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German Pages 174 [192] Year 1933
C A R L
V E R I N G
PLATONS
STAAT
Der S t a a t der königlichen Weisen Zweite, durchgesehene und verbesserte Auflage
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VERLAG
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ENGLERT
FRANKFURT
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UND AM
SCHLOSSER MAIN
Copyright 1932 by Englert und Schlosser, Frankfurt am Main. Gedruckt bei Englert und Schlosser in Frankfurt am Main
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Vorwort
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Das Leben Piatons .
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Abkürzungen und Verweisungen
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ERSTES BUCH (Einleitung)
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13
D e r Schauplag des Dialoges. (Kap. 1, 2.) — E i n l e i t e n d e Gespräche des Sokrates mit K e p h a l o s u n d P o l e m a r d i o s . (Kap. 3—9.) D i s p u t a t i o n des Sokrates m i t Thrasymachos ü b e r Gerechtigkeit u n d Moral. (Kap. 10—24.)
ZWEITES
BUCH
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26
Die h e r r s c h e n d e Moral. Schilderung der herrschenden Anschauungen durch G l a u k o n u n d Adeimantos. I h r e F r a g e nach d e m Wesen d e r Gerechtigkeit. (Kap. 1—9.) D e r P l a n des "Werkes. (Kap. 10.) Die G r ü n d u n g des idealen Staates. Dessen A n f ä n g e . (Kap. 11—13.) — Die K r i e g e r k a s t e . Die ersten G r u n d säge der E r z i e h u n g zum K r i e g e r . Z e n s u r der mythischen Dichtung. (Kap. 14—18.) — Die Idee der Gottheit. (Kap. 19—21.)
DRITTES BUCH
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40
D i c h t u n g und Musik. Fortsetzung der K r i t i k der Dichtersage; P i a t o n s Urteil ü b e r H o m e r . (Kap. 1—5.) — Die F o r m e n der Dichtkunst, Epos, D r a m a , Lyrik. Das D r a m a als n a c h a h m e n d e K u n s t . Ausschluß der nachahmenden K u n s t aus d e m idealen Staate. (Kap. 6—9.) — Ü b e r Musik. D e r strenge Stil, E i n h e i t von W o r t u n d Ton. (Kap. 10—11.) — K u n s t u n d K u l t u r . Der P l a t o n i s d i e Eros. (Kap. 12.) Von der O r g a n i s a t i o n des idealen Staates. Gymnastik. (Kap. 13.) — H e i l k u n d e u n d Rechtspflege. (Kap. 14—16.) — H a r m o n i e von Musik u n d Gymnastik. (Kap. 16—18.) — Die Auslese der Herrscher. (Kap. 19—20.) — Von der Züchtung einer edlen Rasse. (Kap. 21.) — Die L e b e n s h a l t u n g des Kriegerstandes. (Kap. 22.)
VIERTES
BUCH
Seite
Der gerechte Staat. Vom gesunden Staatswesen. Reichtum u n d A r m u t . D e r U r s p r u n g der Revolutionen. Die ersten Grundsätze einer guten Gesetjgebung. (Kap. 1—4.) — Die S t a a t s t u g e n d e n . Weisheit, T a p f e r k e i t , B e s o n n e n h e i t . Die Gerecht i g k e i t : „ J e d e m das Seine". (Kap. 5—10.)
55
Der g e r e c h t e S t a a t und der g e r e c h t e Mensch. Die Dreigliederung der Stande des Staates und der menschlichen Seele nach Vernunft, Wille, Begehrungsvermögen. (Kap. 11—17.) — Logische Erläuterungen. (Kap. 11—13.) — Die Ungerechtigkeit. Fünf typische Verfassungsformen, eine gute und vier schlechte. (Kap. 18, 19.)
FÜNFTES BUCH
Seite
67
Die F r a u im i d e a l e n S t a a t e . Die Weiber- und Kindergemeinschaft des Kriegerstandes. Die Emanzipation der aristokratischen Frau. (Kap. 1—9.) — Die segensreichen Wirkungen dieses Zustande«. (Kap. 10—13.) — Einige Kriegsgesetje. (Kap. 14—16.) Vom Ideal. Die Realisierung eines Ideals. (Kap. 17.) — Der Staat der königlichen Weisen. (Kap. 18.) — Idee und Erscheinung, Wissen und Meinung. (Kap. 19—22.)
SECHSTES BUCH
Seite
79
Der Philosoph. Die Grundeigenschaften des Philosophen. Der Philosoph als Praktiker. (Kap. 1—3.) — Philosoph und Volk. Die Gefahren der Philosophie. (Kap. 4—10.) — Der Philosoph als Gesetsgeber. (Kap. 11—15.) Die Ideenlehre. Die Idee des Guten. Das Sonnengleichnis. (Kap. 16—19.) — Die Sinnenwelt und die Gedankenwelt. (Kap. 20, 21.)
SIEBENTES BUCH
Seite
94
Die I d e e n l e h r e (Fortsetjung). Das Höhlengleichnis. (Kap. 1—3.) — Die Umwendung vom Realismus zum Idealismus. Versuch einer Deutung der Idee des Guten. (Kap. 4.) Der Staat als Erzieher. Vorbemerkungen. (Kap. 5.) — Die mathematischen Wissenschaften als Grundlagen des höheren Studiums. Arithmetik, Geometrie, Stereometrie, Astronomie, reine Harmonielehre. (Kap. 6, 8—12.) — Erkenntnistheoretische Erläuterungen. (Kap. 7.) — Die Dialektik. Von der Rangordnung der Wissenschaften. Kuck Mick auf die Lehre von der Gedankenwelt. (Kap. 12—15.) — Pädagogische Grundsäße. Die Erziehung zum Herrscher. Eine Übergangsbestimmung. (Kap. 16—18.)
ACHTES
BUCH
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Die K r i t i k der r e a l e n Verfassungsformen. Die realen Verfassungen als Entartungserscheinungen. Die inneren Ursachen der Entartung: Rassenmischung und Geldwirtschaft. Vererbungsgesetje. (Kap. 1—3.) — Das ritterliche Zeitalter der „Timokratie". (Kap. 3—5.) — Der Sieg des Bürgertums, die Oligarchie. (Kap. 6—10.) — Die Demokratie. (Kap. 11—14.) — Der Übergang von der Demokratie zur Tyrannis. (Kap. 15, 16.) — Die Tyrannis. (Kap. 17—19.)
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NEUNTES BUCH .
Der Tyrann. Von ruchlosen Begierden. (Kap. 1.) — Der tyrannische Mensch. (Kap. 2—6.) Vom Lebensglück. Lust und Unlust. Der Primat der Einsicht und des Wissens. Endgültiges Urteil über den Tyrannen. (Kap. 7—13.) — Schlußbemerkung über den idealen Staat. (Kap. 13.)
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ZEHNTES BUCH
W i e d e r a u f n a h m e des Piobleins der nach ahmenden Kunst. Das Wesen der Nachahmung. Nachträge zur Ideenlehre. Handwerker und Maler. Homer und die Tragiker. (Kap. 1—6.) — Das tragische Mitleid. Die Komödie. (Kap. 7.) — Philosophen und Dichter als Rivalen. Einschränkung des Urteils über die dramatische Dichtung. (Kap. 8.) Metaphysische Lehren. Beweis der Unsterblichkeit der Seele. (Kap. 9—11.) — Von der Vergeltung der guten und bösen Taten. (Kap. 12.) — Die Seelenwanderung. Von der Freiheit des Willens. (Kap. 13—16.)
Anhang
Seite 149 Die L y k u r g i s c h e
Verfassung.
Anmerkungen
Seite 161
Namensregister
Seite 173
Vorwort zur ersten Auflage Piatons Politeia, sein Dialog vom Staate, gehört zu den berühmten Meisterwerken der Weltliteratur, die heute außerhalb des Kreises der Fachgelehrten fast unbekannt sind. An Überse^ungen fehlt es zwar nicht; mit Recht schreibt aber Hermann Diels in der Einleitung seiner mustergültigen Ausgabe der Fragmente Heraklits: „Übersehen ist Spiel oder, wenn man will, Spielerei. Einen griechischen Philosophen wie Heraklit oder Piaton zu übertragen ist schon deshalb unmöglich, weil Form und Inhalt des Denkens nur im Original sich völlig decken und die Worte in ihrer Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit nur hier ganz verständlich sind. Den Proteus lóyog (Logos) in irgendeiner anderen Sprache zu fassen, ist ein faustisches Bemühen." Ebenso unmöglich ist es, den kunstvollen Periodenbau, zu dem sich Piatons Rede an vielen Stellen erhebt, ins Deutsche zu übertragen. Diese Perioden beruhen durchaus auf der besonderen Struktur der klassischen Sprachen, sie lassen sich deshalb nicht reproduzieren, nicht einmal nachahmen, ohne die deutsche Sprache in Satjungetüme zu verstricken. Fast überall ist die Kluft, durch die der plastische Stil Piatons von der abstrakten Form unserer modernen Sprache geschieden ist, zu breit, als daß sie durch eine Ubersetjung hinlänglich überbrückt werden könnte. Es ist daher kein Wunder, daß es bisher keiner Verdeutschung Piatons gelingen wollte, sich einzubürgern. Die älteren wortgetreuen Übersetjungen sind fast unlesbar, vielfach überhaupt unverständlich. In ihnen tritt überdies eine Schwierigkeit, die sich aus der Anlage des Werkes ergibt, als besonders störend hervor. Piaton läßt seinen Sokrates den ganzen Hergang des Dialoges, den er mit Piatons Brüdern und einigen anderen Personen führt, selbst erzählen. Jede Rede und Wechselrede muß daher mit den Worten „sagte ich", „sagte er", oder mit einer ähnlichen Wendung eingeführt werden. Dem großen Dramatiker Piaton ist es zwar gelungen, diese Übergänge mit Hilfe der leichtbeschwingten griechischen Sprache zu meistern, in dem spröden Deutsch wirken sie aber auf die Dauer überaus eintönig und ermüdend. Die neueren freien Übertragungen — deren Wert als hervorragender Leistungen deutscher Übersetjungskunst keineswegs bestritten werden soll — können indessen kaum noch als eigentliche Übergebungen bezeichnet werden, sie haben mehr den Charakter einer Paraphrase. Dennoch wollen sie Übersetzungen sein, sie müssen sich deshalb jeder Wendung des Originals anzupassen suchen, auch dort, wo eine wirkliche Übersetjung des Textes gar nicht ausführbar ist. Je vortrefflicher diese Verdeutschungen als solche sind, desto bedenklicher sind sie insofern, als sie eine Übereinstimmung des Nachbildes mit dem Urbild vortäuschen, die in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Es liegt deshalb der Gedanke nahe, noch einen Schritt weiterzugehen: die Form i
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Vorwort
Piatons
Staat
des Werkes gänzlich aufzuopfern, um die Gedankengänge des Dialoges völlig frei wiederzugeben. Dieser Versuch wird in der vorliegenden Arbeit unternommen. Jedoch schließt sich die Darstellung überall genau an den Vortrag Piatons an. Am Rande des Textes sind die Kapitel, deren Inhalt dargestellt wird, fortlaufend angemerkt, damit der Leser, der den Vortrag Piatons selbst nachlesen will, sofort die gewünschte Stelle auffinden kann. Auf diesem Wege ist es möglich, die schon im griechischen Text, geschweige in einer Ubersetjung, oft schwer zugänglichen Gedanken Piatons übersichtlich und faßlich wiederzugeben. Es fällt hier auch manches Beiwerk fort, das nur f ü r den Gelehrten Interesse hat, f ü r das Verständnis des Ganzen aber ohne Belang ist. Schließlich lassen sich die erforderlichen Erläuterungen in eine freie Darstellung zumeist zwanglos einfügen. Freilich konnte auch hier auf den Notbehelf der Anmerkungen leider nicht ganz verzichtet werden. Der Verfasser verkennt am wenigsten, daß durch die Auflösung der dialogischen Form außerordentlich viel verlorengeht, denn bei Piaton ist die Form viel mehr als nur eine den kostbaren Kern umschließende Schale. Trotj aller Bedenken muß aber der Versuch gewagt werden, den Gedankenreichtum des unsterblichen Werkes wirksamer, als es bisher geschah, zu erschließen. D e n n es g i b t in d e r L i t e r a t u r d e s k l a s s i s c h e n A l t e r t u m s k e i n Werk, das für die G e g e n w a r t von g r ö ß e r e r Bedeutung w ä r e a l s d i e P o l i t e i a 1 ) . Ein altes, noch heute weit verbreitetes Vorurteil besagt zwar, daß Piaton in der Politeia das wunderliche Bild eines utopischen Staatswesens entworfen habe, das allenfalls als historische Kuriosität den Kenner zu erfreuen vermöchte, aber f ü r den aufgeklärten Bürger eines modernen Staates ohne Wert sei. Dieses Vorurteil muß zerstört werden. Nicht eine Utopie, ein bloßes Gedankenspiel, tritt uns aus der Politeia entgegen, sondern das f ü r alle Zeiten gültige Urbild des idealen Staates, der V e r k ö r p e r u n g d e r I d e e d e r G e r e c h t i g k e i t . Piaton sagt am Schlüsse des neunten Buches, daß dieser Staat freilich auf Erden nirgends zu finden sein werde, vielleicht aber im Himmel als ein Vorbild aufgestellt sei f ü r jeden, der seine Augen zu ihm erheben wolle. Und wahrlich schuf Piaton in seinem Staatsideal gleichsam einen magischen Spiegel, in welchem das Echte und Unechte, der Wert und der Unwert einer jeden Verfassung greifbar deutlich erscheint. Gar nicht utopisch ist vollends das Gegenstück dieses idealen Staates, das uns Piaton in der Darstellung der realen Verfassungstypen und der Gesetje ihres Werdens und Vergehens vorführt. Man traut zunächst seinen Augen nicht, wenn man in dem mächtigen achten Buche der Politeia die geschichtliche Entwicklung der Verfassungsformen vom Mittelalter bis auf die Gegenwart, ja
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Piatons
Staat
Vorwort
noch über die Gegenwart hinaus, mit deutlichen Linien vorgezeichnet findet. Piaton beschreibt dort, wie sich aus einer ritterlichen Feudalzeit die Herrschaft des Geldes entwickelt, wie diese notwendig, zur schrankenlosen Volksherrschaft führen muß, und wie zulegt aus derem unabwendbaren Zusammenbruche die Tyrannis ihr Haupt erhebt. Diese vier typischen politisch-sozialen Gesellschaftsformen 2 ) stehen als die Realitäten des Lebens der idealen, auf einer hohen geistigen Kultur begründeten Verfassung gegenüber. Die realen Verfassungen sind nach Piatons Urteil sämtlich Entartungen eines ursprünglich reinen Zustandes, und zwar steigern sich diese Entartungserscheinungen von Stufe zu Stufe, bis sie in der Tyrannis ihren höchsten Grad erreichen. Die Demokratie wäre hiernach nicht, wie die Anhänger des Fortschrittsgedankens meinen, der politischen Weisheit l e t j t e r Schluß, nicht die Vollendung einer Entwicklungsreihe, auf welcher die Menschheit zu ihren höchsten Zielen emporsteigt, sondern umgekehrt die vorlegte Stufe eines fortschreitenden Verfalles. Wer hieran zweifelt, wird sich darüber mit Piaton auseinanderzulegen haben. Da« wird ihm nicht ganz leicht fallen, wenn er sich nicht mit Phrasen und Schlagworten begnügen will, denn die Gesege, die Piaton in der Verfassungsgeschichte Griechenlands entdeckte, haben ihre Kraft auch in den unvergleichlich größeren und verwickeiteren Verhältnissen der europäischen Staatengeschichte bewährt 3 ). Nicht das freie Spiel politischer und wirtschaftlicher Kräfte, sondern eine strenge Notwendigkeit bestimmt die Geschicke der Well: das ist eine der Grundlehren, mit denen der große Philosoph dem Denken seiner Zeit weit vorauseilte. Wenn nicht alles trügt, steht unsere Gegenwart mitten in der legten von Piaton beschriebenen Übergangsphase, in welcher sich der Übergang von der Demokratie zur Tyrannis vollzieht. Ohne Zweifel ist die Demokratie als Siegerin aus dem Weltkriege hervorgegangen — um, wie es scheint, nach ihrem höchsten Triumphe dem Untergang entgegenzueilen. Das grauenvolle Bild des tyrannischen Staates im achten und neunten Buche der Politeia steht uns im bolschewistischen Rußland bereits als furchtbare Wirklichkeit vor Augen. Eine mildere Form der Tyrannis in Gestalt einer einstweilen wohltätig wirkenden Diktatur gewahren wir in dem Italien Mussolinis. Audi in Deutschland wird der Ruf nach dem „starken Manne" schwerlich verstummen, solange die gegenwärtigen Zustände andauern. Kein Wunder, denn diese Zustände stimmen mit dem Bilde einer entarteten Demokratie, wie sie Piaton im achten Buche der Politeia schildert (VIII. 11, 14), so genau überein, daß man kaum einen charakteristischen Zug ausfindig machen könnte, um das Bild noch ähnlicher zu gestalten. Was folgt nun auf die Tyrannis? Auf diese Frage gibt uns Piaton keine Antr
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Vorwort
Piatons
Staat
wort, indessen können wir seine Meinung erraten: das Chaos! Hier aber gewährt uns Piaton die erhebende Zuversicht, daß eine Umkehr, eine Wiederannäherung an das Ideal eines gesunden Staates jederzeit möglich ist. Der Wille des Menschen vermag, wenn er stark genug ist und von der rechten Einsicht geleitet wird, auch das scheinbar Unabwendbare zu meistern. Diese Umkehr ist freilich nicht einfach durch die Änderung einer schlechten Verfassung, auch nicht durch die klügsten und durchdachtesten Gesetjesverordnungen zu erreichen, sondern nur auf dem schwierigen, steilen Wege einer v o l l s t ä n d i gen R e g e n e r a t i o n der ganzen K u l t u r des Volkes. „So hätten wir das, was wir als den Verfall des durch seine Handlungen geschichtlich uns bekannt gewordenen Geschlechtes bezeichneten, als die strenge Schule des Leidens anzuerkennen, welche der Wille in seiner Blindheit sich selbst auferlegte, um sehend zu werden, — etwa in dem Sinne der Macht, „die stets das Böse will und stets das Gute schafft'", schreibt Richard Wagner im dritten Kapitel seiner Regenerationslehre, der Schrift „Religion und Kunst". Leider wird dieser aus dem Tiefsten schöpfende Aufsat} heute ebensowenig beachtet wie die Abhandlung des Bayreuther Meisters über „Deutsche Kunst und deutsche Politik", die sich durchaus innerhalb der Platonischen Gedankenbahnen bewegt, oft im interessantesten Widerstreit gegen die künstlerischen Werturteile des hellenischen Philosophen. Eine wahrhaft gute Verfassung, die dem idealen Vorbilde so nahe kommt, wie es die harten Realitäten des Lebens zulassen, kann nur aus dem Boden einer vollendeten sittlichen und künstlerischen Kultur aufwachsen. Das Fundament einer solchen Kultur ist aber eine ihres Namens würdige, die höchsten Ideen in ihrer Reinheit darstellende, das gesamte Denken und Wollen umfassende und beherrschende Philosophie. Das ist der große Grundgedanke des Werkes, durch ihn gestaltet sich das Problem der Staatsverfassung zur Idee einer universalen, den Staat, die Gesellschaft und den einzelnen Menschen bis in alle Tiefen durchdringenden und beseelenden Geisteswelt. Auch dieses Kulturbild soll „utopisch" sein! Nichts weniger als das! Man muß sich darüber klar werden, daß es Piaton gänzlich fernlag, einen Kulturzustand zu schildern, der den Griechen seines Zeitalters allenfalls erreichbar gewesen wäre. Sein Werk war für die Ewigkeit bestimmt, für alle Zeiten sollten seine Kulturlehren gültig bleiben, als reine Ideen zur Erziehung der Menschheit, zur Züchtung einer starken Rasse, zur Bildung edler, harmonischer Persönlichkeiten. Das Wesentliche sind nicht die bunten Farben, mit denen Piaton seinem Gemälde Schönheit und Glanz verlieh, sondern dessen Komposition und Zeichnung, die feinen Linien, durch die er das Wesen einer höchsten Kultur und ihrer Ge-
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Piatons
Staat
Vorwort
setje darzustellen bemüht war. Man lasse sich nidit dadurch täuschen, daß Piaton seinen Sokrates mehrfach behaupten läßt, die Zustände seines Kulturstaates seien auch in ihren Einzelheiten praktisch möglich und erreichbar. Das ist wie so mandier andere Ausspruch Piatons nur cum grano salis zu verstehen, Piaton wußte selbst am besten, daß die Praxis, wie Kant sagt, der Idee immer nur annähernd, asymptotisch, folgen kann, ohne sie jemals zu erreichen, — siehe unten V, 17. Der Künstler Piaton arbeitet hier bewußt auf eine Illusion hin, nicht um den Leser irrezuführen, sondern um den vorgetragenen Lehren Anschaulichkeit und Nachdruck zu verleihen, auf daß sie sich so tief wie möglich der Seele einprägen möchten. Jener Satj bedeutet, daß eine mit den Grundzügen des Idealbildes übereinstimmende Kultur zu schaffen ist, wenn man treu an den Grundsätzen festhält, aus denen Piatons kunstvolle Schöpfung hervorging. Vor allem will Piaton den Leser durch die Einzelheiten zum Mitdenken und zum ferneren Nachsinnen anregen, alsdann mag er von ihnen soviel preisgeben, wie ihm beliebt. Für Piaton gilt dasselbe, was Ludwig Schemann über den Grafen Gobineau schrieb: „Auf alle Fälle ist er einer von den Denkern, welche, wenn sie ihre Kardinalthese aufgestellt, aus sich geboren haben, eine solche Fülle tiefer und geistvoller Belehrung zu deren Deutung und Begründung beizubringen wissen, daß am Ende ihre m a t e r i e l l e R i c h t i g k e i t für den sinnvollen Leser gar nicht einmal ausschließlich in Betracht kommt." (Vorrede I zu Gobineaus „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen".) Wenn es nun die Aufgabe der Gegenwart ist, in dieser Zeit des tiefsten Falles, der je über ein hochstehendes Volk verhängt war, nicht das unwiederbringlich Untergegangene zu restaurieren, sondern aus den Trümmern einer großen Vergangenheit den Wiederaufbau einer neuen deutschen Kultur in Angriff zu nehmen, so dürfen wir an dem Tiefsten, was je über Kultur und Staat geschrieben ward, nicht achtlos vorübergehen. Jeder, der an dem schweren Werk der Erneuerung unseres Volkstums mitarbeiten will, wird aus den unsterblichen Gedanken Piatons nicht nur unschätzbare Einsichten, sondern vor allem auch die Kraft eines reinen, vom Glauben an das Ideale und Ewige beseelten Willens zu gewinnen wissen, gesetzt, daß er sich aus dem Alltäglichen in das Reich des Geistigen, Zeitlosen, der Ideen Piatons, zu erheben vermag. Eine hinlängliche Würdigung der philosophischen Bedeutung der Politeia würde weit über den Rahmen eines Vorwortes hinausgehen. Da nach dem Grundgedanken des Werkes Kultur und Staatsverfassung aus einer universalen Philosophie hervorgehen müssen, so erweiterte sich der philosophische Inhalt des Dialoges zu einer umfassenden Darstellung der ganzen Philosophie Pia-
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Vorwort
Piatons
Staat
tons. Die meisten Probleme der voraufgegangenen kleineren Dialoge werden hier wieder aufgenommen, vertieft und erweitert. Die Politeia ist daher auch in philosophischer Hinsicht das Hauptwerk Piatons. Sie enthält die Summe der Erkenntnisse, die der Philosoph in der Reife seines Mannesalters aufgesammelt und geistig verarbeitet hatte: die Grundzüge seiner Logik, seine Ethik, Ästhetik, Psychologie, seine Metaphysik und vor allem seine Ideenlehre. In dem Gesamtbilde fehlt nur die Naturphilosophie Piatons, diese finden wir erst in dem späteren Timaeos. Bekanntlich wählte Piaton die Lykurgische Verfassung des Spartanischen Staates zum Modell seiner idealen Staatsverfassung, jene ist deshalb für das Verständnis der Absichten Piatons von hohem Wert. Es schien daher zweckmäßig zu sein, die anschauliche Schilderung der Spartanischen Verfassung in Plutarchs Lebensbeschreibung des Lykurgos als Anhang beizugeben. Sie eignet sich besonders gut zur Einführung in die Politeia, weil sich der Vortrag Plutarchs überall eng an die charakteristischen Einzelheiten der Platonischen Staatslehre anlehnt; offenbar ließ sich Plutarch als gründlicher Kenner der klassischen Philosophie in der Anordnung seines Stoffes durch das ihm vorschwebende Bild des Platonischen Staates bestimmen. Dem in der griechischen Geschichte weniger bewanderten Leser empfehle ich, den Anhang vor dem Studium des Werkes durchzugehen. H a m b u r g , i m O k t o b e r 1 9 2 4.
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Der
Verfasser.
Das
L e b e n
P i a t o n s
Von dem Lebenslaufe des großen Philosophen ist uns verhältnismäßig wenig überliefert worden, das Wichtigste, die biographischen Aufzeichnungen seiner Schüler, ist leider verlorengegangen. Piaton scheint im Jahre 427 v. Chr. geboren zu sein. Er stammte aus einer der edelsten Familien Athens. Sein Vater Ariston führte den Stammbaum seines Hauses auf Kodros, den legten König der Athener zurück; nicht minder vornehm war die Familie seiner Mutter Periktione, deren Ahnherr Dropides ein Vetter und intimer Freund Solons gewesen sein soll. Der Knabe wurde nach seinem Großvater Aristokles genannt, den Namen Piaton (nach piatos: die Breite) erhielt er erst später, nach einigen wegen seiner breiten Stirn, nach anderen wegen seiner mächtigen, schönen Gestalt. Piaton genoß eine sorgfältige Erziehung, tüchtige Lehrer unterwiesen ihn in allen Gegenständen der damaligen Bildung, namentlich auch in der Musik. In seinen Jünglingsjahren trat er zunächst als Tragödiendichter an die Öffentlichkeit, jedoch währte die Zeit der Poesie nicht lange, denn bald trat die entscheidende Wendung seines Lebens ein, seine Bekanntschaft mit Sokrates. Unter dem bezwingenden Einfluß dieses dämonischen Mannes erkannte der Jüngling seine eigentliche Sendung, er wandte sich von der Dichtkunst ab und warf seine Verse eigenhändig ins Feuer. Gleichwohl ist er zeitlebens ein großer Dramatiker geblieben, jeder seiner Dialoge bezeugt seine dichterische Meisterschaft. Vielbewundert ist ihre künstlerische Anlage, nicht minder die plastische K r a f t der Darstellung, die sich oft zum tragischen Pathos erhebt, oft wiederum an den erfrischenden Humor einer Shakespeare'schen Lustspielszene heranreicht. An Shakespeare erinnert vor allem auch die vollendete dramatische Charakteristik der Personen der Dialoge. Piaton schildert sie niemals durch eine Beschreibung oder durch irgendein äußeres Hilfsmittel, sondern ausschließlich durch ihre streng individualisierte Redeweise, aus der sie uns als scharf umrissene, lebensvolle und lebenswahre Persönlichkeiten entgegentreten. Ein Dialog Piatons wirkt niemal« ermüdend: wenn der Philosoph durch ein schweres Problem dem Leser hart zugesetjt hat, greift sofort der Dichter ein, um ihn 'durch einen geistreichen Einfall, häufig auch durch ein wißiges Intermezzo aufs neue zu fesseln. Acht J a h r e hatte die philosophische Lehrzeit Piatons gewährt, als sie durch die Hinrichtung des Sokrates im J a h r e 399 ihr jähes Ende fand. Seinem geliebten Meister errichtete Piaton in seinen Dialogen das herrlichste Denkmal, das je einem Manne gesetzt ward, unvergänglicher als Erz. In dem Idealbilde des vollendeten Weltweisen, das Piaton schuf, lebt der große Erzieher Sokrates f ü r alle Zeiten im Gedächtnis der Nachwelt fort. Der Sokrates Piatons verkündet nicht seine eigene, sondern die Platonische Philosophie, als ob
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Das Leben
Piatons
Piatons
Staat
Piaton damit bekennen wollte, daß er alles seinem Lehrmeister verdanke. In diese Lehrjahre fällt das Ende des Peloponnesischen Krieges, der Zusammenbruch des Athenischen Staates. Wie tief diese Ereignisse den Philosophen in seinem Innern erschüttert haben, lehren uns mehrere seiner Werke, vor allem die leidenschaftlichen Angriffe im Gorgias gegen die Staatsmänner, in denen er die Verderber seiner Vaterstadt sah. Was Piaton am tiefsten schmerzte, war nicht der Untergang der politischen Macht Athens, sondern der sittliche Zerfall, der sich während der drei Jahrzehnte des Peloponnesischen Krieges unaufhaltsam vollzogen und in der völligen Entartung der Attischen Demokratie seine politische Auswirkung gefunden hatte. Schaudernd wird Piaton die letjte Phase des großen Krieges miterlebt haben. Noch einmal hatte der letjte große Sieg der Athenischen Flotte bei den Arginusen die Aussicht auf einen ehrenvollen Frieden gebahnt, da wurde auch diese Möglichkeit durch die Niedertracht der Demagogen vereitelt. Sie hetjten das Volk gegen die siegreichen Flottenführer auf und erzwangen unter nichtigen Vorwänden — die Sieger sollten in der Rettung der Schiffbrüchigen lässig gewesen sein — deren Verurteilung zum Tode. Damit war die Niederlage Athens besiegelt, auf die lange Reihe ruhmvoller Siege und zähe überstandener Niederlagen folgte das schmähliche Ende. Das Erlebnis desselben tragischen Schicksals umschließt die Menschen, mögen sie auch durch Raum und Zeit weit voneinander geschieden sein, mit dem festen Bande einer tiefinnerlichen Sympathie. Deshalb wird kein Deutscher die Stellen in Piatons Schriften, in denen sich das Leid des Philosophen über den Sturz seiner Vaterstadt von ihrer stolzen Höhe ergreifend widerspiegelt, ohne tiefe Bewegung zu lesen vermögen; es ist, als ob uns der große Philosoph über die Jahrtausende hinweg seine Hand reichen, uns Trost und Zuversicht spenden wollte. Wir verstehen den tragischen Pessimismus, der die Werke Piatons als Grundton durchzieht, wir erkennen aber auch, daß dieser Pessimismus nicht einem trägen Fatalismus das Wort redet, sondern zu einem wahrhaften Idealismus, zur rettenden Tat a u f r u f t . Mit der Verurteilung des Sokrates durch daa Volksgericht war das Maß der Athenischen Demokratie voll. Piaton wandte sich mit Ekel von seiner Vaterstadt ab und begab sich auf Reisen. Erst nach elf Jahren kehrte er wieder nach Athen zurück. Über den Verlauf dieser Wanderjahre sind wir nur unvollkommen unterrichtet. Man nimmt an, daß Piaton zunächst in Kyrene bei dem Mathematiker Theodoros studierte und sich sodann nach Ägypten begab, um dort, an der Quelle uralter Weisheit, nach neuen Erkenntnissen zu forschen. Daß er in seinen Wanderjahren auch indische Lehren in sich aufgenommen hat, ist sicher 4 ). Mehrere Jahre später finden wir Piaton in Unteritalien wieder,
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Platone
Staat
Das L e b e n
Piatons
wo er sich durch die Pythagoreer Ardiytas und Timaeos in die Geheimnisse der Pythagoreischen Lehre einweihen ließ. Von dort führte ihn sein Unstern an den Hof des älteren Dionysios zu Syrakus. Der Tyrann hatte ihn dringend eingeladen, denn er, der selbst als Tragödiendichter dilettierte, war bestrebt, seinem Hause durch den Glanz berühmter Namen den Anschein eines Musenhofes zu verleihen. Es ist indessen wohl kein größerer Kontrast denkbar, als der Gegensag zwischen dem stolzen, königlichen Philosophen und dem als Staatsmann bedeutenden, als Mensch aber nichtswürdigen Despoten. Kein Wunder daher, daß es bald zu schweren Zerwürfnissen kam. Freilich war Piaton zum Höfling nicht geschaffen. Seine rückhaltlose Offenheit erbitterte den Tyrannen derartig, daß er sich nicht schämte, seinen Gast an den Gesandten Spartas auszuliefern, das damals wieder gegen Athen Krieg führte. Dieser verschleppte ihn nach Aegina, um ihn auf dem dortigen Sklavenmarkt verkaufen zu lassen. Zwischen Aegina und Athen bestand Todfeindschaft, es galt auf Aegina das Gesetj, daß jeder Athener, der den Strand der Insel betrete, dem Tode verfallen sei. Piaton wurde als Athener erkannt und soll der Hinrichtung nur durch die Hohnrede eines Witjboldes entgangen sein: man möge dem Menschen doch das Leben schenken, er sei ja nur ein Philosoph! Einer seiner Freunde aus Kyrene, namens Annikeris, kaufte Piaton los. Inzwischen hatten auch seine athenischen Freunde das Lösegeld — 30 Minen = 2400 Mark — aufgebracht. Da Annikeris die Erstattung des Lösegeldes zurückwies, wurde die Summe zum Ankauf eines Grundstücks in dem anmutigen Kephisostale, nahe bei Athen, verwandt. Auf ihm, unter schattigen Wandelgängen, richtete Piaton seine Akademie ein und übte dort bis zu seinem Tode, 40 Jahre hindurch (387—347), eine großartige Lehrtätigkeit aus. Nicht nur aus Athen, sondern aus allen Teilen der hellenischen Welt versammelten sich zahlreiche Schüler um den hochgefeierten Meister. Es versteht sich, daß Platon allen, die er seiner Unterweisung würdigte, seinen Unterricht unentgeltlich erteilte. Dort verfaßte er auch die meisten und gehaltvollsten seiner Dialoge. Zweimal wurde diese stille Wirksamkeit unterbrochen, denn Piaton kehrte noch zweimal, in den Jahren 367 und 361, nach Syrakus zurück. Im Jahre 367 war Dionysios verstorben. Er hatte nach heißem Bemühen das Ziel seines dramatischen Ehrgeizes erreicht: eine seiner Tragödien war auf dem Theater zu Athen, der ersten Bühne des Erdkreises, mit dem ersten Preise gekrönt worden, nachdem seine voraufgegangenen Versuche ausnahmslos unter dem Hohngelächter des Publikums gescheitert waren. Dieses frohe Ereignis wurde am Hofe so ausgiebig gefeiert, daß das Unmaß der Tafelfreuden den Tyrannen in
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Das
Leben
Piatons
Piatons
Staat
ein tödliches F i e b e r verstrickte. Sein Nachfolger war sein Sohn, der jüngere Dionysios. Mit dessen Oheim u n d Mentor, d e m e d l e n Dion, h a t t e P i a t o n -während seines Besuches in Syrakus einen e n g e n F r e u n d s c h a f t s b u n d geschlossen. Dion b e s t ü r m t e i h n m i t Bitten, nach Syrakus zurückzukehren, wo P i a t o n ihm h e l f e n sollte, seinen haltlos zwischen guten Vorsagen u n d wüsten Ausschweif u n g e n dahinschwankenden Neffen zum Herrscher zu erziehen. Der Jüngling selbst b e k u n d e t e eine glühende Sehnsucht nach der Weisheit des b e r ü h m t e n Philosophen. P i a t o n n a h m die E i n l a d u n g an. Sein A u f e n t h a l t im H a u s e des jungen T y r a n n e n gestaltete sich indessen zu einer Tragikomödie, d e r e n Verlauf uns Plutarch im Leben Dions höchst ergößlich schildert. P i a t o n w u r d e mit königlichen E h r e n e m p f a n g e n , u n d seine s t a r k e Persönlichkeit w i r k t e das Wunder, d a ß sich der liederliche Hof in e i n e gesittete Philosophenschule verwandelte. Der junge T y r a n n gab sich den L e h r e n Piatons völlig hin, u n d auch die Höflinge m u ß t e n sich b e q u e m e n , P h i l o s o p h i e u n d M a t h e m a t i k zu studieren, um nicht h i n t e r dem E i f e r der sich m a s s e n h a f t a n d r ä n g e n d e n Streber zurückzubleiben. Dionysios b e d r ä n g t e den P h i l o s o p h e n mit der Eifersucht eines Verliebten, er soll ihm sogar seine R e g i e r u n g u n d H e r r s c h a f t angeboten haben, wenn er Dions F r e u n d s c h a f t a u f g e b e n u n d ihm allein seine Neigung schenken wollte. I n n e r h a l b einer k u r z e n Zeit ü b e r w a r f er sich viermal mit P i a t o n , worauf er i h n jedesmal wieder u m V e r z e i h u n g u n d Aussöhnung b a t . Begreiflicherweise k o n n t e dieser absonderliche Z u s t a n d nicht von D a u e r sein. Dion wurde gestürzt u n d P i a t o n in höflicher F o r m nach A t h e n b e u r l a u b t , wohin ihm Dion nachfolgte. F ü n f J a h r e darauf w u r d e Dionysios w i e d e r u m von seiner Leidenschaft nach P i a t o n ergriffen. E r s a n d t e auf m e h r e r e n Schiffen eine förmliche Gesandtschaft an den P h i l o s o p h e n ab, u m ihn w i e d e r f ü r sich zu gewinnen. Sein Gesandter überbrachte ihm e i n e n B r i e f , in d e m d e r T y r a n n a u ß e r vielen a n d e r e n Versprechungen gelobte, daß Dion i m F a l l e d e r Rückkehr P i a t o n s zu vollen Gnaden wieder a u f g e n o m m e n w e r d e n sollte, sonst aber u n t e r Verlust seiner Güter auf i m m e r v e r b a n n t w e r d e n w ü r d e . Gleichzeitig bewog Dionysios Piatons F r e u n d , den P y t h a g o r e e r Archytas, d e r zuin leitenden Staatsmann der Stadt T a r e n t aufgestiegen war, die persönliche Bürgschaft f ü r die E r f ü l l u n g der Verh e i ß u n g e n zu ü b e r n e h m e n u n d zu diesem Zweck ebenfalls einen Gesandten nach A t h e n zu schicken. Es ist nicht leicht ersichtlich, was P i a t o n zu d e m Wagnis bestimmt h a b e n mag, sich noch ein d r i t t e s Mal in die H ö h l e des Löwen zu begeben. Die Rücksichten auf seinen F r e u n d Dion u n d auf dessen in Syrakus zurückgebliebene Familie g a b e n o h n e Zweifel d e n Ausschlag. Politischer Ehrgeiz war ihm, d e r sich den politischen H ä n d e l n seiner V a t e r s t a d t zeitlebens
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Das Leben
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fernhielt, wohl f r e m d ; noch weniger konnten ihn persönliche Vorteile reizen, er hat stets die ihm angebotenen Geschenke der beiden Dionyse mit Entschiedenheit zurückgewiesen. Vielleicht aber regte sich auch in ihm der faustische Drang, in einem großen Staatswesen nach seinem Sinne zu wirken. Schweren Herzens trat Piaton die Reise an. Abermals bereitete ihm Dionysios einen glänzenden Empfang, aber schon nach kurzer Zeit verwandelte sich die Liebe des wankelmütigen Tyrannen in bösartigen Haß. Sogar das Leben Piatons geriet in ernstliche Gefahr, «und es b e d u r f t e einer energischen Intervention des Archytas, um ihm die ungefährdete Heimkehr zu erwirken. Diesmal verlief der Abschied grob. Zwar bemühte sich der um sein Ansehen ängstlich besorgte Tyrann nach Kräften, seinen Gast zum Schluß durch festliche Bankette und andere Ehrenbezeugungen wieder auszusöhnen, aber vergeblich. Auf seine letjte gleißneri«che Frage: „Nicht wahr, mein lieber Piaton, in der Akademie wirst du viel Schlimmes von mir erzählen?" soll Piaton geantwortet haben: „Die Götter mögen uns vor einem solchen Mangel an Stoff zu unseren Unterredungen bewahren, daß wir deiner gedenken müßten!" In der Politeia entlud »ich aber der Abscheu Platong gegen die Tyrannis mit Macht. Während er die Demokratie mit überlegener Ironie abfertigt, zeugt in dem Abschnitt über die Tyrannis jede Zeile voll Platons unmittelbarster, tiefster Empörung. F ü r die Datierung der Politeia sind diese Umstände m. E. von entscheidender Bedeutung. Das Werk kann nicht vor der legten sizilischen Reise abgeschlossen worden sein, es ist aus äußeren und inneren Gründen unmöglich anzunehmen, daß Piaton sich noch einmal an einen Tyrannenhof begeben haben sollte, wenn er bereits sein vernichtendes Urteil über die Tyrannis in dieser schärfsten Form niedergelegt hätte 6 ). Nach seiner Rückkehr in die Vaterstadt war dem Philosophen ein ruhiger Lebensabend beschieden, seine segensreiche Tätigkeit in der Akademie dauerte bis zu seinem Ende fort. In seinem 80. Lebensjahre verschied Piaton eines sanften Todes, nach einigen schreibend, nach anderen auf einem frohen Hochzeitsmahle. Seine Akademie hat ihn um mehrere Jahrhunderte überdauert; sie erlosch erst unter der Herrschaft des Christentums, als der Kaiser Justinian die Stiftung Platons aufhob. Verheiratet war Piaton nicht. Seine Werke hat uns ein gütiges Geschick vollständig erhalten, indessen sind von den 36 Schriften, die uns unter dem Namen Platons überliefert worden sind, mehrere unecht. Mit Ausnahme der Apologie de« Sokrates und einiger bedeutender Briefe sind alle Schriften Dialoge.
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Abkürzungen und Verweisungen Kr. r. V. =
Kants Kritik der reinen Vernunft.
Kr. pr. V. =
Kants Kritik der praktischen Vernunft.
G o e t h e wird nach der Weimarer Sophien-Ausgabe zitiert (W. A. = marer Ausgabe), Schopenhauer haus).
Wei-
nach der Frauenstädtschen Gesamtausgabe (F. A. Brock-
Die in diesem Buche zitierten Dialoge Piatons sind im Namensregister aufgeführt. Auf die Zusammenhänge zwischen der Politeiia und Piatons zweiter großer Staatsschrift, die „Geeetje", bin ich erst in meiner Ausgabe dieses zweiten Werkes (erschienen im gleichen Verlage) näher eingegangen.
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lm Piraeus wird ein Fest zu Ehren einer thrakischen Mondgöttin gefeiert, deren Kult in Athen eingeführt worden war. Sokrates hatte «ich mit seinem jungen Freunde Glaukon, einem Bruder Piatons, zu dieser Feier eingefunden, um der neuen Göttin zu huldigen. Auf dem Rückwege werden sie von einer lustigen Gesellschaft, in weldier sich Adeimantos, der zweite Bruder Piatons, befindet, angehalten. Der Anführer der Schar, Polemarchos, lädt sie ein, im Hause seines Vaters Kephalos einzukehren, mit ihnen zu speisen und nach der Abendmahlzeit die sich an das Fest anschließende Nachtfeier anzuschauen, wobei als besondere Neuigkeit ein Fackelrennen zu Pferde veranstaltet werden soll. Im Hause des Kephalos treffen sie den Hausherrn und mehrere andere Gäste an, unter ihnen den Sophisten Thrasymachos aus Chalkedon. Der hochbetagte Kephalos, ein reicher Großkaufmann, ist gerade im Begriff, den Göttern zu opfern. Er unterbricht die Zurüstungen, um Sokrates auf das herzlichste zu begrüßen, er bedauert, daß Sokrates sich so selten in seinem Hause sehen lasse. Da er in seinem hohen Alter auf die meisten Freuden des Lebens verzichten müsse, verlange es ihn besonders nach dem Genuß einer belehrenden Unterhaltung, wie sie Sokrates zu führen verstehe. Sokrates erwidert höflich, daß er den Wert einer Unterredung mit Greisen ganz besonders schätze, denn diese hätten den Lebensweg, der ihnen, den Jüngeren, noch bevorstehe, bereits zurückgelegt und könnten ihnen deshalb Auskunft geben, ob er schwer oder leicht sei. Er bittet den Kephalos, ihn darüber zu belehren. Kephalos erzählt ihm: Die meisten seiner gleichaltrigen Freunde klagten, daß sie den Genüssen ihrer Jugend, vor allem den Freuden der Liebe und der Tafel, entsagen müßten, nach seiner Meinung suchten sie indessen mit Unrecht die Ursache ihres Ungemaches in ihrem Alter. Der greise Dichter Sophokles habe einst auf die Frage, ob er noch für Liebesfreuden empfänglich sei, geantwortet, daß er sich glücklich preise, dem Liebesdrange als einem wilden und grimmigen Gebieter entronnen zu sein. Das sei wahr; insoweit herrsche im Greisenalter Freiheit und Frieden, mit dem Erlöschen der Begierden werde man frei von einem ganzen Schwärm herrischer Despoten. Darum sei das Alter für alle genügsamen und gesitteten Mensdien eine leichte Last, den andern bereite das Alter übrigens nicht mehr Not als die Jugendjahre. Das, meint Sokrates, werde ihm freilich die Mengte schwerlich glauben wollen, sie werde vielmehr annehmen, daß ihn sein großer Reichtum im Alter tröste. Kephalos läßt diesen Einwand nicht gelten. Er erinnert den Sokrates an ein geistreiches Wort des Themistoki es: diesem hatte einst ein Mann aus der kleinen und ärmlichen Insel Seriphös vorgehalten, daß er seinen Rühm
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lediglich der Größe seiner Vaterstadt verdanke, worauf ihn Themistokles mit der Antwort abfertigte: „Weder wäre ich als Seriphier berühmt geworden, noch du als Athener." Ähnlich verhalte es sich mit dem Reichtum. Zwar werde auch ein verständiger Armer unter dem Druck der Not im Alter nicht glücklich sein, dagegen werde sich der unverständige Reiche im Alter ebensowenig glücklich fühlen. Sokrates fragt weiter, ob Kephalos sein Vermögen ererbt oder selbst erworben habe. Da er den Reichtum nicht sehr hoch zu schätzen scheine, sei das erstere zu vermuten, denn die Erfahrung lehre, daß diejenigen, die durch eigene Tätigkeit reich geworden wären, ebensosehr an ihrem Reichtum hingen, als die Dichter an ihren Werken und die Väter an ihren Söhnen. Mit solchen Leuten sei schwer umzugehen, da sie nichts anderes gelten ließen als den Reichtum. Worin bestehe nun der Hauptvorzug des Reichtums? Kephalos setjt ihm auseinander: Wer im Alter sein nahes Ende vor sich sieht, geht in sich, und es beschleichen ihn Furcht und Sorge vor dem Jenseits. Er gedenkt der alten, bis dahin verlachten Mythen vom Hades und fragt sich, ob nicht doch vielleicht etwas Wahres daran sein könnte. Dann beginnt der Mensch zu erwägen, ob er in seinem Leben einem Mitmenschen ein Unrecht zugefügt hat, und findet bei Tag und bei Nacht keine Ruhe, wenn er sich eingestehen muß, daß er viel Böses verübte. Den aber, der sich frei von Vorwürfen fühlt, geleitet die Hoffnung als holde Trösterin auf seinen letjten Lebenswegen. Darum besteht der Vorzug des Reichtums darin, daß er zwar nicht einen jeden, wohl aber den Verständigen der Versuchung enthebt, andere Menschen wider Willen zu betrügen und zu belügen. Der Reiche braucht weder den Göttern Opfer, noch den Menschen Geld schuldig zu bleiben, und so hilft ihm sein Vermögen dazu, daß er ohne Furcht aus dem Leben scheiden darf. Sokrates findet diese Geldmoral sehr schön. Er kann sich indessen nicht versagen, den alten Herrn darauf hinzuweisen, daß das Wesen der Gerechtigkeit nicht wohl darin bestehen könne, geliehenes Gut zurückzuerstatten und überall bei der Wahrheit zu bleiben. Hier kommt Polemarchos seinem von Sokrates bedrängten Vater zu Hilfe, er verteidigt dessen Meinung unter Berufung auf den Dichter Simonides. Kephalos benutjt diese Gelegenheit, um sich zu verabschieden: er müsse sich wieder seinem Opfer zuwenden und die Fortsetjung des Gespräches seinem Sohne überlassen. Mit der Erwähnung der Gerechtigkeit klingt hier zum ersten Male das Hauptmotiv des Dialoges an, das von nun ab den Fortgang beherrscht. Die zunächst folgende erste Untersuchung über das Wesen der Gerechtigkeit dringt
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allerdings noch nicht in die Tiefe. Der Ausspruch des Simonides, auf den sich Polemarchos berufen hatte, lautet, daß es gerecht sei, einem jeden das Schuldige zu geben 8 ). Nach einer kurzen Aussprache mit Sokrates deutet Polemarchos dieses Dichterwort dahin, daß man den Freunden das Schuldige erstatten müsse, insoweit es ihnen nütjlich sei; auch den Feinden müsse man das Schuldige zuteilen, das ihnen gebühre: nämlich das Böse. Ü Also, stellt Sokrates fest, soll die Gerechtigkeit darin bestehen, den / v J Freunden Gutes, den Feinden Böses zu erweisen. Worin besteht nun ihr Nutjen? Polemarchos meint, der Nutjen der Gerechtigkeit trete im geschäftlichen Verkehr, besonders in Sozietätsverhältnissen, hervor. Diese kleinliche Auffassung verspottet Sokrates mit starken Sophismen, deren Gedankengang etwa folgender ist: Wenn man mit einem Gesellschafter f ü r gemeinsame Rechnung ein P f e r d kaufen will, muß dieser ein Pferdekenner sein, ein Gerechter kann in einem solchen Geschäft nichts nütjen. Überall, wo es sich um die zweckmäßige Verwendung von Geldern handelt, kommt es nicht auf Gerechtigkeit, sondern auf Sachkunde an. Der Gerechte taugt nur zur Verwahrung von Geldern, von denen man keinen Gebrauch machen kann. Daher ist die Gerechtigkeit bei dem Gebrauche der Dinge unbrauchbar, brauchbar ist sie nur bei deren Nichtgebrauch. Also ist sie ein unpraktisches Ding. — Und weiter: Wer sich auf den Angriff versteht, wird sich auch auf die Abwehr verstehen, ein guter Feldherr muß auch imstande sein, dem Feinde dessen Anschläge abzustehlen. So wird der Gerechte, der tüchtig ist, fremde Gelder gut zu verwahren, auch ein vortrefflicher Dieb sein, wie Autolykos, der Großvater des Odysseus. Dann wäre also nach Polemarchos, Homer und Simonides die Gerechtigkeit eine Kunst zu stehlen, zum Nutjen der Freunde und zum Schaden der Feinde. In diesen legten Worten tritt das Ziel dieser wunderlichen Auseinandersetjung hervor, Sokrates wiill vor allem die Behauptung widerlegen, daß die Gerechtigkeit gebiete, den Feinden Schaden zuzufügen. Polemarchos weiß nicht, was er zu diesem Ergebnis sagen soll, er bleibt indessen dabei, daß man den Freunden nützen, die Feinde dagegen schädigen müsse. Sokrates weist ihn aber darauf hin, daß man sich in der Beurteilung der Menschen irren könne. Man laufe also, wenn man der Maxime des Polemarchos folge, Gefahr, falschen Freunden zu nütjen, vermeintliche Feinde zu schädigen. Darauf ändert Polemarchos seinen Ausspruch höchst naiv dahin ab: man muß dem Freunde, der nicht nur gut zu sein scheint, sondern auch gut ist, nügen, den Feind, der wirklich böse ist, schädigen. Nun wirft Sokrates die Frage auf, ob es denn überhaupt die Aufgabe eines gerechten Mannes sein kann, irgend einem Menschen einen .Sdiaden zuzu-
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fügen. Er macht dem verwunderten Polemarchos klar: Wer ein Tier mißhandelt, schädigt die Tugend des Tieres, ebenso wird auch die Tugend des Menschen geschädigt, wenn man ihm einen Schaden zufügt. Die Gerechtigkeit ist eine Tugend: kann es also ihre Aufgabe sein, die Tugend zu verderben? Sie ist nicht einmal dazu fähig, ebensowenig wie die Wärme ihr Gegenteil, die Kälte, oder ein Trockenes das Feuchte hervorrufen kann. Wenn daher der Ausspruch, daß man einem jeden das Schuldige erweisen soll, dahin verstanden wird, daß der Gerechte seinem Feinde Schaden zufügen müsse, so ist diese Erklärung falsch, denn es kann niemals als gerecht gelten, jemanden zu schädigen. Diese falsche Meinung, erklärt Sokrates, scheine von irgend einem Tyrannen oder von einem r e i c h e n M a n n e erfunden worden zu sein. Polemarchos läßt sich willig überzeugen, er verspricht, diese Lehre künftig überall zu verfechten. Wenn also, fährt Sokrates fort, nicht das die Gerechtigkeit sei, was Polemarchos angenommen habe, was sei sie denn wohl? A A Hier greift Thrasymachos, der schon lange ungeduldig zugehört / A A hat, mit Ungestüm in das Gespräch ein. Wie ein Raubtier fällt er über Sokrates und Polemarchos her, sodaß beide vor Schreck auseinanderstieben. Was sei das für ein Geschwätj! r u f t er aus, und was gedächten sie mit den schwächlichen Zugeständnissen zu erreichen, die sie einander machten? Wenn Sokrates wirklich wissen wolle, was das Gerechte sei, möge er nicht nur fragen und widerlegen, sondern selbst sagen, was e r denke. Nur möge er ihm nicht damit kommen, die Gerechtigkeit sei das Gehörige oder das Nütjliche, Frommende, Einträgliche, Förderliche, denn auf ein solches Gerede werde er sich nicht einlassen. Um so freundlicher antwortet ihm Sokrates: Es sei nicht böser Wille, wenn sie fehlgegriffen hätten, sie wüßten eben nichts besseres, und darum möge Thrasymachos ihnen nicht zürnen, sondern Mitleid mit ihnen haben 7 ). Mit „sardonischem" Lachen erwidert Thrasymachos: Da habe man die berühmte Ironie des Sokrates, der n u r zu fragen verstehe, und sich wohl hüte, zu antworten. Nach einer höflidien Zwischenrede des Sokrates fährt e r fort: ob e r zeigen solle, was die Gerechtigkeit sei? Aber f ü r diese Belehrung müsse ihn Sokrates bezahlen! Das kann ihm der arme Sokrates zwar nicht versprechen, aber Glaukon erbietet sich im Namen der Anwesenden, f ü r die Bezahlung aufzukommen: Thrasymachos möge also getrost reden. Auch das paßt dem nicht, er meint, alsdann werde Sokrates wieder anfangen, zu fragen und zu widerlegen. — Was bleibe ihm denn auch anderes übrig, entgegnet Sokrates, er wisse ja nichts, und die einzige Erklärung, die er allenfalls geben könnte, habe sich Thrasymachos ausdrücklich verbeten!
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A u f Zureden der anderen gibt Thrasymachos schließlich nach. Zuvor bemerkt er noch einmal höhnisch, das sei nun die Weisheit des Sokrates, der, anstatt zu belehren, umhergehe, um von anderen zu lernen, und nicht einmal dafür danke. Darauf gibt er seine Weisheit zum besten. Das Gerechte ist nach seiner Ansicht nichts anderes als das, w a s d e m Stärkeren f ö r d e r l i c h i s t . Jede Regierung verordnet das, was ihren Interessen Vorschub leistet. Überall gestalten die Herrschenden das Recht so, wie es ihrem Nutjen dienlich ist, und darum gilt in allen Staaten das als gerecht, was den Zwecken der Stärkeren nütjt. Sokrates bemerkt zunächst, d a ß Thrasymachos eine E r k l ä r u n g gebe, die e r ihm verboten habe, denn vorhin habe er doch alles Nütjliche und Förderliche als Erklärungsgrund der Gerechtigkeit zurückgewiesen. Freilich habe Thrasymachos einen kleinen Zusatj hinzugefügt, indem er das dem Stärkeren Förderliche als gerecht bezeichne. Sokrates läßt sich von seinem Gegner die beiden folgenden Sä§e einräumen: E s i s t g e r e c h t , d e n R e g i e r e n d e n z u gehorc h e n ; f e r n e r : D i e R e g i e r e n d e n k ö n n e n i n d e r G e s e tj g e h u n g f e h l g r e i f e n , es ist möglich, daß sie Gesetze erlassen, die nicht ihrem Besten dienen, sondern ihnen schaden. Nach diesen Zugeständnissen ist die Widerlegung leicht: W e n n es die Gerechtigkeit erfordert, d a ß die Untertanen alle Gesetje befolgen, und wenn es Gesetje gibt, die den Regierenden schaden, so k a n n das Gerechte nicht schlechthin das dem Mächtigen Förderliche sein. Die Widerlegung ist so einfach, daß Thrasymachos darauf nichts zu erw i d e r n weiß. Dagegen nimmt Polemarchos die Gelegenheit wahr, sidi f ü r die voraufgegangenen Ungezogenheiten des Thrasymachos zu rächen. E r tritt dem Sokrates eifrig bei, während e i n anderer Zuhörer dem Thrasymachos durch die Deutung zu h e l f e n sucht, e r habe das als gerecht bezeichnen wollen, was der Stärkere f ü r das ihm Förderliche h a l t e . Das will Polemardios nach dem klaren Wortlaut der Erklärung nicht gelten lassen. Sokrates macht diesem Streit dadurch ein Ende, daß er einwilligt, jene Deutung anzunehmen, wenn sich Thrasymachos zu ihr bekennen wolle.
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Stolz weist Thrasymachos diesen Vorschlag zurück. Ob Sokrates etwa glaube, f r a g t er höhnisch, daß er einen Menschen, der fehlgreife, als einen Stärkeren anerkenne? Das, erwidert Sokrates, habe er allerdings so verstanden. — Sokrates sei eben ein Sykophant! fährt Thrasymachos fort. Ob er etwa einen A r z t in Hinsicht darauf A r z t nenne, daß er in der Behandlung eines K r a n k e n f e h l g r e i f e , oder ob er einen Rechenmeister insofern als Rechenmeister bezeichne, als er sich verrechne? F e h l z u g r e i f e n vermöge wohl e i n Arzt oder e i n Rechenmeister, nicht aber d e r A r z t und d e r Rechenmeister.
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Denn nach dem genauen Sinne des Wortes könne der Meister keinen Fehler begehen. Wohl könne einen einzelnen Meister einmal sein Wissen im Stich lassen, dann sei er aber so lange kein Meister. Ebensowenig könne ein Regierender fehlgreifen, insoweit er d e r Regierende sei, und wenn e r nicht fehlen könne, so werde er immer das Rechte und Nützliche treffen, was sodann der Untertan zu befolgen habe. Darum halte er seine Erklärung aufrecht. — Der Gedanke, daß der Gesetygeber nicht fehlen kann, daß ein Gesety, das nicht in Übereinstimmung mit den höheren Gesehen der Vernunft steht, nicht ein schlechtes Gesety, sondern überhaupt kein Gesetj ist, kommt auch im Kratylos, Kap. 38, vor. Ein ernsthafter Gedanke liegt also auch diesen Sophistereien des Thrasymachos zugrunde, und der Humor der Abfertigung, die ihm Sokrates im folgenden zuteil werden läßt, liegt darin, daß der Sophist durch die von ihm unbedachterweise heraufbeschworene I d e e d e s R e g i e r e n d e n zu Falle gebracht werden wird. Hier schaltet Piaton wieder ein mit feinstem Wity durchgeführtes Zwischenspiel ein, das Sokrates mit der treuherzigen Frage beginnt, ob ihn Thrasymachos denn wirklich für einen Sykophanten in der Dialektik halte, und mit der Versicherung schließt, daß er nicht so verwegen sei, einen Löwen zu scheren oder gegen einen Thrasymachos als Sykophant aufzutreten. Dieser ist immer noch recht dreist, er versichert, daß es Sokrates weder durch hinterlistige Kunstgriffe noch durch offene Gewalt gelingen werde, ihn im Redekampf zu besiegen. Darauf schreitet Sokrates zur Widerlegung, einem breit ausgeführten Meisterstück der Dialektik, das den Thrasymachos troty allen Sträubens Schritt f ü r Schritt zu dem Bekenntnis drängt, daß seine These nach seinen eigenen Erklärungen unhaltbar sei. Der Gedankengang der Widerlegung ist folgender: Der Arzt im genauen Sinne des Wortes, gemäß der Auffassung des Thrasymachos, ist kein gelderwerbender Geschäftsmann, sondern ein Diener des Kranken, der Kapitän eines Schiffes ist nicht ein beliebiger Seefahrer, sondern der Gebieter der Matrosen. S o l i e g t d a s W e s e n e i n e r j e d e n K u n s t i n i h r e m Z w e c k , und dieser ist der besondere, spezifische Nutyen, den nur sie allein schaffen kann. Darum hat jede Kunst ihr eigenes Gebiet, in das sich keine andere Kunst einmischen darf. Insofern ist jede Kunst selbständig und in sich vollendet, solange sie im strengen Sinne ganz das ist, was sie sein soll. Jede Kunst ist also eine Herrscherin in ihrem Bereich, und ihre Herrschaft besteht darin, das Nußbringende zu wirken, und zwar nicht das, was ihr selbst nützlich ist, sondern das, was den von ihr Beherrschten Nutyen gewährt. Sie dient daher nicht den Interessen des Starken, der sie ausübt, sondern denen der Schwachen, über die sich ihre Herrschaft erstreckt. Wie
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der Arzt nicht ein Geschäftsmann ist, der zu seinem Nutjen arbeitet, sondern das Wohl seiner Kranken zu pflegen hat, so besteht überhaupt die Meisterschaft eines jeden Meisters im s t r e n g e n S i n n e , auch die des Gebieters eines Staates, nicht darin, nach seinem Nutjen zu handeln, sondern nach dem seiner Untertanen, denen alles gilt, was er in Reden und Taten wirkt. Voller Zorn über diese neue Niederlage ergeht sich Thrasymachos in ^ weiteren Ungezogenheiten. Er fragt Sokrates, ob er nicht eine Amme hätte, die ihm den Rotj von der Nase wischen und ihn darüber belehren könnte, welches der Unterschied zwischen Hirt und Herde sei? Sokrates wähne offenbar, daß der Hirt seine Herde im Interesse des Wohlergehens seiner Tiere pflege und nicht um seines eigenen Vorteils willen. Der wahre Herrscher betrachte aber die Untertanen lediglich als seine Herde, aus der er den größtmöglichen Vorteil zu ziehen bestrebt sei. In einer langen, stilistisch meisterhaft durchgeführten Rede entwickelt Thrasymachos seine Ansichten über die Gerechtigkeit, in vollkommener Übereinstimmung mit der Moral, die Kallikles im Gorgias, Kap. 38, 39, 46, vorträgt. Es ist die Herren- und Sklavenmoral im Sinne Nietjsches. Thrasymachos führt aus: Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sind für den Mächtigen, Herrschenden und für den Schwachen, Gehorchenden ganz verschiedene Werte, was jenem Nutjen schafft, bringt diesem Schaden. Die Ungerechtigkeit herrscht über die Einfältigen und Gerechten, die Untertanen müssen tun, was dem Mächtigen frommt, weil dieser der Stärkere ist. Der Ungerechte ist dem Gerechten überall überlegen. Wenn ein Gerechter mit einem Ungerechten eine Gesellschaft eingeht, wird dieser nach deren Auflösung immer mehr gewonnen haben als jener. Wenn dem Staate Steuern zu zahlen sind, wird der Gerechte immer mehr bezahlen als 'der Ungerechte; wenn es dagegen gilt, Gelder aus der Staatskasse zu empfangen, wird der Ungerechte seinen Vorteil wahrnehmen, der Gerechte leer ausgehen. Wenn der Gerechte ein Staatsamt bekleidet, wird er Schaden davon haben, auch wenn der Schaden nur darin bestehen sollte, daß er sich bei seinen Verwandten und Freunden verhaßt macht, weil er ihnen nicht seine Protektion gewährt. Die Überlegenheit des Ungerechten tritt am deutlichsten in dem vollendetsten Unrecht hervor, das den, der es verübt, zum glücklichsten Menschen macht, diejenigen aber, die es erleiden und nicht daran teilnehmen wollen, ins tiefste Elend stürzt. Diese Macht ist die Tyrannis, die nicht im kleinen stiehlt und raubt, sondern auf das Ganze geht. Die kleinen Diebe werden als Einbrecher, Tempelräuber und dergleichen zu schmählicher Strafe verurteilt, der Tyrann dagegen, der den Bürgern nicht nur ihr Hab und Gut, sondern dazu noch ihre Freiheit nimmt, wird selbst von den Geknechteten glücklich gepriesen. Denn nicht das Verüben 2*
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des Unrechts meint man, wenn man die Ungerechtigkeit schmäht, sondern dessen Erdulden. Darum ist die Ungerechtigkeit stärker, freier und gewaltiger als die Gerechtigkeit, wenn sie nur im ausreichenden Maße verübt wird! Nach diesen Bekenntnissen, mit denen er seine Zuhörer wie mit einem Sturzbad überschüttet, erhebt sich Thrasymachos, um fortzugehen. Indessen wird seine Absicht, pich der Kritik des Sokrates zu entziehen, durch die Zuhörer vereitelt, die ihn nötigen, zu bleiben und Rede zu stehen. Audi Sokrates stellt ihm — natürlich ironisch — mit beweglichen Worten vor, wie unrecht es wäre, wenn er fortgehen wollte, bevor seine Zuhörer die vorgetragene Lehre begriffen hätten, die ja nichts Geringeres verheiße als die höchste Lebensweisheit. Sokrates beginnt seine Kritik mit der Erklärung, er sei, wie wohl auch viele andere, nicht davon überzeugt, daß die Ungerechtigkeit einträglicher als die Gerechtigkeit sein könnte. Er weist darauf hin, daß Thrasymachos das, was er in Hinsicht auf den Arzt im strengen Sinne anerkannt habe, bei dem Hirten nicht mehr gelten lassen wolle. Nach ihm sei der Hirt entweder ein Schlemmer, der seine Herde um der erhofften guten Braten willen pflege, oder ein Geschäftsmann, der seine Tiere möglichst teuer zu verkaufen wünsche. Das stimme aber nicht mit der Feststellung überein, daß das Ziel einer jeden Kunst kein anderes sei als ihre eigene Vollendung. Nicht derjenige, der die besten Geschäfte mache, sei der beste Hirt, sondern der, der sich auf die Zucht und Wartung der Herde am besten verstehe. Deshalb dürfe keine Kunst, insoweit sie reine Kunst sei, auf etwas anderes bedacht sein, als auf die sorgsame Pflege der ihr anvertrauten Güter. Das müsse für alle Künste gelten, auch für die Kunst der Regierung eines Staates. Unvermittelt fragt Sokrates darauf weiter, ohne seinem Gegner Zeit zu einer Erwiderung zu lassen, ob Thrasymachos annehme, daß die Regierenden eines Staates ihr Amt aus freien Stücken (exövreg, hier mit dem Nebensinn „ohne Entgelt") versähen? Thrasymachos bejaht die Frage sehr zuversichtlich. Sokrates setjt ihm indessen auseinander, daß dies nicht der Fall «ei. Er führt aus: Wer ein Amt versieht, verlangt dafür seinen Lohn, und zwar deshalb, weil die Amtsführung nicht ihm, sondern denen Vorteil bringt, in deren Interesse sie wahrgenommen wird. Jede Kunst hat ihre eigene, besondere Funktion (dvva/j.ts) und damit ihren eigenen, besonderen Nutjen, den nur sie gewährt; von einem Nutjen, der mehreren Künsten als deren gemeinschaftliche Funktion zuzuschreiben wäre, kann nicht die Rede sein. Auch der Gelderwerb ist eine Kunst, die ihre eigene Funktion hat, und nicht mit anderen Künsten, mit denen sie etwa in Verbindung tritt, verwechselt werden darf. Wenn jemand durch die Ausübung der Heilkunst Geld verdient, so ist darum die Heil-
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kund« als solche keine Erwerbskunst, ebensowenig wie die Erwerbskunst als eine Heilkunde angesehen werden darf, wenn der, der sie betreibt, dadurch recht gesund wird. Wenn alle Handwerker Geld verdienen, so ist das nidit etwa eine gemeinschaftliche Funktion der einzelnen Handwerke, vielmehr beruht dies darauf, daß die Handwerker außer ihren Handwerkskünsten überdies noch die Kunst des Gelderwerbes betreiben. An und für sich ist es sehr wohl möglich, daß ein Handwerk keinen Nutjen abwirft, wenn etwa der es Ausübende keinen Gewinn haben will. Die Kunst als solche nütjt also d e m K ü n s t l e r nicht. Aus diesen Gründen beanspruchen diejenigen, die die Staatskunst ausüben, ihren Lohn, denn ganz umsonst würde sich niemand damit befassen, fremden Übeln abzuhelfen. Der Lohn, der ihnen zuteil wird, besteht entweder in Geld oder in Ehre oder umgekehrt in Nachteilen (^ij/uia), wenn sie nicht regieren wollen. Thrasymachos schweigt, nachdem er die sämtlichen voraufgegangenen Säge notgedrungen einräumen mußte. Dagegen bittet Glaukon um eine Erklärung der legten, etwas paradox klingenden Wendung. Sokrates erwidert, Glaukon wisse wohl nicht, welche Bewandtnis es mit dem Lohn der Besten und Tüchtigsten habe? Darüber belehrt er ihn folgendermaßen: Gewinnsucht und Ehrgeiz sind häßlich, darum wollen die Guten weder um Geld noch um Ehre herrschen. Lohnempfänger wollen sie nicht heißen, und der Ehrgeiz liegt ihnen fern. Deshalb bedarf es eines Zwanges und eines drohenden Schadens, um sie zur Übernahme der Regierung zu nötigen, denn ganz aus freiem Antrieb, ohne Not die Herrschaft anzutreten, gilt ihnen ebenfalle al« unschön. Nun ist der größte Schaden, den sie voraussehen, der, daß die Herrschaft, falls sie sich ihr entziehen, alsdann schlechteren Männern zufallen würde. Wenn der Staat nur aus ¡guten Bürgern bestände, würde kein Streit um die Herrschaft entstehen; vielmehr würden alle miteinander wetteifern, nicht zum Regieren bestellt zu werden, denn jeder würde es viel bequemer finden, sich von anderen behüten zu lassen, als selbst für andere zu sorgen. Da würde es deutlich hervortreten, daß der wahre Herrscher nicht auf seinen Nutjen, sondern auf den der Beherrschten bedacht zu sein hat. Mithin, erklärt Sokrates, räume er dem Thrasymachos nicht ein, daß das Gerechte das dem Stärkeren Nützliche sei. Das möge indessen später einmal untersucht werden. Einstweilen scheine ihm die Behauptung wichtiger zu sein, daß das Leben des Ungerechten vorzüglicher sei als das des Gerechten. Ob etwa Glaukon das Leben des Ungerechten vorziehen würde? Das weist Glaukon weit von sich. Welcher Weg, fragt Sokrates weiter, solle nun eingeschlagen werden, um Thrasymachos zu überzeugen? Wenn sie seinen Gründen andere 21
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Gründe gegenüberstellen wollten, die er wiederum durch neue Gründe bekämpfen dürfte, so würden sie schwerlich zum Ziel gelangen, zum mindesten würde es dann eines Schiedsrichters zur Entscheidung des Streites bedürfen. Wenn sie dagegen von zugestandenen Voraussetzungen ausgingen, so würden sie ihre eigenen Anwälte und Richter sein. Diese Methode — von der Sokrates im Gorgias (Kap. 27) sagt, daß er im Meinungsstreit immer nur e i n Urteil gelten lasse: das Zeugnis dessen, mit dem er die Unterredung führe — gefällt auch dem Glaukon besser. Die Verständigung mit dem Thrasymachos, dem sich Sokrates hierauf wieder zuwendet, ist aber nicht so leicht, denn ihre Anschauungen über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit stehen einander unüberbrückbar gegenüber. Vergeblich sucht Sokrates durch eine lange Reihe von Fragen irgend ein Zugeständnis zu erhaschen, auf das er seinen Gegenbeweis aufbauen könnte, der schlaue Sophist versteht es mit großem Geschick, sich hinter Sägen zu verschanzen, denen Sokrates auf seine Weise, durch Überführung seines Gegners aus zugestandenen Prämissen, nicht beikommen kann. Die Grundsäße, zu denen sich Thrasymachos auf die Fragen des Sokrates bekennt, sind folgende: Das vollendete Unrecht ist einträglicher als die Gerechtigkeit, jenes ist daher Tugend, diese Untugend, oder vielmehr, fügt Thrasymachos abschwächend hinzu, die Gerechtigkeit ist eine höchst edle Einfalt, die Ungerechtigkeit ist Wohlberatenheit. Die vollendet Ungerechten sind auch einsichtsvoll und gut, es sind dies die großen Eroberer, die sich Staaten und Völker unterwerfen. Hast du etwa gemeint, fragt Thrasymachos höhnisch, daß ich von Beutelschneidern rede? Auch diese entwickeln zwar eine nutzbringende Tätigkeit, gesetjt, daß sie sich nicht erwischen lassen, aber es ist nicht der Mühe wert, davon zu sprechen. Für mich kommen nur die Großen in Betracht. Thrasymachos schreckt auch vor den legten Konsequenzen, die Sokrates ihm vorhält, nicht zurück: die Ungerechtigkeit der Tugend und Weisheit an die Seite zu stellen und die Gerechtigkeit deren Gegensägen zuzuteilen, ferner die Ungerechtigkeit als schön und stark zu bezeichnen und ihr überhaupt alle Prädikate zu erteilen, die nach dem üblichen Sprachgebrauche der Gerechtigkeit zukommen. Über derartige Behauptungen, gesteht Sokrates, sei allerdings schwer zu diskutieren, gleichwohl müsse immer versucht werden, eine Verständigung zu erzielen, solange man annehmen dürfe, daß die Behauptungen des Gegners auf einer ehrlichen Überzeugung beruhten. Das scheine ihm hier der Fall zu sein. Schon triumphiert Thrasymachos, er glaubt gewonnenes Spiel zu haben. Da ihm die legten Erklärungen des Thrasymachos keinen Anknüpfungspunkt bieten, sieht sich Sokrates genötigt, seine Widerlegung auf eine voraufge-
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gangeue Behauptung seines Gegners zu stütjen, daß der Ungerechte vor dem Gerechten immer etwas voraushabe 8 ). E r läßt sich die folgenden Prämissen einräumen: D e r G e r e c h t e w i l l v o r d e m G e r e c h t e n nidits v o r a u s h a b e n — diesen Sag räiumt Thrasymadios, gut gelaunt, wie er jetjt ist, mit besonderem Vergnügen ein, er bemerkt: Gewiß! sonst wäre ja der Gerechte nicht der sittsame und einfältige Mensch. — Ferner: D a g e g e n will der G e r e c h t e vor dem U n g e r e c h t e n etwas voraush a b e n ; u n d drittens: D e r U n g e r e c h t e w i l l v o r d e m G e r e c h ten und vor der gerechten Handlungsweise etwas voraushaben, desgleichen vor dem U n g e r e c h t e n und vor d e r u n g e r e c h t e n H a n d l u n g s w e i s e - , da er überall nach Gewinn trachtet. Aus diesen Zugeständnissen u n d aus den voraufgegangenen Behauptungen des Thrasymachos zieht Sokrates zwei Folgerungen: Der Gerechte will vor s e i n e s g l e i c h e n nichts voraushaben, wohl aber vor dem Ungleichen, der Ungerechte will vor beiden etwas voraushaben; ferner: da der Ungerechte — nach Thrasymachos — verständig und gut, der Gerechte keines von beiden ist, muß der Ungerechte den Guten und Verständigen gleichen, der Gerechte dagegen nicht. Nachdem Thrasymachos auch dieses zugestanden hat, — mit dem ausdrücklichen Zusatj, daß die Übereinstimmung auf der gleichen Beschaffenheit beruhe! — geht Sokrates zum Angriff über und nötigt seinen Gegner, auch die folgenden Säge einzuräumen: Der tüchtige Musiker ist (als solcher!) gut und verständig, im Gegensag zu ihm ist der Nichtmusiker unverständig und schlecht. Dasselbe Verhältnis findet zwischen Ärzten und Laien statt. Nun wird ein Musiker, der seine Lyra stimmt, .in Hinsicht 'auf diese Verrichtung vor einem anderen Musiker nichts voraushaben wollen, wo-hl aber vor einem Nichtmusiker. Ebenso wird der Arzt, der einem Kranken eine Diät verordnet, vor einem anderen Arzte nichts voraushaben wollen, wohl aber vor einem Laien. So wird überhaupt jeder Wissende den Wissenden als seinesgleichen anerkennen und darum vor ihm nidits voraushaben wollen, sondern nur vor dem Niditwissenden, während der Unwissende sich dem Wissenden und dem Unwissenden i n gleicher Weise überlegen dünkt. Nun ist der Wissende weise u n d der Weise gut, also wird der Gute und Weise nidits vor seinesgleichen voraushaben wollen, sondern nur vor dem, der ihm nicht gleich ist; der Schlechte und Unwissende wird dagegen diesen Anspruch gegen «einesgleichen und gegen den Ungleichen richten. Da nun der Gerechte, wie zugestanden, ebenfalls nidits vor seinesgleichen voraushaben will, so gleicht er dem Weisen u n d Guten, und folg-
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lieh der Ungerechte dem Schlechten und Unwissenden. Und da ferner, wie gleichfalls zugestanden, diese Übereinstimmung auf einer übereinstimmenden Beschaffenheit beruhen muß, so ist der Gerechte gut und weise, der Ungerechte unwissend und schlecht"). Wohlgefällig betrachtet Sokrates seinen unterlegenen Gegner, der sich vergeblich gegen die Sokratische Logik zu sträuben versuchte und nun in Schweiß gebadet mit rotem K o p f e dasigt. Sokrates geht sogleich zu einem neuen Angriff über, der sich gegen die Behauptung des Thrasymachos richtet, daß das Unrecht kraftvoll sei (Kap. 20). Thrasymachos hat indessen seine Dreistigkeit sehr schnell wiedergewonnen. Er erklärt, daß er mit dem, was Sokrates vorgetragen habe, durchaus nicht zufrieden sei, indessen wolle er das, was er dagegen zu sagen vermöchte, nicht ausführen, weil Sokrates ihm dann vorwerfen würde, er halte Volksreden. Darum möge Sokrates weiter fragen, er werde ihn übrigens nicht mehr ernst nehmen, sondern ihm seine Antworten wie einem alten Weibe, das Märchen erzählt, durch Kopfnicken oder Kopfschütteln erteilen. Sokrates bemerkt zunächst: aus dem Zugeständnis, daß die Gerechtigkeit Weisheit und Tugend sei, gehe eigentlich schon hervor, daß sie kraftvoller sein müsse als das Unrecht, das sich als Unwissenheit erwiesen habe. Gleichwohl wolle er sich mit dieser einfachen Feststellung nicht begnügen, sondern die Frage genauer untersuchen. Sokrates geht von dem Falle aus, den Thrasymachos als das stärkste Beispiel des triumphierenden Unrechts ansieht, von der Herrschaft eines siegreichen Staates über andere Staaten, die sich der Sieger mit Unrecht und Gewalt unterworfen hat. Sokrates stellt die Frage, ob der Sieger in diesem Falle seine Herrschaft gerecht oder ungerecht ausüben werde? Diese Frage kommt dem Thrasymachos so gelegen, daß er darüber seinen kindischen Vorsat}, nur mehr pantomimisch zu antworten, sofort vergißt. Er erwidert: Wenn es mit dem Beweise des Sokrates seine Richtigkeit hätte, so müßte der Sieger allerdings gerecht regieren, wenn aber s e i n e Ansicht die richtige sei, so müsse die Regierung ungerecht ausfallen. Sokrates stellt darauf fest: Wenn ein Staat, ein Heer oder eine Räuberbande ein ungerechtes Unternehmen ausführt, so kann dieses nur gelingen, wenn die Übeltäter unter sich einig bleiben und nicht auch gegeneinander Unrecht verüben. Das räumt Thrasymachos großmütig ein. Sokrates fährt darauf fort: Die Ungerechtigkeit erzeugt überall Haß und Feindschaft. Mag sie ein Gemeinwesen, ein Menschenpaar oder einen einzelnen Menschen beherrschen, überall ist die Wirkung dieselbe. Erbitterung und Hader sind die Folge; wo immer die Ungerechtigkeit herrscht, entzweit sie
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die Menschen untereinander und den Menschen mit sich selbst. Unfähig, nach einem Sinne zu handeln, werden die ungerechten Menschen unvermögend, etwas zu leisten, und schließlich verfeindet der Haß den Ungerechten mit allen Gerechten und mit den gerechten Göttern. Über diese letjte Wendung ist Thrasymachos besonders erbost: bissig bemerkt er, Sokrates möge sich an «solchen Reden nur recht sättigen, er werde sich hüten, zu widersprechen, um sich nicht seinen Gastgebern — dem frommen Haiuse des Kephalos! — verhaßt zu machen. Freundlich erwidert ihm Sokrates, dann möge ihm Thrasymadhos den Schmaus vollenden und ferner noch einräumen, daß die Gerechten als die Weiseren und Besseren auch zum kraftvollen Handeln fähiger sein müßten. Überdies sei es nicht einmal ganz richtig, daß die Ungerechten als solche zu großen Taten befähigt wären, wenn sie unter sich einig und gerecht blieben. Wenn dieses letjtere der Fall sei, so sei klar, daß noch ein Rest von Gerechtigkeit in ihnen vorhanden sein müsse, denn die vollkommene Ungerechtigkeit könne überhaupt nichts ausrichten. So hätten also auch die Ungerechten, oder vielmehr die durch Unrecht Halbverdorbenen, der Gerechtigkeit den Erfolg ihrer Unternehmungen zu verdanken. Zum Schluß widerlegt Sokrates die Behauptung des Thrasymachos, die den Grundgedanken dessen großer Rede im Kapitel 16 bildet, daß das Leben des Ungerechten glücklicher sei als das des Gerechten. Er geht von der A u f g a b e (Sgyov) aus. Die Aufgabe — oder die spezifische Leistung — eines Gegenstandes ist das, was von ihm allein oder doch am schönsten geleistet werden kann. So ist die Aufgabe der Augen das Sehen, die der Ohren das Hören. Jeder Aufgabe muß eine Tugend entsprechen, die das Wirkenide besitzen muß, um »eine Aufgabe zu erfüllen. Also besiljen auch die Augen und die Ohren eine spezifische Tugend (olxeia ägerrj, hier ist also Tugend, ägettf = Tüchtigkeit). Vermöge dieser Tugend lösen die Organe ihre Aufgabe gut; versagt die Tugend, so tritt an deren Stelle die Schlechtigkeit, infolge deren sie ihre Aufgabe schlecht lösen. Nun hat auch die Seele ihre Aufgaben, und zwar bestehen diese in der Fürsorge, der Herrschaft, der Überlegung, vor allem aber ist das Werk der Seele das Leben. Also hat auch die Seele ihre Tugend, und diese ist, wie festgestellt wurde, die Gerechtigkeit, während die Ungerechtigkeit als Untugend nachgewiesen wurde. Nur die gerechte Seele vermag also die Aufgabe der Lebensführung erfolgreich zu lösen und damit ein glückliches Leben zu begründen, der Ungerechtigkeit muß dagegen diese Aufgabe mißraten, sie muß den Menschen unglücklich machen. Der offensichtliche Trugschluß, der nach dem Doppelsinn des Wortes &Qsrrj, Tugend, auf der Gleichsetgung physischer und ethischer Funktionen beruht, bleibt
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dem Thrasymacho8 verborgen! Erbittert über sein eigenes Unvermögen ruft er dem Sokrates zu: das möge ihm zum heutigen Festschmause dienen! Mit offenem Hohn entgegnet ihm Sokrates: Diesen Schmaus verdanke ich deiner Güte, da du so freundlich geworden bist und mir nicht mehr zürnst. Sehr schön ist der Schmaus freilich nicht ausgefallen, daran hast du jedoch nicht schuld, sondern ich selbst habe mir 'die Mahlzeit verdorben. Wie ein Leckermaul, das aus allen Schüsseln nascht, bevor es den ersten Ganig verzehrt hat, habe auch ich mich verleiten lassen, die erste grundlegende Frage, w a s d a s G e r e c h t e s e i n e m W e s e n n a c h i s t , beiseite zu setjen, um mich auf alle möglichen anderen Probleme einzulassen: ob die Gerechtigkeit als Weisheit und Tugend, die Ungerechtigkeit als Unwissenheit und Laster zu gelten hat, ob 'die Gerechtigkeit mehr nütjt als die Ungerechtigkeit, ob sie den Gerechten beglückt oder nicht. Darüber kann man aber erst urteilen, nachdem das Wesen der Gerechtigkeit ergründet worden ist. Nach dieser Unterredung weiß ich also nodi garnichts. Damit ist deutlich gesagt, daß die im ersten Buche vorgetragenen Beweise nur problematischen und polemischen Wert haben sollen. Die Streitfrage über den Anteil des Gerechten und Ungerechten am Lebensglück wird erst im neunten Buche wieder aufgenommen und entschieden.
Z w e i t e s
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Auf das lange Vorspiel folgt nun die eigentliche Handlung. An die Stelle des Thrasymachos tritt der edle Glaukon. Er beginnt: Wenn Sokrates wirklich die Absicht gehabt habe, sie davon zu überzeugen, daß ein gerechtes Leben in jeder Beziehung dem ungerechten vorzuziehen sei, so habe er seinen Zweck nicht erreicht; sodann trägt er folgendes vor: Es gibt Güter, die wir nicht ihrer Folgen wegen, sondern allein um ihrer selbst willen schätjen, wie z. B. harmlose Freuden, die uns die flüchtige Gegenwart erheitern, ohne sonderliche Nachwirkungen zu hinterlassen. Andere Güter schätzen wir wegen ihrer Beschaffenheit und wegen ihrer Wirkungen, wie z. B. das Denken, das Leben, die Gesundheit. Ferner gibt es noch eine dritte Gestalt des Guten, wohin die Gymnastik, die Heilkunst und der Gelderwerb "gehören, Betätigunigen, die nur in Rücksicht auf ihre Folgen als gut gelten, als lästige Arbeit dagegen nicht geschäht
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dem Thrasymacho8 verborgen! Erbittert über sein eigenes Unvermögen ruft er dem Sokrates zu: das möge ihm zum heutigen Festschmause dienen! Mit offenem Hohn entgegnet ihm Sokrates: Diesen Schmaus verdanke ich deiner Güte, da du so freundlich geworden bist und mir nicht mehr zürnst. Sehr schön ist der Schmaus freilich nicht ausgefallen, daran hast du jedoch nicht schuld, sondern ich selbst habe mir 'die Mahlzeit verdorben. Wie ein Leckermaul, das aus allen Schüsseln nascht, bevor es den ersten Ganig verzehrt hat, habe auch ich mich verleiten lassen, die erste grundlegende Frage, w a s d a s G e r e c h t e s e i n e m W e s e n n a c h i s t , beiseite zu setjen, um mich auf alle möglichen anderen Probleme einzulassen: ob die Gerechtigkeit als Weisheit und Tugend, die Ungerechtigkeit als Unwissenheit und Laster zu gelten hat, ob 'die Gerechtigkeit mehr nütjt als die Ungerechtigkeit, ob sie den Gerechten beglückt oder nicht. Darüber kann man aber erst urteilen, nachdem das Wesen der Gerechtigkeit ergründet worden ist. Nach dieser Unterredung weiß ich also nodi garnichts. Damit ist deutlich gesagt, daß die im ersten Buche vorgetragenen Beweise nur problematischen und polemischen Wert haben sollen. Die Streitfrage über den Anteil des Gerechten und Ungerechten am Lebensglück wird erst im neunten Buche wieder aufgenommen und entschieden.
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Auf das lange Vorspiel folgt nun die eigentliche Handlung. An die Stelle des Thrasymachos tritt der edle Glaukon. Er beginnt: Wenn Sokrates wirklich die Absicht gehabt habe, sie davon zu überzeugen, daß ein gerechtes Leben in jeder Beziehung dem ungerechten vorzuziehen sei, so habe er seinen Zweck nicht erreicht; sodann trägt er folgendes vor: Es gibt Güter, die wir nicht ihrer Folgen wegen, sondern allein um ihrer selbst willen schätjen, wie z. B. harmlose Freuden, die uns die flüchtige Gegenwart erheitern, ohne sonderliche Nachwirkungen zu hinterlassen. Andere Güter schätzen wir wegen ihrer Beschaffenheit und wegen ihrer Wirkungen, wie z. B. das Denken, das Leben, die Gesundheit. Ferner gibt es noch eine dritte Gestalt des Guten, wohin die Gymnastik, die Heilkunst und der Gelderwerb "gehören, Betätigunigen, die nur in Rücksicht auf ihre Folgen als gut gelten, als lästige Arbeit dagegen nicht geschäht
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werden. In welche dieser drei Klassen ist nun die Gerechtigkeit zu versehen? Sokrates meint, sie gehöre zu den schönsten Gütern, die um ihres eigenen Wesens und um ihrer Folgen willen erstrebt würden. — Die Menge, entgegnet Glaukon, ist anderer Ansicht, sie zählt die Gereditiigkeit zu den lästigen Dingen, denen man sich möglichst zu entziehen sucht; sie nimmt an, daß man sie nur wegen ihres Lohnes und wegen des guten Rufes ausübe, den man in der öffentlichen Meinung zu genießen wünscht. Übrigens ist auch Glaukon nicht ganz mit der Antwort des Sokrates einverstanden. E r verlangt zu wissen, was die Gerechtigkeit a n s i c h sei, worin ihre Macht über die Seele des Menschen bestehe, ihre Folgen seien ihm gleichgültig. Diese Frage sei noch unigelöst, ihm habe keine Erklärung, die jemals für den Vorrang der Gerechtigkeit vor der Ungerechtigkeit gegeben worden sei, genügen können. Dem Thrasymachos hält Glaukon vor, er habe sich von Sokrates „wie eine Schlange" beschwören lassen und seinen Widerstand viel zu früh aufgegeben. Darum will Glaukon jetjt selbst die Rolle des Thrasymachos übernehmen, um, entgegen seiner eigenen Ansicht, die Meinungen der Menge vom Wesen und von der Herkunft der Gerechtigkeit zu entwickeln und zu verteidigen. Daraus will er zu beweisen suchen, daß alle Menschen die Gerechtigkeit lediglich als einen lästigen Zwang ansehen, dem sie sich nur wider Willen fügen, ferner, daß sie recht haben, so zu denken und zu handeln, daß also das ungerechte Leben dem gerediten bei weitem vorzuziehen sei. Durch dieses Lob der Ungerechtigkeit will er Sokrates zwingen, ihm einen genugtuenden Beweis des Gegenteils zu liefern. Glaukon führt aus: V o n N a t u r ist das Unrechttun ein Gut, das Unrechtleiden ein Übel 1 0 ). Indessen sind die Übel, die aus dem Erleiden des Unrechts hervorgehen, größer als das Gute, 'das sich aus dem Verüben des Unrechts gewinnen läßt. Wenn die Menschen daher von beidem genügend gekostet haben, gelangen sie zu der Einsicht, daß es besser für sie ist, sich zu vertragen. Sie schließen dann einen Vertrag miteinander, durch den sie sich verpflichten, sich gegenseitig des Unrechts zu enthalten. (Der contrat social Rousseaus!) Sie einigen sich auf Gesetje und nennen das, was das Geseg verordnet, gerecht. Dieses Gerechte betrachten sie indessen nicht etwa als ein Gut, sondern nur als Kompromiß zwischen dem Gut, Unrecht zu tun, und dem Übel, Unrecht zu erleiden. Darin willigen sie ein, weil sie unvermögend sind, das Unrecht ungestraft auszuüben. Dagegen würde ein Starker, der es vermöchte, sich aus eigener Kraft des Unrechts zu erwehren, für toll erklärt werden, wenn er sich auf einen solchen Vertrag einließe. Dies ist also das Wesen und der Ursprung der Gerechtigkeit.
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Man versetje n u r einmal einen Gerechten in eine Lage, wo er o h n e F u r c h t
vor S t r a f e f r e v e l n k a n n ! Man wird d a n n sehen, daß er seinen B e g i e r d e n f r e i e n Lauf lassen u n d nicht a n d e r s h a n d e l n wird als der Ungerechte. U m das zu e r l ä u t e r n , erzählt Glaukon die Geschichte des Gyges (abweichend v o n der E r z ä h l u n g im H e r o d o t I, 8): Gyges — hier ein H i r t des lydischen Königs — findet auf seltsam-abenteuerliche Weise einen Ring, der die K r a f t hat, seinen T r ä g e r unsichtbar zu machen; er v e r f ü h r t mit dessen Hilfe die Königin zum Ehebruch, e r m o r d e t im B u n d e mit ihr den König und reißt dessen H e r r s c h a f t an «ich. Man «teile sich vor, r u f t G l a u k o n aus, d a ß ein solcher Ring einem Gerechten in d i e H ä n d e fiele, der d a m i t d i e Macht gewönne, sich o h n e F u r d i t vor Entdeckung die G ü t e r »einer Mitmenschen anzueignen, ungesehen in d e r e n H ä u s e r einzudringen, u m dort nach Belieben seinen Begierden zu f r ö h n e n . Da wird gewiß n i e m a n d so stählern sein, d e r Versuchung nicht zu erliegen! Es ist also klar, daß n i e m a n d die Gerechtigkeit als ein Gut a n e r k e n n t , s o n d e r n d a ß j e d e r in seinem innersten H e r z e n nach dem Nutjen strebt, den ihm das Unrecht verheißt. W e r sich trotjdem entschlösse, von der Freiheit, Unrecht zu v e r ü b e n , k e i n e n Gebrauch zu machen, w'ir J e f ü r höchst töricht u n d b e d a u e r n s w e r t gehalten werden, öffentlich w ü r d e n ihn freilich die Menschen loben, d e n n aus Furcht, Unrecht zu erleiden, belügen sie sich gegenseitig ü b e r ihre w a h r e Meinung. m aungerechten n zu einem abschließenden e r t Gestalten des gerechten uWnedn ndes Lebens gelangenUrteil will, über m u ß den m a nWdie de« vollendet Ungerechten u n d des vollendet Gerechten einander gegenüberstellen. D e r vollendet Ungerechte wird sich vor allem, wie ein tüchtiger Schiffer oder Arzt, auf die K u n s t des Möglichen verstehen, er wird sich niemals auf das Unmögliche einlassen. F e r n e r wird er, wie jene, die Fähigkeit besitjen, die nachteiligen Folgen eines etwaigen Mißgriffs schnell wieder auszugleichen. Es wird i h m gelingen, überall den Schein des Gerechten zu w a h r e n , d e n n gerade das ist d e r T r i u m p h d e r Ungerechtigkeit, gerecht zu scheinen, o h n e es zu sein 1 1 ). So wird der vollendet Ungerechte die größten Frevel begehen u n d es t r o t j d e m durch Ü b e r r e d u n g s k ü n s t e u n d , wenn es sein m u ß , durch Gewalt erreichen, d a ß er als der Gerechte gepriesen wird. Demgegenüber wird der volle n d e t Gerechte ein schlichter u n d edler Mensch «ein, der, nach dem W o r t des Aeschylos, nicht gerecht scheinen, s o n d e r n gerecht sein will 12 ). Nicht einmal der Schein, gerecht zu sein, darf dem Gerechten belassen werden, w e n n e r als Musterbeispiel dastehen soll, d e n n dieser Schein würde ihm L o h n u n d E h r u n gen verschaffen, u n d es wäre d a n n nicht auszumachen, ob diese o d e r seine Gesinnung die T r i e b f e d e r n seiner Handlungsweise sind. Vielmehr m u ß m a n sich
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den vollendet Gerechten als einen Mann vorstellen, dem alle Gerechtigkeit nur Schmach und Schande bringt, und der trotjdem «einen Gesinnungen bis zum Tode treu bleibt. — Sokrates kann hier nicht umhin, den Eifer zu loben, mit dem Glaukon seine Rolle als advocatus diaboli durchführt. Glaukon fährt fort: Ans dieser Gegenüberstellung wird man ersehen, welches Los den Gerechten und welches den Ungerechten erwartet. Des Gerechten harren Geißelung, Martern, Kerker und K r e u z i g u n g . Dann wird auch der Gerechte erkennen, daß man nicht gerecht sein, sondern gerecht scheinen muß. Auf den Ungerechten paßt das Wort des Aeschylos sehr viel besser: er will nicht ungerecht scheinen, sondern will es sein, und er ist es, dem aus den Tiefen seines Geistes tüchtiger Rat reift. Ihm wird die Herrschaft im Staate zufallen, da er ja für gerecht gilt, er wird sich verschwägern mit wem es ihm gefällt, er wird sich seine Freunde nach seinem Belieben auswählen und ihnen Wohltaten erweisen, seine Feinde dagegen vernichten. Der Reichtum, den er gewinnt, wird ihm viel mehr als dem Gerechten die Möglichkeit gewähren, seine Freunde dauernd an sich zu fesseln und schließlich auch die Götter durch reiche Opfer und Weihgeschenke für sich zu gewinnen. So wird er am Ende auch den Göttern lieber sein als der Gerechte. Das, schließt Glaukon, sind die Meinungen der Menge. Bevor Sokrates auf die Rede erwidern kann, ergreift Adeimantos, der Bruder Glaukons, das Wort. Er erklärt, die Schilderung sei noch nicht vollständig, das Wichtigste habe Glaukon nicht 'ausgesprochen. — So möge denn Adeimantos das, was noch fehle, vollenden, entgegnet Sokrates, für ihn genüge das Vorgetragene freilich schon, um ihn völlig niederzuwerfen und ihn unfähig zu machen, der Gerechtigkeit zu Hilfe zu kommen. — Das ist Unsinn! bemerkt Adeimantos eifrig, und führt dann aus: Den von Glaukon entwickelten Anschauungen steht eine andere Moral gegenüber, die zwar die Gerechtigkeit lobt und die Ungerechtigkeit tadelt, die Gerechtigkeit aber nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen ihrer guten Folgen anpreist. Dieser Lehre folgen die meisten Väter und Erzieher, wenn sie den Kindern die segensreichen Wirkungen des guten Rufes des Gerechten und andererseits die Strafen schildern, die dem Unrecht drohen. Ihr folgen auch die Dichter, wenn sie, wie Homer und Hesiod, die Gaben aufzählen, mit denen die Götter den Gerechten auf Erden belohnen; oder wenn sie, wie Musaeos, das Wohlleben der Gerechten im Hades besingen, wo sie zu festlichen Trinkgelagen versammelt werden und in einein immerwährenden Rausche den schönsten Tugendlohn genießen. Auf ihr beruhen die Verheißungen, die dem Frommen ein langes Leben, eine reichgesegnete Nachkommenschaft versprechen, und die Drohungen mit den Schrecken
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der Unterwelt. Etwas Besseres wissen die Anhänger dieser Lehre nicht vorzubringen. 7 Außer diesen beiden Anschauungen gibt es noch eine dritte Lehre, die im Volke und unter den Dichtern weit verbreitet ist. Ihre Anhänger predigen allesamt wie aus einem Munde, daß Besonnenheit und Gerechtigkeit zwar sehr schön, aber schwer und mühevoll sind, während Zügellosigkeit und Ungerechtigkeit einen angenehmen und leichten Besig ausmachen, der freilich im schlechten Rufe steht und nach dem Gese§ als schimpflich gilt. Jene sind sich darüber einig, daß die Ungerechtigkeit einträglicher ist als die Gerechtigkeit; sie sind sehr geneigt, die Schlechten, wenn sie nur reich und mächtig sind, glücklich zu preisen, die Schwachen und Armen dagegen zu mißachten, selbst wenn sie anerkennen müssen, daß sie besser sind als die andern. Dazu kommen dann noch die erstaunlichsten Reden über Götter und Tugend, wie die, daß die Götter vielen Guten ein trauriges Lebenslos zuteilen, vielen Schlechten dagegen ein glückliches Leben vergönnen. Daraus entspringt finsterer Aberglaube: Wahrsager und Bettelpriester kommen zu den Türen der Reichen und reden ihnen ein, daß sie Opferbräuche und Zauberformeln wüßten, durch die man sich die Götter dienstbar machen könne, um seine Feinde zu verderben. Auch hier haben die großen Dichter manches Unheil angerichtet, wie Hesiod durch die berühmten Verse von dem leichten, ebenen Wege zum Laster und von dem langen, steilen Wege zur Tugend, ebenso Homer durch seine Schilderung, wie leicht sich die Götter durch Gebete und Opferduft beschwichtigen lassen. Orpheus und Musaeos haben gar ganzen Städten den Glauben eingeflößt, daß es für begangenes Unrecht Reinigungen und Sühnungen in Gestalt von Opfern und jenen kindischen Lustbarkeiten gebe, die man Weihen nennt, daß die Weihen zur Erlösung des Menschen genügten, die Ungeweihten aber verworfen würden 13 ). 8
Nun möge sich Sokrates einmal vorstellen, wie derartige Anschauungen auf die empfänglichen Seelen junger Menschen wirken müßten, die schnell bei der Hand seien, die Nutjanwendungen aus derartigen Lehren zu ziehen. Ein solcher Jüngling werde etwa folgendermaßen philosophieren: Soll ich, wie Pindar sagt, die steile Burg des Glückes auf dem geraden Wege des Rechtes oder auf dem krummen Wege des Unrechts erklimmen? Nach allem, was ich höre, wird mir die Gerechtigkeit nichts eintragen als Mühe und Schaden, während der äußere Anschein des Gerechten genügt, um mir ein glückliches Leben zu verschaffen. Denn, wie die Weisen sagen, hat der Schein Gewalt über die Wahrheit und ist der Gebieter des Glückes. Darum werde ich die Vorhalle meines Hauses mit Bildern der Tugend schmücken, im Hinterhof aber den schlauen Fuchs des Archilochos verwahren. — Nun ist es doch nicht leicht, seine Frevel zu ver-
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bergen? Darauf wäre zu antworten: Nichts Großes ist leicht, es m u ß eben gewagt werden! Zu diesem Zwecke werde ich midi mit gleichgesinnten Freunden umgeben, die mir helfen, wenn ich in Verlegenheit gerate. Mit den Göttern werde ich midi schon abfinden, wenn es überhaupt Götter gibt, und wenn sich diese mit menschlichen Angelegenheiten befassen. Sie sind ja, wie die Dichter sagen, leicht zu beschwichtigen. Zu ihnen werden wir demütig beten, ihnen opfern, und dann straflos auagehen. Und vor den Strafen der Unterwelt schüren uns die Weihen! Nun möge Sokrates sagen, warum ein Starker noch die Gerechtigkeit achten und ehren sollte! Wer alles das zu widerlegen vermöchte, würde Mitleid mit den Ungerechten haben und ihnen nicht zürnen. Denn er müßte sich sagen, daß nur eine göttliche, mit tiefem Wissen begabte Natur (ein Heiliger!) sich des Unrechts enthalten würde, während die andern sich nur aus Schwäche zur Gerechtigkeit bekennen. Der erste von ihnen, der zur Macht gelangte, würde sofort das Gegenteil tun. An diesem traurigen Zustande, meint Adeimantos, ist nichts anderes schuld als daß das Wesen der Gerechtigkeit noch von niemandem richtig gedeutet worden ist, von den ältesten Zeiten an hat keiner die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit anders gepriesen als im Hinblick auf die äußeren Folgen 14 ). Aber das Wesen beider, das die Seelen mit den ihnen eigenen K r ä f t e n erfüllt, hat bisher niemand dargestellt. Wenn dies gelänge, so würde klar werden, daß die Gerechtigkeit das höchste Gut, die Ungerechtigkeit das schlimmste Übel ist; und wenn erst diese Einsicht die Menschen von Jugend auf beherrscht, wird es nicht mehr notwendig sein, daß der eine den andern bewacht, sondern ein jeder wird »ich selbst davor hüten, sich mit Unrecht, dem schlimmsten aller Übel, zu belasten 19 )! Solange aber diese Einsicht nicht fest begründet ist, wird es Leuten wie Thrasymachos immer wieder gelingen, die Gerechtigkeit in ihr Gegenteil zu verkehren. Mit schwungvollen Worten beschwört Adeimantos den Sokrates, allen Schein zu zerstören und die Wahrheit zu verkünden, der er ja sein ganzes Leben hindurch gedient habe. Noch einmal betont er: er begehre zu wissen, was die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit vermöge ihrer eigenen K r ä f t e in der Seele wirkten, und warum d e s h a l b die eine als ein Gut, die andere als ein Übel zu gelten habe. Ihre Wirkungen nach außen sind dem Adeimantos gleichgültig. Gerührt über den festen Glauben des Jünglings 'bemerkt Sokrates: der geliebte Freund des Glaukon habe nicht unrecht gehabt, seine Elegie zum Preise der Taten der beiden Brüder in dem Gefecht bei Megara mit dem Verse zu beginnen: „Göttlich Geschlecht, ihr Söhne des allverehrten Ariston!" 1 ") Es sei wahrlich einer göttlichen Einwirkung zu verdanken, wenn Glaukon und
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Adeimantos die Gerechtigkeit so hochhielten, während sie so eindringlich von der Ungerechtigkeit zu reden verständen. Sokrates stellt sich — nach seiner Gewohnheit — , als oh er in ernster Verlegenheit wäre und nichts Stichhaltiges zur Verteidigung der Gerechtigkeit beizubringen wüßte. E r schlägt dem Adeimantos indessen folgendes vor: Da sie das Wesen der Gerechtigkeit in den kleinen Verhältnissen des einzelnen Menschen nicht zu erkennen vermöchten, so bleibe der Ausweg übrig, sie in den größeren Verhältnissen eines Staates aufzusuchen, vielleicht fänden sie dort ihr Wesen in größeren Zügen ausgeprägt, die man leichter entziffern könnte. Wenn das gelänge, werde es vermutlich möglich sein, ihr Wesen in den Charakteren der Menschen wiederzuerkennen. Zu diesem Zwecke werde es sich empfehlen, die Entstehung eines Staates zu studieren, dabei werde auch die Entstehung der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit zu beobachten sein. Sokrates macht seine Zuhörer darauf aufmerksam, daß die Untersuchung äußerst langwierig ausfallen werde, was diese indessen keineswegs abschreckt. Hiermit wird der folgende Plan entwickelt: Es soll das Bild eines (idealen) Staates entworfen werden, um zu versuchen, darin das Wesen der Gerechtigkeit zu entdecken. Wenn dies gelingt, so muß die damit aufgefundene Idee der Gerechtigkeit nicht nur das Urbild der Gerechtigkeit des Staates, sondern auch das der menschlichen Gerechtigkeit überhaupt sein. Mit Hilfe dieser Idee sollen alsdann die am Schlüsse des ersten Buches — der Exposition des Werkes — als unentschieden bezeichneten Probleme gelöst werden. Hiernach würden diese Probleme als das eigentliche Hauptthema des Dialoges, die Darstellung des Staates dagegen nur als ein Nebenthema zu gelten haben, lediglich als ein Hilfsmittel, um zur Lösung jener Fragen zu gelangen. In Wirklichkeit gestaltet sich aber der Verlauf der nachfolgenden Untersuchungen gerade umgekehrt, der Staatsgedanke beherrscht von hier ab das Werk durchaus. Es ist natürlich nicht daran zu denken, daß Piaton bei der ferneren Ausarbeitung des Dialoges, dem eine sehr genaue Disposition zugrunde liegt, etwa andere Wege eingeschlagen haben könnte, als er von vorneherein beabsichtigt hatte. Offenbar wollte er dem Werke durch diesen scheinbaren Widerspruch den Charakter einer freien Improvisation seines Sokrates verleihen, er läßt ihn — wenn ich mich des bekannten Goetheschen Gleichnisses bedienen darf — eine ähnliche Wanderung unternehmen, wie die des Saul, der auszog, um seines Vaters Eselinnen zu suchen und ein Königreich fand. — Zu beachten ist indessen, daß die Idee der Gerechtigkeit den roten Faden bildet, der sich durch das ganze Werk hindurchzieht und als dessen Hauptmotiv das großartige Weltbild Piatons zur Einheit zusammmenfaßt.
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A A Staaten entstehen, beginnt Sokrates, weil der einzelne Mensch sich nicht 1 J . genügt, jeder einzelne hat zahlreiche Bedürfnisse, die ihm andere erfüllen müssen. Darum begründen die Menschen Vereinigungen zum Behufe wechselseitiger Hilfe, und diese Vereinigungen nennt man Staaten. Darauf führt Sokrates seinen Zuhörern die Entstehung eines Staates vor. E r läßt seinen Staat entsprechend den primitivsten menschlichen Bedürfnissen — Nahrung, Wohnung, Bekleidung, Schuhwerk — aus einer Vereinigung von vier Männern hervorgehen, einem Bauern, einem Baumeister, einem Weber und einem Schuster. An diesem theoretischen Gebilde macht er dem Adeimantos die Vorteile der Arbeitsteilung und der Spezialisierung der Arbeit klar: es ist rationeller, daß ein jeder von diesen die Arbeit, zu der er sich eignet, für die anderen mitversieht, als wenn etwa der Bauer nur ein Viertel seiner Arbeitszeit auf seinen Acker verwenden könnte, weil er drei Viertel seiner Zeit aufwenden müßte, um sich sein Haus und seine Bekleidung zu beschaffen. Aus denselben Gründen ist es nicht zweckmäßig, daß der Bauer seine Adeergeräte, der Handwerker seine Werkzeuge selbst herstellt. Das kleine Gemeinwesen wird sich deshalb durch die Aufnahme von Schmieden, Zimmerleuten und anderen Handwerkern vergrößern, dazu werden Hirten kommen, um die nötigen Zugtiere zu liefern. Alsdann wird sich herausstellen, daß kein Staat seine sämtlichen Bedürfnisse aus seiner eigenen Produktion decken kann, er bedarf der Einfuhr aus anderen Staaten und zu deren Bezahlung eines Produktionsüberschusses 17 ). Zu den Handwerkern, die zur Herstellung der Ausfuhrgüter notwendig werden, gesellen sich daher die Kaufleute und Seeschiffer. Von diesem Zeitpunkt an nimmt der Umfang des Staates schneller zu. Der Tauschhandel geht in den Geldhandel über, es wird ein Markt eingerichtet, auf welchem die Krämer an die Stelle der Bauern treten, damit diese nicht ihre Zeit damit zu verlieren brauchen, auf die Kunden zu warten. Sodann finden sich Arbeiter ein, die ihre Körperkräfte feilbieten. — Krämer und Arbeiter kommen auch hier bei Piaton schlecht weg, er steht in dieser Hinsicht noch ganz im Banne der Anschauungen seines Zeitalters. Die Krämer bezeichnet er als körperlich schwächliche Menschen, die zu nichts anderem taugen, und von den Arbeitern sagt er gar, daß sie nach ihren Verstandeskräften nicht gerade würdige Mitglieder des Gemeinwesens seien und nur zu dessen Auffüllung dienten. Damit, meint Sokrates, sei der Staat ziemlich vollständig. Wo sei nun aber die Gerechtigkeit? — Das vermöge er nicht zu bestimmen, erwidert Adeimantos, vielleicht sei sie irgendwo im geschäftlichen Verkehr entstanden. Sokrates schildert darauf das Leben der Bürger dieses Staates: Sie gehen fleißig ihrer 3
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Arbeit nach, am Abend lagert »ich ein jeder mit den Seinen auf sauberer Streu, genießt sein selbstgebackenes Brot, trinkt ein wenig Wein dazu und dankt den Göttern. Die Bürger leben in Frieden miteinander, zeugen nicht mehr Kinder, als sie unterhalten und aufziehen können, und hüten sich vor Armut und Krieg. A A Hier mischt sich Glaukon mit der Bemerkung ein, daß Sokrates seine Bürger ja ohne Zukost schmausen ließe! Sokrates zählt eine große Anzahl Feld- und Gartenfrüchte auf, die das Mahl seiner Bürger bereichern sollen. Audi das genügt dem Glaukon nicht: Du redest, als ob du einen Schweinestaat gründen wolltest, äußert er derbe 1 8 ); du solltest den Menschen doch eine etwas bessere Kost gönnen, Fleisch, einige Leckerbissen und Kuchen, dazu müßten sie von gedeckten Tischen speisen und auf Polstern ruhen, wie wir! — Ach so, erwidert Sokrates, ich soll nicht nur einen werdenden Staat, sondern sogleich eine üppige Stadt darstellen. Auch das soll mir recht sein, vielleicht wird die Entstehung der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit auch daraus erkennbar werden. Der Staat, den ich schilderte, ist der gesunde Staat, nun mag das Bild eines aufgeschwollenen Staatswesens folgen. Dem genügt das einfache Leben nicht mehr, es strebt nach Komfort. An die Stelle der einfachen Streulager treten Betten, die Häuser füllen sich mit Mobiliar; allerlei Luxus kommt auf, wie Salben, Räucherwerk, Freudenmädchen; Maler und Kunsthandwerker schließen sich an. So wird der Staat mit allem möglichen Ballast überfüllt, dessen das ursprüngliche, gesunde Gemeinwesen nicht bedurfte (Rousseau!). Es treten Musiker, Dichter, Schauspieler und andere Theaterleute auf, Bediente aller Art werden nötig, wie Erzieher, Ammen, Zofen, Köche und Barbiere. Schließlich bedarf man auch noch der Schweinehirten, denn die Bürger begnügen sich nicht mehr mit Pflanzenkost, sondern gehen zum Fleischgenuß über. I n f o l g e d e s s e n n e h m e n d i e K r a n k h e i t e n z u , und der Staat 'bedarf deshalb jetjt auch der Ärzte. infolge dieser Entwicklung wird das Gebiet des Staates zu eng, um die angewachsene Bevölkerung zu ernähren. Der Staat wird also versuchen, sein Gebiet auf Kosten seiner Nachbarn zu erweitern und muß zu diesem Zwecke Krieg führen. Sokrates «ehaltet ein, er wolle hier nicht untersuchen, ob der Krieg Gutes oder Schlimmes wirke, sondern nur den Ursprung des Krieges feststellen. Er fährt fort: Dadurch vergrößert sich die Einwohnerschaft des Staates nicht um ein geringes, sondern um ein ganzes Heer! Erstaunt fragt Glaukon, oi> die Bürger denn nicht allein ausreichten, um ihre Kriege zu führen? Nein! erwidert Sokrates. Im Gegensatj zu der Wehrverfassung aller griechischen Städte fordert er für seinen Staat ein aus Berufssoldaten gebildetes
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stehendes Heer. Er begründet dies mit dem vorhin aufgestellten Prinzip der Arbeitsteilung: Das Kriegswesen sei eine schwierige Kunst, die nicht nebenher betrieben werden könne, vielmehr ein Lebensberuf, dem sich der Soldat ausschließlich zu widmen habe. Dieser für die Zeit Piatons völlig neue Gedanke wird ausführlich erläutert. Zur Erfüllung ihrer wichtigen Aufgabe müssen die Krieger von allen anderen Berufspflichten frei sein, damit sie ihre Kräfte auf die militärische Ausbildung verwenden können. Vor allem kommt es nun darauf an, die Männer herauszufinden, die sich zum Heeresdienst eignen. Ein junger Krieger muß die Eigenschaften eines guten Jagdhundes besitzen: scharfe Sinne, Schnelligkeit, ganz besonders aber Mut. Denn der feste Wille 19 ) ist unbezwinglich und unwiderstehlich, er macht die Seele furchtlos und unerschütterlich. Jedoch können diese Eigenschaften dem Staate selbst gefährlich werden, wenn die Krieger in die Versuchung geraten, ihre Kräfte igegen die eigenen Mitbürger zu wenden und den Staat ihrer Macht zu unterwerfen. Darum muß der Krieger dem Feinde schrecklich, 'gegen die Freunde 'und Volksgenossen friedlich, vor allem aber der Staatsgewalt treu ergeben sein. Auf den ersten Blick scheinen diese Gegensätje einander auszuschließen, indessen bemerken wir an den Hunden, mit denen wir die Krieger soeben verglichen, daß sie gegen ihre Herren und Hausgenossen zahm und nur gegen Fremde bösartig sind. Es muß deshalb angenommen werden, daß jene Gegensätje audi in der Seele des Kriegers nebeneinander bestehen können. Schließlich muß der künftige Krieger eine philosophische Veranlagung besitjen, wie wir sie zu unserer Verwunderung an den Hunden gewahren. Wie soeben bemerkt, sind die Hunde, bösartig gegen einen Fremden, obwohl sie von ihm niemals etwas Böses erlitten haben, dagegen gutartig gegen einen Hausgenossen, wenn ihnen dieser auch niemals etwas Gutes erwiesen hat. Nun aber ist gerade dieses das Zeidien einer philosophischen Denkungsart: das, was uns eigen (td olxela), und das, was uns fremd ist, danach zu unterscheiden, ob wir es erkennen oder nicht erkennen 20 ). Der Mensch, der gegen seine Volksgenossen friedlich sein soll, muß also philosophisch veranlagt sein. Wie erziehen wir nun unsere jungen Krieger zu philosophischen, willensstarken, schnellen und kraftvollen Männern? Oder führt diese Frage etwa von unserem Thema, der Entstehung der Gerechtigkeit im Staate, ab? An Stelle Glaukons antwortet Adeimantos, er glaube zu bemerken, daß die Frage der Untersuchung dienlich sein werde. — Dann, erklärt Sokrates, wollen wir gemächlich, als ob wir ein Märchen erzählten, an die Erziehung unserer Krieger herantreten. 3'
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Nach den Grundzügen der Erziehung brauchen wir nicht lange zu suchen, sie stehen seit langer Zeit fest, die oberste Regel lautet: Gymnastik f ü r den K ö r p e r , Musik 2 1 ) f ü r die Seele. Die Musik geht der körperlichen Ausbildung vorauf. Zu ihr gehört auch die wahre und die falsche R e d e , und zwar beginnt man bei d e r Erziehung mit der falschen Rede. — Wie ist das zu verstehen? fragt Adeimantos erstaunt. — Man erzählt den K i n d e r n zunächst Mythen, erläutert ihm Sokrates, die in der Hauptsache erdichtet sind, aber auch einige Wahrheit enthalten. Nun ist hier zu beachten, daß bei jedem Unternehmen der A n f a n g das Wichtigste ist 22 ). Das gilt vor allem f ü r den B e g i n n der Erziehung, denn gerade die frühesten Jugendeindrücke sind o f t bestimmend f ü r das Wesen des Menschen. Darum ist es keineswegs gleichgültig, welche Fabeln den K i n d e r n erzählt werden, und es ist eine wichtige A u f g a b e der Gründer des Staates, darauf zu achten, daß nicht durch ungeeignete Mythen Anschauungen in die empfängliche Kinderseele eindringen, die der Gesinnung eines rechten Kriegers zuwiderlaufen. Ein großer T e i l der alten Dichtermythen ist deshalb zu verwerfen. Hieran schließt Sokrates eine eingehende scharfe K r i t i k der Hesiodischen und Homerischen Göttersagen. V o r allem v e r w i r f t er die Sagen von den Familiengreueln der ältesten Götter, den Gewalttaten des Uranos, K r o n o s und Zeus, er bezeichnet sie als schlimme Beispiele, auf die sich mancher b e r u f e n möchte, um ähnliche Missetaten zu begehen. Nicht minder tadelt Sokrates die Mythen von den Streitigkeiten und K ä m p f e n der Götter untereinander, von d e r Gigantenschlacht und ähnlichem; derartige Fabeln, meint er, würden die jungen K r i e g e r aufsässig machen, es sei besser, ihnen nur Bilder der Eintracht vorzuführen. Es sei auch gleichgültig, ob jene Schilderungen sinnbildlich oder nicht sinnbildlich aufzufassen seien, denn die Jugend verstehe ja doch nicht, ein Sinnbild zu deuten. A u f die Frage des Adeimantos, welche Mythen denn zuzulassen wären, antwortet Sokrates ausweichend, sie seien gegenwärtig Staatengründer und keine Dichter, und brauchten als solche nur zu wissen, wie eine zulässige Dichtung beschaffen sein müßte. Adeimantos f r a g t weiter, wie denn die Götterlehre z u gestalten sei? Sokrates setjt ihm auseinander: Man muß die Gottheit (ö &eog) so darstellen, wie sie ist. D i e G o t t h e i t i s t g u t u n d k a n n d e s h a l b nur das G u t e w i r k e n , k e i n e s w e g s aber die Urs a c h e i r g e n d e i n e s Ü b e l s s e i n . Darum ist es nicht richtig, zu sagen, daß die Gottheit die Urheberin a l l e r Dinge sei, vielmehr stammt nur das Wenigste von ihr, weil auf Erden das Gute v o m Bösen weitaus überwogen wird. So muß man f ü r das Böse nach einem anderen Erklärungsgrunde
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suchen 23 ). Sokrates erklärt deshalb die Homerische Stelle von den beiden Urnen, aus denen Zeus die glücklichen und die unglücklichen Lebenslose austeilt, für unverständig. Sodann tadelt er, daß Homer den Pandaros durch die Göttin Athene zum Bruche des beschworenen Waffenstillstandes verführen läßt, für anstößig hält er ferner die Verse des Aeschylos vom Neide der Götter: daß sie den Menschen in schwere Schuld verstricken, wenn sie seinem Geschlechte den Untergang bereiten wollen. Von göttlichen Strafen dürfe allerdings ein Dichter erzählen, denn die Strafe «ei kein Übel, sondern ein Gewinn für den Missetäter, da sie ihn bessere 2 4 ). Im übrigen müsse die Behauptung, daß die Gottheit irgend ein Übel verursachen könne, in jedem wohlregierten Staate mit aller Entschiedenheit bekämpft werden. Dieses sei das erste Gesetj der Götterlehre, das zweite gehe von der Frage aus: dürfe man annehmen, daß die Gottheit wie eine Zauberin in mannigfachen Gestalten erscheine, daß sie aus ihrer wahren Gestalt (idéal) heraustreten könne, um sich in die verschiedensten Erscheinungen zu verwandeln? Oder werde sie immer e i n f a c h bleiben? Diese Frage überrascht Adeimantos so, daß er erklärt, darüber nichts sagen zu können. Sokrates gibt ihm darauf einen umständlichen Beweis der Unwandelbarkeit der göttlichen Gestalt, welchem der folgende Gedankengang zugrunde liegt: Wenn sich ein Wesen verwandelt, muß es entweder von einem anderen verwandelt werden, oder es muß sich selbst umwandeln. Das erste ist in Hinsicht auf die Gottheit ausgeschlossen. Denn j e vollkommener etwas ist, desto weniger vermögen es äußere Einflüsse zu verändern, und da die Gottheit unter allen Wesen am höchsten steht, muß sie am wenigsten einer Veränderung ausgesetjt sein 2 9 ). Die zweite Möglichkeit, daß die Gottheit sich selbst verwandeln könnte, ist deshalb ausgeschlossen, weil sie, deren Gestalt die vollendetste und schönste sein muß, sich in diesem Falle in eine niedere, also häßlichere, ihres Wesens unwürdige Gestalt umwandeln würde. Etwas derartiges kann aber kein Gott wollen. Darum sind die Homerischen Mythen von den Göttern, die in Gestalt fremder Wanderer die Städte der Menschen aufsuchen, ebenso abzuweisen, wie die Märchen von den Verwandlungen des Proteus und der Thetis. Es ist auch schädlich, wenn die Mütter ihren Kindern ähnliche Märchen von nächtlichen Erscheinungen der Götter in allerlei abenteuerlichen Gestalten erzählen, denn sie machen die Kinder dadurch furchtsam. Indessen bleibt noch eine dritte Möglichkeit übrig: Könnte nicht die Gottheit, ohne ihre Gestalt zu verändern, a u f d i e V o r s t e l l u n g d e r M e n s c h e n 8 o e i n w i r k e n , d a ß w i r s i e in f r e m d e r G e s t a l t zu e r b l i c k e n
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g l a u b e n ? — Das ist vielleicht möglich! erwidert Adeimantos. Sokrates ist mit dieser Antwort nicht zufrieden. Er fragt weiter, ob Adeimantos denn glauben könne, daß ein Gott die Menschen durch die Vorspiegelung eines Trugbildes zu täuschen vermöchte? — Das wisse er nicht, erklärt Adeimantos, der zähe an dieser letjten Möglichkeit der Göttererscheinungen festhält. Sokrates überzeugt ihn indessen durch die folgenden Gründe: Es gibt eine Täuschung im wahrsten Sinne des Wortes, die alle Götter und Menschen hassen, es ist die Täuschung über die höchsten Dinge, vor der sich ein jeder am allermeisten hütet. Sie ist das größte Übel, da sie die Seele gefährdet; die falsche Rede ist nur deren schwaches Abbild und daher nicht einmal eine reine Täuschung. Darum ist es nicht möglich, daß uns die Götter über ihr wahres Wesen täuschen. Nun gibt es freilich erlaubte Lügen. Wir belügen mit Recht unsere Feinde, wir belügen auch unsere Freunde, um sie vor Schaden zu bewahren, wenn sie im Begriffe sind, aus Tollheit oder Torheit etwas Schlimmes anzurichten. Schließlich sind auch die Lügen der Mythologen (religiöse Erdichtungen) entschuldbar, wenn sie der verborgenen Wahrheit durch Erfindungen nahezukommen versuchen. Für die Gottheit kann indessen keines dieser drei Motive gelten. Denn die Wahrheit kann ihr nicht verborgen sein, die Annahme, daß sie aus Furcht vor einem Feinde lügen könnte, wäre lächerlich, und aus Rücksicht auf Torheit und Tollheit wird sie deshalb nicht lügen, weil kein Tor und kein Toller der Gottheit lieb sein kann. Adeimantos hätte hiergegen einwenden können, daß einer Gottheit wohl alle Menschen als Toren erscheinen möchten, indessen gibt er sich mit der etwas gesuchten Erklärung zufrieden. Also, folgert Sokrates, ist die Gottheit einfach und wahr in Worten und Werken, unfähig sich zu wandeln und die Menschen zu täuschen. Sie täuscht die Menschen auch nicht durch falsche Wahrzeichen und Verheißungen, wie der Zeus Homers den Agamemnon durch ein trügerisches Traumbild mißleitet, oder wie der Apollon des Aeschylos die neuvermählte Thetis durch die Verheißung einer glücklichen, lange lebenden Nachkommenschaft irreführt. Sokrates schließt: Wir werden einem Dichter, der in unserem Staate solche Dinge von den Göttern singt, unsere Gunst entziehen, wir werden ihm keinen Chor zur Aufführung seiner Dramen verstatten und werden den Lehrern verbieten, sich seiner Dichtunigen im Unterricht zu bedienen, auf daß unsere Krieger wackere und fromme Wächter des Staates werden. Diese lange Auseinandersetzung, mit der Piaton das zweite Buch abschließt, kann sich unmöglich allein gegen die harmlosen Fabeln von den Verwandlungen der Götter richten, sonst wäre das Mißverhältnis zwischen dem Aufgebot an
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Dialektik und dem angestrebten Ziele allzu stark. Offenbar liegt dem Beweise der Unwandelbarkeit des göttlichen Wesen« ein tieferer Sinn zugrunde: die Angriffe des Sokrates richten sich, wie es scheint, unmittelbar g e g e n d e n P o l y t h e i s m u s d e r g r i e c h i s c h e n R e l i g i o n . Der leitende Gedanke, den Sokrates zu Beginn der Untersuchung aufstellt, daß die Gottheit (o &eöc, also wörtlich d e r Gott) einfach ist und nicht aus ihrer Gestalt (iSea!) heraustreten kann, schließt eigentlich schon alle Vielgötterei aus. Denn von mehreren Göttern würde jeder einzelne Gott nur e i n e Seite des „einfachen" göttlichen Wesens darstellen, das wäre dann schon die von Sokrates bekämpfte Verwandlung der Gottheit in mehrere Gestalten. Es ist sicherlich kein Zufall, daß Piaton im Anfang der Auseinandersetzung sich zur Bezeichnung der göttlichen Gestalt des Wortes Idea, Idee, bedient, und daß dieses Wort, von dem er bis dahin den sparsamsten Gebrauch macht, an dieser Stelle, in wenigen Zeilen, nicht weniger als viermal (einmal an dessen Stelle das Synonymon eldas) vorkommt 2 6 ). Es ist daher nicht gewagt, anzunehmen, daß er die Gottheit als Idee aufstellt, die als solche unwandelbar ist. D i e G o t t h e i t i s t e i n e I d e e : damit kommt Piaton der Lehre Kants von der Idealität des Gottesbegriffes ganz nahe. Nur die eine schmale, aber unendlich tiefe Kluft trennt die beiden großen Philosophen: bei K a n t ist Gott eine n o t w e n d i g e l d e e d e r r e i n e n V e r n u n f t , bei Piaton ist die Idee der Inibegriff eines reinsten, höchsten Seins. Natürlich denkt Piaton nicht etwa an einen Monotheismus im Sinne der christlichen Religion. Es ist, als ob er dieser Vorstellung eines persönlichen Gottes, eines Schöpfers a l l e r D i n g e , durch die voraufgegangene Stelle hätte vorbeugen wollen, in der er erklärt, daß die Gottheit nur die Urheberin des Guten, also nur der s e l t e n s t e n D i n g e sei. Daß Piaton seinen Angriff gegen den Polytheismus in dieser verschleierten Polemik vorträgt, ist nicht zu verwundern. Es wäre nicht Platons Art gewesen, den Glauben des Volkes an seine Götter durch eine Lehre zu erschüttern, deren tiefen Sinn die Menge doch niemals hätte erfassen können. Man lese die scharfe Verurteilung der modernen Aufklärungsphilosophen im Theaetet, Kap. 27, denen Piaton vorwirft, daß sie ihre Gelehrsamkeit offen zu Markte trügen, damit jeder Schuster lerne, an allem zu zweifeln!
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Sokrates setjt die Kritik der Dichtersagen fort. Er führt aus: Wenn unsere •l Krieger ohne Furcht in die Schlacht ziehen und lieber den Tod als Niederlage und Knechtschaft erleiden sollen, so muß mit den Mythen aufgeräumt werden, die den Hades als einen Ort des Grauens und der Trauer schildern. Schädlich sind vor allem die trostlosen Schilderungen Homers von den jammervollen Zuständen der Seelen in den dumpfen Höhlen des Hades, wo sie, wie Fledermäuse, in einem dämmernden Halbbewußtsein umherschweben, einzig erfüllt von der Sehnsucht nach dem auf immer dahingeschwundenen Lichte des Tages; wo selbst ein Achill das Leben des ärmsten Tagelöhners auf Erden für wünschenswerter hält, als die Herrschaft über alle abgeschiedenen Seelen des Totenreiches. Sokrates zitiert mehrere dieser Homerischen Stellen und erklärt, Homer dürfe nicht zürnen, daß diese Schilderungen aus seinen Gedichten gestrichen werden müßten. Je schöner sie dichterisch sein möchten, desto weniger dürften tapfere und freie Männer darauf hören. Auch die furchterregenden Namen des Kokytos, des Styx und anderer Schrecken der Unterwelt seien zu beseitigen; zu manchem anderen möchten sie nützlich sein, für Krieger taugten sie nicht. Vielmehr, fährt Sokrates fort, darf der Tod für den Krieger keine Schrecken haben. Deshalb sind Wehklagen um den Tod von Freunden nicht eines tapferen Mannes würdig. Der Tüchtige muß sich sagen, daß der Tod für den Abgeschiedenen nichts Schreckliches ist, und er selbst muß Mannes genug sein, den Verlust eines Freundes, eines Sohnes, eines Bruders zu ertragen. Denn dem Starken soll seine eigene Person zum Leben genügen, er darf von nichts anderem abhängig sein. Sokrates verwirft daher die Schilderungen Homers von der unmäßigen Trauer des Achilles um den Tod des Patroklos, nicht weniger die allzu menschlichen Klagen der homerischen Götter über den Tod ihrer Heldensöhne. Solche Dichtungen, meint er, verderben den festen Sinn des Kriegers und verleiten ihn dazu, bei jedem Anlaß in Tränen auszubrechen. Ebenso unwürdig ist andererseits der Hang zu unmäßigem Gelächter, in das Homer sogar die Götter des Olympos, ihrer Würde nicht achtend, ausbrechen läßt. Ferner müssen die Krieger wahrheitsliebende Männer sein. Sokrates erinnert daran, daß er vorhin (II, 21) einige Lügen als erlaubt bezeichnet hatte, insofern sie, gewissermaßen als Heilmittel, nütjlichen Zwecken dienten. Als solche müssen sie aber ausschließlich denen vorbehalten bleiben, deren Obhut das gemeine Wohl anvertraut ist. Den Regierenden steht die Lüge den Feinden und den Bürgern des Staates gegenüber frei, wenn es das Wohl des Staates erheischt. Den Untertanen ist dagegen die Lüge zu verbieten, sie sind strenge zu bestrafen, wenn sie von den Regierenden dabei ertappt werden. Sodann müssen
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die Jünglinge zur Besonnenheit erzogen werden. Sie sollen lernen, ihren Oberen zu gehorchen und sich selbst zu beherrschen, namentlich in den Genüssen der Liebe, des Trinkens und Essens. Sokrates lobt hier ausnahmsweise einmal zwei Homerische Stellen, eine, in der Diomedes seinen Freund Sthenelos zur Besonnenheit und zum Gehorsam ermahnt, und eine andere, wo die Manneszucht des griechischen Heeres im Gegensatj zu dem lärmenden Aufmarsch der Trojaner hervorgehoben wird. Als anstößig bezeichnet er dagegen die Rede des Achilles, als sich dieser in dem Streite der Fürsten dazu hinreißen läßt, dem Oberfeldherrn Agamemnon die schwersten Beleidigungen ins Gesicht zu schleudern. Weiterhin wirft Sokrates dem Homer vor, daß seine Götter und Helden allzusehr f ü r materielle Genüsse empfänglich seien. Seinen weisesten Mann, den Odysseua, läßt er sagen, daß es nichts Schöneres auf Erden gebe als eine reich besetjte Tafel, und den Göttervater Zeus läßt er gar in den Armen der Hera, wie einen verliebten Jüngling, seine folgenschweren Beschlüsse über die Schicksale der vor Troja kämpfenden Völker vergessen. Vor allem nimmt Sokrates daran Anstoß, daß das göttliche Paar Homers sein Liebesfest auf der Berghöhe des Ida feiert,'anstatt sich in das eheliche Gemach zurückzuziehen. Uberhaupt wird von hier ab die Kritik zusehends kleinlicher, und es wird immer schwerer, sich in die unseren Anschauungen fernliegende moralisierende Betrachtungsweise Piatons hineinzufinden 2 7 ). Daß die Homerische Novelle vom Liebesabenteuer des Ares und der Aphrodite als sittenlos verworfen wird, ist nicht zu verwundern. Weniger verständlich ist es, daß Sokrates die naive Freude der Homerischen Helden am schönen Geschenken als Gewinnsucht tadelt und gar dem Achilles vorwirft, er habe sich d u r c h G e s c h e n k e bestimmen lassen, dem Priamos den Leichnam Hektors herauszugeben. Noch bezeichnender f ü r den Rationalismus der Kritik ist es, wie Sokrates das Opfer des Haupthaares beurteilt, das Achilles seinem toten Freunde als letzte Gabe mitgibt: daß ein Held soldie Umstände mit einem Leichnam gemacht habe, meint er, sei nicht zu glauben! Die Schleifung des toten Hektor um das Grabmal des Patroklos und die Abschlachtung der Gefangenen an dessen Scheiterhaufen gelten dem Sokrates natürlich als höchst barbarisch. Nach alle diesem beurteilt er den Charakter des Homerischen Achill als mißlungen: der Dichter habe dem Sohne einer Göttin und eines edlen Heldenvaters, trotj seiner Erziehung durch den weisen Chiron, einen höchst widerspruchsvollen, durch unfreien Sinn, Habgier und Hochmut verdorbenen Charakter verliehen. Sokrates beschließt diese Kritik mit der Feststellung, daß nicht nur Homer, sondern auch die anderen Dichter in der Darstellung der Götter und He-
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roen gesündigt hätten. Sie hätten ihnen menschliche Fehler und Laster angedichtet,die dem Wesen der Götter und der Göttersöhne durchaus fremd wären. Denn, wie schon erwähnt (II, 18), könne aus der Gottheit nur das Gute hervorgehen. Es wäre nun zu untersuchen, wie die Dichter das Wesen der Menschen dargestellt hätten. Da werde man freilich finden, daß auch sie die Menschen als durchweg ungerecht, viele Frevler als glücklich, viele Gerechte als unglücklich geschildert hätten, daß sie die Gerechtigkeit nur als ein zweifelhaftes Gut, den verborgenen Frevel dagegen als einen Gewinn gelten ließen. Indessen müsse die Beurteilung dieser dichterischen Anschauungen einstweilen ausgesetzt werden, da sie nicht zum Ziele führen könne, bevor nicht das Wesen der Gerechtigkeit aufgefunden worden sei. Sokrates erklärt hiernach die Untersuchung über den Gehalt der Dichtungen für abgeschlossen und geht zur Erörterung der dichterischen Formen über. Äußerst umständlich — man bemerkt, daß damals die Grundbegriffe der Ästhetik noch völlig neu waren — setjt er dem Adeimantos auseinander: Es gibt zwei Hauptgattungen der Dichtung, die erzählende und die nadlahmende Darstellung. Diese ist die dramatische. In der Tragödie und Komödie läßt der Dichter seine Personen unmittelbar zu uns reden, er muß also das Wesen und die Redeweise der Vorbilder seiner Gestalten n a c h a h m e n . Die erzählende Dichtung ist die epische, doch beherrscht sie das Epos nicht ausschließlich; auch der Epiker läßt seine Helden reden, bedient sich also insofern ebenfalls der dramatisch-nachahmenden Darstellung. Außerdem gibt es noch eine dritte Form der Dichtung — Sokrates führt als Hauptbeispiel den Dithyrambus an: gemeint ist also die Lyrik — , in weither der Dichter lediglich vorträgt, ohne von der Nachahmung Gebrauch zu machen. Es ist nun zu untersuchen, erklärt Sokrates, ob die nachahmende Dichtung im Staate zugelassen werden darf. Adeimantos vermutet, daß Sokrates die Frage stellen wolle, ob das Drama zu gestatten sei. Vielleicht! erwidert Sokrates, vielleicht handele es sich aber noch um mehr als das, er wisse noch nicht, zu welchem Ergebnis die Untersuchung führen werde. Zunächst möge Adeimantos erwägen, ob die kriegerischen Wächter des Staates Nachahmer sein dürften. Er erinnert ihn daran, daß in ihrem Staate ein jeder nur eine Tätigkeit ausüben solle; dem, der vielerlei unternehme, werde alles fehlschlagen. Das müsse auch von der Nachahmung gelten; wer vieles Verschiedene nachzuahmen suche, werde immer ein schlechter Nachahmer sein. Es sei nicht einmal möglich, daß ein Dramatiker zugleich Tragödiendichter und Komödiendichter sein könne 2 8 ). Nicht einmal die Schauspieler seien in der Tragödie und in der Komödie dieselben,
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auch sei niemand Rhapsode und Schauspieler iu einer Person. Die Veranlagungen des Menschen seien so zersplittert, daß man nicht nur außerstande sei, vielerlei nachzuahmen, sondern daß auch der Nachahmer das, was er als Künstler nachbilde und darstelle, in Wirklichkeit nicht zu leisten vermöge. Sokrates folgert hieraus: Wenn der Grundsag aufrechterhalten werden soll, daß unsere Wächter nichts anderes sein dürfen als gewissenhafte Hüter der Freiheit des Staates und darum von aller anderen Berufsarbeit befreit bleiben müssen, so dürfen sie auch nichts anderes tun und nichts nachahmen. Allenfalls dürfen sie gute Beispiele der Tapferkeit, Besonnenheit, Frömmigkeit nachahmen, vor allem Gemeinen und Häßlichen haben sie sich dagegen zu hüten, damit die Nachahmung sie nicht von der Wirklichkeit kosten läßt. Denn eine lange Zeit hindurch beharrlich fortgesetjte Nachahmung wird, besonders wenn sie in f r ü h e r Jugend beginnt, schließlich zur Gewohnheit, die sich im Charakter des Menschen festsetzt, so daß Gebärden, die Art des Ausdrucks und sogar die Art zu denken, die ein Jüngling zunächst nur nachahmt, ihm schließlich zur Natur werden 2 9 ). Deshalb dürfen die jungen Krieger keine Weiber nachahmen, vor allem keine bösartigen oder gar verliebte oder schwangere, ebensowenig Sklaven oder schlechte Männer und deren Schmähreden. Auch die Nachahmung toller Menschen sollen sie vermeiden, denn man muß zwar die Tollheit und Verderbtheit der Menschen studieren, darf aber nichts dergleichen darstellen. Sie sollen auch nicht das Treiben der Handwerker oder der Seeleute nachahmen, geschweige denn wiehernde Pferde, brüllende Stiere, rauschende Flüsse, das tosende Meer und andere Naturerscheinungen. Damit ist Sokrates stillschweiigends wieder zur Dichtkunst u n d z u r M u s i k übergegangen. Dichtung und Musik stehen bei Piaton in untrennbarer Gemeinschaft, eine Dichtung ohne Musik war ihm ein Unding. — Sokrates f ü h r t aus: Es gibt eine Art des Vortragsstils, die sich f ü r den Guten und Edlen schickt, und eine andere Art, deren sich die entgegengesetjten Naturen zu bedienen pflegen. Der wohlgeartete Mensch wird sich an die Taten und Reden edler Männer halten und sie gern erzählen, als ob es seine eigenen wären; vor allem, wenn seine Helden kraftvoll und zielbewußt handeln, weniger, wenn sie durch Leiden, Liebe oder Wein in Irrungen geraten. Mit Dingen und Menschen, die seiner unwürdig sind, wird er sich dagegen nicht befassen. Denn abgesehen davon, daß er zur Nachahmung derartiger Gestalten nicht geschickt ist, wird es ihm widerstreben, sich in die Formen des ihm Widerwärtigen hineinzupressen, e s s e i d e n n z u m S c h e r z 30 ). Also wird er die Form der Homerischen Dichtung wählen, seine Darstellung wird hauptsächlich Erzählung und nur zu
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einem kleinen Teile Nachahmung sein. Dagegen wird der schlechte Künst-
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ler, je geringer er ist, desto mehr auf Nachahmungen aller Art ausgehen, er wird keinen Gegenstand als seiner unwürdig verschmähen. E r wird den Donner, den Wind, das Knarren der Achsen, Hundegebell und Vogelstimmen darstellen, und damit wird sein Stil (AE£CS) ganz und gar nachahmend werden. Da die Verschiedenheiten der Gegenstände, die der gute Dichter auswählt, nur gering sind, wird er in der Regel mit einer Tonweise (ag/Mvia) und einem Rhythmus auskommen, während der andere aller Tonweisen und aller Rhythmen bedarf, weil die Buntscheckigkeit seiner Gegenstände ihn fortwährend zum Wechsel seiner Vortragsweise nötigt. Nun soll Adeimantos entscheiden, ob alle Dichter in dem neuen Staate zugelassen werden sollen oder nur die Meister des strengen Stils oder allenfalls die Vertreter eines aus jenen beiden Gegensägen gemischten Vortrages? Adeimantos entscheidet sich für die reine, strenge Kunst, wozu Sokrates bemerkt, daß die gemischte Kunst freilich reizvoll sei; für Knaben, Schulmeister und den großen Haufen sei vollends die Kunst der uneingeschränkten Nachahmung bei weitem die köstlichste. Also paßt der vielgewandte Künstler nicht in unseren Staat hinein. Denn allein bei uns gibt es nur einfache Menschen, der Schuster ist Schuster und nicht nebenbei Steuermann, der Bauer ist Bauer und nicht nebenbei Richter, der Krieger Soldat und nicht nebenbei Geschäftsmann. Wenn einer der virtuosen Dichter, die alle Dinge nachzuahmen vermögen, zu uns kommen sollte, so werden wir zwar ihm und seinem göttlichen Genie alle Ehren erweisen, ihn aber bedeuten, daß unsere Stadt seiner Kunst leider keine Stätte zu bieten vermag; wir werden sein Haupt salben und schmücken und ihn dann in eine andere Stadt entlassen. Dafür werden wir den ernsten und herben Dichter wählen und uns seiner Werke zur Erziehung unserer jungen Krieger bedienen. Nun, erklärt Sokrates, bleibt noch der Gesang übrig. Indessen ist darüber nichts Besonderes zu sagen, denn aus dem Vorigen ergibt sich alles von selbst. Der musikliebende Glaukon bekennt jedoch, daß ihm das nicht klar sei, er bittet, ihn auch hierüber zu belehren. Sokrates setjt ihm auseinander: Das Melos besteht aus Wort, Ton (&QfM>via) und Rhythmus, d a s d o m i n i e r e n d e E l e m e n t ist das W o r t , ihm müssen T o n und R h y t h m u s f o l g e n . Nun ist der Gehalt der Dichtung, den das Wort zum Ausdrude zu bringen hat, bereits bestimmt worden, vor allem haben wir alle weichlichen Klagen verbannt (oben I I I , 1). Dementsprechend müssen alle klagenden Weisen ausgeschlossen werden, ferner auch alle weichlichen und berauschenden Weisen, denn unsere Krieger müssen feste und nüchterne Wächter sein. Sokrates läßt sich von Glaukon einige dieser Weisen nennen, es sind zumeist lydische und
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jonische. Auf die Bemerkung Glaukons, daß alsdann nur die dorische 31 ) und die phrygische Weise übrigblieben, versetjt er, daß er auf Namen keinen Wert lege. E r läßt nur zwei Weisen gelten, eine, die dem kraftvollen Handeln des tapferen Kriegers entspricht, der unbekümmert um Tod und Wunden in die Schlacht zieht und auch im Unglück mit dem Schicksal ringt, und eine zweite, die den friedlichen Zuständen des Helden gemäß ist, wenn er zu den Göttern betet und mit seinen Gefährten freundlichen Umgang pflegt 3 2 ). Zu diesen Weisen, die die Stimmung wackerer Männer im Glück und im Unglück wiedergeben, bedarf es nicht der kunstvollen modernen Instrumente, die mit ihrem Reichtum an Tönen auf alle möglichen Harmonien berechnet sind. Es genügen die einfachsten Instrumente, Lyra und Kithara, selbst die Flöte ist entbehrlich. Dem Hirten mag seine Schalmei belassen werden. Hat «ich doch auch Apollon des einfachen Saitenspieles bedient, während sein unglücklicher Gegner Marsyas als der Vater jener vielstimmigen Instrumente anzusehen ist. Damit haben wir bereits begonnen, den durch Luxus überladenen Staat (vgl. oben I I , 13) zu reinigen, es soll nun darin fortgefahren werden. Sokrates geht zu den Rhythmen über. E r wiederholt, daß Ton und Rhythmus dem Wort zu folgen haben und mit ihm übereinstimmen müssen. Hiernach gilt von den Rhythmen dasselbe, was von den Harmonien gesagt wurde. Die Einzelheiten des Zwiegespräches, das Sokrates mit dem Glaukon über die Rhythmen führt, sind weniger bedeutend, interessant ist allenfalls eine Bemerkung Glaukons, daß sich alle Harmonien auf vier Grundgestalten der Töne aufbauten. Ob damit die Intervalle Terz, Quart usw. gemeint sind, mögen Kenner der Musikgeschichte auszumachen versuchen. Damit ist die geforderte Einheit des strengen Stils, die Übereinstimmung zwischen Wort, Ton und Rhythmus, endgültig begründet. Gehalt und .Stil der Dichtung aber, betont Sokrates mit großem Nachdruck, sind abhängig von dem Charakter der dichtenden Seele, deren Haupttugend die E i n f a l t sein muß: nicht die Einfältigkeit des beschränkten Menschen, sondern die edle Einfalt einer wahren und schönen Seele. Nur aus ihr kann das rechte Wort, die rechte Harmonie, die Schicklichkeit und der gute Rhythmus hervorgehen. Dies gilt nicht allein von der Musik, vielmehr sind alle Künste, nicht minder auch der Organismus des Menschen und aller Wesen diesen Gesetzen unterworfen. Überall finden wir Schicklichkeit, Harmonie und Rhythmus verschwistert mit der guten Rede und dem rechten Sinne, Unschicklichkeit, Disharmonie und Mangel an Rhythmus dagegen im Bunde mit der üblen Rede und der schlechten Gesinnung. Wie der Charakter des Menschen ist, so gestaltet sich das, was er nachahmt und darstellt.
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Dieser ganze Abschnitt ist insofern einer der merkwürdigsten in den Schriften Piatons, als er eigentlich seinen höchsten Sinn und seine letzte Bedeutung erst zu erreichen scheint, wenn man die Lehren des Philosophen auf eine Kunstform anwendet, von welcher Piaton noch nicht die entfernteste Vorstellung haben konnte: auf die moderne Symphonie und auf die noch modernere symphonische Dichtung. Das Wort, der Xóyo?, wäre hier der musikalische Gedanke, der „Empfindungsausdruck, als die Fähigkeit, in der Seele Gefühle, in der Phantasie Bilder zu erzeugen" 33 ). Man muß sich natürlich auch hier hüten, die lapidaren Gebote des großen Philosophen wörtlich aufzufassen und ihnen mit kleinlichen Einwendungen zu begegnen. Die moderne Musik hat sich sicherlich ihr Recht auf „unbegrenzte Mehrstimmigkeit, unbegrenzte Mannigfaltigkeit der Rhythmen" 3 4 ) erobert und ist damit weit über die Platonischen Anschauungen hinausgegangen, aber die Idee des strengen Stils, des wahren Ausdrucks in der Gestaltung des Schönen, der aus der Einfalt der Seele hervorgehen muß, die Idee der Einheit von Wort, Ton und Rhythmus — bekanntlich das oberste Stilgesetj Richard Wagners — werden bestehen bleiben, an ihnen werden auch die Experimente der modernsten Musik scheitern. „Das ganze Leben des Menschen bedarf der Eurythmie und der Harmonie", heißt es im Protagoras (Kap. 15). Diesen Gedanken hatte Sokrates am Schlüsse des letjten Kapitels wieder aufgenommen, um ihn wie folgt weiter zu entwickeln: Wir werden unserer Zensur nicht nur alle Dichtungen, sondern überhaupt die Leistungen aller Künstler und Handwerker unterwerfen. Audi sie werden wir verhindern, durch unschickliche, gemeine, ungeschlachte Bauten und andere Werke unsere Jugend zu verderben, nötigenfalls werden wir sie ausweisen. Denn unsere Jugend soll nicht unter den Gestaltungen des Schlechten und Häßlichen aufwachsen, sie soll nicht aus solchen Bildern, wie auf einer schlechten Weide, eine ungesunde geistige Nahrung erhalten, damit nicht das Schlechte, das sie täglich in kleinen Bissen aufnimmt, allmählich zu einem großen Übel anwächst. Vielmehr sollen die Jünglinge von vortrefflichen Werken umgeben sein, aus denen ihren Sinnen ein Hauch des Schönen entgegenweht, der ihnen, wie eine Brise aus reinen Gegenden, Gesundheit zuträgt, auf daß sie von früher Jugend an vom Wesen des Schönen durchdrungen werden. Keine Kunst aber ist so wirksam wie die Musik. Denn nichts dringt so tief in die Seele ein, nichts haftet da so fest wie Harmonie und Rhythmus. Wie das Wesen der Musik die höchste Schicklichkeit ist, so erweckt sie in der Seele das Gefühl für alles Schickliche. Wer in der Musik die rechte Erziehung genossen hat, wird auch in anderen Künsten das Mißratene vom Schönen unterscheiden lernen; das Häßliche wird er ablehnen, das Vorzügliche wird ihm vertraut erscheinen,
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bevor er noch die Gesetje des Schönen erkannt hat. Später wird er auch diese mit leichter Mühe begreifen, da sie bereits in seiner Seele vorgebildet sind. So wird der vollendete Musiker endlich die Ideen der Besonnenheit, der Tapferkeit, der freien und großen Gesinnung erkennen, sie überall wiederfinden, wo im Leben ihre rechten Abbilder erscheinen, und schließlich wird er entdecken, daß sie seinem Innersten wesensgleich sind. Alsdann wird er dem, der zu schauen versteht, den herrlichsten Anblick darbieten, den man auf Erden genießen kann: das Bild eines Mannes, dessen Wesen mit jenen Urbildern alles Edlen und Schönen in vollkommener Harmonie steht. Das Schönste wird ihm als das Liebenswerteste erscheinen, und Menschen von dieser Art wird er lieiben. Glaukon bemerkt, daß es ihm auf die Schönheit der Seele, nicht auf vollendete körperliche Schönheit ankommen werde. Mit einem Scherzwort über den Geschmack des verliebten Jünglings stimmt Sokrates zu, um dann wieder sehr ernsthaft fortzufahren: Zwischen der Lust und der Tugend kann keine Gemeinschaft bestehen, denn die Lust ist ihrem Wesen nach zügellos und übermütig. Im Liebesgenuß erreicht sie ihre höchsten Grade. Darum ist sie eines musischen Mannes nicht würdig, denn seine Liebe ist die zum Gesitteten und Schönen, eine Liebe in geistiger Klarheit und innerer Harmonie. Er wird daher nichts in seine reine Liebe hineintragen, was mit Tollheit und Zügellosigkeit verwandt ist, und weder er noch sein Geliebter werden ihre Liebe durch Lust erniedrigen. Darum soll das Gesetj in unserem Staate dem Liebenden gebieten, den Geliebten nur um des Schönen willen zu lieben, er soll ihn umarmen wie der Vater seinen Sohn, er soll im Umgänge mit dem Geliebten auch den Anschein vermeiden, als ob er mehr als dieses genösse. Sonst wird ihn der Vorwurf unmusischen Wesens und mangelnden Schönheitssinnes treffen. — Damit, schließt Sokrates, hat die Betrachtung der musischen Kunst ihren würdigen Abschluß gefunden, denn alles Musische muß in der Liebeskunst des Schönen ihr letztes Ziel erreichen 85 ). „Musik für die Seele, Gymnastik für den Körper" lautete der erste Grundsa^, den Sokrates zur Erziehung seiner Krieger aufgestellt hatte. Er wendet sich daher jeljt der Gymnastik zu. Au'ch hierin sind die Krieger von Jugend auf sorgfältig auszubilden, indessen darf ein wichtiger Unterschied nicht übersehen werden: ein tüchtiger Körper vermag nicht eine tüchtige Seele zu bilden, wohl aber vermag eine vortreffliche Seele den Leib so gut wie möglich zu gestalten 36 ). Es wird daher im allgemeinen genügen, den Verstand zu schärfen, um ihm alsdann die Körperpflege zu überlassen. Indessen will Sokrates wenigstens die Grundzüge der Gymnastik entwickeln. Er führt aus: Daß die
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Krieger sich von der Trunkenheit, die einem guten Wächter am wenigsten ziemt, fernzuhalten haben, wurde vorhin schon erwähnt. Wie steht es nun mit ihrer Ernährung? Sollen sie sich ähnlich ernähren wie die berufsmäßigen Athleten? Glaukon ist geneigt, die Frage zu bejahen, indessen belehrt ihn Sokrates: Die einseitige Ernährungsweise der Athleten — die hauptsächlich auf die Vertilgung gewaltiger Fleischmassen hinauslief — ist für die Gesundheit bedenklich, sie macht schläfrig und geistesträge, für die Krieger ist deshalb eine einfache und kriegsmäßige Kost festzusetjen. Die üppige syrakusische Kochkunst, die vielgerühmten attischen Kuchen sind den Kriegern ebenso schädlich wie korinthische Dirnen. Mithin gilt für die Gymnastik des Kriegers dieselbe Grundregel wie für die Musik: das Gesetj der Einfachheit; die Gymnastik bewährt sich also als rechte Schwester der Musik. Jene leiblichen Genüsse gleichen den mannigfaltigen weichlichen Tonweisen, vor denen wir unsere Krieger schüren wollten; wie diese ihre Seelen schlaff machen, so verzärteln jene ihre Leiber. Sie haben Zügellosigkeit und Krankheiten zur Folge, und damit öffnen im Staate Heilanstalten und Gerichtsstätten ihre Tore. Richter und Heilkünstler prahlen mit ihrer Kunst, und selbst edle Männer verderben ihre Zeit mit diesen Dingen. Das sicherste Anzeichen der schlechten Zucht im Staate ist, daß nicht nur gemeine und untergeordnete Leute, sondern auch Männer, die sich einer freien Bildung rühmen, die Dienste der Ärzte und Richter in Anspruch nehmen. Ist es nicht schmählich und ein Beweis der Unkultur, fährt Sokrates mit gesteigerter Emphase fort, daß sie sich das Recht von Richtern zuteilen lassen müssen, weil sie es allein nicht finden können? Und ist es nicht noch schmählicher, daß mancher nicht nur einen großen Teil seines Lebens als Kläger und Beklagter vor Gericht zubringt, sondern auch noch stolz darauf ist, daß er unter dem Schutje der Justiz andere zu übervorteilen, sich selbst aber durch allerlei Schliche und Winkelzüge der Gerechtigkeit zu entziehen versteht? Ohne zu begreifen, daß es viel schöner und würdiger ist, zeitlebens niemals eines schläfrigen Richters zu bedürfen? Ist es ferner nicht schmählich, nicht etwa einer Wunde oder einer zufälligen Krankheit wegen den Arzt zu rufen, sondern deshalb, weil man durch ein Schlemmerleben seinen Bauch mit faulen Säften und Dünsten wie einen Sumpf angefüllt hat? Daß man die feinen Asklepiaden nötigt, für ekelhafte neue Krankheiten ekelhafte Namen zu erfinden? So war es nicht zu A&klepios Zeiten, wie ja auch seine Söhne (Machaon und Podalirius) die Helden vor Troja nur mit einfachen Mitteln heilten. Die Verderbnis der Medizin beginnt mit jenem Herodikos, der zuerst dazu überging, sich selbst und seine Patienten unnüg zu quälen. Herodikos litt an einer unheilbaren
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Krankheit und bot seine ganze Kunst auf, das unabwendbare Ende möglichst lange hinauszuschieben. So erreichte er zwar ein hohes Alter, aber der Erfolg seiner Weisheit war eigentlich nur der, daß sein ganzes Leben zu einem langen, qualvollen Sterben wurde. Derartige Künste hat Asklepios verschmäht. Er wußte, daß jedermann im Staate seine Aufgabe erfüllen soll, und daß der tätige Mann keine Zeit hat, sein Leben hindurch krank zu sein. Wunderlicherweise sehen das die einfachen Handwerker ein, die Reichen dagegen nicht. Wenn ein Handwerker krank wird, verlangt er von seinem Arzte ein einfaches Mittel, etwa ein Brechmittel oder ein Abführmittel; wenn aber der Arzt ihm eine umständliche Diät oder andere künstliche Mittelchen verordnet, so erklärt er ihm, daß er sein Gewerbe zu betreiben und zu umständlichen Kuren keine Muße habe. Er wendet sich darauf wieder ruhig seiner gewohnten Lebensweise zu und wird entweder gesund oder, wenn sein Körper dem nicht gewachsen ist, so stirbt er gelassen und wird mit seinem Leben auch seines Leidens quitt. Denn an seinem Leben liegt ihm nichts, wenn er nicht sein Handwerk ausüben kann. Wie verhält sich aber der Reiche? Er hat wohl keine Lebensaufgabe, die sein Dasein ausfüllt? Der Dichter Phokylides sagt allerdings, daß man nach der Tugend streben solle, nachdem man seinen Lebensunterhalt gesichert haibe. — Doch wohl schon früher! meint Glaukon. — Darüber wolle er jetjt nicht streiten, erwidert Sokrates, gegenwärtig komme es allein darauf an, ob der Reiche sein Leben durch das Streben nach der Tugend lebenswert zu gestalten habe, und ob er in diesem Bestreben behindert werde, wenn er mit einer Krankheit Kultus treibe. Glaukon antwortet: Die übertriebene Pflege des Körpers, die über eine vernünftige Gymnastik hinausgeht, ist überall hinderlich, sie erschwert sogar die Ausübung eines ruhigen Staatsamtes. — Hauptsächlich aber, fährt Sokrates fort, hemmt sie alles geistige Streben. Solche Menschen glauben immer krank zu sein, sie klagen beständig über Kopfschmerzen und Schwindel und suchen gar die Ursache dieser Zustände in der geistigen Arbeit. Sie versperren sich damit den Weg zu jeglicher Tüchtigkeit. Das hat Asklepios erkannt. Er heilte deshalb nur Menschen von gesunder Natur, deren Gesundheit wiederherzustellen war, die Menschen mit zerrüttetem Körper überließ er dagegen ihrem Schicksal. Er diente dem Staate, wenn er Schwächlingen nicht dazu verhalf, ein unnütjes Leben zu fristen und ebenso schwächliche Kinder zu zeugen. Sokrates schildert darauf nochmals die Kuren der Asklepiossöhne an den Helden des Trojanischen Krieges. Auch sie, meint er, würden ihre Kunst jedem Schwächling versagt haben, wenn er auch reicher gewesen wäre als der König Midas. Unziemlich sei deshalb die von den Dichtern erfundene ^ Sage, daß Asklepios vom Blitj erschlagen wäre, weil er einem reichen 4
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Manne seine Kunst für Geld verkauft hätte. Denn er, ein Sohn des Apollon, könne nicht gewinnsüchtig gewesen sein. Glaukon, dem offenbar die von Sokrates geforderten Einschränkungen der Heilkunst etwas bedenklich erscheinen, wagt den Einwurf, daß ein Arzt doch nur dann tüchtig werden könne, wenn er Gesunde und K r a n k e a l l e r A r t zu behandeln lernte, wie sich ja auch die Richter mit allen menschlichen Charakteren vertraut machen müßten. Oder ob Sokrates für seinen Staat etwa keine tüchtigen Ärzte und Richter wünsche? — Die wünsche er allerdings, erwidert Sokrates, indessen rede Glaukon von zwei gänzlich verschiedenen Dingen. E r setjt ihm auseinander: Ein vollendeter Arzt muß allerdings von Jugend auf mit möglichst vielen Krankheiten und mit den erbärmlichsten Leibern umgehen, sogar sollte er selbst nicht von fester Gesundheit sein, sondern müßte alle möglichen Krankheiten am eigenen Leibe erfahren haben 3 7 ). Der künftige Richter muß dagegen in einer reineren Sphäre aufwachsen. Er darf nicht, wie der Arzt, schon in früher Jugend mit den Gebrechen vertraut werden, die er später zu bekämpfen hat. Vielmehr ist er von den Schlechtigkeiten der Menschen fernzuhalten, und noch weniger darf er aus seinem Innern einen Zugang zum Bösen finden. Seine Seele muß rein erhalten werden, er muß die Einfalt jener edlen Seelen besitzen, die in ihrer J u g e n d leicht betrogen werden, weil sie das Böse nicht kennen und es darum auch nicht in andern vermuten. Darum taugen nur ältere Männer zu Richtern, die das Böse erst durch Lebenserfahrungen kennengelernt, nicht aber dessen Anschauung aus ihrem eigenen Wesen geschöpft haben. Ein verschlagener und mißtrauischer Mensch, der sich vor anderen hütet, weil er selbst arglistig ist, der an keine Redlichkeit glaubt, weil es mehr schlechte als gute Menschen gibt, scheitert mit seiner eingebildeten Weisheit, wenn er edlen und reiferen Männern begegnet, denn für das Wesen einer reinen Gesinnung besitjt er kein Verständnis. Die Verderbtheit vermag weder sich noch die Reinheit zu erkennen, die Reinheit wird aber im L a u f e der Zeit zur Erkenntnis ihres eigenen Wesens und zur Erkenntnis des Bösen gelangen. Nur aus einer reinen Gesinnung kann daher die Weisheit eines guten Richters hervorgehen. Also wird das Gesetj unseres Staates gebieten: Ärzte und Richter sollen sich nur der innerlich noch gesunden Leiber und Seelen annehmen, um deren Gebrechen durch Kuren oder durch Strafen zu heilen. Die völlig zerrütteten Leiber soll der Arzt dagegen ihrem Schicksal überlassen, wie der Richter die unverbesserlichen Verbrecher dem Tode überantworten wird. Unsere wohlerzogene, geistig besonnene, körperlich gesunde Jugend wird indessen der richterlichen Zucht gar nicht, der ärztlichen Pflege nur in Notfällen bedürfen.
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Nach diesen Feststellungen berichtigt Sokrates den Grundsatj, von dem er ausgegangen war, daß der K ö r p e r durch Gymnastik, die Seele durch Musik erzogen w e r d e n müsse. Das, e r k l ä r t er, ist n u r bedingt richtig, in W a h r h e i t dient auch die Gymnastik in erster Linie der Pflege der Seele. Die A u f g a b e der Gymnastik ist nicht, die rohe K ö r p e r k r a f t , s o n d e r n die W i l l e n s k r a f t zu stählen 3 8 ), die Aufgabe der Musik ist, eine milde Gesinnung u n d Gesittung zu erzeugen. Diese beiden Eigenschaften des Gemütes t r e t e n in Widerstreit, wenn eine der beiden K ü n s t e einseitig betrieben wird. W e r ausschließlich die Gymnastik pflegt, ohne sich mit Musik zu befassen, wird r a u h u n d h a r t im Ü b e r m a ß werden, wer allein seinen geistigen Neigungen folgt, wird allzu weich. I n der Erziehung unserer K r i e g e r müssen sich d a h e r beide K ü n s t e zu einer harmonischen W i r k u n g vereinigen: die Willenskraft, die aus der h a r t e n Gymnastik hervorgeht, u n d die s a n f t e Gesinnung der rechten geistigen Bildung müssen im Verein m i t e i n a n d e r die rein sittlichen T u g e n d e n der T a p f e r k e i t u n d der Besonnenheit erzeugen. W e r sich ganz u n d gar der Musik ergibt, wer sich mit i h r e n weichen, süßen, r ü h r e n d e n Weisen die ganze Seele e r f ü l l e n läßt, so d a ß er verzückt u n d beständig Melodien s u m m e n d durchs Leben schreitet, wird allmählich durch die Macht der Musik umgewandelt. Besitjt er einen h a r t e n Willen, so wird zwar zunächst das spröde Eisen dieses Willens erglühen u n d zu biegsamem Stahl werden. W e n n er aber nicht rechtzeitig innehält, so wird die H ä r t e des Stahles wieder dahinschmelzen u n d zulegt vollständig verschwinden 3 9 ). D a n n sind die Sehnen seiner Seele gleichsam durchschnitten, er wird n u r noch ein schwächlicher Krieger sein. Sein geschwächter Wille wird ihn äußerst reizbar machen, kleine Anlässe w e r d e n genügen, um ihn in einen Z o r n zu versetjen, der freilich ebenso leicht wieder zu beschwichtigen ist. Menschen dieser A r t w e r d e n d a h e r jähzornig u n d a u f b r a u s e n d , anstatt energisch, beherrscht von düsteren Stimmungen. Wer auf der a n d e r e n Seite nichts als Gymnastik treibt u n d seinen Leib durch starke E r n ä h r u n g pflegt, ohne sich u m Musik u n d um Geistiges zu b e k ü m m e r n , wird zunächst von Selbstvertrauen u n d Mut e r f ü l l t w e r d e n . W e n n er indessen dabei v e r h a r r t u n d mit k e i n e r Muse Gemeinschaft pflegt, wenn er den Wissensdrang, der etwa in seiner Seele lag, d a u e r n d vernachlässigt, so wird dieser allmählich mangels jeglicher Pflege absterben. Der Mensch wird ein F e i n d der klugen Rede u n d der musischen K u n s t werden, er wird nicht durch Ü b e r r e d u n g u n d G r ü n d e wirken, s o n d e r n seine Sache wie ein wildes Tier, durch Roheit u n d Gewalt v e r t r e t e n . I n D u m p f h e i t u n d Unwissenheit wird er ein unrhythmisches u n d anmutloses Leben f ü h r e n . So hat ein Gott den Menschen die beiden K ü n s t e der Gymnastik u n d der Musik nicht zum B e h u f e des Leibes u n d der Seele verliehen, sondern zum B e h u f e der W i l l e n s k r a f t u n d der Pflege 4"
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der Weisheit, damit der Mensch durdi die rechte Mischung beider zur Harmonie seines Wesens gelange. Wer dieses Ziel erreicht, ist allein der vollendete Musiker, u n d e i n e s s o l c h e n L e i t e r s b e d a r f u n s e r S t a a t s wesen. Mit diesen legten Worten wird der Gedanke ausgesprochen, auf den die Entwicklung des Dialoges schon länger vorbereitete: die Krieger sollen nicht nur, wie es zuerst hieß, die getreuen Wächter des Staates, sondern die herrschende Kaste sein, deren Führer zugleich die Regenten des Staates sind. Diesen Gedanken begründet Sokrates — nachdem er noch kurz angedeutet hat, daß zur gymnastischen Ausbildung auch allerlei Sport, wie Jagd und Pferderennen, gehören soll — folgendermaßen: Er geht von der Frage aus, wer von den Wächtern zu befehlen und wer zu gehorchen hat. Zu gehorchen haben die Jüngeren, zu befehlen die Älteren, von ihnen aber nur die Vortrefflichsten, Wachsamsten, die durch ihre Einsicht und ihre Fähigkeiten am besten zur Bewachung des Staates geeignet sind und dem Staate das größte Interesse entgegenbringen. Man interessiert sich am meisten für das, was man liebt, und man liebt am meisten das, von dessen Gedeihen man sein eigenes Wohlergehen abhängig macht. Aus den Wächtern sind deshalb die Männer auszuwählen, die während ihres ganzen Lebens einzig das erstreben, was dem Staate nütjlich ist, weil ihre eigenen Interessen keine anderen sind als das Interesse des Staates. Also sind die Krieger genau daraufhin zu beobachten, ob sie auf allen Lebensstufen diesem Grundsag unwandelbar treu bleiben und sich weder durch Verführungen noch durch Gewalt bestimmen lassen, etwas anderes zu begehren und zu meinen. — Hieran schließt Sokrates eine umständliche, etwas scholastische Auseinandersetjung über den freiwilligen und unfreiwilligen Meinungswechsel. Freiwillig sei der Meinungswechsel, wenn man eine falsche Meinung mit einer wahren Meinung vertausche, unfreiwillig, wenn man das Gut der wahren Meinung gegen das Übel der falschen aufgebe. Der unfreiwillige Meinungswechsel werde entweder durch Diebstahl oder durch Gewalt oder durch Trug herbeigeführt: durch Diebstahl, wenn die wahre Meinung durdi falsche Belehrung oder durch die Zeit — das Vergessen — entwendet werde, durch Gewalt, wenn der Meinungswechsel durch Schmerzen umd Leiden erzwungen worden sei, durch Trug, wenn jemand der Lust oder der Furcht unterliege. Die Prüfung der festen Gesinnung der Krieger muß frühzeitig beginnen und bis zur Reife des Mannesalters fortgeseljt werden. Schon den Knaben soll man Aufgaben stellen, über die sie leicht die ihnen erteilten Lehren vergessen könnten, alsdann muß man sie beobachten, ob sie ihrer eingedenk
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bleiben. Man soll ihnen Mühen und Schmerzen bereiten und sie in Wettkämpfen aller Art erproben, man muß zu erforschen suchen, ob sie gegen Furcht und Schrecken gefeit sind; schließlich soll man sie auch in sinnliche Versuchungen führen, um das Gold der rechten Gesinnung aus der unedlen Masse herauszufinden. Wer überall standhaft bleibt und sich als guter Wächter seiner eigenen Seele bewährt, wer den Rhythmus und die Harmonie, die er in der Musik erlernt hat, auch in seiner Lebensführung treu bewahrt, so daß er makellos aus allen Prüfungen hervorgeht, die ihm als Knaben, als Jüngling und als Mann auferlegt werden: der ist als Herrscher und Wächter des Staates einzusehen, ihm sind im Leben und nach seinem Tode die höchsten Ehren zu erweisen. Aus einer solchen Erziehung müssen die rechten Wächter hervorgehen, Wächter gegen die Feinde von außen und über die Freunde im Innern, damit die einen nicht die Macht, die anderen nicht den Willen haben, Unrecht zu verüben. Die Jugend muß aber zu Dienern und Helfern der Herrscher erzogen werden. Darauf geht Sokrates zu dem schwersten Problem des dritten Buches über: Ist es möglich, den Wächtern jene hohen Tugenden unmittelbar, im Laufe eines einzigen Menschenlebens, a n z u e r z i e h e n , wonach schon die erste Generation vollendet aus der Schule 'der kriegerischen Zucht hervorgehen würde, oder müssen die geforderten Eigenschaften den Kriegern vielmehr a n g e z ü c h t e t werden, sodaß das Ziel der Erziehung erst nach Generationen erreicht werden kann? Nadi dem Grundsätze der Platonischen Ethik, daß alle Tugend lehrbar ist, daß eine klare, durch gründliche Belehrung erreichbare Einsicht in das Wesen der Tugend notwendig auch ein tugendhaftes Handeln zur Folge hat, muß sich Piaton für die erste Alternative entscheiden, indessen ist es ihm klar, daß er hier vor unübersteiglichen Schranken steht. In diesem Dilemma findet er einen genialen Ausweg. E r erklärt den Satj, daß die Tugenden des guten Wächters schlechthin anerzogen werden können, für wahr, den zweiten Sag dagegen, daß es sich vorwiegend um ererbte, angezüchtete Eigenschaften handle, für eine notwendige Fiktion — ähnlich den regulativen Prinzipien Kants oder den Fiktionen Vaihingers — , von deren Wahrheit man die Wächter und Bürger des Staates zu ü b e r r e d e n habe. Die Schwierigkeiten des kühnen Versuches treten in der Darstellung dieser Gedanken deutlich hervor. Sokrates knüpft an die vorhin (II, 21; I I I , 3) vorgetragene Lehre an, daß es erlaubte Lügen gebe. Von diesem Recht müsse er jetjt Gebrauch machen, um eine edle Lüge vorzubringen. Sie sei nicht neu, sondern schon den Phöniziern bekannt gewesen; in der alten Zeit habe sie — die aristokratische Anschauung von der Erblichkeit der Tugend — vielfach geherrscht, in der demokratischen Gegenwart komme sie freilich kaum noch vor und werde nur schwer wieder
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Eingang finden. Sokrates zögert, er bekennt, daß er kaum wisse, woher er den Mut zu seinem Vorhaben nehmen und in welche Worte er die Lehre einkleiden solle. Schließlich führt er aus: Wir müssen den Herrschern, den Kriegern und sodann den Bürgern einreden, daß die Erziehung, die wir den Wächtern zuteil werden ließen, nur ein Traum gewesen sei, daß sie in Wirklichkeit mitsamt ihren Waffen und Rüstungen im Schöße der Erde gebildet und als fertige Männer aus ihr emporgestiegen seien; daß sie deshalb alles der Muttererde verdankten und nun für ihre Mutter zu streiten, ihre Mitbürger aber als Brüder ans demselben mütterlichen Schöße zu achten hätten. Nach diesem Mythos sind zwar alle Bürger desselben Staates Brüder, aber der Gott, der sie im Schoß der Erde schuf, hat sie aus verschiedenen Stoffen geformt. Den zum Herrschen Berufenen hat er Gold beigemischt, ihren kriegerischen Helfern Silber, den Bauern und Handwerkern Eisen und grobes Erz. Weil nun jeder seinesgleichen zu erzeugen pflegt, so wird das Metall der Väter meistens in den Kindern wiederzufinden sein. Da indessen alle miteinander verwandt sind, wird zuweilen aus einem goldenen Geschlecht ein silberner Sproß, aus einem silbernen Geschlecht ein goldener Sproß hervorgehen und so fort. Darum m