wieder an und bereichert auf diese Weise seine semantischen Dimensionen. Dieser sinnpotenzierende „Verweisungscharakter“325, den die Übersetzung in ihrem prozesshaften „Sich-Hinspannen auf das Original“326 entfaltet, gilt Kemp als Kriterium für den künstlerischen Eigenwert einer Übersetzung. In seiner Übersetzung von Bonnefoys Gedicht La voix de ce qui a détruit agiert Kemp im doppelten Wortsinn als „Dichterübersetzer“ – eine Bezeichnung, die Kemp zufolge auf denjenigen zutrifft, „der sich erkühnt, einen Dichter zu übersetzen“, oder „als Übersetzer eines Dichters sich unausweichlich genötigt sieht, selber dichterisch zu verfahren“.327 Wie die Untersuchung der verschiedenen Phasen von Kemps Übersetzertätigkeit gezeigt hat, unterliegt seine zunächst strikt ablehnende Haltung gegenüber transformierenden Übersetzungen einer erheblichen Wandlung. In seiner Praxis ist eine freie, dialogische Übersetzung wie die von Bonnefoys Ödipus-Gedicht trotzdem die Ausnahme geblieben. Blickt man über den in meiner Studie anvisierten Zeitraum hinaus, so wird deutlich, dass Kemps Affinität zu übersetzerischen Transformationen und Interaktionen weiter zugenommen bzw. seine Zustimmung zu sinntreuen Übersetzungen auffällig abgenommen hat.328 So hat er beispielsweise eine 1919 von Theodor Däubler unter dem Titel Empfindung verfasste freie Umdichtung von Rimbauds Gedicht Sensation, die nicht als Übersetzung, sondern als Original ausgegeben wurde, lobend erwähnt, ohne an der radikalen Vereinnahmung des französischen Textes durch den Übersetzer Anstoß zu nehmen. Kemp toleriert damit die von Däubler vollzogene poetische ›Eroberung‹ Rimbauds, welche er in früheren Jahren als respektlos und unhaltbar verurteilt hätte: „Was uns in Däublers Gedichtbuch vorliegt, soll als von ihm stammend gelesen werden; es ist von ihm.“329 324 325 326 327 328 329

Kemp: Das Übersetzen als literarische Gattung, S. 58. Ebd. Ebd., S. 46. Friedhelm Kemp: Treue der Übersetzung, S. 208. Ebd., S. 207. Ebd., S. 213.

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Auch wenn sich in Kemps übersetzerischem Schaffen ein Changieren zwischen der Werktreue und dem Wagnis übersetzerischen ›Eigensinns‹ beobachten lässt, bleibt das Verfahren der Interaktion seit spätestens 1967 als ambivalentes Fernziel bedeutsam. Anders als Paul Celan, dessen dialogisches Übersetzungsprinzip sich aus seiner Poetik ableitet, fühlt sich Kemp allerdings stets auf das Placet des jeweiligen Autors angewiesen;330 dementsprechend zaghaft tastet er sich an transformierende Übersetzungsstrategien heran. Dieses Bedürfnis nach Legitimation manifestiert sich auch in Kemps Auseinandersetzung mit Novalis’ Konzept der ›verändernden Übersetzung‹, wenn es heißt: [Von Novalis’ ›zweistimmigem Sprechen‹] kann der Übersetzer redlicherweise nur träumen. Es sei denn, der mitlebende und befreundete Autor ermächtige ihn dazu, ›par un acte de confiance‹ und der von Rahel Varnhagen geforderten Wirkungsäquivalenz zuliebe. Doch ohne diesen Traum des auseinanderhaltenden Zusammenbringens und der umgestaltenden Anverwandlung gäbe es kein Commercium von Land zu Land, von Zeit zu Zeit, gäbe es weder unsere eigene noch die Weltliteratur.331

Kemp erkennt zwar die „umgestaltende[] Anverwandlung“ als Vorbedingung der internationalen Literaturvermittlung an, doch seine Skepsis gegenüber frei transponierenden Übersetzungen bleibt in der moralischen Bewertungskategorie der ›Redlichkeit‹ weiterhin virulent.332 330 Auch der englische Übersetzer Richard Pevear hat sich, durch den direkten Austausch mit Yves Bonnefoy ermutigt, z. T. für freiere Übersetzungsformen entschieden: „Yves Bonnefoy […] read the first versions of ›Hier régnant désert‹ […] and offered many corrections and suggestions. As a result, the translations are sometimes freer than they might otherwise have been.“ In: Richard Pevear: Note. In: Bonnefoy: Early poems 1947–1959, S. vii. 331 Kemp: Die Übersetzung als Erfindung und Aneignung, S. 32. Rahel Varnhagen hat in einem Gespräch ihr Missfallen an den verschiedenen deutschen Versionen der zuerst von Goethe übersetzten Ode Manzonis auf den Tod Napoleons, Il cinque maggio, geäußert. Auf die Betonung der Schwierigkeiten einer im gleichen Silbenmaß wie das Original gehaltenen Übersetzung soll sie geantwortet haben: „Dies Verfahren nehm’ ich nun schon von je nicht als Bedingung an, der ich irgend etwas aufopfern ließ; – obgleich ich unter ihr schon Meisterstücke gesehn habe: – das ist mir ganz gleichgeltend mit solchem Verfahren, als wollte Einer aus irgend einer beliebigen Sprache etwas in unsere übersetzen, und verlangte, ich soll zufrieden sein, und die Übersetzung für richtig halten, wenn etwa soviel R vorkämen, als im Original; oder die Zeilen für’s Aug’ eben so lang, kurz oder kräuselig aussehn. Ich will, daß mein Geist gezwungen sei, sich in denselben Richtungen zu bewegen, wie im Original; daß mein Gemüth auf eben die Weise affizirt wird, wie dort. Die Mittel hiezu nehme der Dichterübersetzer aus dem Vermögen unserer Sprache: keine andere Ähnlichkeit darf ich, und kann ich fordern.“ In: Rahel Varnhagen von Ense: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Dritter Theil (1834). Fotomechanischer Nachdruck. Gesammelte Werke, Bd. 3. Hrsg. von Konrad Feilchenfeldt, Uwe Schweikert und Rahel E. Steiner. München 1984, S. 340. Mit dem Terminus „Dichterübersetzer“ zielt Varnhagen hier nicht auf das Phänomen des poète traducteur, sondern bezeichnet in einem grundsätzlicheren Sinne einen Übersetzer von (anspruchsvoller) Lyrik. 332 Ebd., S. 32.

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2 Vom Besatzungssoldaten zum Lyrikvermittler: Der Übersetzer Friedhelm Kemp

In radikaler Weise formuliert Kemp hingegen seine Abwehr der von ihm vormals reklamierten Bescheidenheit des Übersetzers: „Man wird uns rasch auf unsere Unzulänglichkeiten kommen. Entspringen diese aber nicht sehr häufig der Ängstlichkeit, der Feigheit, der mißverstandenen Treue?“333 Ausgehend von seiner Kritik einer falsch verstandenen Selbstbescheidung des Übersetzers nähert sich Kemp einem neuen Verständnis übersetzerischer Treue, das in der Frage kulminiert: „Ist Treue [...] nicht recht eigentlich Erfinden?“334 Auch wenn Kemp sich nur unter Vorbehalt und in Rücksprache mit dem betreffenden Autor auf die Verfahren eines ›erfinderischen‹ Übersetzens eingelassen hat, zeugen seine Reflexionen von einer steten Auseinandersetzung mit verschiedensten Übersetzungsstrategien und ihrer jeweiligen Legitimation. In diesem Sinne lassen sich auch die Widersprüche zwischen Kemps theoretischen Vorgaben und ihrer praktischen Umsetzung auf sein Streben nach der je adäquaten Herangehensweise an den französischen Ausgangstext zurückführen. Uneingeschränkt gilt dabei seine Forderung, in der Übersetzung kein statisches Gebilde zu sehen, sondern einen je individuellen, potentiell unabschließbaren Prozess.

333 Kemp: Treue der Übersetzung, S. 216. 334 Ebd., S. 217.

3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“: Paul Celan als Übersetzer von René Char, Henri Michaux und Yves Bonnefoy 3.1 „Einmaligkeit“, „Anderssein“: Celans Übersetzungspoetik Im Jahr 2006 erschien in einer polnischen Literaturzeitschrift ein bis dato unpublizierter Brief von Paul Celan an den Übersetzer Karl Dedecius vom 31. Januar 1960,1 in dem Celan die Prämissen und Aporien des Übersetzens von Gedichten reflektiert und dabei seine Kriterien der Lyrikvermittlung herausstellt.2 Er reagiert damit auf Dedecius’ Schreiben vom 28. Januar 1960, in dem dieser einerseits seine Hochachtung vor Celans übersetzerischen Leistungen zum Ausdruck bringt und andererseits seine grundlegende Skepsis gegenüber den Arbeiten von poètes traducteurs artikuliert, da, wie er sagt, die Übersetzungen „großer Dichter (siehe Rilke, George) [...] wohl immer die Spur der Handschrift des Übersetzers tragen, weil seine Eigenpersönlichkeit zu stark und nicht in fremdem Wesen auflösbar“3 sei. In seinem Antwortbrief geht Celan auf Dedecius’ unter1

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3

Es handelt sich um eine der frühesten erhaltenen Äußerungen Celans zu Fragen der Lyrikübersetzung. Der Brief ist Teil des Vorlasses von Karl Dedecius, der in der Bibliothek des Collegium Polonicum seit Oktober 2002 der Öffentlichkeit zugänglich ist (vgl. Stefanie Peter: Sprachbrücke: Dedecius-Archiv in Slubice eröffnet. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Oktober 2002, S. 44). Erstmals publiziert wurde der Brief samt einem kurzen Kommentar in der polnischen Zeitschrift Z problemów przekładu i stosunków międzyjęzykowych, Bd. 3 (dt. Zu Problemen der Übersetzung und zu zwischensprachlichen Verhältnissen, Bd. 3). Pod redakcją Marii Piotrowskiej i Tadeusza Szczerbowskiego. Krakau 2006, S. 152–157. In Deutschland wurde der Brief bislang nicht veröffentlicht. Für den Hinweis auf diesen Brief danke ich herzlich Bertrand Badiou. Da die Abschrift des Briefes in der genannten Zeitschrift Auslassungen, Transkriptions-, Orthographie- und Interpunktionsfehler aufweist, zitiere ich im Folgenden aus einer von mir korrigierten Fassung, die als Grundlage für die zukünftige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Briefdokument angeboten wird. Das vollständig transkribierte Briefmanuskript befindet sich im Anhang. DLA: Celan D 90.1.1332/1. Im Kontext heißt es bei Dedecius: „Ihre Gedichte haben mir so manches bleibende Erlebnis vermittelt, auch Ihre Übertragungen aus dem Russischen, sehr eigenwillig, wie Ihre Kunst überhaupt, sind als deutsche Gebilde ungewöhnlich expressiv. Daß mein russifiziertes Ohr das Volksliedhafte in Jessenins Strophen oft vermisste, hat wenig zu sagen. Übertragungen großer Dichter (siehe Rilke, George) werden wohl immer die Spur der Handschrift des Übersetzers tragen, weil seine Eigenpersönlichkeit zu

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

schwellige Kritik ein, indem er das Ideal einer restlosen Verschmelzung zwischen Autor- und Übersetzerstimme ablehnt und auf der unüberwindlichen Differenz von Original und Übersetzung insistiert, die „noch beim allerwörtlichsten Nachsprechen des Vorgegebenen“ bestehen bleibe.4 Celans Reflexionen, in denen er zum einen die Grundbegriffe seiner Übersetzungspoetik wie „Einmaligkeit“, „Anderssein“ und „Handwerk“ erläutert und sich zum anderen mit Walter Benjamin als der maßgeblichen Autorität der Übersetzungstheorie im 20. Jahrhundert auseinandersetzt, präsentieren sich nicht in Form eines aufgeschlüsselten Systems, sondern als Übersetzungskonzeption in nuce. Im folgenden Kapitel werden diese Reflexionen im Rückgriff auf weitere übersetzungspoetologische Äußerungen Celans nachgezeichnet und mit seinen Übersetzungen aus dem Werk von René Char, Henri Michaux und Yves Bonnefoy verknüpft. Ein umfassendes Verständnis der Spezifika von Celans Übersetzungspraxis lässt sich nur unter Berücksichtigung seiner fraternités poétiques mit Char, Michaux und Bonnefoy erlangen. Celans „Zeitgenossenschaft“5 erweist sich im Falle dieser drei französischen Lyriker als je individuelle „Wahlverwandtschaft“,6 die sich nicht nur in Form von Übersetzungen, sondern auch in persönlichen Begegnungen, Briefen und Widmungen niedergeschlagen hat und deren ambivalenten Verlauf es im Folgenden zu erhellen gilt. In der Forschung nehmen Celans Übersetzungen der drei Autoren bislang eine Randposition ein: Während die unveröffentlichten Übersetzungsentwürfe aus dem Werk Bonnefoys noch gar nicht wissenschaftlich untersucht worden sind, wurden Celans Übertragungen aus Chars Textsammlungen À la santé du serpent, Feuillets d’Hypnos und À une sérénité crispée und aus Michaux’ Bänden Qui je fus, Mes propriétés, La nuit remue aus den Textcorpora der Monographien zu Celans Übersetzungen französischer

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5 6

stark und nicht in fremdem Wesen auflösbar ist.“ Die Korrespondenz zwischen Celan und Dedecius versteht sich im Zusammenhang mit den Übersetzungen, die sie aus dem Werk des russischen Lyrikers Sergej Jessenin angefertigt und zwischen 1959 und 1961 im S. Fischer Verlag bzw. im Verlag Langenwiesch veröffentlicht haben. Da Celan in seinem Brief nicht direkt auf die Übertragung von Jessenins Gedichten eingeht, lassen sich seine Ausführungen auf die Prämissen seiner Übersetzertätigkeit insgesamt beziehen. Dedecius wiederum antwortet am 13. Februar 1960 auf Celans Brief: „Lieber Herr Celan, Ihr Schreiben hat mir doppelte Freude bereitet: einmal die Anregung, Ihrer Meditation über die uns gemeinsame Passion des Übersetzens nachzuspüren, zum zweiten – die Aussicht Ihres Besuches.“ DLA: Celan D 90.1.1332/2. Olschner (1985), S. 307. Böschenstein (1982, S. 309) grenzt Celans Übersetzungen zeitgenössischer französischer Lyriker ab von dessen deutschen Fassungen von Valérys Jeune Parque bzw. von Rimbauds Bateau Ivre. Mit den Gedichten Valérys und Rimbauds beschäftigte sich Celan, „weil der Grad konzentrierter Durchbildung der dichterischen Sprache des Originals seine handwerklichen Fähigkeiten anspricht und zu eigenständigen Äquivalenten aufruft“.

3.1 „Einmaligkeit“, „Anderssein“: Celans Übersetzungspoetik

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Lyrik aufgrund gattungsspezifischer bzw. übersetzungsanalytischer Kriterien ausgeschlossen.7 Im Hinblick auf die Textauswahl des vorliegenden Kapitels müssen diese Auswahlkriterien hinterfragt werden. Die Aporien der Gattungsbestimmung schlagen sich in den unterschiedlichen Zuschreibungen nieder, die Chars und Michaux’ Texte erfahren haben:8 Während Ute Harbusch alle drei genannten Textsammlungen von René Char als „Prosa-Zyklen“9 bezeichnet, sieht Florence Pennone in Chars Feuillets d’Hypnos, in Michaux’ Ecce Homo sowie in dessen Texten aus dem Band Qui je fus „allenfalls Prosagedichte“10. Char selbst bestimmt die Gattung seiner Feuillets ex negativo, wenn er in der Vorbemerkung schreibt: „Ces notes n’empruntent rien à l’amour de soi, à la nouvelle, à la maxime ou au roman. Un feu d’herbes sèches eût tout aussi bien été leur éditeur.“11 Paul Celan wiederum fügt seiner deutschen Fassung von Chars Feuillets den Untertitel Aufzeichnungen aus dem Maquis (1943–44)12 bei. Ohne die Frage nach der Gattungszugehörigkeit der Feuillets d’Hypnos eindeutig beantworten zu können, gilt es, ihren lyrischen, in der klanglich-rhythmischen Gestaltung begründeten Charakter zu betonen, der die Aufnahme von Celans Übertragungen in den Korpus der vorliegenden Arbeit rechtfertigt. Mit dem Ausschluss von Celans Char- und Michaux-Übersetzungen aus dem Bereich der Lyrik geht in der Forschung die Annahme einer Tendenz zur „große[n] Wörtlichkeit“13 von Celans Übersetzungen zeitgenössischer Autoren insgesamt einher. Diese These wurde bislang, von wenigen Ausnahmen abgesehen,14 bestätigt, obwohl die beiden Char-Übersetzer Johannes Hübner und Lothar Klünner bereits in den fünfziger Jahren kritisch auf die Differenzen zwischen Celans Übersetzungen und den zugrunde liegenden Originaltexten hingewiesen haben, wie der damalige S.-Fischer-Lektor Christoph Schwerin berichtet: Hübner und Klünner lehnten [...] Celans Übersetzungen ab. Sie bestätigten, daß das Ergebnis der Übersetzungen Celans außergewöhnlich sei, der Preis sei aber,

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9 10 11 12 13 14

Dies gilt auch für die von Celan übersetzten Einzeltexte des Dichters Michaux wie: Ecce Homo, La ralentie, Prince de la nuit. Berger (1976, S. 6) sieht das ambivalente Verhältnis der Feuillets d’Hypnos zur lyrischen Gattung gerade als konstitutiv für Chars Aufzeichnungen an, wenn er sagt: „Avec ce recueil [Feuillets d’Hypnos], rien qui ne relève d’une oppressante poésie, mais rien qui soit poème. Aucun vers.“ Harbusch (2005), S. 13. Pennone (2007), S. 9. In der Celan-Werkausgabe figurieren die Texte aus den drei Bänden von Michaux, abgesehen von Ecce Homo, alle unter der Überschrift „Gedichte“. Siehe Celan: GW 4, S. 878/880. Char: Œuvres complètes. Introduction de Jean Roudaut. Paris 2001, S. 173. Vgl. Celan: GW 4, S. 437. Beese (1976), S. 9. Vgl. auch Olschner (1985), S. 304. Vgl. Wiedemann (1996).

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

daß er sich zu weit vom Original entferne. Etwa so weit wie Rilke bei seinen Valéry-Übersetzungen. Dies sei heute nicht mehr zu vertreten.15

Barbara Wiedemann hat aufgezeigt, dass Celans Fassung von Chars Zyklus À la santé du serpent, die er unter dem Titel Der Schlange zum Wohl (1955) vorgelegt hat, tatsächlich „von einer ›wörtlichen Nachschrift‹ denkbar weit entfernt“16 ist. Doch nicht nur hier erweist sich Celans Übertragung als Resultat einer „persönlichen Auseinandersetzung“ mit den Originaltexten:17 In seinen deutschen Fassungen von Chars lyrischen Aphorismen Einer harschen Heiterkeit (1959) und von Hypnos. Aufzeichnungen aus dem Maquis (1943–44) gestaltet Celan ebenfalls individuelle Lesarten der Ausgangstexte, die er klanglich und semantisch neu akzentuiert und dadurch die Originale in teilweise beträchtlichem Maße umdeutet.18 Im direkten Vergleich von Celans Char- und Bonnefoy-Übersetzungen mit denjenigen von Übersetzern wie Fritz Paepcke und Friedhelm Kemp soll deutlich werden, dass Celan sich auch hier mit seiner eigenen Stimme eingebracht und poetische Dialoge mit den Originaltexten initiiert hat. Dabei wird zu zeigen sein, dass Celan ganz unterschiedliche Strategien der „Wörtlichkeit“ anwendet und diese gerade nicht auf eine ›neutrale‹, nach Unsichtbarkeit strebende Haltung des Übersetzers abzielt, wie es in der Forschung immer wieder angenommen wurde. In einer doppelten Bewegung der Anknüpfung und der Abgrenzung von Benjamins Schrift Die Aufgabe des Übersetzers (1923) konturiert Celan in seinem Brief an Karl Dedecius vom 31. Januar 1960 seine Sicht auf die Problematik der Lyrikübersetzung und rekurriert dabei auf zentrale Begriffe Benjamins, wenn er schreibt:19 „die Interlinearversion bleibt – Walter Benjamin hat das einmal sehr schön formuliert – immer das Ziel [des Übersetzens]“.20 Der Begriff der „Interlinearversion“ bezeichnet im Kontext von Benjamins philosophischer Reflexion über die Sprachenvielfalt das utopische Ideal einer Wort-für-Wort-Übersetzung, die sich virtuell zwischen den Zeilen eines Textes, im Besonderen des heiligen Textes der Bibel, manifestiert.21 Das Übersetzen im Sinne einer Interlinearversion gilt 15 16 17 18 19 20 21

Schwerin: Als sei nichts gewesen, S. 243. Wiedemann (1996), S. 60. Ebd. Auch nach der Überarbeitung der Feuillets d’Hypnos (1959/1963) finden sich in der Übersetzung noch viele Umakzentuierungen. Zu Benjamin vgl. Kap. 1.3. Celan: Brief an Dedecius vom 31. Januar 1960. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 21: Das Übersetzen geschieht, wie Benjamin betont, „nicht mehr freilich um [des Textes], sondern allein um der Sprachen willen. [...] Denn in irgendeinem Grade enthalten alle großen Schriften, im höchsten aber die heiligen, zwischen den Zeilen ihre virtuelle Übersetzung. Die Interlinearversion des heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal aller Übersetzung.“

3.1 „Einmaligkeit“, „Anderssein“: Celans Übersetzungspoetik

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Benjamin als das privilegierte Medium, mit dessen Hilfe sich der Mensch der sogenannten „reinen Sprache“, die beim Transfer zwischen den Einzelsprachen momenthaft aufscheint, anzunähern vermag.22 Celan transformiert Benjamins Konzept insofern, als er ihm einen Aspekt hinzufügt, den er – in Abwandlung der Benjamin’schen Terminologie – mit dem Begriff des „Interlinearen“ fasst: [Aber] zu diesem Ziel [i. e. die Interlinearversion, A. S.] gehört eben auch immer … das ›Interlineare‹ (worunter ich hier, unter den so differenzierten sprachlichen Phänomenen, das Gedicht selbst, d. h. auch den Raum, aus dem und in den hinein gesprochen wird, zu verstehen suche).23

Der Begriff des „Interlinearen“ stellt das Gedicht als ein räumliches Gebilde dar, das beim Übersetzen zum Schnittpunkt einer reziproken Bewegung von Ruf und Antwort wird. Der Ausgangstext besteht Celan zufolge nicht nur aus Wortmaterial, sondern entwirft einen Raum aus Bedeutungen, der beim Übersetzen mitberücksichtigt werden müsse. Zwischen den Versen, so lässt sich folgern, spielen implizite Verweise, Anspielungen und Konnotationen eine Rolle, aber auch die für das Gedicht konstitutiven Leerstellen und Auslassungen.24 Celans Verständnis des Gedichts als einer räumlichen Struktur verweist auf den Titel seines Bandes Sprachgitter, der 1959, also kurz vor der Niederschrift seines Briefes an Dedecius, erschienen ist. In einem Schreiben an seinen Lektor Rudolf Hirsch vom 26. Juli 1958 betont Celan, dass in „›Sprachgitter‹ auch das Existentielle, die Schwierigkeit alles (Zueinander)Sprechens und zugleich dessen Struktur [mitspreche]“.25 Ausgehend von der lateinischen Grundbedeutung „inter lineas“ (zwischen den Linien), bezeichnet Celans Begriff des „Interlinearen“ eine zentrale Kategorie im Übersetzungsvorgang, die der zwischen den Zeilen des Gedichts mitklingenden Bedeutungen und Konnotationen. Es geht Celan – im Gegensatz zu Benjamin – demnach weniger um die tatsächlichen Zwischenräume zwischen den Zeilen als vielmehr um den Bedeutungsspielraum, der sich in ihnen manifestiert. Die hier angebotene Deutung des Celan’schen Begriffs des „Interlinearen“ wird durch eine Notiz aus dem Umfeld des Meridian gestützt, in der es heißt: Das Gedicht will [...] verstanden sein, es bietet sich zur Interlinearversion dar, fordert dazu auf; nicht daß das Gedicht im Hinblick auf diese oder jene Interlinear22 23 24

25

Benjamin spricht von der „Sehnsucht nach jener Sprache, welche in der Übersetzung sich bekundet“. In: Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 17. Celan: Brief an Dedecius vom 31. Januar 1960. Diese für ein Gedicht konstitutiven Bedeutungselemente fasst Sauter (2004, S. 43–66) unter dem Begriff der „signifiance“ zusammen und erörtert die mit ihrer Übersetzung einhergehenden Schwierigkeiten. Sauter zufolge konstituiert sich die „signifiance“ eines Gedichts in Form von „reseaux associatifs“ (S. 51), ein Begriff, der sich mit Celans Vorstellung des Gedichts als eines „Sprachgitters“ verbinden lässt. PC/RH, S. 44 f.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

version geschrieben wäre; vielmehr bringt das Gedicht, als Gedicht, die Möglichkeit der Interlinearversion mit, realiter und virtualiter; mit andern Worten: das Gedicht ist, auf eine ihm eigene Weise, besetzbar. Ich gebrauche hier, und möchte dies ausdrücklich betonen, den Begriff Interlinearversion als Hilfswort; genauer: ich meine nicht die Leerzeilen zwischen Vers und Vers; ich bitte Sie, sich diese Leerzeilen räumlich vorzustellen, räumlich und – zeitlich. Räumlich und zeitlich also, und, auch darum bitte ich Sie, stets in Beziehung zum Gedicht.26 [Unterstreichung original]

Das Konzept der „Besetzbarkeit“ eines Gedichtes, das Celan hier entwirft, lässt sich mit dem Begriff des „Andersseins“ des Übersetzers aus seinem Brief an Dedecius verknüpfen. Denn: Ist das Gedicht als solches „besetzbar“, d. h. immer wieder neu interpretierbar, so wird es im Akt der Übersetzung von der Individualität des Übersetzers eingenommen und in einer bestimmten Richtung ausgelegt, wodurch sich dieser wiederum in seinem „Anderssein“ manifestiert. Nicht nur mit dem Konzept des „Interlinearen“, das dem interpretativen Zugriff des Übersetzers als Anknüpfungspunkt in der Auseinandersetzung mit dem Original dient, sondern auch mit dem Motiv des Hineinund Heraussprechens bezieht sich Celan auf Benjamins ÜbersetzerAufsatz und einen seiner Schlüsselbegriffe: den „Bergwald der Sprache“. Bei Benjamin heißt es an der entsprechenden Stelle: Die Übersetzung aber sieht sich nicht wie die Dichtung gleichsam im innern Bergwald der Sprache selbst, sondern außerhalb desselben, ihm gegenüber und ohne ihn zu betreten ruft sie das Original hinein, an demjenigen einzigen Orte hinein, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache zu geben vermag.27

Benjamin versteht den „innern Bergwald der Sprache“ als exklusiven Bereich der Sprache, in welche die Übersetzung das Original hineinspricht und daraufhin ein Echo, einen schwachen Widerhall vom Original, vernimmt. Original und Übersetzung verorten sich demnach nicht auf der gleichen Ebene, da der übersetzte Text außerhalb des „Bergwalds der Sprache“ steht. Celan greift Benjamins Motiv des Hineinrufens und Heraustönens unter veränderten Vorzeichen auf: In dem von ihm beschriebenen Übersetzungsvorgang ist es nicht der „Bergwald der Sprache“, sondern der Raum des Gedichts mit seinen semantischen Dimensionen, in den das Original hineingesprochen wird und aus dem es heraustönt. Gedicht und übertragenes Gedicht verorten sich dabei offensichtlich auf einer gemeinsamen Sprachebene, auch wenn es sich bei der Übertragung, wie Celan betont, immer um ein „Nachsprechen, ein zweites Sprechen“ handelt, das von der „Einmaligkeit“ der jeweiligen Übersetzerstimme 26 27

TCA/Meridian, S. 140. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 16. Vgl. Kap. 1.3.

3.1 „Einmaligkeit“, „Anderssein“: Celans Übersetzungspoetik

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geprägt ist. Gibt die Übersetzung bei Benjamin nur ein schwaches Echo vom Original wieder, so stellt sich Celan einen Prozess der Wechselwirkung vor, eine Art Wechselgespräch zwischen Gedicht und „übertragene[m] Gedicht“. Offensichtlich will Celan auch die Übertragung als literarischen Text verstanden wissen, der dem Ausgangstext gegenübersteht.28 Der gravierendste Unterschied zwischen den Übersetzungskonzeptionen Benjamins und Celans besteht hinsichtlich ihrer Perspektive auf die Sprache: Benjamins Reflexion konzentriert sich auf das Verhältnis zwischen den Einzelsprachen bzw. auf die im Übersetzungsvorgang aufscheinende „reine Sprache“ und vertritt damit eine interlinguale Betrachtungsweise des Übersetzens. Celan hingegen betont in seinem Konzept die Interaktion, die zwischen dem Gedicht und dem übertragenen Gedicht stattfindet,29 und steht somit für eine ›inter-textuelle‹ Perspektive, die Aspekte von Sprach- und Texttransfer berücksichtigt.30 Dies wird auch in seinem Brief an den amerikanischen Übersetzer Adolph Hofmann vom 18. Mai 1960 deutlich, wo es heißt: „Uebersetzen – das bedeutet einen langen Umgang mit dem zu Uebersetzenden, mit dessen Sprache überhaupt und mit dessen Sprache im besonderen, d. h. im Gedicht.“31 Neben den Spezifika des jeweiligen Sprachsystems (i. e. die „Sprache überhaupt“) gilt es, die je individuelle poetische Diktion des zu übertragenden Gedichts (i. e. die „Sprache im besonderen“) zu beachten. Seine Vorstellung der Übersetzung als Wechselgespräch zwischen zwei Texten präzisiert Celan im Rahmen des Würzburger UngarettiSeminars im Juli 1965, wo er die Notwendigkeit betont, in einer Übertragung gegebenenfalls über die Verfahren der Wörtlichkeit hinauszugehen „in Richtung auf ein dem Original ent- und zusprechendes Gedicht“, denn: „Wörtlichkeit [ergebe] noch keine Poesie“.32 In der hier zitierten Formulierung klingt nicht nur die Bewegung von Ruf und Antwort aus Celans Brief an Dedecius nach; gerechtfertigt wird auch ein bestimmtes 28 29 30

31 32

Zum literarischen Eigenwert der Übersetzung bei Walter Benjamin vgl. Kap. 1.3. Auch Olschner (1985) sieht in der „Interaktion [...] zweier Dichter, Texte und Poetiken“ ein „wesentliches Merkmal dichterischer Übersetzung“ (S. 13). Turk (1991, S. 256) vertritt eine Gegenthese, wenn es heißt, Celan sei „als Klassiker der Übersetzung im Sinne eines Paradigmenwechsels von der Bedeutungs- oder Sinnübersetzung zur Übersetzung der Sprachen ineinander zu würdigen“. Turk erkennt demnach bei Benjamin und Celan gerade keine unterschiedliche, sondern eine ähnliche Perspektive auf den Status der Sprache im Übersetzungsvorgang. In Celans Brief an Karl Dedecius vom 31. Januar 1960 wird jedoch m. E. deutlich, dass Celan sich dezidiert von Benjamins Übersetzungsverständnis abzugrenzen sucht. FN, S. 517. Celans Äußerung wird zitiert nach Laschen (1999), S. 6. Celan war für eine Lesung am 22. Juli 1965 nach Würzburg gekommen, wo er bis zum 23. Juli blieb. Er nahm während seines Würzburg-Aufenthalts an dem oben genannten Ungaretti-Seminar mit Studenten unter der Leitung von Beda Allemann teil, vgl. PC/GCL 2, S. 555.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Maß an Freiheit und Individualität aufseiten des Übersetzers. Spricht der Übersetzer dem Ausgangstext mit seiner eigenen Stimme etwas zu und trägt von außen etwas an ihn heran, so reagiert er damit auf das im Original Gesagte und Gestaltete. In diesem Sinne schreibt Celan in einem Brief an Hans Bender vom 10. Februar 1961: Auch Übersetzungen seien „Begegnungen, auch hier bin ich mit meinem Dasein zur Sprache gegangen“.33 Celans Verständnis der Lyrikübersetzung als einer „Begegnung“ zwischen Autor und Übersetzer, zwischen Gedicht und übertragenem Gedicht, in der die Einmaligkeit beider Stimmen gewahrt bleiben soll, weist Ähnlichkeiten zu Novalis’ Begriff der ›verändernden Übersetzung‹ auf.34 In beiden Konzepten wird eine Gleichzeitigkeit von Autor- und Übersetzerstimme in der zielsprachlichen Textfassung angestrebt. Konstitutiv für die „Einmaligkeit“ der Übersetzerstimme, die im Übersetzungsvorgang auf das Original trifft, ist ihr Eingebettetsein in zeithistorische Zusammenhänge. Nicht nur als Lyriker, sondern auch als Übersetzer beharrt Celan auf dem „Akut des Heutigen“,35 den er in seiner wenige Monate später entstandenen Büchnerpreis-Rede Der Meridian formuliert hat. Von diesem Begriff lässt sich eine Verbindungslinie zur Übersetzungspoetik von Rudolf Borchardt knüpfen,36 dessen Übertragungen Celan sehr geschätzt hat.37 Denn auch Borchardt fordert von Übersetzungsprozessen einen genuinen Aktualitätsbezug, den er dezidiert von Tendenzen der sprachlichen Modernisierung oder der Einbürgerung unterscheidet. In seinem Gespräch über Formen (1905) betont Borchardt „die Verbindung [der Übersetzung] mit dem Leben, mit einer Realität der Zeit oder des Individuums“.38 Borchardt selbst versteht seine Übersetzungstätigkeit als integralen Bestandteil eines kulturpolitischen, auf sprach- und literaturgeschichtliche Prozesse fokussierten Programms. In Celans Poetik beansprucht die Forderung nach individueller Zeitbezogenheit poetischer und übersetzeri33 34 35 36 37

38

Paul Celan: Brief an Hans Bender vom 10. Februar 1961. In: Briefe an Hans Bender. Unter redaktioneller Mitarbeit von Ute Heimbüchel hrsg. von Volker Neuhaus. München 1984, S. 54. Vgl. dazu Pennone (2007), S. 1. Novalis: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub 1797/1798, S. 255. Paul Celan: Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien. Tübinger Ausgabe. Hrsg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull. Frankfurt am Main 1999. S. 2–13, hier S. 4. Zu Rudolf Borchardts Übersetzungspoetik vgl. Kap. 1. Zu Celans Borchardt-Rezeption vgl. Seng (2007). In seinem Brief an Alfred Andersch vom 24. Oktober 1954 schreibt Celan über Borchardt: „Was Sie mir zu meinen Apollinaire-Übersetzungen sagen, ist mehr als ermutigend – aber : an die Borchardtschen Übersetzungen reicht das nicht heran. Dieser unerhörte Borchardt! Sie sprechen von seinen Übersetzungen aus dem Englischen: wenn ich nur hoffen dürfte, jemals eine Übertragung wie die von Swinburnes ›Forsaken Garden‹ zustande zu bringen!“ Zitiert nach Seng (2007), S. 42. Borchardt: Gespräch über Formen, S. 50 f. Zu Borchardts Übersetzungspoetik sowie zu seiner Übersetzung von Swinburnes Gedicht A forsaken garden vgl. Kap. 1.3.

3.1 „Einmaligkeit“, „Anderssein“: Celans Übersetzungspoetik

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scher Werke vor dem Hintergrund der Verbrechen des Nationalsozialismus eine besondere Virulenz. Anders als Borchardt, der ein ungebrochenes Vertrauen in die deutsche Sprache setzt, empfindet Celan seinen Zugang zum Deutschen, das für ihn „Muttersprache [und] Mördersprache“39 zugleich ist, als höchst ambivalent und fragil. Um überhaupt Gedichte in deutscher Sprache schreiben zu können, insistiert Celan auf einer unablässigen Selbstreflexion des lyrischen Sprechens und seiner Bedingungen nach 1945. Celans „Akut des Heutigen“40 schlägt sich auch in seinem Brief an Karl Dedecius nieder, und zwar in Form einer besonderen Aufmerksamkeit gegenüber aktuellen politischen Ereignissen, auf die gleich in den ersten Sätzen angespielt wird. Hier gibt Celan vor, er habe Dedecius am Sonntag, dem 31. Januar, antworten wollen und sei durch das politische Tagesgeschehen davon abgehalten worden: „Sie wissen ja aus den Zeitungen“, so heißt es, „welche Fragen an diesem Sonntag in Paris beantwortet sein wollen.“41 Hier lässt sich z. B. an die seit dem 24. Januar 1960 andauernde Semaine des Barricades in Algerien denken.42 Diese tagespolitischen Themen überschneiden sich Celan zufolge mit Fragen der Poetik, „denen derjenige begegnet, der dem Gedicht folgt“.43 Celans Kunstgriff besteht nun darin, dass er seine Überlegungen zum Übersetzen trotz der vorgebrachten Entschuldigung anscheinend doch direkt ausformuliert. Anhand des Schriftbildes lässt sich zumindest kein Anhaltspunkt für eine spätere Niederschrift finden, es wurde auch kein zweites Datum notiert.44 Offensichtlich ging es Celan in seiner Einstiegsformulierung vor allem darum, seine Gedanken zur Lyrikübersetzung im Rahmen aktueller politischer Ereignisse zu verorten und diese dem Briefempfänger in Erinnerung zu rufen.45 Eine klare Haltung zum Algerien-Konflikt lässt Celan in seinem Brief hingegen nicht erkennen. 39

40 41 42 43

44 45

Diese für Celan existentielle Problematik schlägt sich auch in seinem frühen Gedicht Nähe der Gräber nieder, in dem es heißt: „Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim, / den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?“ In: Celan: KG, S. 17. Vgl. dazu Buck (1993), S. 33. TCA/Meridian, S. 4. Celan: Brief an Dedecius vom 31. Januar 1960 [Transkription A. S.]. Vgl. dazu die Radio- bzw. Fernsehansprachen des französischen Präsidenten Charles de Gaulle am 25. und 29. Januar 1960 in: Charles de Gaulle: Discours et messages. Avec le renouveau (Mai 1958–Juillet 1962). Paris 1971, S. 160 f.; S. 162–166. Auch in seinem Brief an Werner Weber vom 26. März 1960 insistiert Celan auf der engen Verknüpfung zwischen Schreiben und Leben: „daß man der Wahrheit des Gedichts nachleben muß, – wenn es nur diese Erfahrung gäbe (und es gibt sie!), sie könnte genügen. Aber wieviele sind es denn heute, die solche Aspekte des Dichterischen überhaupt wahrnehmen?“ In: FN, S. 398. Ich danke Bertrand Badiou für die Auskunft, dass sich für den 31. Januar 1960 in Celans Agenda kein Eintrag für eine Verabredung o. Ä. findet. Diese Tendenz lässt sich auch in anderen Korrespondenzen Celans feststellen. Nähere Ausführungen zu politischen Fragen finden sich nur im Briefwechsel mit Franz Wurm (1960–1970). Siehe: PC/FW.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Er beginnt seine Ausführungen zur Lyrikübersetzung in medias res: „Ja, das Übersetzen von Gedichten.“46 In einem ähnlichen Tonfall hat auch sein Brief an den amerikanischen Übersetzer Adolph Hofmann vom 18. Mai 1960 eingesetzt, in dem es heißt: „Ach ja, das Übersetzen von Gedichten ...“47 In beiden Fällen versucht Celan offensichtlich den Eindruck einer gewissen Beiläufigkeit im Umgang mit Übersetzungsfragen zu erwecken; seine anschließenden Reflexionen zeugen jedoch von der Priorität, die dieser Problematik in seinem Denken zukommt. Als grundlegende Voraussetzung jeder Vermittlungstätigkeit gelten Celan Integrität und Verantwortungsbewusstsein gegenüber Autor und Originaltext, wie er in seinem Brief an Dedecius ausführt: „Nicht daß ich [...] irgendeinem ›freien‹, d. h. unverantwortlichen Übersetzen das Wort reden wollte“, schreibt Celan, „im Gegenteil. Handwerk, Sauberkeit des Handwerks, also Textnähe und Texttreue bleiben Bedingung, oder vielmehr: sie sind, wie stets im Gedicht, Vorbedingung.“48 Zum vertiefenden Verständnis des Begriffs des Handwerks hilft ein Blick in Celans Brief an Hans Bender vom 18. Mai 1960, in dem er das „Handwerk“ als „Voraussetzung aller Dichtung“49 definiert: Handwerk – das ist Sache der Hände. Und diese Hände wiederum gehören nur einem Menschen, d. h. einem einmaligen und sterblichen Seelenwesen, das mit seiner Stimme und seiner Stummheit einen Weg sucht. Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte. Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht.50 [Hervorhebung original]

Die Dringlichkeit seiner Forderung nach ›handwerklicher‹ Sauberkeit beim Schreiben und beim Übersetzen muss vor dem Hintergrund der traumatisierenden Erfahrung der von Claire Goll seit 1953 konstruierten, auf Textmanipulationen beruhenden Plagiatsvorwürfe gegen ihn verstanden werden.51 Betont Celan in seinem Brief an Karl Dedecius das „Anders46 47 48 49 50 51

Celan: Brief an Dedecius vom 31. Januar 1960 [Transkription A. S.]. FN, S. 517. Celan: Brief an Dedecius vom 31. Januar 1960 [Transkription A. S.]. Paul Celan: Brief an Hans Bender. In: Ders.: Gedichte 3, Prosa, Reden (= Gesammelte Werke in sieben Bänden, Bd. 3). Hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rudolf Bücher. Frankfurt am Main 2000, S. 177–178, hier S. 177. Ebd. Celan hatte den aus dem Elsass stammenden jüdischen Lyriker Yvan Goll 1949 wenige Monate vor dessen Tod in Paris kennengelernt, ihm seine Gedichtsammlung Der Sand in den Urnen geschenkt und auf dessen Bitte hin einige von Golls Gedichten ins Deutsche übersetzt. Um den aufstrebenden Lyriker Celan, der kurz zuvor seinen ersten Gedichtband Mohn und Gedächtnis (1952) veröffentlicht hatte, in Verruf zu bringen und ihren verstorbenen Mann ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken, brachte Claire Goll 1953 erstmals konstruierte Anschuldigungen in einem an verschiedene Kritiker und Verleger adressierten Rundbrief in Umlauf. Sie behauptete, Celan habe Texte ihres verstorbenen Mannes aus dem 1951 erschienenen Lyrikband Traumkraut plagiiert (vgl. den Wortlaut des Rundbriefs in: Wiedemann (2000), S. 187–189). Tatsächlich war es Claire Goll selbst gewesen, die die Nachlasstexte ihres Mannes unter Rückgriff auf Celans frühe

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

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sein“ des Übersetzers, so zielt er gerade nicht auf eine uneingeschränkte künstlerische Lizenz für willkürliche Eingriffe und Veränderungen, sondern insistiert auf der Bindung des Übersetzers an das Original. Wie sich Celans übersetzungspoetologische Prämissen in seiner Übersetzungspraxis niederschlagen und inwiefern sie seinen Austausch mit befreundeten französischen Lyrikern und ihren Werken beeinflussen – diese Fragen werden im Folgenden zunächst am Beispiel René Chars näher zu untersuchen sein.

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique? Paul Celans Auseinandersetzung mit dem Lyriker René Char und dessen Werk umfasst, im Vergleich zu seiner Beschäftigung mit anderen von ihm übersetzten Autoren, einen sehr langen Zeitraum: zwischen 1954 und 1966 stand Celan mit Char in brieflichem Austausch.52 In dieser Phase hat er immer wieder lyrische Texte von ihm ins Deutsche übertragen.53 Als Initiator der ersten Begegnung zwischen Paul Celan und dem französischen Lyriker und ehemaligen Résistance-Kämpfer René Char hat Christoph Graf von Schwerin fungiert, der spätere Lektor für französische Literatur im S. Fischer Verlag (1958–1963).54 In seinen Memoiren erinnert sich Schwerin an ein Gespräch, das er im Frühjahr 1953 in Paris mit René Char über Paul Celan geführt hatte: [Char] fragte mich, wer denn der interessanteste deutsche Dichter sei. [...] Da nannte ich den Namen Paul Celan. Ich war selbst davon überrascht, es gab schließlich erst einen Band Gedichte von ihm. [...] Paul Celan wohnte in Paris. Aber Celan war kein Emigrant. Er hatte nie in Deutschland gelebt und im Nachkriegs-Wien war er nur zu Gast gewesen. Das sagte ich Char. Beide, so fand ich, sollten sich kennenlernen. Und Jean-Pierre Wilhelm wußte, daß Celan vor der deutschen Besetzung in Paris studiert hatte und akzentfrei französisch sprach.55

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Gedichte verändert hatte. Anfang der sechziger Jahre verschärfte sich die gegen Celan gerichtete Verleumdungskampagne, die zunehmend auf mediales Interesse stieß. Zu den Einzelheiten der Goll-Affäre siehe Wiedemann (2000). Wiedemann (1996), S. 60. Von René Char sind 32 Briefe und Karten an Celan erhalten. Von Celan sind bislang nur drei nicht abgeschickte Briefe von 1960 bis 1962 zugänglich sowie ein Brief, der von fremder Hand mit dem Datierungsvorschlag 6. Februar 1968 versehen wurde (DLA: Celan: D 90.1.734). Die übrigen Briefe von Celan an René Char sind von Chars Nachlass-Verwaltern noch nicht freigegeben worden. Celans letzte Char-Übersetzung des Gedichts Dernière marche stammt aus dem Jahr 1966. Vgl. Kap. 3.2.4. Nach zwei Publikationen bei der Deutschen Verlags-Anstalt (1952: Mohn und Gedächtnis, 1955: Von Schwelle zu Schwelle) war Celan zu diesem Verlag gewechselt. Schwerin: Als sei nichts gewesen, S. 157 f.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Am 23. Juli 1954, also über ein Jahr nach dem Gespräch mit Schwerin, schreibt René Char in einem Brief an Paul Celan: „Vous êtes un des très rares poètes dont je désirais la rencontre.“56 In einem Schreiben zu Celans Geburtstag am 23. November 1954 artikuliert Char seine literarische und persönliche Verbundenheit zu Celan, wenn es heißt: „de votre part, cette fraternité poétique me touche infiniment, veuillez le croire. L’allègement, c’est de vous dire MERCI“.57 Wie sehr Celan die Freundschaft zu dem französischen Lyriker geschätzt hat, lässt sich an der Tatsache ablesen, dass er sein Gedicht Argumentum e silentio (hier noch ohne Widmung) und seine Übersetzungen von Chars Zyklus À la santé du serpent in der gleichen Ausgabe der Zeitschrift Texte und Zeichen58 veröffentlichen ließ. Char wiederum hat diese Geste sehr begrüßt, wie in seinem Brief an Celan vom 7. Februar 1955 deutlich wird, in dessen Postskriptum es heißt: „J’ai reçu ›Texte und Zeichen‹ [...]. Nous sommes là tous deux. Je m’y sens bien.“59 Die Widmung an Char wurde vermutlich im Dezember 195460 hinzugefügt und in den Band Von Schwelle zu Schwelle aufgenommen.61 Einige Jahre später, in einem Brief vom 27. Februar 1958 an seinen Lektor Rudolf Hirsch, formuliert Celan seinerseits die besondere Verantwortung, die er gegenüber dem französischen Lyriker empfindet: Sie wollen, um mir Ungeduldigem entgegenzukommen, meine Übersetzung [von Alexander Bloks] ›Zwölf‹ an Stelle der Gedichte von René Char bringen – bitte tun Sie das nicht, das darf auf keinen Fall geschehen, ich kann das wirklich nicht verantworten! René Char soll und muss zuerst dasein! Am 10. oder 11. März will ich in Frankfurt sein und Ihnen die ›Sérénité crispée‹ vorlegen.62

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PC/GCL 2, S. 497. DLA: Celan D 90.1.1295/4. Auch gegenüber dem Übersetzer Jean-Pierre Willhelm hat Char von Celan als einem „Dichter-Bruder“ gesprochen. Vgl. Schwerin: Als sei nichts gewesen, S. 199. Celans Gedichte Inselhin (S. 74), Argumentum e silentio (S. 75 f.), Mit zeitroten Lippen (S. 77 f.), Neben mir (S. 79) und Zwiegestalt (S. 80) gehen seiner Char-Übersetzung voran. Vgl. René Char: Der Schlange zum Wohl. Ins Deutsche übertragen von Paul Celan. In: Texte und Zeichen. Eine literarische Zeitschrift, Heft 1 (1955), S. 81–83. DLA: Celan D 90.1.1295/8. Vgl. Celan: KG, S. 641. Ein erstes gemeinsames Abendessen von Char, Celan und seiner Frau fand am 4. Dezember 1954 in Celans Pariser Wohnung in der rue de Lota statt, weitere Begegnungen folgten am 9. und 15. Dezember 1954. Siehe: PC/GCL 2, S. 499. Am 9. Dezember hat Char folgende Widmung in ein Exemplar seines Buches À la santé du serpent eingetragen: „Pour Gisèle et pour Paul / Celan / dans une amitié confiante / et à travers des herbes / qui se plient puis se / redressent heureuses. / Ce soir 9 décembre 1954, / près d’eux. René Char.“ PC/GCL 2, S. 91. Siehe auch: Celan Bibliothek DLA. Vgl. Celan: KG, S. 641. Siehe auch Celans Brief vom Dezember 1954 oder Januar 1955 an seine Frau, in dem es heißt: „Un jour, nous ne verrons que des êtres comme Char.“ In: PC/GCL 1, S. 63. PC/RH, S. 30. Der Herausgeber des Briefwechsels zwischen Celan und Hirsch, Joachim Seng, führt Celans Ungeduld bezüglich der Publikation seiner Char-Übertragungen nicht

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

179

Trotz des emphatischen Eintretens für das Werk René Chars, das sich in Celans Brief manifestiert, erweist sich ihr Verhältnis aufgrund unterschiedlicher poetologischer Positionen (Kap. 3.2.1) jedoch nicht nur von Anfang an als spannungsreich, sondern führt im Laufe der Jahre auf Celans Seite zu einer „Ernüchterung und Distanzierung“.63 Von dieser Entwicklung zeugt Celans Brief an Ingeborg Bachmann vom 12. März 1959, in dem er schwere Vorwürfe gegen Char erhebt und dabei rückblickend sogar sein Engagement als Übersetzer von Chars Texten in Frage stellt: Ich erlebe täglich ein paar Gemeinheiten, überreichlich serviert, an jeder Straßenecke. Der letzte ›Freund‹, der mich (und Gisèle) mit seiner Verlogenheit zu bedenken wußte, heißt René Char. Warum auch nicht? Ich habe ihn ja übersetzt (leider!), und da konnte sein Dank, den ich schon vorher, allerdings in geringeren Dosen, erleben durfte, nicht ausbleiben.64

Der Hintergrund dieser vernichtenden Beurteilung von Char lässt sich nach der derzeitigen Materiallage nicht rekonstruieren.65 Es bleibt jedoch festzuhalten, dass Celans Vertrauen in Chars Integrität schon Ende der fünfziger Jahre schwer erschüttert worden sein muss.

63

64 65

allein auf die freundschaftliche Beziehung zwischen den beiden Lyrikern zurück: „Für den Char-Band, der den Dichter in Deutschland erstmals einem breiteren Publikum bekannt machte, übertrug Celan ›Résistance-Literatur‹, Literatur des Widerstands gegen eine verbrecherische Diktatur, die auch sein Leben bedroht und seine Eltern getötet hatte, ins Deutsche, die Sprache der Mörder und einstigen Besatzer [...]. Beide Übertragungen, Blocks ›Die Zwölf‹ und Chars ›Dichtungen‹, hatten einen deutlichen Wirklichkeitsbezug. Chars Texte sind jedoch politisch-›engagierter‹ und berühren Celans eigene Biographie. Ihre Übertragung ins Deutsche muss ihm ein besonderes Anliegen gewesen sein.“ In: PC/RH, S. 229. Wiedemann (1996), S. 61. Yves Bonnefoy spricht von der „espérance, vite déçue, [que Celan] plaça dans l’amitié supposée de René Char. Celui-ci n’était-il pas un véritable poète? Capable, lui, de reconnaître Paul en ce qu’il était et de dire, dans ces moments à court de paroles vraies, comment et pourquoi il était précisément cela, un poète.“ In: Yves Bonnefoy: Ce qui alarma Paul Celan. Paris 2007, S. 29. In seinem Brief an Gero von Wilpert vom 31. Juli 1960, in dem Celan die für ihn auch persönlich besonders wichtigen Übersetzungen aufzählt, werden die Char-Übertragungen nicht genannt: „Und nun wollte ich Sie bitten, in Ihrer Bibliographie nur diejenigen Dichtungen zu nennen, die ich aus wirklicher Neigung, d. h. nicht auf Grund irgendeines Auftrages von Seiten der Verlage, übertragen habe. Es sind die folgenden: Alexander Block [sic], Die Zwölf / Arthur Rimbaud, Das trunkene Schiff / Ossip Mandelstamm, Gedichte / Paul Valéry, Die junge Parze“ (FN, S. 285 f.). PC/IB, S. 106. Dem Stellenkommentar zufolge war bislang nicht zu klären, worauf sich Celan mit dem Begriff „Gemeinheiten“ bezieht bzw. was zwischen Celan und Char vorgefallen war. Laut Kommentar waren sich Celan und Char am 27. Januar 1959 begegnet, vgl. PC/IB, S. 308.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Neben persönlichen und politischen Beweggründen66 waren aber auch ästhetische Differenzen für Celans fortschreitende Distanznahme verantwortlich. Celan hatte besonders Chars aus dem Geiste des Widerstands hervorgegangene Notizen aus der Résistance, die Feuillets d’Hypnos (1943– 1944), geschätzt. Während Char im Originaltitel nur die Entstehungszeit seines Werkes angibt, fügte Celan seiner deutschen Fassung den Untertitel Aufzeichnungen aus dem Maquis (1943–1944) hinzu, um dem deutschen Leser den historischen Hintergrund der französischen Widerstandsbewegung vor Augen zu führen und den vielschichtigen Charakter der lose aneinandergereihten Textabschnitte, in denen persönliche Erfahrungen, poetische Imaginationen und ethisch-poetologische Reflexionen miteinander verschmelzen, hervorzuheben. Seit den frühen sechziger Jahren verblasst jedoch die Präsenz der Résistance-Erfahrungen in Chars Werk und mit ihnen mindert sich auch sein aphoristischer Charakter.67 An die Stelle der Résistance-Aufzeichnungen der Feuillets d’Hypnos (1943/44), der sinnkondensierenden Aphorismen aus À la santé du serpent (1947) und der poetologisch reflektierenden, gesellschaftskritischen Skizzen in À une sérénité crispée (1952) treten in dem Band Le Nu perdu (1970) lyrische, oft gereimte Gedichte, die sich der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu entziehen scheinen und sich eher „›privaten‹ Themen“ widmen.68 Celan misstraut diesem neuen, allzu harmonisch geformten poetischen Ausdruck. Bereits in einem nicht abgesandten Brief an René Char vom 22. März 1962 begründet Celan seine Zurückhaltung gegenüber einzelnen Texten Chars, die sich ihm nicht erschließen und die er folglich nicht übersetzen kann: Voyez-vous, j’ai toujours essayé de vous comprendre, de vous répondre, de serrer votre parole comme on serre une main; et c’était, bien entendu, ma main qui 66

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68

Problematisch sah Celan vermutlich auch Chars enge Freundschaft zu Martin Heidegger. Celan war zwar selbst mit dem Philosophen persönlich bekannt, doch er blieb ihm gegenüber zeitlebens skeptisch und zurückhaltend, da Heidegger nicht bereit war, über seine Rolle in der nationalsozialistischen Partei offen Zeugnis abzulegen. Celans Gedicht Todtnauberg aus dem Jahr 1967 legt eindringlich dar, wie groß Celans Hoffnung war, bei seinem Besuch in Heideggers Domizil im Schwarzwald ein klärendes Gespräch zu führen. Char schien hingegen sehr viel unkritischer mit Heideggers nationalsozialistischem Engagement umzugehen. Chars Biograph Laurent Greilsamer berichtet, dass Char Heidegger vor jedweden Angriffen in Schutz nahm mit den Worten: „Heidegger n’a jamais fait de mal à personne, contrairement à bien des hommes de gauche en France après guerre. Il n’a jamais envoyé un Juif dans un camp“; vgl. Greilsamer (2004), S. 366. Vgl. Weinrich (1969), S. 769. Betonte Char in der Vorbemerkung zu den Feuillets d’Hypnos, wie sehr die geschichtlichen Ereignisse in seinen Aufzeichnungen präsent seien, so vermissen die Rezensenten seiner späteren Veröffentlichungen eine kritische Perspektive auf die Wirklichkeit. So heißt es in einem Beitrag von Marianne Kesting, „Char berausch[e] sich an Bildern und Worten, und viele seiner Dichtungen [würden] zu Schönrederei“. Vgl. Marianne Kesting: Wortmusik. René Chars Dichtungen, 2. Band. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. November 1968. Literaturbeilage, S. 3. Bevilaqua (2004), S. 43.

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

181

serrait la vôtre, là où elle était sûre de ne pas manquer la rencontre. Pour ce qui, dans votre œuvre, ne s’ouvrait pas – ou pas encore – à ma compréhension, j’ai répondu par le respect et par l’attente: on ne peut jamais prétendre à saisir entièrement –: ce serait l’irrespect devant l’Inconnu qui l’habite – ou vient habiter – le poète.69 [Hervorhebungen original]

Versteht Celan die Übersetzung als eine Form der „rencontre“ und seine deutschsprachigen Textfassungen als Versuche einer ›réponse‹ auf das Original, so bleibt die Entscheidung für eine Übersetzung eine stets individuell zu begründende. In diesem Sinne formuliert Celan in seinem Brief an Siegfried Unseld vom 20. Dezember 1966 angesichts geplanter Übersetzungsprojekte des Verlegers seine Bewunderung für den RésistanceKämpfer René Char ebenso wie seine Distanz zu dessen neueren Texten: Nun zu Ihrem Char-Projekt: Ich bin hier irgendwie unzuständig. [...] Ich habe, und darin bitte ich eine ›Hommage au Résistant‹ zu erblicken, das Tagebuch aus dem Maquis übertragen und dazu noch einiges Aphoristische. Mit den Gedichten René Chars hatte ich es schon immer schwer, und die deutschen Texte, die ihnen jetzt gegenüberstehen, sind, so gut sie gemeint sind, denn doch nur Wörtlichkeiten und Approximationen. So gastlich das Deutsche – im Gegensatz zum Französischen – auch sein mag, es hat nicht für alles Entsprechungen bereit. Es gibt eben, bis zu dem Tage, wo das Wunder geschieht, Unübersetzbares.70

Als 1968 der zweite Band von René Chars Poésies. Dichtungen im S. Fischer Verlag erscheint, finden sich unter den Übersetzern wiederum Johannes Hübner, der auch als Herausgeber fungiert, und Lothar Klünner. Neu dazugestoßen ist der Übersetzer Gerd Henninger. Paul Celan hat sich an diesem Projekt nicht mehr beteiligt. Seine letzte Char-Übersetzung ist die des Gedichtes Dernière marche aus dem Band Retour amont (1966), die Celan am 21. Juli 1966 an René Char gesandt, aber nicht publiziert hat (vgl. Kap. 3.2.4).71 Sowohl für das Verhältnis zwischen Celan und Char als auch für Celans Auseinandersetzung mit Claire Golls verleumderischen Plagiatsvorwürfen ist sein 1954 entstandenes Gedicht Argumentum e silentio von zentraler Bedeutung. Daher soll das René Char gewidmete Gedicht im Folgenden näher betrachtet werden (Kap. 3.2.1). Die in diesem Widmungsgedicht formulierte radikale Sprachkritik hat auch die sprachliche 69

70 71

PC/GCL 2, S. 536. Siehe auch: DLA: Celan D 90.1.735/3. Vgl. Celans Widmung an René Char in einem Exemplar der Ausgabe Poésies/Dichtungen (1959): „A René Char, que j’ai eu l’honneur de traduire, au Poète, en pensant Poésie, à l’homme seul, franchement, fidèlement, chez lui, confiant, Paul Celan 7. X. 63.“ In: Celan Bibliothek DLA. FN, S. 210. Das Entstehungsdatum dieses Briefes ist nicht eindeutig geklärt. Es ist möglich, dass der Brief erst ein Jahr später, im Dezember 1967, entstanden ist. DLA: Celan D 90.1.381. In einem Exemplar von René Chars Gedichtband Retour amont, das die Widmung „A Paul Celan / son ami / René Char“ trägt, ist bei Seite 44 die unveröffentlichte Übersetzung von Dernière marche eingelegt. Zitiert nach PC/GCL 2, S. 331.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Gestaltung von Celans Char-Übersetzungen entscheidend geprägt, wie auf der Grundlage der Gedichtanalyse dargelegt und an konkreten Beispielen veranschaulicht werden soll (Kap. 3.2.2). 3.2.1 Argumentum e silentio: ein Gedicht für und gegen René Char Paul Celan hat sein sprachreflexives Gedicht Argumentum e silentio72 aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle (1955) nachträglich dem französischen Lyriker und ehemaligen Résistant René Char gewidmet, aus dessen Werk er bereits kurz nach ihrem Kennenlernen im Juli 195473 zu übersetzen begonnen hatte. Das Widmungsgedicht liest sich zum einen als poetologische Positionsbestimmung des Lyrikers, der sich den Plagiatsvorwürfen von Claire Goll ausgesetzt sah, zum anderen als eine „persönliche[] Auseinandersetzung mit dem Dichter René Char“:74 ARGUMENTUM E SILENTIO75 Für René Char

72 73 74

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An die Kette gelegt zwischen Gold und Vergessen: die Nacht. Beide griffen nach ihr. Beide ließ sie gewähren.

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Lege, lege auch du jetzt dorthin, was heraufdämmern will neben den Tagen: das sternüberflogene Wort, das meerübergossne.

Das Gedicht wurde, einer datierten Liste Celans zufolge, vor dem 13. September 1954 verfasst. Vgl. Celan: KG, S. 640. Celan: KG, S. 641. Vgl. Chars Brief an Celan vom 23. Juli 1954, in dem er ihn für den 26. Juli einlädt. DLA: Celan D 90.1.1295/2. Wiedemann (1996), S. 60. Petuchowski (1978, S. 119) erwähnt die Widmung nur beiläufig: „A detail which should, perhaps, be noted is the dedication of the poem ›Argumentum e silentio‹ to René Char, one of France’s most prolific poets some of whose poetry Celan translated. One can conclude that Celan regarded this poem as significant and not unworthy.“ Bertrand Badiou hat darauf hingewiesen, dass der Gedichttitel ursprünglich von Celan als Gesamttitel für den Band Von Schwelle zu Schwelle vorgesehen war. Gegenüber KarlEberhardt Felten (DVA) hat sich Celan dazu am 17. Mai 1961 wie folgt geäußert: „Ursprünglich sollte dieser Band ›Argumentum e silentio‹ heissen; schade, dass ich mich seinerseits überreden liess, ihn umzutaufen. Aber: es gibt ja auch das: Wasserzeichen.“ In: Celan: KG, S. 621.

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

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Jedem das Wort. Jedem das Wort, das ihm sang, als die Meute ihn hinterrücks anfiel – Jedem das Wort, das ihm sang und erstarrte. 15

Ihr, der Nacht, das sternüberflogne, das meerübergossne, ihr das erschwiegne, dem das Blut nicht gerann, als der Giftzahn die Silben durchstieß.

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Ihr das erschwiegene Wort.

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Wider die andern, die bald, die umhurt von den Schinderohren, auch Zeit und Zeiten erklimmen, zeugt es zuletzt, zuletzt, wenn nur Ketten erklingen, zeugt es von ihr, die dort liegt zwischen Gold und Vergessen, beiden verschwistert von je – Denn wo dämmerts denn, sag, als bei ihr, die im Stromgebiet ihrer Träne tauchenden Sonnen die Saat zeigt, aber und abermals?76

Der Titel des Gedichts, Argumentum e silentio, eine juristische Formel des römischen Rechts, die einen aus dem Stillschweigen gewonnenen Beweis bezeichnet,77 verknüpft bereits die beiden opponierenden Pole, Sprechen und Schweigen, zwischen denen sich die im Gedicht problematisierte Genese des poetischen Worts aufspannt. Wort-Genese meint hier weniger ein ursprüngliches Hervorbringen von Sprache als vielmehr einen Prozess der Läuterung derselben im Schweigen, durch den die von den Nationalsozialisten korrumpierten Worte der deutschen Sprache neu gewonnen werden. Situiert ist diese vom Schreibenden zu leistende Spracharbeit in der „Nacht“, deren spezifische Vorzeichen von der Ambivalenz des Unterfangens zeugen: An die Kette gelegt zwischen Gold und Vergessen: die Nacht. Beide griffen nach ihr. Beide ließ sie gewähren. 76 77

Celan: KG, S. 86 f. Celan: KG, S. 641.

[V. 1–5]

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Als Teil einer Trias von Personifikationen wird die Nacht inszeniert, gefangen gehalten zwischen den opponierenden Polen „Gold und Vergessen“78, die zusammen eines jener antithetischen Begriffspaare in Celans Werk bilden, in denen Konkretes mit Abstraktem verknüpft wird.79 Der die Nacht bedrohenden Tendenz zum „Vergessen“ und Verdrängen steht mit dem „Gold“ – Inbegriff von Glück und Reichtum, aber auch von trügerischem Schein – ein fragwürdig gewordener Wohlklang gegenüber, der die Wahrheit übertüncht und „›vergoldet‹“.80 Mit „Gold und Vergessen“, so heißt es in einem späteren Vers, sei die Nacht von jeher „verschwistert“ (V. 28), von beiden hat sie sich in der Vergangenheit in Dienst nehmen lassen, sei es als Instrument zur Beschönigung oder zur Verdrängung von begangenem Unrecht. Um die „Nacht“ wieder als solche zu würdigen, soll das in der zweiten Strophe angesprochene Du das ›heraufdämmernde‹ poetische Wort darbringen, gleich einer Gabe im Gedenken an die unschuldigen Opfer:81 Lege, lege auch du jetzt dorthin, was heraufdämmern will neben den Tagen: das sternüberflogene Wort, das meerübergossne.

[V. 6–10]

Einerseits wird das poetische Wort hier als ein zukünftiges gezeigt, andererseits führt es, als ein von Sternen ›überflogenes‹ 82 und von Meeren ›übergossenes‹,83 eine große Erfahrungslast mit sich. Ein Blick voraus in die dritte, vierte und sechste Strophe, in denen von einer hinterrücks angreifenden „Meute“ (V. 13), vom „Giftzahn“84 (V. 15) und von „Schin78 79 80 81 82 83

84

Vgl. Kaiser (1991), S. 724. Vgl. den Titel des Gedichtbandes Mohn und Gedächtnis (1952) sowie den Gedichttitel Bei Wein und Verlorenheit aus dem Band Die Niemandsrose (1963). Bevilaqua (2004), S. 44. Vgl. Febel (1992), S. 196. Vgl. das Motiv der „Übersternten“ in Celans Gedicht Leuchten aus Von Schwelle zu Schwelle (Celan: KG, S. 64). Vgl. Celans Gedicht Spät und tief (1948), in dem es heißt: „Es komme die Schuld über uns aller warnenden Zeichen, / es komme das gurgelnde Meer, / der geharnischte Windstoß der Umkehr, / der mitternächtige Tag, / es komme, was niemals noch war!“ In: Celan: KG, S. 38. Vgl. auch eine Notiz zur Büchnerpreis-Rede Der Meridian, wo es heißt: „Das Gedicht ist eine Umkehr“. In: TCA/Meridian, S. 131. Den Begriff „Giftzahn“ verwendet Celan explizit im Zusammenhang mit der Goll-Affäre in einem nicht abgesandten Brief an Karl Krolow vom 3. Februar 1961, wo er auf eine Kritik von Karl August Horst an seiner Übersetzung von Paul Valérys Gedicht Die junge Parze eingeht: „Wie schrieb doch K. A. Horst, als er meine Parze am Boden zerstörte und dann, nach altbewährtem Brauch, den Giftzahn mit einem ›Kompliment‹ vergoldete? ›Gewisse Partien sind verblüffend gelungen‹“ (Hervorhebungen Paul Celan). Zitiert nach Wie-

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

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derohren“ (V. 22) die Rede ist, legt die Annahme nahe, dass die ›Sterne‹ und ›Meere‹ weniger als Symbole einer göttlichen Transzendenz zu verstehen sind, sondern vielmehr eine Bedrohung menschlichen Ursprungs darstellen. Relevant ist hier der Bezug auf die Shoah als einschneidendes Ereignis der jüngsten Geschichte, das sich in Form antisemitischer Tendenzen im Nachkriegsdeutschland fortgesetzt hat, unter denen Celan im Zusammenhang mit der Goll-Affäre zu leiden hatte. Auch in Celans wenige Jahre später entstandener Rede anlässlich der Entgegennahme des Bremer Literaturpreises wird das Sternenflug-Motiv explizit mit menschlichem Handeln assoziiert: Es sind die Bemühungen dessen, der, überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind, der, zeltlos in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend.85 [Hervorhebung A. S.]

Hier ist es nicht das Wort, das den Sternen schutzlos gegenübersteht, sondern der Schreibende selbst, der für seine traumatischen Erfahrungen der Verfolgung einen sprachlichen Ausdruck sucht.86 Dieses zukünftige Wort wird in Celans Gedicht Argumentum e silentio den Menschen und insbesondere den Opfern nationalsozialistischer Verbrechen gewidmet, wenn es heißt: „Jedem das Wort.“ (V. 11/12/14) Die Wendung liest sich als Gegen-Formel zu der zynischen, das antike Gerechtigkeitsideal „suum cuique tribuere“87 pervertierenden Inschrift „Jedem das Seine“, die auf dem schmiedeeisernen Tor des Konzentrationslagers Buchenwald angebracht ist.88 Neben diesem eindeutig historischen Bezug lässt sich in der

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demann (2000), S. 517 f. Der Begriff „vergolden“ verweist wiederum auf das verlogene Beschönigen, das in Argumentum e silentio mit dem Gold-Motiv verknüpft ist. Celan: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen. In: Ders.: Gedichte 3, Prosa, Reden (= Gesammelte Werke in sieben Bänden, Bd. 3). Hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rudolf Bücher. Frankfurt am Main 2000, S. 185–186, hier S. 186. Auch in Celans Brief an Nelly Sachs von Mitte Januar 1958 wird das Sternenflug-Motiv verwendet: „Falsche Sterne überfliegen uns – gewiß; aber das Staubkorn, durchschmerzt von Ihrer Stimme, beschreibt die unendliche Bahn.“ In: PC/NS, S. 15. Celans Eltern wurden im Juni 1942 in ein Lager nach Transnistrien deportiert und dort wenige Monate später ermordet. Celan selbst wurde im Juli 1942 einem Arbeitsbataillon in dem Dorf Tabăreşti zugeteilt, wo er bis Februar 1944 Zwangsarbeit leisten musste. Vgl. die Celan-Biographie von Felstiner (2000, S. 38–41) sowie den Band Paul Antschel/Paul Celan in Czernowitz. Marbacher Magazin Nr. 90 (2000). Bearbeitet von Axel Gellhaus. Übertragung ins Ukrainische von Peter Rychlo. Deutsch/Ukrainisch. Marbach am Neckar 2001, S. 13. In seiner ethisch-philosophischen Abhandlung De officiis sieht Cicero das Ideal des SittlichGuten (lat. honestum) unter anderem auch „im Beschützen der Gemeinschaft der Menschen, darin, einem jeden das Seine zuzuteilen“. In: Marcus Tullius Cicero: De officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, kommentiert und hrsg. von Heinz Gunermann. Stuttgart 2003, S. 17. Vgl. Felstiner (2000), S. 117.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Strophe auch ein Hinweis auf das zerstörerische ›Menschenwerk‹ erkennen, das die Verleumdungen von Yvan Golls Witwe für Celan und sein lyrisches Œuvre bedeuteten. Somit koinzidieren im Überfall durch die „Meute“ zwei Ereignisse, die dem poetischen Sprechen in seiner ungebrochenen Form als ›Gesang‹ ein abruptes Ende setzen: Jedem das Wort. Jedem das Wort, das ihm sang, als die Meute ihn hinterrücks anfiel – Jedem das Wort, das ihm sang und erstarrte.

[V. 11–14]

Das brutale Abbrechen des Gesangs wird durch den Gedankenstrich am Ende von Vers 13 auch visuell vergegenwärtigt: in der folgenden Strophe fehlt dementsprechend das „Wort“, das nicht nur den Menschen, sondern auch der Nacht gewidmet wird. Ihre Präsenz legitimiert den Versuch einer Wiedergewinnung der poetischen Sprache: Ihr, der Nacht, das sternüberflogne, das meerübergossne, ihr das erschwiegene, dem das Blut nicht gerann, als der Giftzahn die Silben durchstieß. Ihr das erschwiegene Wort.

[V. 15–20]

Die poetische Sprache, so lässt sich deuten, wurde von den ideologischen Parolen der Nationalsozialisten korrumpiert, ein „Giftzahn“ hat die „Silben“ des Wortes durchbohrt und so den Lyriker zum Schweigen gebracht. Aus dem Zustand der Verwundung der Sprache heraus soll das poetische Wort neu geformt werden, dies formuliert die zitierte Strophe und vollzieht es gleichzeitig: Das zu „erschweigende“ Wort,89 in der vierten Strophe noch elliptisch ausgespart und einzig durch die ihm zugeordneten Attribute in drei semantischen Leerstellen sichtbar (V. 16–17), tritt schließlich in einem von Schweigen umgebenen Einzelvers (V. 20)90 hervor: Der Vorgang des „Erschweigens“ eines Wortes, der sich als Akt der Läuterung der vergifteten deutschen Sprache begreift, wird hier auch sprachgestisch umgesetzt. Der in Argumentum e silentio inszenierte Prozess

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Der Lesart von Petuchowski (1978), die von einem ›verschwiegenen‹ Wort ausgeht („completely silenced“, S. 131), liegt wohl eine Verwechslung der Präfixe „Er-“ und „Ver-“ zugrunde. Ein ähnliches Missverständnis findet sich bei Stelzmann (1975), der das „erschwiegene Wort“ als ein „unspoken word“ (S. 18) bezeichnet. Vgl. Kaiser (1991), S. 727.

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

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des Erschweigens91 konturiert Celans Sprachverständnis, das er vier Jahre später in der Bremer Rede (1958) erstmals auch auf diskursiver Ebene reflektieren wird, wenn er von einem geschichtlich bedingten, krisenhaften Transformationsprozess der Sprache spricht: Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ›angereichert‹ von all dem.92

Dem Prozess des „Erschweigens“ in Argumentum e silentio entspricht das ›Anreichern‹ der Sprache in der Bremer Rede; beide Vorgänge folgen demselben poetologischen Impetus, wie an den Details der Motivgestaltung deutlich wird: Während das Verstummen der Sprache mit den Motiven von Dunkelheit und Nacht korrespondiert, wird der Wiedergewinn des poetischen Worts durch Verben wie „heraufdämmern“ (Argumentum e silentio) bzw. „zutage treten“ (Bremer Rede) mit der Morgendämmerung als Schwelle zwischen Nacht und Tag assoziiert. Das von geschichtlichen Ereignissen geprägte, dem Schweigen abgetrotzte und daher der Wahrheit verpflichtete Wort leistet in Argumentum e silentio Widerstand gegen die „andern“ korrumpierten Wörter, die auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur immer wieder um sich greifen: Wider die andern, die bald, die umhurt von den Schinderohren, auch Zeit und Zeiten erklimmen, zeugt es zuletzt, zuletzt, wenn nur Ketten erklingen, zeugt es von ihr, die dort liegt zwischen Gold und Vergessen, beiden verschwistert von je –

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[V. 21–28]

Vgl. Celans Gedicht Wohin mir das Wort (KG, S. 155) aus dem Band Die Niemandsrose, in dem von einem ›aufrechten Schweigen‹ die Rede ist. Auch in seiner Ansprache vor dem Hebräischen Schriftstellerverband in Tel Aviv am 14. Oktober 1969 betont Celan die Freude „über jedes neuerworbene, selbsterfühlte erfüllte Wort, das herbeieilt, den ihm Zugewandten zu stärken – ich begreife das in diesen Zeiten der allenthalben wachsenden Selbstentfremdung und Vermassung“. In: Celan: Ansprache vor dem Hebräischen Schriftstellerverband. In: Ders.: Gedichte 3, Prosa, Reden (= Gesammelte Werke in sieben Bänden, Bd. 3). Hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rudolf Bücher. Frankfurt am Main 2000, S. 203. Celan: Bremer Rede, S. 185 f.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Die Goll’schen Plagiatsvorwürfe gegen Paul Celan werden in der von antisemitischen Tendenzen geprägten Öffentlichkeit im Deutschland der fünfziger Jahre weitergetragen und verstärkt: sie werden ›umhurt‹ von den „Schinderohren“.93 Diesen Verleumdungen leistet das „erschwiegene“ Wort Widerstand und wird, indem es von diesem Unrecht zeugt, zu einem Gegen-Wort. Es hebt auch den verhängnisvollen Verweisungszusammenhang zwischen „Nacht“, „Gold“ und „Vergessen“ ins Bewusstsein: „wenn nur Ketten erklingen“ (V. 25). Dieser ›Klang der Ketten‹ zielt hier nicht nur auf das Motiv der in Ketten liegenden Nacht, sondern verweist auch auf die Stabreimkette der sechsten Gedichtstrophe: Mit dem Konsonanten /z/ rückt der Anfangsbuchstabe des Wortes „Zeugen“ in den Mittelpunkt des sprachlichen Geschehens, das hier sowohl im Sinne von „ein Zeugnis ablegen“ als auch im Sinne von „etwas (er)zeugen“ zu verstehen ist; beide Bedeutungsnuancen sind eng miteinander verknüpft:94 Indem das Gedicht Zeugnis ablegt von erlittenem Unrecht, erzeugt es gleichzeitig ein poetisches Gegen-Wort, das sich ästhetisierenden Tendenzen („Gold“) und Verdrängungsmechanismen („Vergessen“) widersetzt. Die aus z-Alliterationen bestehende Klang-Kette hat nichts mit gefälligem ›Wohllaut‹ zu tun, sondern insistiert auch klanglich auf dem stets neu zu erbringenden Zeugnis gegen die verdorbenen Worte: „Wider die andern, die bald, / die umhurt von den Schinderohren, / auch Zeit und Zeiten erklimmen, / zeugt es zuletzt, / zuletzt, wenn nur Ketten erklingen, / zeugt es von ihr, die dort liegt / zwischen Gold und Vergessen“ (V. 21–27; Hervorhebung A. S.). Im Motiv des widerständigen, aus dem Schweigen erzeugten Wortes artikuliert sich auch eine Hommage Celans an den Widmungsträger

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In einem Brief an Alfred Andersch vom 27. Juli 1956 schreibt Celan über die verunglimpfenden Beiträge vonseiten des Literaturkritikers Curt Hohoff, einem der Empfänger von Claire Golls ›Rundbrief‹: „Ich weiß nicht, wer alles dieses Rundschreiben [von Claire Goll, A. S.] erhielt und wie darauf reagiert wurde. Mir ist nur ein ›Kritiker‹ bekannt, bei dem diese Infamie auf fruchtbaren Boden fiel: Curt Hohoff.“ Zitiert nach Wiedemann (2000, S. 231). Stellvertretend für verschiedene abfällige Bemerkungen Curt Hohoffs über Celans Lyrik sei ein Kommentar aus der Erstfassung seines Aufsatzes zur jüngeren deutschsprachigen Lyrik mit dem Titel Flötentöne hinter dem Nichts zitiert. Dort heißt es: „Bei Celan, dem späten Schüler Iwan Golls, sieht man schwer durch die hochliterarisch ehrgeizige Gebärde.“ Hohoff (1954a), S. 73. Als antisemitisch empfand Celan einen Passus aus der erweiterten Fassung des Beitrags, die in Hohoffs Band Geist und Ursprung eingegangen ist. Dort heißt es: „Metaphorisch ist alles überladen, unverständlich, grammatisch spannungslos. Wenn die Sprache eine innere Wahrheit spiegelt, verdient der Dichter Celan Mitleid. Aber es ist ein Korn Berechnung auf Wirkung darin, das mißtrauisch macht. Aus dem Dickicht der Unlogik schießt plötzlich ein Blitz, der heller als gewöhnliches Licht ist. Die Philologie zersplittert an solchen Gedichten wie an jenen Stellen der Mischna, wo die Wissenschaft resigniert.“ In: Hohoff (1954b), S. 242. [Die Aufzeichnungen der Mischna bilden, neben denen der Gemara, die Grundlage für den Talmud.] Vgl. dazu Lefebvre (2007), S. 65.

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

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René Char,95 der als Lyriker und Résistance-Kämpfer einen Wort und Tat vereinenden Widerstand gegen die nationalsozialistische Okkupation angestrebt hatte, ohne seine Texte für politische Ziele zu instrumentalisieren.96 In Chars konsequentem Verzicht auf literarische Publikationen während des Zweiten Weltkriegs lässt sich auch ein ›Argumentum e silentio‹ erkennen: eine stumme Anklage angesichts der Besetzung seines Landes durch die Nationalsozialisten und des Todes seiner Kameraden im Kampf. 97 Celans Evokation des von der „Nacht“ zeugenden Gegen-Wortes schließt im Modus einer sich über fünf Verse erstreckenden rhetorischen Frage und stellt dabei noch einmal die Fragilität eines Sprechens aus, das sich zwischen Schweigen, Stocken und Singen zu behaupten sucht: Denn wo dämmerts denn, sag, als bei ihr, die im Stromgebiet ihrer Träne tauchenden Sonnen die Saat zeigt, aber und abermals?

[V. 29–33]

In den ersten beiden Versen der Schluss-Strophe wird die Suggestionskraft der auf den Ursprung des poetischen Wortes zielenden Frage durch den doppelten Einsatz des – einmal als Konjunktion, einmal als Fragepartikel fungierenden – Wortes „denn“ verstärkt. Während das konjunktionale „denn“ an die vorausgehende Strophe anknüpft, bereitet die Partikel „denn“ die vom Sprecher-Ich geäußerte Aufforderung an ein Du vor, das Gesagte zu bestätigen („sag“) und zu legitimieren. Das Stakkatohafte der beiden sich durch Einschübe immer wieder selbst unterbrechenden Anfangsverse wird durch die sperrige d-Alliteration („Denn wo dämmerts denn“) noch verstärkt. Die denkbar größte stilistische Diskrepanz besteht zwischen diesem stockenden Duktus und dem schwelgerischen Bilderreichtum des folgenden, auf zwei Verse verteilten Relativsatzes (V. 31–32), der in der „Nacht“, ein ›Zeit-Raum‹ der Trauer und des Leids, den utopischen Ausgangspunkt des Gegen-Worts erkennt: die Nacht, „die im 95 96 97

Vgl. Kaiser (1991), S. 728. Vgl. als Gegenbeispiel den Résistance-Lyriker Louis Aragon, der seine Gedichte, teils anonym oder unter Pseudonym, während des Zweiten Weltkriegs in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht hat. Vgl. Kap. 2.1.3. Char fasste 1941 den Entschluss, während der Besetzung Frankreichs durch die nationalsozialistischen Truppen weiterhin literarisch tätig zu sein, jedoch ohne seine Texte zu publizieren. Vgl. Greilsamer (2004), S. 538. Seit 1942 war er unter dem Decknamen „Alexandre“ im französischen Widerstand in der Provence aktiv und organisierte dort von 1943 an den Einsatz der Fallschirmspringer der „section atterrissage-parachutage de la Région 2 (Drôme, Vaucluse, Basses-Alpes, Hautes-Alpes, Bouches-du-Rhône campagne, Var et Alpes-Maritimes)“. Vgl. Greilsamer (2004), S. 538.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Stromgebiet ihrer Träne / tauchenden Sonnen die Saat zeigt“ (V. 31–32). Innerhalb von vier Versen wird das gesamte Spektrum poetischer Sprache vorgeführt, von einer löchrigen, abgehackten Syntax bis hin zur kühnen Genitivmetapher und zur suggestiven s-Alliteration.98 Zwischen diesen beiden Extrempolen soll das Gegen-Wort aus dem Schweigen gewonnen werden, „aber und abermals“, wie es in dem zwischen Einspruch und Bestätigung changierenden Schlussvers heißt. In dieser ambivalenten Formel kondensiert sich die Problematik des Ringens um eine der Wahrheit verpflichtete poetische Sprache: Zum einen assoziiert die adversative Konjunktion „aber“ das Potential zu Widerstand und Einspruch, das dem Gedicht als ›Argumentum e silentio‹ eigen ist, zum anderen verweist das Adverb „abermals“ auf die Tatsache, dass der aus dem Schweigen gewonnene ›Beweis‹ der poetischen Integrität kein endgültiger, sondern ein immer wieder neu zu erbringender ist. Dieser paradoxe, von Widerständigkeit und Fragilität gekennzeichnete Charakter des poetischen Worts erschließt sich jedoch nur durch eine die Doppelbödigkeit des Verses berücksichtigende Lesart, die jedem Wort sein Gewicht beimisst, aber auch die semantischen Verschiebungen in der ›Verkettung‹ der Einzelelemente wahrnimmt. In diesem Sinne enthält die Schlussformel „aber und abermals“ auch einen versteckten Hinweis auf die Mehrdimensionalität von Celans lyrischer Sprache und führt damit die gegen ihn gerichteten Vorwürfe des geistigen Diebstahls ad absurdum. Schließt der Vers mit einem Fragezeichen und entzieht damit dem ›Argumentum e silentio‹ im letzten Moment seine ungebrochene Beweiskraft, so markiert die Interpunktion das Gedicht, das von geschichtlichen Ereignissen Zeugnis ablegt, um die Erinnerung an die Opfer von Verbrechen und Verleumdung wachzuhalten, als ein bedrohtes, ungesichertes. Indem Celans Widmungsgedicht die Genese des ebenso gefährdeten wie widerständigen poetischen Wortes inszeniert, gibt es Auskunft über sein poetologisches Selbstverständnis, und zwar nicht nur gegenüber der literarischen Öffentlichkeit, sondern auch gegenüber dem Widmungsträger René Char.99 Schweigen-Müssen und Sprechen-Können bedingen sich gegenseitig in einem Text, der die juristische Formel des ›Argumentum e silentio‹ nicht nur im Titel führt, sondern selbst, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht, als eine solche sich im Schweigen konstituierende Aussa98 99

Kaiser (1991, S. 729) spricht hier von einem Wort zwischen „Perforation“ und „Gesang“. Vgl. Celans Notiz aus dem Umfeld des Meridian: „Es gibt [...] ein dem Gedicht und nur ihm eigenes Sprach-Tabu, das nicht allein für seinen Wortschatz gilt, sondern auch für Kategorien wie Syntax, Rhythmus oder Lautung; vom Nichtgesagten her wird einiges verständlich; das Gedicht kennt das argumentum e silentio. Es gibt also eine Ellipse, die man nicht als Tropus oder gar stilistisches Raffinement mißverstehen darf.“ In: TCA/Meridian, S. 86 f.

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

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ge fungiert, die sich im letzten Moment noch einmal selbst in Frage stellt:100 Setzen Celans Verse den Prozess des „Erschweigens“ als Kontrapunkt zum geistigen Diebstahl ins Bild, so dienen sie als virtuelle Verteidigungsschrift gegen die von Claire Goll geäußerten Plagiatsvorwürfe und liefern einen aus dem Schweigen gewonnenen Beweis der schriftstellerischen Integrität Celans.101 Über die Goll-Affäre hinaus bildet das Motiv der prekären Wort-Genese auch einen Gegenentwurf zur Poetik René Chars.102 Celan problematisiert die unbeeinträchtigte Verfügbarkeit der poetischen Sprache bei Char in einem Brief an Christoph Schwerin kurz nach seinem ersten Treffen mit dem französischen Lyriker im Juli 1954: Mein Umgang mit den Worten wird immer schwerfälliger, unbeholfener – hie und da, in weiten Abständen, ein Gedicht: das ist alles, was ich ›hervorbringe‹. Und mit dieser meiner Unbeholfenheit ging ich auch zu René Char – wie muß ich ihn enttäuscht haben! Er ist ganz, wie Sie ihn mir geschildert haben, so völlig im Mittelpunkt, im Herzen seiner Sprache, die sich ihm nie zu verweigern scheint. Seltsam, wie diese Sprache noch da, wo sie das Gegenständlichste, Konkreteste zitiert, es mit der Aura des Universalen zu umgeben weiß! Von welcher Sprachebene immer es auch kommen mag, das einzelne Wort ist hier beziehungsreicher als im Deutschen. Wird es ins Gedicht ›gehoben‹, so hebt es irgendwie seine ganze Umwelt mit.103

Bewunderung und kritische Distanznahme angesichts von Chars unbelastetem Verhältnis zur poetischen Sprache koinzidieren in Celans Äußerung.104 Im Folgenden grenzt Celan deshalb sein eigenes Schreiben, das er als konfliktträchtigen Prozess erlebt, von Chars Praxis ab und erkennt in der Reflexion auf die eigene Fragilität ein konstitutives Moment des Gedichts. Auch hier verwendet Celan das Sternen-Motiv, um die Prämissen seiner Schreibpraxis zu erläutern: 100 Zum einen zeugt das „erschwiegene“ Wort für die Opfer der Shoah, deren Erinnerung es wachhält, zum anderen lotet es die Möglichkeiten lyrischen Sprechens nach Auschwitz aus. 101 Aus dem Jahr 1954 sind sieben Briefe bzw. Postkarten von Char an Celan erhalten. Da Celans Briefe an Char bislang nicht zugänglich sind, lässt sich nicht sagen, ob und in welchem Maße Celan sich in dieser Zeit gegenüber Char zu den Plagiatsvorwürfen Claire Golls geäußert hat. In einem undatierten, nicht abgesandten Brief an Char heißt es: „[O]n m’accuse, après avoir fabriqué, à cette fin, toute une ›œuvre‹ posthume, de plagiat. Pour bien étayer l’argumentation, on la garnit des calomnies les plus infâmes.“ In: DLA: Celan: D 90.1.734. Der zitierte Brief wurde von fremder Hand unter Vorbehalt auf den 6. Februar 1968 datiert, diese Angabe ist mit einem Fragezeichen versehen. Mit Blick auf den Inhalt des Briefes lässt sich jedoch annehmen, dass der Brief eher Anfang der sechziger Jahre verfasst worden ist. 102 Vgl. dazu Lefebvre (2007), S. 63. 103 Schwerin: Als sei nichts gewesen, S. 199. 104 Auch Voellmy (2002, S. 348) konstatiert eine Diskrepanz zwischen Chars und Celans Poetik, wenn er sagt: „Char est un homme entier, Celan est déchiré.“

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Mir geht es oft so, daß ich lange warten muß, ehe sich zu meinem ›ersten‹ Wort die übrigen gesellen: meine Konstellationen kommen erst mit Hilfe eigenwilliger Kometen zustande. Und doch: Gerade aus dem Bewußtsein seiner Fragwürdigkeit lebt das Gedicht ...105

Das poetische Wort ist, Celan zufolge, von bestimmten Sternen„Konstellationen“ abhängig, und zwar sowohl im positiven als auch im negativen Sinn: Einerseits ist es ein ›von Sternen überflogenes‹, das geschichtlichen Ereignissen ausgesetzt ist und von ihnen angereichert wird; andererseits bleibt es angewiesen auf die „Hilfe eigenwilliger Kometen“. Die Ambivalenz dieser Prämisse verweist auf den Ausgangspunkt von Celans lyrischem Schaffen, der darin besteht, dass er Gedichte in seiner deutschen Muttersprache schreibt, die gleichzeitig die Sprache der Mörder seiner Eltern ist. In einem Brief an Max Rychner vom 3. November 1946 fasst Celan die Grundbedingung seines Schreibens mit den Worten zusammen: „mein Schicksal ist dieses: Deutsche Gedichte schreiben zu müssen.“106 Im Rückgriff auf seine poetologischen Äußerungen lässt sich Celans Gedicht Argumentum e silentio als Dokument seiner ambivalenten fraternité poétique zu René Char begreifen, das eine ›Doppelbotschaft‹ 107 an den ehemaligen Résistant darstellt: Auf der einen Seite ehrt Celan den Widerstandsgeist des Résistance-Schriftstellers, auf der anderen Seite richtet sich die radikale Sprachskepsis gegen die Prämissen von Chars Schreibpraxis.108 Dass Celan aus der in Argumentum e silentio vollzogenen Sprachkritik Konsequenzen für sein eigenes Schreiben gezogen hat, ließ sich anhand des Gedichtes exemplarisch aufzeigen. Einige Jahre später formuliert Celan die konkreten Forderungen, die sich aus seinem Verständnis des poetischen Wortes als eines „erschwiegenen“ ergeben, auch in der Bremer Rede, wenn er auf die besondere Verantwortung der deutschen Lyrik eingeht, die sich angesichts der geschichtlichen Ereignisse der Shoah weniger am Publikumsgeschmack als an der ›Wahrheit‹ zu orientieren habe: Die deutsche Lyrik geht, glaube ich, andere Wege als die französische. Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die man105 Schwerin: Als sei nichts gewesen, S. 199. 106 Zitiert nach: Buck (2005), S. 11. 107 Im Zusammenhang der Goll-Affäre heißt es bei Wiedemann (2000, S. 839): „Celan machte es seinen Freunden nicht leicht, seine Botschaften sind häufig Doppelbotschaften.“ 108 Böschenstein (1982, S. 313): „Der Ton des Aufrufs, die deutliche Anspielung auf die Mörder, die Hoffnung auf ein künftiges, aus der elementaren Erneuerung des Kosmos aufsteigendes nächtliches Wort, das als neue Saat heraufdämmern wird, das sind Haltungen und Vorstellungen, die an Char erinnern – das ›Stromgebiet ihrer Träne‹ aber als Stätte künftiger Sprache und die Formel ›das erschwiegene Wort‹ scheiden sich ebenso deutlich von Chars Tagesglut und seinem heroischen Ton.“

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

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ches geneigte Ohr noch immer von ihr zu erwarten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie mißtraut dem ›Schönen‹, sie versucht, wahr zu sein. Es ist also, wenn ich [...] im Bereich des Visuellen nach einem Wort suchen darf, eine ›grauere‹ Sprache, eine Sprache, die unter anderem auch ihre ›Musikalität‹ an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem ›Wohlklang‹ gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte.109

Die Reflexion auf eine „›grauere‹ Sprache“110, auf eine ›erschwiegene‹ und von geschichtlichen Ereignissen ›angereicherte‹, die nach Auschwitz noch als legitim angesehen wird, beschränkt sich bei Celan nicht auf seine Gedichte, sondern manifestiert sich ebenfalls in den Übersetzungen, die er aus dem Werk von René Char angefertigt hat, wie im folgenden Kapitel anhand ausgewählter Übersetzungsbeispiele und -vergleiche dargestellt werden soll. 3.2.2 Übersetzen in eine „›grauere‹ Sprache“ Celans Übersetzungspraxis steht in einem engen Wechselverhältnis zu seiner Poetik und zu seinem eigenen lyrischen Werk. Dementsprechend wird sein Bemühen um eine ›grauere‹, sich dem ästhetischen Wohlklang widersetzende Sprache auch in seinen Fassungen fremdsprachiger Texte erkennbar. Die Absage an einen allzu harmonischen sprachlichen Ausdruck bestimmt zum Beispiel Celans Umgang mit der Aufzeichnung XXII aus René Chars Band À la santé du serpent (1955). Im Original heißt es: Néglige ceux aux yeux de qui l’homme passe pour n’être qu’une étape de la couleur sur le dos tourmenté de la terre. Qu’ils dévident leur longue remontrance. L’encre du tisonnier et la rougeur du nuage ne font qu’un.111

109 Celan: Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1958). In: Ders.: Gedichte 3, Prosa, Reden (= Gesammelte Werke in sieben Bänden, Bd. 3). Hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rudolf Bücher. Frankfurt am Main 2000, S. 167– 168, hier S. 167. Vgl. Ausdrücke wie „der verkieselte Spruch“, „der Weißkiesstotterer“, „Knochenhebräisch“ und Wendungen wie „der Kehlkopfverschlußlaut / singt“ (Celan: KG, S. 201; 324; 194; 221). In Celans Gedicht Seelenblind figuriert der Dichter als der „Entreimte“ (Celan: KG, S. 247), dem keine Reime mehr zur Verfügung stehen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch der „kräftige, ja harte alliterative Klang“ (Speier 1987, S. 74) der letzten Verse des Gedichts Schneepart, in denen es heißt: „die Wortschatten / heraushaun, sie klaftern / rings um den Krampen / im Kolk“ (Celan: KG, S. 320). 110 Celan: Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker (1958), S. 167. Der Begriff einer „›graueren‹ Sprache“ korrespondiert im Gedicht Argumentum e silentio mit dem Motiv des ›Heraufdämmerns‹, das wiederum auf den Schwellenzustand zwischen Tag und Nacht verweist. 111 Char: Œuvres complètes, S. 266.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Celans Übersetzung lautet: Laß außer acht, die im Menschen nur dieses erblicken: eine der Stufen der Farbe auf dem gefolterten Rücken der Erde. Laß sie’s nur herunterhaspeln, ihr Besserwisser-Garn. Schimmer des Feuerhakens und Röte der Wolke sind eins.112

Im Original dominieren die Vokale /o/ und /u/ sowie die Vokalkombinationen /eu/, /au/ und /ou/: ceux, aux, yeux, couleur, dos, tourmenté, longue remontrance, rougeur, nuage. In der deutschen Fassung vollzieht Celan hingegen eine Wendung ins Konsonantische, indem er bevorzugt scharfe s-Laute verwendet. Dazu überführt er die ersten beiden Sätze in eine anaphorische Struktur: „Laß außer acht“ heißt es dort, bzw. „laß sie’s nur“.113 Besonders auffällig ist auch die klangliche Gestaltung des zweiten Satzes („Laß sie’s nur herunterhaspeln, ihr Besserwisser-Garn“), bei der Celan nicht nur das Spinnerei-Motiv („dévider“) durch das Verb „herunterhaspeln“ verstärkt, sondern gleichzeitig dessen Bildlichkeit erweitert, da das deutsche Verb „haspeln“ nicht nur den technischen Vorgang des Abspulens bezeichnet, sondern in der Umgangssprache auch für ein hastiges, holpriges Sprechen steht („sich verhaspeln“). Um das Spinnerei-Motiv fortzuführen, prägt Celan für die französische Wendung „longue remontrance“ (dt. „ausführliche Ermahnung“) das Kompositum „Besserwisser-Garn“114 und setzt damit die Vorstellung einer in die Länge gezogenen, mahnenden Ansprache morphosemantisch um. Durch die Integration des Idioms „Besserwisser“ bekommt Celans Lösung, im Gegensatz zum Original, einen eher umgangssprachlichen Charakter. Während Char den langen Sermon durch den Einsatz dunkler Vokale in Verbindung mit dem Buchstaben /n/ zum Klingen bringt – diese Buchstabenfolge provoziert eine verhältnismäßig langsame Aussprache –, nimmt die deutsche Übertragung eine klanglich-semantische Verkettung der Worte vor: „Laß sie’s nur herunterhaspeln, ihr BesserwisserGarn.“ Die fallende Bewegung des Herunterhaspelns wird durch den Einsatz von Trochäen unterstützt: „[Laß sie’s nur] herúnterháspeln, ihr Bésserwísser-Gárn.“ Celans „grauere Sprache“115 übt offensichtlich keinen generellen Verzicht auf phonetische Gestaltungsmittel, sondern setzt ganz bewusst Klangeffekte zur Intensivierung der Semantik ein. Dabei strebt

112 Celan: GW 4, S. 433. 113 Gleichzeitig gestaltet er in diesem Vers eine a-Assonanz: „Laß außer acht“ [Hervorhebung A. S.]. 114 Wiedemann (1996, S. 61) hebt die Wortbildung „Mietlingsdank“ („gratitude mercenaire“) in Celans Übersetzung Der Schlange zum Wohl hervor. 115 Celan: Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker (1958), S. 167.

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

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Celan weniger nach gefälligem Wohlklang als nach einer sperrigen ›Musik der Konsonanten‹, die den Leser herausfordert.116 Auch in seinen Übersetzungen von Chars Feuillets d’Hypnos werden die Konsonanten zum vorherrschenden Gestaltungsmaterial, wie beispielsweise in der Aufzeichnung 21.117 Im Original und in Celans Fassung lautet sie wie folgt: Char: „Amer avenir, amer avenir, bal parmi les rosiers ...“118 Celan: „Bittere Zukunft, bittere Zukunft, Reigen inmitten der Rosenstöcke ...“119

Die Akkumulation von Konsonanten geht in Celans Übersetzung mit einer metrischen Verschiebung einher, die den bedrohlichen Charakter der Zukunftsvision intensiviert. Abgesehen von dem Vokal /o/ im Wort „rosiers“ wird Chars Fragment von den Vokalen /a/, /e/ und /i/ geprägt. Besonders auffällig ist die Assonanz auf /a/ in den Worten „amer avenir“, „bal“ und „parmi“. Anstatt im Deutschen ebenfalls eine Assonanz zu bilden, verwendet Celan eine Alliteration auf /r/ in den Worten „Reigen“ und „Rosenstöcke“ und leistet auf diese Weise der „graueren“ Sprache Vorschub. Selbst für die Übersetzung des Wortes „parmi“ hat Celan offensichtlich ein Wort gesucht, das sich in die konsonantische Tendenz einfügt: das Wort „inmitten“ greift die Doppelkonsonanten /tt/ des Adjektivs „bitter“ auf. Die Alternative, das Wort „unter“, hätte sich dem metrischen Schema widersetzt, außerdem sind dessen Konsonanten im Vergleich weniger stark akzentuiert. Mit Hilfe der hier aufgezeigten sprachlichen Eingriffe wird der Klangreichtum von Chars Aufzeichnung systematisch ausgedünnt.120 In den Notizen zum Meridian formuliert Celan 116 Besonders deutlich konturiert sich Celans phonetische Gestaltung von Chars Aphorismus im Vergleich mit der Fassung von Johannes Hübner und Lothar Klünner. Diese lautet: „Halte dich nicht mit denen auf, die im Menschen nur ein Huschen der Farbe über den gepeinigten Rücken der Erde sehn. Daß sie ihn abspulen, ihren langen Verweis. Die Tinte des Schüreisens und die Röte der Wolken sind eins.“ In: René Char: Zorn und Geheimnis. Fureur et Mystère. Gedichte. Französisch/Deutsch. Übertragen von Johannes Hübner und Lothar Klünner. Nachwort von Horst Wernicke. Frankfurt am Main 1991, S. 123. Weinrich (1969, S. 769–772) betont die Bedeutung des Rhythmus für Übersetzungen aus dem Werk René Chars, wenn er sagt, Char habe „ein absolutes Gehör für die rhythmische Stimmigkeit eines Verses oder Satzes […]. Celan setzt in solchen Fällen den Text ganz neu zusammen und findet erstaunliche Kadenzen. Er übersetzt mit Autorität.“ 117 Auch Febel (1996) spricht in Bezug auf René Chars Feuillets d’Hypnos von der im Vergleich zu Celans Übersetzung „relativ ›farbigeren‹ [Sprache] des französischen Urtextes“ (S. 184), nennt dafür jedoch keine Beispiele. 118 Char: Œuvres complètes, S. 180. 119 Celan: GW 4, S. 449. 120 In seinem Brief an Ilana Shmueli vom 11. März 1970 benennt Celan die Nüchternheit als ein Attribut der von ihm bevorzugten Dichtung: „Gerne würde ich etwas von Jehuda Amichai übersetzen, er hat [...] etwas Trockenes, was mich anspricht.“ In: PC/IS, S. 121.

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nicht nur seine programmatische Forderung nach einer entfärbten Sprache, sondern setzt diese mit Hilfe einer h-Alliteration performativ um, wenn es heißt: „Gedichte, das ist, unter diesen heutigen Himmeln, herzgraue Sprache in der Zeit.“ [Hervorhebung A. S.]121 Neben den klanglichen Elementen intensivieren auch die metrischen Aspekte von Celans Fassung das in Chars Aphorismus angelegte Motiv der Zukunftsangst.122 Wechseln im ersten Teil des Aphorismus Daktylen und Trochäen („Bittere Zukunft, bittere Zukunft“), so folgen im zweiten Teil zwei Trochäen auf zwei Daktylen („Reigen inmitten der Rosenstöcke“). Die abfallende Bewegung des Metrums verlangsamt den Versfluss und bremst das Voranschreiten in die unheilvolle Zukunft, wobei das /t/ in dem Wort „Zukunft“ wie ein vorzeitiger Abbruch der Sprachbewegung wirkt. Celan setzt Chars ondulierendem Sprachgebilde ein zögerndes Sprechen entgegen, das die Fatalität des Gesagten weiter zuspitzt. Nicht allein das metrische Schema ist dabei von Bedeutung, sondern der individuell gestaltete Rhythmus, der das aus zwei Trochäen bestehende Wort „Rosenstöcke“ prägt, das Celan für den französischen Begriff „rosiers“ einsetzt. Auch die Bezeichnung „Rosensträucher“ wäre hier denkbar gewesen, auf den ersten Blick scheinen die beiden Wörter synonym zu sein. Als umso signifikanter erweist sich Celans Wortwahl: Neben seiner Grundbedeutung verbirgt das Wort „Rosenstöcke“ noch einen anderen, für Celans Denkhorizont zentralen Begriff: das Verb „stocken“.123 Bewirkt bereits das Metrum eine Verzögerung des evozierten Reigens, wird diese durch das angedeutete Motiv des Stockens, das gleichsam das Ende des Reigens anzukündigen scheint, noch verstärkt. Der in ein ungewisses Morgen führende Tanz erweist sich als höchst ambivalent: einerseits assoziiert der Reigen unter Rosensträuchern fröhliche Ausgelassenheit, andererseits ruft er das Motiv des Todesreigens auf, in dem die Sterbenden ins Totenreich geführt werden.

121 TCA/Meridian, S. 113. 122 Auch in der deutschen Fassung der Feuillets-Aufzeichnung 147 verstärkt Celan den Aspekt der Zukunftsangst. Im Original heißt es: „Serons-nous plus tard semblables à ces cratères où les volcans ne tiennent plus et où l’herbe jaunit sur sa tige?“ (Char: Œuvres complètes, S. 210) Celans Übersetzung lautet: „Später: ob wir da wie jene Krater sein werden, deren Vulkane nicht mehr kommen, deren Kräuter vom Stengel an gilben?“ (Celan: GW 4, S. 513) Durch das „mit einer Doppelpunktpause abgesetzte ›später‹ unterstreicht [Celan] das melancholisch-resignative Moment [des Originals]“ (Febel 1992, S. 189). 123 Eine besonders prominente Rolle spielt das Verb „stocken“ in Celans Gedicht Du liegst im großen Gelausche (1967), das über die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg spricht, deren Leichen in den Landwehrkanal geworfen wurden. In den Schlussversen werden der Gleichmut und die Ignoranz der Welt gegenüber diesem Verbrechen im Motiv des unablässig strömenden Wassers inszeniert, wenn es heißt: „Der Landwehrkanal wird nicht rauschen. / Nichts / stockt.“ (V. 13–14) In: Celan: KG, S. 315 f.

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Der zögernde Rhythmus, so lässt sich festhalten, fungiert bei Celan als bedeutungstragendes Element seiner Übersetzung. Auch in seinen Notizen zum Meridian betont Celan die Bedeutung der rhythmischen Gestaltung für seine Gedichte, die sich offensichtlich auch in seinen Übersetzungen niederschlägt. Er schreibt: „Rhythmus im Gedicht: das sind unwiederholbare, schicksalhafte Sinnbewegungen auf ein Unbekanntes zu [...]. Sie sind auch da, wo sie am stimmlosesten sind, sprachbedingt.“124 [Hervorhebung original] Anhand der vorausgegangenen Analysen lässt sich zeigen, wie unauflöslich metrische, rhythmische und lexikalische Aspekte in Celans Übersetzungspraxis miteinander verknüpft sind. Die unheilvolle Zukunft, die im Mittelpunkt von Chars Aufzeichnung steht, wird in Celans Fassung nicht allein auf semantischer, sondern auch auf klanglicher Ebene erfahrbar gemacht. Dabei weist er die ästhetisierenden Elemente des Originals zurück und intensiviert auf diese Weise die Korrespondenz zwischen dem Motiv der Zukunftsangst und dessen sprachlicher Gestaltung. Auch in Celans poetologischen Notizen figuriert dieses Motiv als konstitutives Moment seines Schreibens: Ich spreche nicht vom ›modernen‹ Gedicht, ich spreche vom Gedicht heute. Und zu den wesentlichen Aspekten dieses Heute – meines Heute, ich spreche ja in eigener Sache – gehört seine Zukunftslosigkeit: ich kann Ihnen nicht verschweigen, dass ich die Frage, auf welches Morgen das Gedicht sich hinbewegt, nicht zu beantworten weiß.125 [Hervorhebung A. S.]

In seiner Übersetzung von René Chars Feuillets d’Hypnos lässt Celan sein „Heute“ als Lyriker jüdischer Herkunft im Pariser Exil, der mittels einer „graueren“ Sprache von den Verbrechen der Shoah Zeugnis gibt, mit dem „Heute“ des Widerstandskämpfers im besetzten Frankreich koinzidieren. Die konsonantisch geprägten, „entfärbten“ Wortverbindungen, so lässt sich festhalten, bilden ein charakteristisches Element sowohl von Celans eigener Lyrik als auch von seinen Char-Übersetzungen. Schon bevor Celan in seiner Bremer Rede (1958) die Forderung nach einer „graueren“ Sprache explizit formuliert, wendet er sie in seinen Fassungen von Chars poetischen Aphorismen an. Präfiguriert wird der Einsatz der „graueren Sprache“, die sich, ›angereichert‹ von traumatischen geschichtlichen Erfahrungen, dem Wohlklang verweigert, auch im Motiv des „erschwiegenen Worts“ aus Celans Gedicht Argumentum e silentio. Sein Widmungsgedicht an René Char erweist sich demnach nicht nur als Schlüssel zum Verständnis seiner eigenen Poetik, sondern erhellt auch die Strategien, mit denen Celan seine Char-Übersetzungen als klangliche Gegen124 TCA/Meridian, S. 119. 125 TCA/Meridian, S. 85.

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entwürfe zum Original gestaltet und gleichzeitig deren inhärente Motivik verstärkt. 3.2.3 „Wörtlichkeit“ und „Anderssein“ Celans Übertragungen aus dem Werk zeitgenössischer Lyriker wie René Char und Henri Michaux sind von der Forschung immer wieder mit Begriffen wie „Wörtlichkeit“126 bzw. „wörtliche Nachschrift“127 in Verbindung gebracht und auf diese Weise von den „Gegenübersetzungen“,128 die Celan z. B. von Gedichten wie Arthur Rimbauds Bateau Ivre oder Paul Valérys La Jeune Parque vorgelegt hat, abgegrenzt worden. Anhand der Aufzeichnung 228 der Feuillets d’Hypnos soll aufgezeigt werden, dass sich Celan tatsächlich in bestimmten Fällen für Wort-für-Wort-Übersetzungen entschieden hat, wenn ihm dieses Vorgehen im gegebenen Kontext angemessen erschien. Im Folgenden wird Celans Fassung mit der Übersetzung des Tübinger Linguisten Fritz Paepcke kontrastiert: Char: „Pour qui œuvrent les martyrs? La grandeur réside dans le départ qui oblige. Les êtres exemplaires sont de vapeur et de vent.“129 Celan: „Für wen wirken die Märtyrer? Größe besteht in einem Aufbrechen, das verpflichtet. Die Beispielhaften sind aus Dunst und Wind.“130 Paepcke: „Für wen werken die Märtyrer? Größe liegt in zwingendem Abschied. Idealisten sind Schall und Rauch.“131

Die beiden Übersetzungen von Celan und Paepcke beruhen auf divergenten Interpretationsansätzen, die den in Chars Aufzeichnung geprägten Begriff des „Märtyrers“ unterschiedlich deuten: Celan erkennt in den „martyrs“ die französischen Widerstandskämpfer im Maquis, die sich gegen die nationalsozialistischen Besatzer auflehnen und dabei ihr Leben riskieren.132 Dementsprechend überträgt er das französische Verb „œuv126 Beese (1976, S. 9) zählt Celans Char- und Michaux-Übersetzungen zu denjenigen, „die auf große Wörtlichkeit abzielen“. Vgl. auch Olschner (1985), S. 303, und Harbusch (2005), S. 180. 127 Der Begriff „wörtliche Nachschrift“ wurde von Böschenstein in einem Gespräch mit Olschner geprägt. Siehe Olschner (1985), S. 57, Anm. 2. 128 Vgl. die gleichnamige Studie von Harbusch (2005). 129 Char: Œuvres complètes, S. 230. 130 Celan: GW 4, S. 557. 131 Paepcke (1986), S. 449. 132 Die Aufzeichnung 155 der Feuillets d’Hypnos evoziert die Résistants in ähnlicher Weise, wenn es, in Celans Übersetzung, heißt: „Ich liebe sie, diese Menschen, die das von ihren

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rer“ mit „wirken“ und betont dadurch das Engagement der Résistants.133 Celans nach Wörtlichkeit strebende Übersetzung der Wendung „vapeur et vent“ als „Dunst und Wind“ legitimiert sich im Gesamtkontext von Chars Aufzeichnungen aus dem Maquis, in denen Motive wie „Wind“, „Hauch“ oder „Dunst“ wiederholt verwendet werden, um die Fragilität des menschlichen Lebens und insbesondere die Ohnmacht der in deutsche Gefangenschaft geratenen Widerstandskämpfer zu illustrieren. Als Beispiel sei ein Satz aus der Notiz 138 zitiert, die die Hinrichtung von René Chars Kameraden B. beschreibt. Original und Übersetzung lauten: Il est tombé comme s’il ne distinguait pas ses bourreaux et si léger, il m’a semblé, que le moindre souffle du vent eût dû le soulever de la terre.134 Er fiel, als habe er seine Mörder gar nicht gesehen; und so leicht, schien mir, als hätte der leiseste Hauch ihn vom Boden hinwegheben können.135

Es ließe sich einwenden, dass die beiden miteinander verglichenen Aufzeichnungen 138 und 228 einen unterschiedlichen Bezug zwischen dem Wind und dem Toten herstellen: Einmal genügt ein leichter Windstoß, um den toten Körper emporzuheben, ein anderes Mal wird der Tote selbst mit „Dunst und Wind“136 identifiziert. Entscheidend ist hier jedoch nicht die exakte Kongruenz der Motivik, sondern der Verweisungszusammenhang zwischen der Vergänglichkeit des Menschen und der Flüchtigkeit eines Luftstroms, der beiden Aufzeichnungen eignet.137 Auch in Celans

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Herzen als Freiheit Imaginierte so glühend lieben, dass sie in den Tod gehen, um das bißchen Freiheit vor dem Sterben zu bewahren ...“ In: Celan: GW 4, S. 517. Vgl. den Einsatz des Verbs „wirken“ in der Übertragung der Aufzeichnung 3 der Feuillets d’Hypnos : „Das Wirkliche zum Wirken bringen, wie eine in saure Kindermünder getane Blume. Unaussprechliches Wissen um den desperaten Diamanten (das Leben).“ Celan: GW 4, S. 438 f. Char: Œuvres complètes, S. 208. Celan: GW 4, S. 509. Celan: GW 4, S. 557. Auch im biblischen Motiv des Lufthauches ist das gesamte Bedeutungsspektrum des Begriffs vom Schöpfungsakt bis hin zur Vergänglichkeit virulent. Die schon in der Bibel evozierte ambivalente Bedeutung des Hauches schlägt sich auch in Chars Aufzeichnung nieder. In der französischen Übersetzung der Genesis 2.7 heißt es: „Le Seigneur Dieu forma donc l’homme du limon de la terre; il souffla sur son visage un souffle de vie, et l’homme devint vivant et animé.“ Und im Livre de la Sagesse 2.2–3 heißt es: „Nous sommes nés du néant, et, après cette vie, nous serons comme si nous n’avions jamais été. Le souffle de nos narines est comme une fumée, et la raison n’est qu’une étincelle qui remue notre cœur. Lorsqu’elle sera éteinte, notre corps sera réduit en cendres, et l’esprit se dissipera comme un air subtil; et notre vie disparaîtra comme une nuée qui passe, et s’évanouira comme un brouillard que les rayons du soleil mettent en fuite, et que sa chaleur abat.“ Die vorausgehenden Zitate entstammen folgender Quelle: La Sainte Bible. Texte latin et traduction française. Commentée d’après la Vulgate et les textes originaux à l’usage des séminaires et du clergé par Louis-Claude Fillion. Bd. 1. Paris 31899, S. 27 bzw. Bd. 5, S. 12.

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Lyrik werden Todes- und Luftmotivik miteinander verbunden, z. B. im Gedicht Todesfuge, wo es heißt: „Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland / er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft / dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng.“ (V. 24–26)138 Wird in Celans Gedicht der reale Rauch der Krematorien in den Konzentrationslagern beschrieben, so zielt Chars Wendung „Dunst und Wind“ auf die Fragilität und Flüchtigkeit des menschlichen Lebens. Anders als Celan ignoriert Fritz Paepcke den Kontext der Résistance und siedelt seine Übersetzung auf einer ahistorischen Ebene an, wenn er in Chars Aufzeichnung „die Verkehrtheit unglaubwürdig gewordener Menschen“139 dargestellt sieht. Wen Paepcke in der Rolle der von ihm als „Idealisten“ bezeichneten Märtyrer sieht und was Char dazu motiviert haben könnte, diese zu kritisieren, bleibt offen. In seiner Übersetzung heißt es: „Für wen werken die Märtyrer?“ Durch den Einsatz des Verbs „werken“ gibt Paepcke der Frage einen negativen Beiklang, da er den französischen Ausdruck „œuvrer“ auf eine rein handwerkliche Tätigkeit reduziert und den Bezug zum ideellen Wirken der Widerstandskämpfer tilgt. Ein weiterer Unterschied zwischen Celans und Paepckes Fassung zeigt sich in der Übersetzung der Wendung „La grandeur réside dans le départ qui oblige“. Celan betont in seiner Übersetzung das Verantwortungsgefühl der Résistants als zentralen Impetus ihres Kampfes, wenn es heißt: „Größe besteht in einem Aufbrechen, das verpflichtet.“ Paepcke hingegen verfolgt eine enthistorisierende Lesart des Originals, die den Begriff des „départ“ entkonkretisiert und ins Abstrakte verschiebt: „Größe liegt in zwingendem Abschied.“ Welche Art von „Abschied“ hier gemeint ist, lässt er jedoch offen. Aus der kritischen Reflexion über den Begriff des „Märtyrers“ als einem unrechtmäßig zum Vorbild erhobenen Menschen, dem „Idealisten“, leitet Fritz Paepcke seine Übersetzung der Wendung „vapeur et vent“ ab: „Idealisten sind Schall und Rauch.“ Hier fügt er mit der von Goethe in die deutsche Sprache eingeführten Wendung „Schall und Rauch“140 eine intertextuelle Referenz ein, die im Original nicht vorhanden ist und die sich 138 In: Celan: KG, S. 40. 139 Paepcke (1986), S. 449. 140 In der Szene Marthens Garten in Goethes Faust I artikuliert Faust gegenüber Margarete die Unmöglichkeit, seine Haltung zur Religion begrifflich zu fassen. Ihm gelten seine Empfindungen mehr als deren rationalisierende Festschreibung in einem religiösen System. Er ruft: „Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch, Umnebelnd Himmelsglut.“ In: Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Texte (= Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 7/1). Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 149.

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im gegebenen Kontext auch nicht verankern lässt: Der redensartliche Ausdruck steht in keinem plausiblen Bezug zu den zentralen Motiven von Wind und Dunst („vent“; „vapeur“). Paepcke setzt mit seiner Wortwahl vielmehr eine willkürlich gewählte Interpretation um, die gerade nicht von einer intensiven Auseinandersetzung mit Chars Aufzeichnung zeugt, sondern von einer Tendenz zur Abstraktion, die sich von der Stoßrichtung des Originals entfernt. Char selbst insistiert in der Vorbemerkung zu den Feuillets d’Hypnos auf dem Realitätsbezug seiner Notizen, wenn er den spezifischen Entstehungskontext der Résistance erläutert. Er schreibt: Ces notes n’empruntent rien à l’amour de soi, à la nouvelle, à la maxime ou au roman. Un feu d’herbes sèches eût tout aussi bien été leur éditeur. La vue du sang supplicié en a fait une fois perdre le fil, a réduit à néant leur importance. Elles furent écrites dans la tension, la colère, la peur, l’émulation, le dégoût, la ruse, le recueillement, l’illusion de l’avenir, l’amitié, l’amour. C’est dire combien elles sont affectées par l’événement.141

Bezieht sich Char hier auf sein unmittelbares Erleben als Résistant in den Jahren 1943 und 1944, so wird deutlich, dass jedes einzelne der genannten Schlüsselwörter für eine der menschlichen Erfahrungen steht, die in den insgesamt 237 Aufzeichnungen der Feuillets d’Hypnos poetisch verarbeitet werden. Eine Allgemeingültigkeit beanspruchende Kritik an falschen Vorbildern oder an trügerischen Idealen, wie Fritz Paepcke sie in der Aufzeichnung 228 erkennt, lässt sich in den Rahmen der Feuillets kaum integrieren. Anhand des vorliegenden Übersetzungsvergleichs zeigt sich der Unterschied zwischen Celans individuell akzentuierender Übersetzung, die nach „Treue durch Veränderung“142 strebt, und einem unmotivierten Eingriff in den Verweisungszusammenhang des Ausgangstexts, wie er Paepckes enthistorisierender und entkonkretisierender Übersetzung zugrunde liegt. Celan setzt seine Strategie der Wörtlichkeit jedoch nicht normativ, sondern stets kontextabhängig ein, wie es im Folgenden zu zeigen gilt. Je nach Originaltext fungiert das wörtliche Übersetzen bei ihm mitunter als Instrument der Verfremdung, zum Beispiel in seinen Michaux-Übersetzungen (Kap. 3.3) und in seinen fragmentarischen Bonnefoy-Übersetzungen (Kap. 3.4). Außerdem gibt es den besonderen Fall seiner deutschen Fassung des Char-Gedichts Dernière marche (Kap. 3.2.4), wo das Verfahren der Wörtlichkeit eine Art Verweigerungshaltung gegenüber dem Übersetzungsvorgang transportiert. 141 Char: Œuvres complètes, S. 173. In Celans Übersetzung heißt es: „Ihre Niederschrift erfolgte in der Angespanntheit, im Zorn, unter Ängsten, im Eifer, im Ekel, inmitten von Listen, heimlicher Sammlung, Zukunftsillusionen, Freundschaft, Liebe. Womit gesagt ist, in welchem Maße die Ereignisse mitsprechen.“ In: Celan: GW 4, S. 437. 142 Siever (2010), S. 134.

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Celan reflektiert das Verhältnis zwischen der Wörtlichkeit und dem unhintergehbaren „Anderssein“ des Übersetzers in seinem Brief an Dedecius, wenn es heißt: Wörtlichkeit im übertragenen Gedicht: Wörtlichkeit des Gedichts. Brücken von Sprache zu Sprache, aber – Brücken über Abgründe. Noch beim allerwörtlichsten Nachsprechen des Vorgegebenen – Ihnen, lieber Herr Dedecius, will es als ein ›Aufgehen‹ im Sprachmedium des Anderen erscheinen –: es bleibt, faktisch, immer ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen, noch im (scheinbar) restlosen ›Aufgehen‹ bleibt der ›Aufgehende‹ in seiner – auch sprachlichen – Einmaligkeit, in seinem Anderssein.143

Tatsächlich stellt die „Wörtlichkeit“ für Celan kein selbstverständliches, unhinterfragtes Ideal dar, vielmehr entscheidet er sich angesichts bestimmter Originaltexte ganz bewusst für Strategien des wörtlichen Übersetzens, die nichts mit einer angestrebten ›Neutralität‹ gemein haben. Celan widmet der Wörtlichkeit im „übertragenen Gedicht“144 eine besondere Aufmerksamkeit, es geht ihm darum, jedes einzelne Wort als solches wahrzunehmen und abzuwägen. Gerade weil er dem Wortmaterial eine solche Bedeutung beimisst, empfindet Celan den Akt des Übersetzens als prekär. Übersetzungen sind für ihn „Brücken“ zwischen den Sprachen und damit Brücken zwischen Epochen und kulturellen Kontexten, die durch „Abgründe“ voneinander getrennt sind. Mit dem Begriff des Abgrunds assoziiert Celan die Gefahr des Scheiterns bzw. des vielfachen Sinn- oder Form-Verlustes, die den Übersetzungsakt bedrohen. In diesem Sinne charakterisiert Celan die Lyrikübersetzung als „Sprung“, wenn er sagt: „Das Übertragen von Gedichten [...] geschieht über die Abgründe der Sprachen hinweg: das Einende ist der Sprung. Solcher Sprung ist Glück und Gelingen.“145 Mit Hilfe der Sprung-Metapher betont Celan auch die Prozesshaftigkeit des Übersetzungsvorgangs: Nur im Vollzug der übersetzenden Bewegung selbst ist der Brückenschlag zwischen Sprachen und Kulturen möglich. Angesichts der Abgründe, die die Sprachen voneinander trennen, bedeutet die Strategie der Wörtlichkeit für Celan niemals die Negation der eigenen Stimme. Im Zusammenhang mit dem Prinzip der „Wörtlichkeit“ beharrt Celan auf der Präsenz der Übersetzer-Stimme in der zielsprachlichen Gedichtfassung und wendet sich damit gegen das von Dedecius formulierte 143 Celan: Brief an Dedecius vom 31. Januar 1960 [Transkription A. S.]. In Celans Brief an Werner Weber vom 26. März 1960 heißt es: „Denn die Sprachen, so sehr sie einander zu entsprechen scheinen, sind verschieden – geschieden durch Abgründe.“ In: FN, S. 397– 400, hier S. 397. 144 Celan: Brief an Dedecius vom 31. Januar 1960 [Transkription A. S.]. 145 TCA/Meridian, S. 125. Über die Dichtung als Sprung heißt es dort: „Wortmaterial – das hat sein Gewicht; Dichtung ist ein Sprung; man soll sich keine Gewichte anhängen, wenn man hinüber – und zurück will.“ [Hervorhebung original]

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

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Ideal der ›Auflösung‹.146 Celans Widerspruch gegenüber Dedecius gewinnt dadurch an Schärfe, dass er nicht vom „Auflösen“, sondern vom „Aufgehen“ spricht und damit einen Begriff verwendet, der ungleich positivere Konnotation aufweist. Da für Celan ein vollständiges „Aufgehen“ im Sprachmedium des Anderen weder vorstellbar noch wünschenswert ist, insistiert er auf der unüberwindlichen Differenz zwischen Ausgangstext und Übersetzung. Als Übersetzer strebt er danach, sein sprachlich, historisch und kulturell bedingtes „Anderssein“ zu markieren, anstatt es zu verschleiern. Auch in seinem Brief an Werner Weber unterstreicht Celan diese unüberwindliche Alterität: „Ja, das Gedicht, das übertragene Gedicht muß, wenn es in der zweiten Sprache noch einmal dasein will, dieses Anders- und Verschiedenseins, dieses Geschiedenseins eingedenk bleiben.“147 Das „Anderssein“ bleibt selbst noch beim „allerwörtlichsten Nachsprechen“ in der Übersetzung spürbar und muss es bleiben, da das Übersetzen für Celan immer ein „zweites“ Sprechen bedeutet. Zudem bleibt in Celans Vorstellung auch der Übersetzer selbst als der „Aufgehende“ in seiner Individualität fassbar und markiert dadurch den besonderen Status des übertragenen Textes. In seinem „Anderssein“, so Celan, präge der Übersetzer den übertragenen Text, mit dem er nicht, wie Dedecius meint, vollständig verschmelzen könne. Seine Skepsis gegenüber dem Ideal der Auflösung formuliert Celan auch in seinem Brief an Werner Weber, verknüpft mit der expliziten Forderung nach unbedingter Präzision im Sprachtransfer, die er bei vielen Übersetzern vermisst: [Es] gibt auch heute noch – nach so vielen Gedichten! – die Vielen (darunter eine ganze Reihe von Pseudophilologen), die, wenn sie Übertragungen von Gedichten lesen, irgendein vermeintliches ›höheres Esperanto‹ im Auge haben, und zwar – ich habe das oft beobachtet – am ›deutlichsten‹ dann, wenn sie weder die eine noch die andere Sprache beherrschen.148

Ein Beispiel für Celans Streben, sein „Anderssein“ als Übersetzer zu markieren, findet sich in dem Aphorismus Nez en l’air aus René Chars Band À une sérénité crispée (1952). Bei Char bzw. bei Celan heißt es:

146 DLA: Celan D 90.1.1332/1. Bollack (2006, S. 272) betont die Markierung von Celans eigener Stimme in den Übersetzungen der Gedichte Paul Eluards: „Die Übersetzung interpretiert: sie bringt ihren Gegenstand in eine gewisse Distanz, sie stützt sich auf ihn und befreit sich zugleich. Der Übersetzer behauptet sich selbst, er bringt sein semantisches Bezugssystem mit.“ 147 FN, S. 397. 148 Es ist denkbar, dass sich dieser Vorwurf implizit auch auf René Char bezieht. Gisèle Celan-Lestrange zufolge hatte Char vorgeschlagen, Celans Gedichte auf der Grundlage von Wort-für-Wort-Übersetzungen ins Französische zu übertragen, was Celan jedoch strikt ablehnte. In: PC/GCL 2, S. 262.

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Nez en l’air pour la séance de voltige finale des Ardélions de l’espace mental: LES PARACHUTES NE S’OUVRENT PLUS.149 Die Nasen hoch im Hinblick auf das letzte Luftkunststück unserer HansDampf-in-allen-Geistesgassen: DIE FALLSCHIRME ÖFFNEN SICH NICHT MEHR.150

Auch wenn die Motivik von Chars Aufzeichnung Nez en l’air an sein Engagement in der Résistance erinnert, wo er für die Koordination der Fallschirmspringer-Einheiten in der Provence verantwortlich war,151 stammt die poetische Notiz aus der Nachkriegszeit. Sie transportiert Chars Kritik an der verhängnisvollen Wichtigtuerei französischer Intellektueller, die er als wagemutige Fallschirmspringer inszeniert. Schon vor Kriegsende hatte René Char seine düsteren Vorahnungen bezüglich eines Gesinnungswandels in seiner Heimat artikuliert. Er fürchtete, dass sich die Franzosen ihrer Mitverantwortung am Verlauf des Zweiten Weltkrieges entziehen und der kritischen Selbstbefragung ausweichen könnten.152 In Celans Übersetzung stechen besonders die Metapher der „Ardélions de l’espace mental“ sowie ihr deutsches Pendant der „Hans-Dampfin-allen-Geistesgassen“ hervor. Das Idiom des „Ardélion“ geht auf den Schauspieler Ardélion zurück, der um 300 nach Christus „in einer Provinz des Morgenlandes“153 gelebt und in seinen Auftritten christliche Mysterien parodiert hat.154 Der Überlieferung zufolge bekannte er sich jedoch während einer Vorführung zum christlichen Glauben und wurde, nachdem er sein Bekenntnis vor Gericht wiederholt und bekräftigt hatte, zum Tode verurteilt und öffentlich verbrannt. Nach seinem Martyrium wurde er heiliggesprochen.155 Der Name des Schauspielers Ardélion ist, als Bezeichnung eines geschäftigen Menschen, der sich in fremde Angelegenheiten einmischt, in den französischen Sprachgebrauch des 18. Jahr-

149 150 151 152

Char: Œuvres complètes, S. 757. Celan: GW 4, S. 581. Greilsamer (2004), S. 538. Vgl. dazu die Aufzeichnung 220 der Feuillets d’Hypnos in Celans Übertragung: „Die Erhitzung und die Bleichsucht der Jahre, die auf den Krieg folgen werden: meine Befürchtungen gelten beidem. Unsere bequeme Einmütigkeit, unser Gerechtigkeitshunger: sie werden sich, ich fühle es voraus, als recht kurzlebig erweisen, wenn das uns im Kampf Verbündende sich gelöst hat. [...] Schon liegt das Übel überall im Kampf mit den Mitteln, es zu heilen. Die Phantome erteilen Rat um Rat, statten Besuch um Besuch ab.“ Celan: GW 4, S. 551. 153 Vgl. den Eintrag „S. Ardalion (Ardalio)“. In: Vollständiges Heiligen-Lexikon: Hrsg. von Johann Evangelist Stadler und Franz Joseph Heim. Bd. 1 (A–D). Hildesheim/Zürich/New York 1996, S. 304–305, hier S. 305. 154 Ebd., S. 304. 155 Ebd., S. 305.

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

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hunderts eingegangen.156 Im 20. Jahrhundert sind die Figur des Ardélion und die dazugehörige Redewendung jedoch nicht mehr geläufig. Im Kontext des Aphorismus wird die Zuordnung dieses Eigennamens noch dadurch erschwert, dass im zweiten Metaphernglied ein charakterisierendes Attribut hinzukommt. Es geht nämlich um die „Ardélions de l’espace mental“, d. h. die „Ardélions der geistigen Sphäre“. Mit Hilfe des Begriffs „espace“, der im Französischen auch den Weltraum bezeichnet, illustriert Char den unendlichen Raum menschlicher Gedanken. Auch wenn man das Attribut des „espace mental“ nicht als Verweis auf die Raumfahrt im engeren Sinne versteht, bleibt der Himmelsraum durch die Fallschirmspringer als Vergleichsmoment präsent. In Chars Aufzeichnung präsentieren sie dem Publikum kühne artistische Einlagen, die sie mit dem Tod büßen, als sich die Fallschirme im entscheidenden Moment nicht öffnen. Illustrieren die Kunststücke der Fallschirmspringer die wagemutigen Äußerungen der Intellektuellen, so evoziert ihr ungebremster Absturz das Ende der geistigen Höhenflüge: „Les parachutes ne s’ouvrent plus.“ Mit welcher Strategie überträgt nun Celan die Metapher der „Ardélions de l’espace mental“, deren Teilaspekte so verschiedenen sprachlichen Ebenen entspringen? Da die Figur des Ardélion im Deutschen nicht existiert, steht Celan vor der Wahl, den französischen Namen beizubehalten und so die unmittelbare Verständlichkeit der Aufzeichnung zu erschweren oder ihn durch ein deutsches Idiom zu ersetzen. Fällt seine Wahl auf die Redewendung vom „Hans Dampf in allen Gassen“, so verortet Celan seine Übertragung auf einer anderen Stilebene als Chars Original. Die Figur des „Hans Dampf“ ist im deutschen Sprachraum des 20. Jahrhunderts gebräuchlich, ganz anders als die Figur des Ardélion im Französischen. Und doch bemüht sich Celan um ein Äquivalent: Seine Wahl einer typisch deutschen Figur korrespondiert mit Chars Entscheidung, eine Figur aus der französischen Kultur zu evozieren. Durch die große Verbreitung des Vornamens Hans im deutschen Sprachraum des 14. bis 17. Jahrhunderts ist eine Redewendung entstanden, die den Vornamen in einen Gattungsnamen verwandelt und, je nach Kontext, mit spezifischen Attributen belegt. In Celans Übertragung von Chars Nez en l’air figuriert nun nicht der „Hanswurst“ oder der „Hans Guck-in-die-Luft“, sondern der „Hans Dampf in allen Gassen“. Ähnlich wie der französische Begriff 156 Vgl. den Eintrag „Ardélion“ im Wörterbuch von Littré, wo es heißt: „Homme qui fait l’empressé et se mêle de tout. Inusité.“ Als literarisches Beispiel dient bei Littré die 1739 von Jean-Baptiste Rousseau (1670–1741) angefertigte Paraphrase eines Abschnitts aus Terenz’ Komödie Andria: „Grands prometteurs de soins et de services, Ardélions sous le masque d’amis, Sachez de moi que les meilleurs offices Sont toujours ceux qu’on a le moins promis.“ In: Paul Littré: Dictionnaire de la langue française, Bd. 1. Paris 1956, S. 281.

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Ardélion bezeichnet dieses deutsche Idiom einen „überbetriebsamen Menschen, der den Anschein erweckt, überall Bescheid zu wissen“.157 Um den Aspekt des Intellektuellentums auch in dieser der Volkssprache entsprungenen Redewendung hervorzuheben, greift Celan schöpferisch in das tradierte Idiom ein. Er deutet die „Gassen“ in „Geistesgassen“ um und formt auf diese Weise ein Äquivalent zum französischen Attribut des „espace mental“. Durch die g-Alliteration verleiht er seiner Wortbildung zudem eine besondere Eingängigkeit. Celans Übersetzung verortet die „Ardélions“ im deutschen Kulturraum und unterstreicht diese Zugehörigkeit durch das Possessivpronomen „unser“. Anstatt mit dem Vornamen „Hans“ ein zum Sprichwort avanciertes Signum der deutschen Kultur zu zitieren,158 hätte Celan auch eine weniger stark markierte Wortverbindung wählen können, um die im Begriff des „Ardélion“ angelegten Bedeutungsschichten auszudifferenzieren. Celans Entscheidung, in der deutschen Fassung von Chars Aphorismus Nez en l’air sein „Anderssein“ als Übersetzer zu markieren, erweist sich als eine präzis durchdachte Strategie, die auf „Treue durch Veränderung“159 zielt: Celan prägt zwar einen Neologismus und greift damit verändernd in das Original ein, gleichzeitig reagiert er aber auf die darin angelegte Motivik und gestaltet sie in der deutschen Gedichtfassung. Diese unauflösbare Spannung zwischen Original und Übersetzung prägt auch Celans paradoxe Wendung „Fremde Nähe“160, die ursprünglich als Titel seiner gesammelten Übersetzungen aus dem Französischen vorgesehen war. Auch bei der Übertragung der Aufzeichnung 47 aus den Feuillets d’Hypnos verwendet Celan eine Wortbildung, die auf einen altertümlichen Begriff rekurriert und diesen transformiert: Bei Char bzw. Celan heißt es: Char: „Martin de Reillanne nous appelle: les catimini.“161 Celan: „Martin – er stammt aus Reillanne – nennt uns les catimini – die ›Hehlingse‹.“162

157 Vgl. den Eintrag „Hans Dampf in allen Gassen“. In: Wahrig Deutsches Wörterbuch. Hrsg. von Gerhard Wahrig. München 1980, S. 1704, Sp. 2. 158 Vgl. de Oliveira (2007, S. 157): „Celan doit sa singularité de traducteur à l’apport d’autres intertextes, et son projet de réénonciation interculturelle synthétise plusieurs dimensions temporelles tout en abolissant les frontières géographiques dans un entre-deux qui ne se fige jamais.“ 159 Siever (2010), S. 134. 160 FN, S. 389. 161 Char: Œuvres complètes, S. 186. 162 Celan: GW 4, S. 461.

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Der Schlüsselbegriff dieser Notiz lautet „les catimini“, eine liebevollspöttische Bezeichnung für die Résistance-Kämpfer, die sich vor den nationalsozialistischen Besatzern verstecken.163 Ungewöhnlich ist diese Wendung, weil sie aus der adverbialen Bestimmung „en catimini“ (dt. „im Verborgenen“) das personenbezogene Substantiv „les catimini“ macht. Celan führt in seiner Übertragung eine analoge sprachliche Operation durch, wenn er auf den bis ins 19. Jahrhundert auch im juristischen Bereich verwendeten Begriff „Hehling“164 (mdh. „haelinc“: ›Geheimnis, Heimlichkeit‹) bzw. auf das entsprechende Adverb „hehlings“ („heimlich“) zurückgreift und in die Personenbezeichnung „Hehlingse“ umformt.165 Diese Korrespondenz in der Wortbildung hebt die deutsche Fassung von Chars Aphorismus hervor, indem sie den französischen Begriff „les catimini“ beibehält und von der Wendung ›die Hehlingse‹ durch einen Gedankenstrich absetzt. Darüber hinaus markiert der Gedankenstrich die deutsche Fassung als einen übersetzten Text, da er die französische und die deutsche Sprache gleichberechtigt nebeneinanderstellt und sie einerseits miteinander verbindet, andererseits voneinander trennt.166 Auch Celans deutsche Fassung der Aufzeichnung 94 der Feuillets d’Hypnos erweist sich als Ergebnis einer individuellen Lesart. Original und Übersetzung lauten wie folgt:

163 In der Aufzeichnung 159 der Feuillets d’Hypnos werden die Résistants als „êtres furtifs“ (bei Celan: „in der Verborgenheit umherhuschende[ ] Wesen“) bezeichnet. In: GW 4, S. 520/521. 164 Vgl. den Eintrag „hehling“: „(m.) geheimnis bzw. ›hehlings‹ adv. heimlich“. In: DWB, Bd. 10, Sp. 788–791; vgl. auch den Eintrag „hehling“ in: Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. In Verbindung mit der vormaligen Akademie der Wissenschaften der DDR hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bearbeitet von Otto Gönnenwein und Wilhelm Weizsäcker. Weimar 1960, Bd. 5, Sp. 561. – Auch in seiner eigenen Lyrik greift Celan immer wieder auf (vorwiegend naturwissenschaftliches) Fachvokabular zurück. 165 Den Begriff „Hehlingse“ bezeichnet Jean-Pierre Wilhelm als „gewagte Neubildung“ und schlägt als Alternative die Wendung „die Verhohlenen“ vor. Wilhelms Vorschlag findet sich in einer Liste mit weiteren Anmerkungen, die er am 28. Januar 1959 an Celan geschickt hat. DLA: Celan D 90.1.2922/4. 166 Im Vergleich mit Übersetzungen in andere Sprachen gewinnt Celans Lösung zusätzlich an Kontur. Die italienische Fassung von Vittorio Sereni lautet beispielsweise: „Martin de Reillanne ci chiama: i catiminí.“ In: René Char: Fogli d’Ipnos (1943–1944). Prefazione e traduzione di Vittorio Sereni. Turin 1968, S. 43. In einer Fußnote liefert der Übersetzer die Erklärung des von Char verwendeten französischen Idioms: „›Jouer à catimini‹: giocare a rimpiattino. Si è preferito conservare, accentandola, la parola francese.“ (Ebd.) Sereni verzichtet auf eine Übersetzung der französischen Wendung und lässt sie in der Ausgangssprache stehen, wobei er dem letzten Buchstaben des Wortes „catiminí“ einen Akzent beifügt. Im Gegensatz zu Celan, der versucht, die dem Original inhärente Verschiebung im Gebrauch des Idioms in der deutschen Sprache nachzugestalten, bevorzugt der italienische Übersetzer eine Form der Texttreue, die dieses Irritationsmoment tilgt.

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Ce matin, comme j’examinais un tout petit serpent qui se glissait entre deux pierres: „L’orvet du deuil“, s’est écrié Félix. La disparition de Lefèvre, tué la semaine passée, affleure superstitieusement en image.167 Heute morgen, als ich eine winzige Schlange beobachtete, die zwischen zwei Steinen hindurchglitt –: „Die Trauerschleiche!“ rief Félix aus. Der Verlust Lefèvres, der vergangene Woche getötet wurde, schimmert als Bild auf, als Aberglaube.168

Ein Blick in die Dokumente aus dem Nachlass zeigt, dass Celan am 16. Dezember 1958 korrigierend in die bereits bestehende Übersetzung eingegriffen hat. An die Stelle der wörtlichen Übersetzung „Blindschleiche der Trauer“ setzt Celan das Kompositum „Trauerschleiche“ und bildet damit die Wendung „orvet du deuil“ im Deutschen nach.169 Radikaler noch als René Char hebt Celan die bei dem Résistance-Kämpfer Félix zu beobachtende Verquickung von Naturerlebnis und Kriegserfahrung hervor. Indem Celan mit dem Kompositum „Trauerschleiche“ geradezu einen neuen biologischen Gattungsnamen schafft, versetzt er sich in den angsterfüllten Résistant hinein, der in seiner lebensbedrohlichen Lage selbst ein Reptil als Träger schicksalhafter Zeichen zu erkennen meint. Diese erste, von Celan präzise nuancierte Übersetzergeste determiniert auch die folgende. Hier handelt es sich nicht um eine analoge Sprachoperation, sondern um eine Bedeutungsverschiebung, die im Kontext der Aufzeichnung eine zentrale Rolle spielt: Aus der adverbialen Konstruktion in der Wendung „la disparition de Lefèvre [...] affleure superstitieusement en image“ formt Celan im Deutschen einen zweigliedrigen Ausdruck („Der Verlust Lefèvres [...] schimmert als Bild auf, als Aberglaube“), in dem das Adverb des Originals („superstitieusement“) substantiviert und dem vorhandenen Substantiv („image“) beigeordnet wird. In diesem Sinne erscheint die Konkretion der Trauer in dem Motiv der beobachteten Schlange nicht mehr zwangsläufig als Aberglaube, sondern steht zunächst für sich als „Bild“, das nicht bewertet wird. Erst in einem zweiten Schritt ruft Celans Übersetzung den Aspekt des Aberglaubens auf, die entweder als Attribut des Bildes selbst oder aber als sein Widerpart gelesen werden kann. Dabei entschärft er die Wertung in Chars Aphorismus und öffnet den Blick für ein Naturerlebnis, das zwischen Aberglauben und schöpferischer Phantasie changiert.

167 Char: Œuvres complètes, S. 198. 168 Celan: GW 4, S. 487. 169 DLA: Celan D 90.1.386/7.

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

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3.2.4 Dernière marche: Celans letzte Char-Übersetzung Die deutsche Fassung des Gedichts Dernière marche aus dem Band Retour amont (1966)170 ist die letzte Übersetzung, die Celan aus Chars Werk angefertigt hat.171 Er hat sie Char am 21. Juli 1966 zugesandt,172 ließ sie aber nicht veröffentlichen. Im Folgenden sollen die in dieser Übersetzung angewandten Strategien erstmals näher untersucht werden.173 Das Original lautet wie folgt: Dernière marche Oreiller rouge, oreiller noir, Sommeil, un sein sur le côté, Entre l’étoile et le carré, Que de bannières en débris! 5

10

Trancher, en finir avec vous, Comme le moût est à la cuve, Dans l’espoir de lèvres dorées. Moyeu de l’air fondamental Durcissant l’eau des blancs marais, Sans souffrir, enfin sans souffrance, Admis dans le verbe frileux, Je dirai: » Monte « au cercle chaud.174

In Chars Band Retour amont überlagern sich poetologische Reflexionen und Schilderungen verschiedener Orte aus seiner provenzalischen Heimat – sei es die Gebirgskette des Luberon (Sept parcelles de Luberon175), die Landschaft Les Baronnies (Dansons aux Baronnies176) oder das Kloster Thouzon (Chérir Thouzon177).178 Prägend ist zudem das Titelmotiv des Flusslaufs, das sich in einigen Gedichten in Form von Auf- und Abwärtsbewegungen niederschlägt.

170 Von Chars Gedichtband besaß Celan zwei Exemplare; eines trägt die folgende Widmung: „A Paul Celan / son ami / René Char“. Zitiert nach PC/GCL 2, S. 331. Bei Seite 44 hat Celan seine unveröffentlichte Übersetzung eingelegt (in: Celan Bibliothek DLA). 171 Außerdem hat Celan noch das Gedicht Trois sœurs von René Char vollständig übersetzt. Vgl. Böschenstein (2008), S. 214. 172 DLA: Celan D 90.1.381. 173 Veyne (2004, S. 438) erwähnt die Übersetzung, ohne sie näher zu charakterisieren, wenn er schreibt: „Paul Celan aimait beaucoup [Dernière marche] et l’a traduit en poète.“ 174 Char: Œuvres complètes, S. 438. 175 Ebd., S. 421 f. 176 Ebd., S. 429. 177 Ebd., S. 424. 178 Vgl. Dupouy (2008), S. 40.

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Dernière marche, eines der abstrakteren und damit schwer zugänglichen Gedichte des Bandes, enthält jedoch außer dem Motiv der „blancs marais“ (V. 9), die sich auf die Sumpflandschaft der Camargue beziehen lassen, keine weiteren Hinweise auf die Provence. In drei Strophen inszeniert der Text den Wandel ins Hoffnungsvolle in Form eines Aufstiegs, der, poetologisch konnotiert, Chars lyrisches Werk insgesamt prägt.179 Das lyrische Ich wendet sich von den „bannières en débris“ (V. 4) und den Menschen (V. 5) ab, „dans l’espoir de lèvres dorées“ (V. 7). Nach der Überwindung von Leiden (V. 10) steht die Apostrophe des lyrischen Ich an den „cercle chaud“ (V. 12), ein poetologisches, von Heraklit beeinflusstes Symbol für die Vereinigung von Gegensätzen.180 In Celans bislang unveröffentlichter Übertragung heißt es: LETZTE STUFE Kopfkissen rot, Kopfkissen schwarz, Schlaf, eine Brust dir zur Seite, Zwischen Stern und Geviert, Alle die Trümmerbanner! 5

10

Zurande kommen mit euch, Dem kufenhörigen Weinmost gleich, Gegoldete Lippen erhoffend. Nabe der gründenden Luft Weiss-Sümpfe härtend, leidfern und endlich leidlos, Aufgenommen vom fröstelnden Wort, Sag ich zum heissen Kreis: ›Steige‹. /Deutsch von Paul Celan/181

Da es sich bei dem Gedicht Letzte Stufe dem derzeitigen Forschungsstand nach um Celans letzte Char-Übersetzung handelt, stellt sich die Frage, ob und inwiefern die Wahl dieses Gedichts eine programmatische ist: Hat sich Celan bewusst für diesen Text als ›letzte Stufe‹ seiner Beschäftigung mit Chars Werk entschieden? Eine solche Annahme ist methodisch problematisch, da sie Celans Textauswahl nachträglich eine teleologische

179 Auch in früheren Bänden weist Char dem Motiv des Aufstiegs eine poetologische Funktion zu, vgl. Feuillets d’Hypnos Nr. 56: „Le poème est ascension furieuse; la poésie, le jeu des berges arides“ (in: Char: Œuvres complètes, S. 189); Nous avons: „Poésie, unique montée des hommes, que le soleil des morts ne peut assombrir dans l’infini parfait et burlesque“ (in: Char: Œuvres complètes, S. 410). 180 Vgl. Münchberg (2000), S. 49. 181 DLA: Celan D 90.1.381.

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

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Komponente unterlegt und suggeriert, er habe beim Übersetzen bereits gewusst, dass seine Fassung von Dernière marche seine letzte Char-Übersetzung sein würde. Gleich die im ersten Vers angewandte Übersetzungsstrategie erweckt jedoch den Eindruck, als inszeniere Celan tatsächlich eine Abkehr von seiner Tätigkeit als Char-Übersetzer, da er eine die Zielsprache verfremdende Wort-für-Wort-Transkription anfertigt: „Kopfkissen rot, Kopfkissen schwarz“. Angesichts der im Deutschen untypischen Nachstellung der Attribute lässt sich dieser Vers als wörtliche Umschrift182 des Originals bezeichnen – ein Verfahren, das im gegebenen Kontext erklärungsbedürftig ist. Dass sich Celan ganz bewusst den grundlegenden Prinzipien des französisch-deutschen Sprachtransfers widersetzt, mutet wie ein Akt der Verweigerung an. Indem Celan ein letztes Gedicht von Char übersetzt, so ließe sich folgern, markiert er gleichzeitig seine wachsende Distanz zu dessen lyrischem Werk. Dieser Befund, der für den programmatischen Charakter des Gedichttitels Dernière marche spräche, beschränkt sich allerdings auf den ersten Vers der deutschen Fassung. Im weiteren Verlauf der Übersetzung bedient sich Celan verschiedener komplexer Strategien von der Neologismenbildung bis zur klanglichen Neuakzentuierung, deren Einsatz wiederum die Übersetzertätigkeit als solche affirmiert. Ein besonders vielschichtiges Verfahren liegt der deutschen Fassung des folgenden Verses zugrunde: Char: „comme le moût est à la cuve“ Celan: „Dem kufenhörigen Weinmost gleich“

Rekurriert Celan für die Bildung des Wortes „kufenhörig“ auf das seltene Lehnwort „Kufe“183 (ahd. „kuofa“), das seinen Ursprung im lateinischen Wort „cupa“ (Tonne) hat und einen Bottich zur Weingärung benennt, so bleibt er in etymologischer und damit auch in phonetischer Hinsicht sehr nah am Ausgangstext. Gleichzeitig intensiviert er den im Original angelegten Aspekt der Machtausübung, indem er den Weinmost personifiziert und ihn als der Kufe „hörig“ bezeichnet. Nicht nur durch Neologismen, sondern auch durch die phonetische Gestaltung verleiht Celan seiner Gedichtfassung eine individuelle Kontur, wenn er die im Original angelegten konsonantischen und vokalischen Gleichklänge im Deutschen nachbildet bzw. neue hinzufügt. Die Verse 7 bzw. 10 lauten in Original und Übersetzung [Hervorhebungen A. S.]:

182 Zur Strategie der „wörtliche[n] Nachschrift“ bei Celan siehe Olschner (1985), S. 57. 183 Vgl. den Eintrag „Kufe“. In: Wahrig Deutsches Wörterbuch, Sp. 2270. Der Begriff „Kufe“ bezeichnet ursprünglich ein altes deutsches Biermaß.

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Char: „Dans l’espoir de lèvres dorées“ Celan: „Gegoldete Lippen erhoffend“ Char: „Sans souffrir, enfin sans souffrance“ Celan: „leidfern und endlich leidlos“

Mit dem Partizip „gegoldet“ greift Celan in Vers 7 bewusst auf die ältere Verbform „golden“184 zurück, um den Klangeffekt der g-Assonanz zu erzielen.185 Eine noch komplexere Gestaltung nimmt Celan in Vers 10 vor, indem er die im Original angelegte anaphorisch gestützte figura etymologica durch ein kombinatorisches Spiel mit dem Wortstamm „leid“ nachformt, wobei er, wie häufig auch in seinem eigenen lyrischen Werk, zusammengesetzte Adjektive wie „leidfern“ und „leidlos“ verwendet. Mit Hilfe dieser Komposita bewahrt er in der deutschen Fassung nicht nur das Stilmittel der Intensivierung, sondern auch deren parallele, auf Gleichklängen gründende Struktur. Celans auf Klangeffekte ausgerichtete Übersetzungsstrategie kulminiert in der Wiederholung des ei-Diphthongs im Schlussvers, der klanglich einen Gegenentwurf zur wörtlichen Transkription im Eingangsvers darstellt: Char: „Je dirai ›Monte‹ au cercle chaud.“ Celan: „Sag ich zum heissen Kreis: ›Steige‹.“

[Hervorhebung A. S.] [Hervorhebung A. S.]

Celans Vers verstärkt die im Original angelegte Assonanz und spielt damit, wie es scheint, auf die Lyrik Rainer Maria Rilkes und insbesondere auf ihre ausgeprägte Affinität zum ei-Diphthong an, die z. B. in den Sonetten an Orpheus mit dem Motiv einer die menschliche Sphäre übersteigenden Dichtung einhergeht.186 Auch in der für das Deutsche ungewöhnlichen Dominanz von Präsenspartizipien („Gegoldete Lippen erhoffend “ (V. 7); „Nabe der gründenden Luft“ (V. 8); „Weiss-Sümpfe härtend “ (V. 9); „Aufgenom184 Vgl. den Eintrag „golden“. In: DWB, Bd. 8, Sp. 764–766. 185 Seng (2007, S. 29) betont Celans „Interesse für archaische Wörter und Formen“ (S. 29), denen er z. B. auch in Rudolf Borchardts Übersetzungen begegnet ist. In seiner Übersetzung von Chars Gedicht Dernière marche verwendet Celan selbst veraltete Wortformen der deutschen Sprache. 186 Vgl. die Beispiele für ei-Diphthonge im ersten Teil der Sonette an Orpheus: Sonett XVII („Drängender Zweig an Zweig, / nirgends ein freier .... / Einer! O steig ... o steig ...“), Sonett XIX („Einzig das Lied überm Land / heiligt und feiert“) sowie im Eingangssonett des zweiten Teils („Atmen, du unsichtbares Gedicht! / Immerfort um das eigne / Sei rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht, / in dem ich mich rhythmisch ereigne“) [Hervorhebungen A. S.]. In: Rainer Maria Rilke: Gedichte 1910 bis 1926 (= Werke, Bd. 2). Hrsg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt am Main/Leipzig 1996, S. 249; 250; 257.

3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?

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men vom fröstelnden Wort“ (V. 11)) lässt sich ein Anklang an Rilke erkennen. Die intertextuelle Referenz zu Rilkes Sonettdichtung erweist sich als äußerst ambivalent, da Celan mit Rilke einen Lyriker evoziert, dessen Klangkunst für seine eigene frühe Schaffensphase prägend gewesen ist.187 Eine phonetische Ausschmückung, wie Celan sie im Schlussvers seiner Char-Übertragung vornimmt, wäre jedoch zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 1966, in seiner eigenen Lyrik nicht denkbar gewesen. Insofern erscheint es nicht unplausibel, dass der Einsatz des klanglichen Dekorums als Signal einer Loslösung vom Rilke’schen Vorbild bzw. als Reflexion auf die poetologische Diskrepanz zwischen Celan und Char zu verstehen ist.188 Nicht nur auf klanglicher, sondern auch auf syntaktischer Ebene intensiviert Celan das Original, wenn er den Imperativ „Steige“ an das Ende des Schlussverses rückt und damit implizit auf den Gedichttitel Letzte Stufe rekurriert.189 In der Finalposition weist der Imperativ ins Offene und setzt die Aufstiegsbewegung über den Rahmen des Gedichts hinaus fort. In seiner letzten Char-Übersetzung, so lässt sich festhalten, bedient sich Celan eines breiten Spektrums an verschiedenen, zum Teil durchaus heterogenen Übersetzungsstrategien: Die wörtliche Umschrift des ersten und die klangliche Intensivierung des letzten Verses bilden die Extrempole von Celans übersetzerischer Auseinandersetzung, die in ihrer Widersprüchlichkeit seine ambivalente fraternité poétique zu Char spiegelt. Dass Celan in seiner Bekanntschaft zu Char gerade die Antagonismen als konstitutiv angesehen hat, wird in einer Reflexion deutlich, die Celan in den fünfziger Jahren in sein Exemplar von Chars Band À une sérénité crispée (1952) notiert hat. Dort heißt es: Zuzeiten was uns zusammenhielt, die Klammer, war, daß die Bruchstellen so oft und so deutlich zutagetraten.190

187 Vgl. z. B. die Dominanz der ei-Diphthonge in einem Vers aus Celans Gedicht Zähle die Mandeln aus dem Band Mohn und Gedächtnis (1952). Dort heißt es in den Versen 9–11: „Dort erst tratest du ganz in den Namen, der dein ist, / schrittest du sicheren Fußes zu dir, / schwangen die Hämmer frei im Glockenstuhl deines Schweigens“ [Hervorhebungen A. S.]. In: Celan: KG, S. 52. Zu Celans Verhältnis zu Rilke vgl. Böschenstein (1992), S. 173–185; Bollack (2001), S. 139–157. 188 Auch im Rahmen anderer Gedichtübersetzungen hat sich Celan offenbar mit Rilkes Schreibweise auseinandergesetzt: Harbusch (2005, S. 375) hat dargelegt, dass Celan in seiner Übersetzung von Paul Valérys Junger Parze „Rilkes preziöse Reime“ imitiert. 189 Dabei tilgt Celan die im Original angelegte Opposition zwischen den Adjektiven „frileux“ (V. 11) und „chaud“ (V. 12). 190 Diese Notiz hat Paul Celan hinten in sein Exemplar von René Chars Band À une sérénité crispée (1951) eingetragen. In: Celan Bibliothek DLA. Der Band trägt die Widmung: „Pour Paul Celan avec la sympathie \ très vive de \ R. Char.“ Zitiert nach PC/GCL 2, S. 91.

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Nach Erhalt von Celans Übersetzung von Dernière marche im Juli 1966 bedankt sich Char mit den Worten: „[Q]ue ›Retour amont‹, grâce à vous, ait une première fenêtre ouverte sur l’art allemand, c’est une précieuse clarté qui pénètre dans la nuit étrangère de ce livre.“191 Offensichtlich hat Char gehofft, dass auf Celans Übersetzung von Dernière marche192 aus dem Band Retour amont weitere folgen würden; sie ist jedoch die einzige geblieben. Ein möglicher Grund für Celans Auswahl mag darin liegen, dass in den anderen Gedichten ein affirmativer, im Vergleich zu Chars Résistance-Aphorismen Feuillets d’Hypnos sogar enthistorisierter Bezug zur provenzalischen Landschaft dominiert.193 Die geographische Verwurzelung von Chars Werk in seiner südfranzösischen Heimat steht konträr zu den poetologischen Prämissen Paul Celans, der als deutschsprachiger Jude aus der Bukowina seit 1948 im Pariser Exil lebte und arbeitete.194 Angesichts dieser Diskrepanz zwischen ihren poetologischen Ausgangspunkten, die Celan Mitte der sechziger Jahre gravierender denn je wahrgenommen haben muss, erscheint es plausibel, dass er sich verstärkt mit Texten von Lyrikern beschäftigt hat, deren Poetiken seiner eigenen näher standen. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre radikalisiert sich Celans Sprachduktus. Neben der fortschreitenden Verknappung und Verdichtung lässt sich ein verstärkter Einsatz wissenschaftlicher Fachtermini 191 Brief vom 25. Juli 1966. DLA: Celan D 90.1.1295/29. 192 Neben Dernière marche hat Celan noch ein weiteres Gedicht von Char in Strophenform übersetzt, es heißt im Deutschen An *** . In: Celan: GW 4, 592 f. Gegenüber den CharÜbersetzern Johannes Hübner und Lothar Klünner hat Celan die Hoffnung artikuliert, seine Verständnisschwierigkeiten bei der Lektüre von Chars Gedichten zu überwinden: „Sollte es nicht doch einen Schlüssel zur Poesie René Chars geben, einen Schlüssel, der zu den hermetischen Texten einen Zugang verschafft?“ Vgl. Lothar Klünner: Schritte mit René Char. In: Die Neue Rundschau 90 (1979), Heft 3, S. 361–374, hier S. 361. 193 In Celans nicht abgeschicktem Brief an René Char vom 6. Januar 1960 ist das Motiv der provenzalischen Landschaft negativ konnotiert: „René Char! […] Le temps s’acharne contre ceux qui osent être humains – c’est le temps de l’anti-humain. Vivants, nous sommes morts, nous aussi. Il n’y a pas de ciel de Provence; il y a la terre, béante et sans hospitalité; il n’y a qu’elle. Point de consolation, point de mots. La pensée, c’est une affaire de dents. Un mot simple que j’écris: cœur. Un chemin simple: celui-là. René Char, il y a ce cheminlà, c’est le seul, ne le quittez pas. (Vous l’avez quitté, je vous ai vu le quitter, vous avez su nous faire mal, à la légère, vous nous avez peiné, alors que la peine vous avait ouvert nos cœurs.) Ai-je le droit de vous dire ceci ? Je ne sais. Je vous le dis. Ajoutez-y un mot ou un silence. Je vous adresse ces mots – qui sont mes mots – après la mort d’Albert Camus. Soyez vrai, toujours. Paul Celan.“ DLA: Celan D 90.1.735/1. In seinem Brief an seine Frau vom 26. Oktober 1965 aus L’Isle-sur-Sorgue in Südfrankreich berichtet Celan von seinem Vorhaben, Char zu besuchen. Er schreibt: „L’idée m’est venue d’aller voir Char. [...] Pris la Route de Saumane, trouvé la maison de Char – il n’y était pas. C’est bien ainsi. J’ai [...] revu ce paysage provençal que je ne sais point aimer sans vous.“ In: PC/GCL 1, S. 317. 194 Vgl. dazu Celans Gedicht In der Luft: „In der Luft, da bleibt deine Wurzel, da, / in der Luft.“ In: Celan: KG, S. 166.

3.3 Intensivierung und „dichterische Wörtlichkeit“

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feststellen.195 Gegen Chars ästhetisierende Tendenzen stellt Celan seine Forderung einer „Poesie aus unpoetischem Material, einer Kunst aus radikaler Kunstlosigkeit“196, die er bei Henri Michaux verwirklicht sieht. Die Konstellation zwischen Celan und dem 1899 in Belgien geborenen Autor steht im Zentrum des folgenden Kapitels.

3.3 Intensivierung und „dichterische Wörtlichkeit“: Celan als Übersetzer von Henri Michaux Im Jahr 1966 übersetzt Paul Celan nicht nur das Gedicht Dernière marche von René Char, sondern gibt auch den ersten Band der deutschen Werkausgabe von Henri Michaux mit dem Titel Dichtungen, Schriften 1 heraus, für die er und Kurt Leonhard seit 1962 Übersetzungen angefertigt haben.197 Offensichtlich will Celan von nun an für Michaux und dessen Werk jene literarische Vermittlerrolle übernehmen, die er vorher für Char ausgeübt hatte.198 Celan und Michaux waren seit Ende der fünfziger Jahre miteinander bekannt, wie ein Brief von Michaux an Celan vom 11. Februar 1959 belegt, in dem es heißt:199 „J’ai gardé en moi l’impression de notre rencontre mais pourquoi est-il si incroyablement difficile de trouver des traductions de vos poèmes?“200 Während Chars lyrische Texte in den sechziger Jahren verstärkt zu einem pathetischen, von Apostrophen geprägten Gestus tendieren, trifft Celan in Michaux auf einen „radikal[en] Poetologe[n] der Abwei-

195 Pennone (2007), S. 482. 196 Böschenstein (1981), S. 410. 197 Henri Michaux: Dichtungen, Schriften 1. Aufgrund der von Henri Michaux unter Mitwirkung von Christoph Schwerin getroffenen Auswahl in Übertragungen von Kurt Leonhard und eigenen Übertragungen hrsg. von Paul Celan. Frankfurt am Main 1966. – Im vorliegenden Kapitel werden nur Celans eigene Übersetzungen untersucht, da seine Zusammenarbeit mit Kurt Leonhard methodologische Fragen aufwirft, die den Rahmen der Analysen dieser Studie überschreiten. Zur gemeinsamen Übersetzungsarbeit von Celan und Leonhard vgl. FN, S. 509. 198 In seinem Brief an Celan vom 9. Juli 1962 drückt Michaux dafür seine Dankbarkeit und Anerkennung aus: „Cher Paul Celan, il me faut à présent payer le prix de trop de rêveries et de trop peu d’études. KONTRA! (titre admirable sans doute meilleur que ›Contre!‹). Je reste devant ce bâtiment, sans pouvoir en devenir maître, devant cette structure, qui pourtant se (dresse), si solide, si sure, certainement. Mais autant est forte mon ignorance, autant est forte ma confiance dans le poète traducteur – En cette langue qui ne veut se révéler à moi qu’avec irrégularité, je sens pourtant mon être complètement reconstitué. Merci. Amicalement H. Michaux.“ In: DLA: Celan D 90.1.1969/2. 199 FN, S. 517. 200 DLA: Celan D 90.1.1969/1.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

chung“,201 dessen skeptisch-zynischer Blick auf die Wirklichkeit sein Interesse weckt.202 Angesichts der geradezu gegensätzlichen poetologischen Positionen von Char und Michaux lässt sich Celans Neu- oder Umorientierung bei der Rezeption zeitgenössischer französischer Lyrik als Indikator für eine bestimmte Entwicklungsphase seiner eigenen Poetik nehmen.203 Dem engen Bezug zwischen Chars lyrischem Werk und seiner provenzalischen Heimat stehen bei Michaux die Abkehr von seinem Geburtsland Belgien und seine ausgedehnten Reisen nach Asien und Südamerika gegenüber, die auch in seinen Texten Niederschlag gefunden haben.204 Auch wenn Michaux’ Entwurzelung und die daraus entstehende Rastlosigkeit nicht mit Celans eigener Situation als deutschsprachiger jüdischer Exilant in Paris vergleichbar sind, so lässt sich in der Skepsis gegenüber einer affirmativ regional geprägten Selbstverortung doch eine Gemeinsamkeit erkennen, die für ihre fraternité poétique bedeutsam gewesen sein dürfte. Ungeachtet des besonderen Interesses, das Celan und Michaux gegenseitig für ihre literarischen Werke gehegt haben, zeichnen sich in ihrer Korrespondenz auch konflikthafte Aspekte ab, die das ambivalente persönliche Verhältnis der beiden Autoren markieren. Zwei Aussagen, die inhaltlich unvereinbar erscheinen, seien hier exemplarisch gegenübergestellt: Bei der einen handelt es sich um den Ausschnitt eines nicht abgesandten Briefes von Celan an den französischen Literaturwissenschaftler Jean Starobinski vom 3. Mai 1965. Dieses Schreiben steht im Zusammenhang mit Celans Besuch bei einem Pariser Psychiater, der ihm von Michaux empfohlen worden war:205 Mais voici les choses redevenues très, très dures pour moi: le médecin qui me traite, sur la recommendation de Michaux, le Docteur Mâle,206 n’a pas ma confiance. Je sens bien, et sais bien, que j’ai eu tort de faire ce pas, sur le conseil d’un écrivain au fond étranger à tout ce que je suis, tout ce que je pense, tout ce que je sens.207

Bei der zweiten Aussage geht es um einen etwa sechs Monate später verfassten Brief an Michaux, der Celans Hochachtung für dessen literarisches 201 Böschenstein (1981), S. 410. 202 Vgl. dazu Böschenstein (1981, S. 410): „Nur solche kompromißlose Fremdheit [wie die von Michaux] ließ Celan zuletzt gelten. Viele andere Dichterfreundschaften hielten dieser Forderung nicht stand.“ 203 Vgl. Böschenstein (1982), S. 313. 204 Zu Michaux’ Biographie vgl. Martin (2003). 205 In Michaux’ Brief an Celan vom 15. Januar 1965 heißt es: „Le Dr Mâle (8, rue Bellechasse) que j’ai pu joindre hier se tient à votre disposition.“ DLA: Celan D 90.1.1969/3. 206 Hinter diesem Namen verbirgt sich der Psychiater und Psychoanalytiker Serge Lebovici (1915–2000). Vgl. PC/GCL 2, S. 209. 207 PC/GCL 2, S. 208.

3.3 Intensivierung und „dichterische Wörtlichkeit“

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Werk unterstreicht und seine Verantwortung für die Vermittlung desselben an das deutschsprachige Publikum. Am 5. November 1966, einige Tage nachdem er eine Auswahl seiner Michaux-Übertragungen für den Norddeutschen Rundfunk gelesen hatte, schreibt er an den französischen Autor:208 „Votre œuvre, maintenant, est multiplement visible dans les pays de langue allemande et je pense qu’elle ne manquera pas d’agir en profondeur, d’homme à homme.“ 209 Offensichtlich ist Celan die Vermittlung von Michaux’ Texten an das deutschsprachige Publikum ein persönliches Anliegen; eine Haltung, die sich mit der Formulierung aus dem Brief an Starobinski nicht vereinbaren lässt. An dieser Stelle lässt sich daher festhalten, dass Celans fraternité zu Michaux trotz gemeinsamer poetologischer Schnittpunkte anscheinend alles andere als konfliktfrei gewesen ist. Celans Michaux-Übersetzungen haben in der Forschung eine durchaus heterogene Bewertung und Einordnung erfahren: Dominierte in den siebziger und achtziger Jahren die Annahme, Celan habe sich bei den Übertragungen von Michaux’ Texten ausschließlich um „Wörtlichkeit“210 und eine „karge Präzision“211 bemüht, so hat Mathilde Lefebvre in der bislang einzigen umfangreichen Studie zu Celan und Michaux überzeugend dargelegt, dass Celan seine Michaux-Übersetzungen mit Hilfe verschiedener Strategien individuell akzentuiert hat.212 Im Anschluss an die Untersuchungen Lefebvres soll an ausgewählten Übersetzungsbeispielen deutlich gemacht werden, dass Celan nicht nur punktuell, sondern immer auch mit Blick auf den jeweiligen Textzusammenhang bestimmte Aspekte von Michaux’ Texten intensiviert und auf diese Weise eigene Lesarten gestaltet. Dabei zeigen sich „einige für seine Poetik typischen stilistischen Merkmale wie Wiederholungen, Inversionen, Parataxe, Worttrennungen, die Tendenz, dialogische Strukturen zu intensivieren und Komposita zu bilden“.213 Anhand der Genese der Übersetzungen zweier Michaux-Gedichte, Ecce Homo und Haine, lässt sich nachvollziehen, mit welchen Strategien Celan seine Übersetzerstimme in der deutschen Textfassung markiert hat.

208 Die Lesung für den NDR, bei der Celan auch Texte von Alexander Blok vortrug, fand am 16. Oktober 1966 in Hamburg statt. Siehe PC/GCL 2, S. 562. 209 PC/GCL 2, S. 563. 210 Beese (1976), S. 9. 211 Böschenstein (1988), S. 222. 212 Vgl. Lefebvre (1997). Schon Harald Weinrich hat in seiner Rezension des ersten Bandes der Michaux-Werkausgabe Celans Verwendung von Neologismen betont, z. B. „›ohneschlafen‹, ›seidenschlipsen‹, ›nullig‹, und ›Von-heute-Leute‹“. In: Harald Weinrich: Entdecken wir Henri Michaux. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Oktober 1966. Beilage Bilder und Zeiten, S. 5. 213 Pennone (2008), S. 193.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Michaux’ Gedicht Ecce Homo 214 (1943) aus dem Band Epreuves, exorcismes (1945) liest sich als lyrisch verdichtete Dystopie über die Menschheit als eine Ansammlung desorientierter Individuen, die mit den Erkenntnisinstrumenten von Philosophie und Wissenschaften erfolglos versuchen, ihren Platz in der Welt zu bestimmen, und deren Existenz von Krieg, Zerstörung und Aggressivität geprägt ist. Die Desillusionierung des Sprecher-Ich kulminiert in der Evokation eines fragilen, ausgehöhlten Friedens, der alle an ihn gerichteten Erwartungen von vornherein sabotiert. Im Original lautet die finale Klimax: Et c’était la paix, la paix assurément, un jour, bientôt, la paix comme il y en eut déjà des millions, une paix d’hommes, une paix qui n’obturerait rien. Voici que la paix s’avance semblable à un basset pleurétique et l’homme plancton, l’homme plus nombreux que jamais, l’homme un instant excédé, qui attend toujours et voudrait un peu de lumière ...215

Celan übersetzt den Abschnitt wie folgt: Und es war der Friede, ja, ganz bestimmt der Friede, eines Tages, bald, der Friede, wie es seiner schon Millionen gegeben hatte, ein Friede, der nichts verschließen würde. Und da rückt nun der Friede heran, kommt dahergewackelt wie ein pleuretischer Dackel, und der Planktonmensch, der Mensch so zahlreich wie noch nie, der Mensch, dem es für einen Augenblick zuviel geworden war, der da immerzu wartet und gerne ein bißchen Licht hätte ...216

Besonders aufschlussreich für die Identifizierung von Celans Übersetzungsstrategien ist die paradoxe Wendung „Und da rückt nun der Friede heran, kommt dahergewackelt wie ein pleuretischer Dackel“. Hier überlagern sich zwei sprachliche Operationen, die beide auf eine Zuspitzung und Verstärkung des Vergleichs zwischen dem Frieden und einem kranken Hund abzielen. In einem ersten Schritt spaltet Celan das zentrale Verb „s’avancer“ (dt. „voranschreiten, sich vorwärts bewegen“) in zwei verschiedene Bewegungsabläufe auf und differenziert dadurch das Motiv des personifizierten Friedens. Die erste Bewegung, das „Heranrücken“, lässt den Frieden wie eine Kriegsarmee auftreten und untergräbt damit die Vorstellung einer Versöhnung. Dieses bedrohliche, militärische Vorrücken des Friedens wird anschließend in der zweiten Bewegung des ›Daherwackelns‹ durch den Reim „wackel“ / „Dackel“ ins Lächerliche gewendet.217 214 Michaux: Œuvres complètes 1, S. 792 f. 215 Ebd. 216 Celan: GW 4, S. 605/607. Siehe Erstabdruck: Henri Michaux: Ecce Homo. Übersetzt von Paul Celan. In: Almanach, das 77. Jahr. Unveröffentlichtes aus der Werkstatt des Verlages S. Fischer. Redaktion: J. Hellmut Freund und Klaus Wagenbach. Frankfurt am Main 1973, S. 125– 129. Die Übersetzung wurde nicht in den Band Dichtungen, Schriften 1 aufgenommen. Vgl. Lefebvre (1997), S. 27 f. 217 Der Einwand von Lefebvre (1997), „l’image du basset qui tortille son train [...] risque peut-être de donner trop de vitalité au chien malade en question“ (S. 27) trifft m. E. nicht

3.3 Intensivierung und „dichterische Wörtlichkeit“

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Celan entscheidet sich ganz bewusst dafür, das dem Original inhärente Paradox zu intensivieren, wie der Blick auf eine frühere Textstufe zeigt: Dort fehlt zum einen das militärische Element des Heranrückens und zum anderen steht die wörtliche Übersetzung des Verbs „s’avancer“ (›nach vorn kommen‹ bzw. ›daherkommen‹) noch als Alternative zum Reim „wackel – Dackel“: Und da kommt er nun heran/nach vorn, der Friede, kommt nach vorn/daher wie/dahergewackelt wie ein altersschwacher/pleuretischer Dackel.218

Das Aufspalten des Verbs „s’avancer“ in die Vorgänge des ›Heranrückens‹ und des ›Daherwackelns‹ lässt sich als ein „Aufrauhen“219 und ein Intensivieren des im Original angelegten Friedens-Motivs verstehen. Hier hat Celan nicht Wort für Wort übersetzt, sondern ein bereits vorhandenes poetisches Bild mit Hilfe des deutschen Wortmaterials auf sein inhärentes Paradox hin zugespitzt. In der Endfassung seiner Ecce Homo-Übersetzung entscheidet sich Celan einerseits gegen eine wörtliche Nachschrift, andererseits zieht er das Fremdwort „pleuretisch[]“ dem Adjektiv „altersschwach[ ]“ vor. Diese Form radikaler Wörtlichkeit durch den Einsatz von Fremdwörtern findet sich auch an anderen Stellen von Celans MichauxÜbersetzungen: z. B. in der Wendung „auf das profundeste“ („profondément“)220 oder in dem Vers „man wird euch den Bauch karessieren“ („on vous caressera le ventre“) in Michaux’ Text L’époque des illuminés.221 Hier schimmert die französische Sprache in der deutschen Textfassung durch und hebt den Sprachtransfer durch ein Irritationsmoment ins Bewusstsein. Der Bezug auf die Spezifika der französischen Sprache ist auch für Celans Übersetzung von Michaux’ Gedicht Haine aus dem Band Qui je fus (1927) bedeutsam, in der eine Strategie der ›dichterischen Wörtlichkeit‹ zum Tragen kommt.222 Diese zielt jedoch gerade nicht auf die Unsichtbarkeit des Übersetzers, sondern konturiert Celans Gedichtfassung als eine individuelle, die deutsche Sprache verfremdende Lesart. In seinem Text Haine verknüpft Michaux die polemische Kritik an bürgerlichen Lebensformen aus der Perspektive eines Schriftstellers mit Motiven der IchDissoziation und des Lebensüberdrusses. Das Original lautet wie folgt:

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ganz den Impetus von Celans Übersetzungsstrategie, die gerade auf ein Irritationsmoment abzielt. DLA: Celan D 90.1.413. Vgl. Böschenstein (1990, S. 10): „Bei der Erörterung [...] französischer Lyrik lag [Celan] vor allem daran, poetisierende Glättungen zu bekämpfen. Ein schönklingendes rhetorisches Kontinuum erregte in ihm Gegenvorschläge mit aufrauhender Wirkung.“ Vgl. Lefebvre (1997), S. 40. Beide Zitate in Celan: GW 4, S. 653. Vgl. Celans Brief an Werner Weber vom 26. März 1960. In: FN, S. 399.

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Haine

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quoi? rien je suis entouré de feux qui ne brûlent pas et puis haine! haine! failli du bras peut-être mais haine! je vous aurai un jour, gens d’aujourd’hui, ânes et buveurs de sang je suis copain des pierres qui tombent et des inondations et de la mer incessamment ouverte et qui ne demande qu’à noyer je vous déteste tous, ceux qui se tapent sur le ventre entre eux disant: le premier au deuxième: tu as raison le deuxième au troisième: tu as raison et tous les autres entre eux: tu as raison révolutionnaires en brigades et comités ou gens assis, actionnaires de la vieillesse de l’interminable et du cafard vous tous qui ne m’avez pas donné mon compte de viande haine! ah! quel métier! exercer dans les mots des mots courts des mots à longue articulation des mots qui finissent en pan, d’autres en one des phrases qui comportent des verbes ne pas oublier les verbes donner de la couleur aux verbes allez-y on s’amuse on se dorlote avec des rots combien de fois j’ai regardé la Grande Tasse me disant » ce sera pour ce soir « eh oui, et le soir j’étais toujours sur le rivage et j’écrivais ah! quel métier 223

Das Gedicht Haine inszeniert die Selbstreflexion eines Sprecher-Ich, das sich im Verlauf des Textes als Schriftsteller zu erkennen gibt. In einer gesellschaftskritischen, aus Drohungen und Anklagen bestehenden Schimpftirade werden verschiedene Berufs- und Karrierebilder karikiert, deren Vertreter den titelgebenden „Hass“ des Sprechers auf sich ziehen. Die ressentimentgeladene Abgrenzung von den Angesprochenen koinzidiert mit der Selbstcharakterisierung des Sprecher-Ich, wenn es heißt: „je suis copain des pierres qui tombent et des inondations / et de la mer incessamment ouverte et qui ne demande qu’à noyer“ (V. 8 f.). Das hier angedeutete Motiv des Freitods durch Ertrinken wird in der Schluss-Strophe 223 Michaux: Haine. In: Ders.: Dichtungen, Schriften 1, S. 42 bzw. Michaux: Œuvres complètes 1, S. 116.

3.3 Intensivierung und „dichterische Wörtlichkeit“

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wieder aufgegriffen und mit einer zynischen Reflexion auf den Schriftstellerberuf verknüpft. Dort stellt der Sprecher seine immer wiederkehrenden Freitodgedanken aus, von deren Umsetzung ihn allein das Schreiben abhält. Celans deutsche Fassung lautet wie folgt: Hass

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Was? Nix Ich bin umgeben von Feuern, die brennen nicht. Und dann: Haß! Haß! Im Stich gelassen vom Arm, mag sein, doch: Haß! Ich krieg euch schon noch eines Tags, ihr Von-heute-Leute, ihr Eselshäute und Blutsäufer. Ich bin der Kumpan der fallenden Steine und der Überschwemmungen und des pausenlos offenstehenden Meers, das nichts weiter wünscht als zu ertränken ich hasse euch alle: alle, die sich gegenseitig den Bauch beklapsen und sagen: der erste zum zweiten: du hast recht der zweite zum dritten: du hast recht und alle zueinander: du hast recht, Ausschuß- und Brigaderevolutionäre oder Sitzleute, Wertpapierler der Altersversorgung, des Nichtendenwollenden und der Trübsal, euch allen, die ihr mir das Fleisch nicht gegeben habt, das mir zusteht –: Haß! Ah! welch ein Beruf! In Worten auszuüben, kurzen, langgelenkigen, Worten mit ›ekk‹ und ›tion‹ im Auslaut, in Sätzen mit Verben darin, den Verben Farbe geben und Kolorit, los, lustig, rülpsergehätschelt Wie oft habe ich doch die Große Tasse angesehen und mir gesagt: heut abend ist es soweit, na ja, und am Abend war ich dann am Ufer wie eh und je und schrieb ah! welch ein Beruf 224

224 Erstpublikation in: Michaux: Dichtungen, Schriften 1, S. 41/43. Auch in: Celan: GW 4, S. 657/659.

222

3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Celans deutsche Fassung des Gedichts Haine sticht insofern aus dem umfangreichen Michaux-Übersetzungskorpus hervor, als sie nicht nur punktuelle Eingriffe aufweist, sondern dem Gedicht insgesamt durch systematische Umakzentuierungen eine eigene Lesart verleiht. Celan hat von Michaux’ zynisch gestimmter Reflexion auf das Schreiben eine deutsche Fassung angefertigt, die sich der oberflächlichen Lektüre entzieht, indem sie den Leser mit sprachlichen Verfremdungsstrategien von der wörtlichen Umschrift bis zur Neologismenbildung konfrontiert. Dabei lotet Celan im Deutschen die Möglichkeiten des bei Michaux vorgeprägten umgangssprachlichen Sprechens aus, das seinen eigenen Gedichten bis dato fremd war. Die ersten Verse von Hass klingen bei Celan fast noch flapsiger als bei Michaux: „Was? / Nix / Ich bin umgeben von Feuern, die brennen nicht.“ (V. 1–3) Den starken Einfluss, den die Lektüre von Michaux’ Gedichten auf ihn ausgeübt hat, betont Celan in einem Brief an Alfred Margul-Sperber vom 7. Dezember 1966. Dort heißt es: (Eben, vom aufgeschlagenen Michaux her – Sie waren, vor zwanzig Jahren der erste, der mich auf ihn aufmerksam machte, und dabei gab es ja damals nur zwei, drei Stücke in Reichweite –, kommt uns und damit auch diesen Zeilen, ein ›Prince de la Nuit‹ und ein ›Contre‹ dazwischengefahren, richtungsweisend und richtungszerstörend zugleich.) 225

Vor dem Hintergrund dieses Briefzitats lässt sich der Einsatz umgangssprachlicher Wendungen durchaus als ein neues Element von Celans poetischem Ausdruck bezeichnen, das im Zusammenhang seiner MichauxÜbersetzungen steht.226 Neben der Umgangssprache sind für Celans Haine-Fassung auch Strategien wörtlichen Übersetzens charakteristisch, die an den Scharnierstellen von Michaux’ Schimpftirade Fremdheitseffekte generieren. Ob und inwiefern diese motiviert erscheinen, muss im Einzelnen untersucht werden. So z. B. in der ersten Ansprache des lyrischen Ich an seine Widersacher, die im Deutschen klanglich und semantisch neu akzentuiert wird: „Ich krieg euch schon noch eines Tags, ihr Von-heute-Leute, / ihr Eselshäute und Blutsäufer.“ (V. 7–8) Ausgehend von der wörtlichen Übersetzung der Wendung „les gens d’aujourd’hui“ (V. 7), „die Leute von heute“, die Celan zu dem Kompositum „Von-heute-Leute“ verdichtet, verknüpft er drei Apostrophen in einer Klangkette miteinander: Mit seinem phonetischen Assoziationspotential determiniert der Schlagreim „heute-Leute“ die deut225 Paul Celan: Briefe an Alfred Margul-Sperber. In: Neue Literatur. Zeitschrift für Querverbindungen 26 (1975), Heft 7, S. 50–63, hier S. 61. Dieses Zitat belegt, dass Celan Michaux’ Texte schon lange gekannt hat, bevor er sich dazu entschloss, sie ins Deutsche zu übersetzen. 226 Böschenstein (1982, S. 318) betont, „daß Celans allerletzte Gedichtbände ohne Michaux kaum entstanden wären. Er hat ihn wohl ermutigt, auf die einstigen beschwörenden Töne zu verzichten.“

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sche Entsprechung der zweiten Apostrophe „ânes“, die bei Celan nicht einfach „Esel“, sondern „Eselshäute“ lautet und Michaux’ Schimpftirade um eine semantische Dimension erweitert. Eine mögliche Deutung dieses von Celan hinzugefügten Elements lässt sich durch den Umweg über den idiomatischen Ausdruck „peau d’âne“ erschließen, der in der französischen Umgangssprache als pejorative Bezeichnung für ein Universitätsdiplom fungiert.227 Im Deutschen existiert die Wendung „Eselshäute“ nicht. Ihr Einsatz in Celans Übersetzung stellt den Leser daher vor eine doppelte Herausforderung: Zum einen lässt die deutsche Fassung eine französische Redewendung durchschimmern, zum anderen nimmt sie eine metonymische Verschiebung vor, indem sie die Objektbezeichnung „Eselshäute“ auf Menschen anwendet („ihr Eselshäute“). Während Michaux selbst von „Eseln“ spricht, radikalisiert Celan diese Entpersonalisierung noch zusätzlich durch den Begriff „Eselshäute“, der die Menschen auf ihre als wertlos angesehenen akademischen Zeugnisse reduziert. Dass auch die dritte Apostrophe „Blutsäufer“ über den Doppelvokal klanglich mit den vorausgehenden Anredeformeln („Von-heute-Leute“; „Eselshäute“) verbunden wird, unterstreicht noch einmal die Relevanz, die Celan der klanglichen Gestaltung des deutschen Verses beimisst, zumal die französische Vorlage an dieser Stelle keine Gleichklänge aufweist. In einer zweiten Aneinanderreihung von Schimpfwörtern, die das Sprecher-Ich gegen die Angesprochenen vorbringt, verbirgt sich ein weiteres produktives Irritationsmoment von Celans Übersetzung: Ausschuß- und Brigaderevolutionäre oder Sitzleute, Wertpapierler der Altersversorgung, des Nichtendenwollenden und der Trübsal 228

Celan bildet für den Ausdruck „gens assis“ das Kompositum „Sitzleute“, das die übertragene Bedeutung der französischen Wendung „assis“ im Sinne von ›etabliert‹ oder ›von hohem gesellschaftlichem Rang‹ tilgt, und gibt damit die Führungskräfte der Lächerlichkeit preis: Ihr Distinktionsmerkmal besteht allein im passiven Sitzen in Chefsesseln. Das Kompositum „Sitzleute“ wiederum ist das Ergebnis einer Neubearbeitung, wie ein Blick auf eine frühere Fassung von Celans Übersetzung zeigt. Dort heißt es: „Revolutionäre in Brigaden und Ausschüssen / oder sitzende Leute, Aktionäre des Alters, des / Endlosen und der Unlust“.229 Auch in diesem 227 Vgl. den entsprechenden Eintrag „peau d’âne“: „fam. ou péj.: diplôme.“ In: Le Petit Robert, S. 92. Vgl. auch den Eintrag „peau d’âne“: „par dérision, diplôme universitaire ne prouvant qu’un faux savoir.“ In: Trésor de la langue française: dictionnaire de la langue du XIXe et du XXe siècle (1789–1960), Bd. 2. Publié sous la direction de Paul Imbs. Paris 1973, S. 975. 228 Celan: GW 4, S. 657. 229 DLA: Celan D 90.1.427.

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Textstadium wird jedoch bereits die wörtliche Bedeutung des Ausdrucks „gens assis“ in den Vordergrund gerückt. Michaux’ Reflexion auf das „métier“ des Schriftstellers (V. 18; 31), das von den Berufsbildern der Karrieristen abgegrenzt wird, nimmt Celan zum Anlass, sein eigenes übersetzerisches Tun im Medium der Übersetzung zu kommentieren. Die „mots courts“ und die „mots à longue articulation“ (V. 22), in denen das Sprecher-Ich das sprachliche Material seiner Tätigkeit erkennt, deutet Celan zu „kurzen“ bzw. „langgelenkigen“ Worten um. Mit den „langgelenkigen“ Worten verweist er implizit auch auf die von ihm bevorzugten mehrgliedrigen und zum Teil neugebildeten Komposita. Celans Verfremdungsstrategie macht sich dabei die Polysemie des Begriffs „articulation“ zunutze, der im Französischen nicht nur die Aussprache eines Wortes, sondern auch das Gelenk bezeichnen kann: linguistisches und anatomisches Vokabular überschneiden sich. In seiner Übersetzung reduziert Celan den Begriff auf seine anatomische Dimension, wenn er in dem Adjektiv „langgelenkig“ den von Michaux fokussierten Aspekt der Aussprache tilgt. Dafür betont Celan diesen in der Übersetzung des nächsten Verses umso stärker, wenn er den linguistischen Fachterminus „Auslaut“ einfügt, der im Original nicht angelegt ist. Im selben Vers ersetzt Celan die in einer früheren Übersetzungsfassung wörtlich übernommenen Auslaute („[in] Worten auf ›pan‹, Worten auf ›one‹“ 230) durch neue Lösungen, wenn es heißt: „[in] Worten mit ›ekk‹ und ›tion‹“. Die letzten Verse der zweiten Strophe von Celans Gedichtfassung folgen streng der Struktur des Originals und reproduzieren die Abfolge von zwei kurzen Versen und einem langen Vers. Celan unterstreicht diese Opposition, indem er die Verse „allez-y / on s’amuse / on se dorlote avec des rots“ (V. 25–28) verknappt und auf je ein Einzelwort reduziert: „los, / lustig, / rülpsergehätschelt“. Auch das zweigliedrige (›langgelenkige‹) Adjektiv „rülpsergehätschelt“231 entstammt einem Kondensationsvorgang; in einer früheren Textstufe hieß es: „hätschelt sich mit Rülpsern“.232 Nicht nur in seiner Eigenschaft als Kompositum ist der Begriff „rülpsergehätschelt“ auffällig, sondern auch wegen eines Übersetzungsfehlers: Celan übersetzt „rôt“ mit „Rülpser“ (frz. „rot“) statt mit „Braten“; auch die entsprechende Stelle in Michaux’ Gedicht ist in der von Celan besorgten zweisprachigen Ausgabe 230 Ebd. 231 Auch in Celans Übersetzung von Michaux’ Text Ecce Homo findet sich ein zweigliedriges Adjektiv, das im Übersetzungsprozess transformiert wird. Im Original heißt es: „Je n’ai pas entendu l’homme les yeux humides de piété dire au serpent qui le pique mortellement: ›Puisses-tu renaître homme et lire les Védas!‹“ In der ersten Fassung wird der Ausdruck „les yeux humides de piété“ von Celan wie folgt übersetzt: „mit fromm-feuchten Augen“ (DLA: Celan D 90.1.413). In der Endfassung lautet die Wendung dann „mit frömmigkeitsfeuchten Augen“. In: Celan: GW 4, S. 598. Vgl. dazu Lefebvre (1997), S. 20. 232 DLA: Celan D 90.1.427.

3.3 Intensivierung und „dichterische Wörtlichkeit“

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Dichtungen, Schriften 1 falsch wiedergegeben („rot“ statt „rôt“).233 Dass Celan sich der divergierenden Bedeutungen der beiden homophonen, aber nicht homographen Wörter bewusst war, lässt sich durch einen Übersetzungsentwurf belegen, in dem der Begriff „bratengehätschelt“234 steht. Ob Celan sich in der Druckfassung absichtlich für die falsche Vokabel entschieden hat, und wenn ja, aus welchem Grund, lässt sich aufgrund der Materiallage nicht rekonstruieren. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die Gestaltung der vier Verse umspannenden Kette von l-Alliterationen und Gleichklängen, in die Celan die im Original anaphorisch angelegten Verse 26 und 27 überführt, mit beiden Übersetzungsvarianten möglich gewesen wäre, auch wenn die Wahl des Wortes „Rülpser“ die klangliche Gestaltung der betreffenden Gedichtpassage noch zusätzlich intensiviert, wenn es heißt: „Kolorit, / los, / lustig, / rülpsergehätschelt“235 [Hervorhebung A. S.]. Auffällig ist in der deutschen Gedichtfassung zudem die Auslassung des Verses „ne pas oublier les verbes“ (V. 23).236 Sie ließe sich als Kulminationspunkt von Celans Selbstkommentierungen deuten, da er als Übersetzer die im Original artikulierte Aufforderung, ›nicht die Verben zu vergessen‹, ostentativ ignoriert. Allerdings lässt sich nicht abschließend klären, ob eine beabsichtigte Tilgung oder vielmehr ein Versehen vorliegt. In der Schluss-Strophe der deutschen Übersetzung werden die Rezeptionsgewohnheiten des Lesers durch die latente Präsenz der französischen Sprache irritiert, wie sie Celan auch in dem auf eine französische Redewendung rekurrierenden Begriff „Eselshäute“ (V. 7) eingesetzt hat. Original und Übersetzung lauten: combien de fois j’ai regardé la Grande Tasse me disant » ce sera pour ce soir « eh oui, et le soir j’étais toujours sur le rivage et j’écrivais ah! quel métier Wie oft habe ich doch die Große Tasse angesehen und mir gesagt: heut abend ist es soweit, na ja, und am Abend war ich dann am Ufer wie eh und je und schrieb ah! welch ein Beruf 237

233 Vgl. Michaux: Haine. In: Ders.: Dichtungen, Schriften 1, S. 42 bzw. Celan: GW 4, S. 658. In der Michaux-Ausgabe der Éditions de Pléiade findet sich die Schreibweise „rôt“ ohne Angabe von Varianten. Vgl. Michaux: Œuvres 1, S. 116. Auch das Exemplar der Erstausgabe von Michaux’ Band Qui je fus, das in Celans Bibliothek erhalten ist, enthält die korrekte Schreibweise („on se dorlote avec des rôts“). Siehe Henri Michaux: Qui je fus. Paris 1927, S. 71. Vgl. dazu: FN, S. 507. 234 DLA: Celan D 90.1.427. 235 Vgl. Lefebvre (1997), S. 54. 236 Ebd. 237 Celan: GW 4, S. 659.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Wenn Celan die französische Wendung „la Grande Tasse“,238 eine umgangssprachliche Bezeichnung für das Meer, wörtlich mit „die Große Tasse“ wiedergibt, so entsteht in der deutschen Gedichtfassung ein Verfremdungseffekt. Denn anders als im Französischen existiert diese Wendung im Deutschen nicht und muss für den Leser, der mit der französischen Idiomatik nicht vertraut ist, zunächst unverständlich bleiben. Ob Celan diese Irritation intendiert hat oder ob ihm die feststehende Wendung der „langage populaire“ selbst nicht vertraut war und er sie deswegen wörtlich übernommen hat, lässt sich nicht abschließend klären. Offensichtlich war es Celan jedoch nicht darum zu tun, den Sinn der idiomatischen Wendung als solche ins Deutsche zu transponieren, denn sonst hätte er z. B. den in der deutschen Umgangssprache gebräuchlichen Ausdruck „der Große Teich“239 verwenden und damit das unmittelbare Verständnis seiner Übersetzung erleichtern können. Der von Celan gewählten Lösung „die Große Tasse“ kommt im Rahmen seiner Lesart von Michaux’ Gedicht jedenfalls eine bestimmte Wirkung zu. Denn mit dieser Wendung entsteht eine Art Palimpsest, das den französischen Ausdruck im Deutschen durchschimmern lässt. Dieser mag zwar für den deutschsprachigen Leser zunächst befremdlich wirken, kann aber im Kontext von Michaux’ Gedicht relativ leicht dechiffriert werden, zumal die Majuskel im Adjektiv „Große“ den feststehenden Ausdruck als solchen markiert. Ein weiteres Signal für den Leser ist die von Celan in Vers 29 eingefügte temporale Konjunktion „dann“, die den Bezug zwischen der „Großen Tasse“ und dem vom Sprecher-Ich erwogenen Selbstmord verdeutlicht: „und am Abend war ich dann am Ufer wie eh und je und schrieb“ (V. 29, im Original V. 30). Mit Hilfe des wörtlich übersetzten französischen Idioms fordert Celans Gedichtfassung den Leser dazu auf, sich das Meer nicht wie gewohnt als einen „Großen Teich“, sondern als eine überdimensionale Tasse vorzustellen und dieses neue Motiv in seine Vorstellungswelt zu integrieren. Als Übersetzer vermittelt Celan hier zwischen dem kalkulierten Einsatz von Irritationsmomenten auf der einen und der in seinem Brief an Karl Dedecius formulierten Forderung nach „Textnähe und Texttreue“240 auf der anderen Seite. Diese Spracharbeit, die er in einem nicht abgesandten Brief an den Michaux-Übersetzer Kurt Leonhard von 1962 als „dieses

238 Vgl. den Eintrag „Tasse“: „pop., fam. La grande tasse: La mer.“ In: Trésor de la langue française: dictionnaire de la langue du XIXe et du XXe siècle (1789–1960), Bd. 15. Publié sous la direction de Paul Imbs. Paris 1992, S. 1401. 239 Der umgangssprachliche Ausdruck „der Große Teich“ meint ausschließlich den Atlantischen Ozean. Vgl. Wahrig Deutsches Wörterbuch, Sp. 3685. 240 Celan: Brief an Karl Dedecius vom 31. Januar 1960.

3.3 Intensivierung und „dichterische Wörtlichkeit“

227

so ernste ›Spiel‹“241 bezeichnet hat, macht für Celan das „métier“ des Übersetzers aus. Dabei wirft die Präsenz der französischen Idiomatik in der vorliegenden Übersetzung die Frage nach Celans spezifischer Übersetzerposition vor dem Hintergrund seiner Mehrsprachigkeit auf. Das tägliche Nebeneinander von französischer und deutscher Sprache, das sein Leben und Arbeiten im selbstgewählten Pariser Exil seit 1948 prägt, spiegelt sich hier in Form eines wechselseitigen Anreicherungsprozesses zwischen den Sprachen. Mit George Steiner lässt sich von einem für mehrsprachige Autoren und Übersetzer charakteristischen „Kreuz-und-quer-Handel des Geistes“242 sprechen, der im Fall von Celans Michaux-Übersetzung eine produktive Wechselwirkung zwischen dem Französischen und dem Deutschen initiiert und im Rahmen der Gedichtübersetzung bedeutungspotenzierend wirkt. Mit seiner deutschen Fassung von Michaux’ Gedicht Haine stellt Celan der im Original vollzogenen Reflexion auf den Schriftstellerberuf ein Nachdenken über den Übersetzerberuf entgegen. Dominiert wird sein Vorgehen von Verfremdungstrategien: Mit Begriffen wie „Eselshäute“ oder „Große Tasse“ macht Celan seine Textfassung auf die Originalsprache und ihre Idiomatik hin transparent. Entsprechend lässt sich der von Celan in Vers 23 (im Original V. 24) hinzugefügte Begriff „Kolorit“ als Metakommentar verstehen, der sich auf seine eigene Methode des verfremdenden Übersetzens bezieht, die, wenn auch nur punktuell und unter neuen Vorzeichen, das Ideal einer „fremden Aehnlichkeit“243 zwischen Original und Übersetzung realisiert, wie es die Übersetzer in der deutschen Romantik verfolgt haben. Anders als in der damaligen Epoche beansprucht Celan für sein Verfremdungsverfahren jedoch keine Ausschließlichkeit, sondern kombiniert es mit anderen sprachlichen Operationen wie der Neologismenbildung. Im übersetzten Gedicht sind entsprechende Spuren des Übertragungsprozesses präsent. 241 Celan: Brief an Kurt Leonhard vom 2. Juli 1962. Zitiert nach: FN, S. 504. 242 George Steiner bezieht sich hier auf Samuel Davis, der den englischen MontaigneÜbersetzer John Florio eines „intertraffique of the minde“ gerühmt hat. Siehe George Steiner: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens. Deutsch von Monika Plessner unter Mitwirkung von Henriette Beese. Frankfurt am Main 2004, S. 141. – Das Phänomen mehrsprachiger Autoren rückt in den letzten Jahren immer stärker in den Fokus der komparatistischen Forschung. Dabei werden nicht nur mehrsprachige literarische Texte zum Untersuchungsgegenstand (z. B. Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan oder Elias Canettis Reiseaufzeichnungen Die Stimmen von Marrakesch, vgl. dazu Radaelli (2011)), sondern auch zeitgenössische Autoren, die in zwei Sprachen schreiben und sich teilweise auch selbst übersetzen, wie z. B. Georges-Arthur Goldschmidt (vgl. dazu Trzaskalik (2007)). Zum Phänomen der interkulturellen Literatur in Deutschland seit den fünfziger Jahren vgl. die grundlegende Studie von Chiellino (2000). 243 Zum Ideal der „fremden Aehnlichkeit“ bei Friedrich Schleiermacher vgl. Kap. 1.1.

228

3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Die poetische Interaktion vollzieht sich in Celans Übersetzungsvorgang auf zwei Ebenen: einmal als „rapport dialogique entre langue étrangère et langue propre“244, einmal als Wechselspiel zwischen zwei Texten, dem Original und der Übersetzung. Hat Celan René Chars erweitertes Idiom „Ardélions [de l’espace mental]“ analog wiedergegeben („HansDampf-in-allen-Geistesgassen“),245 so vollzieht er in der MichauxÜbersetzung mit Wendungen wie „Eselshäute“, „Sitzleute“ und „Große Tasse“ einen entgegengesetzten Vorgang der Verfremdung. In der Michaux-Übertragung reflektiert Celan die Ambivalenzen und Paradoxien des Sprachtransfers: nur ein zweisprachiger Leser wäre in der Lage, alle Dimensionen seiner Fassung des Gedichtes Hass unmittelbar zu entschlüsseln. Die Reflexion auf die Frage der (Un-)Übersetzbarkeit von Gedichten, wie sie auch in der deutschen Fassung von Michaux’ Gedicht Haine problematisiert wird, hat bei Celan in seltenen Fällen sogar zum Verzicht auf das Übersetzen geführt.246 Auch als Michaux-Übersetzer hat Celan eine solche Entscheidung ganz bewusst getroffen, als er sich im Jahr 1968 gegen eine Übertragung von Michaux’ Langgedicht Vers la complétude (Saisie et Dessaisies)247 ausgesprochen hat, das er für unübersetzbar hielt.248 Celans Beschäftigung mit dem literarischen Werk von Michaux führt, wenn man so will, nicht zu einer „complétude“, einer Vollendung, sondern bleibt stets von Widersprüchen und Konflikten gekennzeichnet.249 Gleichzeitig 244 Berman (2002), S. 23. 245 Vgl. Kap. 3.2.3. 246 Vgl. in Kap. 3.2 den nicht abgesandten Brief an René Char vom 22. März 1962. In: DLA: Celan D 90.1.735/3. 247 Michaux: Œuvres complètes 3, S. 744–752. 248 Bei Bernhard Böschenstein (1982, S. 315) heißt es dazu: „Nie habe ich Celan so überzeugt von einem zeitgenössischen Gedicht gefunden wie im Januar 1968, als er mich aufforderte, Michaux’ Text ›Vers la complétude‹ (mit dem Untertitel ›Saisie et Dessaisies‹) mir zu beschaffen. [...] Ich fragte ihn, ob er [ihn] nicht übersetzen wolle – er fand ihn zu schwierig dazu.“ 249 Hier lässt sich die Frage anschließen, ob Celans Widmungsgedicht an Henri Michaux, Die entzweite Denkmusik (Celan: KG, S. 271), das am 28./29. Juni 1966 entstanden ist, als poetische Reflexion über sein von Widersprüchen geprägtes Verhältnis zu dem französischen Lyriker zu deuten wäre. Anders als Celans Widmungsgedicht für René Char, Argumentum e silentio (1954), das sich als poetologische Reflexion und gleichzeitig als Dokument der ambivalenten Beziehung zwischen Verfasser und Widmungsträger lesen lässt (vgl. Kap. 3.2.4), bleibt das Michaux zugeeignete Gedicht Die entzweite Denkmusik rätselhaft. Entstanden auf Anfrage von Raymond Bellour, Herausgeber der Cahiers de l’Herne, wurde es im Juni 1966 in einer Henri Michaux gewidmeten Sonderausgabe abgedruckt. In seinen Band Fadensonnen (1968) hat Celan den Text hingegen nicht aufgenommen. Auffällig sind die gegenläufigen Motive der Verdopplung und Entzweiung („die entzweite Denkmusik“ bzw. „die unendlich gedoppelte Schleife“), die sich auch in Celans Übersetzung von Michaux’ Gedicht Prince de la Nuit (Celan: GW 4, S. 712) finden, z. B. in Wendungen wie „Fürst des Doppelten“ oder „Fürst [...] vom entzweiten Reich“ (Celan: GW 4, S. 713).

3.4 Celans Übersetzungsentwürfe aus dem Werk von Yves Bonnefoy

229

zeugen die vielfältigen Strategien seiner Übersetzungen wie Sprachverfremdung oder Zuspitzung von Celans intensiver Auseinandersetzung mit Michaux’ Werk, dessen Einflüsse für sein eigenes lyrisches Schreiben „richtungsweisend“ und „richtungszerstörend“ gewesen sind.250

3.4 Celans Übersetzungsentwürfe aus dem Werk von Yves Bonnefoy Die unveröffentlicht gebliebenen fragmentarischen Übersetzungen, die Paul Celan aus den Gedichtbänden Du mouvement et de l’immobilité de Douve (1953)251 und Hier régnant désert (1958) von Yves Bonnefoy angefertigt hat, sind bislang noch nicht wissenschaftlich untersucht worden. Lange Zeit war ihre Existenz überhaupt unbekannt.252 Bei Celans BonnefoyÜbertragungen handelt es sich um bruchstückhafte Entwürfe, die er mit Bleistift in seine Handexemplare von Bonnefoys Gedichtbänden eingetragen hat, am oberen oder unteren Rand bzw. rechts und links vom Original. Da diese Skizzen vermutlich parallel zur Lektüre entstanden sind, bleibt es unklar, ob sie tatsächlich als Erstentwürfe für Übersetzungen gedacht waren. Auch das Entstehungsdatum dieser Fragmente lässt sich nicht eindeutig bestimmen: Es liegt vermutlich gegen Ende der fünfziger Vgl. dazu folgende Notiz in DLA: Celan D 90.1.415. Allerdings lässt sich aus diesem Befund keine Deutung ableiten, ohne sich von Spekulationen abhängig zu machen. Wenig plausibel erscheint die von Amthor (2006) vorgeschlagene Lesart, im Motiv der Verdopplung eine „Inszenierung der Übersetzung“ (S. 322) zu sehen, da Celan selbst nie vergleichbare Begriffe im Zusammenhang mit der Übersetzungsproblematik verwendet, sondern stets, wie in seinem Brief an Werner Weber vom 26. März 1960, auf dem Aspekt des „Geschiedenseins“ (FN, S. 397) von Original und Übersetzung insistiert. Auch als „Drogen-Gedicht“ (Amthor 2006, S. 327) lässt sich der Widmungstext m. E. nicht bezeichnen. Auch Michaux hat Celan ein Gedicht gewidmet, allerdings erst nach dessen Tod. Es trägt den Titel: Les jours, le jour, la fin des jours. Siehe: Henri Michaux: Paul Celan. In: La Revue de Belles-Lettres. Nr. 2/3 (1972), S. 113. 250 Celan: Brief an Alfred Margul-Sperber vom 7. Dezember 1966. 251 Celan Bibliothek DLA. Yves Bonnefoy: Du mouvement et de l’immobilité de Douve. Paris 1953. In Celans Exemplar findet sich folgende Widmung: „Pour Paul et Geneviève [sic] Celan / leur ami / Yves Bonnefoy.“ Außerdem liegt Celans Exemplar eine an Celan und seine Frau gerichtete Einladungskarte zu einer Veranstaltung von Yves Bonnefoy bei. Die Aufschrift lautet: „Yves Bonnefoy / Collège Philosophique / Mardi 25 novembre 1958 / 18h15 / L’acte et le lieu de la poésie / Invitation: 2 personnes / Yves Bonnefoy.“ Aus dem Band Du mouvement et de l’immobilité de Douve hat Celan folgende Texte zu übersetzen begonnen: Théâtre I (S. 11); Vrai corps (S. 45); Art poétique (S. 48); Quelle parole a surgi près de moi (S. 49); Une voix (S. 50); Voix basses et Phénix (S. 60–61); Tais-toi puisqu’aussi bien nous sommes de la nuit (S. 62); La Salamandre III (S. 70); Vérité (S. 77). 252 Bei Olschner (1985, S. 308) heißt es: „Auch sprach Celan mit Yves Bonnefoy […] über die (nie verwirklichte) Möglichkeit einer Übertragung von dessen Lyrik.“ Erwähnt werden Celans Bonnefoy-Übersetzungen außerdem bei Böschenstein (2008), S. 214.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Jahre, als Celan und Bonnefoy in Paris in Kontakt standen. Die beiden Lyriker waren sich bald nach Celans Ankunft in Paris 1948 zum ersten Mal begegnet.253 Im Zentrum des vorliegenden Kapitels stehen die Gedichte Vrai corps und Théâtre I aus Yves Bonnefoys erstem Band Du mouvement et de l’immobilité de Douve (1953). Paul Celans skizzenhafte Übersetzungsentwürfe werden mit den Übersetzungen konfrontiert, die Friedhelm Kemp angefertigt hat.254 Die äußerst heterogene Editionslage von Celans und Kemps Bonnefoy-Übersetzungen birgt für einen Übersetzungsvergleich insofern eine methodische Schwierigkeit, als die jeweiligen deutschen Gedichtfassungen nicht den gleichen Status innehaben: die einen sind unabgeschlossen, unpubliziert und damit nicht autorisiert, die anderen sind in ihrer Gänze veröffentlicht worden. Wenn im Folgenden dennoch ein erster Versuch unternommen wird, Celans und Kemps Strategien im Umgang mit ausgewählten Bonnefoy-Gedichten zu identifizieren, voneinander abzugrenzen und, wenn möglich, an ihr jeweiliges Übersetzungsverständnis rückzubinden, so stehen diese Untersuchungen und ihre Ergebnisse ausdrücklich unter Vorbehalt. Da sich jedoch selbst Detailbeobachtungen als aufschlussreich erweisen können, wenn sie bisherige Befunde bestätigen bzw. ausdifferenzieren, soll eine erste, sich der methodischen Aporien bewusste Annäherung an Celans Bonnefoy-Übersetzungsentwürfe nicht unversucht bleiben. Das Original von Bonnefoys Gedicht Vrai corps lautet: Vrai corps Close la bouche et lavé le visage, Purifié le corps, enseveli Ce destin éclairant dans la terre du verbe, Et le mariage le plus bas s’est accompli. 5

10

Tue cette voix qui criait à ma face Que nous étions hagards et séparés, Murés ces yeux: et je tiens Douve morte Dans l’âpreté de soi avec moi refermée. Et si grand soit le froid qui monte de ton être, Si brûlant soit le gel de notre intimité, Douve, je parle en toi; et je t’enserre Dans l’acte de connaître et de nommer.255

253 Siehe Olschner (1985), S. 43. Vgl. PC/GCL 2, S. 274. 254 Yves Bonnefoy: Beschriebener Stein, S. 45. 255 Bonnefoy: Du mouvement et de l’immobilité de Douve, S. 77.

3.4 Celans Übersetzungsentwürfe aus dem Werk von Yves Bonnefoy

231

Das Sprecher-Ich von Vrai corps beschreibt in der ersten Strophe eine Beerdigung („Close la bouche et lavé le visage, / Purifié le corps, enseveli“), die als Vereinigung inszeniert wird: „Ce destin éclairant dans la terre du verbe, / Et le mariage le plus bas s’est accompli.“ Erst in dem mit der zweiten Strophe anhebenden Rückblick wird die verstorbene Person als „Douve“, die rätselhafte weibliche Titelfigur des Bandes, benannt. Der Vereinigung zwischen Douve und dem Sprecher geht ein zu Lebzeiten empfundenes Getrenntsein voraus („Tue cette voix qui criait à ma face / Que nous étions hagards et séparés“). Die dritte Strophe vollzieht die Ansprache des Sprecher-Ich an die Verstorbene und lässt die in der „terre du verbe“ stattfindende Vereinigung in einem Akt der Aneignung der Geliebten mit Hilfe der Sprache kulminieren: „Douve, je parle en toi; et je t’enserre / Dans l’acte de connaître et de nommer.“ Die behauptete „intimité“ zwischen ihm und Douve kontrastiert mit der von ihrem leblosen Körper und vom umgebenden Erdreich ausgehenden Kälte (V. 9–10). Kemps Übersetzung der ersten Strophe lautet: Geschlossen der Mund, gewaschen das Gesicht, gereinigt der Leib, begraben dies erhellende Geschick in der Erde des Wortes, und die tiefste Vermählung ist vollzogen.256

Kemps Fassung evoziert eine am ehesten im romantisch geprägten Werteund Bilderkanon anzusiedelnde Vereinigungsszenerie, die dem Duktus von Bonnefoys Gedicht zuwiderläuft und dessen Fremdheitseffekte ausspart. Problematisch ist hier weniger die Wahl des Substantivs „Vermählung“ als die des Adjektivs „tiefste“, das eine besondere Qualität bzw. Intensität der gestifteten Verbindung impliziert, anstatt wie das französische Adjektiv „bas“ den geographischen Ort der „mariage“ als einen terrestrischen zu bestimmen. Bonnefoys sperriger, dunkler Vers „le mariage le plus bas s’est accompli“ wird durch Kemps Übersetzung zu einer leicht nachvollziehbaren, durch die v-Alliteration sogar recht eingängigen deutschen Wendung transformiert: „und die tiefste Vermählung ist vollzogen“. Das ungewöhnliche Motiv einer ›niederen‹, irdischen Hochzeit wird durch die Evokation einer konventionellen Vereinigungsszenerie ersetzt, das Irritationsmoment des Originals getilgt.257 Auch hier zeichnet sich Kemps

256 Bonnefoy: Beschriebener Stein, S. 45. 257 Zum Vergleich: In der englischen Übersetzung von Galway Kinnell und Richard Pevear wird das Adjektiv „bas“ nicht auf das Irdische der Vermählung, sondern auf ihre qualitative Verfasstheit bezogen, wenn es heißt: „And the most basic marriage is accomplished.“ In: Yves Bonnefoy: Early Poems 1947–1959. Translated from the french by Galway Kinnell and Richard Pevear. Athens 1991, S. 89.

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3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

ambivalentes Streben nach Anschaulichkeit258 ab, das die semantischen Nuancen des Originals einzuebnen droht. Auch auf syntaktischer Ebene versucht Kemp, die Verständlichkeit des Verses zu erleichtern, indem er eine genuin deutsche Satzstruktur verwendet. Anstatt die Hermetik des Originals in der deutschen Fassung zu gestalten, unterlegt Kemp Bonnefoys Gedicht eine beinahe eindimensionale Ausrichtung, der es in Wirklichkeit nicht folgt – der Übersetzer ignoriert hier die im Original angelegte Neubestimmung des Hochzeits-Motivs. In Paul Celans Übersetzungsentwurf heißt es: Der Mund geschlossen, das Gesicht gewaschen Der Leib geläutert, eingehüllt Grabes Der Worte Erde (Wörterboden) vom Geschick erleuchtet: Die Hochzeit ist, die unterste, vollbracht. Verstummt, die mir ins Antlitz schrie, die Stimme (e)

Die Trennung kündete und Irrsal Der Blick ummauert: so halte ich sie nun259

[entspricht V. 1–7]

In der Übersetzung des letzten Verses der ersten Strophe „Et le mariage le plus bas s’est accompli“ nimmt Celan eine individuelle Umakzentuierung vor, indem er eine nahezu wörtliche, an der vom Superlativ bestimmten Abfolge der französischen Syntax orientierte Umschrift wählt: „Und die Hochzeit ist, die unterste, vollbracht.“ Damit hat er sich gegen eine eingängigere, dem deutschen Satzbau entsprechende Variante entschieden, die wie folgt hätte lauten können: „Und die unterste Hochzeit ist vollbracht.“ Rekonstruiert Celan in seiner Übersetzung die Syntax der Zielsprache, so aktualisiert er damit, unter neuen Vorzeichen, das Paradigma der Verfremdung der Zielsprache, das um 1800 Hochkonjunktur hatte.260 Während die Übersetzer in der Epoche der Romantik danach strebten, ihren Übersetzungen „eine gewisse Farbe der Fremdheit“261 zu verleihen, anstatt diese an den herrschenden Publikumsgeschmack anzupassen, dient die syntaktische Gestaltung nach französischem Muster bei Celan einer Zuspitzung und Intensivierung des ungewöhnlichen Hochzeits-Motivs. Seine Wort-für-Wort-Übersetzung sichert zunächst eine parallele Abfolge der Informationen in Original und Übersetzung, da zuerst das HochzeitsMotiv als solches aufgerufen wird, bevor die Apposition „le plus bas“ (die 258 259 260 261

Zu Kemps Streben nach Anschaulichkeit in den Baudelaire-Übertragungen vgl. Kap. 2. Celan Bibliothek DLA: Bonnefoy: Du mouvement et de l’immobilité de Douve, S. 45. Zur Strategie der Sprachverfremdung vgl. Kap. 1.2.2. Humboldt: Einleitung zum Agamemnon, S. 132. Vgl. Kap. 1.2.2.

3.4 Celans Übersetzungsentwürfe aus dem Werk von Yves Bonnefoy

233

unterste) es näher charakterisiert. Auf den ersten Blick scheint der Begriff „Hochzeit“ (mhd. „hôchzît“: ›hohe festliche Zeit‹ 262) ein relativ neutraler zu sein; tatsächlich fügt Celans Verwendung dem Vers jedoch eine binäre Opposition zwischen dem adjektivischen Element „hoch“ (in „Hochzeit“) und dem Adverb „unten“ (in „unterste“) hinzu und verstärkt auf diese Weise die dem Motiv inhärente Spannung. Offensichtlich gilt die Vereinigung in Bonnefoys Gedicht weniger als eine von göttlicher Instanz beglaubigte denn als eine explizit ›irdisch-unterirdische‹, die mit der „terre du verbe“ („der Worte Erde“) verknüpft ist. Vergleicht man Celans Übersetzung mit der Kemps, so lassen sich zwei entgegengesetzte Lösungsansätze erkennen: Kemp ebnet die dem Originalvers inhärente Spannung ein, indem er ein konventionelles Hochzeits-Motiv wählt, das dem Leser der deutschen Fassung keinerlei Perspektivwechsel abverlangt. Celan hingegen versucht, das Irritationsmoment des Originals im Deutschen individuell zu gestalten und sogar zu verstärken: Er wählt eine Lösung auf semantischer Ebene, indem er dem deutschen Vers eine zusätzliche Opposition („hoch“ – „unten“) beifügt. Indem Celan einerseits das dem Original inhärente Irritationsmoment bewahrt und die Übersetzung andererseits durch das Element der Binarität zusätzlich akzentuiert, hält er seine eigene Stimme in der deutschen Gedichtfassung präsent. Das übertragene Gedicht lässt sich insofern als ein zweistimmiges begreifen, als die vom Übersetzer vorgenommenen Umakzentuierungen mit dem Original korrespondieren und interagieren. Da Celans Übersetzung von Bonnefoys Gedicht Vrai Corps Fragment geblieben ist, versteht sich die hier durchgeführte Analyse als eine vorläufige. In jedem Fall lässt sich festhalten, dass Celans Übersetzungsentwurf des vierten Verses der ersten Strophe so weit ausgereift ist, dass sich verschiedene Strategien nachvollziehen und begründen lassen. Die Wahl von Strategien, die eine Interaktion zwischen Gedicht und übertragenem Gedicht initiieren, zeigt sich auch hier als integrativer Bestandteil von Celans Übersetzungspoetik. Anhand eines zweiten Übersetzungsvergleichs, in dessen Mittelpunkt das erste Gedicht des aus neunzehn Einzeltexten komponierten Eingangszyklus Théâtre aus dem Band Du mouvement et de l’immobilité de Douve steht, soll Celans und Kemps unterschiedlicher Umgang mit Bonnefoys Verfremdungsmechanismen weiterverfolgt werden. Bonnefoys SprecherIch evoziert in diesem Text die geheimnisvolle Frauengestalt „Douve“, die in einem Schauspiel der Transformation unzählige Verwandlungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Existenzformen vollzieht; mal erscheint sie als Frau, mal als Mänade, mal als „Erde, Wasser, Heide,

262 Vgl. den Eintrag „Hochzeit“. In: DWB: Bd. 10, Sp. 1644.

234

3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

Wald, dürrer Fels und wuchernde Vegetation“.263 Während die letzten Texte des Gedichtzyklus ebendiese Metamorphosen ausstellen,264 zeichnen die ersten Gedichte eine dem Tod und der körperlichen Lust gleichermaßen hingegebene Figur:265 Théâtre I Je te voyais courir sur des terrasses, Je te voyais lutter contre le vent, Le froid saignait sur tes lèvres. Et je t’ai vue te rompre et jouir d’être morte ô plus belle Que la foudre, quand elle tache les vitres blanches de ton sang.266

Das erste Gedicht des Bandes, eines der wenigen, die Celan fast vollständig übersetzt hat, zeichnet sich durch eine paradox anmutende Bildlichkeit aus, deren Verständnis durch den Einsatz von Inversionen zusätzlich erschwert wird. Genau mit dieser Herausforderung gehen Celan und Kemp in ihren Übersetzungen sehr unterschiedlich um. Celans Übersetzung lautet: eilen Ich sah dich laufen über die Terrassen Ich sah dich ringen mit dem Wind Auf deinen Lippen blutete der Frost Ich sah auch, wie du dich gebrochen und, Schönere du, das Totsein nur genossest Du – schöner als der Blitz, wenn er die weißen Scheiben deines Blutes fleckt.267

In Kemps Übersetzung heißt es: Ich sah dich laufen auf Terrassen, ich sah dich kämpfen gegen den Wind, Frost blutete auf deinen Lippen. 263 Kemp: Erläuterungen: In: Bonnefoy: Beschriebener Stein, S. 346–350, hier S. 347. 264 Vgl. die Motive der gegenseitigen Durchdringung von Mensch und Natur in den Anfangsversen von Bonnefoys Gedicht Théâtre XVII: „Le ravin pénètre dans la bouche maintenant, / Les cinq doigts se dispersent en hasards de forêt maintenant, / La tête première coule entre les herbes maintenant [...].“ In: Bonnefoy: Poèmes, S. 61. 265 Vgl. Vernier (1985), S. 40. 266 Celan Bibliothek DLA: Bonnefoy: Du mouvement et de l’immobilité de Douve, S. 11. 267 Ebd.

3.4 Celans Übersetzungsentwürfe aus dem Werk von Yves Bonnefoy

235

Und ich sah dich zerbrechen: Totsein war dir Lust, o du noch schöner als der Blitz, wenn er mit deinem Blut das weiße Fenster rötet.268

Zwei Aspekte sind in der Gegenüberstellung der beiden Übersetzungen von besonderem Interesse. Einerseits ähneln sich die Fassungen der ersten Strophe, wenn man von Celans Inversion bei der Gestaltung der rhetorischen Figur der Metalepsis („Auf deinen Lippen blutete der Frost“, V. 3) absieht. Andererseits besteht eine große Differenz in der Übertragung des letzten Verses, der im Original durch eine relative Offenheit hinsichtlich der syntaktischen Fügung gekennzeichnet ist: Durch ihre ungewöhnliche Finalstellung im Vers fungiert die Wendung „de ton sang“ je nach Lesart entweder als Genitivattribut oder als Modaladverbiale, d. h. entweder geht es um Scheiben, die dem Blut angehören, oder die Scheiben werden mit Hilfe des Blutes befleckt. Kemps Übersetzung konventionalisiert die surreal anmutende Bildlichkeit von Bonnefoys Vers, da das Verb „tacher“ nicht mit „flecken“, sondern (mit vereindeutigendem Bezug auf das „Blut“) mit „röten“ wiedergegeben und die „vitres“ als „Fenster“ eines Hauses benannt werden, zu dem sich auch die „Terrassen“ des ersten Verses zuordnen lassen: „o du noch schöner als der Blitz, wenn er mit deinem Blut das / weiße Fenster rötet.“ In seiner Fassung integriert Kemp das Motiv in einen konkreten Handlungsrahmen,269 wodurch das dem Original inhärente Irritationsmoment abgemildert wird. In Celans Fassung hingegen wird das äußerst rätselhafte Todes-Motiv mit Hilfe einer Genitivmetapher wiedergegeben, wenn es heißt: „Du – schöner als der Blitz, wenn er die / weißen Scheiben deines Blutes fleckt.“270 Anhand der in diesem Kapitel bzw. in Kapitel 2 durchgeführten Übersetzungsanalysen und -vergleiche und der daraus gewonnenen Beobachtungen lassen sich Kemp und Celan als Vertreter unterschiedlicher Übersetzungspoetiken erkennen. Diese Opposition zeigt sich nicht nur in ihren jeweiligen Übersetzungen, sondern manifestiert sich auch in mündlichen Äußerungen oder schriftlichen Beiträgen: Kemp stand den Übersetzungen des poète traducteur Celan wie z. B. der von Valérys La Jeune Parque mit Vorbehalt gegenüber. Diese stellte seiner Meinung nach weniger eine „Über-

268 Bonnefoy: Beschriebener Stein, S. 9. 269 Analoge Beobachtungen zu Kemps Übersetzung von Bonnefoys Gedicht Une pierre finden sich in Sanmann (2011). 270 Auch für die englische Übersetzung wurde diese Lesart gewählt: „And I have seen you break and rejoice at being dead – O more beautiful / than the lightning, when it stains the white / windowpanes of your blood.“ In: Bonnefoy: Early Poems 1947 –1959, S. 25.

236

3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

setzung im üblichen Sinne“ als vielmehr eine „Transposition“ dar, „die nicht selten der Kontrafaktur nahekommt“.271 Nach dieser ersten Annäherung an Celans fragmentarisch gebliebene Übersetzungen aus dem lyrischen Werk von Yves Bonnefoy bleibt die Frage offen, warum er seine Entwürfe nicht vollendet und anschließend publiziert hat. Angesichts der derzeitigen Forschungslage lässt sich dies nicht hinreichend klären. Es wäre denkbar, dass Celans Zurückhaltung beim Übertragen von Bonnefoys Gedichten im Zusammenhang mit der Goll-Affäre zu sehen ist, hatte doch Bonnefoy den Kontakt zwischen Celan und Yvan Goll überhaupt erst vermittelt.272 Wahrscheinlicher sind jedoch Beweggründe, die von der Diskrepanz zwischen ihren poetologischen Prämissen herrühren. In einem Gespräch soll Celan diese Unterschiede Bonnefoy gegenüber betont haben, als er sagte: „Vous êtes chez vous, dans votre langue, vos références, parmi les livres, les œuvres que vous aimez. Moi, je suis dehors ...“ 273 Von dem Sprachverständnis René Chars hat sich Celan in ganz ähnlicher Weise abgegrenzt.274 Während jedoch aus Celans Beschäftigung mit dem lyrischen Werk des ehemaligen Résistant mehrere Zeitschriften- und Buchpublikationen hervorgegangen sind, ist die fraternité poétique zu Bonnefoy, was die Vermittlung von dessen Lyrik an das deutsche Publikum betrifft, anscheinend nicht über das Anfangsstadium hinausgelangt. Der besondere Status von Celans lektürebegleitenden Übersetzungsentwürfen lässt sich durch eine Reflexion Bonnefoys erhellen, der selbst auch als Lyrikübersetzer tätig ist. Über die verschiedenen Etappen der Übersetzungsgenese heißt es bei ihm: 271 Friedhelm Kemp: Paul Celan als Übersetzer französischer Poesie. In: Celan wiederlesen. Hrsg. von Jan-Christopher Horak, Klaus Voßwinkel, Christine Ivanović et al. München 1999, S. 97– 116, hier S. 100. Von Celan sind zwar keine direkten Stellungnahmen zu Kemps Übersetzertätigkeit, wohl jedoch Äußerungen zu dessen Person überliefert, zu der er aus verschiedenen Gründen auf Distanz ging: Zum einen hatte Kemp neben Hans Egon Holthusen (einem ehemaligen SS-Mitglied) als Mitherausgeber der Lyrikanthologie Ergriffenes Dasein (1953) fungiert, zum anderen hatte er in einem von Claire Goll herausgegebenen Auswahlband eine Prosaübersetzung von Yvan Golls Sonettenzyklus Le char triomphal de l’Antimoine publiziert (vgl. Yvan Goll: Dichtungen. Hrsg. von Claire Goll. Darmstadt 1960, S. 405–436). Vgl. Wiedemann (2000), S. 411 f. In einem Brief an Hermann Kasack von Ende September 1960 schreibt Celan im Zusammenhang mit der Verleihung des Büchnerpreises: „Zu den Helfern bzw. Apologeten der Goll-Literatur gehören die ordentlichen Mitglieder der Akademie f. S. u. D. Friedhelm Kemp und Hans Hennecke.“ Zitiert nach Wiedemann (2000), S. 514. 272 FN, S. 171. 273 Yves Bonnefoy: Paul Celan. In: Ders.: Le nuage rouge. Essais sur la poétique. Paris 1977, S. 303–309, hier S. 306. 274 Gegenüber Jean-Pierre Wilhelm sagte Celan Folgendes: „[Char] ist ganz, wie Sie ihn mir geschildert haben, so völlig im Mittelpunkt, im Herzen seiner Sprache, die sich ihm nie zu verweigern scheint“. Zitiert bei: Schwerin: Als sei nichts gewesen, S. 199. Vgl. Kap. 3.2.1.

3.4 Celans Übersetzungsentwürfe aus dem Werk von Yves Bonnefoy

237

Une traduction, est-ce seulement ces quelques pages imprimés? Non, c’est un dialogue qui a commencé il y a longtemps, à l’époque des premières lectures, celles d’ébauches de traduction même pas écrites, où l’on décidait si on pourrait ou non parler avec ce poète.275

„Si on pourrait ou non parler avec ce poète“ – diese Frage ist für Celans Beschäftigung mit den Werken der zeitgenössischen französischen Lyriker René Char, Henri Michaux und Yves Bonnefoy von Bedeutung gewesen; seine Antworten bleiben stets vorläufig und sind von Zweifeln begleitet. Celan ist sich der Fragilität und der Aporien der Übersetzung zwischen zwei Sprachen, zwei Kulturen und zwei Poetiken bewusst und lotet die Prämissen dieses „zweiten Sprechens“276 immer wieder von neuem aus. So unterschiedlich die angewandten Strategien der „wörtliche[n] Nachschrift“,277 der Erfindung von Neologismen oder der Transformation idiomatischer Wendungen auch sein mögen, stets versucht Celan in seinen Übersetzungen individuelle Lesarten der Ausgangstexte zu gestalten. Celans Übersetzungsverständnis, das er in seinen Briefen an Karl Dedecius und Werner Weber reflektiert, überwindet die Dichotomie von Treue und Freiheit, Einbürgerung und Verfremdung und ist daher mit einer tradierten Terminologie nur unzureichend zu erfassen. Seinerseits hat Celan ambivalente oder auch paradoxe Wendungen geprägt, um das Spannungsverhältnis zwischen Original und Übersetzung zu charakterisieren: Der Ausdruck „Fremde Nähe“, der als Titel für eine Anthologie seiner Übersetzungen französischer Lyrik gedacht war,278 konfrontiert das Streben nach „Textnähe und Texttreue“ mit dem unauflöslichen „Anderssein“ des Übersetzers, das Celan zum Beispiel in Wortneubildungen produktiv macht. Mit der Wendung „dichterische[ ] Wörtlichkeit“279 hingegen zielt er auf das poetische Potential der „wörtliche[n] Nachschrift“280 und erteilt damit dem Ideal der Unsichtbarkeit des Übersetzers eine Absage. Wie Celan die mit seinen Strategien der Wörtlichkeit einhergehende Verfremdung und Erweiterung der Zielsprache nutzt und dabei den Übersetzungen eine selbstreflexive Ebene unterlegt, haben seine Fassungen von Henri Michaux’ Texten gezeigt. Celans Herangehensweise in den Übersetzungsentwürfen aus dem lyrischen Werk von Yves Bonnefoy besteht in der Nachgestaltung der französischen Syntax, wobei er die Irritationsmomente in der Motivik des Origi275 Yves Bonnefoy: Traduire la poésie (1). Entretien avec Jean-Pierre Attal (1989). In: Yves Bonnefoy: La communauté des traducteurs. Strasbourg 2000, S. 47–55, hier S. 53 f. 276 Celan: Brief an Dedecius vom 31. Januar 1960 [Transkription A. S.]. 277 Olschner (1985), S. 57. 278 FN, S. 389. 279 Celan: Brief an Werner Weber vom 26. März 1960. In: FN, S. 398. 280 Olschner (1985), S. 57.

238

3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“

nals bewahrt oder sogar intensiviert. Sowohl bei Michaux als auch bei Bonnefoy konturiert Celan gerade durch die Verfahren der Wörtlichkeit die Präsenz seiner eigenen Stimme im übersetzten Text. Auch in seinen Char-Übersetzungen wird Celans Übersetzerstimme durch die Verwendung einer „›grauere[n]‹“,281 sich dem poetischen Wohlklang verweigernden Sprache erkennbar. Diese Analogie zwischen seinem lyrischen und seinem übersetzerischen Werk verdeutlicht zudem, wie eng die Tätigkeiten des Schreibens und Übersetzens bei ihm verbunden sind. Celans zweifacher Anspruch, das unhintergehbare „Anderssein“282 des Übersetzers im übersetzten Text zu markieren und gleichzeitig eine „dem Original möglichst adäquate Übersetzung“283 zu gestalten, schlägt sich in einem antinormativen Übersetzungsideal nieder, das sich – mit einer Wendung aus seiner Übersetzung von René Chars Gedicht Post-merci – als „Stimmigkeit des [übertragenen] Gedichts“284 bezeichnen lässt. Anstatt bei der Übertragung des Ausdrucks „justesse de poème“285 der Etymologie des Originals („justesse“ von lat. „iustus“: „regelrecht“, „richtig“) zu folgen und den Aspekt der „Genauigkeit“ oder „Richtigkeit“ zu betonen, hebt Celan mit dem Begriff der „Stimmigkeit“ das Kriterium der Angemessenheit hervor. Das Adjektiv „stimmig“ im Sinne von „adäquat“ oder „passend“ lässt sich zurückbeziehen auf Celans Forderung nach der „Sauberkeit des Handwerks“,286 die er in seinem Brief an Karl Dedecius formuliert. Gleichzeitig rekurriert Celans Lösung auf die Etymologie des Adjektivs „stimmig“, das ursprünglich das bezeichnet, „was stimme hat, zur stimme gehört“.287 Celan zufolge zeichnet sich das Gedicht, aber auch das übertragene Gedicht, durch „Stimmigkeit“ aus, Letzteres insofern es als ein „Nachsprechen, ein zweites Sprechen“288 gilt, in dem sich das „Anderssein“ des Übersetzers nicht restlos auflösen lässt: seine Stimme bleibt im übersetzten Text präsent. Wenn Celan in seiner Übersetzung von Chars Gedicht Post-merci die implizite Bedeutungsnuance des Begriffs „Stimmigkeit“ hervorhebt, nämlich die Präsenz einer oder mehrerer Stimmen (wie im musikalischen Ter281 282 283 284 285 286 287 288

Celan: Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker (1958), S. 167. Celan: Brief an Dedecius vom 31. Januar 1960 [Transkription A. S.]. Brief von Celan an Kurt Leonhard vom 24. September 1962. In: FN, S. 509. „Im Gedicht heißt Werden Wiederversöhnen. Die Wahrheit: der Dichter sagt sie nicht, er lebt sie; und wird, indem er sie lebt, unwahr. Paradox der Musen: Stimmigkeit des Gedichts“ [Hervorhebung original]. In: Celan: GW 4, S. 589. „En poésie, devenir c’est réconcilier. Le poète ne dit pas la vérité, il la vit; et la vivant, il devient mensonger. Paradoxe de Muses: justesse de poème.“ Char: Post-merci. In: Ders.: Œuvres complètes, S. 760. Celan: Brief an Dedecius vom 31. Januar 1960 [Transkription A. S.]. Vgl. den Eintrag „stimmig“. In: DWB, Bd. 18, Sp. 3119. Celan: Brief an Dedecius vom 31. Januar 1960 [Transkription A. S.].

3.4 Celans Übersetzungsentwürfe aus dem Werk von Yves Bonnefoy

239

minus „ein-/zwei-/mehrstimmig“289), so reflektiert er im Medium der Übersetzung nicht nur seine eigene Übersetzungspoetik, sondern setzt diese gleichzeitig performativ um, indem er neben der Autor-Stimme auch seine Übersetzerstimme vernehmbar macht. In dieser vielschichtigen Strategie korreliert Celan verschiedene, für seine Auseinandersetzung mit den Texten von René Char, Henri Michaux und Yves Bonnefoy relevante Elemente seiner Übersetzungspraxis – „dichterische Wörtlichkeit“ und Transformation, „Anderssein“ und „Texttreue“, „Handwerk“ und sprachliche „Einmaligkeit“ – und strebt damit nach einer „Stimmigkeit“ des übersetzten Gedichts im doppelten Wortsinn.

289 Vgl. den Eintrag „...stimmig“. In: Wahrig Deutsches Wörterbuch, Sp. 3575 f.

4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig 4.1 Vom „Assistant d’allemand“ zum „waghalsigen“ Übersetzer Die angebliche Unübersetzbarkeit der sprachspielerischen Texte von Raymond Queneau (1903–1976), seien dies Gedichte, Versepen oder Romane, hat Übersetzer verschiedener Sprachbereiche immer wieder herausgefordert.1 Bei seinem deutschen Übersetzer, dem saarländischen Lyriker und Romancier Ludwig Harig, treffen die poetischen Inventionen des OuLiPo-Autors2 auf eine produktive Kombination aus sprachlichem Erfindungsvermögen und Experimentierlust.3 Der gemeinsame poetologische Ausgangspunkt von Queneau und Harig liegt in der Reflexion auf das Schreiben als einer Arbeit mit und am Material der Sprache, das durch unterschiedlichste Verfahren und Methoden spielerisch transformiert wird. Dementsprechend sieht Harig eine enge Verknüpfung zwischen seinen Queneau-Übersetzungen und dem „experimentellen Aufbruch der Nachkriegspoesie“,4 den er für den deutschsprachigen Raum, neben Autoren wie Eugen Gomringer, Helmut Heißenbüttel oder Franz Mon, maßgeblich mitgeprägt hat.5 Die Beschäftigung mit Queneaus Werk und insbesondere die Übertragung des Versepos Petite cosmogonie portative

1 2 3 4

5

Vgl. ›Les Exercices de style de Raymond Queneau‹: Table ronde présidée par Jacques Roubaud, in: Actes des troisièmes assises de la traduction littéraire. Avec la participation de Jean Gattegno, Jean-Pierre Camoin, Roger Munier et al. Arles 1987, S. 99–115. „OuLiPo“ ist der Name eines französischen Schriftstellerkreises, der 1960 von François Le Lionnais und Raymond Queneau gegründet wurde; er steht für „Ouvroir de Littérature Potentielle“ (dt. „Werkstatt für potentielle Literatur“). Die Romane von Raymond Queneau sind von Eugen Helmlé ins Deutsche übertragen worden. Ludwig Harig: Auf dem pataphysischen Hochseil. Zur Übersetzung der ›Stilübungen‹ von Raymond Queneau. In: Raymond Queneau: Stilübungen. Aus dem Französischen von Ludwig Harig und Eugen Helmlé. Mit einem Nachwort von Ludwig Harig. Frankfurt 2007, S. 161–168, hier S. 161. Zu Harigs sprachexperimentellen Verfahren der Permutation und des Anakoluth vgl. Lanzendörfer-Schmidt (1990), S. 55 f.

4.1 Vom „Assistant d’allemand“ zum „waghalsigen“ Übersetzer

241

(1950) 6 habe ihn zur (unorthodoxen) Verwendung der Sonettform und des alexandrinischen Versmaßes in seinen eigenen Gedichten angeregt, wie er rückblickend betont: [Meine] Übersetzung der ›Taschenkosmogonie‹ [hat] viel zu meiner experimentellen Arbeit beigetragen: Ich habe diese alexandrinischen Verse mit großer Hingabe übersetzt, möglicherweise rührt daher meine Vorliebe, alexandrinische Sonette zu schreiben, deren Inhalt nicht mehr hehren Gedanken, sondern banalen Gegenständen gewidmet ist.7

In Harigs Auseinandersetzung mit Queneaus lyrischen Texten überlagern sich Schreib-, Rezeptions- und Übersetzungsprozesse, vollziehen sich Übergänge „vom Dichten ins Übersetzen, vom Übersetzen ins Schreiben“.8 Die Übersetzungsanalysen des folgenden Kapitels widmen sich daher der Frage, wie Harig als poète traducteur seine persönlichen Schreibstrategien im Medium der Übersetzung zur Anwendung bringt, sie erweitert und ausdifferenziert, um die Eigenheiten der Queneau’schen Sprachexperimente im Deutschen nachzubilden. Dabei wird zu zeigen sein, wo die humoristisch grundierte Spracharbeit beider Autoren, trotz der unterschiedlichen sprachlichen Systeme, mit denen sie operieren, Konvergenzen aufweist. Harigs Beschäftigung mit der französischen Literatur hat Ende der vierziger Jahre in Lyon begonnen, wo er von 1949 bis 1950 als „Assistant d’allemand“ am Collège Moderne gearbeitet hat.9 Sein Interesse an der Literatur des Nachbarlands steht insofern unter besonderen Vorzeichen, als er sich erst bei Kriegsende, im Alter von knapp achtzehn Jahren, vom ideologischen Gedankengut des Nationalsozialismus (und den damit verbundenen Ressentiments gegenüber den Franzosen) losgesagt hatte. Bei Harig heißt es im Rückblick: Soldaten sind wir keine mehr geworden, Hitlerjungen waren wir bis zuletzt, trugen keck die Hakenkreuzbinde, strunzten mit den Fahrtenmessern, prahlten mit den falschen Achselstücken. Ich hatte mich nicht zusammen- und das fadenscheinige Netz auseinandergerissen, erst als die gigantische Armee Pattons an mir vorbeirollte, stürzte der Spielzeugladen ein.10

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7 8 9 10

Zitiert wird nach folgenden Ausgaben: Raymond Queneau: Petite cosmogonie portative, Paris 1950, bzw. Raymond Queneau: Taschenkosmogonie. Ein Poem. Vorwort von Max Bense. Wiesbaden 1963. Erneut aufgelegt als: Raymond Queneau: Taschenkosmogonie. Deutsche Übertragung von Ludwig Harig. München 1978. Nach einem Brief von Ludwig Harig an Karl Riha vom 12. August 1996; zitiert bei Riha (1997), S. 142 f. Helmlé (1997), S. 250. Vgl. Hölz (1997), S. 141. Ludwig Harig: Hitlerjunge mit falschen Achselstücken. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Dezember 1987. Beilage Bilder und Zeiten, S. 2.

242

4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

Als Hitlerjunge und Schüler der streng nationalsozialistisch geprägten Lehrerbildungsanstalt in Idstein/Taunus (1941–1944)11 war Harig den nationalistisch-rassistischen Parolen seiner Vorgesetzten bis zum Niedergang der NS-Herrschaft gefolgt.12 Die literarische Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur bzw. mit seiner eigenen Rolle darin manifestiert sich in zwei aufeinanderfolgenden, unterschiedlich akzentuierten Schaffensphasen. Vom Ende der vierziger Jahre bis in die siebziger Jahre hinein konzentrierte sich Harig zunächst als Übersetzer auf die Praxis der Literaturund Lyrikvermittlung zwischen Frankreich und Deutschland und beförderte auf diese Weise die kulturelle Annäherung der Menschen in den ehemals verfeindeten Staaten. Gleichzeitig entstanden eigene sprachexperimentelle Texte, die kritisch auf die NS-Zeit Bezug nehmen, wie die Radiocollage Ein Blumenstück (1968).13 Darin kontrastieren Passagen aus den autobiographischen Schriften von Rudolf Höß, dem Lagerkommandanten von Auschwitz, mit Volksliedtexten, u. a. aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn. Mit der Heterogenität des zusammengefügten Textmaterials zielt Harigs Blumenstück zunächst auf eine unmittelbare Schockwirkung: Märchenhafte Phantasiewelten und romantisierende Beschreibungen von Höß’ Familienleben stehen den grausamen NS-Verbrechen unvermittelt gegenüber.14 Die Montage überblendet das Selbstbildnis eines naturverbundenen Familienvaters, das Höß in seinen autobiographischen Schriften von sich zeichnet, mit seiner Rolle als Lagerkommandant, der die Tötungsmaschinerie von Auschwitz mitorganisiert und überwacht. Der kriti11

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Im Herbst 1944 war Ludwig Harig an militärischen Übungen in Idstein/Taunus beteiligt, bevor er im Dezember des gleichen Jahres zum Reichsarbeitsdienst eingezogen wurde. Nach seiner Entlassung im Januar 1945 setzte er sich vom Militärdienst ab, wie er rückblickend beschreibt: „Wir gaben falsche Adressen an, reisten ins Innere des Reichs, kein Gestellungsbefehl erreichte uns mehr.“ In: Harig: Hitlerjunge mit falschen Achselstücken, S. 2. Dazu Harig: „Aus dem Munde der Ritterkreuzträger hörten wir die Wörter Mut, Risiko, Disziplin, aus dem Munde der Jugendoffiziere die Wörter Ehre, Treue, Vaterland. Ja, es wäre wohl nötig gewesen, die Fäden auseinanderzureißen, doch wir waren berauscht, wir waren blind. Das Nazi-Pathos blähte meine Backen, ich krähte die Parolen lauthals in alle Winde.“ In: Harig: Hitlerjunge mit falschen Achselstücken, S. 2. Ludwig Harig: Ein Blumenstück. In: Ders.: Stimmen aus dem Irgendwo. Hörspiele (= Gesammelte Werke, Bd. 3). Hrsg. von Benno Rech. München 2008, S. 37–127. Vgl. folgenden Auszug aus dem Blumenstück, das mit einem Ausschnitt aus Höß’ autobiographischen Schriften einsetzt: „ja meine familie hatte es in auschwitz gut / jeder wunsch / den meine frau / den meine kinder hatten / wurde erfüllt / die kinder konnten frei und ungezwungen leben / meine frau hatte ihr blumenparadies // was liegt auf dem rasen // hat vierundvierzig nasen / laß liegen / ist blut dran / und asche / und dreck / reiß es aus / es ist unkraut / und wuchert / und stinkt // wirfs weg / tritts tot / es ist für den mist // die häftlinge taten alles / um meiner frau / um den kindern etwas liebes zu tun […] // guten tag herr gärtnersmann / haben sie lavendel / rosmarin und thymian / und ein wenig quendel // ja madam das haben wir / drunten in dem garten / möcht madam so gütig sein / und ein wenig warten.“ In: Harig: Ein Blumenstück, S. 112 f.

4.1 Vom „Assistant d’allemand“ zum „waghalsigen“ Übersetzer

243

sche Impetus des Sprachexperiments ist unverkennbar; eine Selbstbefragung Harigs zu seiner eigenen Rolle im Machtgefüge der NS-Diktatur leistet es jedoch nicht. Eine reflexiv-narrative Aufarbeitung seiner persönlichen Erlebnisse während der nationalsozialistischen Herrschaft vollzieht sich erst in den seit den achtziger Jahren erschienenen Romanen. Harigs autobiographisches Erzählen gründet in der Simultaneität zweier widerstrebender Wahrnehmungen: Auf der einen Seite steht das Schuldbewusstsein angesichts des eigenen Mitläufertums im Jugendalter, auf der anderen Seite die Abwesenheit selbstzerstörerischer Reuegefühle. Aus dieser ambivalenten Selbstwahrnehmung heraus hat Harig ein Narrativ entwickelt, das er u. a. in seinem Roman Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf (1996) umsetzt und reflektiert. Ausgangspunkt ist sein Erleben des 6. Mai 1945 in der Ortschaft Hülen auf der Schwäbischen Alb, wo er, kurz vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, der amerikanischen Gefangenschaft nur knapp entgangen war: An jenem Tag am Waldrand in Hülen [i. e. der 6. Mai 1945, A. S.] war ich frei von Zwang und Gewalt, doch nicht frei von Schuld. Und als ich mich später fragte, ob ich nicht schuld daran war, daß der kleine René, mein Banknachbar aus der ersten Klasse, ausbrechen mußte aus Reih und Glied und im Waisenhaus verdarb, daß der arbeitsscheue Querulant aus unserer Straße im KZ verschwand und die Peitsche zu spüren bekam – mußte ich mir eingestehen: Auch ich hatte, ein Jugendlicher schon, meine Finger im Spiel, ich lauschte den verführerischen Parolen und folgte ihnen, schläferte mein Gewissen ein und spielte auf meine Weise mit. Nein, ich kann nichts ungeschehen machen. Aber mir ist nicht geglaubt worden. Also muß ich von vorne anfangen. Statt eines Stück Papiers ist nun die Wiese am Waldrand von Hülen mein weißes Blatt.15

In diesen literarisch aufbereiteten persönlichen Erinnerungen reflektiert Harig die Feindbilder, die ihm in seiner Jugend vermittelt worden waren. So heißt es im gleichen Roman über seinen ersten Kontakt mit der französischen Sprache in Lyon: Dort in Lyon war es, wo ich dem Wirbelsturm der Wörter schutzloser ausgesetzt war als je zuvor in meinem Leben. Es waren französische Wörter, fremde Wörter, es waren die Wörter des Erbfeinds, wie mein Vater sich ausgedrückt hätte [...].16

Der Begriff des „Erbfeinds“ verleiht Harigs Rückblick auf die Nachkriegsjahre eine dezidiert zeitgeschichtliche Signatur: Der Mythos der Erbfeindschaft zwischen dem französischen und dem deutschen Volk, bei Kaiser Maximilian I. (1459–1519) erstmals belegt und besonders seit dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 von nationalistisch gesinnten Deut15 16

Harig: Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf, S. 11. Ebd., S. 139; vgl. auch S. 70.

244

4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

schen als abwertende Bezeichnung für das französische Volk verwendet,17 kennzeichnet die ablehnende Haltung von Harigs Vater gegenüber dem westlichen Nachbarland.18 Im Rückblick distanziert sich Harig durch seine Sprachkritik von der tradierten ideologischen Vorstellung der Erbfeindschaft zwischen den beiden Völkern und damit von einer zentralen Komponente seiner Erziehung während der NS-Diktatur. Gleichzeitig zeigt die zitierte Äußerung aber auch, wie präsent ihm das nationalistische Schmähwort auch nach vielen Jahrzehnten noch gewesen ist. Die vielfältigen Formen der Sprachkritik in Harigs schriftstellerischem Werk müssen also auch stets vor dem Hintergrund seiner kritischen Reflexion des ideologisch verbrämten NS-Jargons gesehen werden. Harigs 1949 in Lyon einsetzende Beschäftigung mit der Literatur des ehemaligen „Erbfeinds“ basiert auf intensiven freundschaftlichen Kontakten zu Franzosen – einer der wichtigsten Vermittler war für ihn der 1928 geborene Roland Cazet, von dem es in Harigs autobiographischem Roman Kalahari (2007) heißt: [Roland Cazet] besorgte mir französische Schulbücher mit ausgewählten Gedichten, woraus ich Verse längst vergessener Dichter übersetzte. Ich lernte die Dichtform des Alexandriners und wagte mich an die Sonette von Ronsard und Du Bellay, kaufte mir Verlaines Fêtes Galantes und Rimbauds Illuminations und kam über Baudelaires Fleurs du Mal zu Théophile Gautier, Baudelaires Lehrmeister der strengen Form.19

Auf die Sprachexperimente von Raymond Queneau ist Harig einige Jahre später durch seinen literarischen Mentor Max Bense (1910–1990) aufmerksam gemacht worden. Als Harig gemeinsam mit dem Schriftsteller und Übersetzer Eugen Helmlé (1927–2000) Bense im Oktober 1955 in Stuttgart besuchte, pries dieser Queneaus Exercices de style (1947), neunundneunzig Stil-Variationen über eine Alltagsszenerie in einem Pariser Autobus, als einen Markstein der experimentellen Literatur, der jedoch aufgrund der zahlreichen Neologismen und Argot-Elemente unübersetzbar sei20 – eine Behauptung, aus der sich auch ein besonderer Ansporn

17

18 19 20

Vgl. Grosse (2008), S. 314; Trouillet (1981), S. 39. Auf französischer Seite wurde der analoge Begriff „ennemi héréditaire“ zur Bezeichnung der Deutschen verwendet. Zur Entstehung und zum Gebrauch dieser wechselseitig eingesetzten Schmähbegriffe vgl. Burgelin (1979). Am 13. Januar 1935 war in einer Volksabstimmung mit großer Mehrheit die Wiedereingliederung des Saarlandes in das Deutsche Reich beschlossen worden. Vgl. Kufer/Guinaudeau (2009), S. 172. In: Ludwig Harig: Kalahari. Ein wahrer Roman. München 2007, S. 82. Helmlé (1997), S. 253. Die erste deutsche Queneau-Übersetzung, angefertigt von Elisabeth Walther, erschien 1956 unter dem Titel Die Büchsen in der Zeitschrift augenblick – zeitschrift für tendenz und experiment 1 (1956), Heft 3, S. 17.

4.2 Zur Frage der Übersetzbarkeit von Queneaus Werk

245

ableiten ließ.21 Um ihr Projekt einer deutschen Exercices-Übersetzung zu legitimieren, holten Harig und Helmlé zunächst das Placet des Verfassers ein: Queneau stimmte dem Projekt einer deutschen Fassung vorbehaltlos zu und entkräftete zudem die These der Unübersetzbarkeit seiner Werke mit dem Verweis auf die seiner Meinung nach geglückte englische Übersetzung von Barbara Wright.22 Wie eng der literarische mit dem persönlichen Austausch verwoben war, beschreibt Harig rückblickend so: Arbeit und Erfolg unserer Übersetzung waren von Anfang an eng verbunden mit dem Menschen Queneau. Beschäftigung mit den Lebensumständen und den Denkgewohnheiten des Dichters, Rendezvous in Paris und ein bis zum Tode Queneaus reichender Briefwechsel knüpften ein freundschaftliches Band.23

Auch wenn Queneau die Zweifel an der Übersetzbarkeit seiner Werke zu zerstreuen versuchte, blieb für Harig und Helmlé die Frage nach den (Un-) Möglichkeiten der Übersetzung sprachspielerischer Texte bedeutsam, und zwar über die Gattungsgrenzen hinaus. Wie im Folgenden deutlich werden soll, stellen sich die (tatsächlichen oder vermeintlichen) Aporien, die eine Übersetzung der Exercices de style mit sich bringt, für Queneaus lyrische Texte in zugespitzter Weise.

4.2 Zur Frage der Übersetzbarkeit von Queneaus Werk In den seltensten Fällen lassen sich Queneaus Wortspiele und Neologismen, seine agrammatischen Konstruktionen und die zahlreichen ArgotElemente im Deutschen Wort für Wort nachbilden, ohne dass die im Original angelegten Polysemien und humoristischen Effekte verloren gehen oder zumindest gedämpft werden.24 Die traditionelle Dichotomie 21

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Helmlé erinnert sich an die Ablehnung, auf die ihr Übersetzungsprojekt anfangs gestoßen ist: „Dès le début, on nous a dit: ›C’est un auteur excellent, mais évidemment c’est un auteur intraduisible; donc, ce n’est pas la peine que vous commenciez: ou bien vous savez le français et vous le lisez dans l’original, ou bien il faut laisser tomber. C’est ce qui nous a intrigués, qui nous a incités à traduire, qui nous a quand même aidés à faire la traduction.‹“ In: ›Les Exercices de style de Raymond Queneau‹: Table ronde présidée par Jacques Roubaud, in: Actes des troisièmes assises de la traduction littéraire. Avec la participation de Jean Gattegno, JeanPierre Camoin, Roger Munier et al. Arles 1987, S. 99–115, hier S. 106. Helmlés Bericht legt nahe, dass die deutsche Übersetzung bereits 1955 begonnen wurde, kurz nach Erscheinen der englischen Fassung. Die genannte Queneau-Übersetzung von Barbara Wright (Raymond Queneau: Exercises in style. London/New York) ist allerdings erst 1958 erschienen. Möglicherweise haben Helmlé und Harig ihr Übersetzungsprojekt also auch erst drei Jahre nach Benses Hinweis auf Queneau begonnen. Ludwig Harig: Wie man Orchideen beim Wort packt. Erinnerung an den Sprachspieler Raymond Queneau. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Februar 2003, S. 39. Helmlé formuliert die Schwierigkeiten der Cosmogonie-Übersetzung wie folgt: „Ein Unterfangen, das dem Übersetzer einiges abverlangt, will er eine durch Glättung und Einebnung

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4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

von Treue und Verfremdung, wie sie in der Übersetzungswissenschaft noch bis in die sechziger Jahre hinein verhandelt wurde, erweist sich angesichts von Queneaus Sprachexperimenten als unangemessen. Eine ›treue‹ Übersetzung seiner sprachlichen Inventionen erscheint weder möglich noch erstrebenswert. Die Übersetzer, gleich welcher Sprache, sehen sich deshalb mit der Aufgabe konfrontiert, Queneaus poetische Einfälle mit dem Material und den grammatischen Möglichkeiten der jeweiligen Zielsprache neu zu erfinden und mit ihnen möglichst ähnliche semantische Informationen zu transportieren wie im Original. Die besondere Herausforderung einer solchen ›freien‹ Übersetzung besteht darin, zwischen der möglichst engen Korrespondenz von Ausgangs- und Zieltext auf der einen und der ästhetischen Autonomie der Übersetzung auf der anderen Seite zu vermitteln. In diesem Sinne fordert Harig, „das übersetzte Gebilde [müsse] als eigenständiges ästhetisches Informationsfeld“ bestehen können.25 Abweichungen vom ursprünglichen Ausdruck stellen für Harig im Rahmen eines solchen Sprachtransfers demnach kein grundlegendes Hindernis dar, denn seine Übersetzungen streben prinzipiell eher nach einer Beibehaltung struktureller Merkmale als nach einer traditionellen inhaltsorientierten Form der Texttreue. Dabei greift Harig auf einen zentralen Gedanken aus Walter Benjamins Aufsatz zur Aufgabe des Übersetzers zurück, wenn er schreibt:26 Semantische Wörtlichkeit transparent zu machen zugunsten der Form, des Gefüges, der Struktur, der Ordnung, die die Schönheit ausmachen, war meine Bemühung; und darin sehe ich überhaupt die Möglichkeit des Übersetzens. Hier denke ich an eine Bemerkung Walter Benjamins, der die Übersetzbarkeit sprachlich[er] Gebilde deshalb für wesentlich gegeben hält, weil Übersetzung eine Form sei.27

Die Betonung formaler Strukturen und die Abkehr vom tradierten TreueBegriff, die Harig hier formuliert, zeugen auch von dem großen Einfluss, den das Sprachverständnis von Max Bense bzw. von Raymond Queneau auf seine Poetik ausgeübt hat. Bense formuliert in seinem Gedicht Botschaft für jemanden (1964) eine Differenz zwischen dem Wort als Klanggebilde und dem Wort als Bedeutungsträger: „[Das] Wort kann auch neben der

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verursachte schale Verflachung, wie sie sich bei der Übersetzung dieser Art Dichtung ins Deutsche oft genug einstellt, vermeiden.“ In: Helmlé (1997), S. 255. Ludwig Harig: Raymond Queneau – übersetzt im Saarland. Die Stilübungen und ihre Schwierigkeiten. In: Ders.: Wer schreibt, der bleibt. Aufsätze und Reden (= Gesammelte Werke, Bd. 8). Hrsg. von Werner Jung. München 2004, S. 281–287, hier S. 282. Vgl. Kap. 1.3.1. Ludwig Harig: Spiel mit dem Stil. Zur Übersetzung von Texten Raymond Queneaus. In: Saarheimat. Zeitschrift für Kultur, Landschaft, Volkstum 15 (1971), S. 222–226, hier S. 226. Auszüge dieses Essays wurden in französischer Übersetzung unter dem Titel Sur le principe de la traduction des textes de Raymond Queneau veröffentlicht. In: Cahier de l’Herne, Sondernummer ›Raymond Queneau‹. Édité par Andrée Bergens. Paris 1999, S. 347–349.

4.2 Zur Frage der Übersetzbarkeit von Queneaus Werk

247

Bedeutung existieren, wie der Gedanke daran neben der Tat. Aber was dann, wenn die Distanz zu weit wird und sich winzige Vorgänge und Figuren dazwischenschieben [...]?“28 Auch für Queneau ist die Differenzierung zwischen den semantischen und den formalästhetischen Komponenten von Sprache virulent, wie er sie bereits in seinem Romandebüt Le chiendent (1933) formuliert: „Les mots aussi sont des objets fabriqués. On peut les envisager indépendamment de leur sens. [...] En dehors de leur sens, ils peuvent dire tout autre chose.“29 Es ist Queneau jedoch weder um eine formalistisch motivierte Aushöhlung des Wortes noch um eine Legitimierung willkürlicher Wortverbindungen zu tun.30 Die Originalität seiner Sprachbehandlung liegt vielmehr in der Wechselwirkung, die er zwischen den semantischen und den klanglichen Aspekten, d. h. zwischen der „semantischen“ und der „ästhetischen Information“31 eines Wortes oder einer Wortgruppe initiiert. Zweifellos sind der Übersetzung von Queneaus sprachspielerischen Texten angesichts der Inkongruenz der Sprachsysteme Grenzen gesetzt. Immer wieder stößt auch Ludwig Harig in der Cosmogonie auf Fälle von Polysemie, die er im Deutschen nicht beibehalten kann: Die Wendung „le dos fin“ (I, 212) zum Beispiel verweist im Lautbild auf den Namen eines Meeressäugers, „le dauphin“ (der Delfin), während das Schriftbild dessen „feines Rückgrat“ bezeichnet. Harig hat sich in der deutschen Fassung für die Beibehaltung des zweiten Aspekts entschieden. Ähnlich verhält es sich bei der Übertragung des Ausdrucks „si l’icône endormie“ (III, 175), in dem Laut- und Schriftbild divergieren. Folgt Harig dem Schriftbild und übersetzt „wenn das verschlafne Bild“, so kann die Semantik des Lautbilds („das verschlafne Silikon“) nicht rekonstruiert werden. Angesichts dieser und vergleichbarer Fälle versucht der Queneau-Übersetzer Harig, die semantischen Verluste möglichst an anderen Stellen auszugleichen, indem er die Ausgestaltung klanglicher, metrischer und semantischer Elemente intensiviert. Die Aporien dieses Kompensationsprozesses sind Harig stets bewusst: 28

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30 31

Max Bense: Die präzisen Vergnügen. Versuche und Modelle. Wiesbaden 1964, S. 28. Erneut abgedruckt in: Ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. 4: Poetische Texte. Hrsg. und mit Einleitung, Anmerkungen und Register versehen von Elisabeth Walther. Stuttgart/Weimar 1998, S. 191. Queneau: Le chiendent. In: Ders.: Œuvres complètes, Bd. 2. Édition publiée sous la direction d’Henri Godard, avec, pour ce volume, la collaboration de Jean-Philippe Coen, JeanPierre Longre, Suzanne Meyer-Bagoly, Gilbert Pestureau, Emmanuël Souchier et Madeleine Velguth. Paris 2002, S. 104. Bergens (1963, S. 196) spricht angesichts der Vielzahl formaler Experimente vom „caractère gratuit“ des Queneau’schen Werks; dieser These widerspricht Hölz (1976, S. 273) und verweist auf die „Aussagefähigkeit der Struktur“, die Queneaus Texten eigen sei. Harig: Spiel mit dem Stil, S. 223.

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4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

Das Geschäft des Übersetzers, das Übersetzen einer sprachlichen Einheit vom Ufer eines in sich geschlossenen, atmosphärisch eigenartigen Geist- und Lebensraumes per technisch raffiniert konstruierter Transfähre zum Ufer eines anderen, ebenso geschlossenen, eigenartigen mentalen Raumes [...] ist ein Sisyphusgeschäft.32

Paradoxerweise erleichtern jedoch die ästhetischen Spezifika experimenteller Texte wie derer Queneaus, in denen die phonetische Dimension häufig das Sinnprimat in Frage stellt, die Aufgabe des Übersetzers. Harig zufolge erschließen sie dem Übersetzer „unerschöpfliche Möglichkeiten“,33 die es auszuloten gelte. Dabei steht für Harig nicht die Frage nach der prinzipiellen Übersetzbarkeit sprachexperimenteller Texte im Vordergrund, sondern vielmehr der jeweilige Grad des Gelingens, wenn er, wiederum im Rückbezug auf Walter Benjamin, schreibt: Ich räume, [mit] Walter Benjamin, ein, daß Übersetzbarkeit sprachlicher Gebilde auch dann zu erwägen sei, wenn diese für die Menschen unübersetzbar wären. Oder präziser, und ganz auf meinen Fall und meine Möglichkeiten bezogen: das im Original beschlossen liegende Gesetz der Übersetzbarkeit (hier des Werks Raymond Queneaus) läßt die Frage aufwerfen, ob es ›unter der Gesamtheit seiner Leser je seinen zulänglichen Übersetzer finden werde?‹ Von Unübersetzbarkeit plappern nur die Nachbeter.34

Es bleibt jeweils im Einzelfall zu klären, mit wie viel Gewinn oder Verlust sich eine solche „zulängliche“ Übersetzung von Queneaus Texten realisieren lässt. Seinen zweiten Gewährsmann neben Walter Benjamin findet Harig in José Ortega y Gasset, der in der Inkongruenz der Sprachen den Grund für die Vagheit, den sogenannten „flou“ einer jeden Übersetzung sieht.35 Erkennt Harig im Anschluss an Gasset die exakte Deckung des Wortmaterials zweier Sprachen als Utopie, so konzentriert er sich beim Übersetzen vielmehr auf die Suche nach ausdrucksstarken Äquivalenten, um das Original im Deutschen nachzubilden. Dabei scheut er sich auch nicht, seine Muttersprache zu verfremden. Das Ziel seiner Queneau-Übersetzungen besteht also nicht im Erlangen „semantische[r] Genauigkeit und Treue“, sondern, im metaphorischen Rückgriff auf naturwissenschaftliche Termini, in der Beibehaltung der „Dichte, Temperatur und [der] ästhetischen Gestalt“36 des Originals.

32 33 34 35 36

Harig: Raymond Queneau – übersetzt im Saarland, S. 281. Harig: Auf dem pataphysischen Hochseil, S. 167. Harig: Spiel mit dem Stil, S. 226. José Ortega y Gasset: Glanz und Elend der Übersetzung. Übersetzt von Gustav Kilpper. In: José Ortega y Gasset: Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 4. Stuttgart 1978, S. 126–151, hier S. 130 f. Harig: Spiel mit dem Stil, S. 222.

4.2 Zur Frage der Übersetzbarkeit von Queneaus Werk

249

Auf die Frage nach der Übersetzbarkeit von Queneaus Texten lässt sich eine vorläufige Antwort formulieren: Ja, Queneaus Sprachexperimente sind prinzipiell übersetzbar, die Suche nach äquivalenten Ausdrücken in der Zielsprache verlangt jedoch vom Übersetzer ein hohes Maß an poetischer Kreativität. Bevor Harigs Übersetzung der Petite cosmogonie portative in den Vordergrund rückt, gilt es, die spezifische Gestaltungsweise der Cosmogonie und die daraus resultierenden Anforderungen an den Übersetzer nachzuvollziehen. Das Sprecher-Ich der Cosmogonie versteht sich als naturwissenschaftlich versierter Sprachkünstler, der Motive und Fachbegriffe aus dem Bereich der Evolutionsgeschichte in sein lyrisches Epos integriert. Und doch fungiert das Thema der Entstehung der Erde nicht nur als Anlass für die Niederschrift eines literarischen Werkes. Denn die Evolutionsprozesse spiegeln sich in Queneaus sprachlichen Transformationen, anders gesagt: sie werden im Text performativ umgesetzt. Harig betont, Queneau benutze das Instrument der Sprache nicht allein zur Beschreibung bestimmter physikalischer Prozesse, sondern wende es in produktiver Weise gegen sich selbst, wenn er – im engen Korsett des klassischen Alexandriners – „gegen die Grammatik, gegen die Syntax seiner Sprache [anschreibe], um eine ästhetische Information zu geben“.37 Ziel ist eine poetische Umsetzung der Evolutionsgeschichte mit sprachlichen Mitteln: [Zu dem artistischen Gefüge aus Alexandrinern gibt Queneau] aber auch die ganze Ironie des heutigen Darwinisten gegen den Darwinismus, eine Ironie, die aus der Eigenschaft des Verfassers kommt, aber als romantische Ironie im Sinne Schlegels gelten muß, wenn Queneau Hermes poetologisch über die Evolutionstheorie reflektieren läßt. Diese so stilisierte und strukturierte Sprache läßt natürlich auch einen semantischen Sachverhalt durch, der umfangreich genug ist, den gesamten Prozeß der Entwicklungsgeschichte zu erhellen.38

Harig war sich von Anfang an bewusst, dass er bei der Übersetzung der Cosmogonie nur in den seltensten Fällen exakte inhaltliche Analogien zum Original finden würde: Ganz abgesehen davon, daß es [...] nahezu unmöglich ist, durch Wort- und Satzentsprechungen die gleiche semantische Information zu geben, interessiert primär die Struktur, die ästhetische Information trägt. Das, was ich als Übersetzer der ›Petite cosmogonie portative‹ erreichen konnte, war, eine ästhetische Information zu geben, die der ästhetischen Information des Originals entspricht.39

Um die von Queneau initiierte Verquickung von semantischer und ästhetischer Information möglichst oft nachzubilden, greift Harig auf das Material und das System der deutschen Sprache zurück und nutzt die ihm darin zur Verfügung stehenden Strukturen. Wiederholt Harig also die sprachli37 38 39

Ebd., S. 224. Ebd. Ebd.

250

4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

chen Operationen aus Queneaus Schreibprozess, so bleibt die deutsche Fassung immer auf das Original bezogen. Der „transponierte Sachverhalt“, so Harig, „[wird] aus der deutschen Sprache neu gemacht“,40 doch dieser Transformationsprozess lässt sich nur in einem reziproken Wechselspiel zwischen Originaltext und übertragenem Text realisieren. Im Hinblick auf Queneaus Cosmogonie sieht Harig die Freiheit und Erfindung im Umgang mit dem Original demnach nicht als eine von verschiedenen Übersetzungsstrategien an, sondern erkennt in ihnen die einzig mögliche Herangehensweise, da eine wortwörtliche Umsetzung den Charakter des Versepos verfälschen würde.41 Zu einem ähnlichen Schluss, in diesem Fall bezüglich der Exercices de style, kommt auch der griechische QueneauÜbersetzer Achilleas Kyriakidis, wenn es heißt: „Les ›Exercices de style‹ sont [un livre] qui serait trahi par une traduction fidèle.“42 An anderer Stelle spricht Kyriakidis von einer „liberté presque coercitive“,43 von einer „Zwangsfreiheit“, in der sich die Queneau-Übersetzer wiederfinden, da ihnen zwar nahezu unbegrenzte Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks, aber nur wenig Anhaltspunkte zu deren produktiver Umsetzung zur Verfügung stehen. Dass Ludwig Harig mit seinen in den fünfziger Jahren begonnenen Queneau-Übersetzungen Neuland betreten hat, reflektiert er im Rückblick auf die gemeinsam mit Helmlé angefertigte deutsche Exercices-Fassung: „Helmlé und ich haben den Drahtseilakt mit nachschöpferischer Lust aufgenommen und dabei etwas anstellen müssen, das jeder bis dahin ausgeübten Übersetzungspraxis entgegenlief.“44 Das Ziel der folgenden Analysen besteht darin, Harigs Strategien anhand ausgewählter Queneau-Übersetzungen aufzuzeigen und sie, wenn möglich, an seine eigene Poetik rückzukoppeln. Der Fokus der Untersuchungen richtet sich nicht nur auf Harigs Übersetzung von Queneaus Versepos Petite cosmogonie portative, sondern auch auf Übersetzungen seiner Gedichte. Besondere Bedeutung kommt dabei der „Poetik des Weitererzählens“45 zu, die Harig im Rahmen seiner Cosmogonie-Übersetzung herausgebildet hat. 40 41 42

43 44 45

Ebd. Ebd., S. 223. Kyriakidis (1987), S. 107. – Schon der Bibelübersetzer Hieronymus hat sich in seinem Brief an Pammachius, unter Berufung auf Cicero und Horaz, gegen ein „Kleben am Worte“ und damit gegen eine seiner Meinung nach „sklavische Übersetzung“ ausgesprochen. In: Hieronymus: Des Heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus Ausgewählte Briefe. Aus dem Lateinischen übersetzt von Dr. Ludwig Schade. Zweite Reihe, Bd. 18. München 1937, S. 272 f. Kyriakidis (1987), S. 108. Harig: Auf dem pataphysischen Hochseil, S. 165. Im Kontext heißt es bei Harig: „Während Eugen Helmlé […] alle Romane Queneaus übersetzte, dichtete ich seine alexandrinischen Versepen nach, treu die Poetik des Weitererzählens beherzigend.“ In: Harig: Wie man Orchideen beim Wort packt, S. 39.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

251

Ob es dabei um eine Fortführung eines episch-erzählerischen Grundmusters im Medium der Übersetzung geht oder ob es Harig im engeren Wortsinn um eine individuelle Auseinandersetzung mit dem Originaltext zu tun ist, den er in seiner Muttersprache transformiert – dieser Frage wird im Folgenden nachzugehen sein.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative 4.3.1 „Handgriffe Kunstkniffe Glattschliffe“: Klangspiele französisch/deutsch Raymond Queneaus in Alexandrinern verfasste Petite cosmogonie portative stellt einen Grenzfall zwischen lyrischer und epischer Gattung dar. Das aus sechs Gesängen bestehende Langgedicht über die Entstehung der Welt rekurriert sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht auf Lukrez’ De rerum natura, das älteste erhaltene Lehrgedicht in lateinischer Sprache, das sich in 7800 Versen mit naturwissenschaftlichen, philosophischen und psychologischen Fragen beschäftigt. In der Literaturbeilage der Times hat sich Queneau 1967 zu seinem ästhetischen Programm geäußert, in der Cosmogonie Naturwissenschaften und Poesie miteinander zu verschmelzen; ein Vorhaben, das er in dieser Form nur bei den Vertretern der „poésie scientifique“ des 16. Jahrhunderts realisiert sieht: We have to go back to Peletier du Mans and du Bartas to find scientific poetry; poetry, that is, in which not only is the subject scientific but in which the language of science is also transmuted into poetry. This was what I was trying in my ›Petite Cosmogonie Portative‹ (1950).46

Doch wie lässt sich die Sprache der Wissenschaft mit der Sprache der Poesie verbinden? Ausgangspunkt für Queneaus Experiment ist die Hereinnahme wissenschaftlicher Fachtermini in den lyrischen Text, wie sie die Figur des Botengottes Hermes in einer metapoetischen Einlassung im dritten Gesang der Cosmogonie fordert: „on parle d’albatros aux ailes de géant / de bateaux descendant des fleuves impassibles / d’enfants qui dans le noir volent des étincelles / alors pourquoi pas de l’électromag46

Raymond Queneau: Science and Literature. In: Times Literary Supplement vom 28. September 1967, S. 863 f. Queneau bezieht sich hier einerseits auf Jacques Peletier du Mans’ Sammlung L’amour des amours (1555), die enzyklopädisch geprägte Gedichte (vor allem Sonette) enthält, in denen Himmelskörper beschrieben werden; andererseits verweist er auf das enzyklopädische Hexameron La Sepmaine ou Création du monde (1578) von Guillaume de Salluste, Seigneur du Bartas (1544–1590). Es wird nicht nur durch die Verknüpfung dialektaler und fachterminologischer Ausdrücke charakterisiert, sondern auch durch den Einsatz von Metaphern, Paradoxa und Wortspielen.

252

4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

nétisme“ (III, V. 109–112).47 Die Originalität von Queneaus Cosmogonie besteht nun gerade darin, dass die Fachsprache sowohl mit lyrischen Elementen als auch mit umgangssprachlichen Ausdrücken interagiert und auf diese Weise immer neue Wortkombinationen hervorbringt (vgl. Kap. 4.2.4). Das Versmaß des Alexandriners steckt den Cosmogonie-Gesängen dabei einen strengen formalen Rahmen, den Queneau immer wieder auf subtile Weise unterläuft. Aufgrund dieser vielschichtigen Sprachverwandlung gilt Queneaus Cosmogonie nicht nur als sein erfindungsreichstes,48 sondern auch als sein anspruchsvollstes Werk, das von der Literaturwissenschaft jedoch bislang wenig rezipiert wurde.49 Harigs deutsche Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative beruht auf der Erstausgabe des Versepos von 1950, die Harig laut handschriftlichem Vermerk im November 1956 erworben hat.50 In seiner deutschen Fassung hat er sich als Übersetzer gleich drei Ziele gesetzt: Er strebt nicht nur danach, dem poetischen Erfindungsgeist Queneaus nachzueifern und möglichst viele seltene bzw. neuerfundene Vokabeln in seiner deutschen Fassung zu verarbeiten. Gleichzeitig will er auch auf formaler Ebene nahezu Unmögliches erreichen, wenn er nicht nur das klassische Versmaß des Alexandriners und all seine von Queneau eingeführten unorthodoxen 47

48

49

50

Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 62. Hölz (1976, S. 272) hat auf die in Hermes’ Forderung versteckten Zitate aus Gedichten von Baudelaire (L’albatros), Rimbaud (Le bateau ivre) und Corbière (Il fait noir, enfant, voleur d’étincelles) hingewiesen. Harigs Übersetzung lautet: „man spricht vom Albatros mit seinen Riesenflügeln / von Schiffen niederwärts in unbewegten Flüssen / von Kindern die bei Nacht den Funkenregen stehlen / warum jedoch nicht vom Elektromagnetismus?“ In: Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 31. Vgl. hierzu Claude Debon: „Cet imaginaire s’inscrit dans une langue qui dans toute l’œuvre de Queneau n’a jamais été aussi novatrice: mots-valises, hapax, plutôt que néologismes, – bien que l’auteur dans une note isolée parle de mots ›petit-laroussables‹.“ Siehe Claude Debon: Petite cosmogonie portative. Notice. In: Raymond Queneau: Œuvres complètes, Bd. 1. Édition établie par Claude Debon. Paris 1989, S. 1234–1238, hier S. 1238. Dazu Chris Andrews: „The combination of linguistic licentiousness and wide-ranging references to modern scientific knowledge makes the Cosmogonie a rather daunting poem and probably the least read of Queneau’s works.“ In: Andrews (2004), S. 71. Vgl. auch Pöckl (1986), S. 309. Raymond Queneau: Petite cosmogonie portative. Poème. Paris 1950. Die Kritik von Hölz (1976, S. 273) an Harigs Cosmogonie-Übersetzung beruht zum Teil auf der (falschen) Annahme, Harig habe sich auf die veränderte Fassung von 1969 bezogen. So kritisiert Hölz (1976), Harig habe die „Anspielung auf Wegners ›théorie de la dérive des continents‹“ („point n’est besoin pour toi Sélène de partir / de ce creux qu’aussi bien peut former la dérive“) in seiner Übersetzung des ersten Gesangs (V. 57/58) nicht umgesetzt. Hölz übersieht bei seiner Kritik, dass die entsprechenden Verse in der Erstausgabe von 1950 keinerlei Anspielung auf Wegners Theorie enthalten. Diese lauten: „le jour baisse son froc et démontre son cul / la stellaire chierî [sic] parsème son noir slip“. In: Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 14. In Harigs Übersetzung heißt es: „der Tag neigt seinen Rock und demonstriert den Arsch / das zärtliche Gestirn schmückt seinen schwarzen Slip“. In: Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 12.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

253

Varianten nachzuempfinden, sondern auch die Reime des Originals zu rekonstruieren sucht. Gerade im Hinblick auf die Gestaltung der formalen Elemente erweist sich ein Vergleich zwischen dem Vorabdruck des zweiten, vierten und sechsten Gesangs aus den Jahren 1958 bzw. 1961 und der Buchfassung der Taschenkosmogonie von 1963 als erhellend.51 Während die lexikalischen Neuerungen und Erfindungen bis auf wenige Ausnahmen schon im Vorabdruck ausgereift waren, wird das alexandrinische Versmaß erst in der Buchfassung kontinuierlich gestaltet.52 Im Abgleich der verschiedenen Textstufen, die zum Teil erhebliche Veränderungen aufweisen, soll dargelegt werden, dass sich Harigs sprachexperimentelle Techniken nicht in einer Imitation Queneau’scher Schreibstrategien erschöpfen, sondern dass er die Übersetzung eigenständig mit dem Material der deutschen Sprache gestaltet. Gleich die Assonanzen in den Eingangsversen der Cosmogonie bieten dem Übersetzer Spielraum zur kreativen Gestaltung: „La terre apparaît pâle et blette elle mugit / distillant les gruaux qui gloussent dans le tube / où s’aspirent les crus des croûtes de la nuit“ (I, V. 1–3; Hervorhebung A. S.).53 Im ersten Vers versucht Harig, den Aufschrei der Erde (la terre mugit) mit Hilfe einer mehrfachen Assonanz des ei-Diphthongs klanglich zu beschreiben: „Die Erde zeigt sich bleich und teigig sie schreit auf.“ Der Klang des Doppelvokals /ei/ wird in den folgenden Versen durch die dem Original nachempfundenen dunklen Vokale (gruaux – gloussent – croûtes) kontrastiert: „Sie destilliert den Grus der in der Röhre gluckst / Worin der Rindenwuchs der Nacht sich eingesaugt.“54 Nicht nur die ound u-Laute bildet Harig dem Original nach, auch die g-Alliteration wird im Deutschen rekonstruiert. An späterer Stelle im ersten Gesang ergibt sich die klangliche Ausschmückung der deutschen Verse quasi als Zugewinn aus der Notwendigkeit, eine Entsprechung für ein abstraktes Pluralwort zu finden: Im Original wird die Jugendlichkeit der Erde – bei Queneau stets mit einem 51

52 53 54

Nachdem der sechste Gesang bereits 1958 in der von Max Bense herausgegebenen Zeitschrift augenblick als Vorabdruck erschienen war, folgte dort 1961 die Publikation des zweiten und vierten Gesangs: Raymond Queneau: Kleine Taschen-Kosmogonie. Aus dem Französischen von Ludwig Harig. In: augenblick – zeitschrift für tendenz und experiment 3 (1958), Heft 5, S. 46–51, und Jg. 5, Heft 3–4, 1961, S. 7–20. Queneau schreibt in einem Brief an Harig vom 27. September 1963: „Cher Monsieur, j’ai reçu la ›Petite Cosmogonie‹ translatée par vos soins. Je n’ai plus d’éloges à faire de la traduction; j’espère qu’elle sera appréciée également par vos lecteurs. Quant à la présentation, elle est fort agréable et je remercie le professeur Bense pour sa préface.“ In: Ludwig Harig: Vorlass. DLA Marbach. Im Gegensatz zum italienischen Cosmogonie-Übersetzer Sergio Solmi hat Harig auf die Verwendung von Fußnoten zur Erklärung von Wortspielen und Polysemien verzichtet. Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 9. Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 11.

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4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

Zustand der Unabgeschlossenheit verknüpft – personifiziert und in einer übersteigert pathetischen Geste angerufen: „oh jeunesse oh jeunesse alors à cette table / où le néant bouffait le déjeuner instable / des possibles confits en une identité“ (I, V. 130–132).55 Harig gestaltet hier eine Kette von ei-Assonanzen, die er in Vers 132 fortspinnt: „o Jugend o an diesem Tisch also / an dem das Nichts verschlang den Möglichkeitenbrei / der zeitig eingemacht in einem Einerlei “.56 Im vierten Gesang wiederum, wo es um die Nahrungsaufnahme von Einzellern geht, findet sich ein weiteres Beispiel für die klangliche Ausschmückung der deutschen Fassung: „de la cellule unique édentée et imberbe / qui découvrit que c’est dégustable un vivant“ (IV, V. 105–106).57 Harig orientiert sich bei der Wiedergabe dieses Verses an der z-Alliteration, die ihm der deutsche Begriff „Zelle“ bzw. der französische Begriff „cellule“ vorgibt. Um diesen Klang zu vervielfachen, greift Harig bei der Übersetzung des französischen Verbs „découvrir“ auf die umgangssprachliche Redewendung „etwas spitzkriegen“ zurück: „[die] Einzelzelle die zahnlos und ohne Haar / die spitzbekam daß ein Lebendges eßbar ist“.58 Der humoristische Effekt von Queneaus Versen über die Denkleistung von Einzellern wird in Harigs Fassung noch gesteigert, da der Übersetzer sich nicht streng an der Wörtlichkeit des Originals orientiert, sondern seinen deutschen Text klanglich gestaltet und zugleich idiomatische Wendungen der Zielsprache in die Übertragung integriert. 4.3.2 „Wicht“, „Licht“, „Gedicht“: Das Spiel mit dem Reim Neben dem Spiel mit Assonanzen gehört der Einsatz von Reimen zu den bevorzugten klanglichen Gestaltungsmitteln in Queneaus Cosmogonie. In Harigs Übersetzung treten die Reime immer wieder in Kombination mit anderen poetischen Inventionen auf, sei dies die Verwendung seltener Vokabeln oder der Einsatz von Neologismen. Eine besondere Herausforderung für den Übersetzer stellen die aus Fremdworten bestehenden Paar55 56

57 58

Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 20. Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 14. – Vermutlich ist das Fehlen der Wiederholung des Wortes „Jugend“ auf einen Druckfehler zurückzuführen. Fügt man dieses Wort ein, wäre das Versmaß des Alexandriners mit zwölf Silben erfüllt; in der vorliegenden Fassung zählt man hingegen nur zehn Silben. Anders als Harig hat der italienische Übersetzer Sergio Solmi weder den Reim nachempfunden, noch eine andere Form der klanglichen Gestaltung eingesetzt: „a questo tavolo il Nulla di gusto / ingollava l’instabil colazione / di possibili assieme confettati“. In: Raymond Queneau: Piccola cosmogonia portatile. Traduzione di Sergio Solmi. Turin 2003, S. 15. Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 84. Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 39.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

255

reime dar, die das Sprecher-Ich beispielsweise in der Erläuterung der Zahlen-Genese im ersten Gesang einsetzt: jeunesse oh jeunesse oh quand un chatouillait deux sans savoir que son foutre en extrairait le tiers [...] et que l’informe quatt ptit spermatozoïde attendait de jouxter l’ovule arithmoïde

[I, V. 121–127] 59

Lassen sich die klanglichen Strukturen des Paarreims „spermatozoïde“ – „arithmoïde“ (V. 125–126) im Deutschen nicht nachbilden, gestaltet Harig im Rückgriff auf den Neologismus „Samentier“ eine eigenständige Lösung und verschiebt den Reim an eine andere Stelle: o Jugend Jugend als die Zwei von Eins gekitzelt wurde nicht wissend daß sein Schwanz das Drittel extrahierte [...] als die amorphe Vier das kleine Samentier sich fügen wollt’ der Ei-Arithmoide bei.60

Harig treibt die klanglichen Korrespondenzen noch weiter als Queneau dies im Original tut, wenn er den Reim „spermatozoïde – arithmoïde“ im Deutschen durch die beiden Binnenreime „Vier“ – „Samentier“ bzw. „Ei“ – „bei“ ersetzt. Außerdem reproduziert er, jetzt wiederum in Anlehnung an das Original, die dem Alexandriner inhärente Zäsur nach exakt sechs Silben. Offensichtlich koexistieren in Harigs Queneau-Übersetzungen die auf Veränderung bzw. die auf Korrespondenz zielenden Übersetzungsstrategien. Ganz ähnliche Herausforderungen bringt die Übersetzung einer metapoetischen Passage am Schluss des dritten Gesangs mit sich, in der das Sprecher-Ich das Verhältnis zwischen Poesie und Wissenschaft auf humorvolle Weise verhandelt: Das Skandium, eines der unedlen Metalle im Periodensystem, soll als poetisches Sujet legitimiert werden. Während Elemente wie das Thorium, das Fluor oder das Oxalat der Bewunderung wert erscheinen, entbehrt das Skandium offenbar jeglicher Eigenschaft, um in einem lyrischen Text thematisiert zu werden. Das Unedle des Skandiums, aus der Sicht des Wissenschaftlers eine völlig wertneutrale Eigenschaft, wird vom Sprecher der Cosmogonie wörtlich genommen und als quasi ethisch motiviertes Ausschlusskriterium angeführt. Versucht der Sprecher dennoch, das Skandium aufzuwerten, so tut er dies angesichts eines von ihm konstatierten akuten Mangels an Versen für die Schlusspassage des Gesangs:61 59 60 61

Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 19. Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 14. Harigs Übersetzung lautet: „Doch bringen unser Hoch dem Thorium wir dar / und respektieren wir Fluor und Oxalat / beschaun wir des Metalls zerbrechlich spröde Schulter

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4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

Présentons notre hommage à la thorvéitite respectons l’oxalate aussi le fluorure voyons de ce métal la fragile carrure [...] mais pourquoi le scandium? Pourquoi ce substantif placé comme un nammson au vingt-unième rang quoi donc légitima ce substantif logique qui pourra me permettre une concluzillon car je n’ai plus assez de vers pour ces lourdingues qui du chrome au bismuth s’étalent s’étalant

[III, V. 209–218] 62

Die nun folgende humoristisch gefärbte Legitimierung des unedlen Metalls als poetisches Sujet vollzieht sich in einem sprachperformativen Prozess, in dem die Reflexion des Namens „Scandium“ selbst zur Entstehung bzw. Fortführung des Gedichts beiträgt: Die Frage nach der Etymologie dieses Begriffs beantwortet der Sprecher, indem er dessen Namen, angesichts einer bestehenden Homophonie, auf den rhetorischen Begriff der „scansions“, des metrisch stark akzentuierenden Gedichtvortrags, zurückführt. Die klanglich motivierte Argumentation dominiert hier über eine sprachgeschichtlich fundierte; wissenschaftliche und rhetorische Termini werden unter dem Vorzeichen des Gleichklangs ineinandergeblendet. Vers für Vers spinnt der Sprecher diese Analyse fort, wobei er auf der Grundlage der Eingangssilbe des Begriffs „Scandium“ („Scan“) weitere Wörter generiert („scandium“ – „scansions“ – „scandale“) und auf diese Weise die Schlussverse des Gesangs konstruiert: ce chant topologique épanouit le scandium ainsi nommé c’est sûr à cause des scansions vingt et un c’est mon chiffre et voilà quel scandale le métal inconnu le metal pauvre hère qui vient légitimer l’entreprise initiale le poème jaillit d’un coin de cette terre

[III, V. 224–229] 63

In dieser Passage wird deutlich, wie Queneau sein Konzept einer poésie scientifique realisiert, indem er den Bereich der Naturwissenschaften – in diesem Fall repräsentiert durch das Skandium – nicht nur thematisch in den lyrischen Text integriert, sondern als Wortmaterial poetisch fruchtbar macht. Diese Fusion zwischen der Sprache der Wissenschaft und der

62 63

[…] jedoch das Skandium? Warum dies Substantiv / das wie ein Haken einundzwanzigrangig sitzt / denn was legitimiert dies logsche Substantiv / das mir erlauben könnt’ des Schlusses Folgerung / ich hab’ noch nicht genug der Verse für die Tölpel / die sich vom Chrome bis zum Wismut hin erstrecken.“ In: Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 34. Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 70 f. Ebd., S. 72. In Vers 226 rekurriert der Sprecher der Cosmogonie auf Queneaus Geburtsdatum, den 21. Februar [1903]. Vgl. Hölz (1976), S. 269.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

257

Sprache des Gedichts wird als ein das Skandium legitimierendes, weil veredelndes Verfahren – in doppeltem Sinne – mitreflektiert. Harigs Übersetzung dieser Schlussverse reproduziert die im Original angelegten Gleichklänge, wenn auch an anderen Stellen: dies topologsche Lied erweckt das Skandium das sicher so genannt infolge der Skansionen die Einundzwanzig das ist meine Schlüsselzahl und hier welch ein Skandal als hinterstes Metall beweist der arme Wicht den ersten Schritt ins Licht In einer Eck’ der Erd entschlüpfte dies Gedicht.64

Die Veredelung des Skandiums im Sinne einer poetischen ›Erweckung‹ (V. 224) ermöglicht die Entstehung neuer Verse, dank einer auf Homophonie basierenden Wortgenese: „Skandium“ – „Skansionen“ – „Skandal“. Hier macht sich Harig das latente poetische Potential und den sprachlichen Assoziationsreichtum des naturwissenschaftlichen Terminus zunutze. Über die Verkettung von Gleichklängen hinaus gestaltet Harig in seiner Übersetzung w-, i- und e-Assonanzen („beweist“ – „Wicht“; „Schritt ins Licht“; „Eck’“ – „Erd“ – „entschlüpfte“) sowie eine dreigliedrige Abfolge von Reimworten („Wicht“ – „Licht“ – „Gedicht“), die Queneaus Verfahren der Vers-Autogenese noch einmal potenzieren. Anhand der klimaktischen Abfolge der Wortreihe „Wicht“ – „Licht“ – „Gedicht“ lässt sich die Aufwertung bzw. die Poetisierung des Skandiums nachvollziehen: Auf die Überführung der wissenschaftlichen Klassifikation des Unedlen in den Bereich der Ethik, die sich in der abwertenden Personifikation des Skandiums als „Wicht“ („pauvre hère“) niederschlägt, folgt eine besondere Fokussierung des Metalls, das, indem es sich als lyrischer Gegenstand legitimiert, den „ersten Schritt ins Licht“ vollzieht. Seine Präsenz im Text trägt wiederum zur Versgenese, also zum „Gedicht“ (i. e. die Cosmogonie) selbst bei. Durch die Finalstellung im dritten Gesang unterstreicht Harig die Funktion des Wortes „Gedicht“ – stärker noch als Queneau dies tut –, mit dem auf semantischer und auf formaler Ebene der Zielpunkt der sprachlichen Autogenese bezeichnet ist. Das SkandiumWortspiel zeigt beispielhaft auf, wie der Bereich der Naturwissenschaft von Queneau ins Poetische überführt wird. Die Interaktion von wissenschaftlichen Termini und lyrischen Elementen wird vom Sprecher-Ich in der zitierten Passage nicht nur reflektiert, sondern gleichzeitig sprachgestisch vollzogen. Harigs Übersetzungsverfahren intensiviert die im Original angelegten Assonanzen und damit die quasi autogenetische Dynamik von Queneaus Versen. 64

Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 34.

258

4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

Auch an anderen Stellen seiner Cosmogonie-Übersetzung verwendet Harig Binnenreime, wenn das Original diese gar nicht vorgibt. Heißt es bei Queneau von den Entstehungs- und Verwesungsprozessen der Pflanzen: „Le lichen pue et la mousse s’effrite et l’algue se souvenant“ (II, V. 167),65 so gestaltet Harig einen dreigliedrigen Binnenreim: „Die Flechte stinkt das Moos zerrinnt die Alg’ entsinnt.“66 Ähnlich verfährt Harig bei der Übersetzung von Queneaus lyrischer Reflexion der auf den Urknall folgenden interstellaren Evolutionsprozesse, in deren Zusammenhang das SprecherIch die sich ständig wandelnden Wolkengebilde beschreibt: „La terre se formait Vives les nébuleuses“ (I, V. 147).67 Harig fügt in seiner Fassung einen Binnenreim hinzu, der im Original nicht angelegt ist: „Die Erde formte sich Die quecken Nebelflecken.“68 Der Binnenreim „[die] quecken Nebelflecken“ basiert auf dem althochdeutschen Adjektiv „queck“ (neuhochdeutsche Form: „quick“: lebendig, sehr regsam, munter69). Diese veraltete Wortform bildet in der deutschen Fassung ein Irritationsmoment, da es zwar die denotative Bedeutung des französischen Adjektivs „vif“ transportiert, gleichzeitig aber wie ein Fremdwort anmutet. Das wiederholte Hinzufügen von Binnenreimen zeugt von Harigs spielerischem Umgang mit dem Wortmaterial der deutschen Sprache. Auch in den Übertragungen von Queneaus Gedichten legt Harig besonderen Wert auf die Gestaltung der Reime und Gleichklänge, z. B. bei Queneaus Text Les dimanches haïs favorisent la poésie (1965), dessen vierte Strophe lautet: Madeleine a vu dans son coin une réserve de bananes elle s’empiffre à rendre l’âme onésiphore est son cousin.70

In Harigs Version Die gehaßten Sonntage begünstigen die Poesie lauten die entsprechenden Verse: Madleine sieht in einer Ecken nen Rest von der Bananenmeng sie stopft sich voll bis zum Verrecken Onesiphor ist ihr Kuseng [sic].71 65 66 67 68 69 70 71

Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 45. Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 23. Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 21. Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 14. Vgl. den Eintrag „queck“. In: DWB: Bd. 13, Sp. 2334–2335. In: Queneau: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 271. Harig muss dieses Gedicht schon als Vorabdruck bzw. durch den Autor gekannt haben, da seine Übersetzung bereits 1960 erschienen ist. In: augenblick – zeitschrift für tendenz und

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

259

Harig ersetzt zunächst den umarmenden Reim des Originals durch einen Kreuzreim. Bemerkenswert ist zudem die Freiheit, mit der Harig das Reimwort „Kuseng“ als Reimwort auf „Bananenmeng“ geradezu künstlich herstellt, ein Verfahren, das Queneau an anderen Stellen in seinem Werk selbst verwendet.72 Das Phänomen, das Harig sich zunutze macht, ist jedoch in diesem Fall ein genuin deutsches: Das Reimwort auf „Bananenmeng“ basiert auf der parodistischen Transkription des Lehnworts „Cousin“, die wiederum auf die in der deutschen Aussprache häufig anzutreffende Vernachlässigung des Nasals rekurriert. 4.3.3 „Metrisch“ – „Dissimetrisch“: Queneaus deutsche Alexandriner Ludwig Harig versucht in seiner Cosmogonie-Übersetzung nicht nur die Klangspiele und Reimgefüge des Originals beizubehalten, sondern auch das alexandrinische Versmaß im Deutschen nachzubilden. Diese Entscheidung birgt große Herausforderungen, zumal Queneau neben dem klassisch gefügten Alexandriner mit 12 bzw. 13 Silben und Mittelzäsur auch zahlreiche unorthodoxe Varianten des Versmaßes verwendet, die syntaktische und semantische Normen durchbrechen, um die Position der Zäsur und die Silbenzahl einzuhalten. Wie anspruchsvoll die Gestaltung des klassischen Alexandriners im Deutschen ist, zeigt sich auch daran, dass die verschiedenen Fassungen der Taschenkosmogonie im Bereich der Metrik die größten Veränderungen aufweisen. Während Harig für die lexikalischen Erfindungen Queneaus größtenteils schon in den Vorabdrucken (1958 bzw. 1961) Lösungen gefunden hat, wird das französische Versmaß hier nur unvollständig rekonstruiert und erhält erst in der Buchfassung (1963) seine letztgültige Form. Durch einen Vergleich dieser Fassungen lässt sich die Genese von Harigs Übersetzung detailliert nachvollziehen. In einem Passus zum Überlebenskampf der Arten heißt es:

72

experiment. Hrsg. von Max Bense. Jg. 4, Heft 3, Mai/August 1960, S. 16. Erneuter Abdruck in: Der Literaturbote. Juli 1989, Heft 14, S. 41. – Der Name „Onésiphore“ findet sich auch in Queneaus Roman Les fleurs bleues (1965), und zwar als Vorname des Kaplans des Duc d’Auge, „Onésiphore Biroton“. In: Queneau: Œuvres complètes, Bd. 3, S. 1009. Im fünften Gesang der Cosmogonie stellt Queneau beispielsweise ein Reimwort auf „puma“ her, indem er das Adjektiv „humanitaire“ nach der zweiten Silbe („huma“) durch einen Zeilenbruch aufspaltet: „En battant du tambour le tigre et le puma / pourraient à la rigeur passer par trop huma- / nitaires si jamais le sang la hampe huma“ (V. 211–213). In: Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 117. In diesem Fall konnte Harig das Reimschema des Originals nicht beibehalten: „Wenn sie die Trommel rührn dann könnten Tiger Puma / ganz streng genommen als zu menschenfreundlich gelten / jedoch nur dann wenn nicht die Wampe Blut geschlürft.“ In: Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 52.

260

4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

Elle bouscule elle balaie elle la terre tendant un piège infect celui de l’ambition

[II, V. 229–230] 73

Harigs erste Fassung von Vers 230 imitiert den französischen Satzbau: Sie rempelt und sie fegt die gute Erde sie stellt eine faule Falle die des Vorwärtsstrebens74

In der Buchfassung konzentriert sich der Übersetzer dann besonders auf die Beibehaltung der spezifischen Eigenschaften des alexandrinischen Versmaßes, in diesem Fall der Mittelzäsur. Zu diesem Zweck ersetzt Harig den französischen Begriff „ambition“ durch das Begriffspaar „Eifer und Streben“ und verzichtet auf die Übertragung des Adjektivs „infect“. Das Abwägen zwischen semantischer und metrischer Korrespondenz entscheidet sich in diesem Fall zugunsten der Metrik: Sie rempelt und sie fegt die gute Erde sie stellt eine Falle auf dem Eifer und dem Streben75

Im sechsten Gesang gestaltet Harig eine ganze Textpassage um. Bei Queneau heißt es: mais de tourner en rond sans un autre mobile paraît au mécanique une tâche imbécile pour alterner ses pas ou rester continu pour demeurer lui-même ou danser rectiligne d’un seul acte il acquiert tout un bouquet d’organes courroie à transmission pédale et manivelle cliquet vis et volant et ressort à boudin voici le cœur le foie et voici la cervelle les hormones la glande et le muscle et le nerf De l’atome au cristal et du bacille au cerf de l’algue à l’hortensia du sinanthrope au rouet chaque règne accomplit sa course omniumnaire

[VI, V. 111–121] 76

Schon das Schriftbild der Buchfassung zeugt von Harigs Versuch, die individuelle Verslänge und damit auch die Silbenzahl zu harmonisieren und dem alexandrinischen Versmaß anzupassen. Finden sich im Vorabdruck noch extreme Schwankungen in der Verslänge (zwischen 9 und 18 73 74 75 76

Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 50. Raymond Queneau: Kleine Taschenkosmogonie. Übersetzt von Ludwig Harig. In: augenblick – zeitschrift für tendenz und experiment. Hrsg. von Max Bense. Jg. 5, Heft 3–4, 1961, S. 7–20, hier S. 7. Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 24. Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 130 f.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

261

Silben), besitzen in der Buchfassung alle Verse 12 bzw. 13 Silben. Im Vorabdruck (1958) lauten diese: doch rundzudrehen ohne fremde Antriebskraft erwirbt sie sich in einem einzigen Akte ein Organenbündel kommt der Mechanik einem törichten Bemühen gleich um das zu bleiben was sie ist um fortzutanzen zum Gleichschritt oder Wechselschritt Treibriemen Kurbel und Pedale Sperrklinke Schraube Schwungrad und Spirale hier ist das Herz die Leber das Gehirn Hormone Drüse Nerv und Muskel und vom Atom bis zum Kristall von dem Bazillus bis zum Hirschen der Alge zur Horthensie dem Sinanthropus zu der Rolle vollendet jedes Reich sein omniumnäres Rennen77

In der letztgültigen Fassung der Taschenkosmogonie (1963) heißt es: doch rundzudrehen ohne fremde Antriebskraft kommt der Mechanik vor als törichtes Bemühn um Schritt zu halten stets zum Gleich- und Wechselschritt um das zu bleiben was sie ist um fortzutanzen erwirbt in einem Akt sie ein Organenbündel den Antriebsriemen und die Kurbel und Pedale Sperrklinke Schwungrad und die Schraube und Spirale hier sind nun Leber Herz und hier ist das Gehirn hier sind Hormone Drüs’ der Muskel und der Nerv Atom bis zum Kristall Bazillus bis zum Hirschen die Alge zur Hortens’ der Frühmensch bis zum Rad es rundet jedes Reich sein lückenloses Rennen78

Neben der korrigierten Anordnung der Verse 111 bis 115 und der Anpassung der Silbenzahl lassen sich hier zwei Veränderungstendenzen beobachten, die beide der Silbenreduktion dienen: die Tilgung von Fremdwörtern („Sinanthropus“ – „Frühmensch“; „omniumnär“ – „lückenlos“) und die elliptische Verkürzung („Drüs’“; „Hortens’“). Außerdem werden die Mittelzäsuren mehrfach mit Hilfe der Konjunktion „und“ markiert (V. 116, 117). An anderen Stellen der Übersetzung muss Harig auf einzelne Bedeutungsnuancen des Originalverses verzichten, will er das strenge Versmaß der Cosmogonie nicht durchbrechen. Dieser Eingriff vollzieht sich jedoch oft erst im Zuge der Überarbeitung zwischen der ersten und zweiten 77 78

Raymond Queneau: Kleine Taschen-Kosmogonie. Sechster Gesang. Aus dem Französischen von Ludwig Harig. In: augenblick – zeitschrift für tendenz und experiment 3 (1958), Heft 5, S. 46–51, hier S. 46. Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 57 f.

262

4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

Druckfassung, wie sich auch an der Passage über geflügelte Insekten im vierten Gesang erkennen lässt: et voilà que survient pleine contradiction l’ordre unifamilial des premières plectoptères et c’est les soirs d’été de dimanche à Meudon après l’évolution des groupes éphémères la danse sourde de tout petits hydravions

[IV, V. 220–224] 79

Im Erstdruck der Übersetzung des vierten Gesangs von 1961 bricht Vers 224 noch aus dem alexandrinischen Versmaß aus: doch unvermutet stell [sic] sich voller Widerspruch die Einfamilienart der Uferfliegen ein und in Meudon geschart zur Sommersonntagnacht nach der Entwickelung der ephemeren Gruppen der taube Tanz all dieser kleinen Wasserflieger

[IV, V. 220–224] 80

In Vers 224 ist es weniger die erhöhte Silbenzahl als die fehlende Zäsur, die die Form des Alexandriners im Deutschen durchkreuzt. Für die 1963 erschienene Buchausgabe streicht Harig das Adjektiv „taub“ und passt den Vers dem alexandrinischen Versmaß an: „da tanzen sie vereint die kleinen Wasserflieger“ (IV, V. 224).81 Anhand der genannten Beispiele lässt sich die Genese von Harigs Übersetzung an sein Vorhaben rückbinden, eine weniger semantisch als vielmehr formalästhetisch äquivalente deutsche Fassung von Queneaus Cosmogonie anzufertigen. Teilweise verwendet Queneau in seinen Alexandriner-Variationen asemantische Satzbrüche, wie in einem Abschnitt zur Elektrizität im sechsten Gesang: Les lecteurs électeurs attirant l’électricité de la grenouille à la foudre galvanent cependant que des bras du haut de Saint-Sulpice colportent sans un fil les bobards et les vannes les ondes vont donner des nerfs au mécanique

[VI, V. 180–183] 82

In Vers 180 weicht Queneau vom regulären Aufbau des Alexandriners ab, wenn er die vorgeschriebene Silbenzahl durch den gewaltsamen Abbruch 79 80 81 82

Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 93 f. Raymond Queneau: Kleine Taschenkosmogonie. Übersetzt von Ludwig Harig. In: augenblick – zeitschrift für tendenz und experiment 5 (1961), Heft 3–4, S. 7–20, hier S. 20. Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 42. Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 136.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

263

des Wortes „électric-ité“ herbeiführt. Diese künstliche Zäsur legitimiert sich hier insofern, als sie die Assonanz des Versanfangs „lecteurs électeurs“ mit dem Wortbruchstück „l’électric“ um ein drittes Klangelement erweitert und zudem das Reimpaar „électric“ – „Sulpice“ bildet. Das klassische Versmaß wird von Queneau also um der Klangspiele willen bis an die Grenze strapaziert. In Harigs Übersetzung geht die dreigliedrige Assonanz des Originals verloren, wenn die Wendung „lecteurs électeurs“ mit „erwählte Lehrer“ übersetzt wird: Erwählte Lehrer ziehn dem Frosch die Elektrizität aus seinem Bein galvanisiern im Blitz indessen Arme von der Höhe Saint-Sulpice drahtlose Gerüche und Latrinen rundum werfen die Wellen geben der Mechanik ihre Nerven83

Der ungewöhnliche Wortumbruch hingegen wird in der deutschen Fassung bewahrt und ermöglicht die Bildung des Reimpaars „Elektriz“ – „Blitz“. Immer wieder muss Harig in seiner Übersetzung auf ungewöhnliche sprachliche Mittel zurückgreifen, um z. B. Queneaus Kombinationen aus Alexandrinern und Binnenreimen ins Deutsche zu übertragen. So heißt es in der Beschreibung des Skorpions: voici le grand ancêtre au peigne énigmatique qui poursuit son destin immuable et sévère en laissant croire à l’homme un goût pour le suicide lorsque cet imbécile agit en incendiaire et se mettant à part de toute évolution admirons admirons l’arthropode scorpion

[IV, V. 185–190] 84

hier ist der große Ahn mit rätselhaftem Kamm der weiterlebt sein Los unwandelbar und düster den Menschen glauben läßt er fänd am Selbstmord was wenn dieser Schwachkopf sich an Feuersbrünsten weidet und sich dabei von der Gesamtentwicklung scheidet bewundern wundern wir Skorpion das Gliedertier85

Um nicht nur die Silbenzahl und die Mittelzäsur des Alexandriners, sondern auch den Binnenreim in Vers 190 zu bewahren, gestaltet Harig den deutschen Vers elliptisch: Zum einen kappt er (in der Wiederholung) das Präfix des Verbs „bewundern“ („wundern“), zum anderen tilgt er den bestimmten Artikel vor dem Wort „Skorpion“. An dieser Stelle lässt sich 83 84 85

Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 59. Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 90 f. Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 41.

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4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

die formale Korrespondenz zum Original offensichtlich nur durch eine lexikalische und syntaktische Veränderung erreichen.86 In seiner Übersetzung versucht Harig jedoch nicht nur, Queneaus zum Teil extreme Abweichungen vom klassischen Versmaß präzise nachzubilden. An einzelnen Stellen greift er als Übersetzer auch in das Verweissystem des Originals ein und unterlegt ihm eine zweite Ebene, auch und besonders im Bereich der Metrik. In der bereits im Zusammenhang mit Neologismen und Wortspielen zitierten Passage des zweiten Gesangs über die Entstehung der festen Materie klingt das Aufbrechen metrischer Normen schon an: de la nuée adipeuse au fond du crépuscule chimique annonçant l’aube archidissymétrique des êtres bousculant l’entropie en trop bue

[II, V. 135–137] 87

Während Queneau mit dem Begriff „archidissymétrique“ implizit auf den Bereich der Metrik anspielt, wird diese metapoetische Dimension in der deutschen Fassung durch eine kleine, aber signifikante Verschiebung expliziert: Statt eines Adjektivs verwendet Harig das Substantiv „Archidissimetren“, das den rhetorischen Terminus „Metren“ enthält, und nimmt damit seine eigene poetische Strategie im Folgevers vorweg. Denn hier werden die ›Dissimetren‹ insofern realisiert, als Harig den Vers selbst ›dissimetrisch‹, d. h. in diesem Fall vom alexandrinischen Versmaß abweichend, gestaltet: und von der Wetterwolk’ zum chemschen Dämmergrund anzeigend den Beginn der Archidissimetren die übern Durst die Entropie zuunterst kehren [Hervorhebung A. S.] 88

Entgegen der steigend alternierenden Bauform des deutschen Alexandriners beginnt Harig den Vers 136 mit einem Daktylus („ánzeigend“). Auf diese Weise werden die bei Queneau angelegten ›Dissimetren‹ in der deutschen Fassung nicht nur benannt, sondern auf das Sprachmaterial selbst angewendet: Statt des vom Alexandriner geforderten steigenden Metrums wird ein fallendes eingesetzt. Daraus ergibt sich für den deutschen Leser ein Irritationsmoment, das im Original in semantischer Hinsicht angelegt ist und von Harig zusätzlich sprachgestisch vollzogen wird. 86 87 88

Darüber hinaus vertauscht Harig die Elemente des Binnenreims in Vers 190 („admirons“ – „scorpion“), wenn er nicht die Spezies, d. h. den Skorpion selbst, sondern den übergeordneten Stamm als Reimwort verwendet („wir“ – „Gliedertier“). Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 42. Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 22. Zu Harigs Übersetzung der Wendung entropie / en trop bue siehe Kap. 4.3.4.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

265

Das dominante Charakteristikum von Harigs metrischer Übertragung der Taschenkosmogonie ist unzweifelhaft ein spielerisches: Auffüllen und Reduzieren, Verfremden, Umgestalten und Übersteigern – all diese Verfahren macht er sich als Queneau-Übersetzer zu eigen und führt sie eigenständig fort. 4.3.4 „Raffiniert konstruierte Transfähre“: Intensivierung durch Transformation Raymond Queneaus Texte fordern die Kreativität seines Übersetzers in besonderem Maße heraus, indem sie ihn einerseits mit Neologismen und andererseits mit Argot-Ausdrücken konfrontieren, für die es in der deutschen Sprache keine Äquivalente gibt. In Reaktion auf diese Schwierigkeit flicht Harig selbst viele seltene Vokabeln in seine Übersetzungen ein, seien dies eigene Wortneuschöpfungen oder umgangssprachliche bzw. mundartliche Ausdrücke. Am häufigsten sind in diesem Zusammenhang Komposita anzutreffen, darunter zweigliedrige: hypocrite maladie – Heuchelweh (II, V. 142) les éclairs foudroyants – Schmetterblitze (II, V. 147)

und dreigliedrige: enveloppes de corne – Kornelkirschzwiebelhaut (I, V. 38)89 la lutte antibouquiniste – Antischmökerkampf (IV, V. 198) céphalopode – Urweltkrakenbrut (II, V. 128) les thés dégustés – Fünfuhrkaffeekränzchen (IV, V. 23–29) les ptits fils du boulier – Rechenschieberenkel (VI, V. 171)

Es finden sich aber auch ungewöhnliche Adjektivbildungen wie „die schleichezähen Tage“ („les jours dégoulinaient“; I, V. 162). Nach dem Muster eines Adjektiv-Verb-Kompositums wie „siedeheiß“90 setzt sich Harigs Neologismus „schleichezäh“ aus dem Adjektiv „zäh“ und dem Präsensstamm des Verbs „schleichen“ („schleich“) zusammen, verknüpft durch das Fugenelement -e. Gemäß der Wortbildungsgesetze der deutschen Spra89 90

Die französische Wendung „enveloppes de corne“ bietet Harig den Anlass zu einer verfremdenden Eindeutschung, in der die Begriffe „Kornelkirsche“ (ein Großstrauch), „Kirschzwiebel“ und „Zwiebelhaut“ miteinander kombiniert werden. Die Wortbildungsbedeutung dieser Art von Adjektiv-Verb-Kompositum lässt sich mit Fleischer/Barz als eine konsekutive bezeichnen: Besteht ein Kompositum aus A (adjektivisches Zweitglied) und V (verbales Erstglied), so gilt: „X ist so A, daß V.“ Angewandt auf Harigs Neologismus, ließe sich dessen Semantik folgendermaßen paraphrasieren: Die Tage sind so zäh, dass sie schleichen. Vgl. Fleischer/Barz (1995), S. 248.

266

4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

che hat Harig ein neues Wort geschaffen, das sich der Semantik des französischen Verbs „dégouliner“ (dt. „tropfenweise fließen“) annähert. In diesem Sinne lässt sich die von Karl Hölz in Bezug auf Queneau getroffene Aussage auch auf dessen deutschen Übersetzer anwenden: „Innerhalb der Dichtung entspräche dem Gesetz der Natur, offen zu sein für potentielle Neubildungen, die Bereitschaft des Dichters, neue Formen zu erproben.“ 91 In diesem Sinne entsprechen die Wortmutationen bei Queneau und Harig den evolutionären Mutationen von Flora und Fauna. Harigs Tendenz, seine deutschen Fassungen der Queneau-Texte sprachlich auszugestalten, wurde bereits im Kontext der Reim- und Klangspiele analysiert. Auch im lexikalischen Bereich beschränkt sich Harig nicht auf die Imitation der im Original angelegten Wortakrobatik, sondern ergreift jede Gelegenheit, der deutschen Sprache neue Bereiche zu erschließen. Dabei zeigt der Vergleich zwischen dem Vorabdruck und der Buchfassung der Taschenkosmogonie, dass Harig einzelne sprachliche Inventionen in der zweiten Fassung noch einmal intensiviert oder zugespitzt hat – wie in der Passage über die Entstehung der Kristalle: Le père polyèdre engendre réguliers les cinq fils de l’espace où voltigeait Euclide mais la coupe sévère et les tranches obliques multiplient la figure à l’hydre minéral ils s’entassent secrets sous la couche d’argile ils se tronquent la face en la gangue imbécile [II, V. 116–121; Hervorhebung A. S.] 92 Ganz regelmäßig zeugt der Polyedervater des Raums fünf Söhn’ in dem Euklid umhergesprungen jedoch der scharfe Schnitt und auch die schrägen Scheiben erweitern die Figur zur mineralen Hyder sie türmen insgeheim sich in der Tonschicht auf sie stumpfen ihr Gesicht im unbezillen Stollen [Hervorhebung A. S.] 93

Die hier zitierte Buchfassung von 1963 unterscheidet sich in einem einzigen Aspekt von der Erstveröffentlichung (1961); dort lautete der Vers 121: „sie stumpfen ihr Gesicht im imbezilen Stollen“.94 Hier zeigt sich eine minimale, doch signifikante Verschiebung, nämlich die Ersetzung des aus dem Französischen entlehnten Worts „imbezil“ durch die eingedeutschte Wendung „unbezill“.95 Dieser nachträgliche Eingriff zeugt von Harigs 91 92 93 94 95

Hölz (1976), S. 266. Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 40 f. Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 22. Queneau: Kleine Taschenkosmogonie (1961), S. 10. Der Begriff „unbezill“ findet sich weder im Grimm’schen Wörterbuch noch im Grammatisch-kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von J. C. Adelung.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

267

Bestreben, die deutsche Cosmogonie-Fassung so individuell und variantenreich wie möglich zu gestalten. Auch in den deutschen Fassungen von Queneaus Gedichten abseits der Taschenkosmogonie reichert Harig sein Vokabular durch ungewöhnliche Fundstücke an, so auch in der Übertragung der letzten Strophe von Queneaus Gedicht Je crains pas ça tellement, einer humoristisch gefärbten Abwehr der menschlichen Todesfurcht: Aujourd’hui bien lassé par l’heure qui s’enroule tournant comme un bourrin tout autour du cadran permettez mille excuz à ce crâne – une boule – de susurrer plaintif la chanson du néant.96

In einem undatierten Entwurf aus Harigs Vorlass lauten die letzten Verse wie folgt: Heut von der Stunde müd die sich von dannen schlich und sich als Mähre dreht rund um das Zifferblatt entschuldigt tausendmal die Schädelkugel sich für dieses Lied des Nichts das sie gejammert hat.97

Vor der Drucklegung des Gedichts für eine Anthologiepublikation im Jahr 1990 hat Harig jedoch den zweiten Vers der Strophe verändert. Als Entsprechung für das Argot-Wort „bourrin“ tauscht er den Begriff „Mähre“ gegen den des „Kleppers“ aus. Außerdem fügt er dem VergänglichkeitsMotiv der Uhr ein neues Element bei, das die im Original angelegte Szenerie eines im Kreis laufenden Pferdes modifiziert: Heut von der Stunde müd, die sich zusammenrollt, sich wie ein Klepper rund um einen Göpel trollt, entschuldigt tausendmal die Schädelkugel sich flüsternd im Klageton für dieses Lied des Nichts.98

96 97

98

Queneau: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 123. Ludwig Harig: Vorlass DLA Marbach. Harig hat die Entwürfe auf der Rückseite des Schulfunkprogramms von 1964 notiert. Dieser Umstand bietet jedoch keinen zuverlässigen Anhaltspunkt für das Entstehungsdatum. – Rosemarie Keith gestaltet das Motiv der Uhr in ihrer 1963 erschienenen Übersetzung des Queneau-Gedichts Das macht mir nicht so Angst ähnlich: „Heut vom Abrollen der Stunden schachmatt / – sie zotteln wie alte Mähren ums Zifferblatt – / entschuldigt diese Kugel von Schädel sich / für ihr klagend gemurmeltes Lied vom Nichts.“ In: alternative. zeitschrift für dichtung und diskussion. Nr. 28, Februar 1963, S. 9. In: Französische Dichtung 4: Von Apollinaire bis heute. Hrsg. von Bernhard Böschenstein und Hartmut Köhler. München 22001, S. 298–301.

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4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

Das Element des „Zifferblatts“ und damit das Motiv der Uhr entfällt in der Druckfassung zugunsten des Begriffs „Göpel“.99 Dieser verweist auf ein „Göpelwerk“, d. h. eine Arbeitsmaschine, die durch ein im Kreis laufendes Pferd in Gang gehalten wird. Harig verstärkt die von Queneau thematisierte Eintönigkeit und Mühsal der menschlichen Existenz durch den Fachbegriff „Göpel“ und konfrontiert den Leser gleichzeitig mit einem fremd anmutenden Wort, einem Fundstück gleich denen, die er auch in seine eigene Lyrik einflicht.100 Ähnlich geht Harig bei der Übersetzung von Queneaus AlexandrinerSonett La chair chaude des mots vor, einem humoristischen Gedicht über die angemessene Behandlung der Wörter im literarischen Text. Im ersten Terzett heißt es über die Wörter, die in Wörterbüchern zu Grabe getragen werden: Alors on les dispose en de grands cimetières Que les esprits fripons nomment des dictionnaires Et les penseurs chagrins des alphadécédets.101 Und für den Friedhof schlägt man sie in Leichentücher Ein jeder schofle Geist, er nennt sie Wörterbücher, ein saurer Denker nennt sie alphadezediert.102

Den umgangssprachlichen Ausdruck „les esprits fripons“ ersetzt Harig durch die Wendung „ein jeder schofle Geist“. Das Adjektiv „schofel“ in der Bedeutung „niederträchtig“, „schäbig“ stammt ursprünglich aus dem Jiddischen („schophol“, „schophel“) und bürgerte sich im Wortschatz des Rotwelschen ein.103 Die Spezifik dieses Ausdrucks verstärkt den komischen Effekt, der durch die parodistische Übersteigerung eloquenter Ausdrucksweisen schon im Original angelegt ist. Dazu gehört auch der Neologismus „alphadécédets“, kombiniert aus den Begriffen „alphabet“, „abécédaire“ und „décéder“, der die Wörter des Alphabets anthropomorphisiert und zu sterblichen Wesen erklärt. Genau diese Komponente 99 100 101 102

103

Vgl. den Eintrag „Göpel“: „eine maschine (windewerk oder übersetzungsgetriebe) zum heben von lasten und zum betrieb von arbeitsmaschinen“. In: DWB, Bd. 8, Sp. 957. In seinem frühen Gedichtband Zustand und Veränderung verwendet Harig seltene Begriffe bzw. Neologismen wie „Betelkauer“ (S. 21), „Schorlemorle“ (S. 39) oder „Dezemberpendel“ (S. 53). Queneau: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 317. Harig: Hundert Gedichte – Alexandrinische Sonette, Terzinen, Couplets und andere Verse in strenger Form, S. 100. Im Inhaltsverzeichnis von Harigs Gedichtsammlung sind die QueneauÜbersetzungen nicht als solche gekennzeichnet, die Autorschaft wird erst auf der jeweiligen Buchseite kenntlich gemacht. Siegmund A. Wolf: Wörterbuch des Rotwelschen – Deutsche Gaunersprache. Mannheim 1956, S. 296.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

269

versucht Harig mit Hilfe des deutschen Neologismus „alphadezediert“ zu vermitteln, der u. a. auf das seltene Fremdwort „dezedieren“ und damit, wie im Französischen, auf das lateinische Verb „decedere“ (weggehen, sterben) rekurriert. Neben dem punktuellen Einsatz seltener Vokabeln zeichnen sich Harigs Queneau-Übersetzungen durch komplexe poetische Transformationsprozesse aus, die die im Original angelegten parodistischen Effekte durch die Variation bestimmter semantischer Nuancen verstärken. Diese Inventionen realisiert der Übersetzer auf unterschiedliche Weise, sei es mit Hilfe regionaler Idiome, umgangssprachlicher Ausdrücke oder abgewandelter Sprichwörter bzw. durch die Einbindung metapoetischer Reflexionen, in denen die eigene Übersetzertätigkeit kritisch hinterfragt wird. Im sechsten Gesang der Cosmogonie beschreibt Queneau die vom Affen abstammende menschliche Gattung, in der er gerade nicht die Krönung der Schöpfung, sondern einen ebenso naiven wie überheblichen „Zweigefußten“ (VI, V. 222)104 sieht, der sich in seiner unbegrenzten Technik- und Fortschrittsgläubigkeit selbst abschafft. Die Herrschaft des Menschen über den Planeten erweist sich als kurzes Intermezzo, das durch die unkontrollierbare Macht seiner eigenen Erfindung, des Computers oder „Rechensauriers“ (VI, V. 216), gestürzt wird. In sein satirisches Porträt des Menschen flicht Queneau sowohl Neologismen als auch gängige, oftmals abgewandelte französische Redewendungen ein, die wiederum die Kreativität seines deutschen Übersetzers herausfordern. Original und Übersetzung der betreffenden Passage lauten: Qu’il faille cet imberbe un mangeur d’escargot amateur de limace et gobeur de marenne faisant la chasse aux clams aux moules aux crevettes et aux champignons lorsqu’il a tombé de l’eau

[VI, V. 20–24] 105

Schluß mit dem ohne Haar Schluß mit dem Schneckenesser dem Ackerschneckenfreund dem Austernnimmersatt der nach Garnelen jagt nach Mies- und Speisemuscheln und auch nach Champignons wenn es geregnet hat

In den zitierten Versen mokiert sich der Sprecher zunächst über diverse kulinarische Vorlieben des Menschen, den er als „mangeur d’escargot“ und „gobeur de marenne“ beschimpft. Für diese humoristischen Wendungen findet Harig mit den Komposita „Ackerschneckenfreund“ und „Austernnimmersatt“ ausdrucksstarke Äquivalente. Die Komik der Wendung 104 Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 60. 105 Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 123.

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4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

„mangeur d’escargot“ steigert Harig dabei in zweifacher Weise: Zunächst wertet er den „Schnecken-Esser“ zum „Schneckenfreund“ und damit zum Feinschmecker auf, um anschließend genau dieses Genießertum durch die Beschreibung der „escargots“ als „Ackerschnecken“ bewusst ins Lächerliche zu ziehen. Der Wendung „gobeur de marenne“ hat wiederum Queneau eine den parodistischen Tonfall verschärfende Polysemie unterlegt, die sich in der Substantivierung des Verbs „gober“ (schlürfen) niederschlägt. Denn zu der wörtlichen Bedeutung „Austernschlürfer“ (gobeur de marenne) gesellt sich auch der pejorative Aspekt des Begriffs „gobeur“, der eine naive, unkritische Person bezeichnet.106 Diese im Original angelegte Mehrdeutigkeit reproduziert Harig mit der Wahl des Neologismus „Austernnimmersatt“ nur bedingt, da der Ausdruck „Nimmersatt“ zwar auf die Unersättlichkeit, jedoch nicht zwangsläufig auf die Naivität des Menschen schließen lässt. Das Motivfeld des Gourmets mündet im zweiten Teil des Abgesangs auf den Homo sapiens in das der sexuell konnotierten Lust: qu’il faille ce fœtus capable d’âge adulte et qui des feux de son zizi précoce exulte un baiseur de cheveux en quatre un amateur bizarre d’infantile exploration du monde

[VI, V. 24–27] 107

Einen vorläufigen Höhepunkt des Passus bildet hier der Ausdruck „baiseur de cheveux en quatre“, eine Verfremdung des Idioms „coupeur de cheveux en quatre“ (dt. „Haarspalter“108), mit dem ein besonders spitzfindiger Mensch bezeichnet wird. Queneau setzt den „baiseur“, ein Element aus dem Bildfeld der Erotik, in die bestehende, nicht sexuell konnotierte Redewendung ein. In Harigs Übersetzung wird hingegen der erotische Kontext durch das Bildfeld des Essens ersetzt, das bereits in den Versen 20 bis 24 des Originals entfaltet wurde: Schluß mit dem Fötus jetzt der fähig schon zum Manne und der frohlockt in Glut der frühgereiften Nille109 ein Linsenspalter und bizarrer Amateur mit infantiler Lust den Weltraum zu erforschen110

106 Vgl. den Eintrag „gobeur, -euse“: „1. Personne qui gobe. 2. Personne qui croit naïvement tout ce qu’on lui dit.“ In: Le Petit Robert, S. 1193. 107 Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 123. 108 Vgl. den Eintrag „Haar“ in: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Von Lutz Röhrich. Bd. 1. Freiburg 72004, S. 603–608, hier S. 603. 109 „Nille“ ist eine umgangssprachliche Bezeichnung für das männliche Glied. 110 Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 55.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

271

Harig ersetzt hier den idiomatischen Begriff „Haarspalter“ durch den rheinisch-pfälzischen bzw. saarländischen Ausdruck „Linsenspalter“.111 Da er mit dieser Wortwahl den im Original angelegten Kontext der Kulinarik unterstreicht, lässt sich dieser Eingriff als kalkulierte semantische Verschiebung erkennen, in der sich Harigs Status als Übersetzer saarländischer Herkunft zeigt. Darüber hinaus schafft er durch den Begriff „Linsenspalter“ einen Rückbezug zum Motiv des atomspaltenden Menschen, das im ersten Vers des sechsten Gesangs prominent ausgestellt wird, wenn es heißt: „Le singe sans effort le singe devient homme / lequel un peu plus tard désagrégea l’atome“ (VI, V. 1–2).112 Auch die Anpassung der Silbenzahl an das Versmaß des Alexandriners kann bei der Wortwahl eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Um die humoristischen Verfahren aus Queneaus Cosmogonie im Deutschen umzusetzen, verfremdet Harig immer wieder das deutsche Wortmaterial, so auch im Umgang mit Queneaus Parodie der invocatio an den Gott Hermes/Merkur:113 ’conome de pensée algébreur d’émotions colporteur des agneaux généreux psychopompe copronyme étallique aturbide aviateur

[III, V. 75–77] 114

Der ironisierende Duktus des Originals wird in der deutschsprachigen Aufzählung verunglimpfender Anredeformeln bis zum Nonsens gesteigert: ’konom des Denkens Algebreur der Seelenstürme du Lämmerkolporteur du Psychopumpe du furchtlose Flugmaschin’ metallsche Mistfigur115

111 Vgl. den Eintrag „Linsenspalter“: „verächtlich: kleinlicher Mensch, Geizhals“. In: Rheinisches Wörterbuch, Bd. 5. Hrsg. von Josef Müller. Berlin 1941, Sp. 487; den Eintrag „Linsenspalter“: „kleinlicher, übergenauer Mensch“. In: Pfälzisches Wörterbuch. Bd. 4. Bearbeitet von Julius Krämer u. Rudolf Post. Stuttgart 1986, Sp. 1000. Der Begriff „Linsenspalter“ findet sich nicht nur in Harigs Übersetzungen, sondern auch in seinem Sonett Verfeinerte Unruh aus dem Band Hundert Gedichte (1988), das Walter Höllerer gewidmet ist: „Er atmet und spricht nicht die Sprache nach der Schnur, / den totgewürgten Laut verbaler Linsenspalter.“ (V. 7–8). In: Harig: Hundert Gedichte – Alexandrinische Sonette, Terzinen, Couplets und andere Verse in strenger Form, S. 45. 112 Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 121. In Harigs Übersetzung lauten die Verse: „Der Affe ward zum Menschen ohne Kraftentfalten / der hat ein wenig später das Atom gespalten.“ In: Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 55. 113 Vgl. Pöckl (1986), S. 318. 114 Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 59. 115 Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 31.

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4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

Harigs Sprachspiel kulminiert in der Transformation des griechischen Begriffs „psychopompos“ (dt. „Seelengeleiter“), ein Beiname des Botengottes Hermes. Statt die altgriechische Form „psychopompós“ oder das Lehnwort „Psychopomp“ zu verwenden, bildet er aufgrund des Klangbilds der französischen Vorlage das Nonsens-Wort „Psychopumpe“. In dem hier angewandten Verfahren der Oberflächenübersetzung,116 bei dem die lautliche Ebene eines fremdsprachlichen Ausdrucks transkribiert und mit neuen Bedeutungen ausgestattet wird, erhebt sich das Spiel mit dem Wortmaterial zum Selbstzweck und löst sich von allen lexikalischsemantischen Normen. Auch in den Queneau-Übersetzungen abseits der Taschenkosmogonie verstärkt Harig den metaphorischen Kontext, wie in der deutschen Fassung des Gedichts Pour un art poétique (suite), einer Parodie auf klassische Dichtungspoetiken, in der es heißt: „faites chauffer [les mots] à petit feu / au petit feu de la technique / versez la sauce énigmatique / saupoudrez de quelques étoiles / poivrez et puis mettez les voiles“.117 Den Rezeptcharakter des Textes schmückt Harig mit dem Material der deutschen Sprache weiter aus. Anstatt die Wendung „faites chauffer à petit feu / au petit feu de la technique“ im Deutschen Wort für Wort nachzubilden („erhitzt auf kleiner Flamme / auf der kleinen Flamme der Technik“), entscheidet sich Harig für eine Variation mittels zweier unterschiedlicher Verben: „setz es dann dem Feuer bei / kochs im lauen Technikbade / gieß die Rätselremoulade“.118 Diese Umakzentuierung generiert gleichzeitig das neue Reimpaar „Technikbade“ – „Rätselremoulade“. Queneaus wortspielerischer Umgang mit Fachtermini demonstriert beispielhaft die in der Cosmogonie vollzogene Wechselwirkung zwischen Naturwissenschaft und Poesie. Diese reziproke Beeinflussung schlägt sich auch und gerade in der „assoziative[n] Verkettung der Wörter“ nieder, die sowohl sprachliche als auch sachliche Komponenten integriert.119 In einem Passus des zweiten Gesangs zur „lebendigen Materie“ (V. 125–137), 116 Beispiele für dieses sowohl intra- als auch interlingual anwendbare und bei den Vertretern der Konkreten Poesie überaus beliebte Transkriptionsverfahren stellen Ernst Jandls „oberflächenübersetzung“ (1965) eines Gedichtes von William Wordsworth sowie sein Text Übe! (1965) dar, ein Lautgedicht zu Goethes Gedicht Ein Gleiches. In: Ernst Jandl: Sprechblasen. Stuttgart 1991, S. 45 bzw. Ernst Jandl: Poetische Werke, Bd. 4. München 1997, S. 127. Frühe Beispiele für Lautgedichte finden sich bereits bei J. H. Voß (Klingsonate). Im 20. Jahrhundert wurde diese lyrische Form u. a. von Hugo Ball, Christian Morgenstern und Kurt Schwitters weiterentwickelt. Zum Phänomen der Oberflächenübersetzung vgl. Stanzel (1985), S. 47; Schreiber (1993), S. 154. Für Schreiber zählen die Oberflächenübersetzungen nicht zu den Übersetzungen im strengen Wortsinn. 117 Queneau: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 270. 118 Queneau: Für eine Ars Poetica. Übersetzung von Ludwig Harig. In: augenblick – zeitschrift für tendenz und experiment 4 (1960), Heft 3, S. 13. 119 Pöckl (1986), S. 321.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

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der auf die Abhandlung über die Entstehung der „Kristalle“ folgt, wird ein solches assoziatives Wortspiel mit dem terminus technicus „Entropie“ (V. 137) vorbereitet: [...] l’hydre abicéphale un monstre très perclus à coup sûr très peu digne de voir se transformer les structures axiales en de céphalopodes incoordonnés et les plans diagonaux et les axes sénaires ou autres en chromosomes mous et biogènes [...] de la nuée adipeuse au fond du crépuscule chimique annonçant l’aube archidissymétrique des êtres bousculant l’entropie en trop bue

[II, V. 125–137] 120

Das Wortspiel besteht in der Aufspaltung des Fachbegriffs „Entropie“ in die quasi homonyme, dreigliedrige Wendung „en trop bue“. Was auf den ersten Blick wie eine Alliteration anmutet,121 erweist sich als vielschichtige sprachliche Operation, die semantische und formale Elemente überblendet. Queneau rekurriert in seinem Wortspiel nicht auf die Entropie als einen der Hauptbegriffe der Thermodynamik, sondern auf dessen wörtliche Bedeutung (gr. „entropía“): „Umwandlung“. Dabei löst Queneau den Terminus von seiner wissenschaftlich-metaphorischen Bedeutung ab und trennt ihn aus seinem ursprünglichen physikalischen Kontext heraus. Aus der Affirmation des denotativen Wortkerns der „Entropie“ entwickelt Queneau im betreffenden Vers seine eigene Schreibstrategie: Er setzt den Begriff „Umwandlung“ performativ um, indem er dessen Bedeutung auf das Material selbst anwendet, und zwar in der semantisch heterogenen Wendung „en trop bue“. Die Semantik des Begriffs „Entropie“ bestimmt demnach die formale Dimension der nachfolgenden Worte; sie dient Queneau als Handlungsanweisung.122 Form und Inhalt werden hier de120 Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 41 f. 121 Vgl. Belaval (2005), S. 19. 122 Im Zusammenhang von Sprachspielen verweist Harig z. B. auf die performative Umsetzung des Begriffs „Entropie“ in Gerhard Rühms Text abhandlung über das weltall (1964/66). In: Ludwig Harig: Unentbehrliche Lebensformen: Sprachspiele. In: Ders.: Wer schreibt, der bleibt. Aufsätze und Vorträge (= Gesammelte Werke, Bd. 8). Hrsg. von Werner Jung. München 2004, S. 337–344, hier S. 343. Erstabdruck: Lexikon der Germanistischen Linguistik. Hrsg. von Hans Peter Althaus, Helmut Henne und Herbert Ernst Wiegand. Tübingen 1973, S. 556–559. Rühm selbst erläutert sein Verfahren wie folgt: „nach einer aufstellung der statistischen häufigkeit der verschiedenen phoneme, die der grundtext enthält, saugen die häufigeren sukzessiv die selteneren auf, bis in dem übrigbleibenden ›e‹ (dem häufigsten phonem der deutschen sprache) die maximale entropie erreicht ist – die sprache ist, adäquat der entwicklung des weltalls, gleichsam den wärmetod gestorben.“ In: Gerhard Rühm: abhandlung über das weltall. In: Die Wiener Gruppe: Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Hrsg. von Gerhard Rühm. Erweiterte Neuausgabe. Reinbek 1985, S. 189–197, hier S. 189.

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4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

ckungsgleich, d. h. die Sprache bildet nicht ab, sondern vollzieht den von ihr benannten Prozess der ›Umwandlung‹.123 Der lyrische Text stellt in diesem Passus seine eigenen Regeln auf, er schafft punktuelle Ordnungsstrukturen, die sich aus der Multiperspektivik der Sprache und des Kosmos speisen. Welt und Sprache bedingen sich in der Cosmogonie gegenseitig; die eine geht aus der anderen in einem Entwicklungsprozess hervor, in dem traditionelle lyrische Motive keinen Platz mehr haben: Compris? au lieu de mort, d’ancêtres ou d’enfants il a pris un volcan Régulus ou Algol au lieu de comparer les filles à des roses et leurs sautes d’humeur aux pétales qui volent il voit dans chaque science un registre bouillant Les mots se gonfleront du suc de toutes choses de la sève savante et du docte latex

[III, V. 95–101] 124

In seiner Doppelrolle als Verfasser und Übersetzer sprachexperimenteller Texte hat Harig die Spezifika von Wortspielen und die daraus ableitbaren Anforderungen an deren poetische Umsetzung in einer fremden Sprache immer wieder reflektiert: [Literarische] Sprachspiele folgen ausschließlich den der Sprache selbst innewohnenden Strukturen, Funktionsweisen und Verlaufsformen. In ihnen selbst zeigen sich die Mechanismen, die sie nicht zu beschreiben brauchen; sie selbst stellen in ihren Abläufen den Ablauf dieser Abläufe dar, ohne ihn zu erklären.125

Harigs Übersetzung greift die von Queneau vollzogene poetische Transformation des Begriffes „entropie“ in Vers 137 auf, wandelt sie ihrerseits ab und potenziert sie dadurch: der ungradköpfgen Hyder ein gliederlahmes Viech das sicherlich nicht wert Transformation zu sehn von Axialstrukturen in Urweltkrakenbrut die unkoordiniert von diagnalen Plän’ und sechsgefachten Achsen in Chromosomen die schleimweich und biogen [...] und von der Wetterwolk’ zum chemschen Dämmergrund anzeigend den Beginn der Archidissimetren die übern Durst die Entropie zuunterst kehren [II, V. 125–137] 126

123 Hölz (1976) bezeichnet Queneaus Cosmogonie in diesem Kontext als eine literarische Form, „die die Erfahrung einer potentiellen Variabilität alles Gegebenen thematisiert und im Medium der Sprache selbst gestaltet“ (S. 257). 124 Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 61. 125 Harig: Spiel mit dem Stil, S. 223. 126 Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 22.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

275

Harigs Ansicht, dass umgangssprachliche Metaphern und Wortspiele „nicht über-, sondern nur ersetzbar“127 seien, bestimmt auch seine Strategie bei der Übertragung von Queneaus Klangspiel „entropie – en trop bue“. Angesichts der spezifischen Möglichkeiten, die ihm die deutsche Sprache im Hinblick auf Gleichklänge oder Wortspiele bietet, wählt Harig als Ausgangspunkt seiner Übersetzung nicht den Begriff „Entropie“ selbst, sondern konzentriert sich auf das Resultat seiner Transformation, die Wendung „en trop bue“ (wörtlich: „in zu viel getrunken“). Anstatt jedoch diesen Ausdruck Wort für Wort ins Deutsche zu übertragen, entscheidet sich Harig für den Einsatz der Redewendung „einen übern Durst trinken“. Die Entscheidung für die Transformation der deutschen Redewendung beeinflusst unmittelbar die Übersetzung des französischen Verbs „bousculer“, für die die deutsche Redewendung „das Oberste zuunterst kehren“128 abgeändert wird. Beide Ausdrücke klingen in der deutschen Fassung des Verses nur elliptisch an und fungieren dabei wie zwei disparate Puzzleteile, die Harig links (am Versbeginn) bzw. rechts (am Versende) an den Begriff „Entropie“ anfügt. Verbunden sind die Redewendungen durch eine interne komplementäre Struktur zwischen den Präpositionen „über“ und „unter“: „übern Durst“ – „zuunterst kehren“ [Hervorhebung A. S.]. Harig befreit sich hier insofern von der Vorgabe des Originals, als er das Sprachmaterial des Begriffs „Entropie“ nicht verändert. In diesem Sinne wird die von Queneau vollzogene sprachliche Operation in der Übersetzung nicht imitiert, sondern selbst transformiert. Damit strebt Harig eine Neuerfindung des Cosmogonie-Verses im Deutschen an, in der jedoch, wie er sagt, die „Dichte“ und die „Temperatur“ des Originals beibehalten werden sollen.129 Harigs Cosmogonie-Übersetzung zeichnet sich nicht nur durch eine große Vielfalt sprachlicher Transformationsprozesse und komplexer poetischer Verfahren aus, sondern auch durch eine selbstkritische Durchdringung der Übersetzungsproblematik. Harig erkennt in der Übersetzung ein Medium der Reflexion über ihre eigenen Möglichkeiten. Nicht zufällig wählt Harig für seine übersetzerische Selbstverständigung den Sprechakt des Götterboten Hermes, der die in der Cosmogonie angewandten poetischen Verfahren zur Erzeugung von Polysemie benennt:

127 Harig: Spiel mit dem Stil, S. 223. 128 Dieselbe Wendung findet sich in Harigs Äußerung über die Rolle des Lyrikers als Proteus: „Ich versetzte mich selbst in die Rolle des Doppelspielers, jonglierte mit den Wörtern meiner Gedichte wie der Jongleur Picassos mit seinen Tassen und Stäben, kehrte das Unterste zuoberst, das Oberste zuunterst.“ In: Harig: Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf, S. 252. 129 Vgl. Harig: Spiel mit dem Stil, S. 222.

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4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

De quelque calembour naît signification l’écriture parfois devient automatique

[III, V. 128–129] 130

Im ersten Vers nimmt Harig eine sehr weitreichende Bedeutungsverschiebung vor: Aus manchem Wortspiel taucht ein Schuß Bedeutung auf und die geschriebne Schrift wird manchmal automatisch131

Überträgt Harig den Vers „de quelque calembour naît signification“ mit der Wendung „Aus manchem Wortspiel taucht ein Schuß Bedeutung auf“, so versteht sich dieser Vorgang als ironisch gefärbte Abschwächung der im Original angelegten Aussage. Geht es bei Queneau um die Entstehung von Bedeutung durch den Einsatz von Wortspielen, so konkretisiert Harig diese abstrakte Aussage in der deutschen Fassung und deklassiert das Phänomen der Bedeutung zu einer zähl- bzw. messbaren und damit zu einer per se begrenzten Menge. Die Wendung „ein Schuß Bedeutung“ beruht dabei auf einer abgewandelten Form figurativer Rede, wie man sie in der Alltagssprache häufig findet.132 Harigs interpretierender Eingriff lässt sich als Selbstkommentar deuten, der von den unüberwindbaren Aporien des Übersetzens Rechenschaft ablegt. Damit wäre der Eingriff nicht nur als ein Akt der Selbstverständigung, sondern auch als ein Augenzwinkern gegenüber dem Leser zu verstehen, d. h. als ein Eingeständnis der semantischen Verluste, die die Cosmogonie-Übersetzung aufweist, gerade auch im Bereich der Wortspiele. Diese metapoetisch vermittelte Aussage, ein übersetztes Wortspiel bzw. allgemein ein übersetzter Text transportiere tendenziell weniger Bedeutung als das zugrunde liegende Original, lässt sich auch mit dem von Harig hochgeschätzten ÜbersetzerAufsatz von Walter Benjamin in Verbindung bringen, in dem vom „Echo“ die Rede ist, das in der Zielsprache „den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache“ zu geben vermöge.133 Benjamins Gedankengang lässt sich insofern mit dem übersetzten Cosmogonie-Vers korrelieren, als die jeweils angesprochenen Phänomene, das Echo und der Schuss, eine entscheidende Gemeinsamkeit besitzen: Beide sind von Natur aus ephemer –

130 Queneau: Petite cosmogonie portative, S. 64. 131 Queneau: Taschenkosmogonie (1963), S. 32. 132 Als Belege für ähnliche Wendungen führt Wahrigs Wörterbuch folgende Ausdrücke an: „seine Rede war mit einem guten Schuß Ironie gewürzt“, oder: „einen Schuß Leichtsinn im Blut haben“. In: Wahrig Deutsches Wörterbuch. Hrsg. von Gerhard Wahrig, bearbeitet von Ursula Hermann. München 1980. Spalte 3328. 133 Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 16.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

277

genau wie die Bedeutungsdimensionen eines übersetzten Textes.134 Offensichtlich agiert Harig im zitierten Vers nicht allein als Vermittler von Queneaus Text, sondern auch als ironischer Kommentator seiner eigenen Übersetzerleistung, der sich einerseits der Aporien seiner Tätigkeit bewusst ist und sie andererseits immer wieder zu überwinden sucht. Dieses Streben lässt sich auf den programmatischen Ausgangspunkt von Harigs Queneau-Übersetzungen zurückführen, der darin besteht, „Unübersetzbares [zu] übersetzen“135. Wie gezeigt wurde, erweisen sich Harigs Strategien als vielschichtige sprachliche Operationen, die die Ästhetik der Queneau’schen Texte und sein eigenes Sprach- und Literaturverständnis zueinander in Bezug setzen. Sind es Harig zufolge die „Eigenschaften des Mitzuteilenden, die die Übersetzbarkeit bestimmen“,136 so eignet er sich als Übersetzer Queneaus sprachartistische Verfahren auf produktive Weise an und führt sie eigenständig weiter. Wenn er dabei in den deutschen Textfassungen semantische Umakzentuierungen vornimmt, agiert er ganz im Sinne seiner „Poetik des Weitererzählens“,137 die sich auch in seiner Praxis der Lyrikübersetzung niederschlägt: Das Übersetzen gilt Harig nicht als rein reproduktiver Vorgang, sondern als konstruktives Wechselspiel, in dem der Übersetzer den Faden des Originals aufnimmt und fortspinnt. Die im Rahmen dieser Umakzentuierungen oder Neuinterpretationen entstehenden semantischen Zugewinne zeigen, dass die tradierte Dichotomie von Treue versus Freiheit für die Übersetzung sprachartistischer Lyrik obsolet ist. Entsprechend bestand das Ziel der obigen Übersetzungsanalysen darin, an konkreten Beispielen darzulegen, wie Harig äquivalente Ausdrücke für Queneaus Sprachkunststücke formt und dabei die eigene Sprache erweitert, sei es mit Hilfe von Neologismen oder durch den Einsatz (transformierter) umgangssprachlicher oder auch mundartlicher Ausdrücke. Dabei wurde deutlich, dass sich Harigs Übersetzungen nicht nur durch sprachliche Erfindungsgabe, sondern auch durch einen selbstreflexiven Impetus auszeichnen, der die utopische Komponente des Übersetzens ausstellt – und zwar nicht nur im Rahmen theoretischer Reflexionen, sondern im Medium der Übersetzung selbst, in und mit dem Material der Sprache. 134 Harigs Übersetzung lässt sich auch mit Queneaus dichtungspoetischer Parodie Pour un art poétique (suite) in Verbindung bringen, die Harig ebenfalls übersetzt hat. Hier dekonstruiert Queneau den hehren Begriff der ›Bedeutung‹ zu einer bloßen ›Zutat‹ bei der Herstellung von Gedichten, wenn es heißt: „Prenez un petit bout de sens.“ In: Queneau: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 270. 135 Harig: Argumente zur Übersetzung, S. 101. 136 Ebd. 137 Harig: Wie man Orchideen beim Wort packt, S. 39.

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4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

Nehmen die Queneau-Übertragungen in Harigs übersetzerischem Gesamtwerk schon vom Umfang her eine dominante Rolle ein, so sind sie auch in methodischer Hinsicht besonders repräsentativ, da sie Harigs Streben nach individuellen, text- und autorspezifischen Lösungen exponieren. In diesem Zusammenhang ist eine Gegenüberstellung der Queneau-Übersetzungen mit einer anderen zentralen Übersetzungsarbeit Harigs aufschlussreich: der deutschen Fassung von Marcel Prousts Pastiches (1908)138 aus dem Jahr 1969. Sowohl Queneaus als auch Prousts Texte hatte Harig aufgrund ihrer ästhetischen Spezifika als „unübersetzbar“ bezeichnet.139 Seine Strategien, diese Aporie ins Produktive zu wenden und die französischen Originale in deutscher Sprache zu gestalten, sind bemerkenswerterweise geradezu gegensätzlich. Wie gezeigt wurde, hatte sich Harig als Übersetzer von Queneaus Texten für ein Verfahren der Transposition entschieden und die Sprachspiele und Mehrdeutigkeiten des Originals im Deutschen neu geformt.140 Dabei hatte er französische Redewendungen oder idiomatische Ausdrücke durch deutsche substituiert und so eine Verfahrensanalogie zwischen Original und Übersetzung hergestellt. Auch bei der Übersetzung von Prousts Pastiches, die auf der Nachahmung der Personalstile französischer Autoren aus dem 19. Jahrhundert wie Gustave Flaubert, Honoré de Balzac, Charles-Augustin Sainte-Beuve oder Henri de Régnier beruhen,141 war Harig um den Erhalt der spezifischen literarischen Funktion des Ausgangstexts bemüht. Diese konnte er jedoch nicht, wie bei Queneau, durch eine Strategie der Umsetzung erreichen. Denn eine „totale Transposition“142 der Pastiches hätte eine Substitution der von Proust gewählten Autoren durch deutsche erfordert und

138 Marcel Proust: Pastiches. Die Lemoine-Affäre. Ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Harig. Frankfurt am Main 1969. 139 Zur „Unübersetzbarkeit“ von Prousts Pastiches heißt es bei Harig: „Prousts Pastiches sind unübersetzbar. Wenn ich es trotzdem gewagt habe, sie zu übersetzen, dann bedarf das einiger Argumente. Das eine ist der Vorsatz des waghalsigen Übersetzers, nur Unübersetzbares übersetzen zu wollen, weil dann das Scheitern sein Alibi hat; das andere ist die Feststellung […], daß entweder nichts oder alles übersetzbar ist, wobei es dann auf den Standpunkt ankommt; das dritte ist die Erfahrung, daß es mehr oder weniger Übersetzbares gibt, nicht Grade der Schwierigkeit, sondern Eigenschaften des Mitzuteilenden, die die Übersetzbarkeit bestimmen.“ In: Harig: Argumente zur Übersetzung, S. 101 (vgl. Kap. 4.1). Zur Problematik der Übersetzbarkeit von Queneaus Petite cosmogonie portative vgl. Harig: Spiel mit dem Stil, S. 224. 140 Vgl. Harig: Spiel mit dem Stil, S. 223. 141 Bei Prousts Pastiches handelt es sich um Stil-Imitationen auf eine französische Gerichtsaffäre, die 1908 in Paris für Aufsehen gesorgt hat. In seinen Pastiches verlegt Proust das Geschehen um den Betrüger Lemoine, der behauptet hat, künstlich Diamanten herstellen zu können, ins 19. Jahrhundert und lässt Autoren dieser Epoche davon literarisch Zeugnis ablegen. 142 Harig: Argumente zur Übersetzung, S. 104 f.

4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus Petite cosmogonie portative

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damit Prousts Anliegen, sich gerade den Stilen dieser Autoren zu widmen, widersprochen. Anders als bei Queneaus Exercices de style, wo Harig und Eugen Helmlé die Geschichten, „die sich umgangssprachlicher Metaphern bedienen, [...] gänzlich neu erfinden mußten“,143 stand bei den Pastiches die Frage im Vordergrund, inwieweit sich Prousts Verfahren der Nachahmung von Personalstilen in die Zielsprache transferieren lasse, um „einen deutschen Balzac- oder Flaubert-Stil“144 zu prägen. Zu dieser Herausforderung äußert sich Harig im Nachwort zu seiner Übersetzung: Dadurch, daß der Text Prousts beibehalten werden mußte, konnte die Richtung der Übersetzung nach totaler Umsetzung nicht befolgt werden. Ein umgekehrter Weg mußte eingeschlagen werden, um durch eine bestimmte Methode besondere Beschaffenheiten der französischen Sprache zu zeigen.145

Seinem Anspruch gemäß hat Harig versucht, die deutschen PastichesFassungen auf die Ausgangssprache hin transparent zu machen und die französische Syntax im Deutschen nachzubilden. Die Anforderungen dieser Nachahmungsstrategie lassen sich anhand des Pastiche L’›affaire Lemoine‹ par Gustave Flaubert verdeutlichen, in dem Proust den charakteristischen Beschreibungsstil Flauberts nachbildet, der sich durch die parataktische Reihung von Einzelbeobachtungen und im Besonderen durch den Einschub von Partizipien auszeichnet. Ein sprechendes Beispiel dafür lautet, im Original und in der Übersetzung, wie folgt: Déjà les farceurs commençaient à s’interpeller d’un banc à l’autre, et les femmes, regardant leurs maris, s’étouffaient de rire dans un mouchoir, quand un silence s’établit, le président parut s’absorber pour dormir, l’avocat de Werner prononçait sa plaidoirie. [Hervorhebung A. S.] 146 Schon fingen die Spaßvögel an, sich von einer Bank zur anderen Fragen zu stellen, und die Frauen, ihre Ehemänner anschauend, platzten vor Lachen in ihr Taschentuch, als Stille eintrat, der Vorsitzende in sich zu versinken schien, um zu schlafen und der Anwalt von Werner sein Plädoyer hielt. [Hervorhebung A. S.] 147

143 Harig: Auf dem pataphysischen Hochseil, S. 166. 144 Ebd., S. 105. 145 Harig: Argumente zur Übersetzung, S. 105. In seiner übersetzungspoetologischen Reflexion rekurriert Harig auf den von Walter Benjamin in Die Aufgabe des Übersetzers diskutierten Begriff übersetzerischer „Wörtlichkeit“. Vgl. Harig: Argumente zur Übersetzung, S. 107. 146 Marcel Proust: L’›affaire Lemoine‹ par Gustave Flaubert. In: Ders.: Contre Sainte-Beuve précédé de Pastiches et mélanges et suivi de Essais et articles. Édition établie par Pierre Clarac avec la collaboration d’Yves Sandre. Paris 1971, S. 12–15, hier S. 13. 147 Marcel Proust: Pastiches. Die Lemoine-Affäre. Ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Harig. Frankfurt am Main 1969, S. 16–20, hier S. 17.

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4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

Ein ähnliches Beispiel findet sich auch im folgenden Satz: Mais quelques-uns, en songeant que la richesse aurait pu venir à eux, se sentaient prêts à défaillir [...]. [Hervorhebung A. S.] 148 Einige jedoch, daran denkend, daß der Reichtum zu ihnen hätte kommen können, waren nahe daran, zu vergehen [...]. [Hervorhebung A. S.] 149

In den zitierten Beispielen verfremdet Harig den deutschen Satzbau, um das Partizip Präsens nach französischem Muster zu formen.150 Dieses Vorgehen entspricht dem erklärten Ziel seiner Pastiches-Übersetzung, „in deutscher Sprache so nah wie möglich an einen französischen Stil heranzukommen, damit die verschiedenen Stile unterscheidbar“151 werden. Dem Versuch Harigs, die französische Syntax nachzubilden und das von Proust markierte Flaubert’sche Stilmerkmal des asyndetischen Satzbaus im Deutschen herauszustellen,152 sind jedoch aufgrund der divergierenden Strukturen der Sprachen Grenzen gesetzt, wie sich anhand des ersten Satzes des Flaubert-Pastiche aufzeigen lässt. Hier verwendet Proust die für den französischen Romanautor charakteristische Verknüpfung einer dreigliedrigen Aufzählung („phrase ternaire“153) mit einer eingeschobenen Partizipialkonstruktion. Original und Übersetzung des Eingangssatzes lauten: 148 Proust: L’›affaire Lemoine‹ par Gustave Flaubert, S. 15. 149 Proust: Pastiches. Die Lemoine-Affäre, S. 19 f. 150 Harig hat die beiden Partizipien im Neuabdruck seiner Übersetzung getilgt, was darauf schließen lässt, dass er die unidiomatische Ausdrucksweise der Erstfassung später für problematisch erachtet hat. Die Neufassungen der zitierten Stellen lauten: „Schon fingen die Spaßvögel an, sich von einer Bank zur anderen Fragen zu stellen, und die Frauen schauten ihre Ehemänner an, hielten sich ein Taschentuch vor den Mund und platzten vor Lachen, als Stille eintrat; der Vorsitzende schien sich zu versenken, um zu schlafen, der Anwalt Werners hielt sein Plädoyer.“ Das zweite Beispiel lautet: „Einige aber verloren bei dem Gedanken an den Reichtum, der ihnen hätte zufallen können, beinahe die Besinnung.“ In: Marcel Proust: Die Lemoine-Affäre von Gustave Flaubert. In: Ders.: Nachgeahmtes und Vermischtes (= Marcel Proust: Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Luzius Keller. Werke 1, Bd. 2). Aus dem Französischen von Henriette Beese, Ludwig Harig und Helmut Scheffel. Frankfurt am Main 1989, S. 19; 22. 151 Harig: Argumente zur Übersetzung, S. 106. 152 In den Anmerkungen zur Frankfurter Proust-Ausgabe (vgl. Proust: Nachgeahmtes und Vermischtes, S. 310) verweist der Herausgeber Luzius Keller auf eine analog konstruierte Passage aus Teil 3 von Flauberts Roman L’éducation sentimentale: „Alors, les bourgeois poussèrent des cris d’enthousiasme; ils levaient leurs chapeaux, applaudissaient, dansaient, voulaient les embrasser, leur offrir à boire, – et des fleurs jetées par des dames tombaient des balcons.“ In: Gustave Flaubert: L’éducation sentimentale. In: Ders.: Œuvres 2. Texte établi et annoté par Albert Thibaudet et René Dumesnil. Paris 1952, S. 367. 153 Vgl. Sorhagen (1972), S. 44.

4.4 Die Cosmogonie im Kontext: Französische Literatur in Harigs Werk

281

La chaleur devenait étouffante, une cloche tinta, des tourterelles s’envolèrent, et, les fenêtres ayant été fermées sur l’ordre du président, une odeur de poussière se répandit.154 Die Hitze wurde stickig, eine Glocke ertönte, Turteltauben flogen auf, und da die Fenster auf Order des Vorsitzenden geschlossen worden waren, breitete sich ein Geruch nach Staub aus.155

Der Einschub des unverbundenen Partizips („les fenêtres ayant été fermées sur l’ordre du président“) weicht in der deutschen Übersetzung einem von der Konjunktion „da“ eingeleiteten kausalen Nebensatz.156 Dieser Nebensatz wiederum zieht eine Inversion nach sich und tilgt den im Original angelegten, unterbrochenen Parallelismus der einzeln aneinandergereihten Sinneseindrücke. Stellt die deutsche Übersetzung französischer Partizipialkonstruktionen eine grundsätzliche Schwierigkeit dar, so verschärft sich die Aporie im gegebenen Fall, da Flaubert die Verwendung dieser Partizipien zu einem stilbildenden Prinzip erhoben hat, das in Prousts Pastiche aufgegriffen und teilweise sogar potenziert wird. Wie die zitierten Beispiele zeigen, ist der von Proust imitierte Erzählstil Flauberts in der deutschen Sprache nur bedingt reproduzierbar. Im Rahmen des Möglichen hat Harig diesen Stil in seiner Übersetzung nachgebildet und dabei die deutsche Syntax bis an die Grenzen des Idiomatischen verfremdet. Damit erweist sich die bei der Proust-Übersetzung angewandte Nachahmung, genau wie die für Queneaus Texte eingesetzte Transposition, als ein textspezifisch gewähltes und theoretisch fundiertes Verfahren. Auch wenn beide Methoden sehr unterschiedlich sind, liegt ihnen doch ein gemeinsamer Impetus zugrunde: die Suche nach individuellen, mit der ästhetischen Funktionsweise des Ausgangstexts korrespondierenden Lösungen.

4.4 Die Cosmogonie im Kontext: Französische Literatur in Harigs Werk Ludwig Harigs Übersetzungen französischer Gedichte oder Prosastücke, so gilt es abschließend zu zeigen, verstehen sich im Zusammenhang seiner breitgefächerten Beschäftigung mit verschiedenen französischen Autoren. Im Rahmen des Gesamtwerks stellt das Übersetzen eine besonders pro154 Proust: L’›affaire Lemoine‹ par Gustave Flaubert, S. 12 f. 155 Proust: Pastiches. Die Lemoine-Affäre, S. 16. 156 Alternativ wäre auch eine temporale Konjunktion wie „als“ oder „nachdem“ möglich gewesen. In jedem Fall verlangt die deutsche Sprache nach einer Festlegung des Bezugs zwischen Partizip und Hauptsatz durch einen modalen Nebensatz.

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4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

duktive und ästhetisch reizvolle Form des Dialogs mit der französischen Literatur dar, die seine eigenen Schreibprozesse über Jahrzehnte hin begleitet und beeinflusst hat. Gerade die bei der Cosmogonie-Übertragung erworbene Praxis in der Gestaltung alexandrinischer Verse schlägt sich in Harigs lyrischem Schaffen nieder, z. B. in der umfangreichen Sammlung Hundert Gedichte – Alexandrinische Sonette, Terzinen, Couplets und andere Verse in strenger Form (1988).157 Hier finden sich Sonette aus verschiedenen Schaffensphasen, die sowohl in der Wahl des Versmaßes als auch in der lyrischen Motivik vom Einfluss der Queneau’schen Cosmogonie zeugen, wie jene über verschiedene Tierarten bzw. über die Gattung des Menschen.158 Wechselwirkungen vollziehen sich demnach nicht nur zwischen Queneaus Texten und den deutschen Übersetzungen, sondern manifestieren sich ebenfalls in Harigs eigenem poetischen Werk. So heißt es in den Terzetten von Harigs Sonett Der Mensch II: Die Neue Poesie verachtet die Empfindung. Es dichtet der Magnet, die Wicklung und die Windung. Hier im Elektrofeld regiert der Kupferdraht. Zu Ende ist die Zeit mit Schöpfungsqual, mit Schindung, und droht dem Dichter einst Verstummung und Erblindung: die sterbliche Person ersetzt ein Automat.159

Harigs Rezeption von Raymond Queneaus Sprachkunst zeigt sich auch in anderen Texten, z. B. im Porträt R. Q. (1963), einer Mischform zwischen poetologischer Reflexion und lyrischer Miniatur: Porträt R. Q. Queneau quercus und kynos Gärtner und Veterinär, die Hand auf den begehrlichen Pulsen, animalische Stöße vegetale Stakkati wilde vitale Boykotte, kein Pflüger kein Pflanzer kein Chlorophyll, die Eichel als Signum das Follikel unter der Vorhaut der Kleber am Kitzler, fette fäkale phallische Phase, die Inspiration aus Stoffwechseldrüsen, Rabelais und Joyce, prometheische Leber Analgenuß gargantualische Grotesken aber geordnet, mathematische architektonische topographische chemische Handgriffe Kunstkniffe Glattschliffe, in die Formel gefasst stereometrisch gegliedert planimetrisch gefugt in der Retorte destilliert, prosodische

157 Ludwig Harig: Hundert Gedichte – Alexandrinische Sonette, Terzinen, Couplets und andere Verse in strenger Form. Nachwort von Karl Krolow. München 1988. 158 Die Titel dieser Sonette aus Harigs Sammlung Hundert Gedichte lauten u. a.: Das Pantoffeltierchen (S. 7), Weinbergschnecke, links gewunden (S. 8), Die Flunder (S. 9), Die Erdkröte (S. 10), Der Grackel (S. 11), Der Mensch I und II (S. 16–17). 159 Harig: Hundert Gedichte, S. 17.

4.4 Die Cosmogonie im Kontext: Französische Literatur in Harigs Werk

283

Reißbrettironien argotische Absurditäten unter dem Mikroskop, der Akrobat aus Hexenküche und Hoher Schule, Hokuspokus Homunkulus quercus und kynos Queneau.160

Hier inszeniert Harig die von Queneau geprägten sprachartistischen Schreibverfahren und reiht sich mit seinem Text in die Tradition des humoristischen, entlegene sprachliche Fundstücke kombinierenden Sprachspiels ein. Eine gezielte Zusammenführung seiner über Jahre hinweg parallel betriebenen Schreib- und Übersetzungstätigkeiten vollzieht Harig in seinem experimentellen Montagestück Sprechstunden für die deutsch-französische Verständigung und die Mitglieder des Gemeinsamen Marktes. Ein Familienroman (1971),161 das zahlreiche Textgattungen, poetische Strategien und literarische Bezüge zu Autoren verschiedener Epochen vereint. Zwei Jahre nach seiner Übersetzung von Prousts Pastiches versucht sich Harig damit selbst an einer literarischen Parodie, deren Ausgangspunkt das in der französischen Besatzungszone eingesetzte Lehrbuch der französischen Sprache von Louis Marchand (1870–1950) bildet.162 In Anlehnung an ausgewählte Lektionen der Vorlage generiert der Volksschullehrer Harig ein groß angelegtes, assoziationsreiches Sprachspiel, das er durch literarische Variationen sowie theoretische Reflexionen über den Gebrauch von Sprache ergänzt.163 Dabei übersetzt er Marchands Übungstexte „in jenes starreinfältige, überdeutliche Deutsch [...], das man aus Sprachlehrbüchern

160 Harig: Zustand und Veränderung. Wiesbaden 1963, S. 52. Seinem im gleichen Band erschienenen Prosatext Fötusfatum (S. 36) stellt Harig ein Queneau-Zitat voran, das dem Kapitel Les Poissons des Romans Saint-Glinglin (1948) entstammt. Bei Harig heißt es: „Raymond Queneau: Es ist schwierig, sich das vorzustellen: geboren werden, dauern, vielleicht verrecken: knochinster, blind.“ Im Original lautet die entsprechende Stelle: „Il est difficile d’imaginer cela: naître, durer, crever peut-être: osscurs, aveugles.“ In: Queneau: Œuvres complètes, Bd. 3. Édition publiée sous la direction d’Henri Godard, avec, pour ce volume, la collaboration de Jean-Philippe Coen, Daniel Delbreil et autres. Paris 2006, S. 208. In der Übersetzung von Eugen Helmlé heißt es: „Es ist schwer, sich das vorzustellen: geboren werden, dauern, vielleicht krepieren: knochinster, blind.“ In: Raymond Queneau: Heiliger Bimbam. Deutsch von Eugen Helmlé. Frankfurt am Main 1965, S. 18. 161 Ludwig Harig: Sprechstunden für die deutsch-französische Verständigung und die Mitglieder des Gemeinsamen Marktes. Ein Familienroman. In: Ders.: Familienähnlichkeiten: deutsch-französische Sprachspiele (= Gesammelte Werke, Bd. 1). Hrsg. von Gerhard Sauder. München 2005, S. 101–425. 162 Vgl. Drews (1998), S. 310. Louis Marchand: Lehrbuch der französischen Sprache. Teil 1 und 2. Zeichnungen von Louis Marchand und Raymond de la Nézière. Édité par la Direction de l’Éducation Publique. G. M. Z. F. O. [Gouvernement Militaire de la Zone Française d’occupation]. Offenburg/Mainz o. J.; vgl. auch: Louis Marchand: Le premier livre de français ou La famille Dupont. Paris 131950. 163 Marchands Lehrbuch besteht aus achtzig Lektionen, von denen Harig vierzig ausgewählt, transformiert und fortgeschrieben hat.

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4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig

kennt“,164 und karikiert auf diese Weise pädagogisch-didaktische Stereotypen der deutsch-französischen Kulturvermittlung. Mit den transformierten Sprachlektionen rund um die Duponts hat Harig einen Familienroman in Form eines seriell operierenden, humoristischen Sprachexperiments vorgelegt, in dem, neben zahlreichen Autoren von Agatha Christie bis Gertrude Stein, auch die Stimme Raymond Queneaus präsent ist, und zwar in Gestalt eines Zitats aus dem Journal intime de Sally Mara (1947)165 in Lektion 55. Diese Lektion beschäftigt sich u. a. mit der Frage nach dem Ursprung der europäischen Sprachen, die zwischen dem elsässischen Gastschüler der Familie Dupont, Fritz Hickel, und seinem Privatlehrer, Monsieur Durand, erörtert wird, und bildet damit den entsprechenden thematischen Assoziationsraum, in den sich Harigs Queneau-Referenz einfügt: Fritz: Monsieur, woher kommen die französischen Wörter? Monsieur Durand: Die Mehrzahl kommt aus dem Lateinischen. Das Lateinische war die Sprache, die die Römer vor zweitausend Jahren sprachen. Im Französischen findet man etwa zweitausend lateinische Wurzeln. Man findet darin auch etwa neunhundert griechische Wurzeln, [...] sechshundert germanische Wurzeln, [...] etwa hundert Wurzeln aus der Sprache, die die Kelten oder Gallier, die alten Bewohner Galliens, vor Tausenden von Jahren sprachen. [...] Fritz: Spricht man noch die Sprache der Kelten? Monsieur Durand: Ja, das ist das Keltische oder Bretonische, das man in der französischen Bretagne und in einigen Teilen Englands oder Großbritanniens spricht. Raymond Queneau: Cuir amach do theanga!, grölte er. Und er verschwand. Da er kein Wort Gälisch kannte, fragte ich mich, wo er diesen Satz, dessen Sinn ich nicht verstand, wohl aufgeschnappt haben mochte. Und meinen Lehrer, den Dichter Padraic Baoghal nach der Bedeutung dieser sicherlich anstößigen Worte zu fragen, würde ich nicht wagen.166

Dieser intertextuelle Einschub in der Sprechstunden-Lektion zeigt, dass Harigs langjährige Beschäftigung mit Queneaus Texten immer wieder über den Rahmen von Übersetzungen hinaus- und in sein eigenes schriftstelle164 Drews (1998), S. 310. 165 Ebd. 166 Harig: Sprechstunden für die deutsch-französische Verständigung, S. 321 f. – Das Queneau-Zitat hat Harig fast unverändert übernommen aus: Raymond Queneau: Intimes Tagebuch der Sally Mara. Deutsch von Eugen Helmlé. München 1970, S. 29. Im Original lautet die entsprechende Passage: „›Cuir amach do theanga!‹ gueula-t-il. Comme il ne connaissait pas un mot de gaélique, je me demandai où il avait bien pu apprendre cette phrase, dont je ne compris pas le sens. Et je n’oserais pas demander la signification de ces mots certainement choquignes [sic] à mon maître, le poète Padraic Baoghal“ [Hervorhebung original]. In: Queneau: Œuvres complètes, Bd. 3, S. 720.

4.4 Die Cosmogonie im Kontext: Französische Literatur in Harigs Werk

285

risches Werk hineinführt. Nach Erscheinen des Sprechstunden-Romans, der auch ins Französische übertragen wurde,167 hat sich Harig nicht nur verschiedensten Textformen gewidmet – vom Alexandrinersonett über das Hörspiel bis zur Novelle –, sondern weiterhin französische Lyrik übersetzt, auch wenn die Intensität seiner Vermittlertätigkeit im Vergleich zu den fünfziger und sechziger Jahren langsam zurückgegangen ist.168 Nicht nur in Texten wie Reise nach Bordeaux (1965), Rousseau (1978) und Spaziergänge mit Flaubert (1997) bildet Frankreich einen zentralen Bezugspunkt, sondern auch in den seit den achtziger Jahren veröffentlichten autobiographisch geprägten Romanen.169 Von den ersten Queneau-Übersetzungen der fünfziger Jahre bis zu Harigs „wahrem“ Roman Kalahari (2007)170 über seine Freundschaft zu dem Franzosen Roland Cazet, der ihn 1949 in Lyon mit französischer Poesie vertraut gemacht hatte, spannt sich ein weiter Bogen der Auseinandersetzung mit der französischen Literatur. Ausgehend vom poetischen Potential der Lyrikübersetzung, hat Harig damit einen gattungsübergreifenden deutsch-französischen Dialog initiiert, in dem die Grenzen zwischen Schreiben und Übersetzen immer wieder neu justiert werden.

167 Ludwig Harig: Manuel de conversation à l’usage des membres du Marché commun dans le cadre de la Coopération franco-allemande. Roman de famille(s). Introduction, traduction at adaptation de Jacques Legrand. Paris 1973. Vgl. dazu z. B. Claude Bonnefoy: La crise du langage à travers un livre truculent. In: La Quinzaine littéraire, 1.–15. Dezember 1973, S. 15–17. 168 Vgl. Bibliographie Ludwig Harig (1950–2001). Hrsg. von Werner Jung und Marianne Sitter. Bielefeld 2002. 169 Zu Harigs autobiographisch geprägten Romanen gehören folgende Titel: Ordnung ist das ganze Leben. Roman meines Vaters (1986); Weh dem, der aus der Reihe tanzt (1990); Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf (1996); Und wenn sie nicht gestorben sind. Aus meinem Leben (2002). 170 Vgl. Ludwig Harig: Kalahari. Ein wahrer Roman. München 2007.

5 „Des Verfassers Gefährte“: Volker Braun als Übersetzer von Alain Lance 5.1 Braun im Kontext der Literaturvermittlung in SBZ und DDR Die Vermittler französischer Lyrik hatten in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der daraus entstandenen DDR tendenziell mit größeren editionspolitischen Widerständen zu kämpfen als in den westlichen Besatzungszonen und in der späteren Bundesrepublik. Setzte hier bald nach Kriegsende eine Flut von Neuerscheinungen übersetzter Literatur aus den europäischen Nachbarländern und den USA ein, so begann in der SBZ ein strenger, ideologisch gestützter Auswahlprozess nach sowjetischem Vorbild, der nur wenige fremdsprachige Publikationen nichtsowjetischer Autoren zuließ. Wie zu zeigen sein wird, führten die stalinistisch geprägten Rezeptionsmuster nicht nur zu einer Einschränkung des Autorenspektrums gemäß den ästhetischen Prämissen der SED-Regierung, sondern auch zu einer merklichen Verzögerung bei der Rezeption zeitgenössischer und klassisch-moderner französischer Literatur. Lagen Übersetzungen von Sartre, Gide oder Anouilh in der Bundesrepublik großenteils bereits in den ersten fünfzehn Jahren nach Kriegsende vor, so erschienen die entsprechenden Lizenzausgaben in der DDR oft erst in den sechziger und siebziger Jahren. Im Fokus der folgenden chronologisch angelegten Ausführungen zum Verlagswesen der DDR und seiner zwiespältigen Haltung zu Frankreich steht nicht nur der Teilbereich der Lyrikvermittlung, sondern der literarische Austausch zwischen beiden Staaten insgesamt. Zwei Publikationsorgane, die sich gegen die Indoktrinierung durch die SED stemmten, werden hier exemplarisch auf Rezeptionsstrategien wie Idealisierungen und Tabuisierungen hin untersucht: Zum einen geht es um den „universelle[n] Übersetzungsverlag“ 1 Volk und Welt, zum anderen um die international

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Hans Altenhein: Ein ziemlich offenes Fenster (Rezension zu: Simone Barck/Martina Langermann / Siegfried Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt. Die Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt. Berlin 2003). IASLonline 18. Februar 2004, URL:. Datum des Zugriffs: 27. Juli 2011.

5.1 Braun im Kontext der Literaturvermittlung in SBZ und DDR

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ausgerichtete Zeitschrift Poesiealbum. Als Beispiel einer privaten Vermittlungsinitiative wird der Dialog zwischen dem französischen Lyriker Alain Lance und dem Lyriker Volker Braun nachvollzogen, bevor dessen Übersetzungen selbst in den Vordergrund rücken. 5.1.1 Rezeptionsmuster in der SED-gelenkten Übersetzungspraxis Während sich die Kulturpolitik in den westlichen Besatzungszonen im Lauf der Nachkriegsjahre liberalisierte, schränkte die Sowjetische Militäradministration (SMAD) die Freiheiten innerhalb der von Beginn an restriktiven Publikationspolitik in der SBZ zunehmend ein. Nach dem von Lenin 1905 geprägten „Prinzip der Parteiliteratur“ 2 sollten in der SBZ bevorzugt literarische Werke erscheinen, die sich am sozialistisch geprägten Vorbild sowjetischer Literatur orientierten. Doch nicht nur die inhaltlich-ideologische Ausrichtung der für die Publikation ausgewählten literarischen Werke selbst, sondern auch der Betrieb der Buch- und Zeitschriftenverlage unterstand den Direktiven der SMAD.3 Bis Anfang 1947 erschienen größtenteils noch Titel aus dem Vorkriegsprogramm, die als politisch neutral angesehen wurden, z. B. Stücke von Molière, Salacrou oder Troyat aus dem Bestand des Henschel-Theaterverlags.4 Für die Vermittlung (zeitgenössischer) französischer Lyrik war die editionspolitische Ausgangslage in der SBZ zunächst ungünstig, wie an dem Verbot der Zeitschrift Lancelot. Der Bote aus Frankreich deutlich wird.5 Mit der pauschalen Annahme unüberwindlicher Restriktionsverfahren lassen sich jedoch die komplexen und oft widersprüchlichen Rezeptionsstrukturen in der SBZ nicht adäquat erfassen. Schon die Gründung des 2

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Bei Lenin heißt es im Zusammenhang: „Nieder mit den parteilosen Literaten! Nieder mit den literarischen Übermenschen! Die literarische Tätigkeit muß zu einem Teil der allgemeinen proletarischen Sache, zu einem ›Rädchen und Schräubchen‹ des einen einheitlichen, großen sozialdemokratischen Mechanismus werden, der von dem ganzen politisch bewußten Vortrupp der ganzen Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird.“ In: Wladimir Iljitsch Lenin: Parteiorganisation und Parteiliteratur. In: Ders.: Werke, Bd. 10. Ins Deutsche übertragen nach der vierten russischen Ausgabe. Die deutsche Ausgabe wird vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED besorgt. Berlin (Ost) 1970, S. 29–34, hier S. 30 f. Hartmann (1999), S. 217. Ebd., S. 218. Die Zeitschrift Lancelot. Der Bote aus Frankreich, die zunächst in allen vier Besatzungszonen französische Literatur und insbesondere französische Lyrik in deutscher Übersetzung publizierte, erschien in der sowjetischen Besatzungszone in Berlin in einer Auflage von bis zu 40 000 Exemplaren. Am 16. April 1948 verbot jedoch die sowjetische Militärregierung die „journaux et revues occidentaux“ und damit auch die Zeitschrift Lancelot. Vgl. Labbé (1984), S. 91.

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5 „Des Verfassers Gefährte“: Volker Braun als Übersetzer von Alain Lance

international ausgerichteten Verlags Volk und Welt durch Michael Tschesno-Hell im Jahr 1947 setzte ein klares Signal gegen eine allzu einseitige Fixierung auf sozialistische Literatur. Das erklärte Ziel des Verlegers war es, die durch das NS-Regime erzwungene kulturpolitische Isolierung zwei Jahre nach Kriegsende zu überwinden und die Bewohner der SBZ mit ausländischer Literatur vertraut zu machen. Seit der treuhänderischen Gründung durch Tschesno-Hell befand sich der Verlag jedoch im Eigentum der SED 6 und war dadurch ebenfalls der Anleitung durch die Hauptverwaltung ›Verlage und Buchhandel‹ im Ministerium für Kultur unterworfen.7 Welche Werke und Autoren bei Volk und Welt veröffentlicht werden konnten, hing maßgeblich von den literarischen Idealen und pädagogischen Leitbildern der SMAD bzw. der SED ab, deren wichtigster Referenzpunkt die Parteiführung in Moskau war. Neben der Vermittlung sowjetischer Belletristik und anderer sozialistisch geprägter Literatur bestand ein Schwerpunkt in der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur des Dritten Reiches. Hier lag der Akzent auf antifaschistischer Literatur aus Deutschland und Frankreich.8 So eröffnete der Lyriker und Übersetzer Stephan Hermlin im Jahr 1947 das erste Verlagsprogramm von Volk und Welt mit Übersetzungen aus dem Werk des kommunistischen Lyrikers und Résistance-Kämpfers Paul Eluard.9 In den Folgejahren etablierte sich Volk und Welt trotz zahlreicher Widerstände zu einem Verlag, der im nach Westen abgeschotteten DDR-Staat ein „Fenster zur Welt“ 10 öffnete und dessen Lektoren mit taktischem Geschick fremdsprachige Texte publizierten. Wie massiv die Steuerung des kulturellen Lebens in der SBZ ausfiel, zeigt eine Verordnung der SED vom 23. August 1949 im Rahmen der 21. Tagung des Parteivorstands. Darin wurde jede Form der künstlerischliterarischen Praxis parteipolitischen Zielen untergeordnet und die Intoleranz gegenüber Abweichlern sowie der unerwünschten Einflussnahme von ausländischer Seite deklariert: Im Rahmen des Kampfes der Nationalen Front für Einheit und gerechten Frieden ist ein energischer Kampf gegen das Eindringen und die Verbreitung dekadenter Kunst und Lebensform des ausländischen Imperialismus zu führen und die Entwicklung nationaler Kultur zu fördern.11 6 7 8 9 10 11

Der Verlag Volk und Welt wurde 1964 mit dem Verlag Kultur und Fortschritt zusammengelegt. Vgl. Barck (2005a), S. 35. Lokatis (2005), S. 17. Vgl. z. B. Jean Laffitte: Commandant Marceau. Roman. Deutsch von Alfredo T. Salutregui. Berlin (Ost) 1957. Dieser Roman zeichnet das Engagement der französischen Résistance von der Landung der Alliierten bis zur Befreiung Frankreichs nach. Paul Eluard: Gedichte. Deutsch von Stephan Hermlin. Berlin (Ost) [1947]. Lokatis (2005), S. 25. Zitiert nach Hartmann (1999), S. 218.

5.1 Braun im Kontext der Literaturvermittlung in SBZ und DDR

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Noch vor der Gründung der DDR im Oktober 1949 wurde mit diesem Beschluss die Stoßrichtung der sozialistischen Kulturpolitik festgelegt, deren Richtlinien gemäß dem aktuellen politischen Verhältnis zwischen dem sozialistischen Regime und den Nachbarstaaten verschärft oder gemildert wurden. Neben den ideologischen Hürden bei der Vermittlung internationaler Literatur und der Akquise von Übersetzungsrechten galt es auch, materielle Beschränkungen zu kompensieren. Frauke Rother, Frankreich-Lektorin bei Volk und Welt zwischen 1969 und 1990, betont, dass in den Verlagen ein ständiger Mangel an ökonomischen Ressourcen herrschte, was sich zum einen in Papierknappheit und zum anderen in Form fehlender Devisen zum Erwerb von Nachdruck-Lizenzen zeigte.12 Um Devisen einzusparen, musste ein Verlag eigene Übersetzungen anfertigen lassen. Dies war jedoch nur in begrenztem Umfang möglich, da die Übersetzungsrechte „fast immer zu den West-Verlagen [gingen], weil sie bessere Beziehungen zu Frankreich hatten“.13 Insgesamt dominierte in der französischen Sparte von Volk und Welt der Anteil historischer Autoren gegenüber zeitgenössischen bis weit in die fünfziger Jahre hinein. Es wurden nicht nur klassische Werke aus dem 17. und 18. Jahrhundert verlegt; auch Romane des Realismus fanden die Zustimmung der Verantwortlichen.14 So erinnert sich Klaus Möckel, dass ihm dieses Gefälle zu Beginn seiner Lektorentätigkeit 1963 besonders ins Auge fiel: „Als ich meine Arbeit begann, waren aus Frankreich vor allem Schriftsteller kommunistischer Prägung wie Paul Eluard, Louis Aragon und Vladimir Pozner publiziert.“ 15 Die Publikation zeitgenössischer französischer Werke in den frühen DDR-Jahren hing offenbar vor allem von außerliterarischen Kriterien wie der politischen Orientierung ihrer Verfasser ab. Anstatt einen lebenden Autor mit abweichenden politischen Überzeugungen ins Programm aufzunehmen, zogen die Verantwortlichen bereits edierte Texte vor, die sich den Maßgaben des sozialistischen Realismus unterordnen ließen. Dementsprechend wurden Romane von Honoré de Balzac, Emile Zola oder Guy de Maupassant immer wieder aufgelegt.16 In den folgenden Jahren steuerte Klaus Möckel dieser einseitigen

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Rother (2005), S. 135. So erinnert sich Klaus Möckel, der von 1963 bis 1969 Frankreich-Lektor bei Volk und Welt war. Vgl. Möckel (2005), S. 130. Die verzögert einsetzende Publikation von Lyrik hing darüber hinaus auch mit den notorisch geringen Verkaufszahlen zusammen: „Die Lyrik war [ein] Zuschußgeschäft, weshalb manches Manuskript Jahre auf die Publikation warten mußte“ (ebd.). Hartmann (1999), S. 218. Möckel (2005), S. 125. Vgl. dazu Risterucci-Roudnicky (2005), S. 139.

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5 „Des Verfassers Gefährte“: Volker Braun als Übersetzer von Alain Lance

Rezeption entgegen und publizierte z. B. Ausgaben von Jean Cocteau17 und Blaise Cendrars.18 Die literarischen Rezeptionsmuster der SED-Führung lassen sich anhand einer von der Berliner Stadtbibliothek 1954 herausgegebenen Schrift mit dem Titel Frankreich, unser Nachbar im Westen 19 präzisieren. Das Kapitel Französische Werke der Gegenwart – Wegweiser im Klassenkampf bot Kommentare und Bewertungen zu einzelnen Publikationen. Den Berliner Bibliotheken wurde z. B. die Übersetzung von Pierre Gamarras Roman Les enfants du pain noir 20 (1950) zur Anschaffung empfohlen, da dieser Reportage-Roman einen „Einblick in das erbärmliche Leben der ausgebeuteten französischen Arbeiter in einer Kleinstadt nach 1945“ gewähre.21 Die Förderung dieses Werkes stand demnach ganz im Dienste des grenzen- und epochenüberschreitenden Klassenkampfs. Als Gewährsmann der SED auf französischer Seite fungierte der damalige Vorsitzende der Kommunistischen Partei Frankreichs, Maurice Thorez. Seine programmatische Äußerung über die ästhetische Suprematie politischer Literatur und Kunst wurde in die Leitschrift der Berliner Bibliothek übernommen: Wenn sich in unserer Zeit der beste, der konsequenteste Schriftsteller oder Künstler veranlaßt sieht, sich dem weltanschaulichen und politischen Kampf der Arbeiterklasse anzuschließen, so ist dies der Beweis dafür, daß alle kulturellen Werte heute auf die Seite des Proletariats übergegangen sind.22

Der ideologische Schwerpunkt der SED-gelenkten Verlagspolitik zeigte sich jedoch nicht nur in Empfehlungen, sondern auch in Form von Tabus, die beispielsweise gegen die französischen Vertreter der literarischen Moderne verhängt wurden. So konnten bis 1955 keine Werke von Anouilh, Apollinaire oder Bernanos erscheinen,23 die in der Bundesrepublik bereits

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Jean Cocteau: Gedichte, Stücke, Prosa. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Klaus Möckel. Aus dem Französischen. 2 Bde. Von verschiedenen Übersetzern übertragen. Mit Zeichnungen von Jean Cocteau. Berlin (Ost) 1971. Blaise Cendrars: Gold. Erzählungen. Aus dem Französischen von Lotte Frauendienst. Berlin (Ost) 1974. Frankreich, unser Nachbar im Westen: Französische Politik, Literatur und Kunst der Vergangenheit und Gegenwart im Spiegel einiger Neuerscheinungen. Als Manuskript gedruckt. Hrsg. von der Berliner Stadtbibliothek. Berlin (Ost) 1954. Pierre Gamarra: Die Kinder des schwarzen Brotes. Aus dem Französischen von Käte Arendt. Berlin (Ost) 1952. Frankreich, unser Nachbar im Westen (Berliner Stadtbibliothek), S. 7. Vgl. Hartmann (1999), S. 219. Ebd. Vgl. auch Hartmann (1999), S. 220. Als Joachim Meinert 1967 seine Arbeit bei Volk und Welt aufnahm, waren auch Autoren wie Kafka, Musil, Joyce, Proust und Gide noch nicht veröffentlicht worden. Vgl. Meinert (2005), S. 151.

5.1 Braun im Kontext der Literaturvermittlung in SBZ und DDR

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vorlagen.24 Dieses Ungleichgewicht hat sich auch in der kurzen TauwetterPhase ab Mitte der fünfziger Jahre, als die DDR-Verlage ihr Westprogramm erweiterten, nicht entscheidend geändert.25 Klaus Möckel betont in diesem Zusammenhang das Dilemma der Lektoren, wenn er sagt, „daß fast jeder der interessanten Autoren irgendeine nicht ins sozialistische Bild passende Seite hatte“.26 Doch nicht nur die Verlagsmitarbeiter, sondern auch viele Schriftsteller und Übersetzer in der DDR bewerteten die sich seit der Besatzungszeit kontinuierlich verengenden Editionsraster kritisch. Stephan Hermlin, der 1947 von Frankfurt am Main in die SBZ umgesiedelt war, äußerte seine Bedenken auf dem IV. Schriftstellerkongress der DDR im Jahr 1956 öffentlich: Ich glaube nicht, daß die Fortschritte auf dem Gebiet unserer Verlagsproduktion wirklich schritthalten mit den Erfordernissen unserer Gesellschaft, unserer Zeit. Manche Verleger gehen auf ausgetretenen Pfaden und scheuen Neues und Problematisches. Manche versäumen, sich den notwendigen Überblick zu verschaffen über die Literatur, die in den verschiedenen Ländern nachwächst, oder auch manches nachzuholen, was sie früher versäumt haben. Dazu gibt es unnötige Hemmungen in der Herausgabe von Büchern.27

Außerdem bemängelt Hermlin die einseitige Vermittlung kommunistischer Autoren wie Louis Aragon28 und fordert stattdessen die Publikation von Werken der Autoren Jean-Paul Sartre und Albert Camus29 oder des Romanciers Roger Martin du Gard. Trotz dieser Appelle nahm die Gängelung der DDR-Verlage Ende der fünfziger Jahre, zur Zeit des Bitterfelder Wegs, eher noch zu. Die Richtlinien der euphemistisch als „Druckgenehmigungsverfahren“ bezeichneten Zensur wurden verschärft und der Umfang der Devisen für Westimporte redu-

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Vgl. Alfred Andersch: Jugend am Schmelzpott einer Kultur. In: Aussprache 1 (1951), S. 7–13, hier S. 7–8. Siehe Kap. 2.1.3. Lokatis (2005), S. 20. Möckel (2005), S. 125. Stephan Hermlin: Aufsätze, Reportagen, Reden, Interviews. Frankfurt am Main 1983, S. 65. Dazu heißt es bei Hermlin: „Aragon ist nicht nur einer der größten Lyriker Frankreichs, sondern auch ein ganz bedeutender Romancier; aber Aragon und andere französische Romanciers, die wir in den letzten Jahren veröffentlicht haben, zeigen noch nicht das ganze Gesicht der humanistischen Literatur Frankreichs.“ In: Hermlin: Aufsätze, S. 67 f. Aragons Werk war in der DDR mit insgesamt 14 Einzelpublikationen vertreten. Klaus Möckel (2005, S. 127) erinnert sich: „Kein DDR-Verlag wagte sich damals an Albert Camus heran, hatte der sich doch wegen des Ungarn-Aufstandes 1956 wiederholt heftig gegen die Sowjetunion, die Volksdemokratien, die gesamte kommunistische Weltbewegung gewandt. Auf die Bedeutung seines Werkes [...] hinzuweisen, reichte deshalb nicht aus – hierzulande waren die Maßstäbe ohnehin andere.“ Der Verlag Volk und Welt veröffentlichte schließlich 1965 Camus’ Roman Die Pest, wohl, so argumentiert der ehemalige Lektor für italienische Literatur Joachim Meinert (2005, S. 151), weil er als Roman gegen den Faschismus interpretiert werden konnte.

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5 „Des Verfassers Gefährte“: Volker Braun als Übersetzer von Alain Lance

ziert.30 Verantwortlich waren hier neben Walter Ulbrichts Berater Otto Gotsche auch der Leiter der Kulturkommission beim Politbüro, Alfred Kurella, sowie Kurt Hager von der Abteilung Wissenschaften im Zentralkomitee.31 Die von ihnen erzwungenen Zensur- und Blockadeverfahren blieben auch für die deutsch-deutsche Literaturvermittlung nicht ohne Folgen: Wurden 1958 in der DDR noch 69 westdeutsche Titel verlegt, so sank ihre Zahl im darauffolgenden Jahr auf 32. Im Jahr 1963 erschienen in DDRVerlagen noch insgesamt acht Bücher aus BRD, Schweiz und Österreich.32 Dass nach der Verschärfung der Zensur überhaupt noch nichtkommunistische Autoren ins Verlagsprogramm aufgenommen worden sind, ist offenbar dem strategischen Geschick der Volk und Welt-Lektoren zu verdanken. Frauke Rother spricht von den Errungenschaften und positiven Veränderungen, die sich im Lauf der Jahre durchsetzen ließen: Die Zeit, in der man nur kommunistische Autoren wie Pierre Courtade, Jacques Doyon, Jean Lafitte und Vladimir Pozner verlegt hatte, war längst vorüber. Hier hatte mein Vorgänger Klaus Möckel schon viele Hürden genommen. Ursprünglich galt auch Aragon vor allem als der Autor der Kommunisten. [...] Für Insider war [...] klar, daß Aragon auch etwas anderes zu bieten hatte.33

Ermöglicht wurde die Aufnahme nicht linientreuer Werke wie Aragons Roman La Semaine sainte (dt. Die Karwoche) durch taktisch formulierte Verlagsgutachten und Nachworte, die den Lektoren bei ihrer Rechtfertigungstaktik gegenüber dem Cheflektor bzw. der Hauptverwaltung halfen.34 Erst der 1971 vollzogene Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker und die damit verbundene schrittweise Öffnung der DDR gegenüber dem Ausland veränderten die Beziehungen zu Frankreich. Zentrale Schritte waren die Anerkennung der DDR durch Frankreich sowie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Jahr 1974.35 Mittelbar eröffneten sich durch diese politische Umorientierung auch für die Verlagsbetriebe neue Chancen.36 Die Anzahl der publizierten Titel westdeutscher und ausländischer Literatur stieg in der Folge wieder an. In diesem Zusammenhang ist auch die von Charles Dobzynski und Alain Lance bei Volk und Welt herausgegebene Sammlung Französische Lyrik der Gegenwart

30 31 32 33 34 35 36

Vgl. Lokatis (2005), S. 20. Ebd. Ebd., S. 21. Rother (2005), S. 132. Dazu heißt es bei Frauke Rother (2005): „Wir haben Stunden um Stunden diskutiert, die Gutachten hin- und hergeschrieben, an Sätzen und Wörtern gefeilt, damit wir Formulierungen hinkriegten, die für die Hauptverwaltung mundgerecht waren.“ S. 133. Vgl. Pfeil (2004), S. 435–453. Hartmann (1999), S. 223.

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(1979) erwähnenswert:37 Sie konzentriert sich auf lyrische Texte aus den vorangegangenen dreißig Jahren und macht das Werk zahlreicher jüngerer französischer Lyriker zum ersten Mal in deutscher Sprache zugänglich. Diese zweisprachige Publikation lässt sich als Pionierleistung im Bereich der Vermittlung zeitgenössischer französischer Lyrik bezeichnen, da viele in dieser Sammlung vertretene Autoren in der Bundesrepublik erst im Rahmen der 1989 von Eugen Helmlé herausgegebenen Anthologie Résonances. Französische Lyrik seit 1960 präsentiert worden sind.38 In der Serie ›Weiße Reihe‹ des Verlags Volk und Welt wurde bereits seit 1967 deutsch- und fremdsprachige Lyrik vorgestellt. Von den knapp einhundert Ausgaben, die bis 1990 erschienen sind, waren allein zweiunddreißig sowjetischen Autoren gewidmet. Eine der verlegerischen Errungenschaften in der französischen Sparte war die Herausgabe einer Gedichtauswahl von René Char.39 Allerdings erschien diese Sammlung erst 1988, kurz nach Chars Tod, und damit fast 30 Jahre nach der ersten Char-Publikation in der Bundesrepublik.40 Diese Rezeptionsverzögerung lässt sich nicht durch ideologisch gestützte Auswahlverfahren erklären, da Char durch sein Engagement bei der Résistance von einem DDR-Verlag relativ leicht hätte akzeptiert werden können. Und doch weist das Nachwort von Klaus Möckel einzelne Elemente auf, die einen Rechtfertigungsdruck vonseiten der Verlagsleitung erkennen lassen: Gleich zu Beginn ist von Chars Herkunft aus dem französischen Arbeitermilieu die Rede: „[s]ein Großvater [war] Gipsarbeiter, sein Vater ein kleiner Geschäftsmann in der gleichen Branche“.41 An anderer Stelle wird betont, dass Char während des Zweiten Weltkriegs „als Linker denunziert“ worden sei und sich daraufhin als „entschiedener Feind das Faschismus“ dem Widerstand angeschlossen habe.42 Seine Aufzeichnungen aus dem Maquis, so heißt es, „legen Zeugnis ab von der Tapferkeit und ungebrochenen Menschlichkeit der Partisanen. Durch ihren humanen Geist […] gehören 37

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Französische Lyrik der Gegenwart. Hrsg. und mit einer Einführung versehen von Charles Dobzynski und Alain Lance. Nachgedichtet von Volker Braun, Paul Celan, Elke Erb et al. Berlin (Ost) 1979. In dieser Anthologie stehen „Nachdichtungen“ auf der Grundlage von Interlinearversionen neben Übersetzungen. Auf die Problematik der Lyrikübersetzung gehen die Herausgeber im Vorwort nicht ein. Résonances. Französische Lyrik seit 1960. Hrsg. von Eugen Helmlé. Mit Übersetzungen von Eugen Helmlé, Felicitas Frischmuth, Ludwig Harig et al. München 1989. Vgl. hierzu die Zusammenfassung der vorliegenden Arbeit. René Char: Und der Schatten der Sanduhr begräbt die Nacht. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Klaus Möckel. Berlin (Ost) 1988. Vgl. René Char: Poésies. Dichtungen. Hrsg. von Jean-Pierre Wilhelm. Zweisprachig. Frankfurt am Main 1959. Klaus Möckel: René Char: Das Brot heilen [Nachwort]. In: René Char: Und der Schatten der Sanduhr begräbt die Nacht, S. 189–196, hier S. 189. Ebd., S. 191.

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diese Texte zum Eindrucksvollsten in seinem Werk.“ 43 Der emphatische Duktus des Nachworts und die Verwendung von Schlüsselwörtern wie „Linker“, „Feind des Faschismus“ oder „humaner Geist“ haben die Publikation von Chars Gedichten noch 1988 gegen die Zensur abgesichert. Die Zeitschrift Poesiealbum, die 1973 erstmals Gedichte von René Char in der DDR publizierte,44 war ein für die Vermittlung internationaler Lyrik zentrales Publikationsorgan. 1967 von Bernd Jentzsch gegründet, kam es monatlich im Verlag Neues Leben in einer Auflage von 10 000 Stück heraus. Bis 1990 erschienen insgesamt 276 Ausgaben. Der Fokus des Poesiealbums richtete sich zunächst auf Autoren, die für die sozialistische Idee in Anspruch genommen werden konnten. Folgten auf die erste, Brecht gewidmete Ausgabe Autoren wie Wladimir Majakowski und Heinrich Heine, so konzentrierte sich die erste Ausgabe zu fremdsprachiger, nichtsowjetischer Dichtung auf Texte aus Kuba (Nr. 16). Von den rund 300 Ausgaben boten acht der französischen Lyrik ein Forum: Auf Robert Desnos und René Char folgten Alain Lance, Arthur Rimbaud, Paul Eluard, Aimé Césaire, Boris Vian und Charles Baudelaire.45 Damit rangiert die französische Poesie auf Platz 2 hinter den Lyrikern aus der Sowjetunion. Auch das literarische Spektrum des Poesiealbums wurde durch ideologische Tabuisierungsmaßnahmen der SED eingeschränkt, so dass Autoren wie Peter Huchel, Ezra Pound und Ernst Jandl 46 nicht erscheinen konnten.47 An anderer Stelle zeigte die DDR-Führung wiederum Respekt vor der Zeitschrift Poesiealbum: Als sich Bernd Jentzsch im Zusammenhang mit der Biermann-Affäre als Herausgeber zurückzog und öffentlich Kritik am DDR-Regime äußerte, verzichteten die Machthaber auf ein Verbot der Zeitschrift. Jentzschs Nachfolger wurde 1979 der Schriftsteller und Übersetzer Richard Pietraß, der diese Position allerdings nur zwei Jahre lang innehatte, bevor ihn die SED zum Ausscheiden zwang.48 Die Restriktionen gegenüber den DDR-Verlagen bezogen sich nicht nur auf das Gesamtwerk einzelner Schriftsteller; oft wurde auch innerhalb einer literarischen Produktion streng ausgewählt. So entsteht der Ein43 44 45 46 47 48

Ebd., S. 189 f. René Char: Gedichte. In: Poesiealbum Nr. 74: René Char. Hrsg. von Bernd Jentzsch. Berlin (Ost) 1973. Auf Robert Desnos (Nr. 30) folgten René Char (Nr. 74), Alain Lance (Nr. 114), Arthur Rimbaud (Nr. 151), Paul Eluard (Nr. 162), Aimé Césaire (Nr. 231), Boris Vian (Nr. 233) und Charles Baudelaire (Nr. 253). Allerdings gab Joachim Schreck 1985 in der ›Weißen Reihe‹ Ernst Jandls Band Augenspiel heraus. Seit Herbst 2007 erscheint die Zeitschrift wieder monatlich im Märkischen Verlag; als Herausgeber fungiert Richard Pietraß. Die ersten Ausgaben (Nr. 277–279) waren Peter Huchel, Ernst Jandl und Ezra Pound gewidmet. Kirsten (2007), S. 59.

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druck, dass erzählende Prosatexte eher zur Übersetzung ausgewählt wurden als z. B. sprachexperimentelle Texte wie die von Raymond Queneau.49 Sein Paris-Roman Zazie in der Metro erschien 1977 bei Volk und Welt in einer Lizenzausgabe des Suhrkamp Verlags, der den Titel 1960 in der Übersetzung von Eugen Helmlé veröffentlicht hatte. Die lyrischen Experimente Queneaus sind in der DDR hingegen nicht publiziert worden. Sie waren mit den literarischen Idealen des sozialistischen Realismus nicht zu vereinbaren.50 Vermutlich ist das Aussparen von Gedichten wie denen Queneaus mittelbar auf das von SED-Kulturvertretern propagierte „Primat des Inhalts über die Form“ (Alfred Kurella) zurückzuführen,51 das neben der Literatur auch andere künstlerische Bereiche betraf. 49

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Als weiteres Beispiel für divergente literarische Rezeptionsverläufe in der DDR und der BRD lässt sich Alexander Bloks vielschichtiges, kontroverse Lesarten provozierendes Gedicht Die Zwölf (1918) nennen. Beim Suhrkamp Verlag war Paul Celans deutsche Fassung bereits 1958 in einer Einzelausgabe erschienen, begleitet von einer Vorbemerkung des Übersetzers, in der dieser die Vielschichtigkeit des kurz nach der Oktoberrevolution verfassten Gedichts hervorhebt, die gleichzeitig dessen politische Brisanz ausmacht. Celan schreibt: „Mythos? Dokument? Hymne oder Satire auf die Revolution? Man erblickt beides darin – in beiden Lagern.“ Zitiert Celan anschließend einen Tagebucheintrag Bloks, in dem sich dieser fragt, ob und unter welchen politischen Umständen sein Werk zukünftig gelesen werden wird, so übernimmt Celan als Übersetzer die Rolle von Bloks Vermittler an das deutschsprachige Publikum. In: Celan: GW 5, S. 623. Gerade das Gedicht Die Zwölf wurde in der DDR teilweise kritisch rezipiert und erst spät veröffentlicht. In einer der ›Weißen Reihe‹ gewidmeten Rezension äußert sich Adolf Endler (1973, S. 890) sehr kritisch dazu: „Block [sic] formuliert […] vor allem in den Gedichten seit 1905 die Ahnung der nahenden janusköpfigen Apokalypse, ohne daß man ihn zu den Auflösern der lyrischen Form rechnen dürfte (sehen wir einmal von den Zwölf ab).“ Ob dieses Urteil dazu geführt hat, dass das Werk (zunächst in einer Übersetzung von Alfred Edgar Thoss) in der DDR erst 1970 publiziert wurde, also zwölf Jahre nach der Erstpublikation von Celans Fassung? Symptomatisch ist die in der DDR verzögert einsetzende Rezeption eines russlandkritischen Werkes in jedem Fall, zumal es von einem bekannten Schriftsteller in einem so prominenten Organ wie der Zeitschrift Sinn und Form kritisiert worden war. Gegen die These eines generellen Vorbehalts der DDR-Verlage gegenüber sprachexperimentellen Gedichten lässt sich die Publikation von Apollinaires Kalligramm La colombe poignardée et le jet d’eau anführen. In: Guillaume Apollinaire: Unterm Pont Mirabeau. Französisch und deutsch. Hrsg. und mit einer Nachbemerkung versehen von Thea Meyer. Berlin (Ost) 1971, S. 112–113. Allerdings ist die Übertragung dieses Figurengedichts eine Ausnahme geblieben. Kurella (1955), S. 15. Vgl. auch den folgenden kulturpolitischen Beschluss der SED gegen eine formalistische Kunstauffassung: „Der Formalismus bedeutet Zersetzung und Zerstörung der Kunst selbst. Die Formalisten leugnen, daß die entscheidende Bedeutung im Inhalt, in der Idee, im Gedanken des Werkes liegt. Nach ihrer Auffassung besteht die Bedeutung eines Kunstwerkes nicht in seinem Inhalt, sondern in seiner Form. Überall, wo die Frage der Form selbständige Bedeutung gewinnt, verliert die Kunst ihren humanistischen und demokratischen Charakter.“ In: Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur [Entschließung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, angenommen auf der 5. Tagung vom 15. März bis 17. März 1951]. In: Elimar Schubbe (Hrsg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED. Stuttgart 1972, S. 178–186.

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Der Schriftsteller Rainer Kirsch hat demgemäß in seinen Besprechungen von übersetzter Lyrik stets die Fassungen bevorzugt, die sich auf die inhaltlichen Aspekte des jeweiligen Werks konzentrieren. In seiner Schrift Das Wort und seine Strahlung – Über Poesie und ihre Übersetzung (1976) hebt er insbesondere die poetische Gestaltung sozialer Fragen hervor. Werden diese vernachlässigt, wie dies in Paul Zechs Übertragung einer Ballade von François Villon der Fall sei, erklärt er die deutsche Fassung für unbrauchbar.52 Eine Shakespeare-Übersetzung Stephan Hermlins bezeichnet er hingegen gerade deswegen als „kongeniale Nachdichtung“, weil sie „neben dem Überdruß angesichts desolater Weltzustände auch die soziale Komponente des Originals deutlich hält“.53 Die Mechanismen der ideologisch gestützten Literaturvermittlung sind für den Bereich der Lyrik bedeutsam, wie sich an der Tradition der „Nachdichtungen“ aufzeigen lässt, die auf Interlinearversionen, d. h. Wort-für-Wort-Übersetzungen, basieren. Neben professionellen Übersetzern betätigten sich in der DDR auch viele Lyriker als Übersetzer und griffen dabei z. T. auf Interlinearversionen zurück. So heißt es bei Franz Fühmann: „[Ich] bin auf Interlinearversionen von wortwörtlicher Genauigkeit angewiesen. Dennoch halte ich es für notwendig, meine Bemühungen auch unter solch ungünstigen Bedingungen fortzusetzen: Wir dürfen uns von der Kenntnis der Weltdichtung nicht ausschließen.“ 54 Da viele Schriftsteller in der DDR ähnlich dachten, spricht Heinz Kahlau von einer „Renaissance der Nachdichtungen“ 55 seit den sechziger Jahren, die sich vor allem in den umfangreichen Lyrik-Anthologieprojekten der Verlage Volk und Welt und Aufbau niederschlug.56 Zu den übersetzenden Autoren gehörten u. a. Franz Fühmann, Sarah Kirsch, Elke Erb und Heiner Müller. Auch Volker Braun hat Nachdichtungen aus dem Russischen angefertigt, die in der Anthologie Mitternachtstrolleybus. Neue sowjetische Lyrik (1965) erschienen

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Rainer Kirsch: Das Wort und seine Strahlung – Über Poesie und ihre Übersetzung. Berlin (Ost) 1976, S. 56 f. Kirsch: Das Wort und seine Strahlung, S. 113. Franz Fühmann: Kleine Praxis des Übersetzens unter ungünstigen Umständen. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel vom 25. November 1969, S. 916. Auch Kurella (1955, S. 18) befürwortet das Nachdichten auf der Grundlage von Interlinearversionen, wenn er sagt, man könne beim Übersetzen „im Notfall ohne Kenntnis der fremden Sprache auskommen“. Zitiert nach Barck (2005b), S. 315. Auch im Rahmen der groß angelegten Anthologieprojekte fand eine gelenkte Literaturvermittlung statt: So wurde z. B. die Textauswahl einer Anthologie mit georgischer Lyrik vom georgischen Schriftstellerverband bestimmt. Vgl. Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten. Nachgedichtet von Adolf Endler und Rainer Kirsch. Mit einem Vorwort von Adolf Endler. Hrsg. mit Unterstützung des Ministeriums für Kultur der Georgischen SSR. Zusammengestellt nach einer Vorauswahl des georgischen Schriftstellerverbandes. Berlin (Ost) 1971. Vgl. dazu Barck (2005b), S. 315.

5.1 Braun im Kontext der Literaturvermittlung in SBZ und DDR

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sind.57 Die unter den Schriftstellern in der DDR verbreitete Übersetzungspraxis der Nachdichtung lässt sich einerseits als „kulturpolitisch erzwungenes Ausweichen“ 58 verstehen: Nach dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED im Jahr 1965 mussten sich viele Lyriker mit dem Publizieren eigener Gedichte zurückhalten und widmeten sich stattdessen, wenn auch oft nur vorübergehend, dem Übersetzen. Andererseits hat sich die Beschäftigung mit der Lyrik von Autoren wie Anna Achmatowa, Marina Zwetajewa oder Wladimir Majakowski in den Werken der übersetzenden Lyriker in Form von Widmungsgedichten oder intertextuellen Anspielungen niedergeschlagen, was dafür spricht, dass es sich bei den „Nachdichtungen“ nicht ausschließlich um parteigelenkte Auftragsarbeiten gehandelt hat.59 Die Verquickung zwischen dem spezifischen Übersetzungsmodus der Nachdichtung und den politischen Rahmenbedingungen in der DDR ist jedoch unverkennbar. Insgesamt erweist sich die Praxis der Literatur- und Lyrikübersetzung in der DDR als äußerst ambivalent und lässt sich nicht auf einen einheitlichen Nenner bringen: Auf der einen Seite stehen die rigiden Zensurbestimmungen, die das Erscheinen politisch unliebsamer Werke fremdsprachiger Autoren verzögert oder sogar langfristig verhindert haben. Auf der anderen Seite finden sich ambitionierte Einzelprojekte wie z. B. die Anthologie Französische Lyrik der Gegenwart (1979), die entsprechenden Publikationen in der Bundesrepublik vorausgegangen sind. Auf diesem weitläufigen Feld der Literaturübersetzung in der DDR nimmt der Schriftsteller Volker Braun eine Ausnahmeposition ein: seine Motivation, Alain Lance’ Gedichte zu übersetzen, gründete sich zuallererst in seiner Freundschaft zu dem französischen Lyriker. Den Entstehungsbedingungen seiner Übersetzungen widmet sich das nächste Kapitel. 5.1.2 „War eine meiner Türen französisch“: Alain Lance und sein Übersetzer Volker Braun Volker Brauns Übersetzungen aus dem lyrischen Werk von Alain Lance kommt im Rahmen der vorliegenden Studie ein besonderer Status zu: Sie sind auf der Grundlage von Interlinearversionen entstanden und verdanken sich dem jahrzehntelangen literarischen Dialog zwischen Verfasser und Übersetzer. Es wäre unangemessen, von einer Gemeinschaftsarbeit zu 57

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Mitternachtstrolleybus. Neue sowjetische Lyrik. Ausgewählt und hrsg. von Fritz Mierau. Düsseldorf 1965. Von Volker Braun stammen Nachdichtungen von Jewgeni Jewtuschenko (Lektion in Mut, S. 5 f.; Revolution und Patschanga, S. 26–28) sowie von Jegor Issajew (Aus: Gericht der Erinnerung, S. 159–163). Barck (2005b), S. 315. Zur Praxis der Nachdichtung in der DDR vgl. Berendse (1990), S. 122–129.

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5 „Des Verfassers Gefährte“: Volker Braun als Übersetzer von Alain Lance

sprechen, doch ohne die Grundlage der Wort-für-Wort-Übersetzungen hätten die deutschen Gedichtfassungen nicht entstehen können.60 Mit der Frage nach Brauns Lance-Übersetzungen wird in zweierlei Hinsicht Neuland betreten: Hat die Literaturwissenschaft das lyrische und essayistische Werk von Alain Lance bisher nur am Rande wahrgenommen,61 so wurde auch Brauns Übersetzertätigkeit bislang kaum untersucht.62 Volker Braun ist auf Umwegen zum Übersetzen gekommen. Nicht er hat den Kontakt zu Alain Lance gesucht, sondern dieser ist auf ihn zugekommen – und zwar mit eigenen Übersetzungsplänen. Was mit dem Interesse eines französischen Lyrikers an einem in der DDR lebenden Autor begann, führte im Fall von Alain Lance und Volker Braun zu einem intensiven literarischen Austausch und zu wechselseitigen Übersetzungsprojekten. Als Germanistik-Student hatte Alain Lance in den Jahren 1962/63 zwei Semester an der Karl-Marx-Universität in Leipzig verbracht,63 bevor er 1964 von einer Bekannten in Paris auf die Gedichte Volker Brauns aufmerksam gemacht wurde, die in der Zeitschrift Sinn und Form erschienen waren.64 Welchen Eindruck die erste Lektüre von Brauns Gedichten bei ihm hinterließ und wie er den Plan fasste, sie zu übersetzen, schildert Lance wie folgt: Mit einer gewissen Dreistigkeit machte ich mich an die Übersetzung einiger dieser Gedichte, weil […] ich in ihnen eine neue, starke Sprache fand. Ich hatte das Gefühl, in ihnen einen Aspekt der Modernität zu entdecken, der sich von dem, was ich in meiner Sprache bereits gelesen hatte, unterschied.65

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Die Lance-Übersetzungen von Roland Erb, Hans-Martin Erhardt, Fritz Rudolf Fries, Felicitas Frischmuth, Ludwig Harig, Eugen Helmlé, Simon Werle und Paul Wiens bieten kaum Anhaltspunkte für eine poetische Interaktion zwischen Original und deutscher Fassung; daher wird im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit auf eine Analyse dieser Übersetzungen verzichtet. Eine Ausnahme bildet hier der Beitrag von Asholt (2009). Erwähnt wird die Praxis wechselseitigen Übersetzens bei Alain Lance und Volker Braun bereits bei Friedo (1985), S. 18. Bei Albrecht (1998) findet sich ein Kommentar zu einer einzelnen Übersetzung; vgl. Kap. 5.2.1. Der Titel des Beitrags von Rémy Charbon, Gesellschaftliches Übersetzen. Anmerkungen zu Volker Braun (1996), weckt insofern falsche Erwartungen, als Volker Brauns Übersetzungen gerade nicht berücksichtigt werden. Es geht Charbon vielmehr um die Untersuchung des innersprachlichen ›Übersetzens‹ gesellschaftlicher Zustände in literarische Formen. Rückblickend berichtet Alain Lance: „In Leipzig, wohin mich […] eine von Sympathie verstärkte Neugier führte, entdeckte ich nicht nur die Besonderheiten des sächsischen Akzents, sondern hatte auch das Glück, an den brillanten Vorträgen von Hans Mayer im legendären Hörsaal 40 teilzunehmen.“ In: Alain Lance: Dankesrede anlässlich der Verleihung des DekaBank-Preises. In: Lendemains. Études comparées sur la France. Nr. 128 (2007), S. 237–243, hier S. 241 f. Vgl. Alain Lance: Rencontre à Leipzig. In: Walter Lenschen (Hrsg.): Literatur übersetzen in der DDR. Bern 1998, S. 133–135, hier S. 133. Alain Lance: Ein Freund, ein guter Freund. Das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt. In: Rolf Jucker (Hrsg.): Volker Braun in perspective. Amsterdam 2004, S. 65–69, hier S. 66.

5.1 Braun im Kontext der Literaturvermittlung in SBZ und DDR

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Im gleichen Jahr reiste Alain Lance nach Leipzig, um Volker Braun persönlich kennenzulernen und die Erlaubnis für sein Übersetzungsprojekt einzuholen – schon wenige Wochen nach ihrem ersten Treffen erschien die französische Übertragung von Brauns Gedicht Unüberlegter Brief nach Flensburg in der Zeitschrift action poétique.66 Im Vorwort zu seiner Gedichtsammlung Temps criblé betont Lance die für sein Schreiben zentrale Rolle des Übersetzens und die damit verbundenen sprachlichen und geographischen ›Umwege‹: Je rencontre Volker Braun en 1964 et commence à le traduire. Je souligne l’importance qu’ont eu, qu’ont toujours pour moi cette amitié et cette familiarité peu à peu acquise avec sa langue, sa poétique. Le détour par l’étranger et l’exercice de la traduction resteront dès lors une donnée constante de ma vie et de mon écriture. Plus tard, d’autres horizons prolongent cette expérience de l’éloignement, sans désir / De la fin de la parenthèse.67

Seit dem Ende der sechziger Jahre kam die bislang einseitige Übersetzerund Vermittlertätigkeit auch in umgekehrter Richtung in Gang. Auf der Grundlage von Interlinearversionen, die Alain Lance und seine Frau Renate Lance-Otterbein angefertigt hatten, begann Braun die Gedichte von Lance ins Deutsche zu übertragen. Zwischen Herbst 1968 und Sommer 1969 hielt sich Lance erneut in der DDR auf, diesmal in Ostberlin, wo auch Volker Braun zu dieser Zeit wohnte. Die intensive Beschäftigung mit den Gedichten des anderen, so erinnert sich Alain Lance, förderte viele für den Übersetzungsvorgang relevante Details zu historischen Hintergründen, literarischen Allusionen oder Wortspielen ihrer Gedichte zutage.68 Ging es für den zweisprachigen Alain Lance eher um das Verständnis poetischer Finessen in Brauns Werk, so waren die Gespräche für Volker Braun die grundlegende Voraussetzung für seine Übersetzertätigkeit. Bereits 1970 erschienen die Übersetzungen von zwei Gedichten aus dem Werk von Alain Lance in der Zeitschrift Sinn und Form: Teheran 68 und Es waren die Jahre; 1975 folgte eine Auswahl von sechzehn Gedichten in der Zeitschrift Poesiealbum, die unter anderem auch eine Neufassung von Teheran 68 enthielt.69 66

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Ebd. – Volker Braun: Lettre irréfléchie à Flensbourg. Traduit par Alain Lance. In: Action poétique. Nr. 26 (Januar 1965), S. 25. Vgl. ders.: Provocation pour moi et d’autres. Traduit de l’allemand et présenté par Alain Lance. Honfleur 1970; Contre le monde symétrique. Traduit par Alain Lance. Paris 1970; Le Massacre des Illusions/Das Massaker der Illusionen. Anthologie poétique. Traduction de l’allemand par Jean-Paul Barbe et Alain Lance. Paris 2011. Alain Lance: Temps criblé. Poèmes 1962–1999. Cognac 2000, S. 9. Die Wendung „d’autres horizons“ verweist hier z. B. auf Alain Lance’ Aufenthalt im Iran von 1966 bis 1968. Vgl. dazu Kap. 5.2.1. Lance: Rencontre à Leipzig, S. 134. Vgl. Kap. 5.2.1. Gegenüber dem Herausgeber des Poesiealbums, Bernd Jentzsch, bestand Volker Braun darauf, dass Lance’ Gedichte vor seinen eigenen (vgl. Ausgabe Nr. 115) publiziert wurden. – Die deutschen Titel der sechzehn Gedichte von Lance lauten: Es waren die Jahre ; Wie ich sie durchquerte ; Meine Großmutter ; Kino ; Hingleitend wie graues Leinen ; Leer das Meer ;

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Dass Alain Lance’ Gedichte in der DDR erscheinen konnten, wurde zum einen durch seine politische Grundhaltung begünstigt und zum anderen durch sein Engagement für die Vermittlung von DDR-Autoren in Frankreich. Dazu schreibt Frauke Rother: „Alain Lance [...] war schon lange der DDR verbunden und galt im Verlag [i. e. Volk und Welt] als verläßlicher Gewährsmann. Er hatte hier studiert und war in der kommunistischen Partei.“ 70 Im Mai 1971 konnte Volker Braun zu einem ersten Gegenbesuch nach Paris reisen. Über die damit verbundenen Widrigkeiten bei der Ein- und Ausreise schreibt Lance rückblickend: En mai 1971 [Braun] put enfin venir à Paris, ce n’était pas simple, il lui fallait obtenir un visa de sortie de la RDA et un visa d’entrée en France, car à l’époque les deux pays n’entretenaient pas encore de relations diplomatiques officielles.71

Gemeinsame Lesungen von Lance und Braun fanden 1978 im französischen Avignon und Anfang der achtziger Jahre im neugegründeten französischen Kulturzentrum in Ostberlin statt. Aus Brauns Perspektive nimmt sich der Blick auf das gegenseitige Übersetzen zwischen ihm und Lance folgendermaßen aus: [Lance’ Gedichte] stehen hier […] in meiner Sprache, und meine Sätze gibt es in der seinen: was lässt sich Verbindenderes denken? Seit Alain Lance im Winter 1964 in mein Leipziger Studentenzimmer trat […] und sich nach dem Dichter, der ich kaum war, erkundigte, war eine meiner Türen französisch. Was mich anzog, war der sinnliche Geist des Quartier Latin, die Tradition einer undidaktischen Lyrik und ein libertärer Sozialismus. Der Wärmestrom kam […] eine Zeitlang aus dem Westen […]. Frankreich nahm an dem ›anderen Deutschland‹ Interesse, aufs intimste, kritischste.72

Braun betont, dass ein charakteristisches Merkmal von Alain Lance’ Lyrik in ihrem gesellschaftskritischen Impetus bestehe. In diesem Punkt konvergiert sie mit Brauns eigenem Schreiben, dem ebenfalls eine dezidiert politisch reflektierende Perspektive eigen ist.

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Stadt im Norden ; Ben Barka ; Teheran 68 ; Irland ; Tourismus ; Rasches Ende ; Quartier Latin ; Unbehagen ; Ausgerissene Seiten aus dem Klagebuch ; Renaissance. Neben Braun trat hier auch Paul Wiens als Lance-Übersetzer in Erscheinung. – Die zweisprachige Gedichtsammlung von Alain Lance Und wünschte kein Ende dem Umweg (1994) versammelt 27 Übersetzungen von Volker Braun und einige weitere von anderen Übersetzern. Deren Titel lauten: Meine Großmutter ; Stadt im Norden ; Teheran 68 ; Kino ; Wie ich sie durchquerte ; Unbehagen ; Leer das Meer ; Quartier Latin ; Renaissance ; Ausgerissene Seiten aus dem Klagebuch ; Schleichender Frühling ; Nichts als diese Schläge des Lichts ; Frühling ; Höchstes Neutron ; Beim Übersetzen von Kassandra sowie die Serie 12 Monate. Siehe: Alain Lance: Und wünschte kein Ende dem Umweg. Gedichte in französisch und deutsch. Nachwort von Karl-Heinz Götze. Homburg/Saar 1994. Rother (2005), S. 135. – Lance ist 1982 aus der Parti communiste français ausgetreten. Vgl. dazu sein Gedicht Printemps (Kap. 5.2.3). Lance: Rencontre à Leipzig, S. 134. Volker Braun: Salut, Alain Lance. Zum 60. Geburtstag des französischen Dichters und Übersetzers. In: Der Freitag vom 17. Dezember 1999, S. 15.

5.1 Braun im Kontext der Literaturvermittlung in SBZ und DDR

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Aus den Überschneidungen von Lance’ und Brauns poetologischen Prämissen lassen sich die spezifischen Strategien ableiten, die Braun beim Nachdichten von Lance’ Gedichten anwendet. Auf der Grundlage von Interlinearversionen und mit Hilfe der Erläuterungen des Autors, die literarische Referenzen oder idiomatische Besonderheiten der französischen Gedichte offenlegen, setzt sich Braun mit den in den Originaltexten gestalteten politischen Konflikten auseinander und formuliert in seinen Gedichtfassungen individuelle Reaktionen darauf. In Brauns Übersetzungen spielt demnach das dialogische Moment eine zentrale Rolle. Während Autoren wie Stephan Hermlin oder Franz Fühmann im Übersetzen einen Prozess erkennen, in dem ein fremdsprachiges Werk von der Zielsprache bzw. von der Zielkultur einverleibt wird, strebt Braun einen literarischen Transfer ›auf Augenhöhe‹ an. Seine Aufmerksamkeit gegenüber den Spezifika von Alain Lance’ Gedichten umreißt er wie folgt: „Das Verstehen und Verbünden ist unsre intime Geschichte und sozusagen das Elementarmodul des Kulturaustauschs.“ 73 Braun reflektiert das Potential seiner Herangehensweise, die keine Nachbildung des Originals anstrebt, sondern die Übersetzung als Medium der diskursiven Verständigung begreift, wenn er im Rückbezug auf Rainer Kirsch schreibt: Wenn Rainer Kirschs Beobachtung stimmt: daß die Kollision der Sprachen im Prozeß des Übersetzens die Substanz des Poetischen enthülle – sollte nicht auch wahr sein: daß die Kollision der Kulturen die Substanz des Menschlichen, Sozietären freisetzt? Übersetzen problematisiere die eigene Sprache, da es sie mit der fremden konfrontiert; der kulturelle Austausch (folgere ich) schärft das Bewußtsein der jeweils eigenen Lebensform. Heilsamer Schock! belebendes Erkennen! 74

Braun erkennt hier das Spezifikum des Übersetzungsvorgangs in der Simultaneität sprachlicher und kultureller Wechselwirkungen und verknüpft mit ihr explizit die Vorstellung eines Erkenntnisgewinns. Mit welchen Verfahren Braun seine Fassungen von Lance’ Gedichten als individuelle Lesarten der Originaltexte konzipiert und welche eigenen Schreibstrategien dabei zum Einsatz kommen, sollen die folgenden Übersetzungsanalysen darlegen. Ein besonderer Fokus richtet sich dabei auf die gemeinsame Affinität von Lance und Braun zum Einsatz literarischer Intertexte. In den deutschen Gedichtfassungen akzentuiert und verschärft Braun die von Lance poetisch gestalteten Anklagen gesellschaftspolitischer Missstände und macht auf diese Weise das der Übersetzung inhärente Kollisionsmoment zwischen Sprachen und Kulturen als ideologie- und regimekritisches Instrument nutzbar. Dass Braun „sein Werk auch als kontinuier73 74

Braun: Lobrede auf Alain Lance, S. 131. Ebd., S. 134.

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lichen Dialog [anlegt]: mit längst verstorbenen Dichtern, mit zeitgenössischen Kollegen und nicht zuletzt mit sich selbst, mit eigenen früheren Werken, die er im veränderten gesellschaftlichen Kontext sichtet und befragt“ 75 – diese Aussage lässt sich auch auf seine Übersetzungen anwenden und wirft gleichzeitig die Frage nach den Verbindungslinien zwischen seinem schriftstellerischen und seinem übersetzerischen Werk auf.

5.2 Polyphones Sprechen: Politische Diskursivität und intertextuelle Verfahren in Brauns Übersetzungen 5.2.1 Téhéran soixante-huit – Teheran 68 Alain Lance: Téhéran soixante-huit Ils vont ils viennent On les houspille on les malmène On leur dit de se presser un peu On leur dit demain si Dieu le veut Ils longent d’édifiants édifices et vont se noyer dans l’eau des vitrines Leurs enfants vendent la chance et leur père une à une astique les oranges Ils marchent comme dans un rêve où de jeunes freins miaulent Heureux quand ils peuvent sur le sol déplier un drapeau d’herbes de fromage de tomates Ils vont ils viennent de la ville voilée à la ville sans vergogne Vers le nord beaux quartiers dépourvus de piétons Vers le sud où geint la flûte Ils vont ils viennent dans les longs couloirs Ils sont convoqués et mis en demeure Ils attendent Ils reviennent Ils frappent aux mauvaises portes et s’excusent de demander justice Et voici des cars des casques et des crosses.76

Das Prosagedicht Téhéran soixante-huit, 1968/1969 während Alain Lance’ Wehrersatzdienst im Iran entstanden,77 evoziert das Leben in der iranischen Hauptstadt: Kinderarbeit am Lottostand („Leurs enfants vendent la chance“), Gedränge auf den Gemüsemärkten oder soziales Gefälle zwischen wohlhabenden und ärmlichen Stadtvierteln („Vers le nord beaux quartiers dépourvus de piétons / Vers le sud où geint la flûte“).78 Besonders akzentuiert wird die Unvereinbarkeit zwischen dem verhüllenden Kleidungsstil der strenggläubigen Einwohner und den aufreizenden Posen der westlich orientierten Bevölkerung („Ils vont / ils viennent de la ville voilée à la ville sans vergogne“). Außerdem stellt der Text die Ohnmacht der Stadtbewohner angesichts einer willkürlich agierenden Justiz aus 75 76 77 78

Charbon (1996), S. 321. Alain Lance: Les gens perdus deviennent fragiles. Honfleur 1970, S. 32. Der erste Aufenthalt von Alain Lance im Iran dauerte nach Angabe des Autors bis Juli 1968. Für eine verkürzte Fassung der vorliegenden Analyse zu Brauns Übersetzung in französischer Sprache siehe Sanmann (2011).

5.2 Polyphones Sprechen

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(„Ils vont ils viennent / dans les longs couloirs Ils sont convoqués et mis / en demeure Ils attendent Ils reviennent Ils frappent / aux mauvaises portes et s’excusent de demander justice“), wobei sich ihre Bedrohlichkeit vor allem in der Allgegenwart des Militärs manifestiert: „Et voici des cars des casques et des crosses“. Alain Lance beschließt sein Gedicht mit einem transformierten Zitat aus dem Gedicht Green (1873) von Paul Verlaine. Die erste Strophe von Green lautet: Voici des fruits, des fleurs, des feuilles et des branches, Et puis voici mon cœur qui ne bat que pour vous. Ne le déchirez pas avec vos deux mains blanches Et qu’à vos yeux si beaux l’humble présent soit doux.79

Verlaines Gedicht zeichnet sich durch eine enge Verknüpfung der Bereiche Liebe und Natur aus. In einer Enumeration werden die Naturerscheinungen und die Empfindungen des lyrischen Ich nebeneinandergestellt: „Voici des fruits, des fleurs, des feuilles et des branches, / Et puis voici mon cœur qui ne bat que pour vous.“ 80 Wie bei einem Spaziergang durch einen blühenden Garten empfängt der Sprecher die unterschiedlichsten Eindrücke aus der Blumen- und Pflanzenwelt und versinkt derart in der Betrachtung, dass seine Gefühle für die umworbene Frau ihm gleichsam als Teil seines Naturerlebnisses erscheinen. Auf der klanglichen Ebene verbinden sich die verschiedenen Naturelemente durch eine f-Alliteration miteinander: „Voici des fruits, des fleurs, des feuilles et des branches“. Der Vers von Alain Lance bildet einen inhaltlichen und formalen Gegenentwurf zu Verlaines Vorlage, da er dessen Naturelemente durch militärische Motive ersetzt: „Voici des cars des casques et des crosses“. Der harte Klang der drei aufeinanderfolgenden k-Laute unterstreicht die Bedrohung des zivilen Lebens in Teheran, die von den Einsatzwagen, Polizeihelmen und Gewehrkolben ausgeht. Wie reagiert nun der Übersetzer Volker Braun auf die komplexen Verweisstrukturen von Lance’ Gedicht, die in einer transformierten intertextuellen Referenz kulminieren? Ist es tatsächlich ein „fast aussichtsloses Unterfangen“,81 intertextuelle Anspielungen übertragen zu wollen? Die erste Fassung von Brauns Übersetzung aus dem Jahr 1970 lautet wie folgt:

79 80 81

Verlaines Gedicht Green aus dem Zyklus Aquarelles entstammt dem Band Romances sans paroles. In: Paul Verlaine: Œuvres poétiques. Textes établis avec chronologie, introductions, notes, choix de variantes et bibliographie, par Jacques Robichez. Paris 1995, S. 162. Ebd. Grimm (1997), S. 212.

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Teheran 68 Sie gehen sie kommen Man bebrüllt sie man mißhandelt sie Man sagt ihnen sich ein wenig zu beeilen Man sagt ihnen morgen wenn Gott will Sie wandeln an erbaulichen Bauten und ertrinken im Wasser der Schaufenster Ihre Kinder verkaufen die Chance und ihr Vater bohnert die Apfelsinen Stück für Stück Sie schreiten wie im Traum wo junge Getriebe jaulen Zufrieden wenn sie eine Fahne breiten können von Kraut Käse Tomaten Sie gehen sie kommen von der verschleierten Stadt in die der schamlosen Knie Nordwärts schöne Viertel fußgängerleer Südwärts wo die Flöte stöhnt Sie gehen sie kommen in den langen Gängen Sie werden vorgeladen und eingewiesen Sie warten Sie kommen zurück Sie klopfen an die falschen Türen und entschuldigen sich Gerechtigkeit zu verlangen Und hier sind Karren Ketten Kolben.82

In dieser Fassung von Brauns Übersetzung wird sowohl das Stilmittel der Aufzählung als auch die klangliche Gestaltung des Schlussverses bewahrt, wenn es heißt: „Und hier sind Karren Ketten Kolben.“ 83 Um die k-Alliteration des Originals mit dem Material der deutschen Sprache nachzubilden, nimmt Braun eine lexikalische Verschiebung vor, wenn er die „casques“ (Polizeihelme) durch „Ketten“ ersetzt. Zwar lassen sich diese im Sinne eines pars pro toto für Kettenfahrzeuge zum militärischen Bildbereich zählen, doch erinnern sie gleichzeitig auch an mittelalterliche Strafpraktiken und entfernen sich damit von der Szenerie der iranischen Hauptstadt in den sechziger Jahren. In dieser ersten Version versucht Braun noch nicht, die intertextuelle Referenz des Originals aufzugreifen; diesen Schritt unternimmt er erst in der zweiten Fassung seiner Übersetzung, die sieben Jahre später in der Zeitschrift Poesiealbum erscheint. Der Schlussvers von Lance’ Gedicht („Et voici des cars des casques et des crosses“) findet nun ein Äquivalent in dem zynischen Ausruf: „Wie herrlich leuchtet mir die Montur!“ 84 Dieser greift den ersten Vers von Goethes Mailied 85 auf – „Wie herrlich leuchtet / Mir die Natur!“ – und verfremdet ihn. Beide Bezugsquellen, Verlaines Gedicht Green sowie Goethes Mailied, weisen eine Parallelisierung der Bereiche Natur und Liebe auf. Vollzieht sich diese Verknüpfung bei Verlaine in Form einer Aufzählung („Voici des fruits, des fleurs, des feuilles et des branches, / Et puis voici mon cœur“), so situiert sie sich bei Goethe in der Apostrophe, die das lyrische Ich gleich82 83 84 85

Alain Lance: Gedichte. Nachdichtung: Volker Braun. In: Sinn und Form 22 (1970), Heft 1, S. 211. Ebd., S. 211. Alain Lance: Gedichte. In: Poesiealbum Nr. 114: Alain Lance. Berlin (Ost) 1977, S. 15. Johann Wolfgang von Goethe: Mailied. In: Ders.: Gedichte 1756–1799 (= Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1). Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt am Main 1987, S. 287–289.

5.2 Polyphones Sprechen

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zeitig an die Naturerscheinungen und an seine Geliebte richtet: „O Erd’, o Sonne! / O Glück, o Lust! // O Lieb’, o Liebe! […] O Mädchen, Mädchen“. Lance und sein Übersetzer Braun konterkarieren jeweils genau diese Gleichsetzung, indem sie die Natur-Motivik durch militärische Begriffe ersetzen. Zynischer noch als das Original bricht Brauns Übersetzung mit seinem literarischen Referenztext, denn der Ausruf „Wie herrlich leuchtet mir die Natur!“ aus Goethes Mailied wirkt ungleich emphatischer als die Aufzählung („Voici des fruits ...“) aus Verlaines Gedicht. In diesem Sinne spitzt Braun die dem französischen Original inhärente Opposition zwischen dem vergangenen Liebes- bzw. Naturerlebnis und der in Teheran herrschenden Bedrohung durch das Militär zu. Jörn Albrecht zitiert den Schlussvers von Téhéran soixante-huit und Brauns Übersetzung als Beispiel für eine spezielle Form der „Nachdichtung“,86 die sich durch den Vollzug analoger Sprachoperationen auszeichne: „Ein Bild wird durch ein Bild, ein Wortspiel durch ein Wortspiel, ein intertextueller Verweis durch einen intertextuellen Verweis wiedergegeben.“ 87 Findet sich in Lance’ Original eine Anspielung auf Verlaine, der in der Übersetzung eine Allusion auf einen Goethe-Vers entspricht, so liegt die Äquivalenz zwischen Ausgangs- und Zieltext nicht „allein im Vorliegen eines intertextuellen Verweises auf einen bekannten Vers der beiden Nationalliteraturen, sondern darüber hinaus in der zynischen Verquickung von poetischer Vergangenheit und militärischer Gegenwart“.88 Dank der Goethe-Referenz bewahrt Brauns Übersetzung dieses für das Original konstitutive Irritationsmoment. Der Leser der deutschen Übersetzung sieht sich, genauso wie der Leser des Originals, mit der Verschachtelung unterschiedlicher Zeitebenen und divergenter gesellschaftlicher Zustände konfrontiert. Angesichts dieser kreativen Eigenleistung des Übersetzers, die eine Wirkungsäquivalenz von französischer und deutscher Fassung anstrebt, greift jedoch Albrechts Begriff der „Nachdichtung“ zu kurz. Es handelt sich nicht um ein bloßes Imitieren des ursprünglichen Schaffensprozesses, sondern um ein Beispiel poetischer Interaktion zwischen Original und Übersetzung, die Sinnverschiebungen mit sich bringt. Besonders hervorzuheben ist hier eine die intertextuelle Referenz von Verlaine auf Goethe übertragende Transferleistung zwischen dem französischen und dem deutschen Literaturkanon. In Brauns Neugestaltung von Lance’ intertextueller Allusion lässt sich ein Verfahren kultureller Transposition erkennen, dem jedoch eine dezidiert andere Funktion zukommt als der 86 87 88

Albrechts Begriff der „Nachdichtung“ bezieht sich hier nicht auf die in der DDR verbreitete Praxis, bei der fremdsprachige Gedichte mit Hilfe von Interlinearversionen übersetzt werden. Er meint hier vielmehr eine Form des freieren Übersetzens. Albrecht (1998), S. 247. Ebd., S. 248.

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nivellierenden Einbürgerung in der Praxis der Belles Infidèles.89 Zielte dieses auf die Einebnung sprach- und kulturspezifischer Elemente, so reduzierte es faktisch die Komplexität des Originals, um dem französischen Leser das Textverständnis zu erleichtern und seinem literarischen Geschmack zu entsprechen. Transponiert aber nun Braun den Verlaine-Verweis in den zielsprachlichen Kontext, so sucht er damit gerade die Vielschichtigkeit des Ausgangstextes zu bewahren: Er gestaltet einen poetischen Text, der in seinem literaturgeschichtlichen Verweissystem ganz ähnlich funktioniert wie das Original von Alain Lance. Mit Jürgen Lehmann lässt sich das Resultat dieser intertextuellen Übersetzungsstrategie als eine „Universalisierung des Dialogs“ 90 zwischen Originaltext und Übertragung bezeichnen: Neben den Stimmen von Lance und Braun sind auch die Stimmen von Verlaine und Goethe präsent. Entsprechend lässt sich Brauns Gedichtfassung als eine mehrstimmige Übersetzung bezeichnen. Der von Braun für seine Übertragung Teheran 68 gewählte Ansatz ist bezeichnend für die Herangehensweise der Übersetzer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Sie verwerfen tradierte Übersetzungsverfahren wie das der Einbürgerung nicht pauschal, sondern entscheiden im Einzelfall. Angesichts der Spezifika von Lance’ Gedicht bedient sich Braun des übersetzerischen Instrumentariums einer vergangenen Epoche und modifiziert dieses zu eigenen Zwecken. Dabei eröffnet er mit Teheran 68 einen Resonanzraum, in dem die sprachlichen und kulturellen Unterschiede zwischen Ausgangsund Zieltext neu verhandelt werden. Wie eng die Prozesse des Schreibens und Übersetzens bei Braun miteinander verflochten sind, zeigt die Tatsache, dass Goethes Gedicht Mailied nicht nur in Brauns Übersetzung von Lance’ Gedicht Téhéran soixantehuit transformiert, sondern auch in Brauns eigenem Text Material I: Wie herrlich leuchtet mir die Natur aufgerufen wird. Hier sei nur eine von mehreren Stellen aus Brauns Gedicht angeführt, in der Goethes Verse sich wiederfinden: Und wie die Risse stopfen, die Niedertracht Die mich bedecken? woher Die Nachricht, die in meine Zellen dringt Aus den Wiesen? aus den Gewittern? Wie herrlich leuchtet Mir die Natur Wie glänzt Die Sonne in den städtischen Bächen voll toten Geländern und der Asphalt sag ich dir! zerfließt

89 90

Zur einbürgernden Übersetzungspraxis der Belles Infidèles vgl. Kap. 1.1. Lehmann (1987), S. 241 f. Vgl. Kap. 1.4.2.

5.2 Polyphones Sprechen

In der City hinter den Herden vor den UnterFührungen über den Goetheplatz unter den S-Bahn-Brücken

307 [V. 15–24] 91

Auch wenn der Zusammenhang, in dem Brauns Goethe-Referenz hier steht, ein ganz anderer ist als in seiner Übersetzung von Lance’ Gedicht Téhéran soixante-huit, so wird der gemeinsame Impetus doch unmittelbar ersichtlich: durch die Fragmentierung in Einzelverse und durch eine Neukontextualisierung wird das berühmte Gedicht konterkariert. 5.2.2 Comme j’en ai traversé de ces villes opaques – Der Umweg durch die Fremde Alain Lance: Comme j’en ai traversé de ces villes opaques Comme j’en ai traversé de ces villes opaques froissant Les signes inconnus des journaux il y avait des saisons Des oiseaux des lueurs des paroles perdues autour des braseros Je longeais opéras perdant peluche Ah oui j’ai marché dans neige et fournaise sans désir de la fin de la parenthèse échouant vingt fois sur le delta du soir donnant à mon sang toute sa plaine Parmi les débris la mémoire les rumeurs Alors je m’endormais aux cicatrices des villes Long sommeil d’une seule rivière Lèvre posée à la lézarde du temps.92

Das Gedicht Comme j’en ai traversé de ces villes opaques (1970) verarbeitet Erfahrungen von Alain Lance, der 1962 als Student zum ersten Mal in die DDR kam, um seine Sprachkenntnisse zu vertiefen und das literarische Schaffen des sozialistischen Staates kennenzulernen. Zum einen sind die Streifzüge des lyrischen Ich von einem Gefühl der Fremdheit geprägt: „Comme j’en ai traversé de ces villes opaques froissant / Les signes inconnus des journaux il y avait des saisons / Des oiseaux des lueurs des paroles perdues autour des braseros“. Unterschieden wird hier zwischen der noch fremd anmutenden Sprache („Les signes inconnus des journaux“) und den offenkundigen Zeichen der Natur („il y avait des saisons / Des oiseaux des lueurs“). Trotz der anfänglichen Fremdheit fühlt sich das lyrische Ich von seiner Neugier immer weiter getrieben: „j’ai marché dans

91 92

Volker Braun: Training des aufrechten Gangs. In: Ders.: Texte in zeitlicher Folge, Bd. 5. Leipzig 1990, S. 85–88. Alain Lance: Les gens perdus deviennent fragiles. Honfleur 1970, S. 35.

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neige et fournaise sans désir de la fin de la parenthèse“ (V. 5–6). Die beiden Fassungen von Volker Brauns Übertragung lauten: Wie ich sie durchquerte (1977) Wie ich sie durchquerte diese undurchdringlichen Städte Die fremden Zeichen der Zeitungen streifend da gab es Jahreszeiten Vögel Lichter verlorene Worte Um die Kohlenfeuer Ich strich an Opernhäusern lang die Haare ließen Ah ja ich ging durch Schnee und Glut und wünschte Kein Ende dem Umweg dutzendmal strandend Im Delta des Abends und ließ mein Blut münden Im Schutt das Erinnern und das Raunen Und danach schlief ich ein an den Narben der Städte Ein langer Schlaf eines einzigen Flusses Die Lippe leicht an dem Riß der Zeit.93 Der Umweg durch die Fremde (2007) Wie ich sie durchquerte diese undurchdringlichen Städte Die fremden Zeichen der Zeitungen streifend da gab es Zeitläufte Zugvögel Lichter verlorene Worte Um die Kohlenfeuer Ich strich an Opernhäusern lang die Haare ließen Ah ja ich ging durch Schnee und Glut und wünschte Kein Ende dem Umweg dutzendmal strandend Im Delta des Abends und ließ mein Blut münden Im Schutt das Erinnern und das Raunen Und danach schlief ich ein an den Narben der Städte Ein langer Schlaf eines einzigen Flusses Die Lippe leicht an dem Riß der Zeit 94

Bereits in der ersten Fassung seiner Übersetzung akzentuiert Braun das Original neu, wenn er den sechsten Vers „sans désir de la fin de la parenthèse“ wiedergibt mit „und wünschte kein Ende dem Umweg“. Statt den auf einen abgeschlossenen Zeitraum verweisenden Begriff der Klammer aus dem Original zu übernehmen, fügt Braun das Motiv des Umwegs ein und interpretiert damit die poetisch gestaltete Erfahrung neu: An die Stelle eines zeitlich begrenzten Abstechers setzt er eine sich stetig fortsetzende 93 94

Alain Lance: Gedichte. In: Poesiealbum Nr. 114: Alain Lance, S. 5. Alain Lance: Der Umweg durch die Fremde. Abgedruckt in: Volker Braun: Lobrede auf Alain Lance, S. 129.

5.2 Polyphones Sprechen

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Neuorientierung. Dieses Motiv arbeitet Braun in der zweiten Fassung (2007) noch stärker heraus, indem er auch den Gedichttitel ändert. Dieser lautet nun nicht mehr in wörtlicher Umschrift „Wie ich sie durchquerte“, sondern in knapper Formel „Der Umweg durch die Fremde“. Hat Volker Braun seine Übersetzung dreißig Jahre nach der ersten Fassung noch einmal verändert, so lässt er seine Freundschaft zu Alain Lance und die Wertschätzung von dessen ›Umwegen‹ mit einfließen, die nicht nur lange Aufenthalte in der DDR, sondern auch im Iran und in der Bundesrepublik zur Folge hatten. Dazu schreibt Volker Braun rückblickend: [Lance] wünschte, in dem frühen Gedicht [Comme j’en ai traversé de ces villes opaques], kein Ende der parenthèse, doch er billigte die Übersetzung und er würde mehr sinnvolle Umwege machen, die beschwerlichsten wurden die ergiebigsten Abenteuer.95

Noch zwei weitere Elemente des Originals werden in der Neufassung umakzentuiert: Die „Jahreszeiten“ („saisons“) im Sinne von zyklischen Naturabläufen werden durch „Zeitläufte“, d. h. durch Abfolgen gesellschaftlich relevanter Ereignisse ersetzt. Mit Blick auf den Mauerfall von 1989 und den damit eingeleiteten Untergang des DDR-Regimes wird deutlich, dass sich das im Gedicht gestaltete Motiv der Erinnerung mit dem Lauf der Geschichte verändert hat. Unterstützt die Umakzentuierung des Begriffes „saisons“ das Motiv des Umwegs, so erscheint Brauns zweiter Eingriff, bei dem er die „Vögel“ durch „Zugvögel“ ersetzt, weniger plausibel. Vermutlich ist er primär klangrhythmisch motiviert („Zeitläufte“ – „Zugvögel“), auf semantischer Ebene allerdings läuft er aufgrund der Zielgerichtetheit des von ihm evozierten Vogelzugs dem Motiv des Umwegs zuwider. Brauns Übersetzung stellt eine individuelle Reaktion auf das französische Gedicht und die darin aufgehobene menschliche Erfahrung dar, die sowohl den Verfasser als auch den Übersetzer betrifft. Bei der Übersetzung vom Französischen ins Deutsche bezieht Braun zu den evozierten Ereignissen Stellung und akzentuiert sie aus seiner Sicht. Eine Äußerung Brauns erhellt dieses dialogische Moment: Mit Lance verbinde ihn eine Freundschaft, heißt es, in „deren Verlauf [sie sich] die Schlüssel in die Hand gaben, in jedem übertragenen Sinn“.96 Das wechselseitige Übersetzen ihrer Gedichte, so lässt sich hinzufügen, stellt demnach einen bevorzugten Modus der Auseinandersetzung dar, ein Entschlüsseln und Neuverschlüsseln poetischer Botschaften.

95 96

Braun: Lobrede auf Alain Lance, S. 130. Ebd.

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5.2.3 Printemps – Frühling Alain Lance: Printemps

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Printemps que tout cela, les tulipes Tendent un gobelet rouge: boire un peu De soleil au ras de mur, à l’est. Après tout pourquoi pas le printemps Qui vous enfièvre et que son chant passe Trempé de mosique et de musaque. Le printemps est un fait objectif Fête abjecte objet fictif, etc. Pourquoi faire printemps eût dit l’autre Avoir un corps et la peur absente Je n’en ai pas parlé: respirer Sans mentir n’est pas l’ordre du jour. Foire au printemps! Gloire aux oignons blancs! Estragon ciboulette et cresson! Cuisinons, mes amis, car la vie Etc. Le printemps neuf compte les absents.97

Alain Lance’ Gedicht Printemps versteht sich vor dem Hintergrund der politischen Krise der Parti communiste français (PCF) im Frühjahr 1978, deren Mitglied Lance damals war. Der Text spricht in sarkastischem Tonfall von Ernüchterung und Gleichgültigkeit eines Wir, spielt jedoch nur mittelbar auf den politischen Bezugsrahmen an. Das Gedicht evoziert eine Jahreszeit, deren Hoffnungs- und Erneuerungspotential sich auf gesellschaftlicher Ebene gerade nicht realisieren lassen. Der ›chant du printemps‹ lullt die Menschen eher ein wie „musaque“,98 d. h. wie monotone Fahrstuhlmusik, als dass er sie zu politischer Aktion aufriefe: „Printemps que tout cela […] / Après tout pourquoi pas le printemps / Qui vous enfièvre et que son chant passe / Trempé de mosique et de musaque.“ Aus dem Lehnwort „musaque“ (von engl. „muzak“) entsteht durch Assonanzenbildung der zweigliedrige Ausdruck „mosique et musaque“, dessen erstes Element

97 98

Das Gedicht ist im Frühjahr 1978 entstanden. Vgl. Alain Lance: Ouvert pour inventaire. Paris 1984, S. 30. Aufgenommen in: Lance: Und wünschte kein Ende dem Umweg, S. 72. Vgl. den Eintrag „Muzak“: „Name einer 1934 in Seattle (Wash.) gegründeten Firma, die Hintergrundmusik für Büros, Fabrikhallen, Kaufhäuser, Flughäfen u. a. produziert und verbreitet. Die Lieferung der nach psycholog. Gesichtspunkten hergestellten Musik erfolgt per Kabel bzw. Satellit. Der Begriff wurde zum Synonym für derartige funktionelle Musik.“ Vgl. Der Brockhaus in zehn Bänden. Redaktionelle Leitung: Joachim Weiß. Leipzig 2005. Bd. 6 (Lit–Norc), S. 4225.

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„mosique“ eine rein klangliche Funktion hat.99 Mit diesem Wortspiel wird das Lied des Frühlings zum leeren Singsang ohne politisch relevante Botschaft degradiert. Als ähnlich enttäuschend wie der ›chant du printemps‹ erweisen sich die Reden der Parteimitglieder und ihre hölzerne Sprache, die in den Versen 7 und 8 parodiert werden: „Le printemps est un fait objectif / Fête abjecte objet fictif, etc.“ Dabei hallen im achten Vers die Klänge des „fait objectif“ (V. 7) wie ein verfremdetes Echo nach: „Fête abjecte objet fictif“ („fait“ – „fête“; „objectif“ – „abjecte“; „objectif“ – „objet“ – „fictif“). Neben dem kollektiven Wir tritt in den Versen 9 bis 11 eine weitere Figur auf: „l’autre“. Es wird berichtet, wie diese sich in der aktuellen Krisensituation verhalten hätte: „Pourquoi faire printemps eût dit l’autre / Avoir un corps et la peur absente / Je n’en ai pas parlé : respirer / Sans mentir n’est pas l’ordre du jour.“ Einerseits hätte dieser ›Andere‹ den Sinn von Frühlingsfeiern in Frage gestellt („Pourquoi faire printemps“) und andererseits seine Unerschrockenheit betont („la peur absente“), die er in einer Gesellschaft, in der die Wahrheit keinen unangefochtenen Wert darstellt, jedoch nicht offen benennen mag. In der zweiten Versgruppe werden revolutionäre Schlachtrufe parodiert, die die Parteigenossen dazu auffordern, sich lieber kulinarischen Genüssen hinzugeben statt politische Fragen zu diskutieren: „Foire au printemps! Gloire aux oignons blancs! / Estragon ciboulette et cresson! / Cuisinons, mes amis, car la vie / Etc.“ Bestehen die emphatischen Appelle allein aus der Aufzählung von Gewürzsorten, so ziehen sie jede Art des kollektiven politischen Engagements ins Lächerliche.100 In der Folge lässt sich auch der Schlussvers als Ausdruck zerstörter politischer Hoffnungen deuten, und zwar im Sinne eines Verweises auf die aus der kommunistischen Partei ausgetretenen Mitglieder: „Le printemps neuf compte les absents.“ Braun überträgt Lance’ Gedicht kurz nach seinem Entstehen,101 indem er Versatzstücke literarischer Texte mit kommunistisch-revolutionärem Hintergrund in die deutsche Fassung einflicht. Zum Zeitpunkt der Übersetzung steht Braun, ähnlich wie Lance selbst, in einem zwiespältigen Ver99

Im Französischen existiert ein ähnliches Spiel mit Assonanzen in der Wendung „prendre ses cliques et ses claques“ (dt. „seine Siebensachen packen“). 100 Eine Verknüpfung zwischen kulinarischem Genuss und politischer Repression in Form von Zensur und Überwachung findet sich auch in Lance’ Gedicht Abendessen in Berlin [Originaltitel deutsch, A. S.], das von der durch die Staatssicherheit veranlassten Abhörung der Wohnung von Christa und Gerhard Wolf spricht: „[...] On n’empêchera pas les rires / De tâtonner vers / Une oreille haut placée / Par ailleurs on peut constater que la culture / Culinaire progresse tandis que l’écriture / Implose.“ In: Temps criblé. Poèmes 1962– 1999. Cognac 2000, S. 76. 101 Hinweis von Alain Lance in seinem Brief an A. S. vom 12. November 2008.

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5 „Des Verfassers Gefährte“: Volker Braun als Übersetzer von Alain Lance

hältnis zu dem Staat, in dem er lebt und als Schriftsteller tätig ist. So hat er beispielsweise die Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterzeichnet, die 1976 trotz großer Proteste erfolgt war.102 1982, also nur wenige Jahre später, tritt Braun aus dem Schriftstellerverband aus, lebt aber weiterhin in der DDR, wo er, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, seine literarischen Werke publiziert. Seine Übertragung von Lance’ Gedicht lautet: Frühling

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Frühling, was soll das alles, die Tulpen Taumeln mit roten Bechern, ein bißchen Sonne saufen vom Mauerrand morgens: Freilich warum nicht Frühling Wir fiebern doch, daß seine flauen Flöten Uns töten mit Mosik und Musak. Der Frühling ist ein objektiver Fakt Ein verficktes Fest ein fiktives Objekt etc. Das Frühjahr kommt, konnte ein anderer sagen Und was noch nicht gestorben ist Hat einen Körper und keine Angst: atmen Ohne zu lügen steht nicht in der Zeitung. Frühlingsmesse! Ruhm den weißen Zwiebeln! Estragon Schnittlauch und Kresse! Vorwärts an Gewürze und Gewehre Denn das Leben etc. Der neue Frühling zählt die Verzehrten.103 [Hervorhebungen original]

Die grundlegende Stoßrichtung von Brauns Übertragung ist die einer Intensivierung und Radikalisierung des bei Lance angelegten FrühlingsMotivs; diese Tendenz lässt sich sowohl an der inhaltlichen als auch an der klanglichen Gestaltung ablesen. Zunächst greift Braun die zweigliedrige Alliteration des Originals auf („les tulipes / Tendent un gobelet rouge“, V. 1 f.) und verdreifacht sie in den Anfangsversen mit je unterschiedlichen Konsonanten („Tulpen Taumeln“; „Sonne saufen“; „Mauerrand morgens“). Dieses Verfahren setzt er mit der f- bzw. mit der fl-Alliteration fort, wenn es heißt: „Freilich warum nicht Frühling / Wir fiebern doch, daß seine flauen Flöten / Uns töten mit Mosik und Musak.“ (V. 4–7) Mit der Steigerung klanglicher Effekte geht auch eine signifikante semantische Akzentverschiebung einher: Die bei Lance kritisierte Hintergrundmusik 102 Vgl. dazu Roland Berbig (Hrsg.): In Sachen Biermann: Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung. Berlin 1994. 103 In: Lance: Und wünschte kein Ende dem Umweg, S. 73.

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„Muzak“, im Deutschen rein onomatopoetisch assoziiert in der Wendung „Mosik und Musak“,104 berauscht die Menschen nicht nur, sondern bringt ihnen vielmehr den ersehnten Tod. Im Schlagreim „flöten“ – „töten“, den Braun hier neu einführt, fallen klangliche und inhaltliche Steigerung zusammen. Brauns Übersetzung rekurriert damit kritisch auf den Topos der Todessehnsucht, der im deutschsprachigen Kulturraum vor allem mit der Musik der romantischen Epoche – man denke an Richard Wagners Oper Tristan und Isolde – verbunden ist, und erzeugt durch die Häufung der Gleichklänge einen parodistisch-verfremdenden Effekt. Radikaler noch als bei Lance nimmt sich die von Braun artikulierte kritische Haltung zum „chant du printemps“ aus, die sich in der Übertragung des siebten und achten Verses ebenfalls in der Akkumulation von f- und v-Lauten niederschlägt: „Der Frühling ist ein objektiver Fakt / Ein verficktes Fest ein fiktives Objekt etc.“ Dabei befördert die Neuzusammensetzung einzelner Silben die Wortgenese: „ob-jek-ti-ver Fakt“ – „ver-fick-tes Fest“ – „fik-tives Ob-jekt“. Die Wahl des umgangssprachlichen Adjektivs „verfickt“ für den französischen Begriff „abjecte“ erscheint insofern angemessen, als sie, klanglich die erste Silbe des Worts „fiktiv“ vorwegnehmend, die Verkettung aus f-, i- und k-Lauten fortsetzt. Auf semantischer Ebene verstärkt dieses Adjektiv den pejorativen Duktus des deutschen Verses, fügt ihm eine stark sexuell konnotierte Note hinzu und parodiert auf diese Weise das Motiv des Frühlings als einer Jahreszeit der erotischen Verführung. Auch das in den Anfangsversen der deutschen Printemps-Fassung neu eingeführte Motiv des Todes („daß seine flauen Flöten / uns töten“) wird in den Versen 9 bis 12 innerhalb einer intertextuellen Referenz zu den Schlussversen aus Brechts Stück Mutter Courage und ihre Kinder aufgegriffen und weitergesponnen, wenn es heißt: „Das Frühjahr kommt, konnte ein anderer sagen / Und was noch nicht gestorben ist / Hat einen Körper und keine Angst: atmen / Ohne zu lügen steht nicht in der Zeitung“ [Hervorhebung original]. In Mutter Courages euphorischem Schlachtgesang hatte es geheißen: „Das Frühjahr kommt! Wach auf, du Christ! / Der Schnee schmilzt weg! Die Toten ruhn! / Und was noch nicht gestorben ist / Das macht sich auf die Socken nun.“ 105 Brechts Verse bieten sich Braun nicht nur durch die Verknüpfung von Frühjahrs- und Todes-Motivik an; das 104 Assoziativ klingt hier auch der von Bertolt Brecht geprägte Begriff „Misuk“ an. Einer Aussage Hanns Eislers zufolge bezeichnet „Misuk“ eine Musik, die zugunsten ihres reflexiven Potentials verfremdet wird und dadurch widerstandslose Konsumierbarkeit verhindert. Vgl. Hanns Eisler: Schriften zur Musik, Bd. 2. Hrsg. von Günter Mayer. Leipzig 1982, S. 373 f. Zu Brechts Musikverständnis vgl. Rienäcker (2004), S. 145–158. 105 Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg. In: Ders.: Stücke 6 (= Werke, Bd. 6). Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin/Frankfurt am Main 1989, S. 7–86, hier S. 86.

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flapsig-optimistische, nach Aufbruch und Neubeginn klingende Lied der Mutter Courage verschärft zudem die in Lance’ Gedicht gestaltete politische Desillusionierung. Wenn Braun in seiner Übersetzung typographisch markierte BrechtZitate einsetzt, arbeitet er demonstrativ mit intertextuellen Referenzen, die in Lance’ Text nicht angelegt sind. In den entsprechenden Originalversen (V. 9–12) findet sich allenfalls ein sehr mittelbarer Anklang an ein französisches Gedicht, und zwar an Paul Eluards Aujourd’hui (1948), das von Entbehrungen, Leid und Ungerechtigkeiten im Frankreich der Nachkriegszeit spricht. Dessen fünfte Strophe lautet: Le soleil je ne risque rien je n’ai fait qu’en parler Parler est peu de chose l’eau le gaz et l’électricité Et manger à sa faim seraient plus lumineux Avoir la peau brunie et manger à sa gourmandise Je n’en ai même pas parlé 106

Setzt man jedoch diesen impliziten Intertext voraus, lässt sich in der Figur des sprechenden „Anderen“ („eût dit l’autre“) Paul Eluard selbst erkennen, der kommunistisch geprägte Résistance-Kämpfer und -Dichter, der seine Einschätzung der aktuellen politischen Lage Frankreichs formuliert. In Brauns Übersetzung überlagern sich an der entsprechenden Stelle verschiedene intertextuelle Schichten und Sprecherinstanzen: Einerseits zitiert Braun die Worte der Mutter Courage („Das Frühjahr kommt“ bzw. „Und was noch nicht gestorben ist“), andererseits übernimmt er Lance’ Einschub „konnte ein anderer sagen“ („eût dit l’autre“), mit dem dieser wiederum Eluards Stimme in sein Gedicht integriert hatte. In der deutschen Fassung wird nun aus Eluard tatsächlich ›ein Anderer‹, nämlich Brecht, der sich in der Figur der Mutter Courage zu Wort meldet. Brecht und Eluard fungieren als Brauns Stichwortgeber, deren Wortbeiträge sich überlagern, bis sie nicht mehr voneinander zu trennen sind. Im dreizehnten bis sechzehnten Vers seiner Übersetzung rekonstruiert Volker Braun den von Lance ironisch evozierten kulinarischen Kontext und verstärkt ihn zusätzlich durch eine intertextuelle Referenz. Anstatt den Aufruf „Cuisinons, mes amis“ wörtlich zu übersetzen, überblendet er ihn mit einem Appell aus dem sozialistischen Kampflied Rote Matrosen von 1917, in dessen Refrain es heißt: „Vorwärts an Geschütz’ und Gewehre, / Auf Schiff, in Fabriken und Schacht / Tragt über den Erdball, tragt über

106 Paul Eluard: Œuvres complètes. Hrsg. von Marcelle Dumas und Lucien Scheler. Paris 1979, Bd. 2, S. 226 ff.

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die Meere / die Fahne der Arbeitermacht!“ 107 Brauns Lance-Übersetzung lautet: „Frühlingsmesse! Ruhm den weißen Zwiebeln! / Estragon Schnittlauch und Kresse! / Vorwärts an Gewürze und Gewehre / Denn das Leben etc.“ (V. 14–17, Hervorhebung A. S.) Ersetzt Braun im vierzehnten Vers die „Geschütz’“ durch „Gewürze“, so demontiert er die Siegesgewissheit der politisch engagierten Matrosen. In Analogie zum Original verknüpft Brauns Übersetzung die kulinarische Motivik mit dem Ausdruck zerstörter revolutionärer Hoffnungen. Auch diese intertextuelle Allusion ist sowohl in klanglicher als auch in semantischer Hinsicht bedeutsam: Das neu gebildete Begriffspaar „Gewürze und Gewehre“ weist neben der g-Alliteration und der analogen Vokalabfolge e – ü auch eine Wiederholung des Konsonanten /w/ in der Wortmitte auf. Zitiert Braun in seiner LanceÜbersetzung ein Lied aus der Russischen Revolution, um anschließend dessen politische Symbolkraft sprachlich zu dekonstruieren, so nimmt er implizit die gewaltsame Niederschlagung des Matrosenaufstands durch die Rote Armee im März 1921 vorweg und zeigt die Vergeblichkeit der Matrosenrevolte auf. Unterschwellig artikuliert Braun damit auch seine eigene kritische Haltung zum repressiven Vorgehen des DDR-Regimes gegenüber der Bevölkerung. Im komplexen intertextuellen Verweissystem seiner Übersetzung spannt Braun einen Bogen zwischen den Ereignissen der Russischen Revolution, der Regierungskrise der Parti communiste français von 1978 und der in der DDR herrschenden politischen Unterdrückung. Schließlich treibt Braun die in Lance’ Gedicht angelegte zynische Verquickung gescheiterter politischer Hoffnungen und kulinarischer Genüsse auf die Spitze, wenn er im Schlussvers übersetzt: „Der neue Frühling zählt die Verzehrten“ statt „Der neue Frühling zählt die Abwesenden“. Die kulinarische Genuss-Sucht, die ursprünglich das politische Scheitern kompensieren sollte, wendet sich gegen die Genuss-Süchtigen und vernichtet sie. Erneut überführt Braun die im Original angelegte Metaphorik ins Existentielle und verschärft den kritischen Impetus des Gedichts. Brauns deutsche Printemps-Fassung, so lässt sich festhalten, potenziert die Bedeutungsebenen des Ausgangstexts, da sie mehrere historische ›Frühlinge‹ bzw. ihre politischen Ereignisse übereinanderblendet: Über die bei Lance evozierte Krise der Parti communiste français im Frühling 1978 hinaus führt Braun nicht nur die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes im Frühjahr 1921 und die von Brecht in der Mutter Courage literarisch gestalteten Wirren des Dreißigjährigen Krieges an, sondern artikuliert unterschwel107 Zitiert nach: Mit Gesang wird gekämpft. Lieder der Arbeiterbewegung. Berlin (Ost) 1967, S. 68. – Das russische Original (1922) von Alexander Besymenski evoziert das politische Engagement der kommunistisch geprägten Matrosen aus Kronstadt, einem Zentrum der revolutionären Bewegung im Juli 1917. Die deutsche Nachdichtung des Liedes mit dem Titel Rote Matrosen wurde 1929 von Helmut Schinkel angefertigt.

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lig auch seine eigene Auflehnung gegen die staatlichen Repressionen in der DDR der siebziger Jahre – nicht ohne die humoristischen Elemente von Lance’ Gedicht zu wahren und mitunter sogar zu verstärken. Gleichzeitig verleiht Braun seiner Übersetzung durch die kritisch motivierte Hinzufügung des Motivs der Todessehnsucht in den Versen 6, 10 und 14 aber auch eine existentielle Dimension, die einen Kontrapunkt zu den humoristischparodistischen Elementen des Gedichts bildet. Nicht nur in den Übertragungen der Gedichte von Alain Lance, sondern auch in Brauns eigenem lyrischen Werk spielt die Transformation politischer Texte und Lieder eine zentrale Rolle: So hat das revolutionäre Kampflied Rote Matrosen, dessen agitatorischen Aufruf „Vorwärts an Geschütz’ und Gewehre“ Braun in der deutschen Fassung von Lance’ Gedicht Printemps karikiert, auch Eingang in sein eigenes Werk gefunden, und zwar in sein Gedicht Material VII: Der Frieden aus dem Zyklus Der Stoff zum Leben II. Hier unterläuft der Sprecher nicht nur den Appell aus dem Lied Rote Matrosen, sondern dekonstruiert auch die Parolen aus dem Lied Brüder zur Sonne, zur Freiheit sowie aus dem Solidaritätslied und gibt diese der Lächerlichkeit preis.108 Hier ein Ausschnitt aus Brauns Gedicht: Brüder zum Posten empor! Vorwärts an Geschütze und Gewehre Vorwärts marsch! Brüder zur Kasse VORWÄRTS UND NICHT VERGESSEN BRÜDER Die Solidität DIE SOLIDARI TÄTERÄTÄH 109

Eine weitere Bezugnahme auf die Kronstädter Matrosen bzw. auf ihren von der Roten Armee niedergeschlagenen Aufstand findet sich in Brauns dreistrophigem Gedicht Die Matrosen von Kronstadt, das noch vor seiner Lance-Übersetzung Frühling entstanden ist. In der ersten Strophe seines Texts heißt es:

108 Vgl. Visser (1994), S. 193, Anm. 127. 109 Volker Braun: Langsamer knirschender Morgen. In: Ders.: Texte in zeitlicher Folge, Bd. 8. Halle 1992. S. 69–71. Die Referenz auf das Lied der Kronstädter Matrosen ist weder in der LanceÜbersetzung noch in Brauns Gedicht typographisch markiert. Auch im Anmerkungsapparat von Brauns Gedichtband Langsamer knirschender Morgen, der zahlreiche andere Referenzen benennt, findet sich kein Hinweis auf die zitierte Quelle. – Vgl. Visser (1994), S. 193, Anm. 127.

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Vom Blut schwarz die Montur, schmal Das Brot, und von der Freiheit nur eine Krust – Werft sie ins Wasser, schreit ein Admiral Und Kugeln durchschlagen ihre Brust: Das sind die Matrosen von Kronstadt. Das sind die Matrosen von Kronstadt.110

Brauns als Gesang konzipiertes Gedicht Die Matrosen von Kronstadt liest sich wie ein Gegenentwurf zum russischen Liedtext Rote Matrosen von Alexander Besymenski, der die Siegesgewissheit und den Gemeinschaftsgeist der kämpfenden Matrosen in den Vordergrund rückt. Bei Braun dominieren hingegen die Motive von Tod und Verderben der vom Militär ermordeten Matrosen. Offensichtlich haben Braun die historischen Ereignisse in Kronstadt im Zusammenhang mit der Russischen Revolution über eine längere Zeit hinweg beschäftigt. Dass er sich sowohl in seinen eigenen Gedichten als auch in seinen Übersetzungen mit ihnen auseinandersetzt, zeigt, wie eng die Tätigkeiten des Schreibens und des Übersetzens bei ihm korreliert sind. 5.2.4 Neutron suprême – Höchstes Neutron Alain Lance: Neutron suprême Nulle plainte Nulle ruine Paix divine Terre éteinte.111

Alain Lance’ Miniatur Neutron suprême kondensiert in poetischer Form die gesellschaftspolitischen Debatten über den Einsatz von Neutronenbomben, die um 1978 geführt wurden. Befürworter sprachen von einer im Vergleich zu traditionellen Atomwaffen ›sauberen‹ Bombe mit relativ geringen Druck- und Hitzewellen, wohingegen die Vertreter der Friedensund Anti-Atombewegung eine Waffe anprangerten, deren radioaktive Strahlung auf die Tötung von Menschen abzielt. Lance’ Gedicht zergliedert die Zerstörungskraft der Neutronenbombe in eine äußerst verknappte Aufzählung. Schon der affirmative Gestus, mit dem die ersten beiden Verse auf der Unversehrtheit von Menschen und 110 Braun: Verstreute Gedichte 1959–1968. In: Ders.: Texte in zeitlicher Folge, Bd. 3. Halle/Leipzig 1990, S. 105. 111 Alain Lance: Ouvert pour inventaire. Paris 1984, S. 49. Aufgenommen in Lance: Und wünschte kein Ende dem Umweg, S. 86.

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Gebäuden nach der Explosion insistieren, lässt einen tragischen Irrtum erahnen: Wer „nulle plainte / nulle ruine“ hört, dem bleiben „plainte“ und „ruine“ als Echo gegenwärtig, nicht ihre Negation. Mündet die anaphorisch gestützte ex negativo-Argumentation in die Vorstellung eines „paix divine“ (V. 3), so wird die Kulisse dieser idyllischen Szenerie zur Farce degradiert. Der göttliche Frieden erweist sich als Ausdruck eines gesteigerten Sarkasmus angesichts der fatalen Folgen der Neutronenbombenexplosion. Wird hier noch eine überirdische Instanz aufgerufen, so geschieht dies allein, um die Illusion der Unversehrtheit auf die Spitze zu treiben und die Benennung der Katastrophe hinauszuzögern. Im letzten Vers heißt es dann knapp: „terre éteinte“. Seine Spannung zieht das Gedicht gerade aus dieser Kippbewegung zwischen dem dritten und dem vierten Vers, die die äußerliche Unbeschadetheit der Umgebung mit der tödlichen Wirkung radioaktiver Strahlen kontrastiert. Verstärkt wird dieser Umschlag durch die Opposition zwischen der paradiesisch anmutenden Stille nach dem Bombeneinschlag und der irdischen Apokalypse. Die Intensität dieses Irritationsmoments rührt von der klanglichen Gestaltung der Verse her: Das Übergewicht weiblicher Wort- und Versschlüsse – allein im Wort „paix“ findet sich ein Einsilber – macht aus dem kurzen Gedicht einen fast monoton anmutenden Singsang, der die Inszenierung des Trugbilds untermalt und sogar noch den Ausdruck der Katastrophe mit einschließt. Erst vor dem Hintergrund dieses Klangteppichs vermag der sarkastisch affirmierte „paix divine“ sein ganzes Störpotential zu entfalten.112 Ohne Frage stellt die Übersetzung von Kürzestgedichten wie Neutron suprême eine große Herausforderung dar: Auf begrenztem Raum sind korrespondierende Ausdrücke zu suchen und ein verlorener Effekt kann nicht in jedem Fall an anderer Stelle kompensiert werden. Um Brauns Übersetzungsstrategien möglichst genau untersuchen zu können, wird der Gegenüberstellung von Original und Übersetzung eine Interlinearversion beigefügt: [Alain Lance:] Neutron suprême Nulle plainte Nulle ruine Paix divine Terre éteinte.113

112 Statt „nulle plainte / nulle ruine“ wären in den ersten Versen auch Wendungen wie „aucun cri / aucun débris“ als (quasi) Synonyme denkbar gewesen, doch sie hätten auf klanglicher Ebene ganz andere Akzente gesetzt. 113 Alain Lance: Ouvert pour inventaire. Paris 1984, S. 49.

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[Interlinearübersetzung, A. S.:] Höchstes Neutron Keine Klage Keine Ruine Göttlicher Frieden Ausgelöschte Erde. [Übersetzung von Volker Braun:] Höchstes Neutron Kein Schutt. Kein Schrei Intakt. Vorbei.114

Brauns Übersetzung zielt auf die klangliche und semantische Neugestaltung von Lance’ poetischer Miniatur, ohne die Stoßrichtung des Originals preiszugeben. Er löst die Form des Gedichts auf und verknappt es, indem er den vier Zeilen des Originals, die jeweils aus Substantiv und Adjektiv bestehen, einen Zweizeiler entgegensetzt. Der von klingenden Versschlüssen getragene Duktus des Originals weicht dabei im Deutschen einem lakonischen Stakkato. Gleichzeitig wird auch das Vokabular umakzentuiert. Auf der Ebene der Semantik tritt der „Schrei“ an die Stelle der Klage („plainte“) – die Abfolge der ersten beiden Verse wird vertauscht – und aus der Ruine („ruine“) wird „Schutt“. Abgesehen von Anapher („kein“/„kein“) und Alliteration („Schutt“/„Schrei“), die die deutsche Fassung nachbildet, setzt hier schon ein Umdeutungsprozess ein. Auf klanglicher Ebene wird nämlich ein Irritationsmoment des Originals getilgt, das in der Verquickung von melodiösem Sprechen und der Schilderung höchster Gefahr besteht. Die Evokation des „göttliche[n] Frieden[s]“ (V. 3) wird bei Braun zu einer einzelnen, technischen Vokabel zusammengeschmolzen: „Intakt“. Behauptet dieses Adjektiv die Unversehrtheit von Mensch und Umwelt, so tut es dies mit dem Gestus größter emotionaler Distanz. Der notwendige Gegenpol zu diesem – gleich dem „paix divine“ des Originals – ironisch gebrauchten Begriff wäre im letzten Vers zu erwarten: Doch das flapsig nachgeschobene Adverb „Vorbei“ erfüllt seine Aufgabe, die Ausdruckskraft einer Wendung wie „terre éteinte“ zu vermitteln, nur bedingt. Was der Übersetzung fehlt, ist ein Form-Inhalt-Gefälle, das auf kleinstem Raum Spannung erzeugt. „Schutt“, „Schrei“, „Intakt“, „Vorbei“ – diese Begriffe tragen alle zu einem nüchternen Duktus bei und laufen dem Pathos des Originals zuwider, das jedoch seinerseits für die textinterne Fallhöhe sorgt. Andererseits wird die Wirkung des Schlussverses durch die Wahl des Wor114 Lance: Und wünschte kein Ende dem Umweg, S. 87.

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tes „Vorbei“ sogar intensiviert. Verwendet Lance mit der ausgelöschten Erde noch ein konkretes Motiv, um die Zerstörung zu evozieren, so situiert sich Brauns Vers auf einer rein abstrakten Ebene. Das Adverb „Vorbei“ signalisiert einen Zustand, in dem es kein Subjekt mehr gibt, das von einer ausgelöschten Erde sprechen könnte – und vergegenwärtigt damit in radikaler Weise die allumfassende Zerstörungskraft der Neutronenbombe. 5.2.5 Aux amis de l’est – An die Freunde im Osten Hat Braun in seiner Übersetzung Teheran 68 den im Original angelegten Intertext durch einen neuen ersetzt, so konturiert er seine deutsche Fassung von Lance’ Gedicht Aux amis de l’est (1984) durch eine neu hinzugefügte intertextuelle Referenz. Im Original heißt es: Aux amis de l’est

5

10

Pendant que nos lettres se croisent (entre France et Prusse à peine si les diligences de Bonaparte mettaient moins de temps qu’aujourd’hui) Pendant qu’à distance nous trinquons (Un Rouge Seul Soleil vous dégrise plus tôt mais vous devrez attendre jusqu’à demain les pluies rongeuses) Pendant que pour nos retrouvailles (Avions civils! Frontières poreuses!) nous troquons livres et liquides Pendant que pendant que pendant que langue de bois ou loi des banques.115

Das Gedicht Aux amis de l’est schildert in der Form eines Briefes an die Freunde im Osten, wie sich der Einsatz repressiver Machtinstrumente wie Zensur und Handelsbeschränkung auf das Leben der DDR-Bürger auswirkt. Aus biographischer Sicht ist hier die Freundschaft des Verfassers Alain Lance zu verschiedenen DDR-Schriftstellern relevant,116 mit denen er seit Beginn der sechziger Jahre in persönlichem Kontakt stand und deren Texte er ins Französische übersetzt hat. Freundschaftliches und Literarisches sind in diesem fiktiven Grußwort nicht voneinander zu trennen; gegenseitiges Lesen und Übersetzen gehen Hand in Hand: „Pendant que 115 In: Alain Lance: Distrait du désastre. Plombières-lès-Dijon 1995, S. 43. Aufgenommen in: Alain Lance: Und wünschte kein Ende dem Umweg. Gedichte in französisch und deutsch. Nachwort von Karl-Heinz Götze. Homburg/Saar 1994, S. 140. 116 Alain Lance ist u. a. mit Christa und Gerhard Wolf durch eine langjährige Freundschaft verbunden.

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pour nos retrouvailles / nous troquons livres et liquides“.117 Als ob er selbst das Eingreifen der Zensur fürchten müsste, verbirgt Alain Lance nicht nur die Identität der „amis de l’est“, sondern auch den Aktualitätsbezug seiner Schrift: Weder der Name der DDR taucht im Gedicht auf, noch wird die Unterdrückung der Bevölkerung durch das autoritäre Regime explizit angeprangert. Stattdessen inszeniert Lance’ Gedicht gleich zu Beginn ein anachronistisches Verwirrspiel, das von den sich zwischen Frankreich und Preußen kreuzenden Briefen handelt: „Pendant que nos lettres se croisent / (entre France et Prusse à peine si / les diligences de Bonaparte / mettaient moins de temps qu’aujourd’hui)“. Die insgesamt sechsmal verwendete temporale Subjunktion „pendant que“, das Schlüsselwort des Textes, konstituiert das Gedicht als eine Reihe unverbundener Nebensätze. In den Versen 1, 5 und 9 initiiert die Subjunktion jeweils eine Reflexion des Sprechers über seine durch Zensurvorschriften und Reisebeschränkungen erschwerte Kommunikation mit den „Freunden im Osten“: Briefe werden getauscht, man prostet sich aus der Ferne zu, selten nur kommt es zu persönlichen Treffen. Die dreifache Wiederholung der Wendung „pendant que“ in Vers 12 markiert den Scheitelpunkt des in der fragmentierten Syntax angelegten Spannungsbogens: Die Repetitio greift die Anaphern der Verse 1, 5 und 9 noch einmal auf, gleichzeitig betont sie die Dauer des grenzüberschreitenden Dialogs, den der Sprecher mit seinen Freunden in der DDR führt. Der letzte Vers fokussiert den politischen Hintergrund des fiktiven Briefes und benennt die Aporie, der sich die „Freunde“ in ihren Heimatländern jeweils ausgesetzt sehen: Zwei politische Systeme werden einander metonymisch gegenübergestellt und erscheinen in je unterschiedlicher Weise problematisch. In Form eines zynischen Schüttelreims kontrastiert der Sprecher die Phrasendrescherei („langue de bois“) der sozialistischen Machthaber der DDR mit dem alles beherrschenden Gesetz der Banken („loi des banques“) im kapitalistisch geprägten Frankreich. Mit diesem Befund des Mangels an politischen Perspektiven erreicht das Gedicht seinen Kulminations- und gleichzeitig seinen Schlusspunkt. Die Aporie lässt sich nicht überwinden, aus Sicht des Sprechers erscheint keines der beiden Systeme erstrebenswert. Im Rückblick auf die Arbeit an seiner deutschen Übersetzung von Aux amis de l’est hebt Braun hervor, wie eng Sprache und Lebenswirklichkeit in Lance’ Gedicht miteinander verwoben sind:

117 Braun schreibt über seinen literarischen Austausch mit Lance: „›Texte tauschen‹: das heißt ja, sich die Sache in adäquater Form anzueignen, im Leib der eigenen Sprache, um wirklich ›zum anderen Ufer zu schreiten oder anderen diesen Übergang zu ermöglichen‹.“ In: Volker Braun: Lobrede auf Alain Lance, S. 131.

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[In Aux amis de l’est] hat uns Alain Lance Bericht gegeben über die Produktionsverhältnisse, wie wir sie [in der DDR] vorfanden […]. Es war jede Zeile zu prüfen und jede Auffälligkeit zu hinterfragen, und das ist, ihr Herren vom Zoll, die heiterste und härteste Tätigkeit, ganz bei der Sache und bei der Lust! Es waren, zugegebenermaßen, nicht nur Worte und Bilder zu übertragen, sondern Erfahrungen zu transferieren.118

Brauns deutsche Gedichtfassung An die Freunde im Osten aktualisiert und konkretisiert die ins Original eingestreuten Allusionen, die kritisch auf die politisch-gesellschaftlichen Umstände in der DDR und in Frankreich verweisen. Sie lautet wie folgt: An die Freunde im Osten

5

10

Während sich unsere Grüße kreuzen in den deutsch-französischen Postsäcken (Die Kutscher des Bonaparte eilten nicht minder mit Weile) Während wir in der Distanz das Glas erheben (Unter der Stolzen Sonne Rot: die euch eher ernüchtert, wohingegen ihr wartet bis morgen auf die nagenden Regen) Während wir, während friedlicher Treffen (Zivile Flugzeuge! Poröse Grenzen!) Texte tauschen und Flüssigkeiten Während während während Kaderwelsch oder Warenknechte.119

Das Motiv des Briefwechsels zwischen Franzosen und Preußen wird bei Braun von „deutsch-französischen Postsäcken“ abgelöst, und der Bezug zu den „Kutschern des Bonaparte“ (V. 3–4) wird auf einen bloßen Vergleich reduziert. Darüber hinaus wertet Braun das individuelle Engagement in der Bevölkerung auf, indem er den französischen Begriff „retrouvailles“ mit „friedliche Treffen“ (V. 9) übersetzt. Die Schilderung dieser Zusammenkünfte bildet einen Kontrast zum folgenden Vers, in dem von den „Avions civils!“ („Zivile Flugzeuge!“) bzw. den „Frontières poreuses!“ („Poröse Grenzen!“) des sozialistischen Staates die Rede ist. Dem solidarischen Austausch zwischen französischen Autoren und DDR-Schriftstellern innerhalb der Staatsgrenzen steht hier der Gedanke an die Überwindung dieser Grenzen gegenüber. Brauns Konkretisierungsbestreben kulminiert in der Übersetzung des Schüttelreims „langue de bois ou loi des banques“. Eine wörtliche, nur die Alliterationen reproduzierende 118 Braun: Lobrede auf Alain Lance, S. 131. 119 Alain Lance: An die Freunde im Osten. Deutsch von Volker Braun. In: Lance: Und wünschte kein Ende dem Umweg, S. 141.

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Übersetzung hieße etwa „leeres Gerede und Gesetze der Banken“. Auch der umgangssprachliche Begriff „Kauderwelsch“ 120 hätte sich angeboten, um – passend zum französischen „langue de bois“ – eine sprichwörtliche Wendung aus dem deutschen Vokabular aufzugreifen. Ähnlich wie in der Übersetzung Teheran 68, wo Braun ein Goethe-Zitat transformiert, entscheidet er sich jedoch auch hier für ein Verfahren der semantischen Umakzentuierung, wenn er die Wendung „langue de bois“ mit der aus „Kader“ und „Kauderwelsch“ zusammengesetzten Wendung „Kaderwelsch“ wiedergibt. Dabei findet auf konnotativer Ebene eine Konkretisierung statt, da Braun in seinem Vers auf eine literarische Vorlage anspielt. Ursprünglich entstammt der Neologismus „Kaderwelsch“ nämlich Bertolt Brechts Gedicht Die neue Mundart (1953)121 aus dem Zusammenhang der Buckower Elegien, ein Gedicht, das Brecht nicht zur Publikation vorgesehen hatte und erst 1980 veröffentlicht worden ist.122 Dort heißt es vom „Kaderwelsch, / Welches mit drohender und belehrender Stimme gesprochen wird“: „Dem, der Kaderwelsch hört / Vergeht das Essen. / Dem, der es spricht / Vergeht das Hören.“ 123 Der Bevölkerung, die das „Kaderwelsch“ anhören muss, wird das tägliche Leben durch die ideologisch verbrämte Sprechweise der Funktionäre verleidet, während die Funktionäre selbst, wie Brecht anprangert, durch den Gebrauch des Jargons abstumpfen und gleichgültig werden. Aus Lance’ Kritik an einer nicht näher spezifizierten „Phrasendrescherei“ („langue de bois“) wird bei Braun durch das Brecht-Zitat eine explizite Anklage des militärisch anmutenden Jargons der Regierungsvertreter der DDR. Besonders signifikant ist diese Übersetzungsstrategie zum einen, weil an der entsprechenden Stelle des Originals kein intertextueller Verweis vorliegt, zum anderen, weil der Begriff „Kaderwelsch“ keine kanonisierte Referenz darstellt, son120 Vgl. den Eintrag „Kauderwelsch“: „adj., adv. und subst. von unverständlicher sprache, von gänzlich fremder sowohl wie besonders von solcher die durch schlechte aussprache, falsche formen, vermengung mit fremdem unverständlich wird; dann auch von krausen gedanken, einfällen, und von dingen überhaupt, die verworren sind oder verwirren, ein kräftiges, mit besonderem humor umkleidetes wort […]“. In: DWB, Bd. 11, Sp. 308, Z. 25. Trier 2005. 121 Bertolt Brecht: Die neue Mundart. In: Ders.: Gedichte 2. Sammlungen 1938–1956 (= Werke, Bd. 12). Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin/Frankfurt am Main 1988, S. 311. 122 Vgl. ebd., S. 449. Zum ersten Mal regulär erschien das Gedicht in der Zeitschrift Sinn und Form, vgl. Bertolt Brecht: Zwei ›Buckower Elegien‹ [Die neue Mundart; Lebensmittel zum Zweck]. In: Sinn und Form 32 (1980), Heft 5, S. 1091. Gerhard Seidel erwähnt zudem in seinem Essay Vom Kaderwelsch und vom Schmalz der Söhne McCarthys, der dem Abdruck der beiden Brecht-Gedichte vorangeht, einen (fehlerhaften) Raubdruck von Die neue Mundart in der Zeitschrift Rote Fahne 25 (1978), Nr. 25. Vgl. Seidel (1980), S. 1087–1090, hier S. 1090. 123 Brecht: Gedichte 2, S. 311.

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dern eine erst knapp dreißig Jahre nach ihrer Entstehung an die Öffentlichkeit gelangte Wendung. Sie ist für den Leser von Brauns Übertragung unmittelbar verständlich – wer jedoch den Begriff „Kaderwelsch“ als Brecht-Zitat identifiziert, dem erschließt sich noch eine zusätzliche Bedeutungsebene. Denn die Publikationsumstände des nach seiner Entstehung unveröffentlicht gebliebenen Gedichts Die neue Mundart zeugen ihrerseits von der eingeschränkten Meinungsfreiheit in der DDR der fünfziger Jahre. Dass diese Einschränkung inzwischen der Vergangenheit angehöre, versucht Gerhard Seidel zu bekräftigen, wenn er in seinem Begleittext zur Erstveröffentlichung meint, Die neue Mundart sei „in erster Linie historisch zu lesen“.124 Dieser historisierenden und damit distanzierenden Lesart widersetzt sich Braun, wenn er den Begriff „Kaderwelsch“ in seine LanceÜbertragung einfügt und damit in subtiler Weise auf dessen ungebrochener Aktualität insistiert: Er integriert Brechts Kritik am Jargon der DDRFunktionäre aus dem Kontext des Aufstands vom 17. Juni 1953 in den Rahmen von Lance’ Gedicht, das tagesaktuell Stellung bezieht. Mit dem Einsatz des „Kaderwelsch“-Zitats situiert Braun seine Übersetzung also in der literarisch-politischen Traditionslinie von Bertolt Brecht und konkretisiert gleichzeitig die von Lance in Aux amis de l’est artikulierte Gesellschaftskritik. Äußert Lance seine kritische Haltung gegenüber den Repressionen des DDR-Regimes nur unterschwellig, so wird die Anklage in der Übersetzung insofern explizit gemacht, als Braun den Jargon der Parteivertreter als „Kaderwelsch“ unmittelbar angreift. Und doch bedient sich auch Braun eines indirekten Sprechmodus, wenn er den im Original verwendeten Ausdruck „langue de bois“ durch Brechts Begriff „Kaderwelsch“ ersetzt. Mit diesem Verfahren reflektiert Braun im Medium der Übersetzung die Funktion, die er dem Übersetzungsvorgang in einem autoritären politischen System wie dem der DDR zuschreibt: Sein mittelbares Sprechen qua Intertext vermag im Rahmen der Übersetzung eine politische Botschaft zu transportieren und diese an der Zensur vorbeizuschleusen.125 Die im französischen Originalvers artikulierte Aporie angesichts fehlender politischer Alternativen wird dabei noch einmal verstärkt: Weder der Kapitalismus in Frankreich noch das System der DDR erscheinen erstrebenswert. Gestaltet Braun unter Rückgriff auf das Brecht-Zitat eine eigene Lesart des Originals, so lässt er seine Übersetzung auf vokalischer und konsonantischer Ebene mit dem französischen Gedicht korrespondieren, und 124 Seidel (1980), S. 1089. 125 Als Lyriker hat Braun selbst die Mechanismen der Zensur zu spüren bekommen: So wurde die Publikation seines Gedichtbandes Langsamer knirschender Morgen (Halle/Leipzig 1987) von den staatlichen Instanzen vier Jahre lang hinausgezögert. Vgl. Charbon (1996), S. 328.

5.2 Polyphones Sprechen

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zwar genau in dem Vers, den er semantisch verändert: Anstatt die Assonanzen des Originalverses („langue de bois ou loi de banques“) a – oi – oi – a zu imitieren, wählt er den Vers „Kaderwelsch oder Warenknechte“ und kreiert damit auf den betonten Silben die Tonfolge a – e – a – e. Aus dem umarmenden Gleichklang im Französischen wird im Deutschen ein Chiasmus. In umgekehrter Richtung vollzieht Braun die Nachbildung der konsonantischen Gleichklänge: Findet sich im französischen Vers „langue de bois ou loi des banques“ der Chiasmus l – b – l – b, so weicht dieser in „Kaderwelsch oder Warenknechte“ einer umarmenden Alliteration in der Lautfolge k – w – w – k. Das Kompositum „Warenknechte“ fungiert hier nicht nur als ein nach ästhetisch-klanglichen Kriterien geschaffener Neologismus, sondern auch als Umakzentuierung und semantische Zuspitzung des französischen Begriffs „loi des banques“ (Gesetz der Banken). Stärker noch als das Original konstruiert Brauns Übersetzung den Schlussvers des Gedichts als Opposition: Dem Jargon der DDR-Regierungskader stehen die dem Kapitalismus dienenden „Warenknechte“ in Frankreich gegenüber. Brauns Streben, die in Lance’ Gedicht artikulierte politische Kritik zu konkretisieren und zu veranschaulichen, manifestiert sich hier im Motiv der dem kapitalistischen Wirtschaftsgefüge sklavisch unterworfenen Bürger. In der deutschen Gedichtfassung nehmen sie den Platz der im Original nur abstrakt benannten ökonomischen Gesetze ein. Indem Braun seiner Übersetzung eine zusätzliche, intertextuell und klanglich vermittelte Bedeutungsdimension unterlegt, begreift er diese als eine individuelle Antwort auf das französische Gedicht, das Lance implizit auch an ihn persönlich als einen seiner „Freunde im Osten“ adressiert hat. In diesem Sinne initiieren Original und Übersetzung ein dialogisches Moment der Verständigung über den Alltag in der DDR und über den Status von Sprache und Kommunikation in einem autoritären System. Als Übersetzer von Lance’ Gedicht Aux amis de l’est gerät Braun dabei in ein produktives kommunikationstheoretisches Paradox, da er als Empfänger und Sender zugleich agiert: Er selbst ist einer der von Lance adressierten „Freunde im Osten“. Gleichzeitig wird er durch seine individuell gestaltete Übersetzung zum Absender einer neu kodierten poetischen Briefnachricht. Gilt die Lyrikübersetzung auf der Grundlage von Interlinearversionen als Grenzfall ihrer Gattung, so lässt sich an Brauns Auseinandersetzung mit der Lyrik von Lance ablesen, welch breites Spektrum formaler und semantischer Interaktionsmöglichkeiten sie bietet. Wie die vorliegenden Übersetzungsanalysen gezeigt haben, nimmt Braun die Gedichte von Lance als Anstoß, um im Medium der Übersetzung literarisch-politische Diskurse aufzugreifen und dialogisch fortzuschreiben. Gemäß seiner individuellen Interpretation greift er in die Ausgangstexte ein, indem er einzelne Motive, Begriffe oder idiomatische Wendungen im Rahmen seiner Über-

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5 „Des Verfassers Gefährte“: Volker Braun als Übersetzer von Alain Lance

setzung neu akzentuiert. Auf diese Weise bezieht er zu den in den Originaltexten entfalteten politischen Diskursen Position – unabhängig davon, ob die politischen Verhältnisse in der DDR oder in anderen Ländern zur Diskussion stehen – und macht seine Übersetzungen zu Instrumenten der Gesellschaftskritik. Besonders augenfällig ist dabei Brauns Einsatz intertextueller Verweise, denen er je unterschiedliche Funktionen zuweist. Teils ersetzt er die dem Original inhärenten intertextuellen Referenzen, teils fügt er der Übersetzung neue Verweise hinzu. Unterscheiden lässt sich auch zwischen affirmativem und kritischem Zitieren: Im ersten Fall schreibt sich Braun mit Hilfe der Zitate in eine bestimmte literarischpolitische Traditionslinie ein, etwa wenn er auf Bertolt Brecht rekurriert (Kap. 5.2.3 bzw. 5.2.5). Im zweiten Fall verstehen sich die intertextuellen Allusionen indessen als Gegenentwürfe zum zitierten Original, wie etwa in der Konterkarierung des Liedes der ›Kronstädter Matrosen‹ (Kap. 5.2.3). Neben dem assoziativen Charakter kommt dem Einsatz von Intertexten bei Braun auch eine Funktion der Zensurvermeidung zu, da sie dem Übersetzer die Möglichkeit bietet, in fremden Worten eigene politische Botschaften zu vermitteln. Spielt die Montage von literarischem Bildungsgut für den Schriftsteller Braun von jeher eine dominante Rolle,126 so haben die vorausgegangenen Analysen dargelegt, dass dieses Verfahren auch seine Übersetzungen charakterisiert. Brauns Selbstverständnis als poète traducteur zeigt sich am eindrücklichsten in seinem eigenwilligen Umgang mit literarischen Traditionen, die er beim Schreiben und beim Übersetzen immer wieder gegen den Strich liest. Aber auch unabhängig von intertextuellen Verweisen zeichnen sich Brauns Übersetzungen durch Strategien poetischer Interaktion aus, die zwischen Autonomie und Korrespondenz vermitteln. Dabei stehen neben literarischen, historischen oder genuin poetischen auch autobiographische Bezüge und markieren die Übersetzung – wie die Literatur selbst – als ein Mittel zwischenmenschlicher Interaktion. Bei Braun heißt es dazu: „Poesie setzt eine Beziehung zwischen Schreiber und Leser (Sprecher und Angesprochenem) voraus, die der Text ermöglicht. Jeder Text wird erst begreiflich, wenn er Vorgang zwischen Menschen wird.“ 127 Beansprucht diese Äußerung auch für Brauns Übersetzungspoetik Gültigkeit, so erscheint es nur folgerichtig, dass er sich selbst als „des Verfassers Gefährte“ 128 begreift. 126 Vgl. Grimm (1990), S. 29–45; Heukenkamp (1982), S. 173–188; Visser (1994), S. 151–230. 127 Volker Braun Wie Poesie? In: Ders.: Texte in zeitlicher Folge, Bd. 3. Halle/Leipzig 1990, S. 293–299, hier S. 294. 128 Das Zitat stammt aus einer Widmung von Volker Braun an die Verfasserin der vorliegenden Arbeit. Privatexemplar von Poesiealbum Nr. 114: Alain Lance. Hrsg. von Bernd Jentzsch. Berlin (Ost) 1977.

Zusammenfassung und Ausblick Die Lyrikübersetzungen von Friedhelm Kemp, Paul Celan, Ludwig Harig und Volker Braun repräsentieren eine besonders produktive Phase der französisch-deutschen Literaturvermittlung zwischen den vierziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Mit der vorliegenden Studie wurden erstmals die historischen und poetologischen Prämissen der Übersetzungspraxis von Kemp, Harig und Braun dargestellt und anhand von Beispielanalysen nachgezeichnet. Aus dem bereits intensiv erforschten Werk des bekanntesten und profiliertesten Lyrikübersetzers der Nachkriegszeit, Paul Celan, sind gerade jene Übersetzungen untersucht und partiell neu bewertet worden, die bislang eher selten im Fokus der CelanPhilologie standen. Insgesamt ist deutlich geworden, dass sich in der Lyrikübersetzung nach 1945 ein neues Paradigma herausbildet, für das in der vorgelegten Arbeit im Anschluss an Henri Meschonnic die Bezeichnung „poetische Interaktion“ vorgeschlagen wurde. Gemeint ist damit ein Übersetzungsverständnis, das in der Distanz zwischen Ausgangs- und Zieltext kein Hindernis, sondern vielmehr einen Anreiz zum literarischen Dialog erkennt. Die fraternités poétiques, also die persönlichen Beziehungskonstellationen zwischen französischen Autoren und deutschsprachigen Übersetzern, haben sich dabei als besonders günstige Voraussetzung für diesen auf individuelle Auseinandersetzung zielenden Modus erwiesen. Auf Grundlage der Reflexion historischer Übersetzungsnormen und ihrer epochenspezifischen Implikationen rücken die vier genannten Übersetzer von hierarchisierenden, entweder die Ausgangs- oder die Zielsprache bevorzugenden Idealen wie Einbürgerung und Verfremdung ab. Das bedeutet jedoch keine generelle Ablehnung tradierter Strategien, sondern deren kritische Reflexion und gegebenenfalls deren Neukontextualisierung. Unter anderen Vorzeichen werden sie in eine Übersetzungspraxis überführt, der neben der Vermittlung fremdsprachiger Gedichte an das Lesepublikum eine zweite, poetologisch fundierte Funktion zukommt: die Gestaltung individueller Lesarten der französischen Originaltexte. Gemäß seinem interpretativen Zugriff konturiert der Übersetzer seine zielsprachliche Fassung des Ausgangstexts und macht sie zu einer individuellen Antwort auf das Original, in der seine Stimme als solche präsent bleibt. In ihrer Doppelfunktion von Literaturvermittlung einerseits und individueller Auseinandersetzung mit den ästhetisch-semantischen Spezifika des Origi-

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Zusammenfassung und Ausblick

nals andererseits insistieren Kemp, Celan, Harig und Braun auf dem literarischen Eigenwert der Übersetzung. Das zugrunde liegende dialogische Verständnis verabschiedet das Ideal des Übersetzers als eines unsichtbaren Vermittlers und schärft gleichzeitig den Blick für den produktiven Eigenanteil, wie ihn besonders die poètes traducteurs Celan, Harig und Braun in ihre Übertragungen einbringen. Innerhalb dieser Konstellation kommt FRIEDHELM KEMP als Scharnierfigur zwischen dem Typus des Literaturvermittlers und dem des poète traducteur eine ambivalente Rolle zu. Die Verbindung zwischen Übersetzungstheorie und -praxis ist bei ihm besonders eng, ihr Verhältnis jedoch mitunter inkongruent, da Kemp die Funktionen verschiedener Übersetzungsverfahren in ihren historischen Kontexten zwar stets mitreflektiert, seine Übersetzungen aber ein heterogenes Spektrum an Strategien und Techniken aufweisen, die sich mit seinen theoretischen Positionen nicht immer widerspruchsfrei verknüpfen lassen. Nach poetisierenden Tendenzen in den frühen Übersetzungen setzt sich bei Kemp in den sechziger Jahren eine strenge Bescheidenheitsethik durch. Diese gerät wiederum in Konflikt mit dem eigenen, programmatisch geäußerten Streben nach Anschaulichkeit, das auch zur Konventionalisierung des Ausgangstexts führen kann. In herausgehobenen Einzelfällen versucht Kemp hingegen, seine eigene Stimme im übersetzten Text zu markieren, wobei ihm die Zustimmung des Autors, etwa des befreundeten Lyrikers Yves Bonnefoy, der den Übersetzer zur freien Gestaltung der zielsprachlichen Fassung ermächtigt, unverzichtbar ist. Trotz seiner Vorbehalte gegenüber einem allzu eigenmächtigen Vorgehen des Übersetzers vollzieht Kemp dabei eine Annäherung an einen neuen, von den poètes traducteurs Paul Celan, Ludwig Harig und Volker Braun verkörperten Übersetzertypus, der seine Übersetzungen als individuell nuancierte Antworten auf das Original konzipiert. Das mit diesem Paradigma verknüpfte Selbstverständnis konstituiert sich in Abgrenzung von historisch tradierten Rollenzuschreibungen: Der Übersetzer versteht sich weder als Eroberer noch als Diener des Ausgangstexts, er tritt nicht in direkte Konkurrenz zu ihm, ordnet sich ihm aber auch nicht unter, sondern strebt nach einer Auseinandersetzung ›auf Augenhöhe‹. Unabhängig von einer überindividuellen Norm agiert er als eigenständiger Vermittler des Originaltextes, den er im Deutschen durch die Präsenz seiner Stimme umakzentuiert. Die Übersetzungen von PAUL CELAN aus dem lyrischen Œuvre von René Char und Henri Michaux verstehen sich als integraler Bestandteil seines poetischen Werks, an den er die gleichen Ansprüche von Wahrhaftigkeit und Gegenwartsbezug stellt wie an seine eigenen Gedichte. Im Mittelpunkt seiner Übersetzungspraxis und der begleitenden theoretischen Reflexionen steht die Frage nach der Markierung der „Einmaligkeit“ und

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des „Andersseins“ der Übersetzerstimme.1 Die Beispielanalysen haben gezeigt, mit welch vielfältigen Strategien Celan beim Übertragen zeitgenössischer französischer Autoren agiert, um bestimmte semantische und klangliche Aspekte des Ausgangstexts zu intensivieren und auf diese Weise seine zielsprachliche Fassung als eigene Lesart des Originals zu konturieren. Ob durch Einsatz von Neologismen, durch metrische Umakzentuierung oder etwa durch Transformation von Idiomen – Celan strebt stets danach, sein Übersetzen als ein „zweites Sprechen“2 zu markieren, das von individuellen, aber keinesfalls willkürlichen Eingriffen in das Original bestimmt wird. Für diese Übersetzungspraxis gilt das Prinzip der „Treue durch Veränderung“.3 Charakteristisch ist eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber dem Ausgangstext, die sich auf zweierlei Weise zeigt: in Form von Bedeutungsverschiebungen an herausgehobenen Stellen des Ausgangstexts ebenso wie in der interpretativen Intensivierung subtiler Ausdrucksnuancen des Originals. Das Ergebnis sind zweistimmige Übersetzungen, die einerseits in einem engen Bezug zum Original stehen und andererseits ein eigenes Verständnis des Ausgangstexts poetisch umsetzen. Hinsichtlich der Verfahren der Wörtlichkeit geben die Analysen von Celans Char- und Michaux-Übersetzungen Anlass zu einer partiellen Neubewertung seiner Übersetzungspraxis: Die „wörtliche Umschrift“,4 die laut dominierender Forschungsmeinung das zentrale Charakteristikum von Celans Übersetzungen zeitgenössischer französischer Autoren darstellt, bildet tatsächlich nur eine Strategie innerhalb eines breiten Spektrums übersetzerischer Transformationen, zu denen auch Intensivierungen und Umakzentuierungen zählen. Außerdem muss in Celans Fall der Begriff der Wörtlichkeit von der Implikation der Neutralität entkoppelt werden: Wenn Celan beispielsweise die französische Syntax im Deutschen nachbildet und die eigene Sprache verfremdet oder wenn er metaphorische Wendungen des Originals auf ihre wörtliche Bedeutung zurückführt, so verknüpft sich damit stets ein poetischer Impetus, der in produktiver Weise auf die Spezifika des jeweiligen Originals reagiert. In den überwiegenden Fällen strebt der Modus der Wörtlichkeit bei Celan gerade nicht nach Neutralität, sondern macht dem Leser den Vermittlungsvorgang zwischen den Sprachen als solchen überhaupt erst bewusst. Auch in den Übersetzungsentwürfen, die Celan aus dem lyrischen Werk von Yves Bonnefoy angefertigt hat, erweist sich die Wörtlichkeit als ein Instrument poetischer Gestaltung, das die dem Original inhärenten Irritationsmomente zuspitzt – eine Beobach1 2 3 4

Brief von Celan an Dedecius vom 31. Januar 1960 [Transkription von A. S.]. Vgl. Kap. 3.1. Ebd. Siever (2010), S. 134. Böschenstein bei Olschner (1985), S. 57. Vgl. Kap. 3.2.3.

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tung allerdings, für die die Unabgeschlossenheit der Bonnefoy-Übertragungen mitzubedenken ist. Obwohl Celan seine Übersetzungspoetik nie systematisch formuliert, sondern sie allein im Rahmen privater Korrespondenz und persönlicher Notizen umrissen hat, stellt er, auch in Auseinandersetzung mit der Übersetzungstheorie Walter Benjamins, präzise Kriterien zur Markierung des „Anderssein[s]“ des Übersetzers auf, an denen er seine Übersetzungspraxis ausrichtet. Situiert Celan seine Übersetzungen in „fremde[r] Nähe“5 zu seinem eigenen lyrischen Werk, zu dem sie in vielfältiger Verbindung stehen und dessen poetologische Prämissen sie widerspiegeln, so initiiert er damit eine in ihrer Komplexität einmalige Wechselwirkung zwischen Schreib- und Übersetzungsprozessen. Eine solche Wechselwirkung zwischen dem literarischen und dem übersetzerischen Werk eines poète traducteur findet nach 1945 jedoch nicht nur bei Paul Celan statt, sondern – unter anderen Vorzeichen – auch bei LUDWIG HARIG. Dieser sieht in der Übersetzung ein literarisches Experimentierfeld, auf dem er die sprachartistischen Verfahren von Raymond Queneau adaptiert und eigenständig fortführt. Bieten Queneaus Gedichte für den Lyriker Harig eine Vielzahl von Anregungen, die sowohl sein eigenes thematisches Spektrum als auch sein poetisches Formenrepertoire bereichern, so stellt ihre lautmalerische Vielfalt für den Übersetzer Harig eine besondere Herausforderung dar. Harig erweist sich als Queneaus frère poétique, indem er die Wort-, Klang- und Reimspiele sowie die metrischen Experimente der französischen Originaltexte mit dem Material der deutschen Sprache neu gestaltet. Durch die Verwendung von Neologismen und dialektalen Ausdrücken erweitert er den Wortschatz der Zielsprache analog zu Queneaus Verfahren im Original. Gleichzeitig eignet er sich Queneaus Poetik der Verschmelzung von wissenschaftlicher und poetischer Sprache an, setzt sie in semantischen Verschiebungen und Neuakzentuierungen um und multipliziert die im Ausgangstext angelegten Sinnbezüge. Dabei zielt Harig jedoch nicht auf eine Einbürgerung des Originals, wie dies bei den Belles Infidèles aus der Epoche des Klassizismus der Fall ist. Vielmehr setzt er individuelle Akzente, die die Besonderheiten des Ausgangstexts in dessen Gesamtzusammenhang berücksichtigen. Mit seinen textspezifisch gewählten Strategien insistiert Harig auf der Literarizität seiner Übersetzungen und widerlegt die These von der Unübersetzbarkeit experimenteller Lyrik in immer neuer Weise. VOLKER BRAUN hingegen verleiht der Lyrikübersetzung eine dezidiert politische Dimension. Er führt die gesellschaftspolitischen Debatten, die in Alain Lance’ Gedichten angestoßen werden, mit eigenen literarischen Mit5

FN, S. 389.

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teln fort und potenziert sie auf diese Weise. Indem Braun seine auf Interlinearversionen basierenden Gedichtfassungen in ein spannungsreiches Verhältnis zum Original setzt und dabei die Sprache als kommunikatives Medium zwischen zwei Ländern und ihren Kulturen reflektiert, bürstet er das in der DDR politisch sanktionierte Verfahren der Nachdichtung auf der Grundlage von Wort-für-Wort-Übersetzungen gegen den Strich. Durch den Einsatz von Montagestrategien gestaltet Braun seine Übertragungen als individuelle Antworten auf die Originaltexte und verwendet sie als Instrumente subtiler Gesellschaftskritik. Novalis’ Konzept der zweistimmigen Übersetzung wird bei Braun zu einem polyphonen Sprechen, das politische und literarische Stimmen verschiedener Epochen hörbar werden lässt. Deren Zitation erfüllt unterschiedliche Funktionen: Mal ersetzt sie die intertextuellen Referenzen des Originals und reichert es auf diese Weise durch zusätzliche Bedeutungsdimensionen an; mal gewährt sie dem Übersetzer die nötige Distanz, um seine Kritik an politischen Missständen – in der DDR, in Frankreich oder auch im Iran – mit ›verstellter Stimme‹ zu äußern. Der Einsatz literarischer Intertexte verleiht Brauns Übersetzungen nicht nur die Signatur ihrer Entstehungsbedingungen, er bildet auch eine Schnittstelle zwischen Brauns Schreib- und Übersetzungspraxis. Dieser spezifische Kommunikationsmodus erlaubt es ihm, in eigenen Texten und in Übersetzungen politisch Position zu beziehen und sich innerhalb geistesgeschichtlicher Traditionen zu verorten. Insofern versteht sich die Verfahrensanalogie beim Schreiben und Übersetzen nicht als bloße Parallele, sondern ist Ausdruck von Brauns politisch grundiertem Literatur- und Sprachverständnis. Wie die vorliegende Arbeit gezeigt hat, kennzeichnet den neuen, von Celan, Harig und Braun repräsentierten Übersetzertypus des poète traducteur auch ein dezidiert selbstreflexiver Impetus. Dieser manifestiert sich in ihren Übersetzungen in je unterschiedlicher Weise: Bei Celan fungiert die Übersetzung als Medium von Sprachkritik und Übersetzungspoetik. Der Einsatz einer „›grauere[n]‹ Sprache“6 in den Übersetzungen aus dem Werk des ehemaligen Résistance-Kämpfers René Char ist eng verknüpft mit den seit Ende der fünfziger Jahre formulierten Prämissen seines eigenen Schreibens. Seine Absage an den Wohlklang poetischer Sprache, der ihm auch in Chars Texten begegnet, korrespondiert mit dem Wahrheitsanspruch seiner eigenen Lyrik, die einem Erinnerungsauftrag verpflichtet ist und sich als mahnendes Zeugnis für die Opfer des Nationalsozialismus versteht. Offensichtlich sieht Celan die Übersetzung nicht nur als Medium der Lyrikvermittlung, sondern auch als Ausdruck seiner eigenen Poetologie. Im Modus der „dichterischen Wörtlichkeit“7 reflektiert Celan die 6 7

Celan: Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker (1958), S. 167. Vgl. Kap. 3.1. Celan: Brief an Werner Weber vom 26. März 1960. In: FN, S. 398. Vgl. Kap. 3.2.

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„Abgründe“8 zwischen den Sprachen, die im Übersetzungsvorgang partiell überwunden, zugleich aber als solche sichtbar gemacht werden sollen. In Form von Irritationsmomenten hält Celan die mit der Übersetzung einhergehenden Aporien präsent, sei es durch die Verfremdung des zielsprachlichen Vokabulars bzw. der zielsprachlichen Syntax oder auch durch konsequente Wörtlichkeit wie bei der Übernahme von Fremdwörtern. Die selbstreferentielle Dimension in Harigs Übersetzungen besteht hingegen in einer humoristisch grundierten Metareflexion der (Un-)Übersetzbarkeit von Gedichten, etwa wenn er die Gefahr semantischer Einbußen beim Übertragen von Wortspielen artikuliert und diese gleichzeitig performativ widerlegt, indem er das Original durch die Hinzufügung einer selbstreferentiellen Ebene semantisch erweitert. Mit Hilfe dieser paradox anmutenden Simultaneität von Gewinn und Verlust semantischer Nuancen insistiert Harig auf der prinzipiellen Unabschließbarkeit des Übersetzungsvorgangs, der die eigenen Aporien ins Produktive zu wenden vermag und damit stets über sich hinausweist. Die Übertragungen von Braun reflektieren indes die Bedingungen gesellschaftskritischer Sprach- und Übersetzungsarbeit in der DDR. In der Gestaltung individueller Lesarten von Lance’ Gedichten aktiviert Braun das ideologiekritische Potential seiner poetischen Sprache, indem er verschiedene Möglichkeiten intertextueller Bezugnahme auslotet. Mit Hilfe literarischer Referenzen macht er die Umwege einer von der Zensur bedrohten (literarischen) Kommunikation sichtbar und gewinnt dabei dem Modus des vermittelten Sprechens eine kreative Seite ab. Insgesamt lässt sich als ein zentrales Charakteristikum der Gedichtübersetzung festhalten, dass ihre (tatsächlichen und vermeintlichen) Aporien gleichzeitig ein enormes poetisches Potential darstellen. Wie anhand der Übersetzungspraxis von Friedhelm Kemp, Paul Celan, Ludwig Harig und Volker Braun deutlich geworden ist, erschließen sich dem Lyrikübersetzer gerade dann besonders vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten, wenn er als eigenständiger Vermittler agiert und sich den für die Übersetzung lyrischer Texte virulenten „Zwang zur [...] Freiheit“9 zunutze macht. Die dialogischen Übersetzungsstrategien erweisen sich angesichts der Polysemie lyrischer Texte insofern als produktiv, als sie diese neu nuancieren und in vielen Fällen sogar potenzieren. Nicht nur der Verfasser und der Übersetzer interagieren dabei miteinander, auch die Werke anderer Autoren sind in Form von Zitaten und Allusionen präsent und machen die Übersetzung zu einem mehrstimmigen Text. 8 9

Ebd., S. 397. Vgl. Frank (1986), S. 1. Vgl. Kap. 1.4.

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Ragen Kemp, Celan, Harig und Braun als Übersetzer aus einer insgesamt besonders produktiven Phase der französisch-deutschen Lyrikvermittlung heraus, so stellt sich angesichts dieses intensiven literarischen Austauschs zwischen Frankreich und Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Frage, welche Entwicklung die Lyrikvermittlung zwischen den beiden Ländern in den letzten dreißig Jahren genommen hat.10 Die Perspektive muss dabei einerseits dem Umfang des literarischen Transfers, andererseits der Frage nach dem Wandel des Übersetzungsverständnisses gelten. Auffällig ist zunächst, dass die Anzahl französisch-deutscher Lyrikanthologien seit den achtziger Jahren signifikant zurückgegangen ist:11 Sind zwischen 1941 und 1970 insgesamt siebenunddreißig Textsammlungen mit Übersetzungen französischer Lyrik publiziert worden, so waren es zwischen 1971 und 1995 nur noch sieben.12 Die von Eugen Helmlé herausgegebene Sammlung Résonances. Französische Lyrik seit 196013 als vorerst letzte groß angelegte Übersetzungsanthologie zu zeitgenössischer französischer Lyrik im deutschsprachigen Raum liegt bereits mehr als zwanzig Jahre zurück.14 Aufschlussreich für das von ihr repräsentierte Übersetzungsverständnis ist das Vorwort des Herausgebers, der auch die meisten 10 11

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Zum französisch-deutschen Literaturtransfer nach 1945 siehe u. a.: Nies (1996), Grillo (1999) und Fischer/Nickel (2012). Vgl. die Bibliographie Anthologien mit französischen Dichtungen (2002), Einleitung S. XV. Eine Ausnahme bildet die Sammlung Die Lyrik der Romandie. Eine zweisprachige Anthologie. Ausgewählt und eingeleitet von Philippe Jaccottet. Deutsch von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. München 2008. Im frankophonen Raum hingegen sind in den letzten Jahren mehrere Anthologien mit zeitgenössischer deutschsprachiger Lyrik erschienen, darunter: Sans quiétude aucune. Anthologie de la poésie allemande contemporaine. Présentation et traduction de Barbara Paul avec le concours de Henri-Alexis Baatsch. Paris 2001; Anthologie de la poésie allemande: les années 90. Textes choisis et présentés par Kurt Drawert. Trad. par Michèle Cohen-Halimi, Laurent Cassagnau, Laurence Dahan-Gaida et al. Paris 2001; L’amour aux temps de l’UE. Die Liebe in Zeiten der EU. La nouvelle poésie allemande – Die neue deutsche Lyrik. Choix, préface et traduction de Tom Nisse. Brüssel 2008. Zahlreiche zeitgenössische deutschsprachige Lyriker sind zudem in der 1993 von Jean-Pierre Lefebvre herausgegebenen Anthologie bilingue de la poésie allemande vertreten. Vgl. dazu die Bibliographie Anthologien mit französischen Dichtungen (2002), Einleitung S. X. Résonances. Französische Lyrik seit 1960. Hrsg. von Eugen Helmlé. Mit Übersetzungen von Eugen Helmlé, Felicitas Frischmuth, Ludwig Harig et al. München 1989. Diese Anthologie enthält Gedichte von 27 französischen Lyrikern, darunter Michel Deguy, Bernard Noël, Jacques Roubaud, Georges Perec, Anne-Marie Albiach, Denis Roche und Alain Lance. Der jüngste Autor dieser Sammlung ist der 1952 geborene Jean-Michel Maulpoix. Siehe auch den vierten Band der vierbändig angelegten, zweisprachigen Anthologie Französische Dichtung: Von Apollinaire bis zur Gegenwart (= Französische Dichtung 4). Hrsg. von Bernhard Böschenstein und Hartmut Köhler. München 22001. Der jüngste hier vertretene Lyriker ist der 1934 geborene Roger Kowalski. Somit reicht diese neuere Anthologie weniger weit in die Gegenwart hinein als die von Helmlé herausgegebene Sammlung aus dem Jahr 1989.

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Übersetzungen angefertigt hat. Darin wird deutlich, dass das Übersetzen nicht vorrangig als künstlerischer Transformationsprozess angesehen wird, sondern im Dienste einer breitgefächerten Vermittlung bislang wenig bekannter Autoren steht. So heißt es bei Helmlé: Zur Übersetzung nur soviel: ich habe etwas gegen fertige Rezepte und flinke Urteile, nach denen ein Text, zumal ein poetischer, nur so und nicht anders übersetzt werden kann oder soll. Es gibt keine Schablone, die auf alle Textgebilde passt. Für den einen steht beim Transport von der einen Sprache in die andere die semantische Information im Vordergrund, für den anderen die ästhetische. Ich bin der Ansicht, daß man sich immer nur anhand eines vorliegenden Textes für die eine oder die andere Möglichkeit entscheiden kann. Eindeutige Antworten sind mir ebenso suspekt wie glatte und platte Eindeutschungen, die sich ausschließlich an der ›Lesbarkeit‹ orientieren.15

Helmlé vertritt hier offenkundig einen antinormativen Ansatz der Lyrikübersetzung, schreibt aber übersetzten Gedichten keinen dezidiert literarischen Eigenwert zu. Dementsprechend wird die Frage nach der Markierung der Übersetzerstimme, wie sie von Kemp, Celan, Harig und Braun in je unterschiedlicher Weise reflektiert wurde, hier auch nicht diskutiert. Über Helmlés eigene übersetzungspoetologische Prämissen und Zielsetzungen gibt das Vorwort ebenso wenig Auskunft wie über die der anderen beteiligten Übersetzer. Stattdessen reproduziert Helmlé, der Ende der fünfziger Jahre gemeinsam mit Ludwig Harig die Exercices de style von Raymond Queneau ins Deutsche übertragen hatte, die tradierte Opposition zwischen dem Transfer ›semantischer‹ und ›ästhetischer‹ Information. Geht man jedoch davon aus, dass lyrische Texte gerade von der wechselseitigen Durchdringung inhaltlicher und formal-ästhetischer Elemente gekennzeichnet sind, kann eine Dichotomie in Helmlés Sinn den mit der Lyrikübersetzung einhergehenden Herausforderungen nicht gerecht werden. So schreibt der Schweizer Übersetzer, Lyriker und Publizist Felix Philipp Ingold (*1942): „Dem übersetzenden Dichter geht es [...] um die Rekonstruktion des Originaltexts als eines integralen Beziehungsgefüges, das semantische wie formale Komponenten unauflösbar zusammenschließt.“16 Ingold selbst, der seit 1981 Übersetzungen lyrischer Texte u. a. von Guillaume Apollinaire, Édmond Jabès, Michel Leiris und Francis Ponge17 publiziert, vertritt eine dezidiert dialogische Übersetzungspoetik 15 16 17

Eugen Helmlé: Vorwort. In: Helmlé: Résonances, S. 9–16, hier S. 16. In: Felix Philipp Ingold: Gleiches anders machen. Zum Übersetzen. In: Ders.: Im Namen des Autors. Arbeiten für die Kunst und Literatur. München 2004, S. 217–239, hier S. 236. Guillaume Apollinaire: Du coton dans les oreilles. Watte in den Ohren. Gedichte. Zweisprachig Französisch-Deutsch. Aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold. Deutsche Erstausgabe. Zürich 2009; Édmond Jabès: Désir d’un commencement, angoisse d’une seule fin. Verlangen nach einem Beginn, Entsetzen vor einem einzigen Ende. Französisch und deutsch. Übertragen von Felix Philipp Ingold. Stuttgart 1992; Michel Leiris: Suppe Lehm Antikes im Pelz tickte o

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und grenzt sich damit von Helmlés Position ab. In seinem Essay Üb er’s: Übersetzen (1990),18 der die Grenzen des „poetischen Übersetzens“19 auslotet, begreift Ingold den Übersetzungsvorgang als individuelle Wechselwirkung zwischen Ausgangs- und Zieltext, wenn es heißt: „Ebenso wenig wie das Wort der Wirklichkeit, die es vertritt, entsprechen kann, vermag die Übersetzung dem Original zu entsprechen; sie spricht mit ihm.“20 Ingold betont den produktiven Eigenanteil des Übersetzers, der sich in der zielsprachlichen Fassung manifestiert: „Indem die Übersetzung den übersetzten Text weiterschreibt und ihn auf neue Lesarten hin perspektiviert, gibt sie ihm ein Mehr an Zukunft, gibt sie ihn als das zu erkennen, was er noch nicht ... geworden ... ist“ (Interpunktion original).21 Inwieweit Ingold als einer der profiliertesten Übersetzungspoetologen der Gegenwart sein programmatisch formuliertes Übersetzungsverständnis in die Praxis überführt und dabei an das in der vorliegenden Studie herausgearbeitete Paradigma der poetischen Interaktion anknüpft, wäre ein ebenso vielversprechendes Forschungsfeld wie sein persönlicher Austausch mit den von ihm übersetzten zeitgenössischen Autoren. Neben Ingold befördern weitere Übersetzer wie Joachim Sartorius (*1946)22 oder Rainer G. Schmidt (*1950)23 die französisch-deutsche Lyrikvermittlung; beide sind selbst als Lyriker hervorgetreten.24 Auffallend ist aber, dass breit angelegte Anthologieprojekte weitgehend fehlen und sich die Lyrikübersetzer der jüngeren Generation nur selten französischer Lyrik zuwenden.25 Dieser Befund ist keineswegs mit einem generellen

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Gott Lotte: ein Glossar. Übersetzt von Felix Philipp Ingold. Berlin 1991; Francis Ponge: Gnoske des Vorfrühlings. Übersetzt von Felix Philipp Ingold. St. Gallen 1990. Für sein übersetzerisches Werk wurde Ingold mit dem Petrarca-Übersetzer-Preis (1989) sowie mit dem Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung (2005) ausgezeichnet. Felix Philipp Ingold: Üb er’s: Übersetzen (Der Übersetzer; die Übersetzung). In: Martin Meyer (Hrsg.): Vom Übersetzen. Zehn Essays. München 1990, S. 144–167, hier S. 167. In erweiterter Fassung ist der Essay erschienen unter dem Titel Gleiches anders machen, a. a. O. Ingold: Üb er’s: Übersetzen, S. 167. Ebd., S. 157. Ebd., S. 149 f. Vgl. Lorand Gaspar: Erde aller Erde. Ein Gedicht. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Joachim Sartorius. Zürich 2005. Vgl. u. a. Arthur Rimbaud: Werke I & II. Übersetzt von Rainer G. Schmidt und Hans Therre. München 1979/80; ders.: Illuminations. Illuminationen. Französisch-deutsch. Aus dem Französischen von Rainer G. Schmidt. Basel 2004; Victor Segalen: Stèles. Stelen. Zweisprachige Ausgabe. Hrsg. und aus dem Französischen übersetzt von Rainer G. Schmidt. Graz 2000. Die Lyrikbände von Joachim Sartorius heißen: Sage ich zu wem. Köln 1988; Der Tisch wird kalt. Köln 1992; Keiner gefriert anders. Köln 1996; In den ägyptischen Filmen. Frankfurt am Main 2001; Ich habe die Nacht. Köln 2003; Hôtel des Étrangers. Köln 2008. Von Rainer G. Schmidt ist folgender Lyrikband erschienen: Der Fall Schnee. 111 G. dichte. Hamburg 2000. Als Einzelfälle zu nennen sind der von der Lyrikerin und Autorin Odile Kennel (*1967) übersetzte Gedichtband von Jean Portante: Die Arbeit des Schattens. Esch 2005, sowie der

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Rückgang der ins Deutsche übersetzten Lyrik zu erklären, im Gegenteil: Die Anzahl der deutschsprachigen Lyriker, die auch als Lyrikübersetzer tätig sind, hat sich in den letzten Jahren signifikant erhöht, das Spektrum der Ausgangssprachen hat sich erweitert. Diese Entwicklung, innerhalb derer der angloamerikanische Sprachraum unzweifelhaft einen besonderen Schwerpunkt darstellt,26 schlägt sich jedoch im Bereich französischdeutscher Übersetzungen kaum nieder. Umso dringlicher stellt sich die Frage nach den Gründen für das gegenwärtig rückläufige Interesse am Übersetzen französischer Lyrik. Diese ließen sich nur im Rahmen einer eigenen Studie herausarbeiten, die zunächst die gesellschaftspolitischen und literaturbetrieblichen Koordinaten der aktuellen Übersetzungspraxis zu bestimmen hätte, bevor deren ästhetische Spezifika in den Vordergrund rückten. In diesem Zusammenhang wäre zu fragen, inwiefern die Abnahme der französisch-deutschen Lyrikvermittlung auf eine generelle Abschwächung des kulturellen Dialogs zwischen Frankreich und Deutschland schließen lässt, der nach 1945 von Übersetzern und poètes traducteurs wie Friedhelm Kemp, Paul Celan, Ludwig Harig und Volker Braun neu initiiert und in herausragender Weise gestaltet worden ist. Darüber hinaus bleibt die Frage, ob und in welcher Form die Praxis poetischer Interaktion von Übersetzern der Gegenwart fortgeführt wird, sprachübergreifend von hoher Relevanz.

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von dem Lyriker Andreas Münzner (*1967) übersetzte Band von Hamid Skif: Exile der Frühe. Gedichte französisch-deutsch. Heidelberg 2005. Darüber hinaus werden beim sogenannten VersSchmuggel der Berliner Literaturwerkstatt immer wieder Texte junger französischer Lyriker durch deutschsprachige Dichter auf der Grundlage von Interlinearversionen übertragen, siehe zuletzt: VERSschmuggel/réVERSible. Langzeitwirkung der Gedichte. Zweisprachige Ausgabe französisch-deutsch. Hrsg. von Aurélie Maurin und Thomas Wohlfahrt. Heidelberg 2012. Für den Bereich der nordamerikanischen Lyrik sind die zweisprachig angelegte Lyrikreihe americana im luxbooks-Verlag (Wiesbaden), die Übersetzungen vorwiegend englischsprachiger Lyrik in der Edition Rugerup (Hörby) sowie die Ausgaben englischer und angloamerikanischer Lyrik bei Urs Engeler Editor und im kookbooks-Verlag zu nennen. Im Fokus der amerikanisch-deutschen Lyrikvermittlung stehen sowohl junge Lyriker (vgl. die Anthologie Schwerkraft. Junge amerikanische Lyrik. Hrsg. von Ron Winkler. Salzburg 2007) als auch klassische Autoren wie der 1927 geborene John Ashbery (vgl. John Ashbery: Ein weltgewandtes Land. Gedichte. Zweisprachig. Übersetzt von deutschen Lyrikern. Mit einem Nachwort von Marjorie Perloff. Wiesbaden 2010).

Literaturverzeichnis 0 Siglenverzeichnis 1 Ungedruckte Quellen 1.1 Nachlass Paul Celan DLA 1.2 Vorlass Ludwig Harig DLA und Privatarchiv Ludwig Harig (Sulzbach) 1.3 Privatarchiv Friedhelm Kemp (München) 2 Historische Quellen 3 Primärliteratur und publizistische Quellen 4 Briefe, Briefausgaben und Briefwechsel 5 Forschungsliteratur 6 Lyrikanthologien 7 Weitere Quellen, Hilfsmittel und Wörterbücher

0 Siglenverzeichnis DWB = Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung. Bearbeitet von Hans-Werner Bartz, Thomas Burch, Ruth Christmann [et al.]. Frankfurt am Main 2004. Die Online-Version ist verfügbar unter: http://www.dwb.uni-trier.de FN = Fremde Nähe. Celan als Übersetzer. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Präsidialdepartement der Stadt Zürich im SchillerNationalmuseum Marbach am Neckar und im Stadthaus Zürich. Hrsg. von Axel Gellhaus und Rolf Bücher, Sabria Filiali, Peter Goßens, Ute Harbusch, Thomas Heck, Christine Ivanović, Andreas Lohr, Barbara Wiedemann unter Mitarbeit von Petra Plättner. Marbach am Neckar 1997. GW = Paul Celan: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Frankfurt am Main 2000. KG = Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe. Hrsg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2003. PC/GCL = Celan, Paul/Gisèle Celan-Lestrange. Correspondance (1951–1970). Avec un choix de lettres de Paul Celan à son fils Eric. Bd. 1: Lettres ; Bd. 2: Commentaires et illustrations. Éditée et commentée par Bertrand Badiou avec le concours d’Eric Celan. Paris 2001. PC/RH = Celan, Paul/Rudolf Hirsch: Briefwechsel. Hrsg. von Joachim Seng. Frankfurt am Main 2004.

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1 Ungedruckte Quellen 1.1 Nachlass Paul Celan DLA 1.1.1 Übersetzungen, Briefe und weitere Materialien Celan, Paul: Übersetzungen aus dem Werk von René Char: D 90.1.380-389. Celan, Paul: Briefe an René Char: D 90.1.1.734-735. Celan, Paul: Übertragung von René Chars Gedicht Dernière marche: D 90.1.381. Celan, Paul: Übersetzungen aus dem Werk von Henri Michaux: D 90.1.409-433. Char, René: Briefe an Paul Celan: D 90.1.1295. Dedecius, Karl: Briefe an Paul Celan: D 90.1.1332/1; D 90.1.1332/2. Michaux, Henri: Briefe an Paul Celan: D 90.1.1969. Wilhelm, Jean-Paul: Anmerkungen zu Paul Celans Übersetzung der Feuillets d’Hypnos von René Char: D 90.1.2922/4.

1.1.2 Bibliothek Paul Celan Bonnefoy, Yves: Widmung an Paul Celan und seine Frau Gisèle in Bonnefoys Band Hier régnant désert: „Pour Paul et Gisèle Celan ces quelques poèmes, HIER REGNANT DESERT avec toute l’amitié d’Yves Bonnefoy, 26 novembre 1958“ [Die Widmung befindet sich auf der inneren Titelseite]. Bonnefoy, Yves: Widmung an Paul Celan und seine Frau Gisèle in Bonnefoys Band Du mouvement et de l’immobilité de Douve: „Pour Paul et Geneviève [sic] Celan / leur ami / Yves Bonnefoy.“ Celans Exemplar liegt eine an Paul Celan und seine Frau Gisèle adressierte Einladungskarte: „Yves Bonnefoy / Collège Philosophique / Mardi 25 novembre 1958 / 18h15 / L’acte et le lieu de la poésie / Invitation: 2 personnes / Yves Bonnefoy.“ Celan, Paul: Handschriftliche Notiz in seinem Handexemplar von René Chars Band À une sérénité crispée: „was uns zusammenhielt, die Klammer, war, daß die Bruchstellen so oft und so deutlich zutage traten“. Celan, Paul: Handschriftliche Übersetzungsentwürfe zu den Gedichten Théâtre I (Je te voyais courir, S. 11) und Vrai corps (Close la bouche, S. 45) in seinem Handexemplar von Yves Bonnefoys Band Du mouvement et de l’immobilité de Douve (Paris 1953). Celan, Paul: Handschriftliche Übersetzungsentwürfe zu dem Gedicht Menaces du témoin (S. 11–15) in seinem Handexemplar von Yves Bonnefoys Band Hier régnant désert (Paris 1958). Celan, Paul: Widmung an René Char in dessen Band Poésies/Dichtungen: „A René Char, que j’ai eu l’honneur de traduire, au Poète, en pensant Poésie, à l’homme seul, franchement, fidèlement, chez lui, confiant, Paul Celan 7. X. 63“.

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1.2 Vorlass Ludwig Harig DLA und Privatarchiv Ludwig Harig/Sulzbach Harig, Ludwig: Übersetzungsentwurf zu Raymond Queneaus Gedicht Je crains pas ça tellement. In: Vorlass Ludwig Harig DLA. Queneau, Raymond: Brief an Ludwig Harig vom 27. September 1963. In: Vorlass Ludwig Harig DLA. Queneau, Raymond: Petite cosmogonie portative. Paris 1950. Erstausgabe mit handschriftlichem Vermerk von Ludwig Harig: „November 1956“. In: Privatarchiv Ludwig Harig/Sulzbach.

1.3 Archiv Friedhelm Kemp (DLA: A: Kemp) Bonnefoy, Yves: Widmung an Friedhelm Kemp in dessen Handexemplar der Erstausgabe von Bonnefoys Gedichtband Hier régnant désert (Paris 1958): „Pour Friedhelm Kemp ces poèmes Hier régnant désert avec l’amitié d’Yves Bonnefoy Sarrebruck 25 février 1961“. Kemp, Friedhelm: Tagebuch (1940–1941) mit Übersetzungsentwürfen zu Gedichten von Jules Supervielle. Kemp, Friedhelm: Briefwechsel mit Louis Emié (1941–1967). Kemp, Friedhelm: Autobiographischer Bericht (2007). Kemp, Friedhelm: Fragebogen an Yves Bonnefoy aus dem Jahr 1961 mit Nachfragen zu Bonnefoys Gedichtband Hier régnant désert. Kemp, Friedhelm: Brief an Yves Bonnefoy vom 31. Januar 1961. von Rolshausen, Baronin Maria-Josepha („Mücke“): Briefe an Friedhelm Kemp (1941–1967).

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Rechtenachweis Yves Bonnefoy: Unveröffentlichte Dokumente sowie Widmungen an Paul Celan und an Friedhelm Kemp. In: DLA Marbach © Yves Bonnefoy Gedichte: Théâtre I; Vrai corps (In: Du mouvement et de l’immobilité de Douve. Paris 1953) und Menaces du temoin; La voix de ce qui a détruit; Veneranda (In: Hier régnant désert. Paris 1958) © Le Mercure de France, Paris Für Friedhelm Kemps Übersetzungen der Gedichte von Yves Bonnefoy © Carl Hanser Verlag, München Paul Celan: Unveröffentlichte Texte, Briefe und Übersetzungsentwürfe. In: DLA Marbach und Bibliothek Paul Celan DLA Marbach © Eric Celan (Paris) und Suhrkamp Verlag (Berlin) Übersetzungen aus dem Werk von René Char und Henri Michaux (Paul Celan: Gesammelte Werke in sieben Bänden, Band IV: Übertragungen I). © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1983. Alle Rechte bei und vorbehalten durch den Suhrkamp Verlag Gedicht Argumentum e silentio. In: Paul Celan: Von Schwelle zu Schwelle. Deutsche Verlags-Anstalt 1955. © Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH René Char: Gedicht Dernière marche. In: Le Nu perdu (1964–1970) © Éditions Gallimard, Paris, 1978. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Éditions Gallimard Unveröffentlichte Briefe an Paul Celan. In: DLA Marbach. © Marie-Claude Char Karl Dedecius:

Unveröffentlichte Briefe an Paul Celan. In: DLA Marbach. © Karl Dedecius

Louis Emié:

Unveröffentlichte Briefe an Friedhelm Kemp. In: DLA Marbach: A: Kemp. © Christian Marchaud

Ludwig Harig: Unveröffentlichte Übersetzungen, Texte. In: Vorlass Ludwig Harig DLA Marbach und Privatarchiv/Sulzbach. © Ludwig Harig Friedhelm Kemp: Unveröffentlichte Übersetzungen, Texte, Briefe und Tagebucheinträge. In: DLA Marbach: A: Kemp. © Cornelia Kemp

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Rechtenachweis

Alain Lance: Gedichte: Téhéran soixante-huit; Comme j’en ai traversé; Printemps; Aux amis de l’est; Neutron suprême © Alain Lance, François Boddaert (Éditions Obsidiane) Für Volker Brauns Übersetzungen der Gedichte von Alain Lance © Alain Lance, Volker Braun Henri Michaux: Unveröffentliche Briefe an Paul Celan. In: DLA Marbach. © Micheline Phankim Gedicht Haine (In: Qui je fus) © Éditions Gallimard, Paris, 1927. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Éditions Gallimard. Für die deutsche Übersetzung von Paul Celan (Paul Celan: Gesammelte Werke in sieben Bänden, Band IV). © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1983. Alle Rechte bei und vorbehalten durch den Suhrkamp Verlag. Raymond Queneau: Unveröffentlichter Brief an Ludwig Harig vom 27. September 1963 In: Vorlass Ludwig Harig DLA. © Jean-Marie Queneau Baronin Maria-Josepha von Rolshausen: Unveröffentlichte Briefe an Friedhelm Kemp vom 07.11.1941, 07.12.1941 und 16.10.1942. In: DLA Marbach: A: Kemp. © Marie Antoinette Radmer Jules Supervielle: Gedichte: Lourde (In: Temps de guerre); Des deux côtés des Pyrénées (In: Poèmes de la France malheureuse) In: 1939–1945, Poèmes © Éditions Gallimard, Paris, 1946. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Éditions Gallimard Für die deutschen Übersetzungen von Friedhelm Kemp © Cornelia Kemp Jean-Pierre Wilhelm: Anmerkungen zu Paul Celans Übersetzung von René Chars Feuillets d’Hypnos. In: DLA Marbach. © Erika Wilton

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Abb. 1: Friedhelm Kemp: Kriegstagebuch. Einträge vom 5. bis 7. September 1941. Mit Übersetzungsentwurf zu Jules Supervielles Gedicht Échanges (Tauschen).

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Abb. 2.: Friedhelm Kemp: Vorderseite eines Übersetzungsentwurfs zu Jules Supervielles Gedicht Le matin du monde (Der Morgen der Welt). Auf einem vom 1. September 1941 datierten Schriftstück des Kriegs-Gefangenen-Bezirkskommandos Bordeaux, wo Kemp als Dolmetscher tätig war.

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Abb. 3: Friedhelm Kemp: Rückseite des vom 1. September 1944 datierten Schriftstücks mit Kemps Übersetzungsentwurf zu Supervielles Gedicht: Le matin du monde (Der Morgen der Welt).

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Abb. 4: Friedhelm Kemp: Brief an Louis Emié vom 5. Januar 1942 (Blatt 1, Vorderseite). Auf Blatt 2 findet sich als zweites Datum der 7. Januar.

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Abb. 5: Friedhelm Kemp: Brief an Louis Emié vom 5. und 7. Januar 1942 (Blatt 1, Rückseite).

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Abb. 6: Friedhelm Kemp: Brief an Louis Emié vom 5. und 7. Januar 1942 (Blatt 2, Vorderseite). Am Ende des Briefabschnitts vom 5. Januar fragt Kemp, ob Emié seine deutsche Übersetzung von Pierre Émmanuels Gedicht Tombeau d’Orphée an Émmanuel senden könne, „comme un faible signe de reconnaissance et d’échange à travers les frontières?“.

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Abb. 7: Friedhelm Kemp: Brief an Louis Emié vom 5. und 7. Januar 1942 (Blatt 2, Rückseite).

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Abb. 8: Friedhelm Kemp: Brief an Louis Emié vom 5. und 7. Januar 1942 (Blatt 3, Vorderseite).

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Abb. 9: Friedhelm Kemp: Brief an Louis Emié vom 5. und 7. Januar 1942 (Blatt 3, Rückseite). Kemp nennt hier „Mlle v. R.“ (i. e. Fräulein von Rolshausen), die als Mittlerin den Briefwechsel zwischen Kemp und Emié ermöglicht hat.

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Abb. 10: Friedhelm Kemp: Brief an Louis Emié vom 5. und 7. Januar 1942 (Blatt 4).

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Abb. 11: Paul Celan: Handschriftlicher Übersetzungsentwurf zu Yves Bonnefoys Gedicht Théâtre I (Je te voyais courir...) aus dem Band Du mouvement et de l’immobilité de Douve (1953).

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Abb. 12: Paul Celan: Handschriftlicher Übersetzungsentwurf zu Yves Bonnefoys Gedicht Vrai corps (Close la bouche...) aus dem Band Du mouvement et de l’immobilité de Douve (1953).

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Paul Celan: Brief an Karl Dedecius, 31. Januar 1960 [Transkription A.S.] 78, rue de Longchamp (16e)

Paris, den 31. Jänner 1960

Lieber Herr Dedecius, haben Sie Dank für Ihren Brief. Gerne hätte ich schon heute Ihre Fragen beantwortet; aber Sie wissen ja aus den Zeitungen, welche Fragen an diesem Sonntag in Paris beantwortet sein wollen. (Fragen, die sich, wie ich glaube, keineswegs von den Fragen unterscheiden, denen derjenige begegnet, der dem Gedicht folgt.) Ja, das Übersetzen von Gedichten … Wörtlichkeit im übertragenen Gedicht: Wörtlichkeit des Gedichts. Brücken von Sprache zu Sprache, aber – Brücken über Abgründe. Noch beim allerwörtlichsten Nachsprechen des Vorgegebenen – Ihnen, lieber Herr Dedecius, will es als ein „Aufgehen“ im Sprachmedium des Anderen erscheinen –: es bleibt, faktisch, immer ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen; noch im (scheinbar) restlosen „Aufgehen“ bleibt der „Aufgehende“ mit seiner – auch sprachlichen – Einmaligkeit, mit seinem Anderssein. Nicht daß ich damit irgendeinem „freien“, d. h. unverantwortlichen Übersetzen das Wort reden wollte; im Gegenteil. Handwerk, Sauberkeit des Handwerks, also Textnähe und Texttreue bleiben Bedingung, oder vielmehr: sie sind, wie stets im Gedicht, Vorbedingung. [Nur wer – auch – diese Bedingung erfüllt, darf, um ein Wort Martin Heideggers zu gebrauchen, auf den „Zuspruch der Sprache“ warten.] 1 1

Ein Blick auf das Faksimile der Handschrift verrät eine Besonderheit von Celans Brief: Folgender auf Martin Heidegger bezogener Satz wurde nachträglich eingefügt: „Nur wer – auch – diese Bedingung [i. e. Textnähe und Texttreue, A. S.] erfüllt, darf, um ein Wort Martin Heideggers zu gebrauchen, auf den ›Zuspruch der Sprache‹ warten.“ Celans Formulierung vom „Zuspruch der Sprache“ variiert eine Stelle aus Heideggers Schrift Der Satz vom Grund, die folgendermaßen lautet: „Der Satz vom Grund sagt: Nichts ist ohne Grund. Nunmehr spricht jedes Wort des Satzes auf seine Weise. Im Satz vom Grund spricht der Anspruch des Grundsatzes. Im Satz vom Grund spricht der Zuspruch des Wortes vom Sein. Der Zuspruch bleibt jedoch um vieles älter als der Anspruch.“ In: Martin Heidegger: Vortrag Der Satz vom Grund (= Gesamtausgabe, 1. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976, Bd. 10). Hrsg. von Petra Jaeger. Frankfurt am Main 1997, S. 171–189,

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Anders gesagt: die Interlinearversion bleibt – Walter Benjamin hat das einmal sehr schön formuliert – immer das Ziel; aber zu diesem Ziel gehört eben auch immer … das „Interlineare“ (worunter ich hier, neben den so differenzierten sprachlichen Phänomenen, das Gedicht selbst, d. h. auch den Raum, aus dem und in den hinein gesprochen wird, zu verstehen suche). Ob Sie einmal nach Paris kommen? Vielleicht kann ich Sie im Frühjahr in Frankfurt besuchen – vielleicht, nein: hoffentlich! Alles Gute! Ihr Paul Celan2

2

hier: S. 187. Celans Ausgabe von Heideggers Schrift Der Satz vom Grund ist auf den 10. Mai 1957 datiert; vgl. dazu Bertrand Badiou (Hrsg.): Paul Celan. La bibliothèque philosophique/Die philosophische Bibliothek. Catalogue raisonné des annotations établi par Alexandra Richter, Patrick Alac et Bertrand Badiou. Paris 2004, S. 341). In: Z problemów przekładu i stosunków międzyjęzykowych, Bd. 3 (dt. Zu Problemen der Übersetzung und zu zwischensprachlichen Verhältnissen, Bd. 3). Pod redakcją Marii Piotrowskiej i Tadeusza Szczerbowskiego. Krakau 2006, S. 154 f.

Abbildungsnachweis Abbildung 1: Friedhelm Kemp: Kriegstagebuch. Einträge vom 5. bis 7. September 1941. Mit Übersetzungsentwurf zu Jules Supervielles Gedicht Échanges (Tauschen). In: DLA Marbach: A: Kemp. © Cornelia Kemp Abbildung 2: Friedhelm Kemp: Vorderseite eines Übersetzungsentwurfs zu Jules

Supervielles Gedicht Le matin du monde (Der Morgen der Welt). Auf einem vom 1. September 1941 datierten Schriftstück des Kriegs-Gefangenen-Bezirkskommandos Bordeaux, wo Kemp als Dolmetscher tätig war. In: DLA Marbach: A: Kemp. © Cornelia Kemp Abbildung 3: Friedhelm Kemp: Rückseite des vom 1. September 1941 datierten Schriftstücks mit Kemps Übersetzungsentwurf zu Supervielles Gedicht Le matin du monde (Der Morgen der Welt). In: DLA Marbach: A: Kemp. © Cornelia Kemp Abbildung 4: Friedhelm Kemp: Brief an Louis Emié vom 5. Januar 1942 (Blatt 1, Vorderseite). In: DLA Marbach: A: Kemp. © Cornelia Kemp Abbildung 5: Friedhelm Kemp: Brief an Louis Emié vom 5. und 7. Januar 1942 (Blatt 1, Rückseite). In: DLA Marbach: A: Kemp. © Cornelia Kemp Abbildung 6: Friedhelm Kemp: Brief an Louis Emié vom 5. und 7. Januar 1942 (Blatt 2, Vorderseite). In: DLA Marbach: A: Kemp. © Cornelia Kemp Abbildung 7: Friedhelm Kemp: Brief an Louis Emié vom 5. und 7. Januar 1942 (Blatt 2, Rückseite). In: DLA Marbach: A: Kemp. © Cornelia Kemp Abbildung 8: Friedhelm Kemp: Brief an Louis Emié vom 5. und 7. Januar 1942 (Blatt 3, Vorderseite). In: DLA Marbach: A: Kemp. © Cornelia Kemp Abbildung 9: Friedhelm Kemp: Brief an Louis Emié vom 5. und 7. Januar 1942 (Blatt 3, Rückseite). In: DLA Marbach: A: Kemp. © Cornelia Kemp Abbildung 10: Friedhelm Kemp: Brief an Louis Emié vom 5. und 7. Januar 1942 (Blatt 4). In: DLA Marbach: A: Kemp. © Cornelia Kemp Abbildung 11: Paul Celan: Handschriftlicher Übersetzungsentwurf zu Yves Bonnefoys Gedicht Théâtre I aus dem Band Du mouvement et de l’immobilité de Douve (1953). In: Bibliothek Paul Celan DLA Marbach. © Eric Celan (Paris), Suhrkamp Verlag (Berlin) Abbildung 12: Paul Celan: Handschriftlicher Übersetzungsentwurf zu Yves Bonnefoys Gedicht Vrai corps (Close la bouche) aus dem Band Du mouvement et de l’immobilité de Douve (1953). In: Bibliothek Paul Celan DLA Marbach. © Eric Celan (Paris), Suhrkamp Verlag (Berlin)

Personenregister Ablancourt, Nicolas Perrot d’ 14, 16 ff., 23, 40 Acartürk-Höß, Miriam 3 Aischylos 30, 43, 45 Albrecht, Jörn 78, 200, 298, 305 Alighieri, Dante 50 f. Allemann, Beda 173, 176, 185, 187, 193 Altenhein, Hans 286 Ampère, Jean-Jacques 23 Amthor, Wiebke 1, 229 Amyot, Jacques 14 ff., 19, 23, 40 Anderle, Martin 121 Andersch, Alfred 108, 174, 188, 291 Andrews, Chris 255 Apel, Friedmar 1 f., 10, 23, 25, 31 f., 34, 40, 45, 47 f., 52, 58–62, 81, 126, 157 Apollinaire, Guillaume 73, 92, 174, 267, 290, 295, 333 f. Aragon, Louis 43, 96, 100, 103 f., 112, 114 f., 117, 131 f., 145, 189, 289, 291 f. Ashbery, John 336 Asholt, Wolfgang 298 Bachmann, Ingeborg 81, 179, 227 Badiou, Bertrand 167, 175, 182 Ballard, Michel 13 f., 16 f. Balthasar, Hans Urs von 116, 118 Barbian, Jan-Pieter 82 ff., 91 Barck, Simone 286, 288, 296 f. Bartuschek, Helmut 102, 118 f. Barz, Irmhild 265 Baudelaire, Charles 5, 7 f., 20, 43, 46, 52 ff., 63–66, 80, 83, 88, 95, 100, 110, 124 ff., 129, 135–140, 142, 156, 232, 244, 252, 294 Beese, Henriette 169, 198, 217, 227, 280 Belaval, Yvon 273 Bender, Hans 174, 176 Benjamin, Walter 5 f., 12, 40, 42–67, 79, 123, 168, 170–173, 246, 248, 276, 279, 330 Bense, Max 9, 241, 244–247, 253, 259 f. Berbig, Roland 312 Berendse, Gerrit-Jan 297 Bergens, Andrée 246 f. Berger, Willy R. 63 Berger, Yves 169

Berman, Antoine 14, 16, 25 f., 41, 72, 228 Bevilaqua, Giuseppe 180, 184 Boileau, Nicolas 20, 22 Böll, Heinrich 81, 107 Bollack, Jean 203, 213 Bonnefoy, Claude 285 Bonnefoy, Yves 7–9, 69, 75, 80, 83, 123–129, 140–168, 170, 179, 201, 229–239, 328 ff. Borchardt, Rudolf 5, 12, 40, 42–67, 174 f., 212 Böschenstein, Bernhard 8 f., 120, 168, 174, 192, 198, 209, 213, 215 ff., 219, 222, 228 f., 267, 329, 333 Bougeard-Vetö, Marie-Élisabeth 3, 27 Braun, Volker 1–10, 67, 69, 122, 286–326, 327 f., 330–336 Brecht, Bertolt 294, 313 ff., 323–326 Buber, Martin 43, 46 f., 55 Buck, Theo 175, 192 Buehner, Karl Hans 85 Burdorf, Dieter 43 Burgelin, Henri 244 Burte, Hermann 84 Cary, Édmond 15, 72 Celan, Gisèle 154, 178 f., 203 Celan, Paul 1–10, 66 f., 69, 71, 73, 79, 81, 102, 120, 122, 124, 126, 154 f., 165, 167–239, 293, 295, 327 ff., 336 Cendrars, Blaise 290 Char, René 2, 8 f., 69, 122, 167–170, 174, 177–216, 228, 236–239, 293 f., 327 ff., 331 Charbon, Rémy 298, 302, 324 Chardonne, Jacques 90 ff. Chevalier, Jean-Claude 77 f., 143 Chiellino, Carmine 227 Cicero, Marcus Tullius 13 f., 17, 185, 250 Cocteau, Jean 89, 96, 290 Debon, Claude 252 Dedecius, Karl 9, 167 f., 170–176, 202 f., 226, 237 f., 329 Delille, Jacques 14, 18–23 Delport, Marie-France 77 f., 143 Denton, John 16 Dewitz, Hans-Georg 50 f.

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Personenregister

Dieterle, Bernard 70 Döblin, Alfred 110 Dobzynski, Charles 292 f. Doetsch, Hermann 66 Drawert, Kurt 333 Drews, Jörg 283 Du Bellay, Joachim 12 f., 15, 17, 244 Dufay, François 90 f. Dupouy, Christine 209 Edl, Elisabeth 333 Eisler, Hanns 313 Eluard, Paul 94, 98, 100, 114, 122, 131, 203, 288 f., 294, 314 Emié, Louis 7, 82, 93–106, 109, 123 Émmanuel, Pierre 94, 100, 104 f., 114, 123, 139 Endler, Adolf 295 f. Ėtkind, Efim 20 Febel, Gisela 184, 195 f. Felstiner, John 185 Flaubert, Gustave 78, 89, 95, 278–281, 285 Fleischer, Wolfgang 265 Folkart, Barbara 73 f., 76 Frank, Armin Paul 75, 332 Franke, Hans 83 Frey, Hans-Jost 73 Friedo, Heribert 298 Friedrich, Hugo 69 f., 78, 127 Fühmann, Franz 296, 301 Fülleborn, Ulrich 152, 212 Gamarra, Pierre 290 Gaspar, Lorand 335 Gaulle, Charles de 175 George, Stefan 89, 118, 135–139, 167 Gide, André 96, 106, 108, 286, 290 Goebbels, Joseph 83, 85, 90 f. Goethe, Johann Wolfgang von 24, 29, 105 f., 165, 200, 304–307, 323 Goldscheider, Ludwig 89 Goll, Claire 176, 182, 184 f., 188, 191 Goll, Yvan 176, 186, 236 Graeber, Wilhelm 14, 19 Graf, Daniel 154 Grappin, Jacques 110 ff., 114 Greilsamer, Laurent 180, 189, 204 Greiner, Norbert 6 Grillo, Stefanie 333 Grimm, Reinhold 303, 326 Grosse, Ernst Ulrich 244 Grössel, Hanns 125 Grosser, Alfred 110 Grunwald, Caroline 66 Guinaudeau, Isabelle 244

Güttinger, Fritz 70, 76 Häntzschel, Günter 28 f. Harbusch, Ute 1, 8, 169, 198, 213 Harig, Ludwig 1–10, 66 f., 69, 122, 240–285, 293, 298, 327 f., 330–336 Hartmann, Hans-Jürgen 287–290, 292 Hartung, Rudolf 123, 141 Hausmann, Frank-Rutger 84 f., 90 f., 111, 115, 118, 120 Heidegger, Martin 180 Heller, Gerhard 90, 111 Helmlé, Eugen 240 f., 244 ff., 250, 279, 283 f., 293, 295, 298, 333 f. Herder, Johann Gottfried 21, 25 f., 30 f., 33, 38 Hermann, Friedrich Hans 119 Hermlin, Stephan 4, 122, 288, 291, 301 Heukenkamp, Ursula 326 Hieronymus 250 Hirsch, Alfred 67 Hirsch, Rudolf 171, 178 Hitler, Adolf 85 ff. Hoefert, Franz Konrad 85 ff. Hofmann, Frank 50 Hofmannsthal, Hugo von 42, 58 Hohoff, Curt 188 Hölz, Karl 241, 247, 252, 256, 266, 274 Homer 21, 26, 28 f., 31, 34, 37 f., 53 Hudemann, Rainer 107 Humboldt, Wilhelm von 25, 27, 29 ff., 33, 40, 42, 48 f., 54, 232 Huyssen, Andreas 25, 34, 38 f. Ingold, Felix Philipp 334 f. Ivanović, Christine 1, 236 Jabès, Édmond 334 Jaesrich, Hellmut 109 Jakobson, Roman 71 Jandl, Ernst 272, 294 Jaspers, Karl 113 Josten, Walter 85 Jurt, Joseph 107 f., 111 Kaeslin, Hans 116, 118 Kaiser, Gerhard 184, 186, 189 f., 243 Kauffmann, Kai 44, 49 Keck, Thomas A. 62, 64 f. Kemp, Friedhelm 1–10, 20, 69, 80–166, 170, 230, 232–236, 327 f., 332 ff., 336 Kennel, Odile 335 Kesting, Marianne 180 Kirsch, Rainer 296, 301 Kirsch, Sarah 296 Kittel, Harald 6 Kitzbichler, Josefine 25, 27 f., 38

Personenregister

Klee-Palyi, Flora 104, 122 Klinkert, Thomas 3 Kloepfer, Rolf 75 Klünner, Lothar 122, 169, 181, 195, 214 Koller, Werner 34 Koppenfels, Werner von 73 Korte, Hermann 81 Krapoth, Hermann 62, 65 Kristeva, Julia 72 f. Krolow, Karl 4, 120 ff., 184, 282 Kufer, Astrid 244 Kurella, Alfred 292, 295 f. Kyriakidis, Achilles 250 Labbé, François 110 ff., 115, 287 Laffitte, Jean 288 Lamping, Dieter 70, 76, 78 ff. Lance, Alain 9, 69, 286–326, 330, 332 f. Lanzendörfer-Schmidt, Petra 240 Laschen, Gregor 173 Latzel, Klaus 98 Leeker, Joachim 12 Lefebvre, Jean-Pierre 188, 191, 333 Lefebvre, Mathilde 217 ff., 224 f. Lehmann, Jürgen 74 Leiris, Michel 334 Lenin, Wladimir Iljitsch 287 Lerch, Emil 118 Leuwers, Daniel 159 f. Levý, Jiří 25, 69 Lindner, Burkhardt 67 Lokatis, Siegfried 286, 288, 291 f. Lombez, Christine 1, 20, 23, 69, 77, 79 f., 88, 126 Lönker, Fred 55, 62, 64 Mallarmé, Stéphane 95, 100, 118, 120 Man, Paul de 52 Marchand, Louis 283 Margul-Sperber, Alfred 222, 229 Martin, Nicolas 88 Mattenklott, Gert 45 f. Matz, Wolfgang 42, 55, 94, 333 Maurer, Karl 13, 70, 126, 137, 139 Maurin, Aurélie 336 May, Markus 1, 74 Mayer, Hans 108, 298 Mayer, Helmut 125 Meinert, Joachim 290 f. Melenk, Margot 138 f. Ménage, Gilles 17 Meschonnic, Henri 4, 10, 41, 68 f., 71 ff., 75 f., 80, 327 Méziriac, Claude-Gaspar Bachet de 15 f.

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Michaux, Henri 8 f., 69, 96, 99 f., 122, 167 ff., 198, 201, 215–229, 237 ff., 328 f. Michels, Eckard 83, 90 Mierau, Fritz 297 Miller, Norbert 125 Möckel, Klaus 289–293 Mombert, Monique 107 f. Montaigne, Michel de 15 Mühlestein, Hans 116 ff. Münchberg, Katharina 210 Münzner, Andreas 336 Naughton, John T. 149, 159, 162 Neumann, Markus 60 Nisse, Tom 333 Norton, Glyn P. 15 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 5, 25, 33 f., 37–41, 75, 79, 121, 165, 174, 331 Nowotna, Magdalena 3 Oliveira, Claire de 206 Olschner, Leonard Moore 1, 8, 168 f., 173, 198, 211, 229 f., 237, 329 Ortega y Gasset, José 248 Oster, Patricia 111–114 Osterkamp, Ernst 42 f., 49, 54 Paepcke, Fritz 170, 198, 200 f. Pannwitz, Rudolf 54, 63 f. Payr, Bernhard 90 ff. Pennone, Florence 1, 68, 73, 120, 122, 126, 169, 174, 215, 217 Peter, Stefanie 167 Petrarca, Francesco 18, 335 Petuchowski, Elizabeth 182, 186 Pevear, Richard 153, 155, 165, 231 Pfeil, Ulrich 292 Piontek, Heinz 120 Plassard, Freddie 74 Platon 43 f., 158 ff. Plutarch 14–17, 23 Pöckl, Wolfgang 3, 252, 271 f. Ponge, Francis 122, 335 Portante, Jean 335 Pottier, Bernard 77 Proust, Marcel 278–281, 290 Queneau, Raymond 9, 69, 78, 201, 240–285, 295, 330, 334 Radaelli, Giulia 227 Raddatz, Fritz J. 81 Reichenberger, Kurt 12 Reidemeister, Kurt 118 Reverdy, Pierre 104 Rexroth, Franz von 57, 115, 118 f. Rienäcker, Gerd 313

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Personenregister

Riha, Karl 241 Rilke, Rainer Maria 79, 89, 118, 152, 167, 170, 212 f. Rimbaud, Arthur 57, 73, 92, 95, 114, 118, 120, 179, 252, 294, 335 Risterucci-Roudnicky, Danielle 289 Robinson, Peter 3 Roscher, Achim 103 Rother, Frauke 289, 292, 300 Rühm, Gerhard 273 Sachs, Nelly 185 Saint-John Perse 43, 82, 94, 100, 123, 125 Sanmann, Angela 235, 302 Sapiro, Gisèle 1 Sartorius, Joachim 335 Sauder, Gerhard 283 Sauter, Roger 171 Schlegel, August Wilhelm 3, 25 f., 33–37, 39 f. Schlegel, Friedrich 24, 40, 249 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 26, 31–34, 37, 40, 42, 44, 49, 54, 69 f., 127 f., 143, 227 Schmidt, Rainer G. 335 Schneider, Georg 110, 118, 120 Schreiber, Michael 1, 131, 272, 326 Schröder, Rudolf Alexander 42, 48 f., 120 Schubbe, Elimar 295 Schuster, Gerhard 42, 46 f., 58 Schwarz, H. Stanley 16 Schwerin, Christoph Graf von 122, 169 f., 177 f., 191 f., 215, 236 Segalen, Victor 335 Seidel, Gerhard 323 f. Seng, Joachim 174, 178, 212 Shakespeare, William 33–37, 39 f., 296 Shmueli, Ilana 195 Siever, Holger 41, 75, 80, 201, 206, 329 Skif, Hamid 336 Sorhagen, Irina 280 Speier, Hans-Michael 193 Stackelberg, Jürgen von 12 ff., 16 f., 21 Stanzel, Franz K. 272 Steinbrinker, Günter 123, 141

Steiner, George 227 Sturge, Kate 81, 83 ff. Supervielle, Jules 8, 69, 80, 83, 96, 100, 101 ff., 114 f., 124, 129, 132 ff., 144 ff. Swinburne, Algernon Charles 43, 47, 58–62, 66 Tacitus 14, 17 f., 23, 43 Trouillet, Bernard 244 Trzaskalik, Tim 227 Turk, Horst 173 Umbran, Friedrich 130 Usinger, Fritz 125 Valéry, Paul 73, 119 f., 170, 179 Varnhagen von Ense, Rahel 165 Venuti, Lawrence 72 Vergil 19, 21, 23 Verhaeren, Emile 116 Verlaine, Paul 57, 95, 118, 120, 303–306 Vernier, Richard 160, 234 Veyne, Paul 209 Visser, Anthonya 316, 326 Voellmy, Jean 191 Vollmann, Rolf 125 Voß, Johann Heinrich 21, 25, 27–31, 34, 40, 53, 272 Vossler, Karl 52, 95 Wackenheim, Vincent 110, 112, 114 f. Weber, Carl August 101, 108 f., 131 f. Weber, Werner 175, 202 f., 219, 229, 237, 331 Weiand, Christof 126, 152 Weidner, Stefan 77 Weinmann, Frédéric 3, 78 Weinrich, Harald 180, 195, 217 Werner, Eberhard 53 Wiedemann, Barbara 169 f., 176 f., 179, 182, 184 f., 188, 192, 194, 236 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 30, 44 f., 47 f., 50 Wilhelm, Jean-Pierre 122, 177, 236, 293 Winkler, Ron 336 Wittbrodt, Andreas 79, 126, 156 Wurm, Franz 175 Zima, Peter 73 Zuber, Roger 11, 17