Phänomenologie der Zeit 9783495860564, 9783495486276


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Inhalt
Vorrede
1. Vorbereitungen
1.1 Attribute und Existenz-Inductiva
1.2 Identität und Einzelheit
1.3 Situationen
1.4 Verhältnisse und Beziehungen
2. Die primitive Gegenwart und ihre Entfaltung
2.1 Das Geschehen der primitiven Gegenwart
2.1.1 Der Ursprung absoluter Identität
2.1.2 Primitive Gegenwart
2.1.3 Raum und Zeit
2.1.4 Dauer
2.2 Die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt
3. Die Schichten der Zeit
3.1 Übersicht
3.2 Die Modalzeit
3.3 Die Lagezeit
3.3.1 Prämetrische Lagezeit
3.3.2 Metrisierte Lagezeit
3.3.3 Reine Lagezeit
3.4 Die modale Lagezeit
3.5 Offene und geschlossene Zukunft
3.6 Anfang und Ende der Zeit
4. Aporien der Zeit
4.1 Aristoteles, Skeptiker und Augustinus
4.2 McTaggart
4.3 Die Aporie der Erinnerung
4.4 Die Aporie des Ankommens der Gegenwart
5. Zeit als Geschichte
5.1 Begriff der Geschichte
5.2 Die Aufgabe des Historikers
5.3 Der Gang der Geschichte
5.4 Störungsstellen im Gang der Geschichte
6. Die Zeit der Philosophie
6.1 Sukzession als Leitmotiv der Schichtenmischung
6.2 Heidegger
6.3 McTaggart
6.4 Husserl
6.5 Bergson
6.6 Deutscher Idealismus
6.7 Kant
6.8 Leibniz
6.9 Suarez
6.10 Augustinus
6.11 Plotin
6.12 Aristoteles
6.12.1 Die Lagezeit
6.12.2 Das Nun
6.13. Platon
Personenregister
Sachregister
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Phänomenologie der Zeit
 9783495860564, 9783495486276

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Hermann Schmitz

Phänomenologie der Zeit

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860564

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B

Hermann Schmitz Phänomenologie der Zeit

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Im üblichen Verständnis gilt die Zeit als Rahmen und Ordnungsform des Geschehens. Die phänomenologische Betrachtungsweise gräbt tiefer bis zu den Schichten der Zeit, die für Identität, Subjektivität, Einzelheit und die Welt (im bestimmten Singular) benötigt werden. Vorbereitende Untersuchungen im 1. Kapitel gestatten unter anderem, die ursprünglich intensive Natur der Dauer und den Überschuss der offenen Zukunft über die geschlossene aufzudecken. Anfang und mögliches Ende der Zeit und deren Aporien werden ebenso behandelt wie die Zeitform des Ganges der Geschichte. Ein ausführliches Schlusskapitel sichtet die Geschichte der Zeit in den Händen der Philosophen.

Der Autor: Hermann Schmitz, geb. 1928 in Leipzig, promoviert 1955, habilitiert für Philosophie 1958; 1971 bis 1993 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Begründer der Neuen Phänomenologie. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze. Zuletzt im Verlag Karl Alber erschienen sind: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung (2007), Logische Untersuchungen (2008), Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie (2009), Jenseits des Naturalismus (2010), Bewusstsein (2010), Das Reich der Normen (2012), Kritische Grundlegung der Mathematik (2013). 2011 gab Hans Werhahn den Gesprächsband Neue Phänomenologie. Hermann Schmitz im Gespräch heraus.

https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Hermann Schmitz

Phänomenologie der Zeit

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48627-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86056-4

https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Inhalt

Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbereitungen . . . . . . . . . . . . . 1.1. Attribute und Existenz-Inductiva 1.2. Identität und Einzelheit . . . . . 1.3. Situationen . . . . . . . . . . . . 1.4. Verhältnisse und Beziehungen .

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12 12 15 23 30

2. Die primitive Gegenwart und ihre Entfaltung . 2.1. Das Geschehen der primitiven Gegenwart 2.1.1. Der Ursprung absoluter Identität . 2.1.2. Primitive Gegenwart . . . . . . . . 2.1.3. Raum und Zeit . . . . . . . . . . . 2.1.4. Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Die Schichten der Zeit . . . . . . . . . 3.1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . 3.2. Die Modalzeit . . . . . . . . . . 3.3. Die Lagezeit . . . . . . . . . . . 3.3.1. Prämetrische Lagezeit . . 3.3.2. Metrisierte Lagezeit . . . 3.3.3. Reine Lagezeit . . . . . . 3.4. Die modale Lagezeit . . . . . . . 3.5. Offene und geschlossene Zukunft 3.6. Anfang und Ende der Zeit . . . .

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Inhalt

4. Aporien der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Aristoteles, Skeptiker und Augustinus . . . 4.2. McTaggart . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Die Aporie der Erinnerung . . . . . . . . . 4.4. Die Aporie des Ankommens der Gegenwart

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5. Zeit als Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Begriff der Geschichte . . . . . . . . . . 5.2. Die Aufgabe des Historikers . . . . . . . 5.3. Der Gang der Geschichte . . . . . . . . 5.4. Störungsstellen im Gang der Geschichte

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6. Die Zeit der Philosophie . . . . . 6.1. Sukzession als Leitmotiv der Schichtenmischung . . . . . 6.2. Heidegger . . . . . . . . . . 6.3. McTaggart . . . . . . . . . . 6.4. Husserl . . . . . . . . . . . . 6.5. Bergson . . . . . . . . . . . . 6.6. Deutscher Idealismus . . . . 6.7. Kant . . . . . . . . . . . . . 6.8. Leibniz . . . . . . . . . . . . 6.9. Suarez . . . . . . . . . . . . 6.10. Augustinus . . . . . . . . . . 6.11. Plotin . . . . . . . . . . . . . 6.12. Aristoteles . . . . . . . . . . 6.12.1.Die Lagezeit . . . . . . 6.12.2.Das Nun . . . . . . . 6.13. Platon . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

6 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Vorrede

Um dieses Buch richtig zu verstehen, ist es nötig, sich den phänomenologischen Standpunkt, auf dem es geschrieben ist, in seinen Stärken und seinen Schwächen vor Augen zu führen. Die Phänomenologie entspringt der Aufgabe und dem Bedürfnis des Menschen, sich auf sein Sichfinden in seiner Umgebung zu besinnen. Dieses Bedürfnis führt ihn unvermeidlich auf die Frage: Was muss ich gelten lassen? Dieser Frage kann der sich Besinnende nur gerecht werden, wenn er bereit ist, hinter alle Zumutungen, die die Auswahl von Themen einschränken oder deren Bearbeitung in eine abgeschirmte Richtung lenken, in kritischer Besinnung zurückzugehen. Er muss also offen sein für alle Anregungen, die seine selbst gewonnenen oder ihm nahe gebrachten Überzeugungen in Frage stellen können: offen für alles, was er erfährt. Andererseits ist er bei seiner Prüfung einsam: Er kann nur selbst entscheiden, was er gelten lassen muss. Das ist die Lage des Phänomenologen. Er sucht nach Phänomenen. Ein Phänomen für jemand zu einer Zeit ist ein Sachverhalt, dem der Betreffende dann im Ernst, auch wenn er sich noch so sehr anstrengt, seine Annahmen zu variieren, nicht den Glauben verweigern kann, dass es sich um eine Tatsache handelt. Die doppelte Relativierung dieses Phänomenbegriffs ist zu beachten. Es kann nicht vorausgesetzt werden, dass alle Menschen in der Auslese der Phänomene einig sein können, und auch nicht, dass der sich Besinnende sich mit sich immer darin einig sein wird. Phänomenologie ist eine empirische Wissenschaft aus einsamer, aber weit offener Erfahrung, die immer wieder der Überprüfung bedarf, in welchem Maß sie gemeinsam und beständig ist. Das ist ihre Schwäche. Ihre Ergebnisse können nicht mit dem Vertrauen, dass jeder sie beim Einhalten schematischer und im Rah7 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Vorrede

men des Menschenmöglichen zumutbarer Vorschriften überzeugend reproduzieren kann, abgespeichert werden. Dieser Schwäche steht die Stärke gegenüber, dass es keine andere als die phänomenologische Methode gibt, sich mit wachem Geist von der Erfahrung überzeugen zu lassen, und keine Instanz als die unwillkürlich sich aufdrängende Erfahrung, um herauszufinden, welche Annahmen beliebig und konventionell und welche für die Anerkennung als wahr und auf Tatsachen zutreffend unverfügbar sind. Im Besitz dieses Schlüssels einzig möglicher gedanklicher Rechtfertigung erhebt die Phänomenologie einen universellen erkenntnistheoretischen Anspruch, der nicht auf eine Domäne (z. B. die menschliche Lebenswelt im Gegensatz zur Welt der Naturwissenschaft) eingeschränkt ist. Wie weit man damit kommt, ist a priori nicht vorauszusehen. Das hochgesteckte Ziel der Phänomenologie besteht darin, in Gestalt von Phänomenen lauter Universalien aufzudecken, die allen Menschen einleuchten können. Auf dem Weg zu diesem Ziel gibt es viele Anlässe zur Ermutigung. Kein Vernünftiger wird bestreiten, dass die Menschen normalerweise zwei Beine und nicht fünfzig davon, nicht mehr als eine Nase und ein Herz haben. Das sind naturwissenschaftliche Tatsachen, abstrahiert von der Erfahrungsbasis der primären Sinnesqualitäten, die den Vorzug haben, in besonderem Maß intermomentan und intersubjektiv identifizierbar, messbar und selektiv variierbar zu sein, daher ausgezeichnet für Experiment und Statistik geeignet zu sein. Die Naturwissenschaft beschränkt ihr Datenmaterial, an dem sie ihre Theorien durch Prognosen in Experimenten zu bewähren sucht, auf solche Merkmalsorten und gewinnt dadurch nach Zusatz von Konstrukten und Algorithmen die Chance verlässlich reproduzierbarer Prognosen, die dazu verführen, beobachtete Regelmäßigkeiten zu allgemeinen Naturgesetzen aufzubauschen. Die Phänomenologie kann sich diesen Vorteil beliebig reproduzierbarer prognostischer Bewährung nicht zu eigen machen, weil sie mit der auf geeignete Merkmalsorten verkürzten Beobachtungsbasis die für sie nötige Offenheit der 8 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Vorrede

Erfahrung preisgeben würde. Es besteht aber kein vernünftiger Grund, bei der Fahndung nach interhumanen Universalien bei solchen Merkmalsorten Halt zu machen. Ebenso wie anzunehmen ist, dass alle normal entwickelten Menschen eine Nase und Lungen haben, ist auch anzunehmen, dass sie atmen und darüber nicht nur durch Chemie und Physiologie etwas erfahren, sondern auch durch Spüren. Dieses Spüren kann man verfolgen, indem man es zunächst etwa in gespürtes Ein- und Ausatmen gliedert und dann nach gespürten Strukturen sucht, die sich in diesen Fällen und in anderen zeigen, wo anderes, aber mit derselben oder einer anderen Kombination der Strukturenmomente, spürbar ist. Mir ist es gelungen, durch Belauschen dieses Spürenkönnens, das ich vermutlich mit allen Menschen teile, ein Gegenstandsgebiet freizulegen, das jedem das Nächste ist und z. B. für sein Personsein und seine Kontakte und Lebensbezüge unerlässlich ist, aber bisher noch nicht der Ausdehnung und Dynamik nach durchleuchtet wurde: den spürbaren Leib. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass der wichtigste Ertrag phänomenologischen Forschens nicht kritisch, sondern inventorisch ist, indem Tatsachenzusammenhänge und Gegenstandsbereiche aufgedeckt werden, die unter konventionellen, oft tief eingefressenen Vergegenständlichungsweisen, Dogmen und Überzeugungen versteckt waren. Gegen die mögliche Universalität von Phänomenen, die aber nicht vorausgesetzt werden darf, wird oft der Einwand der Kulturschwellen erhoben: in anderen Kulturen und Gattungen lebe, denke, erfahre man ganz anders. Zugegeben, anders, aber was heißt hier »ganz«? Das ist ein abstraktes Totschlagwort, dessen Inhalt niemand mit Belegen ausfüllen kann. Ich bin weit entfernt von dem Anspruch, mit Phänomenologie jede solche Schwelle aufbrechen zu können, halte aber die Ergebnisse einer sorgfältigen Phänomenologie für vorzüglich geeignet, unter die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten der eigenen Kultur zurückzugehen und durch Aufdecken eigener Erfahrung in dieser Tiefe dahinterzukommen, was in anderen Kulturen anders ist. 9 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Vorrede

Ein Beispiel ist die sogenannte homerische Psychologie. Snell hatte festgestellt, der homerische Mensch sei ganz anders als wir, weil ihm so vieles fehle, das wir besäßen, z. B. die Seele. Ich habe diese negative Charakteristik auf der Basis der Phänomenologie des spürbaren Leibes ins Positive gewendet. Ein ebenso dankbares Objekt wie der Leib ist für die phänomenologische Revision die Zeit. Augustinus fragte: Was ist die Zeit? (Er setzte hinzu: Wenn mich niemand fragt, weiß ich es; wenn man mich fragt, weiß ich es nicht mehr.) Kant antwortete mit den wuchtigen Schlägen von fünf kurzen Argumenten, von denen die zwei ersten mit den Worten beginnen: »Die Zeit ist …« Wusste er, wonach Augustinus fragte? Ich glaube, nicht. Beider Fehler und der der Meisten, die von der Zeit reden, besteht darin, so einfach »die Zeit« zu sagen. Die Zeit ist eine Fassade. Bei gründlicher phänomenologischer Revision zerfällt sie in eine Folge von Schichten, die sich mit durchsichtiger Konsequenz über einander legen und die Rätsel der Zeit zwar nicht erledigen, aber dem Begreifen zugänglich werden lassen. Als ich mich im Frühjahr 2012 auf die Phänomenologie der Zeit zu konzentrieren begann, bemerkte ich mit Schrecken, wie viel noch auszufüllen war. Ich hatte schon 1964 (System der Philosophie Band I: Die Gegenwart) auf Modalzeit, Lagezeit und Dauer als drei Komponenten der Zeit hingewiesen, seither aber die Dauer (auch in dem »Zeit« überschriebenen Kapitel meines Buches Der unerschöpfliche Gegenstand, 1990) so stiefmütterlich behandelt, dass aus meinen Ausführungen kaum zu entnehmen war, wie die Zeit weitergehen kann. Andere Defizite betrafen die Metrisierung der Lagezeit und die offene Zukunft im Verhältnis zur geschlossenen. Inzwischen hoffe ich, die Thematik so ausgearbeitet zu haben, dass sich ein ziemlich abgerundetes Ganzes einer Phänomenologie der Zeit, wie sie sich aus meinem Ansatz herausschälen lässt, ergibt. Dieses Buch beginnt im ersten Kapitel mit vier vorbereitenden Themen, die nicht schon die Zeit betreffen. Sie liefern mir das unentbehrliche Handwerkszeug, ohne das ich vor der Zeit 10 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Vorrede

hilflos wäre. Das zweite Kapitel dient der Einordnung der Zeit in einen weitgespannten Zusammenhang, der von der elementarsten und unentbehrlichsten Erfahrung primitiver Gegenwart zur Welt, in die jene sich entfaltet, führt. Grob gesprochen, geht es um die Rolle der Zeit in der Welt. Das dritte Kapitel, das die Schichten der Zeit behandelt, bildet gemäß dem Gesagten gewissermaßen den Kern des Buches. Das vierte Kapitel behandelt die Aporien der Zeit in einer Weise, die weitgehend, aber mit erheblichen Verbesserungen, der Darstellung der Rätsel der Zeit in meinem Büchlein Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie entspricht. Anschließend greife ich im 5. Kapitel auf die Geschichte aus. Das mag ein Überschreiten der Grenzen einer eng umschriebenen Phänomenologie der Zeit sein. Da aber jeder Mensch als Person durch sein persönliches Schicksal in eine Geschichte – und sei es nur seine Lebensgeschichte – gehört und diese spezifische zeitliche Strukturen aufweist, schien es mir zur Konkretisierung des Themas Zeit angemessen, Zeit auch als Geschichte zu besprechen. Ich habe, obwohl es viele Geschichten gibt, den Singular bevorzugt, weil der Plural eine mir sehr unerwünschte, heute aber beliebte Nähe zum Novellistischen nahelegt. Im letzten Kapitel gehe ich die wichtigsten Stationen des europäischen Philosophierens über die Zeit durch, um eine Rechenschaft vom Verhältnis meines Beitrags zum Vorliegenden der Tradition zu ermöglichen. Dieses Buch ist fast allein aus sich verständlich; wenn aber der Leser sich darin ganz heimisch fühlen möchte, rate ich ihm, meine beiden kürzlich erschienenen, nicht sehr umfangreichen Bücher Der Leib (Berlin 2011, bei de Gruyter) und Kritische Grundlegung der Mathematik (Freiburg 2013, bei Karl Alber) hinzuzuziehen. Für entgegenkommende Bereitschaft und reibungslose Zusammenarbeit danke ich Frau Marina Bergmann, die die elektronische Fassung des Textes besorgt hat, und dem Verlag Karl Alber, namentlich dem Verlagsleiter, Herrn Lukas Trabert. Hermann Schmitz 11 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

1. Vorbereitungen

1.1 Attribute und Existenz-Inductiva Als ein Attribut einer Sache bezeichne ich eine Bestimmung der Sache, die für deren Identität wesentlich oder von Belang ist, in dem Sinn, dass die Sache nicht diese, sondern eine andere wäre, wenn ihr die betreffende Bestimmung nicht zukäme. Dabei ist keineswegs an besonders grundlegende, im emphatischen Sinn essentielle Bestimmungen zu denken. Auch ganz geringfügige Äußerlichkeiten sind Attribute, z. B. in meinem Fall, dass ich gerade sitze und schreibe; ein Individuum, das in diesem Moment stünde und anders beschäftigt wäre, könnte nicht ich sein, weil niemand zugleich sitzen und stehen kann. Entsprechendes gilt für die Zahl der Haare auf meinem Kopf und andere gleichgültige Nebensachen. Offenbar kommen jeder einzelnen Sache ihre Attribute notwendig zu, denn, wenn auch nur eines fehlen und durch ein anderes ersetzt sein sollte, wäre sie diese und auch eine andere Sache, was nicht angeht, weil jede einzelne Sache notwendig mit sich identisch ist. Allerdings gilt dieser Satz nur, wenn die Bestimmtheit der Sache durch das betreffende Attribut eine objektive Tatsache ist, d. h. eine solche, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Es gibt auch für jemand subjektive Tatsachen, die nur er selbst von sich aussagen kann. Für diese stellt sich die Sachlage etwas anders dar. Hier kommt es nicht darauf an; es genügt, über objektive Tatsachen der Bestimmtheit zu sprechen. Ich begnüge mich daher mit Verweis auf die Behandlung des Unterschieds an anderer Stelle. 1 Hermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg i. Br. 2013, S. 36 f.

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Attribute und Existenz-Inductiva

Jetzt ist zu prüfen, ob alle Bestimmungen einer Sache auch ihre Attribute sind. Nach der seit Leibniz herrschenden Auffassung von Identität müsste das der Fall sein, denn demnach sind Sachen A und B dann und nur dann identisch, wenn sie in allen Bestimmungen übereinstimmen. Dagegen ist zu erinnern, dass alle Attribute notwendig zu der Sache gehören, deren Attribute sie sind. Unter den Bestimmungen einer existierenden Sache ist aber auch die, dass sie existiert, dass es sie gibt. Zwar bestritt Frege, dass Existenz eine Bestimmung der existierenden Sache sei, aber er irrt. 2 Existenz kann kein Attribut sein, weil es für keine Sache notwendig sein kann, dass es sie gibt. Andernfalls wäre nämlich notwendig, dass es irgend etwas (mindestens diese Sache) gibt. Das ist aber nicht notwendig. Vielmehr ist möglich – in dem Sinn von: ohne Widerspruch denkbar –, dass es gar nichts gibt. Das zeigt sich, wenn man allen Sachen – im Sinne von »etwas überhaupt«, allen Etwassen – in Gedanken das Nichtsein zuordnet. Diese Belegung ist offenbar einwandfrei möglich, d. h., sie kommt ohne Doppelbelegung einer Sache mit kontradiktorischen Bestimmungen wie Sein und Nichtsein aus. Das wäre anders bei dem Versuch, den umgekehrten Gedanken, dass es alles gibt, durch eine entsprechende Belegung zu bestätigen. Dabei würden sich lauter logische Unverträglichkeiten gleichermaßen möglicher Bestimmungen ergeben, z. B. zwei Körper mit unvereinbaren Bestimmungen zur selben Zeit am selben Ort. Wenn es aber gar nichts gibt, kann nichts dem anderen den Platz in einer überall einfachen Belegung streitig machen. Also ist es prinzipiell möglich, wenn auch nicht wirklich, dass es gar nichts gibt. Also kann für keine Sache notwendig sein, dass es sie gibt. Also ist Existenz kein Attribut.3 Zum Beweis ebd., S. 39 f. Darauf scheint auch Kant hinauszuwollen mit den berühmten Sätzen aus der Kritik der reinen Vernunft A599 f. B626 f.: »Sein ist offenbar kein reales Prädikat, d. h. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne. (…) Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das mindeste mehr, als hundert mögliche. Denn, da diese den Begriff, jene aber

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Vorbereitungen

Die Existenz zieht von den Attributen eine Reihe weiterer Bestimmungen ab, die ich »Existenz-Inductiva« nenne. Ein Existenz-Inductivum ist von einer Sache eine Bestimmung, für die aus der Annahme, dass sie Attribut einer Sache ist, logisch folgt, dass eine Sache (dieselbe oder eine andere) existiert, einschließlich vergangener oder künftiger Existenz. Da, wie gesagt, jede Sache ihre Attribute notwendig (in objektiver Tatsächlichkeit) besitzt, wäre im Fall des Zutreffens dieser Annahme logisch notwendig, dass eine Sache existiert, eventuell auch nur existiert hat oder existieren wird. Das ist aber, wie gezeigt wurde, niemals logisch notwendig. Also können Existenz-Inductiva keine Attribute sein. Existenz-Inductiva sind außer der Existenz selbst die Wahrheit affirmativer Existenzbehauptungen und die entsprechende Tatsächlichkeit, ferner Erzeugerschaft als die Leistung, eine Sache aus dem Nichtsein ins Sein zu befördern, sowie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vergangenheit einer Sache besteht darin, dass sie einmal gewesen ist, ihre Gegenwart darin, dass sie ist in der Weise, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein, ihre Zukunft darin, jetzt noch nicht, aber später zu sein. 4 Die Existenz-Inductiva sind also Bestimmungen einer Sache, die für ihre Identität als diese Sache belanglos sind. Dies hat die Folge, dass jede Sache mit einem Existenz-Inductivum mit einer Sache ohne diese Bestimmung identisch sein kann. Besonders einfach lässt sich das an der Verden Gegenstand und dessen Position an sich selbst bedeuten, so würde, im Fall dieser mehr enthielte als jener, mein Begriff nicht den ganzen Gegenstand ausdrücken, und also auch nicht der angemessene Begriff von ihm sein.« Kant müsste schier allwissend sein, um einen Begriff zu bilden, der alle Bestimmungen eines Gegenstandes oder gar von hundert solchen enthielte. Er versteht »Begriff« nur psychologisch als »der Gedanke, der in euch ist«, »eine Bestimmung meines Zustandes« (A597.599 B625.627). Eine andere als diese psychologische Fehldeutung bringt er zur Präzisierung der nebelhaften Rede von »irgend etwas, das zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne« nicht bei. 4 Unter 3.5 wird sich allerdings herausstellen, dass das Nochnichtseiende nur eine von zwei Arten der Zukunft ist.

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Identität und Einzelheit

gangenheit zeigen. Eine vergangene Sache, z. B. ein vergangenes Ereignis, ist identisch mit einer Sache, die einmal gegenwärtig gewesen ist. Gegenwärtigkeit und Vergangenheit sind logisch unverträglich, aber der Wechsel von der Gegenwart zur Vergangenheit ändert nichts an der Sache; sie kommt über den Gegensatz beider Bestimmungen hinweg, ohne in irgend einer Hinsicht anders als vorher zu sein, weil Gegenwart und Vergangenheit keine Attribute sind. Die vergangene Sache ist nicht mehr, also ohne Existenz; die gegenwärtige Sache existiert; also ist eine Sache, die existiert, identisch mit einer Sache, die nicht existiert. Ein Widerspruch entsteht dadurch nicht, weil Existenz-Inductiva für die Identität der Sache, der sie als Bestimmungen anhängen, belanglos sind.

1.2 Identität und Einzelheit Zwei Arten von Identität müssen unterschieden werden: relative und absolute Identität. Relative Identität ist eine Beziehung von etwas zu etwas, mindestens zu sich selbst, oder im Fall der 2 von der geraden Primzahl zur kleinsten Primzahl. Absolute Identität besteht zunächst darin, diese Sache zu sein oder selbst zu sein; das ist überhaupt keine Beziehung. Weiter kann sie darin bestehen, von etwas verschieden zu sein; das ist keine Beziehung zu sich selbst. Relative Identität setzt absolute voraus. Das lässt sich so zeigen: Nach der von Leibniz eingeführten herkömmlichen Auffassung besteht relative Identität von A und B in der Übereinstimmung aller Bestimmungen. Das ist zwar nach 1.1 mit Rücksicht auf die Existenz-Inductiva nicht haltbar, aber wenigstens gehört zur relativen Identität die Übereinstimmung aller Attribute. Wenn aber auch nur zwei Attribute, x und y, verglichen werden, muss man schon voraussetzen, dass dasselbe A, das x besitzt, auch y besitzt; sonst hätte der Vergleich mit B keinen Sinn. Wenn diese vorausgesetzte Identität von A von derselben Art wäre wie die relative Identität von A mit B (oder 15 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Vorbereitungen

von A mit A), entstünde ein regressus ad infinitum. Dann müsste nämlich, entsprechend wie beim ersten Mal, ein C angenommen werden, das identisch ist mit dem A, das x besitzt, und dem A, das y besitzt. Unter der Voraussetzung, dass alle Identität relativ ist, würde C dasselbe Schicksal haben wie A: Es könnte seine Aufgabe nur erfüllen durch ein D, das identisch ist mit dem C, das identisch ist mit dem A, das x besitzt, aber auch mit dem C, das identisch ist mit dem A, das y besitzt. So ginge es weiter ad infinitum. Man käme zu einer unendlichen Verschachtelung immer neuer Identitätsträger, aber nie zu einem A, das unmittelbar und geradezu mit einem B identisch sein könnte. Der einzige Ausweg aus dieser Verstrickung besteht darin, den Regress gleich beim ersten Schritt anzuhalten und sich klar zu machen, dass die Identität von A, die für den Vergleich auf relative Identität von A mit B oder mit A erforderlich ist, von anderer Art ist, nämlich absolute Identität des A, keine Beziehung. 5 Sie besteht in dem Vorzug, selbst zu sein, im Gegensatz zu den Inhalten des von mir so genannten absolut konfus chaotischen Mannigfaltigen 6 , denen es gänzlich an Identität und Verschiedenheit fehlt, wie im Kontinuum in seinen vielen Gestalten, etwa als Phasen einer durchdösten Frist oder eines ohne Akzente durchlittenen Schmerzes, als Wasser (für den Schwimmer mit geschlossenen Augen) oder stockdunkle Nacht; ferner wie die Andeutungsfülle eines zarten lyrischen Gedichtes, die Ideenfülle, wenn ein noch nicht formulierbarer Gedanke gerade aufgeht usw. Die Inhalte eines absolut konfus chaotischen MannigDiese Ableitung des unendlichen Regresses entspricht der in der von mir so genannten dritten Paradoxie des Selbstbewusstseins (Hermann Schmitz, System der Philosophie Band I, 1964, in Studienausgabe wie die übrigen Bände 2005, S. 249–251) und ihrer Auflösung (ebd. Band IV, S. 27–43; Der unerschöpfliche Gegenstand, zuerst Bonn 1990, S. 201 f.). Das Problem, das dort für die Identifizierung von Subjekt und Objekt im Selbstbewusstsein aufgeworfen wurde, erweitert sich damit auf Identität überhaupt, ohne Rücksicht auf Selbstbewusstsein. 6 Hermann Schmitz, Logische Untersuchungen, Freiburg/München 2008, S. 11–18 5

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Identität und Einzelheit

faltigen haben keine absolute Identität, sie sind nicht selbst, geschweige denn sie selbst (relativ identisch mit sich). Absolute Identität sollte man nicht dadurch bestimmen, dass etwas es selbst ist – dann läge die Verwechslung mit relativer Identität nahe –, sondern dadurch, dass es selbst ist. Zwischen absoluter und relativer Identität steht die Einzelheit in dem Sinn, dass relative Identität Einzelheit voraussetzt. Einzelheit aber absolute Identität. Die Unterscheidung zwischen (absoluter) Identität und Einzelheit ist von größter ontologischer, kosmologischer und anthropologischer Bedeutung (s. u. 2.2) sowie auch für die Grundlagen der Mathematik 1, fehlt aber in der gesamten Tradition und ist auch mir erst ziemlich spät aufgegangen. 7 In Kritische Grundlegung der Mathematik 1 führe ich Einzelheit mit der Definition ein: Einzeln ist, was Element einer Menge mit der Anzahl 1 ist; 1 ist die Anzahl jeder nichtleeren Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist. Ich beweise sodann, dass diese Bestimmung gleichwertig mit den beiden folgenden ist: Einzeln ist, was die Anzahl einer endlichen Menge um 1 vermehrt; einzeln ist, was Element irgend einer endlichen Menge ist. 8 Eine Menge aus mehreren Elementen ist ein Ganzes, das sich von Ganzen anderer Art dadurch unterscheidet, dass sein Inhalt feststeht, ohne von einer zusätzlichen Einteilung des Ganzen abzuhängen. Diese Eigenschaft ist entscheidend dafür, dass nur die Mengen als Träger der Zahlen in Betracht kommen, weil sonst die dem Inhalt entsprechende Anzahl nicht nur vom Ganzen, sondern auch von der Wahl seiner Einteilung abhängen würde, so dass bald diese, bald jene Zahl herauskäme. Ihre angegebene Besonderheit verdanken die Mengen dem Umstand, dass ihre Ganzheit nicht durch Zusammenhang im Inhalt hergestellt wird, sondern von einer Gattung, die

Zuerst nachweisbar in meinem Buch: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994 8 wie Anmerkung 1, S. 28–30 7

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mit einem Schlag die Menge als ihren Umfang und die Elemente, die den Inhalt der Menge bilden, als ihre Fälle auszeichnet. Außer vom Begriff der Menge hängt der Begriff der Einzelheit vom Begriff der Zahl (oder Anzahl, ich verwende beide Worte synonym) ab. Zahlen sind Eigenschaften von (endlichen oder unendlichen) Mengen; wenn z. B. von 9 Menschen die Rede ist, ist kein Mensch as Träger der Bestimmung 9 gemeint – kein Mensch ist 9 –, sondern die Menge der betreffenden Menschen als Umfang einer Gattung, die eine gemeinsame Eigenschaft dieser und nur dieser Menschen ist, allenfalls (wie bei so kleinen Mengen möglich) durch disjungierende Aufzählung gewonnen. Die Zahl hat mit Zählen zu tun und ist die Eignung, die Mengen dem zählenden Menschen so entgegen bringen, dass er sie zählen kann, also ihre Zählbarkeit. Diese besteht in der umkehrbar eindeutigen Abbildbarkeit von Mengen, wie zuerst David Hume gesehen hat. 9 Sein Fehler war bloß, die Zahl mit der einzelnen Menge zu identifizieren, während doch viele Mengen dieselbe haben. Diesen Fehler suchte Frege zu verbessern. Seine Intention, modern und eleganter formuliert, ging dahin, Zahlen als die Äquivalenzklassen zu verstehen, die aus der Gesamtheit aller Mengen durch die symmetrische und transitive Beziehung umkehrbar eindeutiger Abbildbarkeit ausgesondert werden; eine solche Aussonderung führt dazu, dass die Klassen sich nicht überschneiden, so dass jede Menge eine und nur eine Zahl erEin Traktat über die menschliche Natur (A Treatise of Human Nature), deutsch mit Anmerkungen und Register von Theodor Lipps, mit einer Einführung neu hg. v. Reinhard Brandt, Hamburg 1973, S. 96 f. (1. Buch 3. Teil 1. Abschnitt): »Wir besitzen einen genauen Maßstab in der Bestimmung der Gleichheit und der Größenverhältnisse der Zahlen; nach ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit diesem Maßstab bestimmen wir ihre Relationen ohne die Möglichkeit eines Irrtums. Wenn zwei Zahlen so zusammengeordnet werden können, dass immer eine Einheit der einen einer Einheit der anderen entspricht so nennen wir sie gleich (…).« Umkehrbar eindeutige Abbildung unter Mengen (auch einer Menge auf sich selbst) ist eine Paarung, für die jedes Element jeder Menge verbraucht wird, so dass die Paare sich nicht überschneiden.

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Identität und Einzelheit

hält. Diese Begriffsbestimmung ist aber wenig informativ, denn es ist ja selbstverständlich, dass jede Menge mit einer gewissen Eigenschaft, wie umkehrbar eindeutiger Abbildbarkeit, Element der Klasse aller dieser Mengen ist. Was gesucht wird, ist vielmehr eine nicht triviale Eigenschaft, die die Zählbarkeit einer Menge ausmacht; ich habe daher seit 1964 10 definiert: »Anzahl einer Menge M ist die Eignung einer Menge, umkehrbar eindeutig auf M abgebildet zu werden.« Da diese Eignung symmetrisch (und transitiv, daher wieder Äquivalenzklassen bildend) ist, könnte man ebenso umgekehrt sagen: »die Eignung von M, auf eine Menge umkehrbar eindeutig abgebildet zu werden.« Das hätte aber den Nachteil, die Zahl als Eigenschaft nur gerade von M anzugeben, während die Wahl von M als Relat statt als Referens Gelegenheit gibt, die Zahl gleich als gemeinsame Eigenschaft aller in Betracht kommenden Mengen, daher auch von M selbst, einzuführen. Der zählende Mensch benützt die Zahl zum Zählen, indem er die zu zählende Menge umkehrbar eindeutig auf eine Zählmenge (z. B. von Zahlwortnennungen) abbildet; da in Äquivalenzklassen jedes Element zu jedem in der Äquivalenzbeziehung steht, 11 kann er innerhalb dieser Klasse die Zählmenge beliebig wechseln, was besonders zur Eichung der Zählmenge, wenn diese verdächtig wird, nützlich ist. Aus dem Gesagten geht hervor, dass alles Einzelne Element einer Menge (mindestens mit der Anzahl 1) und jedes Element einer Menge einzeln ist. Nur dies ist noch zu zeigen. Ich habe bewiesen, dass jede nichtleere endliche Menge durch einzelne Elemente ausgeschöpft wird. 12 Unendlich sind Mengen, die auf echte Untermengen von sich umkehrbar eindeutig abgebildet werden können. Sämtliche Elemente jeder Menge, die auf eine Menge umkehrbar eindeutig abgebildet werden kann, sind einzeln. Sie sind nämlich Elemente einer Menge der Glieder eines 10 11 12

System der Philosophie Band I, S. 288 wie Anmerkung 1, S. 149 wie Anmerkung 1, Kapitel 1

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Paares. 9 Eine solche Menge ist eine endliche Menge, und was Element einer endlichen Menge ist, ist einzeln. Die Disjunktion endlich-unendlich ist für Mengen vollständig. 13 Also ist jedes Element einer Menge einzeln. Als numerisch bezeichne ich Mannigfaltiges, das eine Anzahl hat. Das sind, nach dem Gesagten, nur Mengen, und zum Inhalt von Mengen gehört nur Einzelnes. Gleichwertig sind also die Sätze: Alles Mannigfaltige ist numerisch; alles ist einzeln. Sie sind übrigens beide falsch. 14 Es hat sich herausgestellt, dass etwas Element einer Menge, also einzeln, nur sein kann, wenn es Fall einer Gattung ist. Die zweite Voraussetzung für Einzelheit ist absolute Identität. Wenn etwas nicht einmal selbst ist als diese Sache, die obendrein von etwas verschieden ist, kann es sicher nicht gezählt (in ein Paar umkehrbar eindeutiger Abbildung aufgenommen) werden. Umgekehrt kann, was zum Inhalt eines absolut konfus chaotisch Mannigfaltigen gehört, sehr wohl Fall einer Gattung sein, z. B. dieser Gattung Zum Inhalt eines absolut konfus chaotischen Mannigfaltigen Gehöriges. Die beiden Merkmale sind also notwendig. Obendrein ist hinzuzufügen, dass die absolute Identität des Einzelnen ungestört ist. Es gibt nämlich auch zwiespältiges Mannigfaltiges mit gestörter absoluter Identität im Inhalt (nicht nach außen).15 Jetzt ist noch klarzustellen, was eine Gattung und was ein Fall ist. Gattung ist alles, wovon etwas ein Fall ist; ein Einzelnes, das keinen Fall hat, ist ein Individuum. Ich betrachte die Gattungen als Sachverhalte. Ein Sachverhalt ist die Möglichkeit oder Gelegenheit, etwas in Frage zu stellen, wobei als entscheidende Instanz für die Frage die Wirklichkeit (das Sein) zuständig ist. Wenn die Entscheidung für den Sachverhalt ausfällt, handelt es sich um eine Tatsache, sonst um einen untatsächlichen Sachverhalt. Die Entscheidung hängt nicht davon ab, ob Menschen sie 13 14 15

ebd. S. 29 ebd. S. 69–72 ebd. Kapitel 4

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Identität und Einzelheit

zur Kenntnis nehmen können; das ist z. B. bei vergangenen Ereignissen, die nicht mehr nachprüfbar sind, nicht der Fall. Wenn sie aber offenbar wird, handelt es sich um Evidenz. 16 Zur Bestimmung der Begriffe von Fall und Gattung gehe ich von der logischen Folge aus. Eine Behauptung A ist logische Folge einer Behauptung B, wenn die beiden folgenden Bedingungen erfüllt sind: 1. B ist höchstens zusammen mit A wahr. 2. B bleibt höchstens zusammen mit A in jedem Gedankenexperiment wahr, wenn fiktiv irgend welche Tatsachen durch untatsächliche Sachverhalte ersetzt werden. Behauptungen, die einen Widerspruch zur logischen Folge haben, sind nicht Behauptungen eines Sachverhaltes, weil sie dem Sinn nach sich selbst aufheben, also eigentlich nichts behaupten. Wenn nun für einen Gegenstand G die Behauptung, dass G existiert, für ein Attribut a (falls G nicht existiert: für ein Attribut a von G) 17 die Behauptung, dass mindestens ein a existiert, zur logischen Folge hat und diese Behauptung einen tatsächlichen oder untatsächlichen Sachverhalt S darstellt, dann (und nur dann) ist G ein Fall von S und S eine Gattung von G. Ein Beispiel: Aus der Behauptung, dass Sokrates existiert, folgt logisch die Behauptung, dass mindestens ein Ehemann der Xanthippe existiert, denn das ist ein Attribut von Sokrates, und jedem Gegenstand kommen seine Attribute mit logischer Notwendigkeit zu (1.1). Die Bevorzugung der Existenz geht darauf zurück, dass Existenz das primäre Existenz-Inductivum ist und Existenz-Inductiva keine Attribute sind, so dass durch die Form der Definition nichts über Attribute vorweggenommen wird. Andererseits beschränkt die Definition die Über Sachverhalte und Tatsachen wie Anmerkung 6, S. 65–78; über Evidenz: Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg i. Br. 2012, S. 24– 41 17 Dieser Klammerzusatz hat den Sinn, dass, wenn G nicht existiert, diese Tatsache zusammen mit der Behauptung, dass G existiert, einen Widerspruch erzeugt, aus dem jeder beliebige Satz folgt, so dass gemäß der gleich folgenden Begriffsbestimmung G zum Fall jeder beliebigen Gattung würde, wenn dem nicht durch den Klammerzusatz vorgebeugt wird. 16

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Gattungen auf die Attribute, so dass nicht alle Bestimmungen (nicht Existenz-Inductiva) erfasst werden. Dem gewöhnlichen Sprachgebrauch würde es eher entsprechen, die Gattung an die Nennung eines Namens für ein Attribut als an die Behauptung eines Sachverhaltes zu knüpfen. Dann bleibt aber sowohl die Beziehung des Fallseins ohne klärende Sinngebung als auch die Bedeutung des Wortes »Gattung«, das allen möglichen Verdächtigungen »abstrakter« Gegenstände ausgesetzt wäre. Für mich ist die gewöhnliche und auch von mir verwendete Ausdrucksweise nur eine façon de parler für das angegebene Verhältnis zweier Sachverhalte, die nicht Tatsachen zu sein brauchen. Nachdem auf diese Weise der Begriff der Einzelheit durchsichtig gemacht ist, komme ich zur relativen Identität. Sie kann nach 1.1 nicht mehr als Übereinstimmung in allen Bestimmungen erklärt werden, wohl noch als Übereinstimmung in allen Attributen, doch ist nicht ganz deutlich, wie weit diese Übereinstimmung geht, weil meine Aufzählung von Existenz-Inductiven nicht vollständig zu sein braucht und überdies noch andere Arten von Bestimmungen, die für absolute Identität nicht wesentlich sind, existieren könnten, obwohl ich nichts davon ahne. Besser scheint mir daher, einen anderen, präzisen Identitätsbegriff einzuführen: Gegenstände A und B sind mit einander identisch, wenn ein absolut identischer Gegenstand G Fall zweier Gattungen a und b ist, also sowohl ein a als auch ein b ist und deswegen als A bzw. B bezeichnet wird. Ein Beispiel: Ein türkischer Schuster in Kreuzberg ist sowohl ein Mann als auch ein Türke, ein Berliner, ein Schuster, ein Moslem, ein Familienvater usw.; man kann das so ausdrücken, dass dieser Mann mit einem (diesem) Türken identisch ist usw. Relative Identität ist also das Fallen unter mehrere Gattungen. Das trifft sogar auf die Tautologie zu, dass A mit A identisch ist. Dann ist nämlich ein Fall der Gattung, Referens der Identität (überhaupt oder mit A) zu sein, identisch mit einem Fall der Gattung, Relat der Identität zu sein. Eigentlich ist Identität hiernach eine Beziehung zwischen zwei Gattungen, die dann vorliegt, wenn ein einzelner, also auch ab22 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Situationen

solut identischer Gegenstand ihr gemeinsamer Fall ist. So ist z. B. Georg Friedrich Händel ein Fall der Gattung Georg aller George (d. h. aller Träger dieses Namens) als auch ein Fall der Gattung Friedrich aller Friedriche. Das hindert aber nicht, auch in der üblichen Weise von der direkten Identität von Gattungsfällen, darunter Individuen, zu sprechen und die Rede, dass A mit B identisch ist, so zu verstehen: B besitzt alle Attribute von A, d. h. alle für die absolute Identität von A wesentlichen Bestimmungen, und umgekehrt. Die absolute Identität geht sowohl der Einzelheit als auch der relativen Identität voraus und liegt beiden zu Grunde; wenn sie aber durch Fallen unter Gattungen zur Einzelheit ergänzt ist, werden die aus Attributen gewonnenen Gattungen für sie wesentlich. 18

1.3 Situationen Notwendig und zureichend für Einzelheit ist nach 1.2 die Erfüllung zweier Bedingungen: ungestörte absolute Identität und Fallsein (als Fall einer Gattung). Daraus ergibt sich, dass dann, wenn etwas als Einzelnes bewusst ist, sowohl bewusst sein muss, dass es dieses selbst (absolut identisch) ist, als auch, dass es Fall einer Gattung ist, dass es also eine Idee davon gibt, was es ist oder vielleicht sein könnte. Wenn die zweite Bedingung nicht erfüllt ist, droht der Gegenstand übersehen zu werden. Jakob v. Uexküll berichtet von solchem Übersehen einer Wasserkaraffe vor seinem Platz am Mittagstisch, als er dort den gewohnten Tonkrug erwartete, den ein Diener zerschlagen hatte. Die einseitige Erwartungshaltung blockierte das Finden einer zum Entdecken des einzelnen Gegenstandes vor ihm erforderlichen Gattung. »Das Suchbild vernichtet das Merkbild.« 19 Daraus ergibt Zum Identifizieren durch Eigennamen oder durch Zeigen vgl. wie Anmerkung 1, S. 52 19 Jakob v. Uexküll, Georg Kriszat: Streifzüge durch die Umwelten der 18

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sich aber eine Schwierigkeit für das Vermögen, etwas Einzelnes in seiner Einzelheit (als Einzelnes) zu finden. Es scheint nämlich, dass dafür eine einzelne Gattung gefunden werden müsste, für deren Fall es gehalten wird. Damit diese Gattung einzeln sein kann, muss sie Fall einer weiteren Gattung sein. Zwar gibt es auch Gattungen, die Fall ihrer selbst sind, wie die Gattung Gattung, aber die kommt nicht in Betracht, weil ihr Umfang keine Menge (kein Umfang mit einer Anzahl) ist. Man sieht sofort, dass sich hier ein regressus ad infinitum anspinnt, ein unendlich hoher Turm von Gattungen, von denen jede ein Fall der nächsthöheren ist. Wenn jedes Finden irgend eines Individuums als einzelne Sache das Finden einer einzelnen Gattung und dieses das Finden einer im Gattung-Fall-Verhältnis übergeordneten Gattung verlangt, wäre jedes Finden einer einzelnen Sache zusammen mit Entdeckung ihrer Einzelheit vor die unmögliche Aufgabe gestellt, gleichzeitig unendlich viele Gattungen bewusst zu haben. Tatsächlich ist aber nichts leichter als die Feststellung: »Hier ist ein einzelner Mensch, ein einzelnes Taschentuch« oder dergleichen. Die Schwierigkeit lässt sich nur lösen, wenn man annimmt, dass die Gattungen, um ihre Leistung für die Vervollständigung der absoluten Identität der Einzelheit durch das Fallsein zu erbringen, nicht von vorn herein einzeln sein müssen, sondern sich auch erst im Übergang zur Einzelheit befinden dürfen, in einem Stadium, in dem sie noch nicht der Stütze an einer fertig zur Einzelheit ausgereiften Gattung, deren Fall sie sind, bedürfen. So etwas lässt sich etwa an einem Einfall beobachten, wie ihn ein Redner hat, der angesichts einer Herausforderung schon weiß, worauf er hinaus will, ohne seine Gedanken noch einzeln gesondert und formulierungsreif parat zu haben. Sachverhalte, Menschen und Tiere, als Taschenbuch Hamburg 1956, S. 83. Ein anderes Beispiel (Jemand übersieht seinen Neid, weil er durch seine Eitelkeit am Finden der passenden Gattung gehindert ist) bei Hermann Schmitz, Emotionale Selbsttäuschung, in: Gefühle als Atmosphären, hg. v. Kerstin Andermann und Undine Eberlein, Berlin 2011, S. 35, 38 f.

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Situationen

darunter Gattungen, schälen sich ihm schon heraus, aber noch nicht in der konsolidierten Form, die gestatten würde, sie zu unterscheiden, zu ordnen und darauf zurückzukommen; diese Form erlangen sie erst im Aussprechen. Solche noch unreife Verfassung der Gattungen kann genügen, um mit ihrer Hilfe Einzelnes zu finden. Ein kleines Kind ruft wohl schon, mit dem Finger auf etwas zeigend, »Da! Da!« aus und meint etwas als Einzelnes. Es verwendet dadurch schon die Gattungen des Ortes, des nahen Ortes, der Richtung, in der etwas ist, aber kann noch nicht Rechenschaft davon geben und seine Andeutung noch nicht einordnen. In solchem flüssigen Übergang können sich Gattungen nur befinden, wenn sie aus einem Milieu geschöpft werden, das der Vereinzelung vorangeht. Ein solches Milieu sind die Situationen. Eine Situation, wie ich das Wort verstehe, ist Mannigfaltiges, das zusammengehalten und mehr oder weniger scharf nach außen abgegrenzt wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Binnendiffus ist die Bedeutsamkeit in dem Sinne, dass ihr Inhalt mindestens nicht nur, oft nicht einmal teilweise, aus Einzelnem besteht. Situationen können auffällig sein, besonders als vielsagende Eindrücke, von denen man viel mehr versteht, als man schon sagen kann, indem der Eindruck es dem Beeindruckten gleichsam auf die Zunge legt, etwa in einer eigenartigen Naturstimmung, vor einem fesselnden Porträt oder Gesicht, beim Lesen oder Hören eines zarten Gedichtes, in dem vieles als Andeutung mitschwingt, oder beim Betreten einer Wohnung, die dem Eintretenden, noch ehe er sich umgesehen hat, gleich kahl oder behaglich vorkommt. Die meisten Situationen sind aber zu unauffällig, um auch nur einzeln (registriert) zu werden, wie das glatte Kauen fester Nahrung, wenn man gerade anders beschäftigt, aber mit absoluter Identität und Verschiedenheit trotz fehlender Einzelheit so gut umgehen kann, dass man es unterlässt, mit der Nahrung zusammen die eigene Zunge zu zerkauen. Einen summarischen Überblick gewinnt man, wenn man die 25 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Situationen, durch die man, oft achtlos, unablässig hindurchgeht, nach Typen unterscheidet. Ich gliedere Situationen unter zwei Gesichtspunkten: der augenblicklichen Gegebenheit nach in impressive und segmentierte, dem zeitlichen Verlauf nach in aktuelle und zuständliche. Impressive Situationen zeigen auf einen Schlag, präsent, ihre ganze binnendiffuse Bedeutsamkeit, segmentierte immer nur Ausschnitte davon. Aktuelle Situationen können sich beständig ändern, während es bei zuständlichen Situationen gewöhnlich, außer in katastrophalen Ausnahmefällen, erst nach längeren Fristen Sinn hat, zu prüfen, ob und wie sie sich geändert haben. Ich gebe Beispiele. Aktuelle Situationen sind z. B. Gefahren, etwa im Straßenverkehr, die nach sofortiger Abhilfe, wenn ein Unglück vermieden werden soll, verlangen, mit einer Bedeutsamkeit, die aus den relevanten Sachverhalten, den Programmen möglicher Rettung und den Problemen, die unmittelbar vorliegen oder bei Befolgung der Programme hinzukommen, besteht. Diese Bedeutsamkeit ist binnendiffus, weil keine Zeit bleibt, um alle Bedeutungen einzeln herauszuholen. Sie zeigt sich mit einem Schlage, so dass die aktuelle Situation auch impressiv ist. Jedes Gespräch ist eine aktuelle Situation, bald impressiv, wenn der Gesprächsstoff am Tage liegt, bald segmentiert, wenn manches darin verdeckt und hintergründig bleibt. Diese aktuelle Situation ist mit vielen zuständlichen Situationen, die in sie hineinwirken, vermischt, etwa der Sprache, in der es geführt wird, den Sitten und Konventionen (einschließlich spezieller Rücksichten), die dabei beachtet werden, den Persönlichkeiten (persönlichen Situationen) und Standpunkten der Gesprächsteilnehmer, den öffentlichen (politischen, wirtschaftlichen, religiösen usw.) Lagen, die den Ton mitbestimmen, sowie der partnerschaftlichen zuständlichen Situation, die darüber entscheidet, wie die Teilnehmer mit einander auskommen, und sich bei fortgesetzten Begegnungen verhärtet oder umbildet. Jede motorische Kompetenz, wie überhaupt jedes erworbene Gedächtnis, ist eine zuständliche Situation, jede Ausübung davon eine aktuelle. Auch 26 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Situationen

die Sprache, die durch ihre Regeln, die Sätze, dem Sprecher Gelegenheit gibt, seine Sprüche so zu formen, dass er seiner Absicht gemäß einzelne Sachverhalte, Programme oder Probleme (meist haufenweise) darstellen und damit weitere Ziele verfolgen kann, ist eine zuständliche, segmentierte Situation, ihre Ausübung in sprechendem Gehorsam eine aktuelle. Die Persönlichkeit eines Menschen, seine von mir eingehend studierte persönliche Situation 20 , ist eine segmentierte, zuständliche Situation, der Eindruck davon, den ein Mitmensch gewinnt, eine impressive Situation, die aktuell oder zuständlich sein kann. Jedes Ding (in einem so weiten Sinn, dass auch Menschen und Tiere Dinge sind) begegnet mit einem typischen oder (wie im Fall eines Bekannten mit seinem charakteristischen Gang, seiner Stimme) individuellen Charakter, woran es als Ding dieser Art oder als dieses Ding wiedererkannt wird. Der Charakter ist eine zuständliche, impressive Situation; er bekleidet sich mit einem Gesicht, einer aktuellen, segmentierten Situation, die sich ändert, wenn das Ding sich dreht, nähert oder entfernt, beglänzt oder beschattet wird und viele weitere Modifikationen durchmacht. Situationen sind die ursprünglichen, primären Gegebenheiten, die grundlegenden Gestalten, in denen dem Tier wie dem Menschen etwas entgegen tritt und seiner Kenntnisnahme und Bearbeitung sich darbietet. Die Tiere sind in Situationen gefangen; der Mensch kann diese aufbrechen, indem er mit seiner explikativen Rede aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit einzelne Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) herausholt und zu Konstellationen vernetzt. Immer aber muss er dabei aus Situationen schöpfen, auch aus solchen, die sich durch Zusammenwachsen der Explikate in der Lebenserfahrung neu bilden, wieder expliziert werden, wieder zusammenwachsen usw. Hermann Schmitz: System der Philosophie Band IV, Bonn 1980, in Studienausgabe 2005, S. 287–473; Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 106–136; Bewusstsein, Freiburg i. Br. 2010, S. 99–109

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Ein gröbliches Missverständnis liegt vor, wenn man glaubt, zu Gunsten der aus lauter Einzelnem zusammengesetzten Konstellationen die Situationen entbehren und geringschätzig abtun zu können. Diesem Missverständnis unterliegt mit aggressiver Hervorkehrung vermeintlicher Überlegenheit der platonische Sokrates mit allen Bewunderern seiner dialektischen Kunst. Seine Methode ist der Elenchos, dessen er sich als der größten Wohltat rühmt, die einem Opfer dieser Operation angetan werden könne 21 : Sokrates fragt einen kundigen Fachmann nach dem, was dieser als Fachmann weiß, mit der Auflage, dieses Gewusste in einer bündigen Aufzählung einzelner Merkmale anzugeben. Der Befragte ist dazu nicht fähig und wird sogleich beschämt als jemand, der zwar glaube, etwas zu wissen (zu verstehen), es aber nicht wirklich wisse. Auf diese Weise gelingt es Sokrates, dem tapferen Feldherrn Laches, dessen Kenntnis der Tapferkeit ein erworbenes Gedächtnis (eine zuständliche Situation) ist, dieses so auszutreiben, dass der gar nicht mehr weiß, was er eben noch einzusehen glaubte, sich dafür aber eifrig für die neue, konstellationistische Wissensform bereitzumachen sucht.22 Freilich ist die sorgfältige und genaue Definition die reifste Frucht phänomenologischen Bemühens, aber sie kann nicht mit brachialgewaltiger Verachtung des Situationswissens aus dem Boden gestampft werden, sondern bedarf geduldigen und sensiblen Bemühens, um dem kundigen Bescheidwissen, das aus dem Leben in Situationen gewonnen ist, gerecht zu werden. In der modernen Mathematik, seit der Erfindung der transfiniten Mengenlehre durch Georg Cantor, und der von der mathematischen Logik durchdrungenen analytischen Philosophie, ist ein Streit zwischen sogenannten Platonisten und Nominalisten entbrannt, in Fortsetzung des scholastischen Ringens um das Universalienproblem, wobei die Platonisten die Existenz so21 22

Platon Sophistes 230 Platon Laches 194b

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Situationen

genannter abstrakter Wesenheiten wie Zahlen, Mengen, Sachverhalte und Gattungen verteidigen, während die Nominalisten solche Gegenstände mit aggressivem Wetzen des Rasiermessers Ockhams ausradieren wollen. Dieser Streit ist gänzlich nutzund inhaltlos, weil beide Parteien von der verkehrten Voraussetzung des Singularismus ausgehen, dass alles ohne Weiteres einzeln ist. Die Platonisten lassen sich ihre abstrakten Gegenstände wie Geschenke von vorn herein in den Schoß fallen; die Nominalisten bestehen auf mehr oder weniger handgreiflichen, vermeintlich konkreten Individuen, die, wie Leibniz in seiner Doktordissertation De principio individui sagt, tota sua entitate, durch ihre ganze Wesenheit, also von vorn herein individuell sind, ohne dass man sich über Voraussetzungen solcher Individualität Gedanken machen müsste. Tatsächlich wird die Einzelheit in einem komplizierten Prozess mit Hilfe der Sprache aus Situationen geschöpft; das Einzelne ist als solches keineswegs konkret, sondern nur hinsichtlich seines Stoffes, nicht aber der Form der Einzelheit, in die dieser nur in der Sicht satzförmig redefähiger Wesen wie der Menschen aufgenommen wird. Die sogenannten abstrakten Objekte sind, wenigstens abzüglich der aus willkürlicher Konstruktion entsprungenen, auch keineswegs abstrakt, d. h. durch eine Abstraktionsleistung aus konkreten Individuen herausgefiltert; vielmehr verdanken solche einzelnen Individuen ihre Einzelheit der Vermittlung durch Gattungen, nämlich Sachverhalte, als deren Fälle, und durch Mengen mit Zahlen, als deren Elemente. Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) sind ursprünglicher konkret als Tische und Stühle und keineswegs einem transzendenten Ideenreich entnommen, sondern der gemeinen Empirie und Lebenserfahrung im Umgang mit Situationen. Ein Krebsschaden der modernen Erkenntnistheorie ist der Projektionismus, unter dessen Protagonisten Nietzsche hervorsticht. 23 Der Projektionist baut sein Vgl. Hermann Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Band II, Freiburg/München 2007, S. 559–562;

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Vorbereitungen

Weltbild auf bedeutungslose sinnfällige Gegebenheiten, denen durch Interessen und Bedürfnisse der Menschen (oder auch Tiere) nachträglich Bedeutungen verliehen werden. Das ist verkehrt. Die Bedeutsamkeit ist primär.

1.4 Verhältnisse und Beziehungen »Die formale Logik der Beziehungen gehört zu den wichtigsten Neuschöpfungen der mathematischen Logik.« 24 Dabei wurde aber übersehen, dass die Beziehungen von Verhältnissen abhängen. Verhältnisse sind ungerichtet, Beziehungen gerichtet, nämlich von etwas, das sich bezieht, auf etwas, worauf es sich bezieht (eventuell, bei mehrstelligen Beziehungen, durch Zwischenstufen). Oft können Verhältnisse in Beziehungen aufgespalten werden; so entfaltet sich das quadratische Potenzverhältnis in die Beziehungen des Quadrats zur Wurzel und der Wurzel zum Quadrat. Etwas komplizierter ist die Aufspaltung in Beziehungen der räumlichen Lage. Zwei Dinge liegen neben einander; das ist ein ungerichtetes Verhältnis. Um daraus Beziehungen zu gewinnen, muss der Betrachter sich hinzudenken und kann dann sagen, dass das eine Ding rechts, das andere links vom anderen liege. Aus einem Stammbaum, einem ungerichteten Verhältnis, können vielfältige Beziehungen unter Familienangehörigen abgespalten werden. Das sind nur Beispiele. Darüber hinaus gilt der Satz, dass alle Beziehungen durch Spaltung aus Verhältnissen hervorgehen. Zum Beweis dient die leichte und selbstverständliche Umkehrbarkeit der Beziehungen. Sie setzt ein gegen den Wechsel der Richtung invariantes Fundament voraus, auf Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, Bonn 1995, S. 340–346: Antiquierte Voraussetzungen der Skepsis Nietzsches 24 Joseph Maria Bochen ´ ski, Formale Logik (Orbis Academicus – Problemgeschichte der Wissenschaft in Dokumenten und Darstellungen), Freiburg/ München 1954, S. 434

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Verhältnisse und Beziehungen

dem sich die Umkehrung abspielt, eben das Verhältnis. Wenn ein solches Fundament fehlt, ist die Umkehrung nicht möglich. Das zeigt sich an den Abläufen (Prozessen, Vorgängen), verglichen mit den Beziehungen. Auch die Abläufe sind gerichtet. Während aber die Beziehungen (z. B. vom Vater zum Sohn) durch Umkehrung der Reihenfolge (vom Sohn zum Vater) tatsächlich zum Ausgangspunkt zurückkehren, ergibt die Umkehrung der Reihenfolge bei Abläufen nur eine zeitliche Verlängerung, nicht eine Umkehr vom Späteren zum Früheren, sondern eine Fortsetzung zum noch Späteren. Die Zeit fließt, geht voran; ihr fehlt daher das beharrende Fundament, das den Beziehungen die echte Umkehrung erlaubt. Die meisten Verhältnisse können von besonnenen Personen durch beziehendes Denken zerlegt werden. Es gibt aber auch unspaltbare Verhältnisse, die sich so präsentieren, dass das Spalten missglückt oder gar nicht versucht werden kann. Ein ganz banales Beispiel ist das gemeinsame Sägen von Holz mit der zweigriffigen Baumsäge. Beide Sägenden übernehmen im Wechsel Initiative und Reaktion, aber ohne Bewusstsein vom Verhältnis des eigenen Beitrags zu dem des anderen. Die Größe ihrer Beteiligung schwankt, aber die Differenz wird unbemerkt vom Partner ausgeglichen. Es ist gar nicht leicht, absichtlich zu stören, weil man sich unwillkürlich auf den Partner einspielt. Nur wenn einer die Arbeit ganz einstellt, merkt es der andere, aber zunächst nur am unvermittelten Schwerergehen.25 Dieses Verhältnis ist nur relativ unspaltbar, in dem Sinn, dass die Beteiligten, wenn sie bei der Sache sind, es nicht in Beziehungen zu einander zerlegen können, zugleich aber fähig sind, nach außen Beziehungen aufzunehmen, indem sie z. B. sägend darüber nachdenken, was sie nachher tun wollen. Es gibt aber auch absolut unspaltbare Verhältnisse, in die mindestens auf einer Seite ein Teilnehmer so eingeht, dass sein ganzes Beziehenkönnen daPaul Christian, Renate Haas: Wesen und Formen der Bipersonalität, referiert in: Hermann Schmitz, Bewusstsein, Freiburg/München 2010, S. 59

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Vorbereitungen

von absorbiert wird. Um davon ein Bild zu geben, das nicht nur ein paar zusammenhanglos eingestreute Kostproben enthält, muss ich einen Blick auf die Phänomenologie des spürbaren Leibes werfen. 26 Am eigenen Leib erlebt man ein absolut unspaltbares Verhältnis im Zusammenwirken der Glieder beim blitzschnellen Abfangen eines drohenden Sturzes durch Balancieren. Ergiebiger ist die leibliche Kommunikation, zunächst als Einleibung im Kanal des vitalen Antriebs, der Verschränkung von Engung und Weitung als Spannung und Schwellung, wie man sie am eigenen Leib z. B. beim Einatmen beobachten kann; sie kommt auch als gemeinsamer Antrieb in der Einleibung vor und kann sogar durch leibnahe Brückenqualitäten – solche, die ebenso am eigenen Leib gespürt wie an Begegnendem wahrgenommen werden können – mit Leiblosem verbinden. Die Einleibung kann bis zur Selbstvergessenheit gehen, sowohl als solidarische, wobei keine Zuwendung unter Partnern stattfindet, etwa bei Massenekstasen in Aufruhr oder Begeisterung, beim hingerissenen Chorsingen (unter einem charismatischen Dirigenten) oder hinreißendem Fußballspiel, als auch als antagonistische (mit Zuwendung zum Partner mindestens von einer Seite) z. B. im »flow« des Motorradfahrers, der, »plötzlich ein Teil der Verbindung von Reifen und Straße geworden«, mit enormem Glücksgefühl in seinem Fahrzeug aufgeht. 27 Hierhin gehört auch die Ekstase der Liebenden, die Goethe mit dem Vers bedenkt: »Eins ist nur im andern sich bewusst.«28 Keiner bzw. keine von beiden kann eine Beziehung von sich zum Partner Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 7–53 Hansjörg Znoj, Die Psychologie des Motorrads, Bern 2011, S. 71; S. 78: »In der oben genannten Form ist der Zustand unerwünscht für die aktive Teilnahme am Straßenverkehr und kann sehr gefährlich werden. In abgemilderter Form sollte diese Verbindung aber unbedingt stattfinden, denn sonst agiert der Motorradfahrer weitgehend abgehoben und hat kein Feedback von der Maschine und deren Tätigkeit.« Die gefährliche Form ist das absolut unspaltbare Verhältnis, die abgemilderte relativ unspaltbares Verhältnis der Einleibung in ein Motorrad. 28 Die Braut von Korinth (Ballade) 26 27

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Verhältnisse und Beziehungen

oder abgesehen von diesem eine Beziehung nach außen aufnehmen, weil jeder nur im andern sich seiner selbst – aber immerhin noch seiner selbst – bewusst ist. Vielleicht noch instruktiver ist das absolut unspaltbare Verhältnis im Fall der Ausleibung, einer leiblichen Kommunikation im Kanal der privativen Weitung. Privative Weitung entsteht, indem sich Weitung aus der Schwellung im vitalen Antrieb löst und damit von engender Spannung frei wird. Das kann bis zum Verströmen gehen wie bei der Autobahntrance, wenn der Fahrer auf geraden, monotonen Strecken die Kontrolle über sein Auto verliert, weil die Enge seines Leibes über die Richtung seines Blickes gleichsam in die Tiefe des Raumes ausläuft. Eine mildere Form der Ausleibung bringt zwar Entdifferenzierung des Details mit sich, dafür aber Fixierung auf starke absolute Eindrücke, die nun als reine Arten, unabhängig von den besonderen Umständen ihrer Verkörperung, prägnant hervortreten, z. B. beim Starren in Glanz. »Er starrte nur in den hellen Abglanz, in dem er sich selbst und alles um sich vergaß.« 29 So wird von der Entrückung des mittelalterlichen Mystikers Heinrich Seuse in das Himmelreich am St. Agnes-Tag berichtet. Hierhin gehören die sinnliche und die mystische Ekstase. Als sinnliche Ekstase bezeichne ich die entspannte »sinnliche Ichhaltung« nach Conrad-Martius, wenn nur noch »der Wind, der mich umspielt, die Wärme, die mich einhüllt, der Duft, der in mich eingeht« gespürt wird. 30 Ein Beispiel beschreibt Nietzsche von einer Mittagspause am Silser See mit den Versen: Hier saß ich wartend, wartend, – doch auf Nichts, Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts

Heinrich Seuse, Deutsche mystische Schriften, aus dem Mittelhochdeutschen von Heinrich Hofmann, Düsseldorf 1966, S. 20 f. (Das Leben des seligen Heinrich Seuse, 2. Kapitel) 30 Hedwig Conrad-Martius, Zur Ontologie und Erscheinungsweise der realen Außenwelt, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, hg. v. Edmund Husserl, Band III, 1916, S. 345–542, hier S. 404 29

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Vorbereitungen

Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. 31 Ganz ähnlich wird die mystische Ekstase vielfach als Versinken in Gott, Eintauchen in das Meer der Gottheit und dgl. beschrieben. Ranke erlebt sie ganz unpathetisch beim historischen Studieren: »Man ist kein Ich mehr. Der ewige Vater aller Dinge, der sie alle belebt, zieht uns ohne allen Widerstand an sich.« 32 Manchmal wird diese unio mystica als Identifizierung beschrieben; so behauptet Ruysbroeck in Fortsetzung der Versunkenheit Seuses beim Starren in Glanz: »Was wir sind, starren wir an, und was wir anstarren, das sind wir.« 33 Auch was Nietzsche und Novalis sagen 31, klingt nach Identität. Es handelt sich aber nicht um echte Identität, denn die wäre symmetrisch, aber zwar ist Nietzsche »ganz See, ganz Mittag«, doch nicht der Silser See ganz Nietzsche geworden. Vielmehr liegt, aber nur von einer Seite, ein absolut unspaltbares Verhältnis vor, das als Identität ausgegeben wird, weil sich die Ekstatiker ein beziehungslos inniges Verhältnis nur als Identität vorstellen können. Solche Ekstasen sind im Leben der besonnenen Person Ausnahmen, aber sie geben einen Aufschluss, der weit darüber hinaus den Unterschied zwischen Verhältnissen und Beziehungen überhaupt betrifft: Sie erweisen, dass zum absolut unspaltbaren Verhältnis keine Einzelheit der Teilnehmer erforderlich ist. SoFriedrich Nietzsche. Die fröhliche Wissenschaft, Anhang: Lieder des Prinzen Vogelfrei (Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe von Colli und Montinari, Band 3, S. 649). Ähnlich Novalis, Die Lehrlinge von Sais: »Was bin ich anders als der Strom, wenn ich wehmütig in seine Wellen hinabschaue, und die Gedanken in seinem Gleiten verliere?« (Schriften Band I: Das dichterische Werk, hg. v. Kluckhohn und Samuel, Stuttgart 1960/1977, S. 100, Z. 34–36) 32 Leopold v. Ranke an seinen Bruder Heinrich, 30. November 1832, in: Leopold v. Ranke, Das Briefwerk, hg. v. Walter Peter Fuchs, Hamburg 1949, S. 252 f. 33 Jan van Ruysbroeck, Die Zierde der geistlichen Hochzeit und die kleineren Schriften, hg. und übertragen von F. M. Hübner, Leipzig 1924, S. 176 (Vom blinkenden Steine. Kapitel 9) 31

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Verhältnisse und Beziehungen

wohl bei den Ekstasen der Einleibung als auch in der sinnlichen und der mystischen Ekstase bei Ausleibung geht die Einzelheit auf allen oder mindestens auf einer Seite mit der Beziehungsfähigkeit verloren, indem ein Partner im anderen oder den anderen aufgeht, ohne aber die absolute Identität zu verlieren, denn es zeigt sich ja, dass die vermeintliche Identifizierung nicht zu echter Identität durch Selbstvernichtung im anderen führt; Identität müsste symmetrisch sein, nach beiden Seiten ausgewogen. Beziehungen erfordern dagegen lauter einzelne Beziehungsglieder, weil sie auf genaue Stellen- und Teilnehmerzahl und damit auf Einzelheit der Teilnehmer (1.2) angewiesen sind. Sonst wären Tötung eines Feindes (Stellenzahl 2, Teilnehmerzahl 2) und Selbsttötung (Stellenzahl 2, Teilnehmerzahl 1) nicht mehr unterscheidbar. Bei Verhältnissen ist das offenbar nicht der Fall, sofern sie nicht zur Spaltung in Beziehungen bereitstehen. Das ist auch leicht verständlich; denn da Verhältnisse ungerichtet sind, bedürfen sie nicht der Einzelheit zur Markierung des Ausgangspunktes und des Zieles einer Richtung. Mit dem absolut unspaltbaren Verhältnis ist damit ein Schlüssel gefunden, der den Zugang zu Ordnung in allen den Zuständen erlaubt, die nicht von der Geburt der Einzelheit in Kraft satzförmiger Rede, die Bedeutungen aus Situationen abruft, abhängen. Das ist zunächst ein Schlüssel zum Verständnis des tierischen Lebens. Tiere sind nicht nur mit absoluter Identität und Verschiedenheit vertraut, sondern sie leben auch in geordneten Verhältnissen, etwa mit dem Kumpan 34 , dem Fressfeind, dem Leittier, den Jungen, den Partnern der in manchen Spezies lebenslang monogamen Ehe. Was bei Menschen Beziehungen wären, sind bei Tieren, die ohne Einzelheit auskommen, unspaltbare Verhältnisse. Der Inhalt und die Ordnung können in beiden Fällen gleich sein, bloß die Ordnungsform ist verschieKonrad Lorenz, Über tierisches und menschliches Verhalten. Gesammelte Abhandlungen, Band I, München 1965, S. 115–282: Der Kumpan in der Umwelt des Vogels (1925)

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Vorbereitungen

den: Statt eines Geflechts gerichteter Beziehungen gibt es ungerichtete Verhältnisse. Das trifft auch auf die Sprachen zu, die Menschen geläufig sprechen. Der kompetente Sprecher verhält sich zu seiner Sprache, z. B. der deutschen oder der englischen, wie das Tier zu den Situationen, in denen es lebt und sich orientiert. Er entnimmt ihr, die er als Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Programmen (Regeln, Sätzen) ganzheitlich – gefiltert durch seinen persönlichen Sprachschatz – innehat, die Rezepte für die Realisierung seiner Mitteilungsabsicht (die Sätze für seine Sprüche), ohne diese Sätze nach vorheriger Musterung einzeln ausgewählt zu haben, indem er blind, aber treffsicher, vor Verwechslungen geschützt, hineingreift. Zum bloßen Schutz vor Verwechslungen würde die Vertrautheit mit absoluter Identität und Verschiedenheit genügen, aber die Sprache ist phonetisch, morphologisch, grammatisch und semantisch so hochgradig geordnet, dass Identität und Verschiedenheit allein kaum ausreichen würden, um sich in ihr zurechtzufinden. Wie das trotzdem gelingt, ist nun leicht erklärbar. Der Sprecher findet in seiner Sprache absolut unspaltbare Verhältnisse beliebigen Komplikationsgrades ohne einzelne Teilnehmer vor. Die dritte Anwendung der Kategorie des absolut unspaltbaren Verhältnisses betrifft das phänomenale Kontinuum. Es ist, wie ich schon 1964 bemerkt habe, 35 bar durchgängiger Identität und Verschiedenheit, erst recht der Einzelheit, aber von topologischen und geometrischen Ordnungen durchzogen. Diese sind als absolut unspaltbare Verhältnisse möglich.

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System der Philosophie Band I, S. 339–360: Das Kontinuum

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2. Die primitive Gegenwart und ihre Entfaltung

2.1 Das Geschehen der primitiven Gegenwart 2.1.1 Der Ursprung absoluter Identität Einzelheit kann man wegdenken, ohne den Bereich tatsächlicher Erfahrung zu verlassen; man hält sich dann an das Niveau der Tiere und der Säuglinge sowie der besonnenen Erwachsenen beim Benützen ihrer Sprachen zum flüssigen Sprechen und bei der flüssigen Körperbewegung im Gehen, Kauen, Sprechen usw. Auf diesem Niveau sind sogar subtile Ordnungen möglich, nur nicht in der Form der Beziehung unter einzelnen Beziehungsgliedern (1.4). Den Übergang von dort zum Umgang mit Einzelnem vollbringt die satzförmige, d. h. den Sätzen (Regeln) einer Sprache gehorchende, Rede, mit deren Hilfe es möglich ist, einzelne Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme, Probleme) festzuhalten, zu identifizieren und zu unterscheiden. Einzelheit ist ungestörte absolute Identität mit Fallsein von Gattungen (Sachverhalten). Nun fragt sich, ob es auch möglich ist, noch eine Stufe tiefer zu gehen und außer der Einzelheit auch noch die absolute Identität wegzudenken, um deren Ursprung zu ergründen. Dass ein solcher Versuch nicht aussichtslos ist, ergibt sich aus der Beobachtung, dass sogar die Inhalte eines absolut konfus chaotischen Mannigfaltigen, denen es im Binnenverhältnis an absoluter Identität und Verschiedenheit vollständig fehlt, unter Gattungen fallen und als etwas bestimmt sein können (1.2). Um dieser Möglichkeit näher zu kommen, gehe ich von einer Beobachtung und einem Gedankenexperiment aus. Der australische Materialist David Armstrong erinnert an den auch bei uns nicht seltenen und auf den schier endlosen 37 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die primitive Gegenwart und ihre Entfaltung

Straßen Australiens wohl noch häufigeren Zustand eines Autofahrers, der eine halbe Stunde lang ordentlich fährt und am Steuer seines Wagens mit korrekter Routine auf das einschlägig Wahrgenommene reagiert, aber erst beim Anhalten an einer roten Ampel merkt, dass er gefahren ist, während er sich bis dahin in sein Tun verloren hatte. 36 Armstrong deutet diesen Ausfall so, dass dem Fahrer lediglich das Sichbewussthaben abhanden gekommen, das Bewussthaben der Straßenverhältnisse aber geblieben sei. Das kann aus zwei Gründen nicht stimmen. Erstens vermag der Fehler so wenig von einzelnen Vorgängen in seinem Gesichtsfeld wie von einzelnen Ergebnissen seines Sichfindens zu berichten, und zweitens hat er nicht nur die Straßenverhältnisse wahrgenommen, sondern auch sein eigenes Verhalten korrekt danach eingerichtet, so dass ihm in der Selbstzuwendung nicht größere Ausfälle als in der Zuwendung zu seiner Umgebung unterlaufen sind. Offenbar war nicht nur sein Bewussthaben seiner selbst, sondern sein Bewussthaben überhaupt in Mitleidenschaft gezogen. Es kann aber auch sein, dass er während dieser Zeit an etwas anderes gedacht hat; dann wäre der Ausfall nur partiell gewesen. Mindestens müsste dieser die Vereinzelung betroffen haben, so dass der Mann sich nur an nichts Einzelnes mehr erinnern könnte, während die absolute Identität und Verschiedenheit im Geschehen ihm weiterhin präsent gewesen wäre. Aber dann wäre wenigstens eine vage Erinnerung zu erwarten, wie manchmal nach dem Erwachen aus einem Traum, wenn man zu sagen versucht ist: »Da war doch so was …« Der totale Ausfall lässt eher an ein Verlieren auch noch absoluter Identität und Verschiedenheit denken. In diesem Fall wird der achtlos routinierte, korrekte Autofahrer zur modernen Wiederauferstehung des Schlafwandlers. Die Berichte darüber Bewusstsein, hg. v. Thomas Metzinger, 3. Auflage Paderborn 1996, S. 104, 408 f., 412, aus Beiträgen von M. Tye und G. Gürzeldere mit Bezug auf D. Armstrong: A Materialist Theory of Mind, New York 1968, S. 93 f.; The Nature of Mind and Other Essays, Ithaca 1980

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aus älterer und neuerer Zeit sind Legion. 37 Die Schlafwandler vollbringen demnach abenteuerliche Leistungen, die die Geschicklichkeit der Wachenden übersteigen. »Dass die frühere Zeit reicher an Material ist, kann mit stärkerer Neigung zum Aberglauben erklärt werden. Dagegen spricht aber die Tatsache, dass frühere Forscher auch äußerst kritisch waren. Außerdem könnte die allgemeine Lebensstellung Bedingungen geschaffen haben, die seinem Auftreten ungünstig sind.« 38 In der Tat ist das heutige Leben so stark reguliert und vernetzt, dass Entfaltungen ins Phantastische beschnitten werden. Außerdem ist die Leistung des automatischen Fernfahrers trotz ihrer undramatischen Nüchternheit nicht weniger phantastisch als die des Schlafwandlers. Es könnte den Anschein haben, dass in solchen Fällen niemand tätig wird, sondern ein Geschehen nur so abläuft, als ob ein Subjekt auf Objekte wirke und von diesen beeinflusst werde. Wahrnehmungen und Reaktionen würden wie gewöhnlich ablaufen, und das Gesehen brauchte nicht einmal ins Unbewusste verbannt zu werden. Bewusstsein könnte es noch geben, aber niemand mehr, der dabei etwas bewusst hätte. Es wäre ein absolutes, unpersönliches Bewusstsein ohne Bewussthaben. Das war die Lehre des Empiriokritizisten Richard Avenarius; wenigstens verstehe ich ihn so, wenn ich lese: »In dem Was meiner Erfahrung muss auch ihr Wie enthalten sein. Zur reinen Hervorhebung dieses Wie ist vor allem zu erinnern, dass es schon eine Konzession an den Sprachgebrauch ist, wenn gesagt wurde: ich finde von dem gewählten Standpunkte aus einen Umgebungsbestandteil vor. … ein Umgebungsbestandteil ist mein Vorgefundenes. Das Ich-Bezeichnete ist nichts anderes als ein Vorgefundenes, und zwar im selben Sinne Vorgefundenes wie ein als Baum Bezeichnetes. Nicht also das Ich-Bezeichnete findet den Georg Anschütz, Psychologie. Grundlagen, Ergebnisse und Probleme der Forschung, Hamburg 1953, S. 463 f. 38 ebd. S. 464 37

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Die primitive Gegenwart und ihre Entfaltung

Baum vor, sondern das Ich-Bezeichnete und der Baum sind ganz gleichmäßig Inhalt eines und desselben Vorgefundenen.«39 Noch deutlicher wird er in der Anmerkung im Anhang: »Wie der Ausdruck ›Empfindung‹ bereits heute im wissenschaftlichen Sprachgebrauch den so anfechtbaren Gegensatz EmpfindendesEmpfundenes ausgeschaltet hat, würde es sich auch empfehlen, statt von dem ›Vorgefundenen‹ von der ›Vorfindung‹ zu sprechen. Die Bezeichnung ›Vorfindung‹ würde dann weiterhin alles umfassen, was die Bezeichnung ›Erfahrung‹ in einem analytisch berechtigten Sinn umfassen kann (…); aber eben den Vorzug haben, zugleich das Befreitsein von der Beziehung zu dem Gegensatz Subjekt-Objekt (…) mit zum Ausdruck zu bringen.« 40 Sicherlich will Avenarius die Vorfindung nicht ins Unbewusste verbannen, denn sie soll ja die gesamte Erfahrung im normalen, nur analytisch geklärten Sinn umfassen, aber er leugnet das Bewussthaben. Es soll keine Subjekte und keine Objekte mehr geben, sondern so etwas wie eine Welt mit lauter Schlafwandlern in der Helle eines Bewusstseins, das niemand mehr hat. Der Weltanschauung von Avenarius nähert sich eine große Gruppe von Sprachen, die um die Arktis herum von Indianern und Eskimo gesprochen werden oder wurden, die polysynthetischen Sprachen. Ein Beispiel, die grönländische Sprache, hat Nikolaus Finck mit bestechender Kunst dem Verständnis heutiger Leser nahegebracht. 41 Die meisten Sätze dieser Sprache bestehen aus einem einzigen Wort, dessen Kern ein Vorgangsausdruck – nicht bloß für echte Vorgänge – ist, dem sich vielseitig verwendbare Suffixe für Nebenbestimmungen anschließen, darunter Possesivpronomina, mit deren Hilfe die Richtung von Vorgängen angegeben wird. Vielleicht sollte man nicht von Pronomina sprechen, weil diese für selbständig auftretende Nomina Richard Avenarius, Der menschliche Weltbegriff, Leipzig 1891, von mir zitiert aus der 3. erweiterten Auflage Leipzig 1912, S. 82 (§ 143) 40 ebd. S. 119, Anmerkung 33 41 Nikolaus Finck, Haupttypen des Sprachbaus, Leipzig 1909, 4. Auflage Stuttgart (Darmstadt) 1961, S. 31–46 39

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Das Geschehen der primitiven Gegenwart

stehen, während der grönländische Satz nicht von solchem Nebeneinander selbständiger Formanten, sondern von der Einverleibung unselbständiger Formanten (Suffixe) in Quasi-Vorgangsausdrücke gefüttert wird. Das Pronominale ist dann eher adverbial, eher so etwas wie »meinerseits« als wie »mir« oder »mein«. Im idealtypischen Fall stellt ein solcher Satz ein Geschehen dar, das sich nicht von den Beteiligten her als deren Zusammenwirken aufbaut, sondern alle Teilnehmer als Nebenbestimmungen in die Ausmalung des Geschehens einbezieht. Wir können uns eine solche sprachliche Gestaltung der Sachverhalte an unseren Impersonaliensätzen verdeutlichen, z. B. »Hier ist gut sein«, »Hier lässt sich leben«, »Heute Abend wird lustig gefeiert, geht es lustig zu«. Für weiteren Ausbau dieser Satzkonstruktion zur Angabe der Umstände und der Teilnehmer ist unsere Sprache nicht gerüstet, aber mit einiger Künstelei könnte man sie tauglich machen, indem z. B. der Umstand, dass Peter, Maria und Angelika teilnehmen, so umschrieben würde: »Heute Abend wird hier peterseits, mariaseits, angelikaseits lustig bis zum Umfallen gefeiert.« Wenn man dieses oder das grönländische Formulierungskonzept auf die Spitze treibt, kommt man zum Idealtypus einer noch nicht ausgebildeten Sprache, in der alle Sachverhalte, Programme und Probleme, die wir mit unserer Sprache darzustellen vermögen, mit einem Wörtervorrat umformuliert werden könnten, der nur aus Infinitiven, Adverbien, einem zur Regelung aller grammatischen Zusammenhänge fein differenzierten System von Adverbialsuffixen und Konjunktionen bestünde. Kein einziger Name für einen Gegenstand käme in den Sätzen dieser Sprache vor; die Bestimmung von etwas als Träger von Bestimmungen wäre nicht vorgesehen, so dass Substantive, Adjektive, flektierte Verben, Aktiv- oder Passivformen nicht zu brauchen wären. Und doch wäre diese Sprache so leistungsfähig wie die unsrige, weil sie für jede Bedeutung eine Übersetzung anzubieten hätte, freilich manchmal mit einer Sinnverschiebung, weil z. B. Tun und Leiden nicht mehr zum Ausdruck kämen. Dafür würde anderes, z. B. die nicht durch Zu41 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die primitive Gegenwart und ihre Entfaltung

sammensetzung einholbare Ganzheit des Geschehens, besser zum Ausdruck kommen. Dass diese Idealsprache ohne Namen in so hohem Maße der unsrigen ebenbürtig ist, geht darauf zurück, dass es sich um eine reine Verhältnissprache handeln würde, die nur ungespaltene Verhältnisse thematisiert, während wir Verhältnisse in Beziehungen spalten, weil wir nur diskursiv denken können. Es hat sich schon ergeben, dass dieselben Ordnungen sowohl ungespalten als Verhältnisse wie auch als Netz von Beziehungen nach Spalten der Verhältnisse vorkommen können (1.4). Mit Verhältnissen kommen die Tiere aus und kommt Kants Gott mit seinem anschauenden, schaffenden Verstand 42 aus; ohne so hohen Anspruch appellierten barocke Esoteriker und Alchemisten wie Robert Fludd mit ihren Schaubildern an einen anschauenden Verstand 43 , dem eine reine Verhältnissprache angemessen wäre. Während Beziehungen einzelne Beziehungsglieder voraussetzen, sind Verhältnisse auch ohne Einzelheit möglich (1.4). Es fragt sich, ob sie auch ohne absolute Identität bestehen können. Das Gedankenexperiment mit der namenlosen (anonymen) Sprache weist auf eine solche Möglichkeit hin. In dieser Sprache könnte nur noch ein Geschehen ohne Teilnehmer dargestellt werden, z. B. Vorfindungen ohne Vorfindenden und Vorgefundenes nach Avenarius; was aber widerspruchsfrei dargestellt werden kann – nichts spricht für das Gegenteil –, muss als möglich zugelassen werden. Absolute Identität, die dafür aufkommt, dass die Welt in Sachen, die selbst (diese oder jene) sind und irgend welche Bestimmungen haben können, gegliedert ist, kämen in einer solchen Welt nicht mehr vor, obwohl sie durch Verhältnisse geordnet sein könnte. Ich spreche dann von einer teilnahmslosen, weil teilnehmerlosen, Welt. Gegen die Zumutung, in ihr auf Teilnehmer zu verzichten, kann der Einwand vorgebracht werden, dass doch wenigstens die Sachverhalte, die 42 43

Kritik der reinen Urteilskraft, 3. Auflage 1799, S. 349 f., vgl. 339–344 Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, Freiburg im Br. 2010, S. 31

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Das Geschehen der primitiven Gegenwart

in der anonymen Sprache aus der teilnahmslosen Welt berichtet werden, einzeln sein müssten. (Programme und Probleme wenden sich ohnehin an Teilnehmer.) Dieser Einwand trifft aber nicht zu. Mit den Aussagesätzen einer Sprache können immer nur einzelne Sachverhalte (auch viele mit einander) dargestellt werden. Das bedeutet aber nicht, dass nur einzelne Sachverhalte beschrieben werden könnten. Wir können über Sachverhalte sprechen, die ganz in die binnendiffuse Bedeutsamkeit von Situationen versenkt sind, z. B. über die höchst komplizierte Artikulation bei jedem normalen menschlichen Sprechvorgang. Die artikulatorische Phonetik analysiert dieses Geschehen als ein subtil abgestimmtes Zusammenwirken von Gaumen, Zunge, Zähnen und Lippen, wodurch der aus der Kehle aufsteigende und schon dort feinen Regulierungen unterworfene Luftstrom durch Öffnungen und Verschlüsse von allerlei Art gehemmt oder durchgelassen wird. Das sind lauter einzelne Sachverhalte, aber es wäre abwegig, zu behaupten, dass der artikulierende Mensch sie als einzelne durchmacht. Das nach Maßgabe der Erfahrung wirkliche Geschehen ist eine Situation, in der alle diese Sachverhalte zwar enthalten, aber in binnendiffuser Bedeutsamkeit versenkt sind; die artikulatorische Phonetik expliziert diese Bedeutsamkeit und rekonstruiert aus den Explikaten die Situation als Konstellation mit den Künsten der Naturwissenschaft. Wenn auf solche Weise durch Darstellung einzelner Sachverhalte Verhältnisse, in denen nichts Einzelnes mehr vorkommt, beschrieben werden können, ist nicht abzusehen, warum Entsprechendes nicht auch auf Verhältnisse zutreffen dürfte, die nicht einmal mehr absolute Identität enthalten. Eine teilnahmslose Welt ohne absolute Identität, erst recht ohne Einzelheit, aber in geordneten Verhältnissen darf also für möglich gehalten werden. In der Landschaft der Stringtheorie, die von einer spekulativen Strömung der modernen Physik entworfen wird, mag sie irgendwo vorkommen. Die Frage nach dem Ursprung absoluter Identität stellt sich nun so: Wie kann absolute Identität in eine teilnahmslose Welt hineinkommen? Das 43 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die primitive Gegenwart und ihre Entfaltung

kann nur durch einen Akzent geschehen, durch eine Hervorhebung oder Exposition, die die Gleichgültigkeit des Geschehens in der teilnahmslosen Welt durchbricht. Zu dieser Hervorhebung bedarf es der Negation: Das Identische muss sich vom Gleichgültigen, in dem nichts selbst ist, so absetzen, dass es nicht so ist. Diese Negation kann nicht die feststellende, propositionale Negation unserer Aussagesätze sein. Die stellen sämtlich einzelne Sachverhalte (wenn überhaupt etwas) dar, und Einzelheit kommt erst nach der absoluten Identität. Außerdem ist die propositionale Negation zirkulär definiert und bedarf für ihre Sinngebung daher der Anleihe bei einer tieferen, abzielenden oder finalen Negation, die wir gebrauchen, wenn wir »nein« statt »nicht« sagen. Mit Rücksicht auf den programmatischen Sinn von »nein« habe ich diese finale Negation in meiner früheren Darstellung 44 als die programmatische bezeichnet, aber von Programmen kann nicht die Rede sein, ehe Teilnehmer auftreten. 45 Die Zirkelhaftigkeit der propositionalen Negation ergibt sich aus der Definition: Ein negierender Satz ist falsch, wenn der davon negierte Satz wahr ist. (Es kommt auch vor, dass beide falsch sind; dann muss zu einer erweiterten Form des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten gegriffen werden. 46 ) Was falsch ist, lässt sich aber nur durch Negation (»nicht wahr«) erklären; das ist der Zirkel. Für die Sinngebung der Negation gibt es Vorschläge, die mindestens Teilnehmer (absolute Identität), vielleicht Einzelheit voraussetzen und das Negative nicht rein, sondern mit Zusätzen vermischt, darbieten, z. B. den Mangel (Privation, Fehlen von etwas), der auch schon wegen Zirkelhaftigkeit unbrauchbar ist, weil er darin besteht, dass etwas nicht da ist. Um den finalen Sinn, das Ziel der abzielenden Negation, rein darzustellen, so dass darin keine Teilnehmer angesiedelt sind, muss dieser Sinn Hermann Schmitz, System der Philosophie Band IV, Bonn 1980, in Studienausgabe 2005, S. 266–286: Die Negation 45 Zum Begriff des Programms: Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg i. Br. 2012, S. 11 46 wie Anmerkung 1, S. 72 f. 44

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Das Geschehen der primitiven Gegenwart

radikal sein, d. h. auf Vernichtung gehen. Wo kommt in unserer unwillkürlichen Lebenserfahrung etwas von Vernichtung vor? Ich finde nur eine einzige Gelegenheit, die nicht schon Teilnehmer voraussetzt: die leibliche Dynamik der Vernichtung von Weite durch Zurückdrängung in eine Enge ohne alle Weite. Als bezeichnendes Beispiel kann der Vorgang des Erstickens gelten, oder auch – banaler – ein heftiger Schreck, in dem die Engung aus dem Verband mit der Weitung, in dem sie als Spannung mit Schwellung verschränkt ist, gleichsam aushakt. Das ist ein Geschehen, das noch ohne Teilnehmer möglich ist und in der anonymen Sprache beschrieben werden könnte, aber gleichsam auf dem Grat des Übergangs zur Teilnahme durch Zündung der Betroffenheit in Schreck und Entsetzen steht. Da die phänomenologische Denkweise darauf angewiesen ist, sich immer an die unwillkürliche Lebenserfahrung zu halten und nur die zwingenden Evidenzen der Tatsächlichkeit zum Ausgangspunkt zu nehmen, nicht das, was spekulierende Menschen sich zurechtmachen, genügt dieses Ergebnis für die These: Absolute Identität kommt in die Welt durch den Weiteverbrauch extremer leiblicher Einengung. Dem oberflächlichen, eingeschliffenen Denken liegt es nahe, Identität für selbstverständlich zu halten, und auch nur relative Identität, hinter der die absolute gar nicht auffiel. »No entity without identity« lautete ein Slogan Quines. Dabei ist es gar nicht selbstverständlich, dass alles selbst ist, noch ehe in Frage kommt, ob es es selbst (mit sich identisch) ist. Die Welt könnte auch ganz verschwommen sein, nicht dadurch, dass Grenzen und Ränder in ihr undeutlich würden, sondern dadurch, dass nichts dieses oder jenes wäre, nicht einmal das alles zusammen, und auch nicht bloß dadurch, dass unterscheidende Bestimmungen fehlten, sondern wegen Abwesenheit möglicher Träger solcher Bestimmungen. Dass sie da sind, dass es absolut Identisches als Grundlage für Einzelheit und relative Identität gibt, ist das Werk eines Zeit stiftenden Ereignisses, das nun zu betrachten ist.

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Die primitive Gegenwart und ihre Entfaltung

2.1.2 Primitive Gegenwart Das Ereignis, das absolute Identität in die Welt bringt, ist das Geschehen der primitiven Gegenwart. Sie ereignet sich im plötzlichen Einbruch des Neuen, der die gleitende Dauer des Dahinlebens und Dahinwährens zerreißt und ins Vorbeisein verabschiedet, etwa als Schreck, als überwältigend aufzuckender Schmerz, bei heftigem Ruck oder Windstoß, wenn man einen Schlag auf den Kopf erhält oder den Boden unter den Füßen verliert, bei nächtlichem Auffahren aus dem Schlaf oder wenn ein schrilles Geräusch in das Dösen hineinfährt oder wenn man mitten auf der Straße von einem heftig und nah heranfahrenden Auto überrascht und beinahe überrollt wird. Die Person sinkt dann in ihr Hier und Jetzt ein, die mit einander und mit ihr verschmelzen, und die Wirklichkeit (das Sein) 47 packt den Betroffenen unmittelbar, ohne ihm Spielraum für Differenzierung zu lassen; alles schrumpft zur Eindeutigkeit auf die Spitze des Plötzlichen zusammen. In dieser Spitze sind also mit dem JetztMoment vier weitere Momente verschmolzen: das Hier-Moment, das Dasein oder die Wirklichkeit, das Dieses-Moment oder die absolute Identität und das Ich-Moment, die Subjektivität des Betroffenseins. In diesem Sinn ist primitive Gegenwart: Hier-Jetzt-Dasein-Dieses-Ich. Die Verschmolzenheit der fünf Momente besteht, ohne Metapher gesagt, in ihrem absolut unspaltbaren Verhältnis mit einander. Keines ist einzeln. Dass es fünf an der Zahl sind, ergibt sich erst in der Rückschau von der Vereinzelung aus. Ich beginne nun mit der Charakteristik der fünf Seiten oder Momente der primitiven Gegenwart.

Ich verwende die Ausdrücke »Wirklichkeit«, »Sein«, »Dasein«, »Existenz« promiscue als Synonyma. Oft bietet die gewachsene Sprache einen Haufen von Wörtern ohne Anlass zu begrifflicher Differenzierung an, während sie in anderen Fällen den Begriffsbildner in Wortnot zurücklässt.

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Das Geschehen der primitiven Gegenwart

Das Hier: Die räumliche Seite der primitiven Gegenwart ist die Enge, in die der Betroffene durch den Andrang des Neuen aus der Weite des Dahinlebens versetzt wird, als sei er weit weg gewesen. Diese Enge ist ein streng absoluter Ort. Wenn wir von Orten sprechen, meinen wir sie gewöhnlich als solche, wo etwas ist. Das sind relative Orte, die sich gegenseitig durch Lagen und Abstände an ihnen befindlicher Objekte bestimmen oder (relativ) identifizierbar machen. 48 Alle andersartigen Orte habe ich sonst als absolute bezeichnet, doch sind sie zum großen Teil nur schwach absolut, nämlich an Kontexte anderer Art gebunden. Das gilt z. B. für die durch das motorische Körperschema integrierten schwach absoluten Orte der spürbaren Leibesinseln 48, die man sich durch das Beispiel vom Insektenstich nahebringen kann: Wenn ein Jucken oder Brennen auf der Haut den Besuch eines Parasiten zu verraten scheint, fährt die dominante Hand unverzüglich an die gereizte Stelle, um den Störenfried zu vertreiben oder zu zerquetschen; weder braucht sie selbst der Lage und dem Abstand nach irgendwo aufgesucht zu werden, noch muss sie einen Ort suchen, wo die betreffende Stelle zu finden ist, sondern sie folgt mühelos den unumkehrbaren Richtungen des motorischen Körperschemas. Ein sehr suggestives anderes Beispiel ist ferner das geschickte Ausweichen vor einer in drohender Näherung gesehenen wuchtigen Masse (und sei es nur ein Schneeball); es gelingt, obwohl man den eigenen Körper nicht sieht, also auch nicht der Lage und dem Abstand nach mit dem Objekt abstimmen kann, vielmehr durch leibliche Kommunikation zwischen den Bewegungssuggestionen der Masse, dem auffangenden Blick und dem motorischen Körperschema, durch spontane Reaktion, die nicht zu fragen braucht, wo etwas ist. Solche schwach absoluten Orte Ich habe über diese relativen Orte und ihr System, den Ortsraum, sowohl dessen Abhängigkeit von tieferen Schichten der Räumlichkeit so viel geschrieben, dass die Aufzählung eine lange Liste ergeben würde, und verweise statt dessen auf meine Bücher Der Leib (Berlin 2011) und Situationen und Konstellationen (Freiburg 2005), S. 186–217.

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Die primitive Gegenwart und ihre Entfaltung

verfügen über eine eigentümliche räumliche Orientierung unabhängig vom Ortsraum. Dagegen ist der absolute Ort der primitiven Gegenwart stark absolut in dem Sinn, dass er mit anderen Orten nicht verwoben und von keiner räumlichen Orientierung abhängig ist, sondern in absoluter Identität isoliert, nur er selbst. Ich gebe ein Beispiel von der Bedrohung: Eine gespürte Bedrohung oder Bedrängnis ist unmöglich ohne das Bewusstsein, dass etwas auf mich (beispielshalber) zukommt, unter dessen Druck ich stehe; keineswegs gehört dazu aber das Bewussthaben eines Ortes oder auch nur einer Gegend, woher der Druck kommt, nicht z. B. bei diffuser Bangigkeit. Wohl aber muss der gespürten Bedrohung ein Ort vorschweben, wo das Bedrängende mich treffen könnte; wenn ich nirgendwo zu finden wäre, würde die Attacke ins Leere laufen. Dieser Ort, an dem ich der Bedrohung ausgesetzt bin, ist dem Spüren der Bedrohung also als stark absoluter Ort mitgegeben. Das Jetzt: Die zeitliche Seite der primitiven Gegenwart ist das Plötzliche als der Andrang des Neuen, der in Gegenwart eindringt, indem er Dauer zerreißt und Gegenwart aus ihr abreißt; die zerrissene Dauer erhält den Abschied im Vorbeisein, im Nichtmehrsein des in Weite ergossenen Dahinwährens. Die abgerissene Gegenwart wird durch den Einbruch des Neuen zu absoluter Identität exponiert. Zu ihr verhält sich das Neue als das Zukünftige, das erst entsteht, aber nicht, wie das Zukünftige nach gewöhnlichem Verständnis, als das Bevorstehende, das noch nicht ist. Dieses Zukünftige steht zum Gegenwärtigen in einer Beziehung, die möglich macht, dass es erwartet werden kann. Die Zukünftigkeit des entstehenden Neuen verhält sich zur Gegenwart vielmehr beziehungslos in einem absolut unspaltbaren Verhältnis des abstandlosen Eindringens, das durch Abreißen und Exponieren Gegenwart erzeugt. Ich bezeichne diese beziehungslose Zukunft als Appräsenz und ihre Zusammengehörigkeit mit der von ihr hervorgerufenen Gegenwart als Präsenz-Appräsenz. Sie ist, dem streng absoluten Ort ent48 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Das Geschehen der primitiven Gegenwart

sprechend, der streng absolute Augenblick der primitiven Gegenwart, ohne zeitliche Orientierung im Verhältnis zum Früheren oder Späteren, zu vergangenen oder künftigen Gegenwarten. Der streng absolute Augenblick unterliegt keiner Metrik, ist weder lang noch kurz, auch nicht der Limes der Verkürzung einer Zeitstrecke, der Augenblick, dem jede zeitliche Länge genommen ist, an den sich eine schon antike Aporie knüpft, s. u. 4.1. Von zeitlicher Länge, auch mit der Größe Null, kommt in der primitiven Gegenwart nichts vor. Die Verwandtschaft zwischen dem Jetzt der primitiven Gegenwart und dem Jetzt der unausgedehnten Stelle in einer Zeitstrecke besteht nur in dem Gegensatz zur Dauer, die in der Zeitstelle fehlt, im absoluten Augenblick aber zerrissen und ins Vorbeisein verabschiedet wird, so dass sich im Gegensatz zu der üblichen Vorstellung einer aus drei Gliedern (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) bestehenden Zeit eine zweigliedrige Struktur des Geschehens der Gegenwart ergibt, bestehend aus Präsenz-Appräsenz und ins Nichtmehrsein verabschiedeter Dauer. Dieser Abschied eröffnet die Perspektive in die Vergangenheit, die Möglichkeit, zu verstehen, dass etwas nicht mehr ist, allerdings noch nichts von Ordnung und Reihenfolge. Diese Perspektive bedarf aber nicht des von Bertrand Russell postulierten »specific feeling which could be called the feeling of ›pastness‹« 49 ; es genügt der Abschied im Geschehen der primitiven Gegenwart. Das Sein: Wirklichkeit (Sein, Dasein, Existenz) ist ein ExistenzInductivum, und zu jeder Sache mit einem Existenz-Inductivum als Bestimmung kann es eine mit ihr identische Sache ohne diese Bestimmung geben, weil Existenz-Inductiva keine Attribute (belanglos für die absolute Identität der bestimmten Sache) sind, also zu jeder wirklichen Sache eine mit ihr identische nicht wirkliche möglich ist (2.1.1). Im Fall der Wirklichkeit oder Existenz gibt es solche Sachen in der Tat, nämlich in Gestalt der vergan49

Bertrand Russell, The Analysis of Mind, London 1921, S. 162

49 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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genen Sachen, z. B. Ereignisse; sie sind nicht mehr, sind aber gegenwärtig gewesen und ohne jede Änderung identisch mit der Sache, die damals gewesen ist, denn sonst könnte man sich an diese Sache gar nicht mehr erinnern, sondern nur an eine Sache, die durch Abstreifen des Seins und Annahme des Nichtmehrseins eine andere geworden wäre; aber tatsächlich kann man sich an vergangene Sachen sehr wohl erinnern. Daraus folgt, dass es kein Kriterium des Seins (im Sinne einer zirkelfrei angebbaren, sowohl notwendigen als auch zureichenden Bedingung dafür, dass etwas ist) geben kann, denn ein solches Kriterium müsste eine saubere Trennung des Wirklichen vom Unwirklichen ermöglichen, aber das ist wegen der Identität von etwas Wirklichem mit etwas Unwirklichem unmöglich. Man darf also nicht darauf hoffen, jemals so etwas wie eine zugleich zirkelfreie und eindeutige verbale Angabe, was Wirklichkeit ist, zu gewinnen, und man kann sie auch nicht an den wirklichen Dingen ablesen, weil zu deren ablesbaren Zügen nur die Attribute gehören können, die für ihre Identität wesentlich sind. Den Sachen, die sich zeigen, kann man ihre Wirklichkeit nicht ansehen. Von der Wirklichkeit kann man nur gepackt werden, und dieses Gepacktwerden ist leiblich spürbare Engung, bald stärker, bald schwächer, so dass mit der Stärke die Gewissheit von Wirklichkeit steigt. Das Maximum der Enge ist bei der primitiven Gegenwart erreicht; sie ist also der Grund und Boden, die ursprüngliche Quelle der Wirklichkeitsgewissheit. 50 Nur durch solches Gepacktwerden kann Wirklichkeit evident werden; bloße Überlegungen können solche Evidenz nicht verschaffen. Für die gegenteilige Annahme beruft man sich gern auf die Überzeugungskraft von Descartes’ Argument »cogito ergo sum«. Nun hat schon Lichtenberg die Axt an die Wurzel dieIch will aber nicht verschweigen, dass ich selbst gelegentlich, ungerufen und unerklärlich, in gewissen Umständen, die mit Stille und Einsamkeit verbunden waren, überwältigende Wirklichkeitsgewissheit ohne starke leibliche Engung hatte.

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ser Überzeugungskraft gelegt mit seinem berühmten Aperçu: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt, es blitzt. Zu sagen cogito ist schon zu viel, wenn man es mit Ich denke übersetzt.« Aber dieser Einwand ließe noch eine Tür zum Erschließen von Wirklichkeit offen in Gestalt des Argumentes: »Es denkt, also ist etwas«. Dass auch dieser Weg nicht gangbar ist, habe ich bewiesen. 51 Ich gebe eine kurze Skizze des Beweises. Als einen QuasiTraum bezeichne ich einen Zustand, der mit manchen Schlafträumen folgende drei Eigenschaften teilt: 1. Der Träumer ist sich der Wirklichkeit dessen, was er träumt, gewiss. 2. Aus dem Traum kann es ein Erwachen geben, bei dem sich herausstellt, dass diese Gewissheit von vorn herein eine Täuschung war. Dafür genügt schon, dass dieses Erwachen möglich ist, auch wenn es nicht erreicht wird, z. B., weil der Träumer vor dem Erwachen stirbt. 3. Diese Enttäuschung ist iterierbar, in dem Sinn, dass man aus einem Traum in den nächsten usw. quasi erwacht, in der Weise, dass man nicht echt erwacht ist, sondern immer noch weiterträumt. Alle übrigen Züge des Schlaftraums spielen für Quasi-Träume keine Rolle. Es braucht nicht unterstellt zu werden, dass es Quasi-Träume wirklich gibt; es genügt, dass sie möglich, d. h. widerspruchsfrei denkbar sind. Nun seien n > 1 über einander geschichtete Quasi-Träume im Sinne der zweiten Bedingung als wirklich oder als bei Verhinderung des Weiterträumens potentiell erreichbar vorgestellt. Wenn n endlich ist, d. h. nach n Quasi-Träumen solcher Art echtes Erwachen stattfindet, bleibt trotz Enttäuschung vieler Illusionen die Gewissheit zurück, dass wirklich geträumt worden ist und nun endlich wieder realistisch, im Wachzustand, gedacht Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen, Freiburg/München 2005, S. 64–72: Cogito ergo sum?; referiert in: Der Weg der europäischen Philosophie Band 2, Freiburg/München 2007, S. 238 f.

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51 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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werden kann. Anders verhält es sich, wenn n die kleinste transfinite Kardinalzahl ist, wenn also die Leiter der geschichteten Quasi-Träume nach oben ins Unendliche weitergeht. Dann führt die Traumserie aus jeder Täuschung ohne Ende in eine andere, und nie wird eine gerechtfertigte Gewissheit, auch nur über das Träumen oder Denken selbst, erreicht. Egal, ob jemand träumt oder ob »es« träumt, wie es blitzt, nichts bleibt von der Wirklichkeit der gesamten Leiter, und für den Fall, dass weiter nichts als wirklich in Betracht kommt, bricht die ganze Argumentation sogar in der nach Lichtenberg reduzierten Gestalt zusammen. Mit dieser Widerlegung will ich niemand die Wirklichkeitsgewissheit streitig machen oder auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit für das Einpacken der angenommenen Wirklichkeit in einen unendlich hohen Turm von Quasi-Träumen in Anspruch nehmen. Meine Absicht ist lediglich, an diesem einzigen mir bekannten Versuch, Wirklichkeit durch Raisonnement anzudemonstrieren, dessen Untauglichkeit zu erweisen, um deutlich zu machen, dass die Gewissheit von Wirklichkeit überhaupt – ohne Rücksicht darauf, was wirklich ist – nicht durch Raisonnement, sondern nur durch Gepacktwerden von Wirklichkeit in leiblich-affektivem Betroffensein zu erlangen ist. Das Ich: Die Substantivierung des Pronomens der ersten Person des Singulars legt das Missverständnis nahe, es könne eine IchInstanz im Sinne der Freud’schen Metapsychologie oder eine Art von Kern der Person oder der Seele oder des Menschen gemeint sein. Es handelt sich aber nur um eine Anpassung der Ausdrucksweise. Gemeint ist die Subjektivität des Betroffenseins vom Andrang des Neuen in Gestalt subjektiver Tatsachen, deren Unterschied von den objektiven und neutralen Tatsachen, die jeder, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, auszusagen vermag, sich daran zeigt, dass höchstens einer, und zwar nur von sich selbst, sie aussagen kann. In meinem Fall, als Beispiel, geht es darum, dass etwas mir nahe geht, mich betroffen macht, mir zusetzt, oder wie man diese Nuance sonst um52 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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schreiben mag. Sie lässt sich auf zwei Weisen aussagen: »Dem Hermann Schmitz geht das nahe«, ohne Rücksicht darauf, dass ich er bin, und »Mir geht das nahe, ich bin betroffen.« Der Inhalt ist in beiden Fällen derselbe: Von demselben Mann wird das Selbe ausgesagt. Nur die erste Aussage betrifft einen objektiven oder neutralen Sachverhalt, der vielleicht eine Tatsache ist. Die zweite Aussage betrifft einen Sachverhalt, den höchstens ich darstellen kann; ein anderer würde, wenn er mir nachsprechen wollte, einen anderen Sachverhalt darstellen, denn er ist nicht ich. Gerade erst diese zweite Aussage verleiht dem Sachverhalt aber das echte Gewicht des Mir-Nahegehens. Diese Nuance wird zwar auch in der ersten Aussage erwähnt, aber abgeblasst zur Objektivität oder Neutralität des dargestellten (ausgesagten) Sachverhaltes. Der Unterschied kann nicht am Inhalt liegen, sondern nur an der Sachverhaltlichkeit bzw. Tatsächlichkeit. Es gibt also nicht nur verschiedene Tatsachen, sondern auch verschiedene Tatsächlichkeiten. Dieser Unterschied ist nicht daran gebunden, dass etwas ausgesagt wird. Subjektive Tatsachen der Art, dass jemandem etwas nahe geht (dass er davon affektiv betroffen ist) gibt es längst vor der Möglichkeit des Aussagens, etwa bei Tieren und Säuglingen, und bei Personen, die satzförmig reden können, unzählig oft, ohne dass ausgesagt würde. Zu ihnen gehört jedes Mal ein mindestens rudimentäres Sichbewussthaben; weil das Nahegehen (wieder in meinem Fall als Beispiel) immer ein Mir-Nahegehen ist und nur gelingen kann, wenn ich ineins damit mich finde, den, dem das nahe geht. Dieses Michfinden darf nicht auf einer Identifizierung beruhen, denn für diese müsste ich, der sich findet und gefunden wird, als das Relat, womit identifiziert wird, schon zur Verfügung stehen, also der Erfolg schon zuvor gewonnen sein, wenn nicht der unzumutbare regressus ad infinitum der dritten Parodoxie des Selbstbewusstseins 5 eintreten soll. Das Sichfinden in den subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins muss also frei von Identifizierung sein. Diese lässt sich aber, wenn es trotzdem zu einem Sichfinden kommen soll, nicht anders ersetzen als 53 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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durch das absolut unspaltbare Verhältnis von Subjektivität und absoluter Identität in der primitiven Gegenwart. Dieses braucht nicht mehr mit mir identifiziert zu werden, damit ich mich als dieses finden kann, wenn ich als der, dem etwas nahegeht, im absolut unspaltbaren Verhältnis mit diesem (absolut Identischen) zusammenfalle. Das ist zwar ein Verhältnis, aber ohne den geringsten Beigeschmack einer Beziehung wie der Identifizierung. Das ursprüngliche Sichfinden im affektiven Betroffensein wird also nur durch die Einheit von Subjektivität und absoluter Identität in der primitiven Gegenwart möglich. Dazu gehört auch schon in den ersten Anfängen des Sichbewussthabens durch bloßes affektives Betroffensein ein Bewussthaber, wenn man will: ein Subjekt, aber noch kein einzelnes, erst recht kein personales Subjekt. Ein absolut identisches, aber nicht einzelnes Subjekt kann man sich etwa nach dem Muster einer Kooperation mit verteilten Rollen in antagonistischer Einleibung vorstellen, wie beim Ballspiel, beim Blickwechsel und in allen Vollzügen leiblicher Kommunikation mit unwillkürlichem Ineinandergreifen von Aktion und Reaktion, wie beim Eifer im (z. B. sportlichen, militärischen) Gefecht, oder so, wie beim achtlos glatten Kauen fester Nahrung die Zunge im Mund geschont wird, ohne einzeln aufzufallen. Durch den Anteil subjektiver Tatsachen, die nicht einzeln sind, an der primitiven Gegenwart wird diese keineswegs zur Situation, was ich irrig einmal (oder mehrmals) behauptet und dann mit Nachdruck zurückgenommen habe. 52 Das Dieses: Mit dem substantivierten Demonstrativpronomen meine ich die absolute Identität, selbst zu sein. Sie wurde schon besprochen; jetzt geht es mir um ihr Verhältnis zur Subjektivität, dem Ich-Moment der primitiven Gegenwart. Eben hat sich herausgestellt, dass das zur Subjektivität gehörige Sichbewussthaben nur im unspaltbaren Verhältnis mit der absoluten Identi52

Hermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 240

54 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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tät möglich ist. Jetzt beschäftigt mich umgekehrt die Bindung der absoluten Identität an Subjektivität. Absolute Identität gelangt in eine teilnahmslose, weil teilnehmerlose Welt durch eine Exposition (Herausstellung, Hervorhebung), indem etwas zur Teilnahme durch den heftig engenden Andrang des Neuen geweckt oder gestellt wird, so wie die Polizei einen Verbrecher oder der Jagdhund das Wild stellt. Das ist nicht als bloßes Erleiden des Gestellten möglich, denn dann bliebe es bei einer bloßen Eingebundenheit in ein Geschehen ohne Hervorhebung. Diese ist nur möglich durch ein Heraustreten, das der exponierte Teilnehmer selbst mitmacht, um selbst zu sein. Die Exposition der Gegenwart als Ursprung absoluter Identität ist also ein passiv-aktives Geschehen mit der Doppelseitigkeit des affektiven Betroffenseins, das einerseits erlittener Angang ist, andererseits die Aktivität, darauf einzugehen, sich zu verstricken, und zwar in absolut unspaltbarem Verhältnis mit der passiven Seite (zusätzlich später, wenn ein personales Subjekt verfügbar ist, auch durch beziehendes Stellungnehmen). Ich habe diese aktive Seite des affektiven Betroffenseins als die Gesinnung bezeichnet und meiner Lehre von der Verantwortungsfreiheit zu Grunde gelegt. 53 Daher ist die absolute Identität ebenso an Subjektivität gebunden wie umgekehrt. Sie bedarf der Subjektivität aber auch über die primitive Gegenwart hinaus, damit von dieser aus durch leibliche Dynamik und leibliche Kommunikation 54 , später auch durch vereinzelnde Rede, absolute Identität auf alles, das sich dafür anbietet, übertragen werden kann; denn, wie am Ende des vorigen Abschnittes 2.1.1 gesagt wurde, nichts ist von sich aus selbst, geschweige denn es selbst.

Hermann Schmitz: Freiheit, Freiburg/München 2007, S. 66–74; Bewusstsein, Freiburg i. Br. 2010, S. 110–112; Das Reich der Normen, Freiburg/München 2012, S. 125–132 54 Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 15–27: Leibliche Dynamik, S. 29–53: Leibliche Kommunikation 53

55 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Vier der fünf Momente oder Seiten der primitiven Gegenwart entspringen aus ihr und gehören in ihr unzertrennlich zusammen: das Hier (Enge als stark absoluter Ort), Jetzt (das Plötzliche als absoluter Augenblick), das Dieses (absolute Identität) und das Betroffensein (Subjektivität). Eine Sonderstellung hat das Dasein. Ich habe nur die Wirklichkeitsgewissheit in der primitiven Gegenwart verankern können, nicht die Wirklichkeit selbst. Vielleicht ist sie auch unabhängig von der primitiven Gegenwart möglich, etwa als Wirklichkeit einer teilnahmslosen Welt.

2.1.3 Raum und Zeit Unter die absolute Identität taucht menschliche Erfahrung in tiefer Versunkenheit ab. Goethe erwähnt einen solchen Zustand von Ottiliens Besuch der renovierten Kapelle in Die Wahlverwandtschaften (2. Teil, 3. Kapitel): »Sie stand, ging hin und wieder, sah und besah; endlich setzte sie sich auf einen der Stühle, und es schien ihr, indem sie auf und umherblickte, als wenn sie wäre und nicht wäre, als wenn sie sich empfände und nicht empfände, als wenn dies alles vor ihr, sie vor sich selbst verschwinden sollte; und nur als die Sonne das bisher sehr lebhaft beschienene Fenster verließ, erwachte Ottilie vor sich selbst und eilte nach dem Schlosse.« Es handelt sich um Ausleibung55 durch Starren in Glanz (hier des Sonnenscheins) wie bei Seuse. 29 Mit dem Dieses (absolute Identität) verschwimmt auch das Ich (Subjektivität), wenn der Halt an der primitiven Gegenwart sich auflöst. In das banalere Milieu des Dösens versetzt Goethe die Versunkenheit mit einem Zeugnis, das er Hersilie in die Feder legt: »Ich saß denkend und wüsste nicht zu sagen, was ich dachte. Ein denkendes Nichtdenken wandelt mich aber manchmal an, es ist eine Art von empfundener Gleichgültigkeit.« 56 Die Versunkenheit ist das 55 56

wie Anmerkung 26, S. 50–53 Wilhelm Meisters Wanderjahre, 3. Buch, 17. Kapitel

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Eintauchen in ein Urkontinuum, das noch nicht nach Weite (räumlich) und Dauer (zeitlich) differenziert ist. Unter dem plötzlichen Druck des in primitive Gegenwart einbrechenden Neuen wird es zerrissen und teils als zerrissene Dauer ins Vorbeisein verabschiedet, teils ohne Riss zur Weite, die die exponierte Gegenwart nach ihrer räumlichen Seite umgibt. Als Beispiel habe ich unter 2.1.2 den stark absoluten Ort des Getroffenwerdenkönnens in einem Milieu diffuser Ängstlichkeit angegeben. Gegenwart ist der räumlichen Weite und der zeitlichen Dauer gemeinsam, und auch die Zukunft in dem Sinne, dass etwas kommt (auf den Betroffenen zukommt), ist nicht spezifisch zeitlich, sondern eine Bewegung, die im Raum wie in der Zeit sein kann; dagegen ist der Abschied ins Vorbeisein, das Nichtmehrsein, das spezifisch Zeitliche und auch für die zeitliche Gegenwart im gewöhnlichen Sinn dessen, was in der Weise ist, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein, schon vorausgesetzt. Man kann auch – das ist bloß eine Frage der Wortwahl – das Milieu des Urkontinuums als die Urweite ausgeben, die sich an der primitiven Gegenwart zur räumlichen Weite und zur zeitlichen Weite (Dauer) bricht. Dann sieht man, dass die Dimension von Enge und Weite für Raum, Zeit und Leib das grundlegende Verhältnis aufspannt. In der Sprache der leiblichen Dynamik 57 entspricht der Zeit die privative Engung, der Abriss der Engung von der Weite, die in ihrer zeitlichen Form als zerrissene Dauer ins Nichtmehrsein versinkt, dem Raum aber der vitale Antrieb, in dem Engung und Weitung so verschränkt bleiben, dass sich die Enge in einer unzerrissenen Weite exponiert und nach vielen Richtungen entfalten kann, ohne auf die unveränderliche Richtung des Abschieds ins Nichtmehrsein festgelegt zu sein. Diese einfache Gegenüberstellung wird aber dadurch kompliziert, dass die Urweite bei der Aufspaltung an der primitiven Gegenwart nicht vollständig auf zerrissene Dauer und unzerris57

wie Anmerkung 26, S. 15–27

57 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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sene räumliche Weite verteilt wird, sondern unzerrissene Dauer übrig bleibt, die zwar die zerrissene auf dem Weg des Abschieds ins Vorbeisein begleitet, diesem Abschied aber nicht verfällt. Besonders deutlich zeichnet sich dieser Zusammenhang an den hörbaren Zeitgestalten ab. Ein schriller Pfiff genügt schon. Er wächst an Intensität durch seine bloße Dauer. Anfangs ist er bloß lästig, aber wenn es mit ihm weitergeht, wird er unerträglich, so dass man sich die Ohren zuhalten möchte. Zu ihm, zu dem, was er dann ist, gehört also auch seine Vorgeschichte als unzerrissene, nicht abgeschiedene Dauer. Damit unterscheidet er sich von einer grellen Farbe, die so lästig ins Auge sticht wie der Pfiff ins Ohr. Wenn sie lange anhält, wird zwar diese lange Dauer zusätzlich lästig, so dass man sich abwenden möchte, aber die Farbe wird nicht greller als anfangs; ihre Intensität nimmt nicht zu. Die Farbe behauptet sich nicht mit eigener Geschichte gegen die Flüchtigkeit, den Fluss der Zeit. Noch deutlicher wird diese Geschichtlichkeit, mit der unzerrissene Dauer unbeirrt die zerrissene Dauer des Vergehens begleitet, an komplizierteren musikalischen Zeitgestalten, z. B. Melodien, auch größeren Einheiten mit Durchführung von Themen und Motiven. Musikalische Zeitgestalten sind Geflechte von Bewegungssuggestionen im Medium der Töne, d. h. Vorzeichnungen von Bewegung ohne von der Musik selbst ausgeführte Bewegung. 58 Als Vorzeichnungen greifen sie über den Augenblick des Erklingens hinaus. Daher gehen sie nicht in der Zeitfolge auf. Sie sind wie lebende Wesen, die dauern, ohne dass ihre Dauer zwiespältig in Phasen zerfiele wie die der Menschen.59 Wenn sie vorzeitig abbrechen, wie die letzte Fuge in Bachs Kunst der Fuge, ist es, als wäre ein Lebewesen vor der Vollendung, auf die es angelegt war, vom Tod ereilt worden. Während sie dauern, unterwerfen sie sich nicht dem Abschied von dem, was vorbei ist. Aber sie dauern auch nicht neben dem 58 59

ebd. S. 33–37 und sonst vielfach in meinen Schriften Zur zwiespältigen Dauer wie Anmerkung 1, S. 62–64

58 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Fluss der Zeit wie zuständliche Situationen, z. B. Sprachen, ohne merkliche Veränderung über längere Zeit, sondern mitten im Fluss der Zeit, indem sie das Wachsen der Vergangenheit für ihre Formung nützen und sich mit dieser wachsenden Vergangenheit retentional aufladen. Durch den Fluss der Zeit bildet sich ihre Gestalt, ohne durch den Abschied des und vom Vergangenen einen Riss zu erleiden. Sie sind schon da, noch ehe sie abgeschlossen sind. Man könnte versucht sein, dieses Phänomen auf die Erwartung abzuschieben, das Ganze am Endes des Aufbaus gehört zu haben. Aber diese Erwartung, auch als unwillkürliche Protention, ist wie jede Erwartung Erwartung von Sachverhalten, dass etwas eintritt, während die Retention, das frische Nachklingen des eben Gehörten, die ganze Fülle des vorangehenden Geschehens in allmählichem Abklingen weiterträgt. In dieser Beziehung gleichen die musikalischen Zeitgestalten während ihres Aufbaus eher einer Retention als einer Protention. Sie nehmen, wenn auch noch nicht in voller klanglicher Konkretion, nicht einen bloßen Sachverhalt, dass etwas geschehen wird, vorweg, sondern eine Gestalt wie die Stimme. Ähnlich wie die musikalischen Zeitgestalten mit unzerrissener Dauer mitten in der zerrissenen des Vergehens verhalten sich die leiblichen Zeitgestalten des vitalen Antriebs, z. B. Atmung und Gang. Die leibliche Gestaltung der Zeit beruht auf dem Ineinandergreifen von Engung und Weitung, das in zwei Formen vorkommt: als antagonistische Konkurrenz im vitalen Antrieb und als leibliche Richtung, d. h. unumkehrbares Hervorgehen aus der Enge in die Weite, wobei die Weitung die Engung mitnehmen kann, ohne sich gegen sie zu kehren (wie Schwellung gegen Spannung im vitalen Antrieb) oder sich von ihr als privative Weitung abzulösen. Die Atmung ist in der Struktur starr, in der Ausfüllung dieser Struktur durch Tempo und Krafteinsatz aber variabel. Ihre erste Phase (Einatmen) ist die allmähliche Verschiebung des Übergewichts von Schwellung zu Spannung in kompaktem Verband, bis die Spannung bedrohlich kulminiert. Die zweite Phase (Ausatmen) ist die Abfuhr der 59 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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übermächtig gewordenen Spannung durch leibliche Richtung. Entsprechend ist der Gang eines Menschen bei jedem Schritt rhythmischer Wechsel von Schwellung (ausgreifender Schwingung) und Spannung (dem Fallen vorbeugende Hemmung des Schwunges mit Wiederaufsetzen des Fußes), überwölbt von der unumkehrbaren leiblichen Richtung vorwärts. (Rückwärtsgehen ist ein im flüssigen Ablauf gebrochenes, unbeholfenes Gehen.) Auch diese leiblichen Gestalten verbrauchen Zeit, die ihnen ausgehen kann, und sind doch schon im Ansatz mehr als das, was jederzeit abbrechen kann. Wichtiger als die Zeitgestalten, die mit der zerreißenden und ins Vorbeisein abgleitenden Dauer mitgehen, sind als Weisen der unzerrissenen, aber mit der zerrissenen assoziierten Dauer: die zuständlichen Situationen. Die aktuellen Situationen, die dem beständigen Verbrauch ihrer Dauer durch Abreißen und Abschied ins Nichtmehrsein ausgesetzt sind, sind in zuständliche eingebettet, die sich – abgesehen von Katastrophen – nur über längere Fristen verändern, allerdings von den aktuellen Situationen in den Abschied nachgezogen werden können. Sie schützen die unverbrauchte Dauer gegen Riss und Abschied und umfassen alles gewohnheitsmäßig Selbstverständliche in Natur und Menschenleben. Sie überbrücken den Abschied und geben die Gelegenheit, zum Nichtmehrseienden die Brücke der Erinnerung zu schlagen. Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit sind die ursprünglichen Inhalte der Erfahrung (1.3) und prägen das Gesicht der Zeit durch das Verhältnis von zerrissener, dem Vergehen ausgesetzter, flüchtiger Dauer der aktuellen Situationen und unzerrissener, aber der zerrissenen assoziierter Dauer der zuständlichen. Nur weil der Riss im Geschehen der primitiven Gegenwart der durch den Abschied ins Vorbeisein zeitlich gewordenen Weite des Urkontinuums, der Dauer, so viel unzerrissene Dauer beigesellt, ist es möglich, dass die Zeit sich über den plötzlichen Einbruch des Neuen hinaus fortsetzt und nicht unter dem Druck dieses Andrangs mit Exponierung der Gegenwart erstarrt. 60 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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2.1.4 Dauer Die Exposition der Gegenwart im plötzlichen Einbruch des Neuen verzeitlicht Weite zur Dauer, indem sie diese zerreißt und die zerrissene ins Nichtmehrsein (Vorbeisein) verabschiedet. Der Riss ist aber nicht total; sonst stünde das Geschehen still, vom Schlag des Neuen erstarrt. Der zerrissenen Dauer gesellt sich unzerrissene bei, die mit dem Abschied verbündet ist, ohne ihm zu verfallen. Diese Dauer ist eine intensive Größe. Sie wird durch Projektion in den Raum zu einer extensiven Größe umgedeutet, als die Zeitstrecke, die zum Durchmessen einer Raumstrecke benötigt wird und mit Hilfe des Zeigers einer (natürlichen oder künstlichen) Uhr an der Bahn einer gleichförmig geschwinden Bewegung abgemessen werden kann. Diese Umdeutung benötigen die Menschen, um sich zu behaupten und ein geordnetes Leben führen zu können. Davon abgesehen ist die unzerrissene Dauer keine extensive Größe, d. h. keine Größe, die in Stücke zerlegt und aus diesen (tatsächlich oder in Gedanken) vollständig wieder zusammengesetzt werden kann. Die Dauer ist eine intensive Größe wie die Wärme, die ebenso wie sie in den Raum projiziert und dadurch messbar gemacht wird (durch das Thermometer), wobei in beiden Fällen ein prekäres, nicht zwingend als triftig erweisbares Projektionsmittel benützt wird: im Fall der Wärme das Vertrauen auf den mit dem Anstieg der Quecksilbersäule gleichmäßigen Anstieg der Wärme, im Fall der Dauer das Vertrauen in die gleichförmige Bewegung des Zeigers einer Uhr. Dass die Dauer vor ihrer Verräumlichung keine extensive Größe ist, lässt sich leicht an Längenunterschieden zeigen, die nicht räumlich sein können, nämlich der Länge und Kürze der Dauer von Tönen. Eine Folge langgezogener Töne kann nicht in ein Stakkato aufgelöst und aus diesem vollständig zusammengesetzt werden. Ein gregorianischer Choral ist keine Lachsalve, selbst wenn die einzelnen Ha-Ha-Ha-Geräusche sich bruchlos, ohne Zwischenzeit, an einander schließen. Allerdings kann man 61 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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eine lange Tondauer mit einer Folge kürzerer Töne messen, indem man feststellt, dass die lange Folge an denselben Zeitpunkten anfängt und aufhört, wie die Folge kurzer Töne. Aber dazu benötigt man den Zeitpunkt, und der ist nur zugänglich an einer Zeitstrecke, so dass von der Umdeutung der Dauer in eine Strecke Gebrauch gemacht wird. Ebenso wenig wie die Länge der Dauer von Tönen ist die Länge der Dauer einer Bewegung eine extensive Größe. Sie kann als solche aufgefasst werden, wenn man sie auf die Bahn einer Bewegung an der Oberfläche eines festen Körpers bezieht und die Zeit (Dauer) der Bewegung über diese Bahn an der gleichförmigen Dauer der Bewegung einer Uhr misst. Sowie aber der für die Bewegung unwesentliche Eintrag einer Bewegungsbahn auf feste Körper entfällt, wird es zur Künstelei, ihre Dauer in Stücke zu zerlegen und aus diesen vollständig wieder zusammenzusetzen, etwa, wenn man dem Flug eines Vogels oder dem Wandern eines Lichtscheins in der Nacht folgt. Bewegungen können schnell und langsam sein. Die Physik nivelliert diesen Unterschied durch Verräumlichung der Dauer und Messung mit der Uhr zur Geschwindigkeit als Quotient der Wegstrecke durch die Zeitstrecke. Damit tut sie der Dauer Gewalt an. Die Dauer einer Bewegung kann schnell und langsam in einer Weise sein, die dem Unterschied kurzer und langer Töne analog ist. Eine schnelle Bewegung unterscheidet sich qualitativ von einer langsamen. Die schnelle ist gedrängt, hastig, eilig, die langsame ruhig und entspannt. Metzger verdeutlicht den Unterschied durch ein lustiges Beispiel: Er weist darauf hin, »dass für unsere Augen der Kinderwagen schon wild dahinrast, wenn der Schnellzug erst ganz allmählich anrollt, und ihn dabei doch nicht überholt«. 60 Seine größere Geschwindigkeit verdankt der Schnellzug der Verräumlichung der Dauer zur Zeitstrecke. Auf die Dauer selbst bezogen, ist er aber nicht schneller. Allerdings Wolfgang Metzger, Gesetze des Sehens, 3. Auflage Frankfurt a. M. 1975, S. 574

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gibt es ein Kontinuum langsamerer und schnellerer Bewegungen, aber ohne die Nivellierung zur gleichmäßig skalierten Geschwindigkeit. Langsamere Bewegungen sind lockerer; schnellere sind dichter, enger, gepresster. Sehr schön bestimmt Suarez, der vor dem Einbruch der Physik lebte, Schnelligkeit als Verdichtung und Pressung der Teile einer Bewegung, so dass sie mehr vereinigt und sozusagen kondensiert seien. 61 Der Raum hat auf diese Unterschiede keinen Einfluss; er kann nicht schneller oder langsamer werden. Es handelt sich um Unterschiede der Länge und Kürze einer Dauer. Schnelligkeit ist Kürzung unzerrissener Dauer durch Verbrauch für den Riss im Abschied ins Vorbeisein, mit einem Wort: Schnelligkeit ist Flüchtigkeit der Dauer einer Bewegung. Langsamkeit ist die entsprechende Verzögerung des Abschieds. Dem entsprechend ist die langsame Bewegung zur Weite offen, locker und entspannt, die schnelle dagegen eng, dicht und hastig, als Annäherung an die Dauer zerreißende primitive Gegenwart. Zugleich entspricht dieser Gegensatz Grundzügen der leiblichen Dynamik, die durch leibliche Kommunikation an Begegnendes vermittelt werden 54: Die langsame Bewegung ist analog der Müdigkeit (privative Weitung) und dem tiefen, dunklen Schall, die schnelle der Frische (Spannung, epikritische Tendenz) und dem hellen, hohen Schall. Leib, Zeit (Dauer) und Raum stimmen in der Dimension von Enge und Weite in den Grundzügen überein. Die Intensität der Dauer wird noch deutlicher als an der bloßen Schnelligkeit am Schnellerwerden, der beschleunigten Bewegung als vermehrter Flüchtigkeit ihrer Dauer. Es ist klar, dass allmähliche Beschleunigung keine extensive Größe sein kann, weil sie sich nicht in Stücke zerlegen lässt, von denen jedes eine gewisse Schnelligkeit (Geschwindigkeit) hat; gleichwohl müsste jedes Stück, jede einzelne Phase einer Bewegung eine gewisse Schnelligkeit oder Langsamkeit besitzen, weil das Ganze der BeFranz Suarez, Disputationes Metaphysicae, zuerst Salamanca 1598, d.40 s.9a.10 und d.50 s.9a.8; Opera Omnia Band XXVI S. 568 und 953

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Die primitive Gegenwart und ihre Entfaltung

wegung überall mehr oder weniger schnell ist. Die beschleunigte Bewegung kann also nicht in einzelne Stücke (Phasen) zerlegt und aus diesen wiederhergestellt werden. Die Infinitesimalmathematik umgeht dieses Hindernis der Extensivierung, indem sie für jeden Zeitpunkt die Momentangeschwindigkeit bestimmt, aber das ist gar keine Geschwindigkeit, sondern nur deren Limes. Aber auch die Dauer gleichförmig schneller oder langsamer Bewegung ist eine intensive Größe, nämlich eine Gestaltqualität des Gesamtverlaufs, die verloren geht, wenn man sie in zu ihr zusammensetzbare Stücke zerlegt, also extensiviert. Das ist so, als wolle man eine Melodie in einzelne Takte zerlegen und aus ihnen wieder zusammensetzen. Dem Produkt der Zusammensetzung fehlt dann die das Ganze durchziehende Bewegungssuggestion (2.1.3), der Schwung, wodurch jede Phase über sich hinausgeht, der dem Ganzen das Gesicht (die Gestaltqualität) gibt. So auch bei der gleichförmigen Bewegung. Nachdem die intensive Natur der nicht extensivierten Dauer geklärt ist, stellt sich die Frage: Was ist eine intensive Größe, davon abgesehen, dass sie nicht extensiv ist? Aus der Geschichte der Erörterung dieses Problems, die in der mittelalterlichen Scholastik durch die Frage bestimmt war, ob die Vermehrung bzw. Verminderung der durch göttliche Gnade verliehenen Liebe (caritas) im Zusatz bzw. der Wegnahme von Gnadestücken bestehe, scheint mir die Antwort von Kant hervorzustechen; er definiert: »Nun nenne ich diejenige Größe, die nur als Einheit apprehendiert wird, und in welcher die Vielheit nur durch Annäherung zur Negation = 0 vorgestellt werden kann, die intensive Größe.« 62 Auch dieser Definitionsversuch leistet nicht, was er verspricht, die Abgrenzung der intensiven Größe gegen die extensive. Durch intensive Verminderung bis an das Verschwinden heran kommen nämlich nur schwächere Intensitäten zum Vorschein, und wenn diese zusammen die Vielheit in der als Ausgangspunkt der Verminderung gegebenen intensiven Größe 62

Kritik der reinen Vernunft A168 B210

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bilden sollen, wäre diese doch wieder aus ihnen als Stücken zusammengesetzt, also eine extensive und keine intensive Größe. Dagegen ist es mit den unter 1.4 eingeführten Unterscheidungen möglich, eine einwandfreie Begriffsbestimmung zu geben. Intensiv ist eine Größe, wenn ihre Teile mit einander in absolut unspaltbarem Verhältnis stehen. Daher kann man sie nicht wie die extensiven Größen in Teile zerlegen und aus diesen wieder zusammensetzen, denn das wäre nur durch Beziehungen zwischen den Teilen möglich. Von dieser Art sind z. B. die Wärme, die Lautheit und die intensive Länge einer Dauer. Teile einer intensiven Größe können also nicht einzeln sein. Der Vergleich intensiver Größen ergibt sich so: Von zwei gleichartigen intensiven Größen A und B ist A größer als B, wenn bei Mischung von A und B B zu einem intensiven Teil von A wird (also seine Einzelheit verliert). Für zwei verschiedenartige intensive Größen A und B ist ein Größenvergleich nur möglich, wenn sie sich (wie Liebe und Hass im Liebeshass oder Engung und Weitung im vitalen Antrieb) gegenseitig hemmen und das Verhältnis ihrer Hemmwirkungen auf einander – der Kontrast zwischen der Hemmkraft von der einen und der von der anderen Seite – selbst eine intensive Größe ist, also stärker und schwächer sein kann. Wenn A in diesem Verhältnis überwiegt, ist A größer als B, und zwar um so mehr, je größer der Kontrast ist. 63 Die extensive Dauer, die an der gleichförmigen Bewegung einer Uhr gemessen wird, setzt eine in diesem Sinn intensive Dauer voraus. Das kann man einsehen, wenn man darüber nachdenkt, was gleichförmige Bewegung ist: Sie ist eine Bewegung, Ich habe 1965 in System der Philosophie § 51a (Band II, Teil 1, S. 112– 121) unter dem Titel »Die Kampfnatur der Intensität« die Intensität selbst als diesen Kontrast eingeführt und musste mich seither mit dem mir von mir selbst vorgeworfenen Einwand herumschlagen, dass doch schon die Teilnehmer an dem Kontrast, Spannung und Schwellung, je für sich intensiv seien. Dieser Einwand kann nun problemlos zugegeben werden. Das dynamische Übergewicht ist mir noch für den Größenvergleich verschiedenartiger Größen wichtig.

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die nicht schneller oder langsamer wird. Also lässt sich der Unterschied schnellerer und langsamerer Bewegung, und somit Gleichförmigkeit als Fehlen dieses Unterschieds, nicht zirkelfrei durch gleichförmige Bewegung, z. B. einer Uhr, bestimmen. Vielmehr handelt es sich um einen Unterschied in der Bindungsform der Teile der Dauer einer Bewegung, nämlich den schon besprochenen Unterschied im Dichtegrad: Die schnellere Bewegung ist flüchtiger, weil näher am Zerreißen der Dauer durch Abschied ins Nichtmehrsein; daher sind ihre Teile enger zusammengedrängt. Die langsamere Bewegung hat mehr Spielraum durch unzerrissene Dauer; sie ist daher lockerer, entspannter. Mit der Langsamkeit nimmt die intensive Länge der Dauer zu, die intensive Dichte der Dauer dagegen ab. Zur Messung dieser Unterschiede ist die Umdeutung der intensiven Dauer in eine extensive Größe mit Hilfe der gleichförmigen Bewegung einer Uhr erforderlich; wenn man sich aber Rechenschaft davon geben will, worum es sich bei schneller und langsamer Bewegung handelt, verstrickt man sich in einen fehlerhaften Zirkel, wenn man nicht auf die Bindungsform der Teile intensiver Dauer zurückgeht. Dass diese Teile in absolut unspaltbarem Verhältnis stehen, ist das Merkmal, das sie von den Teilen einer extensiven Größe spezifisch unterscheidet. Ein bekanntes Problem besteht im Verhältnis von Qualität und Quantität an der intensiven Größe. Bei extensiven Größen nimmt dieselbe Qualität verschiedene Quantitäten an. Bei intensiven Größen ist es anders. Die intensive Größe kann zwar wachsen und abnehmen, aber dabei bleibt die Qualität nicht konstant, sondern wandelt sich in einem von der Art der Größe bestimmten Rahmen der Verwandtschaft. So ist z. B. große Wärme (Hitze) von milder Wärme auch qualitativ, nicht nur durch Größenzuwachs, unterschieden. Entsprechend ist die Schnelligkeit eines Vorgangs (d. h. die intensive Länge seiner Dauer), z. B. einer Lachsalve »Ha Ha Ha«, eine gesteigerte Flüchtigkeit, ein mehr sofortiges Vergehen und die entgegengesetzte Langsamkeit eine Verzögerung des Vergehens, aber keineswegs ist ein 66 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Das Geschehen der primitiven Gegenwart

langgezogener Ton ein vermehrtes Stakkato, ein zum »Ha Ha Ha Ha Ha« vergrößertes »Ha Ha Ha«. Die beharrende Qualität besteht bei intensiven Größen in einer spezifischen Ähnlichkeit solcher Qualitäten. Besonders deutlich wird das an der beschleunigten Bewegung. Beim Schnellerwerden gibt es gar keine Dauer, die im Verlauf zunehmen könnte und einmal diese, danach jene (größere) Geschwindigkeit hätte, denn die Schnelligkeit verwandelt sich stetig, ohne in irgend einem Stück des Ganzen bald diesen, bald jenen Wert anzunehmen, in der Weise fortgesetzter Straffung, Verdichtung und vermehrter Vergehensgeneigtheit der Dauer; daher verschiebt sich die Beschleunigung z. B. eines erst langsam anfahrenden, dann volle Fahrt aufnehmenden Eisenbahnzuges ähnlich wie die Qualität eines dunklen, dumpfen Tones durch Aufhellung. Die Unterschiede von Flüchtigkeit und Beharrlichkeit (Schnelligkeit und Langsamkeit) der Dauer sind unübersehbar ihrer Fülle und Verteilung nach; man denke nur an alle die Vorkommnisse von Langeweile und Kurzweil. Man sagt, die Zeit selbst könne nicht, wie ein Prozess, schneller und langsamer vor sich gehen. Bezogen auf die Dauer als intensive Größe ist das falsch. Sie schwankt unabsehbar nach beiden Richtungen, aber ohne Ordnung und durchgängigen Zusammenhang; ein solcher ergibt sich erst durch die Egalisierung, die mit der Extensivierung (Verräumlichung) der Dauer verbunden ist. Die unzerrissene Dauer überspielt mehr oder weniger den Riss durch die primitive Gegenwart und gibt damit der zeitlichen Gegenwart (anders als dem absoluten Augenblick des Plötzlichen, der zeitlichen Seite der primitiven Gegenwart) einen gewissen Spielraum, den William James so beschrieben hat: »Die praktisch erkannte Gegenwart ist keine Messerschneide, sondern ein Sattelrücken mit einer gewissen ihm eigenen Breite, auf den wir uns gesetzt finden und von dem aus wir nach zwei Seiten in die Zeit hineinblicken. Die Einheit des Aufbaus unserer Zeitwahrnehmung ist eine Dauer, die einen Bug und ein Heck – gewissermaßen ein rückwärts- und ein vorwärtsblicken67 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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des Ende – hat.« 64 Diese Breite kann beträchtlich schwanken, weil Menschen in Situationen leben und Situationen wahrnehmen, aus denen sie Konstellationen machen. Diese Situationen sind teils aktuell, teils zuständlich (1.3). Der Verlauf aktueller Situationen kann in beliebig kurzen Abständen verfolgt werden. Diese Beliebigkeit reizt den Gedanken zur Konstruktion einer konvergenten Reihe immer kürzerer Dauerintervalle, deren Limes ein dauerloser Moment wäre. Dazu gibt es auch einen weniger spielerischen Anlass in Gestalt der gespannten, drängenden Erwartung einer für wichtig gehaltenen Entscheidung. Dann rennt der Mensch gegen die Langsamkeit der Dauer an, indem er sich »jetzt und jetzt und jetzt« vorsagt und in kurzen Abschnitten fortwährend auf die Uhr blickt. Es reizt ihn, die ihm zu langsame Dauer zu tilgen, am liebsten in eine dauerlose Zeitstelle einschrumpfen zu lassen. Diese Aufdringlichkeit des Langsamen gleicht der bei Langeweile, obwohl ihr ganz die Entspanntheit des gelangweilten Menschen fehlt, der ohnmächtig und schlaff einer beharrlichen Dauer ohne Anteile von Beschleunigung ausgeliefert ist. Der Mensch lebt aber nicht nur in aktuellen, sondern auch in zuständlichen Situationen, deren Verlauf erst nach längeren Fristen auf Verwandlungen abgefragt werden kann. Zu diesen gehört seine persönliche Situation, seine Persönlichkeit, und die der anderen Menschen, die ihm begegnen. Zuständliche Situationen widersetzen sich der Konvergenz auf einen dauerlosen Augenblick und geben der Gegenwart das Gesicht einer unbestimmt ausdehnbaren Weite, die es erlaubt, sogar vom gegenwärtigen Zeitalter zu sprechen. Es gibt manche Vorschläge und Bemühungen, im Dienst des Ideals, sich dem Zerreißen der Dauer unter dem Druck des plötzlich andrängenden Neuen ganz zu entziehen und die unzerrisseWilliam James, The Perception of Time, in: Journal of Speculative Philosophy 19, 1886, S. 371–407, Zitat der deutschen Übersetzung in: Walther Zimmerli, Mike Sandbothe (Hg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 1999, S. 31–66, hier 35

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ne Dauer zu einer verweilenden Gegenwart statt der über dem Abgrund des Vorbeiseins exponierten primitiven Gegenwart auszubauen. Ich habe die Philosophie und Lebensart Epikurs und seiner Schüler als den Versuch gedeutet, den Genuss verweilender Gegenwart durch Kultur milder Lüste unter Abwehr der aufregenden Lüste und Ängste (z. B. vor dem Tod) im abgeschirmten Freundeskreis mit Rückzug aus der Öffentlichkeit in einen Garten auf Dauer zu stellen. 65 Vom Glück eines solchen Zustandes, »wo die Gegenwart immer dauert, ohne doch ihr Dauern hervortreten zu lassen und ohne irgend eine Spur von Sukzession, ohne anderes Gefühl von Mangel und Genuss, Freud’ und Leid, Begierde oder Furcht als bloß das unserer Existenz« schwärmt Rousseau in der 5. Promenade seiner Träumereien eines einsamen Spaziergängers vom einsamen Aufenthalt auf der St. Peters-Insel. 66 Ein anderes Verfahren, sich dem Abschied und Zerreißen der Dauer zu entziehen, ohne sich in Einsamkeit zurückzuziehen, empfiehlt Goethe: Verweile nicht und sei dir selbst ein Traum, Und wie du reisest, danke jedem Raum, Bequeme dich dem Heißen wie dem Kalten; Dir wird die Welt, du wirst ihr nie veralten. 67 Goethe ruft hier zu einem Leben auf, das sich der Exposition der Gegenwart und damit dem Abschied entzieht, indem es sich dem Fluss der Zeit ohne Hemmung überlässt und das Neue, statt als bedrängend Einbrechendes und Abreißendes, als beim Reisen betretenen Raum versteht, dem man sich dankend zuwenden kann, Der Weg der europäischen Philosophie Band 1, Freiburg/München 2007, S. 316–322 66 Jean-Jacques Rousseau, Les Rêveries du Promeneur Solitaire, ed. Rodier (Classiques Garnier), Paris 1960, S. 70 f., deutsch von R. J. Humm, Basel 1943, S. 119 f., mit Benutzung dieser Übersetzung von mir ausführlich angeführt in: Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit, Bonn 1988, S. 6 67 sprichwörtlich, in der von mir benützten Propyläenausgabe von Goethes Werken Band 27, S. 43 65

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weil er ohne Riss umgibt (2.1.3). Es ist ein Leben vollendeter Anpassungsfähigkeit an das jeweils Umgebende, ein Leben, das an nichts fest wird, so dass ihm der Abschied erspart bleibt, den der auskosten muss, der sich an etwas hält, das ihm entgleitet. Einem solchen Leben bleibt das Altern und Veralten erspart, zugleich aber die nur in der primitiven Gegenwart zu findende Verschmelzung von Subjektivität, absoluter Identität und Sein: Sich selbst wird der reisende Anpasser zum Traum ohne Wirklichkeit. Ein Mittelding zwischen unzerrissener und zerrissener Dauer ist die von Husserl beschriebene Retention, das frische Behalten des eben Erlebten. Husserl orientiert sich am Hören eines anhaltenden Tones. Er fasst dieses Hören so auf, als ob in jedem Augenblick einer stetigen Folge eine frische Urimpression einsetze. Dies wäre ein Linearkontinuum erster Stufe. An jede Urimpression soll sich eine stetige Folge des in starrem Gleichmaß stetig sich abschwächenden frischen Behaltens dieser Urimpression anschließen. Diese Folge soll wiederum aus lauter einzelnen Retentionen bestehen, so wie das Linearkontinuum erster Stufe aus lauter Urimpressionen. Auf diese Weise ergibt sich eine stetige (aktual unendliche) Folge von Linearkontinuen zweiter Stufe. Alle diese Linearkontinuen mit einander werden einer gemeinsamen Retention unterworfen, einem Flächenkontinuum frischen Behaltens einer stetigen Folge stetiger Folgen frischen Behaltens von Urimpressionen (diese eingeschlossen). 68 Husserl wehrt sich gegen die Gleichsetzung der Retention mit einem Nachklingen, das die Urimpression nur in abgeschwächter Form wiederholen würde; vielmehr gehöre es »zum Wesen der Zeitanschauung, dass sie in jedem Punkt ihrer Dauer (die wir reflektiv zum Gegenstand machen können) Bewusstsein von eben Gewesenem ist, und nicht bloß Bewusstsein vom Jetztpunkt des als dauernd erscheinenden Gegenständlichen.« 69 so meine Rekonstruktion des Konzepts von Husserl nach seinen Angaben: Der Weg der europäischen Philosophie, Band 2, S. 671 69 Husserliana Band X: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Haag 1966, S. 32 68

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James hatte geschrieben: »Objekte verschwinden langsam aus dem Bewusstsein«, »wobei sich die nachklingenden Elemente der Vergangenheit sukzessive entfernen und die herankommenden Elemente der Zukunft den Verlust wettmachen.« 70 Die Weiterführung dieses Gedankens in Husserls Retentionstheorie besteht darin, dass nicht nur die frischen Eindrücke behalten werden, sondern auch deren Behaltungen als eben gewesen in stetig sich abschwächenden Ketten, gleichfalls in stetig sich abschwächender Folge. Husserl hat seine Retentionstheorie – beiläufig ergänzt durch den Gedanken der Protention, die er als symmetrisches Spiegelbild der Retention im unwillkürlichen Gefasstsein auf das Bevorstehende versteht – zum Keim einer tiefen und umfassenden Spekulation gemacht, die unter das normale Zeiterleben ein zeitkonstituierendes Urbewusstsein, das sich selbst konstituiere, zum »letzten und wahrhaft Absoluten« erlebt, das sogar das die Welt nach seiner Meinung transzendental konstituierende Ich von diesem Primat zu verdrängen droht. 71 Nicht nur dies ist eine bodenlose Erfindung, sondern die zu Grunde liegende Retentionstheorie selbst ist mit ihrer Übertreibung des Singularismus unhaltbar. Es trifft nicht einmal zu, dass das Hören eines anhaltenden Tones in einer (auch noch stetigen) Folge immer neuer frischer Urimpressionen bestünde, und nun gar die Auflösung der Retention in ein zweidimensionales Kontinuum eindimensionaler Kontinuen aus lauter einzelnen, sich allmählich abschwächenden Retentionen ist phantastisch. Ich habe den Verdacht, dass Husserl die Inspiration zu dieser ausschweifenden Konstruktion von der Punktmengenlehre Georg Cantors, dem Entdecker des mathematischen Ordnungstyps der Stetigkeit, Begründer der Topologie und der Mengenlehre, erhielt, da dieser als Professor der Mathematik in Halle wirkte, als Husserl wie Anmerkung 64, S. 32 Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 156–161: Die Unterminierung des Ich; die zitierten Worte dort S. 158

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dort Privatdozent für Philosophie war. Aber abgesehen von diesen Übertreibungen hat Husserls Retentionstheorie sicherlich das Verdienst, ein Übergangsfeld vom Seienden zum Nichtmehrseienden zu erschließen, gleichsam einen Abhang zum Vorbeisein, wo der Riss des Abschieds in der Dauer vergrößert ist, ein Verrinnen und Entgleiten mit intensiver Größe allmählicher Abschwächung etwa so wie beim Verblassen des Abendrots. Allerdings überschätzt er die Tragweite seiner Entdeckung, wenn er die Retention für einen wesentlichen Bestandteil des Bewusstseins zeitlicher Objekte hält. Sein Beispiel vom anhaltenden Ton kann nicht verallgemeinert werden. Ich habe unter 2.1.3 auf den Unterschied zwischen der Geschichtlichkeit des Schalls und der Ungeschichtlichkeit der Farbe hingewiesen. Schälle können langgezogen sein, wie ein anhaltender Ton oder Pfiff, und dazu gehört Retention. Entsprechend in der Dauer langgezogene Farben gibt es nicht. Auf die jeweilige Gegebenheit der Farbe hat die Vorgeschichte keinen Einfluss. Farben haben keine Retention. Das Entsprechende gilt sogar im Bereich des Schalls vom verständlichen Hören von Sprüchen. Man nehme einen besonders übersichtlichen Satz von Kant, etwa Kritik der reinen Vernunft B224: »Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert.« Beim verstehenden Hören (oder Lesen mit Hören in der Vorstellung) ergibt sich der zeitliche Zusammenhang ohne Beteiligung der Retention des Schalls, die viel zu kompliziert wäre und in Wirrwarr unterginge, wenn man sie an die unübersehbar vielen und verschlungenen Einzelschälle dieses Textes anknüpfen wollte. Vielmehr ist es einerseits die an Protentionen unwillkürlichen Gefasstseins auf Bevorstehendes sich vorantastende Auffassung des Satzbaus, andererseits der in spielerischer Identifizierung sich als Sinn der Rede herausstellende Komplex von Sachverhalten 72 ,

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Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg i. Br. 2012, S. 259 f.

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als der dieser Text verstanden wird, der dem Leser von Kants Sprüchen den zeitlichen Zusammenhang verleiht. Viel aufschlussreicher, um den Zusammenhang von Gegenwart und Vergangenheit, unzerrissener und zerreißender Dauer, kennen zu lernen, als die von Husserl studierte kontinuierliche Retention ist die diskrete. Ich denke an folgenden Vorgang: Die Zuhörer eines unerwarteten, beklemmenden Geräusches fahren unruhig auf mit der Frage: »Was war das?« Das Geräusch ist ihnen noch wie gegenwärtig – aus ihrer aktuellen Wahrnehmung noch nicht entlassen –, aber gegenwärtig nicht im exklusiv zeitlichen Sinn, sondern als noch da, noch anwesend, obwohl schon vergangen; deshalb das Imperfekt. Dies ist ein sinnfälliges Beispiel für das nur leicht, so dass die zur Frage nach einer Ursache gehörige Orientierung erhalten bleibt, gedämpfte Geschehen der primitiven Gegenwart: dass unter dem Druck der plötzlichen Ankunft des Neuen Gegenwart exponiert und Dauer zerrissen wird, nämlich die harmlosere Dauer vor der Beunruhigung. Diese Dauer entgleitet ins Vorbeisein und nimmt die zerreißende Störung so mit sich, dass diese, obwohl noch anwesend, als vergangen wahrgenommen wird. Es handelt sich um eine echte Wahrnehmung von Vergangenem; Erinnerung spielt keine Rolle. Die Perspektive in die Vergangenheit wird ursprünglich nicht von dieser, sondern vom Schreck eröffnet, der Dauer zerreißt und ins Vorbeisein entgleiten lässt, aber so, dass die Dauer, ebenso wie bei der kontinuierlichen Retention, nicht ganz entglitten, sondern noch da ist. Wittgenstein lag also falsch mit der Behauptung: »Den Begriff der Vergangenheit lernt ja der Mensch, indem er sich erinnert.« 73 Er wollte damit einen Zirkel aufdecken, als ob Vergangenheitsbewusstsein Erinnerung und Erinnerung Vergangenheitsbewusstsein voraussetze; diesen Zirkel gibt es also nicht. Wenn dagegen das unerwartete Geräusch nicht beklemmend, sondern harmlos erscheint, indem jePhilosophische Untersuchungen Teil 2, Kapitel 13; Werkausgabe in 8 Bänden Band 1, Frankfurt a. M. 1984 (7. Auflage 1990), S. 579

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mand z. B. es spielerisch einem verdeckten Instrument entlockt, fragen die Zuhörer nicht »Was war das?«, sondern eher, neugierig oder belustigt: »Was ist das?« In diesem Fall wird nicht vom Druck des Neuen Dauer zerrissen und in Vergangenheit verabschiedet, sondern unzerrissene Gegenwart wird gehört, wie William James sie beschrieb. 64

2.2 Die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt Das Geschehen der primitiven Gegenwart wird von unzerrissener Dauer überlagert, so dass es sich fortsetzen kann, ohne die Dauer durch den Riss des Abschieds auf einmal erschöpft zu haben, aber gewöhnlich in einer von der unzerrissenen Dauer gedämpften Weise als Engung im vitalen Antrieb. Im vitalen Antrieb, den ich als die Achse der leiblichen Dynamik 54 bezeichnet habe, sind Engung und Weitung als Spannung und Schwellung antagonistisch verschränkt, bald mit mehr Spannung wie bei Angst, Schmerz, Beklommenheit, bald mit mehr Schwellung wie bei Wollust und Zorn. Im Geschehen der primitiven Gegenwart löst sich die Engung von der Weitung; an die Stelle der Zusammenziehung, der übermächtigen Hemmung einer weitenden Tendenz, in Angst und Schmerz tritt das Zusammenfahren beim plötzlichen Einbruch des Neuen. Sofern aber der vitale Antrieb das Geschehen der primitiven Gegenwart gedämpft fortsetzt, trägt er dessen Spur in sich, weil er sonst die absolute Identität verlöre; denn in dem Spielen zweier gegensätzlicher Tendenzen oder Impulse, die einander hemmen und treiben, ist nichts so hervorgehoben, dass es selbst dieses wird, wenn nicht der Schlag des Geschehens der primitiven Gegenwart darin anoder nachklingt. Tatsächlich stehen plötzliche Angst, plötzlicher Schmerz auf der Kippe zwischen Spannung und privativer Engung. Zwischen Spannung und Schwellung vermittelt im vitalen Antrieb die leibliche Richtung, die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führt, als eine Weitung, die weder wie die 74 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt

Schwellung mit der Engung konkurriert noch sich wie privative Weitung von dieser löst, sondern sie mitnehmen kann, etwa als konvergierender Blick, als stoßendes Ausatmen. Die Atmung ist eine solche Vermittlung. Beim Einatmen konkurrieren Schwellung und Spannung in der Weise, dass anfängliches Übergewicht der Schwellung allmählich und stetig, wenn auch ganz schnell, in Übergewicht der Spannung überführt wird, die, ehe sie unerträglich wird, durch die leibliche Richtung des Ausatmens in die Weite abgeführt wird. Der vitale Antrieb durchzieht nicht nur den Leib und hält durch Spannung das Gewoge verschwommener Leibesinseln zusammen, sondern verbindet ihn auch mit Partnern als Einleibung durch einen gemeinsamen Antrieb in ein übergreifendes leibliches Ganzes. Das geschieht sowohl im Verhältnis zu Leibern als auch zu Leiblosem, das in die Einleibung durch leibnahe Brückenqualitäten (sowohl am eigenen Leib spürbar als auch an Begegnendem wahrnehmbar) eintritt, nämlich durch Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere. Ich habe das so vielfach und deutlich, auch noch kürzlich, 54 herausgearbeitet, dass ich hier keine Beispiele anzugeben brauche. Einleibung in unspaltbarem Verhältnis ist vor der Vereinzelung und der Entfaltung der primitiven Gegenwart die beherrschende, wahrscheinlich die einzige, Gestalt leiblicher Kommunikation und Form der Wahrnehmung (vor der durch Vereinzelung ermöglichten Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt) 74 und aller sozialen Kontakte, sowohl als antagonistische Einleibung (mit Zuwendung zum Partner wenigstens von einer Seite, als Gefesseltsein oder Auseinandersetzung) wie auch als solidarische (ohne solche Zuwendung). Räumliche Weite und unzerrissene Dauer, Geschehen der primitiven Gegenwart, daran anschließende leibliche Dynamik Hermann Schmitz, Wahrnehmung als Verhältnis, in: Näher dran? Zur Phänomenologie des Wahrnehmens, hg. v. Steffen Kluck und Stefan Volke, Freiburg/München 2012, S. 245–256

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und leibliche Kommunikation (Einleibung) sind die Grundzüge einer Lebensform, die ich als Leben aus primitiver Gegenwart bezeichne. Tiere und kleine Menschenkinder in den ersten Monaten sind ganz darin befangen. Dieses Leben ist reich differenziert durch die Situationen aller Art, in denen es sich abspielt. Es wird von der binnendiffusen Bedeutsamkeit dieser Situationen, namentlich von den darin enthaltenen Programmen der Anziehung und Abstoßung, bestimmt und entbehrt – bis auf geringe, gleich zu erwähnende Ausnahmen in Sonderfällen – der Einzelheit. Dafür ist es, aus dem Erbe der primitiven Gegenwart, mit absoluter Identität und Verschiedenheit versorgt. Deren bedürfen schon die Tiere, um bei den höchst komplizierten und differenzierten Formen ihres Vollzuges leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation nicht der Verwechslung zu verfallen, schon bei einfachen Körperbewegungen wie dem Gang und dem Kauen, die vor Verwirrung (Apraxie) geschützt sind. Obendrein gibt es fein durchgebildete soziale Ordnungen im Tierreich; dazu genügen unspaltbare Verhältnisse, die im Gegensatz zu Beziehungen keiner Einzelheit bedürfen (1.4). Ferner verfügt dieses Leben über eine subtile, zur Bewältigung vieler Aufgaben vorzüglich geeignete räumliche Ordnung, die ohne Orte, wo etwas ist, auskommt. Sie beruht auf dem Ineinandergreifen leiblicher Richtungen und der entgegenkommenden Richtungen von Bewegungssuggestionen, die mit Hilfe des aus unumkehrbaren leiblichen Richtungen bestehenden motorischen Körperschemas75 aufgefangen werden, und funktioniert so auch bei normalen menschlichen Personen. Ich gebe dafür einige Beispiele. Wenn ein Jucken oder Brennen auf der Haut den unerwünschten Besuch eines Parasiten zu verraten scheint, fährt die dominante Hand blitzschnell an die gereizte Stelle, ohne an einem der Lage und dem Abstand nach bestimmten relativen Ort aufgesucht zu werden und ohne einen solchen Ort der Stelle suchen zu müssen, um den Störenfried zu ver75

Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 21–23

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treiben oder zu zerquetschen. Wenn eine wuchtige Masse in drohender Näherung gesehen wird, springt man geschickt zur Seite oder wendet sich weg, obwohl man den eigenen Körper nicht mitsieht, also auch nicht seine Lage und seinen Abstand zu der Masse wahrnimmt; vielmehr fängt der Blick in antagonistischer Einleibung deren Bewegungssuggestion als Signal ihrer bevorstehenden Bewegung auf und überträgt diese Information in das motorische Körperschema, das die entsprechende Anpassung bewirkt. Wenn Passanten auf dicht bevölkerten Gehwegen ohne Zusammenstoß haarscharf an einander vorbeikommen, glückt ihnen das auf gleiche Weise durch ins motorische Körperschema übertragene Einleibung über den Blick; niemand braucht dafür auf die relativen Orte seiner Schultern und Arme zu achten. Auch das blitzschnelle Reagieren der Glieder beim Balancieren zur Abwehr eines drohendes Sturzes ist ein Beispiel richtungsräumlicher Orientierung, das ohne Ortsbestimmung auskommt. Tiere sind in Situationen gefangen. Sie können sie mit Rufen und Schreien, die die Situationen heraufbeschwören, modifizieren oder quittieren, ganzheitlich ansprechen und sich dadurch, auch ohne Anrede an den Partner, in gemeinsamen Situationen verständigen, aber sie können die Situationen nicht aufbrechen, aus deren binnendiffuser Bedeutsamkeit nichts Einzelnes herausholen. Das kann der zur Person sich erhebende Mensch mit der wundersamen Gabe seiner satzförmigen (d. h. den Sätzen eine Sprache gehorchenden) Rede, die einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme abzurufen und zu Konstellationen vieler einzelner solcher Bedeutungen zu vernetzen vermag. Darunter sind auch Sachverhalte, die Gattungen sind und dem Sprecher Gelegenheit geben, absolut Identisches als Fall solcher Gattungen mit Einzelheit zu bekleiden (1.2). Die Geburt der Einzelheit in Kraft satzförmiger Rede ist ein zweiter unvermittelter Sprung, wie ein absolutes Ereignis, nach der Entstehung absoluter Identität im Geschehen der primitiven Gegenwart. Und er führt noch weiter als bloß zur Einzelheit. Die Bienen 77 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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mit ihrer Tanzsprache nach Karl v. Frisch bringen auch schon einzelne Informationen (über Entfernung und Richtung einer Futterquelle, über einen günstigen Lagerplatz) zum Ausdruck, gelangen damit aber nicht über die Gefangenschaft in einer Situation mit eng umschriebener binnendiffuser Bedeutsamkeit hinaus. Dem Menschen weitet sich das Feld möglicher Vereinzelung über jeden inhaltlich bestimmten und gefüllten Rahmen hinaus zu einem für Beliebiges aufnahmefähigen Feld, zur Welt. Die Welt in diesem Sinn, als singulare tantum, das keinen Plural zulässt, hat eine Struktur, die sich aus der Entfaltung der fünf Momente oder Seiten der primitiven Gegenwart ergibt. Jedes Moment entfaltet sich in eine Dimension, die ihren Beitrag zur Vereinzelung leistet. Das Hier, der absolute Ort der primitiven Gegenwart, ergänzt sich in der Weite des Raumes zu einem Netz relativer Orte, die zu sagen gestatten, wo etwas ist. Das Jetzt, der absolute Augenblick der primitiven Gegenwart, ergänzt sich zu einer Serie relativer, teils gegenwärtiger, teils vergangener, teils zukünftiger Augenblicke (d. h. Gegenwarten) in Früher-SpäterOrdnung, die zu sagen gestatten, wenn etwas ist. Das Sein (Dasein, Wirklichkeit, Existenz), das im Geschehen der primitiven Gegenwart erst dem Nichtmehrsein der zerrissenen Dauer gegenübersteht, ergänzt sich zum Gegenteil des Nichtseins überhaupt in der Weise, dass die Einzelheit die Grenze des Seienden ins Nichtseiende hinein überschreitet, wodurch Erwartung, Planung, Phantasie, Hoffnung, Furcht möglich werden, vorausgesetzt, es gelingt, Verhältnisse in Beziehungen zu spalten. Das Dieses der primitiven Gegenwart, die absolute Identität, ergänzt sich zur relativen Identität des Fallens einzelner Sachen unter mehrere Gattungen, wodurch diese Sachen vielseitig auffassbar werden. Das Ich der primitiven Gegenwart, der erst absolut identische Bewussthaber des Lebens aus primitiver Gegenwart, wird durch Selbstzuschreibung als Fall von Gattungen zum einzelnen Subjekt, um das sich eine Sphäre des Eigenen im Gegensatz zum Fremden bildet. Die diese Entfaltungen umfassende Welt ist das fünfdimensionale Feld aller möglichen (nicht immer 78 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt

alle Dimensionen beanspruchenden) Vereinzelung, die beliebig weit getrieben werden, aber niemals das Mannigfaltige der Situationen vollständig ausschöpfen kann, weil schon zu jedem einzelnen Gegenstand ein Mannigfaltigkeit von Bestimmungen gehört, die nicht einzeln sind. 76 Wie gelingt dieser Überstieg über die Situationen zur Welt mit dem Werkzeug satzförmiger Rede? Ich habe in meinem Buch Das Reich der Normen die Vermutung begründet, dass für die Menschwerdung des Tieres eine Verschiebung in der leiblichen Dynamik ausschlaggebend war. 77 Tiere leben außer in vitalem Antrieb und Einleibung in privativer Engung, indem sie erschrecken und stutzen; dagegen bleibt ihnen privative Weitung weitgehend versagt. Diese Ablösung der Weitung aus der Schwellung im vitalen Antrieb gibt dem Menschen enorme neue Chancen. Ludwig Klages sprach von Ferneempfänglichkeit; ich nenne die Chance der Versunkenheit, d. h. der Ausleibung als leiblicher Kommunikation mit prädimensionaler (nicht an Körperdimensionen gebundener) Tiefe, etwa, wenn sich der Blick in die Tiefe des Raumes verliert (und der Autofahrer auf langen, monotonen Straßen die Selbstkontrolle und Kontrolle über sein Fahrzeug verliert) oder durch Starren in Glanz, hingegebenes Aufgehen in Wärme oder Duft. Durch privative Weitung des Leibes lockert sich die Gefangenschaft des Menschen in den Situationen, in denen er lebt, sowohl den aktuellen als auch den zuständlichen; sie werden ihm zugänglicher, indem er aus dem Abstand ein Verhältnis zu ihnen gewinnt. Dabei kann es ihm gelingen, eine zuständliche Situation als seine Sprache so in Dienst zu nehmen, dass er, ihr im Reden gehorchend, in aktuelle Situationen einzudringen und einzelne Bedeutungen aus deren binnendiffuser Bedeutsamkeit freizusetzen vermag. Die privative Weitung schlägt über den vitalen Antrieb den Bogen zur privativen Engung und entfaltet die primitive Gegenwart zur 76 77

wie Anmerkung 1, Kapitel 5 wie Anmerkung 45, S. 237–240

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Welt. Wenn es sich so verhalten hat, dürfte die Sprache des im Vollsinn personalen Menschen nicht aus dürftigen Anfängen allmählich sich entwickelt haben, sondern gleich als (wahrscheinlich schon kompliziert geordnete) Situation ihm zugefallen sein. Die mühevoll angelernten Krückensprachen einiger zum Sprechen mit nichtvokalen Zeichen trainierter Schimpansen zeigen, wie weit man ohne privative Weitung beim Gebrauch satzförmiger Rede kommen kann. Ich betrachte nun der Reihe nach die fünf Dimensionen. Das Hier: Die räumliche Entfaltung der primitiven Gegenwart besteht darin, dass die räumliche Weite mit relativen Orten besetzt wird, die sich gegenseitig durch ihre Beziehungen der Lage und des Abstands bestimmen, d. h. identifizierbar machen. Solche Orte werden benötigt, um sagen zu können, wo etwas ist, ob es dort bleibt (ruht) oder den Ort wechselt (sich bewegt), von wo wohin es sich bewegt, wie die Besetzung der Orte wechselt; auch für die Zeitmessung werden Orte benötigt, zu denen ein Objekt in gleichförmig geschwinder Bewegung entweder zurückkehrt (periodische Messung) oder von denen es sich entfernt (unperiodische Messung wie bei Sand- und Wasseruhr). Die Beziehungen der Lage und des Abstands müssen an je zwei Objekte paarenden umkehrbaren Verbindungen über Strecken abgelesen werden. Dazu bedarf es der Flächen. 78 Flächen sind optisch und taktil unmittelbar zugänglich, Strecken nur an Flächen. Damit kommt ein fremdes Element in die vorhin skizzierte räumliche Orientierung des Lebens aus primitiver Gegenwart. Sie begnügt sich mit einem Richtungsraum, der in der Einleibung von den unumkehrbar aus der Enge in die Weite führenden leiblichen Richtungen und den Richtungen entgegenkommender Bewegungssuggestionen aufgespannt wird. Das ist ein flächenloser Das früher von mir angeführte Gegenbeispiel (Sternbilder am Nachthimmel) habe ich zurückgenommen (wie Anmerkung 75, S. 125 mit Anmerkung 219).

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Raum wie die Räume des Schalls, der einprägsamen Stille, des Wetters, des Rückfeldes, des entgegenschlagenden Windes, des Wassers für den Schwimmer, der sich vorwärts kämpft oder ruhig tragen lässt. Auch die Räume des spürbaren Leibes und der Gefühle als Atmosphären sind flächenlos. In flächenlosen Räumen gibt es keinen Unterschied der Dimensionszahl zwischen Flächen und massiven Volumen. In ihnen ist das Volumen nicht dreidimensional, sondern dynamisch, wie das Volumen der Leibesinsel, die sich bei jedem Einatmen aus Spannung und Schwellung bildet, und das Volumen des Wassers, gegen das sich der Schwimmer vorwärts kämpft. Unterschiede der Dimensionszahl lassen sich überhaupt nur mit Hilfe von Strecken bestimmen, diese sich nur an Flächen finden. Mit der Fläche beginnt die Entfremdung des Raumes vom Leib. Am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, während man sie am eigenen Körper besehen und betasten kann. Weder die Leibesinseln haben Flächen, noch leibliche Regungen irgend eines Typs (Wollust, Angst, Schmerz, Schreck, Hunger, Durst usw.; leibliches Ergriffensein von Gefühlen; leiblich gespürte Bewegung; leibliche Richtungen wie der Blick). Das Geschenk der leibfremden Fläche ist ein großer Gewinn für die personale Emanzipation (dazu gleich) des Menschen. In ihr kann er Blickziele finden und durch deren paarende Verbindungen Figuren nach Belieben ausprobieren (zeichnen); mit ihnen, in Winkeln an einander gesetzt, kann er die räumliche Weite durch ein Netz von Orten überspinnen; sie bricht den Tiefenzug und hemmt damit die Eindringlichkeit des Begegnenden, die ihn durch Bewegungssuggestionen der Verstrickung in aktuelle Situationen ausliefert; sie reflektiert die leiblichen Richtungen zu umkehrbaren Verbindungen, die zum spürbaren Leib mit seinen (schwach) absoluten Orten zurückkehren, so dass der Mensch sich als Objekt unter Objekten in den Raum einordnen, damit Abstand von sich als Objekt gewinnen und ein durch relative Orte stabil gegliedertes perzeptives Körperschema (habituelles Vorstellungsbild von Lage und Abstand seiner Körperteile) erwerben kann. 81 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Die relativen Orte schließen sich, indem sie sich gegenseitig bestimmen, zu einem Ortsraum zusammen, nach Art eines mathematischen Koordinatensystems; gemäß dem physikalischen Relativitätsprinzip kann durch andere Wahl dieses Systems ein anderer Ortsraum eingeführt werden. Der Versuch, allein mit den Begriffen von Lage und Abstand einen Ortsraum einzuführen, landet bei einem Definitionszirkel. Das liegt daran, dass zur Bestimmung relativer Orte die Bezugnahme auf den Abstand und die Lage zu ruhenden Objekten erforderlich ist. Wenn diese Bezugsobjekte sich nämlich bewegten, ohne dass alle anderen Objekte gleichförmig mitliefen, hätten sich deren Beziehungen von Lage und Abstand zu den Bezugsobjekten geändert. Der Ort dieser anderen Objekte wäre also ein anderer gewesen. Sie hätten den Ort gewechselt, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Ruhe und Bewegung wären nicht mehr unterscheidbar. Ein (relativer) Ort setzt also Ruhe voraus. Andererseits setzt Ruhe, verstanden als Beharren am Ort, aber wiederum den Ort voraus. Das ist ein Zirkel, der sinnvolle Begriffseinführung verhindert. Also muss bei Einführung eines Ortsraumes an anderen, flächenlosen Räumen Maß genommen werden, um eine Ruhe zu finden, mit der die Einführung beginnen kann. Dafür kommen die Atmosphären des Gefühlsraumes in Betracht. Wir sprechen von ruhiger Abendstimmung, ruhiger Stille, ruhiger Gelassenheit, ruhigem Wasser (sogar von seinem ruhigen Plätschern); in Heines Loreleylied lautet eine Zeile: »und ruhig fließet der Rhein.« Diese Ruhe ist eine intensive Größe wie die Wärme, die Lautheit und die Dauer der Töne und der Bewegungen (2.1.4). Objekte, die in solcher Weise einen ruhigen Eindruck machen, müssen bei zirkelfreier Einführung eines Ortsraumes zunächst als die Bezugsobjekte angesetzt werden; dieser Ansatz kann anschließend korrigiert und verbessert werden, je nach dem, wie die Wahl sich mit den beobachteten Regelmäßigkeiten von Abläufen (sogenannten Naturgesetzen) am Zweckmäßigsten im Interesse einer möglichst einfachen und übersichtlichen Gesamtschau verträgt. Ein solches Verfahren ist in der Physik 82 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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nicht ungewöhnlich. Ebenso muss bei der Extensivierung (Verräumlichung) der Dauer zum Zweck der Messung mit Uhren verfahren werden. Man benötigt dafür eine Bewegung mit invarianter (gleichförmiger) Geschwindigkeit. Welche Bewegung diese Eigenschaft besitzt, kann man nicht wieder messen, sondern man muss sich zunächst an die erlebte Gleichförmigkeit einer Bewegung, eine Gestaltqualität und intensive Größe, halten und kann danach in einem auf dieser Grundlage konstruierten System mit exakteren Methoden Korrekturen vornehmen. Das Jetzt: Im Leben aus primitiver Gegenwart ist mit der Gegenwart zusammen, und durch den Riss des Abschieds der zerrissenen Dauer von ihr getrennt, das Vorbeisein, die Vergangenheit aufgetan und zugleich durch die zuständlichen Situationen, die den Riss überbrücken, mit der Gegenwart verbunden. Eine dem Nichtmehrsein entsprechende Perspektive des Nochnichtseins, der Zukünftigkeit, fehlt aber noch. Die unzerrissene Dauer, die dem Andrang des Neuen unerschöpfte Gelegenheit bietet, eignet sich als intensive Größe nicht zur Bahnung eines Vorblicks in die Zukunft, und der Andrang des Neuen steht als Appräsenz in unspaltbarem Verhältnis mit der Gegenwart, so dass er nicht in die Zukunft des nur noch Bevorstehenden abgerückt werden kann. Es fehlt an einem dem Riss des Abschieds entsprechenden Schnitt. Sowie aber die Vereinzelung gelungen und die Welt über deren ganze Möglichkeit aufgespannt ist, kann die Zukunft geöffnet werden, allerdings nur unter einer weiteren Bedingung: dass es gelingt, das unspaltbare Verhältnis in Beziehungen aufzuspalten. Dann kann in das Neue hinein die Phantasie und die Erwartung Einzelnes projizieren und die Wiederholungen, mit denen der Andrang des Neuen Dauer zerreißt, als Markierungen einer Anordnung des Erwarteten benützen und diese Anordnung über das Gegebene hinaus fortsetzen. Dazu gehört freilich, dass Phantasie und Erwartung der Projektion ins Nichtseiende (Nochnichtseiende) mächtig werden; davon ist gleich zu sprechen. Auf diese Weise wird das Neue, dem man ausgesetzt 83 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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ist, zum Bevorstehenden, auf das man rechnen und sich einstellen kann. Noch weiter führt die Extensivierung der Dauer zur Zeitstrecke; damit kann die zeitliche Anordnung zum zeitlichen Abstand ergänzt werden. Dieselbe Vereinzelung mit Anordnung des Vereinzelten wird auf die Vergangenheit angewendet; so entsteht eine Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit durchlaufende nivellierte Reihe relativer Gegenwarten, die teils vergangen, teils gegenwärtig, teils zukünftig sind und durch das Verhältnis des Früheren zum Späteren geordnet werden. Diese Ausgestaltung der Entfaltung der primitiven Gegenwart nach der zeitlichen Seite bleibt im Erfolg aber hinter der räumlichen Ausgestaltung des Hier, des stark absoluten Ortes, zu einem System relativer Orte zurück. Die Umgestaltung des leiblichen Raumes zum Ortsraum gelingt so gut, dass man die tieferen Schichten der Räumlichkeit (von mir seit 1967 79 immer wieder studiert und analysiert) vergessen kann. Wer sich an Hand einer Landkarte aufmacht, um im Ortsraum ein Ziel zu finden, braucht nicht daran zu denken, dass er im bloßen Ortsraum kaum einen Schritt ohne Stolpern tun könnte, weil flüssiges Gehen nur im leiblichen Richtungsraum möglich ist und sofort stockte, wenn man jeden Schritt nach Lagen, Winkeln und Abständen bemessen müsste – ganz abgesehen von der zugehörigen Benützung anderer Körperteile. Im Gegensatz dazu ist es unmöglich, sein Leben in der Zeit nur mit Rücksicht auf die nivellierte Folge früherer und späterer relativer Gegenwarten zu führen, ohne beständig auf die absolute Gegenwart und den mit ihr verbundenen Abschied von dem, was nicht mehr ist, aufmerksam zu werden. Durch diese Unhintergehbarkeit der primitiven Gegenwart nimmt die Zeit tragische Züge an, die dem Raum fehlen: die Grausamkeit des Abschieds von dem, was nicht mehr ist, 80 die Flüchtigkeit der Gegenwart, die im KarSystem der Philosophie Band III Teil 1: Der leibliche Raum Goethe, An Werther (Trilogie der Leidenschaft I): »Scheiden ist der Tod!« Maximen und Reflexionen, hg. v. Max Hecker, Weimar 1907,

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tenhaus Epikurs 65 nur mühsam eingefangen und zum Verweilen umdirigiert wird, das Ausgeliefertsein an eine unvorhersehbare Zukunft. Darüber hinaus lässt sich die absolute Gegenwart nicht so leicht hinter der relativen verstecken, wie der absolute Ort hinter den relativen Ort: Eigentlich ist die Gegenwart nur diese, die jetzt ist, aber gegenüber den vergangenen und zukünftigen Gegenwarten wird sie zur gegenwärtigen Gegenwart, noch einmal Gegenwart. Sie scheint sich in die Tautologie zu retten, doch auch dahin folgen ihr die nivellierten Gegenwarten. Jede vergangene Gegenwart ist eine einst gegenwärtig gegenwärtige Gegenwart, jede künftige Gegenwart eine künftig gegenwärtig gegenwärtige, und so geht die Jagd weiter, indem die echte Gegenwart immer eine Stufe der Iteration höher steigt, aber auf jeder Stufe von den relativen Gegenwarten, die vergangen oder künftig sind, eingeholt wird. Dazu kommt, dass es ein Widerspruch zu sein scheint, von vergangener und künftiger Gegenwart zu reden, als könne etwas sein und nicht mehr sein, sein und noch nicht sein. Ob ein echter Widerspruch vorliegt, wird sich unter 4.2 herausstellen. Leibniz hielt den Raum für die Form der Anordnung des Simultanen, die Zeit für die Form der Anordnung des Sukzessiven. Mit dem Raumkonzept von Leibniz kommt der Praktiker weitgehend zurecht, solange er sich auf eine Land- oder Seekarte verlassen kann, mit dem Zeitkonzept von Leibniz nicht einmal der Physiker, der in der Theorie kein anderes braucht, in der Praxis aber, sobald er seine Theorie durch das Experiment bestätigen will, in eine Zeit hinabsteigen muss, in der er einiges jetzt und anderes (z. B. sein Wissen vom Ausgang des Experiments) nicht nur später, sondern noch gar nicht ist. Für dieses Zurückbleiben der Zeit möchte ich den Umstand verantwortlich machen, dass es in der Zeit kein Analogon der Fläche gibt. An der Fläche lernt der Mensch, sich von der Hinfälligkeit an die zuNr. 998: »In jeder großen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn; man muss sich hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen.«

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dringlichen Bewegungssuggestionen zu lösen, sich den Raum als Spielfeld eigenen Kombinierens zunutze zu machen und den Raum mit Netzen von Orten zu überspinnen, von denen er einen sich selbst zuweist, so dass er Abstand von sich als Objekt wie von anderen Objekten im Raum gewinnen kann. Solche Erziehung zu personaler Emanzipation, wie sie der Raum dem Menschen durch die Fläche schenkt, hat in der Zeit kein Gegenstück. Sie lässt ihn nicht los. Das Sein: Die Entfaltung des Seins (der Wirklichkeit, der Existenz) aus der primitiven Gegenwart besteht darin, sich aus der engen Gegenüberstellung zum Nichtmehrsein der zerrissenen Dauer zu lösen und zum Gegenteil des Nichtseins in dessen voller Breite zu werden, so dass ein unbeschränkter Gegensatz zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden entsteht. Die Form der Einzelheit umgreift beides, Seiendes und Nichtseiendes. Ein fingiertes, nichtseiendes Wesen, z. B. eine poetische Figur wie Goethes Werther oder Hänsel aus Hänsel und Gretel, ist so gut ein Einzelwesen, in diesem Fall ein bestimmter Mensch, wie du und ich, nur dass man nicht sagen kann, welcher. Von Werther weiß man ungefähr die Lebens- und Todeszeit: um 1770. Sein Unterschied von allen Menschen, die damals wie Goethe und Justus Moser wirklich lebten, besteht nur darin, dass niemand weiß, wo er ist. Es gibt eine überabzählbar unendliche Menge möglicher aber nicht wirklicher Individuen, die Werther sein könnten; es kommt bloß darauf an, dass jedes von ihnen alle Eigenschaften besitzt, die der Dichter Werther zuschreibt oder bei ihm offensichtlich voraussetzt, und keines eine dazu nicht passende Eigenschaft. Jeder kann sich aussuchen, welches von diesen Individuen nach seiner Meinung Werther war, aber niemand wird mit dieser Suche an ein Ende kommen, weil er dafür überabzählbar unendlich viele Fragen beantworten müsste. Das ist auch gar nicht nötig, um Werther als das bestimmte Individuum gelten zu lassen, das er war, obwohl es ihn nie gegeben hat. 86 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Dieses Glücken der Projektion nicht etwa des Seins, wohl aber der Einzelheit hat für den Ertrag der Entfaltung der Gegenwart zur Welt zu Gunsten des Menschen gewaltige Folgen. Er benötigt das Nichtseiende, um phantasieren, hoffen, fürchten, erwarten, planen, wagen zu können, denn all das ist ein Ausgriff ins Nichtseiende, dessen die Tiere nie habhaft werden, weil sich ihnen die primitive Gegenwart nicht entfaltet. Aber dem Menschen wären diese Aussichten und Erfolge nicht beschieden, wenn ihm nicht ein weiterer großer Schritt gelänge: das Spalten der Verhältnisse in Beziehungen. Nur solches Spalten gestattet ihm, sich in dem geschlossenen Komplex eines Verhältnisses, z. B. eines Stammbaums oder aller räumlichen Lagen im Gesichtsfeld, mit Gedanken frei zu bewegen, den Gedanken von diesem auf jenes und auf dieses zurück zu richten und die dabei entstehenden Komplexe beliebig umzugruppieren. Ohne die Spaltung entginge ihm der Freiraum des Vorstellens, Denkens und Wollens, und die bloße Aussicht auf das Nichtseiende würde ihm nichts nützen. Der Spaltung wird aber von dem Verhältnis kein Ansatzpunkt geboten. Alles ist mit allem gleichmäßig verknüpft; wie soll man eindringen ohne das Geschenk einer Richtung, die eher von diesem zu jenem als von jenem zu diesem führt? Die bloße Vereinzelung hilft nicht weiter. Da kommt dem Verlegenen eine Richtung zu Hilfe, die er nicht zu wählen braucht, weil sie ihn einfach mitnimmt: die Richtung des Flusses der Zeit, die er, und sei sie noch so gering, benötigt, um in Gedanken von diesem zu jenem zu gelangen. Der Zirkel, dass zur Beziehung eine Richtung und zur Richtung des Denkens von etwas zu etwas eine Beziehung nötig ist, löst sich damit auf: Die Richtung des Flusses der Zeit beim Übergang des Denkens von etwas zu etwas kommt vor der Beziehung und legt diese aus dem Verhältnis frei. Gerade die Zeit mit ihren tragischen Zügen, die den Menschen in die Rolle eines Verlierers gegen das Schicksal bringt, erhebt ihn zum Gewinner, indem sie ihm durch das Spalten der Verhältnisse in Beziehungen die Chance gibt, sich vor diesem Schicksal frei zu bewegen. 87 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Das Dieses: Die absolute Identität der primitiven Gegenwart entfaltet sich in der Welt zur relativen Identität von etwas, das einzeln ist und unter mehrere Gattungen fällt. Dieser Erfolg ist für die Freisetzung menschlichen Phantasierens, Planens und Gestaltens genau so wichtig wie die Spaltung von Verhältnissen in gerichtete Beziehungen mit Hilfe des Flusses der Zeit. Der Mensch lernt auf diese Weise, eine Sache bald von dieser, bald von jener Seite anzusehen, indem er sie als Fall dieser Gattung gegen sie selbst als Fall jener Gattung ausspielt, und nicht starr an einer Perspektive zu haften. Im Altertum war dies der Fund des Sophisten Protagoras, des Entdeckers der Nuance, der seine Kunst auf die Formel brachte, »die schlechtere Sache zur besseren zu machen«. Platon hat ihn deswegen zu Unrecht verunglimpft und statt dessen die sture Eindeutigkeit der Suche nach einer präzisen Formel (Logos), die das angeblich wahre Wesen der Sache ausdrücken soll, zum Ziel der Wissenschaft erhoben. Es ist aber kein Unrecht, in den Schwächen einer Sache ihre Stärken aufzudecken. Nur wenn dieses wohlwollende Bemühen des Advokaten missbraucht wird, ergibt sich Rabulistik und das, was man nach Platon »Sophistik« nennt. 81 Das Ich: Bei der Entfaltung der Gegenwart erhebt sich der absolut identische Bewussthaber des Lebens aus primitiver Gegenwart, sofern er – wie der normale Mensch – von dieser Entfaltung mitgenommen wird, zum einzelnen Subjekt, indem er seine absolute Identität durch das Fallsein von Gattungen ergänzt. Das geschieht durch Selbstzuschreibung, indem er sich als solchen Fall auffasst. Selbstzuschreibung besteht darin, einen Fall verschiedener Gattungen für sich selbst und sich für diesen Fall zu halten, z. B. einen Menschen, der auch Frau, Mutter, Gattin, Christin, Sozialistin, Schneiderin usw. ist. Der Betreffende kann dann die verschiedenen Rollen, in denen er einerseits Fall Zu Protagoras vgl. Hermann Schmitz. Der Weg der europäischen Philosophie Band 1, Freiburg/München 2007, S. 132–138

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dieser, andererseits Fall jener Gattung ist, vergleichen, gegen einander abwägen, Akzente setzen, sich von sich selbst Rechenschaft geben, sich als dies oder jenes wählen, bevorzugen oder vernachlässigen, Stellung zu sich und damit zu seiner Umgebung nehmen, sich einen Platz in ihr bestimmen usw. Das ist das typische Vermögen einer Person, übrigens auch dann, wenn sie (z. B. in wahnhafter Selbstverkennung) für die Selbstzuschreibung unpassende Gattungen, die nicht auf sie zutreffen, wählt. Deswegen definiere ich die Person als Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Die Selbstzuschreibung ist ein identifizierendes Sichbewussthaben, das leicht zu einer eindeutigen Kennzeichnung ausgebaut werden kann. Am 16. Mai 1928 mögen in Leipzig mehrere Männer geboren worden sein, aber wenn hinzugefügt wird, dass es sich um den Sohn von Reichsgerichtsrat Hermann Schmitz und seiner Ehefrau Magdalene (geb. Malkwitz) handelt, bleibt nur der Verfasser dieser Zeilen übrig. Die Kennzeichnung bei Selbstzuschreibung hat aber eine eigentümliche Schwäche. Durch alle anderen Kennzeichnungen kann man mit dem gekennzeichneten Gegenstand bekannt gemacht werden, z. B. mit einem für mich reservierten Hotelzimmer durch Angabe von Stadt, Straße, Hausnummer, Stockwerk und Zimmernummer. Bei Selbstzuschreibung misslingt die Identifizierung, wenn man mit dem Relat, womit identifiziert werden soll, nicht schon bekannt ist. Das liegt daran, dass in allen Merkmalen, die mir ohne die Voraussetzung, dass es sich um mich selbst handelt, zugesprochen werden können, kein Grund für die Annahme enthalten ist, dass es sich um mich selber handelt. Jedes dieser Merkmale könnte auch ein Anderer haben, ebenso alle zusammen. Ich berufe mich gern auf einen geistreichen Einwand des Mathematikers Hermann Weyl gegen Leibniz, der der Meinung war, Gott habe bei der Erschaffung der besten aller möglichen Welten jeden Menschen mit allem, was diesem je zukommt, einschließlich der freien Handlungen, vollständig ausgewählt, darunter auch einige mit so elenden Rollen wie dem Jesusverräter Judas. Diese 89 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Lösung, so Weyl, scheitert an dem Verzweiflungsschrei des Judas: Warum musste ich Judas sein? 82 Leibniz oder sein Gott könnten ihm zur Antwort geben: Einer muss es doch sein, wenn die Welt die beste aller möglichen sein soll; aber Judas hätte immer noch die Rückfrage gut: Warum gerade ich? Keine Antwort. Mangels eines Grundes, eher diese als jene Angaben für Angaben über (beispielshalber) mich zu halten, würde die Identifizierung immer nur vom Träger eines Merkmals zu dem eines anderen verlaufen, ohne dass ich auf den Gedanken käme, selbst der Betreffende zu sein. Die Identifizierung bei der Selbstzuschreibung versagt nur so lange, wie ihr objektive Sachverhalte vorgehalten werden, die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann. Von objektiven Tatsachen führt kein Schluss dazu, dass es sich um mich selber handelt. Wenn dagegen subjektive Tatsachen meines affektiven Betroffenseins, die höchstens ich aussagen kann, herangezogen werden, ist schon vorausgesetzt, dass es sich um mich handelt, und dann ist keine Identifizierung nötig. Die objektiven Tatsachen, was ich (Hermann Schmitz) bin, können dann im Ausgang von den subjektiven nach Abzug der Subjektivität gefunden werden. Mit den für mich subjektiven Tatsachen muss immer auch ich, für den sie subjektiv sind, ohne Identifizierung mitgefunden werden. Wie das möglich ist, wie ich mich finden kann, ohne mich mit etwas zu identifizieren, wurde unter 2.1.2 aufgeklärt: Das absolut unspaltbare Verhältnis von absoluter Identität und Betroffensein (Subjektivität) in der primitiven Gegenwart ersetzt die Beziehung der Identität von etwas absolut Identischem mit mir. Hieraus ergibt sich, dass Selbstzuschreibung und also auch Personsein nur möglich ist als Schöpfen aus der Bekanntschaft mit sich in primitiver Gegenwart. Die Person kann sich nie von ihrem Leib befreien, denn auf dessen Enge, die als primitive Gegenwart in privativer EnHermann Weyl, Gesammelte Abhandlungen Band 5, Berlin/Heidelberg/ New York 1968, S. 645

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gung erfahren und an den aus Engung und Weitung gebildeten vitalen Antrieb weitergegeben wird, beruht die Möglichkeit ihrer Selbstzuschreibung, ihre ursprüngliche Bekanntschaft mit sich durch die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins. Sie kann aber auch nicht bei dieser leiblich-affektiven Subjektivität stehen bleiben, denn dann wäre sie trotz Selbstzuschreibung genau so gelähmt wie beim Fehlen der übrigen Voraussetzungen ihrer Befreiung aus der Gefangenschaft in Situationen: der Vereinzelung, der Projektion des Einzelnen ins Nichtseiende, der Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen, der relativen Identität. Ich kenne nur einen einzigen Zustand der Person, in dem sie dieser vier Voraussetzungen ihrer Befreiung habhaft und trotzdem gelähmt und in Situationen gefangen ist: Das ist die Gefangenschaft in schweren Träumen, wenn irgend ein unüberwindliches Hindernis den Träumer in Angst und Verlegenheit hält. Was hier noch fehlt, um die Situation aufzubrechen und durch frei bewegliche Kombination einzelner Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) zu übersteigen, ist die Fähigkeit, Abstand zu gewinnen, die Neutralisierung: das Vermögen, von den erlebten Bedeutungen die Subjektivität für den Erlebenden abzuschälen, so dass sie objektiv werden wie die objektiven Tatsachen (d. h. tatsächlichen Sachverhalte) im Verhältnis zu den für ihn subjektiven. Ohne das Vermögen der Neutralisierung bliebe die Person hilflos. Durch die Ausübung dieses Vermögens erhebt sie sich aus dem Leben aus primitiver Gegenwart. Dieser Prozess der Abschälung von Subjektivität von Bedeutungen, volkstümlich gesprochen: der Versachlichung, beginnt im normalen Menschenleben noch vor der Vollendung des ersten Lebensjahres. Ich bezeichne ihn als das Erwachsen der Person, das lebenslang anhält, so dass der Mensch immer noch mehr ein Erwachsender als ein Erwachsener ist. Dieser Prozess ist sowohl erlitten als selbst getätigt, jenes mehr als dieses. Das Erwachsen als Neutralisierung von Bedeutungen läuft parallel mit der Vereinzelung. Indem einzelne Sachverhalte, Programme 91 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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und Probleme aus Situationen hervortreten, kann die Subjektivität für den Betreffenden von ihnen abfallen, und wenn es sich bei den Sachverhalten um Gattungen handelt (1.2), können alle Fälle dieser Gattungen, also ganze Massen auf einen Schlag, in die Neutralität der Objektivität mitgezogen werden. Ein Musterbeispiel dieses Zusammenhanges ist die Enttäuschung. Eine Situation bricht zusammen; einzelne Sachverhalte werden frei, indem man erst jetzt merkt, wie gut man es gehabt hatte, während dies bis dahin in der binnendiffusen Bedeutsamkeit versenkt gewesen war, und vieles, das bisher selbstverständlich war, tritt erst jetzt einzeln hervor, aus der Subjektivität entlassen, objektiv, neutral. Man muss sich damit abfinden. Neue Tatsachen, erst recht neue Probleme, und neue Programme der Anpassung drängen sich ebenso einzeln und unerbittlich neutral auf, bis man sich in die neuen Lebensumstände eingelebt hat. Dem Menschen schenkt die Enttäuschung die Chance, Situationen durch Vereinzelung und Neutralisierung von Bedeutungen aufzubrechen, während dem enttäuschten Tier nur eine Situation abreißt und die folgende sich anschließt, ohne dass es der Gefangenschaft in Situationen je entkäme. Die Neutralisierung von Bedeutungen bringt der Person die Chance der Verfremdung, dass ihr etwas fremd wird. Eine Sache wird einer Person fremd (d. h. entfremdet), wenn der (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, dass sie existiert, für die Person neutral wird, d. h. die Subjektivität verliert, die man volkstümlich so ausdrückt, dass jemand an etwas »hängt« (in Zu- oder Abneigung, Zu- oder Abwendung). Dem Fremden gegenüber bildet sich um die subjektiv gebliebenen Bedeutungen das Eigene heraus, mit breiten Grauzonen zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Die Ausarbeitung dieser Gegenüberstellung ist personale Emanzipation. Da aber die Person auf ihr leiblich-affektives Betroffensein und den Zugang zur primitiven Gegenwart angewiesen bleibt, bedarf sie einer zur personalen Emanzipation gegenläufigen personalen Regression, die die Gegenüberstellung verwischt, Bedeutungen resubjektiviert und 92 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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mehr oder weniger zum Leben aus primitiver Gegenwart zurückführt. Aus personaler Emanzipation und personaler Regression angesichts von Herausforderungen, die hauptsächlich aus leiblicher Kommunikation stammen, entwickelt sich lebenslang eine persönliche Situation (volkstümlich »Persönlichkeit« der Person genannt) in Prozessen der personalen Emanzipation und personalen Regression, Implikation (in die binnendiffuse Bedeutsamkeit) und Explikation (aus ihr) mit vielen partiellen Situationen, die in der persönlichen Situation gleiten und sich reiben, und um die persönliche Situation herum eine persönliche Welt, bestehend aus persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt. Das Nähere ist in vorliegender Skizze nicht am Platz. 83 Damit ist der Rundgang durch die fünf Dimensionen, in denen sich die primitive Gegenwart zur Welt entfaltet, abgeschlossen. Ich füge ihm eine ontologische Reflexion an, betreffend die Stellung meines Weltbegriffs zwischen Idealismus und Realismus im Sinn der Tradition. Ich vertrete keinen subjektiven Idealismus wie Kant oder Husserl und werfe allen solchen Idealisten vor, dass sie ohne Berechtigung ein fertiges Subjekt voraussetzen, das die Welt zusammensetzen (Kant) oder konstituieren (Husserl) soll, als ob dieses Subjekt weniger der Erzeugung bedürftig sei als seine Objekte. Ich kenne keine Konstitution als Gestaltung der Weltform durch ein Subjekt, ebenso wenig aber ein vorgegebenes Ansichsein der Welt, wie Nicolai Hartmann es sich dachte. Die Welt ist gewissermaßen inszeniert, aber nicht durch ein Tun von irgend jemand, sondern eher wie ein Traum, der seine eigene Bühne mitbringt, auf- und umbaut. Am Anfang der Inszenierung steht die primitive Gegenwart, das Aufzucken Vgl. dazu von Hermann Schmitz: System der Philosophie Band IV, Bonn 1980, in Studienausgabe 2005, S. 287–473; Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 106–136; Jenseits des Naturalismus, Freiburg i. Br. 2010, S. 301–348; Bewusstsein, Freiburg i. Br. 2010, S. 99–109

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von Subjektivität (für mich) und absoluter Identität in absolut unspaltbarem Verhältnis mit Sein, Hier und Jetzt. Daraus ergibt sich durch leibliche Dynamik und leibliche Kommunikation das Leben aus primitiver Gegenwart in Situationen, noch nicht die Welt. Diese taucht erst auf, wenn einem absolut identischen Bewussthaber (oder vielen zugleich, durch solidarische Einleibung) durch privative Weitung des Leibes eine zuständliche Situation als Sprache und damit die Möglichkeit satzförmiger Rede, die aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen einzelne Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) freilegt, festhält und kombiniert, zugänglich geworden ist. Daraus entsteht Einzelheit von Einzelnem aller Arten, und als Feld der Vereinzelung die Welt als entfaltete Gegenwart, mit ihr zusammen (und nicht, wie nach Kant und Husserl, ihr voraus) das einzelne (personale) Subjekt. Die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt ist ein Geschehen, das der Mensch durch seine satzförmige Rede zwar anregt und ermöglicht, aber nicht gestaltet, sondern ohne eigene Initiative mitmacht, indem er Chancen ergreift, die ihm geboten werden. Innerhalb der in fünf Dimensionen aufgespannten Welt gestaltet er dann freilich vieles um, z. B. Halbdinge 84 zu Dingen wie Wind zu bewegter Luft oder intensive Dauer zur Zeitstrecke. Das sind Künste der Selbstbehauptung durch Vorausschau und Planung, die aber auch nicht willkürlich und planmäßig eingeführt werden, sondern dem Menschen zufallen, ohne gleich durchschaut zu werden, wie das Geld. 85 Seit der Einführung der Relativitätstheorie durch Einstein und Minkowski 86 sind die Menschen der Belehrung durch Halbdinge habe ich 1978 (System der Philosophie Band III, Teil 5, S. 116–139) beschrieben, aber erst 1990 (Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 216–219) den für sie passenden Begriff gefunden und diesen erst 2003 (Was ist Neue Phänomenologie?, S. 45) auf Gefühle angewandt, seither aber ständig verwendet, siehe die Sachregister meiner Bücher. 85 Zum Geld: Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg i. Br. 2012, S. 316–339 86 Das Relativitätsprinzip. Eine Sammlung von Abhandlungen von H. A. 84

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Die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt

Mathematiker und Physiker ausgesetzt, die ihnen beibringen wollen, die Zeit, in der es Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gibt, aus der objektiven Welt zu streichen. Schon 1928 schrieb Hermann Weyl: »Die objektive Welt ist schlechthin, sie geschieht nicht. Nur vor dem Blick des in der Weltlinie meines Leibes emporkriechenden Bewusstseins ›lebt‹ ein Ausschnitt dieser Welt ›auf‹ und zieht an ihm vorüber als räumliches, in zeitlicher Wandlung begriffenes Bild.« 87 Seit die Physiker bei ihren Versuchen, Relativitätstheorie und Quantenphysik zu vereinigen, gemerkt haben, dass dies am Besten geht, wenn man die Zeit ganz auslässt oder auf eine »Blockzeit« ohne Vergangenheit und Zukunft reduziert, werden diese Belehrungen noch drängender. 88 Hinter feinster Mathematik verbirgt sich naiver Singularismus, der von der ihm selbstverständlich scheinenden Annahme ausgeht, dass es Einzelnes gibt und Beziehungen, die nur zwischen einzelnen Beziehungsgliedern möglich sind. Einzelnes gibt es nur in Kraft und Sicht des sprachmächtigen Menschen, und sonst vielleicht unspaltbare Verhältnisse, aber keine Beziehungen. Ganz abgesehen von den subjektiven (intakten, »vollblütigen«) Tatsachen, bräche schon die Welt der objektiven Tatsachen wie ein Kartenhaus zusammen, wenn sie nicht durch den Lorentz, A. Einstein, H. Minkowski, mit einem Beitrag von Hermann Weyl, 8. Auflage Stuttgart 1982 87 Hermann Weyl, Philosophie der Mathematik und der Naturwissenschaften, unveränderte 2. Auflage, München 1949, S. 83. Die Behauptung kommt mir unlogisch vor, sofern zur objektiven Welt wenigstens die objektiven Tatsachen gehören sollen, denn eine von diesen müsste doch wohl das »Emporkriechen des Bewusstseins« sein. 88 Vgl. z. B. Klaus Kiefer in: Spektrum der Wissenschaft, April 2012, S. 40: »So paradox es klingt. Das Problem der Zeit hat sich in der Quantengravitation mit ihrem Verschwinden von selbst gelöst. Doch wie kann das sein? Schließlich scheint uns nichts selbstverständlicher als die Zeit. Die Sache verhält sich ungefähr so wie das Lesen eines Textes. Er liegt gedruckt in zeitloser Form vor, und dennoch stellt sich bei der Lektüre die Illusion eines wirklichen Vorgangs ein, bewirkt durch die Korrelation des Bewusstseins mit den Sätzen, die nacheinander gelesen werden. Auf ähnliche Weise folgt unser üblicher Zeitbegriff aus der Wheeler-deWitt-Gleichung.«

95 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die primitive Gegenwart und ihre Entfaltung

Mund des sprachmächtigen Menschen – oder eines Vorgängers, vielleicht eines Engels oder Teufels, der beim »Urknall« der Physiker vor 13 Milliarden Jahren dabei gewesen sein mag, obwohl wir nichts darüber wissen – ins Dasein gerufen würde. Und diese Welt aus Einzelheit ist nur möglich durch absolute Identität, die sich mit dem Fallen unter Gattungen zur Einzelheit verbindet und der primitiven Gegenwart bedarf, um, ans Vergehen gebunden, an der Subjektivität den ihr unentbehrlichen Partner eines unspaltbaren Verhältnisses zu finden. Aus diesem Verhältnis stammt die Zeit, die die Physiker uns ausreden wollen.

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3. Die Schichten der Zeit

3.1 Übersicht Kant behauptet, dass »die Zeit für sich nicht wahrgenommen werden« könne, und will statt ihrer, zum Ersatz für sie, »in den Gegenständen der Wahrnehmung, d. i. den Erscheinungen« die Materie als »Substanz in der Erscheinung« antreffen, als »das Substrat, welches die Zeit überhaupt vorstellt«. 89 Nun wäre dieses Substrat noch weniger wahrnehmbar, so dass der Sinn des Manövers dunkel bleibt, aber auch die These ist falsch, dass die Zeit nicht wahrgenommen werden könne. Kant verfällt darauf wegen seines Singularismus, der Überzeugung, dass alles ohne Weiteres einzeln ist. Kant ist der erste Philosoph, dem der Singularismus so selbstverständlich ist, dass er keinen Gedanken, auch nicht polemisch, an dessen Stützung wendet. 90 Im Lichte des Singularismus stellen sich ihm die Gegenstände der Wahrnehmung als lauter einzelne Erscheinungen dar, die in einer Reihenfolge, die nicht unbedingt zeitlich zu sein braucht, aufgereiht sind. Daran ist keine Zeit wahrzunehmen. In der Tat sind aber die grundlegenden Gegenstände der Wahrnehmung Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, die nicht einzeln zu sein brauchen und es oft nicht sind; einzelne Erscheinungen werden aus den Situationen mit Hilfe von Bedeutungen, die der Bedeutsamkeit entstammen, herausgeholt (1.3). Die Bedeutsamkeit der Situationen wandelt sich und wechselt beim Übergang von einer Situation zur anderen; diese Verschiebungen verlangen vom Kritik der reinen Vernunft B225, vgl. A379 Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie Band 2, Freiburg i. Br. 2007, S. 323–326

89 90

97 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Schichten der Zeit

Wahrnehmenden mehr oder weniger beständige Anpassungen mit Korrektur und Preisgabe der vorigen Einstellung. Solches Wahrnehmen ist nicht bloßes Verfolgen einer Anordnung entlang einer Reihe, sondern enthält unvermeidlich die Erfahrung des Vorbeiseins, des Neuen und damit der Zeit. In solcher Weise wird die Zeit wahrgenommen. Es fragt sich nun, was da wahrgenommen wird. Bei der Antwort auf diese Frage ist vor allem die Schichtung der Zeit zu beachten. Der Kardinalfehler der bisherigen philosophischen Analyse der Zeit besteht darin, deren Schichtung zu überspringen und gleich einfach von »der Zeit« als einem kompakten Ganzen zu reden. Zwei Hauptschichten lassen sich dadurch unterscheiden, dass in der einen eine Einteilung, in der anderen eine Anordnung stattfindet. Die Einteilung zerlegt das Ganze in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; ich spreche dann von Modalzeit, weil es sich um die modalen Unterschiede des Seins, Nichtmehrseins und Nochnichtseins handelt. Die andere Schicht enthält die Anordnung von Zeitinhalten durch die Beziehung des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen oder auch, wenn das Gleichzeitige jeweils zu einer Masse zusammengefasst wird, des Früheren zum Späteren. Ich spreche von Lagezeit, weil es sich um Verhältnisse zeitlicher Lage handelt. Eine Einteilung braucht nicht mit Anordnung verbunden zu sein, eine Anordnung nicht mit Einteilung. Ein großer Fehler der Tradition besteht darin, Anordnung und Einteilung von Zeitinhalten unter dem Titel der Sukzession voreilig zu vermengen. Die Modalzeit hat im ontologischen Bedingungsverhältnis einen Vorrang vor der Lagezeit, weil die absolute Identität ein Geschenk der primitiven Gegenwart ist (2.1.1) und dieser die Gegenwart entstammt. Ohne absolute Identität gibt es keine Einzelheit, ohne Einzelheit keine Lagezeit, keine Anordnung des Früheren und Späteren. Die drei Teile der Modalzeit sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vergangenheit ist die Masse dessen, was nicht mehr ist. Zukunft ist die Masse dessen, was noch nicht ist. Diese 98 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Übersicht

Begriffsbestimmung schöpft den Sinn der Rede von Zukunft allerdings nicht aus. Nachher (3.5) werde ich von der geschlossenen Zukunft dessen, was noch nicht ist, die offene Zukunft dessen, was noch möglich ist, unterscheiden. Hier genügt es, die geschlossene Zukunft zu betrachten. Gegenwart ist die Masse dessen, was ist in der Weise, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein. Die Wörter »mehr« und »noch« bedürfen der Begriffsbestimmung. Sie gelingt mit dem Begriff des Übergangs in nicht nur zeitlichem Sinn. Man redet ja auch von einem räumlich-qualitativen (oder räumlich-intensiven) Übergang zwischen Farben. Goethe verwendet das Wort »Übergang« in dem hier zur Zirkelfreiheit benötigten weiten Sinn in einem Gedicht, in dem er auf Howards Unterscheidung von Wolkenformen Bezug nimmt: So, wenn der Maler, der Poet, Mit Howards Sondrung wohl vertraut, Des Morgens früh, am Abend spät Die Atmosphäre prüfend schaut, Da lässt er den Charakter gelten; Doch ihm erteilen luftige Welten Das Übergängliche, das Milde, Daß er es fasse, fühle, bilde. 91 Zeitlichen (modalzeitlichen) Sinn gewinnt der Übergang als Entstehen und Vergehen. Entstehen ist Übergang vom Nichtsein ins Sein; Vergehen ist Übergang vom Sein in Nichtsein; Geschehen ist Entstehen oder Vergehen. Noch nicht ist, was sich im Vorbereich des Entstehens befindet. Nicht mehr ist, was sich im Nachbereich des Vergehens befindet. Von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Massen von Zeitinhalten müssen, um eine gefährliche Äquivokation des üblichen Sprachgebrauches zu vermeiden, die Eigenschaften unterschieden werden, die etunbetiteltes Gedicht mit der Anfangszeile »Und wenn wir unterschieden haben«

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99 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Schichten der Zeit

was besitzt, sofern es zu einer der drei Massen gehört. Zu diesem Zweck muss ich zu einer etwas künstlichen Ausdrucksweise greifen. Ich werde die Eigenschaft, zur Vergangenheit zu gehören (vergangen zu sein) als Vergangenheitlichkeit, die Eigenschaft, gegenwärtig zu sein, als Gegenwärtigkeit, und die Eigenschaft, zukünftig zu sein, als Zukünftigkeit bezeichnen. Entstehen und Vergehen bilden mit einander den Fluss der Zeit, der darin besteht, dass die Vergangenheit wächst (indem das, was ist, vergeht), die Zukunft schrumpft (indem das, was noch nicht ist, entsteht) und die Gegenwart wechselt (indem sie statt des Vergehenden das Entstehende aufnimmt). Man kann den Fluss der Zeit auch als beständige Umschaufelung von Nichtseiendem in Nichtseiendes durch das Medium des Seienden auffassen. Der Fluss der Zeit ist ein ungerichtetes Verhältnis, das in zwei gerichtete Abläufe aufgespalten werden kann: Der regressive Fluss der Zeit fließt aus der Zukunft durch die Gegenwart in die Vergangenheit; der progressive Fluss der Zeit dringt aus der Vergangenheit mit der Gegenwart an der Spitze in die Zukunft vor. Das sind zwei spezielle Flüsse der Zeit. Sie führen zu demselben Ergebnis; dass die Vergangenheit wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt. Ihre Anwendung auf die Modalzeit wird sich ergeben. Die Lagezeit bedarf durchgängig der Vereinzelung, da früher, später und gleichzeitig nur sein kann, was einzeln ist. Sie ist also nur in der Welt (2.2) möglich. Die Modalzeit bedarf nur teilweise der Vereinzelung. Soweit es sich um das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart handelt, kann sie diese unterlaufen und schon vor Entfaltung zur Welt dem Leben aus primitiver Gegenwart angehören, da das Vergehen als Abschied der zerrissenen Dauer ins Vorbeisein schon zur primitiven Gegenwart und damit zum Leben aus ihr gehört. Dann sind Vergangenheit und Gegenwart nicht zwei Massen, deren jede eine Anzahl um 1 vermehrt, also nicht schon einzeln, sondern erst absolut identisch. Dagegen gibt es im Leben aus primitiver Gegenwart noch keine Zukunft mit Zeitinhalten, die noch nicht sind. Sie wird 100 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Übersicht

blockiert durch den Andrang des Neuen, der als Appräsenz mit der Gegenwart im absolut unspaltbaren Verhältnis der Appräsenz-Präsenz (2.1.2) zusammenhängt. Dieses absolut unspaltbare Verhältnis kann erst nach Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt aufgespalten werden in Beziehungen dessen, was gegenwärtig ist, zu dem, was noch nicht ist und erwartet werden kann, und die umgekehrten Beziehungen. Das setzt Vereinzelung sowohl im Gegenwärtigen als auch im Zukünftigen voraus. Dieser Unterschied der beiden Richtungen in die Vergangenheit und in die Zukunft führt dazu, dass man sich in die Vergangenheit vertiefen kann, nicht aber in die Zukunft. Dauer ist der Zeit assoziierte Weite (2.1.3). Vergangenheit ist ins Vorbeisein abgesunkene Dauer mit allen ihren Inhalten. Dieses Absinken ist ein automatischer Ablauf, der dem erleidenden Bewussthaber widerfährt. Die Erinnerung überbrückt den Riss des Abschieds und taucht in die ins Nichtmehrsein entrückte Fülle ein, deren Vorbeisein im Wechsel der Gegenwart immer weiter und tiefer wird. So gewinnt die Vergangenheit die Ferne eines Horizontes über dem Meer. In der Zukunft werden bevorstehende Inhalte dagegen erst nach Aufbrechen der Situationen durch Vereinzelung mit Hilfe von Gattungen, als deren Fall etwas einzeln sein kann, angesiedelt. Die Erwartung findet dort nicht ganze Situationen vor, in die sie sich vertiefen kann, sondern nur einzelne Sachverhalte, dass etwas sein wird oder nicht sein wird, und einzelne Programme, dass es so sein solle oder möge oder nicht so. Um einzelne Sachen in der Zukunft zu finden, muss die Grenze vom Seienden zum Nichtseienden überschritten werden, und dann ergibt sich die unter 2.2 am Fiktiven erörterte Schwierigkeit, dass man nicht sagen kann, welcher unter überabzählbar unendlich vielen möglichen Gegenständen der gemeinte ist. Über den Fluss der Zeit erhebt sich ihre Schichtung. Modalzeit und Lagezeit kommen in je zwei Gestalten vor, je nach dem, ob sie getrennt sind (reine Modalzeit 92 , reine Lagezeit) oder ob 92

Ich habe bisher den Ausdruck »reine Modalzeit« für das verwendet, was

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Die Schichten der Zeit

sie sich zu einer modalen Lagezeit verbinden. Die reine Modalzeit enthält das von unzerrissener Dauer überlagerte und immer wieder in Gang gesetzte Geschehen der primitiven Gegenwart noch ohne Vereinzelung, daher ohne lagezeitliche Ordnung früherer und späterer Phasen, ein Durcheinander von Schreck und Entspannung. So dürfte die Zeit der Tiere und Säuglinge beschaffen sein sowie die Zeit der fassungslosen Personen, die, wie man sagt, »den Kopf verloren haben«, z. B. in wilder Panik, rasendem Zorn und Ekstasen nach Mänadenart, die jetzt manchmal bei Massenspektakeln (etwa Techno-Festivals) inszeniert werden. Die reine Modalzeit erhält eine lagezeitliche Ordnung vom Früher-Später- oder Früher-Später-Gleichzeitig-Typ, wenn mit Entfaltung der primitiven Gegenwart Einzelheit entdeckt und genützt und die Welt aufgespannt wird; dann wird die reine Modalzeit zur Modalzeit der modalen Lagezeit. Mit ihr verbindet sich die Lagezeit der modalen Lagezeit, die vom Fluss der Zeit eine Richtung übernimmt. Der reinen Modalzeit entspricht der regressive Fluss, da der Andrang des Neuen gegen die Gegenwart Dauer zerreißt und in die Vergangenheit abdrängt. In der modalen Lagezeit herrscht dagegen der progressive Fluss, weil das Wachsen der Vergangenheit und Schrumpfen der Zukunft in der Richtung vom Früheren zum Späteren zunimmt. Aus der Lagezeit der modalen Lagezeit kann eine reine Lagezeit abstrahiert werden, indem die Richtung weggelassen wird, so dass ein ungespaltenes, aber in Beziehungen spaltbares Verhältnis entsteht, gleich dem quadratischen Potenzverhältnis, das in die Beziehungen des Quadrats zur Wurzel und der Wurzel zum Quadrat spaltbar ist. Die reine Lagezeit ist die Zeit der naturwissenschaftlichen, besonders der physikalischen, Theorie, wenn auch keineswegs der naturwissenschaftlichen Praxis, z. B. beim ich jetzt »Geschehen der primitiven Gegenwart« nenne. Der Versuch, an dieser Ausdrucksweise festzuhalten, führte zu mühsamen terminologischen Komplikationen. Daher habe ich sie umgewidmet auf eine an das Geschehen der primitiven Gegenwart anschließende Modalzeit noch vor deren Verbindung mit der Lagezeit zur modalen Lagezeit.

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Übersicht

Experiment. Im Gegensatz zur herrschenden Meinung der Physiker ist sogar die Zeit der wachsenden Entropie oder anderer »irreversibler« Prozesse eine richtungslose reine Lagezeit. Das Wachsen der Entropie ist nur eine monotone Funktion der Zeit, so wie das Potenzverhältnis eine monotone Funktion der Folge der natürlichen Zahlen ist, ohne dass eine die Wurzel oder die Potenz bevorzugende Zielrichtung dem Verhältnis anhaftet. Es ist nur eine Frage der Sicht, ob man die Entropie als abnehmende (in Richtung z. B. vom »Wärmetod« zum unwahrscheinlichen Anfangszustand) oder in umgekehrter Richtung als wachsende auffasst. Die Physiker tun dies, nicht jenes, weil sie als lebende Menschen nicht die Zukunft vorwegnehmen können, sondern dem progressiven Fluss der Zeit folgen müssen. Dazu veranlasst sie aber keine lagezeitliche Anordnung, sondern der Fluss der Zeit als Modalzeit, genauer: als Modalzeit der modalen Lagezeit. Zu diesen vier Schichten der Zeit kommt als fünfte die metrisierte Zeit, die nicht nur eine Anordnung, sondern auch Abstände (extensive Zeitlängen) enthält. Sie entsteht durch Verräumlichung der Dauer mit Projektion durch eine als gleichmäßig imponierende Bewegung auf die Bahn des Zeigers einer (natürlichen oder künstlichen) Uhr. Sie gehört in die modale Lagezeit, kann aber durch theoretische Abstraktion in die reine Lagezeit übernommen werden. Die Schichten der Zeit sind also, in der Reihenfolge ihrer Entstehung: reine Modalzeit, modale Lagezeit, Modalzeit der modalen Lagezeit, Lagezeit der modalen Lagezeit, reine Lagezeit, metrisierte Lagezeit, metrisierte reine Lagezeit. (Wenn man der Entstehungszeit treu bleiben will, muss man die Reihenfolge von reiner Lagezeit und metrisierter modaler Lagezeit umkehren.) Die Unterscheidung von Schichten der Zeit verhilft zur Lösung des Problems, dass die Zeit, in der jeder Prozess stattfindet, als progressiver oder regressiver Fluss selbst in der Zeit stattfindet, so dass sie ein Prozess in sich selbst sein müsste, mit der Folge eines unendlichen Regresses. Diese paradoxe Aussicht hat Kant zu der Entscheidung veranlasst: »Denn der Wechsel 103 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Schichten der Zeit

trifft die Zeit selbst nicht, sondern nur die Erscheinungen in der Zeit (…).« 93 Das Paradox entsteht durch zu summarischen Gebrauch des Wortes »Zeit« mit Ignorieren ihrer Schichtung. Die Zeit, die nicht wechselt, ist die metrisierte reine Lagezeit als richtungsloses Verhältnis. Damit kann der progressive Fluss der metrisierten modalen Lagezeit (und der zugehörigen Lagezeit) gemessen werden, wobei sich per definitionem, wegen Benützung gleichförmiger Bewegung zur Metrisierung der Dauer, ein völlig gleichmäßiger Verlauf dieses Flusses ergibt, unvermeidlich und trivial. Der regressive Fluss der reinen Modalzeit entzieht sich solcher Messung, weil er keiner Anordnung in einer Reihe fähig ist, sondern lokal und unregelmäßig schwankt, je nach dem, wie lang oder kurz ein Schall ausfällt, wie langweilig oder kurzweilig jemandem zumute ist. Nach der Unterscheidung von Schichten der Zeit liegt die Frage nahe: Was ist die Zeit selbst? Ist sie eine absolute Wesenheit unabhängig von allem, was sich in ihr abspielt, ja sogar davon, ob sich nichts in ihr abspielt, oder ist sie nur eine Struktur ihrer Inhalte? Mit diesem Gegensatz der Auffassungen standen sich Newton (Clarke) und Leibniz gegenüber; Kant optierte für Newton, entwertete aber die absolute Zeit zur bloßen subjektiven Anschauungsform. Eng hängt damit die Frage zusammen, ob es leere Zeit geben kann. Für die Modalzeit, den Fluss der Zeit, in dem das Geschehen der primitiven Gegenwart von unzerrissener Dauer überformt ist, muss diese Frage verneint werden, denn der Zusammenhang von Entstehen und Vergehen, die Umschaufelung von Nichtseiendem in Nichtseiendes durch das Medium des Seienden, kann nicht stattfinden, wenn nichts da ist, was diesem Wechsel unterworfen wird. Und auch die unzerrissene Dauer kann nicht leer sein. Sie ist von sich aus eine intensive Größe wie die Wärme (2.1.4); von leerer Dauer zu sprechen, wäre ebenso sinnlos wie von leerer Wärme. Wohl kann ihre Füllung absolut konfus chaotisch-mannigfaltig sein wie 93

Kritik der reinen Vernunft A183 B226

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Übersicht

beim Dösen Hersilies, 56 aber auch das ist eine Füllung. Durch Extensivierung wird die intensive Dauer nur uminterpretiert, um Zeitmessung zu ermöglichen, aber sie gewinnt damit keinen zusätzlichen Inhalt. Ebenso gibt die Lagezeit lediglich dem Material, das die Modalzeit liefert, eine Anordnung, die durch Gewinn der Einzelheit und Entfaltung des Jetztmomentes der primitiven Gegenwart möglich wird. Bei dieser Verarbeitung des Flusses der Zeit können keine Lücken entstehen. Die kurz angebundene Behauptung Kants, dass man »ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen«, aber »die Zeit selbst nicht aufheben« könne, 94 ist also zu schnell dahingesagt. Leibniz behält gegen Newton Recht, so sehr auch er zu kurz greift (s. u. 6.8). Die Zeit ist nichts als ihr in verschiedenen Schichten geformter Inhalt. Eine Zeit an sich ohne Rücksicht auf alles Geschehen in ihr ist ein Hirngespinst. Damit ist freilich noch nicht ausgemacht, ob Zeit nur mit Veränderung zusammen bestehen kann, was namentlich die englischen Autoren seit McTaggart (1908) gern behaupten und schon Aristoteles annahm, wofür er sich auf mythische Schläfer bei Heroen in Sardinien berief, denen es beim Erwachen so vorkam, als sei keine Zeit vergangen. 95 Um dieses missglückte Beispiel möglichst wohlwollend auszulegen, kann man zugeben, dass ein veränderungsloser Zustand, wenn er, wie Hersilies Dösen,56 das Zeiterleben auch nicht ganz auslöschen sollte, es doch stark herabsetzt, sofern den Menschen dabei nichts in Anspruch nimmt; aber gilt das auch von veränderungslosen Zuständen, die den Menschen heftig engagieren und festhalten? Ich wähle ein extremes Beispiel, das zum Glück in der Erfahrung nicht vorkommt: das Beispiel der armen Sünder, die nach christlichem Höllenglauben auf ewig im Höllenfeuer schmoren und keinen Augenblick dem entsetzlichen Brennschmerz entgehen. Man darf annehmen, dass ihre ganze Aufmerksamkeit durch 94 95

ebd. A31 B46 Physik 218b 21–27

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Die Schichten der Zeit

dieses furchtbare Leiden gefesselt ist, so dass sie nichts weiter bemerken. Aber gibt es für sie keine Zeit? Vielmehr trifft sie ständig, aus in alle Ewigkeit fortgesetztem Nachschub unzerrissener Dauer, der Andrang des Neuen, Dauer zerreißend und Gegenwart exponierend, ohne dass sich irgend etwas ändert. Das wäre ein Beispiel für intensives Betroffensein von Zeit ohne Veränderung. Schließlich will ich noch etwas zu der berühmten Unterscheidung mehrerer Zeitreihen durch McTaggart 96 sagen, da sie eine gewisse Ähnlichkeit mit meiner Unterscheidung von Modalzeit und Lagezeit besitzt. McTaggart beginnt mit einer Unterscheidung, aus der man den Unterschied zwischen modalzeitlicher Einteilung und lagezeitlicher Anordnung herauslesen kann: »Die Positionen in der Zeit unterscheiden sich – so wie die Zeit uns prima facie erscheint – in zwei Hinsichten. Jede Position ist früher als einige und später als einige der anderen Positionen. Und jede Position ist entweder vergangen, gegenwärtig oder zukünftig.« 97 Zu bemängeln im Interesse klarer Gegenüberstellung ist hier nur, dass gleich von Positionen in der Zeit gesprochen wird, was schon die Lagezeit voraussetzt. Gleich darauf gibt McTaggart die Gegenüberstellung völlig und für immer aus der Hand, indem er statt der Einteilung nur noch die Anordnung berücksichtigt und zwei Reihen gegen einander stellt: »Der Kürze halber werde ich die Reihe der Positionen, die von der weit entfernten Vergangenheit über die nahe Vergangenheit bis zur Gegenwart und von der Gegenwart über die nahe Zukunft bis zur weit entfernten Zukunft verlaufen als ›A-Reihe‹ bezeichnen. Die Reihe von Positionen, die von früher bis später verlaufen,

John McTaggart Ellis McTaggart, The Unreality of Time, in: Mind XVII, 1908, S. 457–474; von mir benützt in der deutschen Übersetzung von Andrew Libby und Mike Sandbothe, in: Klassiker der modernen Zeitphilosophie, hg. v. W. Ch. Zimmerli und M. Sandbothe, Darmstadt 1973, S. 67–86; danach zitiert 97 ebd. S. 67 96

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Übersicht

werde ich ›B-Reihe‹ nennen.«98 Aus »Einteilung gegen Anordnung« ist jetzt die Anordnung zweier isomorpher Reihen geworden, von denen die eine mit moralzeitlichen, die andere mit lagezeitlichen Prädikaten der Positionen belegt ist. In versteckter Weise ist aber auch die A-Reihe eine Lagezeit, da sich die Anordnung der Positionen ebenso wie in der B-Reihe nach der Beziehung des Früheren zum Späteren richtet, bloß dass das Spätere nun »näher vergangen« oder »gegenwärtig« oder »näher zukünftig« oder »ferner zukünftig« heißt. Unter der modalzeitlichen Umbenennung scheint die lagezeitliche Grundlage durch. McTaggart stellt also nicht Lagezeit und Modalzeit, sondern die Lagezeit der modalen Lagezeit und die modale Lagezeit gegenüber. Dass er von Positionen spricht – mit undefiniertem Übergang von Ereignissen zu Zeitstellen –, zeigt, dass er nur eine bis in lauter einzelne Elemente durchgegliederte Zeit kennt; die reine Modalzeit hat da keinen Platz. Die anschließende Erörterung, in der McTaggart einen Vorrang der A-Reihe vor der B-Reihe behauptet, ist insofern gegenstandslos, als die A-Reihe schon eine verkappte B-Reihe ist, also ohne B-Reihe nicht auskommt. Ein Verdienst McTaggarts, das er später fallen gelassen hat, besteht jedoch darin, zusätzlich zur B-Reihe eine C-Reihe »der permanenten Relationen jener Wirklichkeiten zu einander, die in der Zeit Ereignisse sind«, 99 einzuführen. Obwohl McTaggart hier von Relationen statt von Verhältnissen spricht – also eine Unterscheidung, die ihm ohnehin nicht zuzumuten ist, auslässt –, kann man diese neue Gegenüberstellung so auffassen, dass mit der B-Reihe die (gerichtete) Lagezeit der modalen Lagezeit gemeint ist, mit der C-Reihe die reine Lagezeit. Immer aber setzt McTaggart die Metrisierung und Extensivierung voraus, indem er in seine Reihen zeitliche Abstände (nahe und ferne Vergangenheit, nahe und ferne Zukunft) hineinlegt. Auch damit hat er die Abstraktion nicht weit genug getrieben. 98 99

ebd. S. 68 ebd. S. 72

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Die Schichten der Zeit

3.2 Die Modalzeit Die Modalzeit ist eine Einteilung von Zeitinhalten in vergangene, gegenwärtige und zukünftige, im Unterschied von der Lagezeit als einer Anordnung von Zeitinhalten als frühere, gleichzeitige und spätere oder, wenn die gleichzeitigen zusammengefasst werden, als frühere und spätere. Ob es Modalzeit gibt, ist umstritten. In der gegenwärtigen Debatte ragen zwei Motive der Leugnung hervor. In England hatte McTaggart 1908 an der Zeit die A-Reihe von der B-Reihe unterschieden, 96 wovon jene modalzeitliche, diese lagezeitliche Bestimmungen mit sich brachte, und die Realität der A-Reihe bestritten, die der B-Reihe und damit der Zeit überhaupt aber nur deshalb, weil er die B-Reihe für abhängig von der A-Reihe hielt. Aus seinem Erbe bedienten sich Gegner einer Anerkennung der Modalzeit, indem sie von der Verwerfung der A-Reihe profitierten, dafür aber die B-Reihe aus der Abhängigkeit und damit dem Sturz befreiten. Daraus entstand, was Andros Loizou das Aufblühen der B-Theorie zu einer kleinen Industrie in der englischen Philosophie nennt; 100 ein typischen Beispiel liefert Keith Seddon, der »tensed facts« der Art, dass etwas war, gegenwärtig ist oder sein wird, mit Vehemenz bestreitet. 101 Sicherlich hängt solche Opposition mit der Abneigung gegen Subjektivität zusammen, die der »rote Faden« der namentlich in den angelsächsischen Ländern herrschenden analytisch-positivistischen Philosophie ist, angeknüpft bei Avenarius und Mach (»Das Ich ist unrettbar«) über Wittgensteins Ausschluss des Subjektiven aus dem Sagbaren durch Versteifung auf Sätze der Naturwissenschaft oder konventioneller Sprachspiele über den Physikalismus der Wiener Schule zu der Umdeutung subjektiven Erlebens in Gehirnfunktion oder deren kausal impotentes Epiphänomen durch eine materialistische Metaphysik auf der Grundlage eines naturwissenschaftlichen 100 101

Andros Loizou, The Reality of Time, Aldershot/Bradfield 1986, A. 108 Keith Seddon, Time. A Philosophical Treatment, London 1987

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Die Modalzeit

Weltbildes. Die Modalzeit steht dem subjektiven Erleben näher als die Lagezeit und lockt daher den analytischen Philosophen, sie wegzureden. Das andere Motiv einer Bestreitung der Modalzeit ist die Relativitätstheorie, die der Gegenwart die Absolutheit, alles Gleichzeitige zu umfassen, abspricht und daher wie bei Weyl 87 und modernen philosophierenden Physikern88 zur Degradierung der Modalzeit in den Bereich des »bloß Subjektiven« im Gegensatz zur Welt der objektiven Tatsachen führt. Um ein Urteil darüber begründen zu können, ob eine Modalzeit überhaupt existiert, sind zunächst Begriffe von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einzuführen. Ich wähle sie so: Zur Zukunft gehört, was noch nicht ist oder wenigstens noch möglich ist 102 ; zur Gegenwart gehört (gegenwärtig ist), was ist in der Weise, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein; zur Vergangenheit gehört (vergangenheitlich ist), was nicht mehr ist. Der Sinn der Worte »noch« und »mehr« in diesem Zusammenhang wurde unter 3.1 angegeben. Man darf nun nicht mehr fragen, ob Vergangenes trotz seiner Vergangenheitlichkeit weiterbesteht, Zukünftiges vielleicht doch schon ist; das wird durch die Definition ausgeschlossen. Wohl aber darf man fragen, ob Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht Illusionen sind. Diese Frage darf aber nicht so formuliert werden: Gibt es Vergangenheit? Gibt es Zukunft? Das hieße, für denkbar zu halten, dass es etwas gibt, das es nicht (nicht mehr bzw. noch nicht) gibt, einen klaren Widerspruch. Vielmehr ist die Frage so zu stellen: Ist es eine Tatsache, dass einige Zeitinhalte vergangenheitlich (nicht mehr) bzw. zukünftig (noch nicht) sind? Dass nichtseiende Gegenstände seienden an Bestimmtheit nicht nachzustehen brauchen, wie ja auch Kants Meinung war, 3 wurde unter 3.1 an fiktiven Figuren wie Werther erörtert und unter 1.1 am Vergangenen, das mit dem gegenwärtig Gewesenen iden-

Mit dieser Erweiterung über das, was noch nicht ist (aber sein wird), hinaus berücksichtige ich die offene Zukunft (3.5).

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Die Schichten der Zeit

tisch ist, erwiesen – vorausgesetzt, dass überhaupt etwas vergangen (vergangenheitlich) ist, was jetzt zu zeigen sein wird. Im Licht der eben eingeführten Definitionen zeigt sich die Modalzeit, wie sie unter 3.1 schon charakterisiert wurde, als Prozess beständiger Umschaufelung von Nichtseiendem in Nichtseiendes durch die schmale Mitte des Seienden. Das Nichtseiende wird damit in die Welt eingelassen, sogar in einer Überfülle, die das Seiende zwar nicht zu erdrücken, aber doch zusammenzudrücken scheint. Mancher, der sich mit Parmenides in einer Welt aus lauter Seiendem geborgen fühlte, wird sich entsetzt wehren oder die Zumutung des Nichtseienden in der Welt als Gespenst verjagen wollen. Er sei an die vielen Begegnungen mit Nichtseiendem erinnert, die er selbst schon durchgemacht hat: Man erwacht aus einem schweren Traum und ist erleichtert über der Gewissheit, dass das Schreckliche, wovon man überwältigt wurde, weder ist noch war. Man sieht mit Angst und Schrecken einem bevorstehenden Unglück entgegen und stellt, wenn es so weit ist, mit Erleichterung fest, dass es das befürchtete Ereignis gar nicht gibt. Man lebt zufrieden unter angenehmen Umständen und merkt eines Tages mit tiefer Enttäuschung, dass man sich auf etwas verlassen hat, das es gar nicht gibt. Philosophen sind geneigt, das Seiende mit dem, was etwas ist, zu verwechseln, so dass für das Nichtseiende nichts übrig bleibt, so schon Platon 103 und später Hume, der bis heute viele Philosophen und Logiker hinter sich herzieht. Hume schreibt: »Die Vorstellung der Existenz fügt, wenn sie mit der Vorstellung eines beliebigen Gegenstandes verbunden ist, nichts zu ihr hinzu. Was immer wir vorstellen stellen wir als existierend vor. Jede Vorstellung, die es uns beliebt, zu vollziehen, ist die Vorstellung von etwas Seiendem; und die Vorstellung von etwas Seiendem ist nichts anderes als eine beliebige von uns vollzogene Vorstellung.« 104 Der erste Satz erinnert an Kants These 3 (der Humes 103 104

Sophistes 397d.e David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, deutsch mit An-

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Die Modalzeit

Äußerung nicht gekannt hat) und teilt mit ihr die verschwommene Zweideutigkeit der Rede von Hinzukommen oder Hinzufügung. Richtig ist, dass die Existenz, wenn sie hinzukommt, an dem Gegenstand nichts ändert, weil sie für dessen Identität belanglos ist (1.1), aber das schließt doch nicht aus, dass sie in anderer Weise hinzukommt. Der zweite Satz Humes ist geradezu falsch, wie die angeführten Beispiele der Begegnung mit Nichtseiendem zeigen. Ich führe nun Argumente an, die die Überzeugung begründen sollen, dass in der Tat vieles vergangen (nicht mehr) und vieles zukünftig (noch nicht) ist. Ein Wissenschaftler ist kein Dogmatiker wie der Papst, der unfehlbare Glaubensartikel verkündet und nicht darauf gefasst ist, eines anderen belehrt zu werden; vielmehr stellt sich der Wissenschaftler, so er im Ernst einer ist, kritischer Prüfung seiner Aufstellungen (durch sich selbst oder andere) und ist bereit, aus dem Ergebnis der Prüfung zu lernen, so dass sein Kenntnisstand dann (zu einer späteren Zeit) nicht mehr der alte ist, indem er etwas zur Kenntnis nimmt, was er noch nicht gekannt und zu wissen geglaubt hat (und sei es auch nur, bei günstigem Ausgang der Prüfung, die Bestätigung seiner Aufstellungen). Die spätere Zeit gehört zur Lagezeit; davon soll jetzt nicht die Rede sein, ich komme aber darauf zurück. Jetzt geht es mir darum, dass der Wissenschaftler bereit ist, etwas zur Kenntnis zu nehmen, was er noch nicht weiß, so dass sein Kenntnisstand dann nicht mehr der alte ist. Diese Bereitschaft impliziert, dass er an die Existenz einer Modalzeit glaubt, in der einiges noch nicht, einiges nicht mehr ist. Wer eine solche nicht gelten lässt, indem er etwa mit McTaggart und dessen Nachfolgern die logische Möglichkeit der A-Reihe bestreitet, hat als Wissenschaftler aufgegeben und bemerkungen und Register von Theodor Lipps, mit einer Einführung neu herausgegeben von Reinhard Brandt, Hamburg 1973, Buch 1, S. 91, Teil 2 Abschnitt b. Im nächsten Absatz bestreitet Hume ohne Angabe eines Grundes eine impression des Seins.

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Die Schichten der Zeit

findet sich, wenn er trotzdem als solcher fortfährt und sich auf eine Prüfung seines Verdikts einlässt, in (performativem) Widerspruch mit sich selbst, indem er durch die Tat zeigt, dass er auf die Existenz einer zur A-Reihe weitergebildeten Modalzeit vertraut, andererseits sich und seine Zeitgenossen davon zu überzeugen sucht, dass er sich in diesem Vertrauen täuscht. Er kann sich auch nicht auf den Standpunkt von Weyl 87 zurückziehen, dass sein Lernen gar nicht der objektiven Welt angehöre, sondern nur der Weise, wie sich diese in seinem Bewusstsein spiegele. Entweder handelt es sich um eine wirkliche Spiegelung, und dann erkennt er Wirkliches, soweit es ihm bewusst sein kann, oder die Spiegelung ist eine Illusion; wenn er das einsieht und auf die beschriebene Weise zu verstehen gibt, dass er sie keineswegs für eine Illusion hält, müsste er glauben, was er für falsch hält. Sein Vertrauen geht ja dahin, dass er durch die Prüfung tatsächlich etwas lernt, nicht dahin, dass es ihm nur so vorkommt und er sich eigentlich die Mühe sparen könnte. Wenn er sich darin täuschte, wäre jedes Erkenntnisstreben eine Torheit, denn einen Erkenntnisgewinn kann es ohne wirkliche Modalzeit (keineswegs: wirkliche Vergangenheit oder Zukunft, wohl aber wirkliche Umschaufelung der angegebenen Art) nur geben, wenn jetzt etwas noch nicht und dann etwas nicht mehr ist. Bisher habe ich nur die Eigenschaft des Wissenschaftlers, lernbereit zu sein, zu Gunsten der Modalzeit angeführt, und damit mag es beim Geisteswissenschaftler, z. B. dem Philosophen oder Mathematiker, sein Bewenden haben. Der Naturwissenschaftler ist an die Modalzeit noch durch eine weitere Kette gebunden, nämlich die Aufgabe des Wissenschaftlers, nicht ins Blaue hinein irgend welche Behauptungen aufzustellen, sondern diese zu begründen. Der Mathematiker ist insofern in der glücklichen Lage, mit seiner Behauptung zugleich den Beweis präsentieren zu können. Dagegen ist die Aufstellung des Naturwissenschaftlers zunächst eine Hypothese, die durch ein Experiment bestätigt oder entkräftet werden muss, um als 112 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Modalzeit

begründet zu gelten. Das Experiment braucht Zeit. Erstens erstreckt es sich in der Lagezeit von seinem Anfang bis zu seinem Ende. Zweitens darf der Naturwissenschaftler am Anfang noch nicht wissen, was herauskommt; sonst könnte er sich die Mühe sparen, und das Experiment wäre bare Spiegelfechterei. Daher muss der Naturwissenschaftler auf die Existenz einer Modalzeit vertrauen, um auch nur einen Grund zu finden, auf den er den Anspruch auf Geltung seiner These bauen kann. Er ist, anders als der Mathematiker, nicht nur durch die dem Wissenschaftler unerlässliche Offenheit für Kritik, sondern auch durch die Hoffnung auf Begründbarkeit an die Modalzeit gebunden. Diese Argumente gelten nur ad hominem; sie appellieren an den Wissenschaftler, einzusehen, dass er, wenn er die These der Nichtexistenz von Modalzeit aufstellt, etwas zur Gewissheit zu erheben versucht, das er durch sein Tun selbst verwirft. Der folgende, sehr einfache Gedankengang erweist die Modalzeit ad rem. Mag auch das Nochnichtsein des Zukünftigen eine bloße Ansichtssache sein, die dem Menschen z. B. durch eine nicht abwerfbare »Anschauungsform« (Kant) auferlegt wird, so ist doch das Offenbarsein des Zukünftigen, wenn man nicht gerade ein Seher wie Teiresias ist, in der Tat noch nicht, keineswegs nur dem Anschein nach. Jeder Versuch, auch dies noch zu bestreiten, endet als Verfolgungsjagd in einem nicht zu gewinnenden progressus ad infinitum. Erste Stufe: Man sagt, die Zukunft sei an sich schon offenbar, wir merkten es nur nicht. Nun, dann ist eben dieses Merken in der Tat (als objektive Tatsache, nicht subjektive Meinung) noch nicht. Zweite Stufe: Man sagt, die Zukunft sei uns offenbar, wir merkten das auch, hätten aber das Merken so verdrängt, dass wir nichts davon merken. Nun erweist sich das Merken des Merkens als das, was in der Tat noch nicht ist, und weiter geht es zum Merken des Merkens des Merkens usw. ad infinitum. Immer bleibt es bei etwas, das in der Tat noch nicht ist. Alle diese Argumente für Zulassung einer Modalzeit beziehen sich auf das Voraussehen. Es gibt aber noch weitere. 113 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Ohne Modalzeit wäre unverständlich, dass man sich über das glückliche Ende einer qualvollen Wartezeit mehr freut als über eine erfreuliche Vorgeschichte angesichts einer anschließenden Qual. Wer von schlimmen Schmerzen geplagt ist, wird gewöhnlich – anders als Epikur105 – eher geneigt sein, Leid zu empfinden als Freude darüber, dass es ihm früher einmal besser ging. Das wäre unverständlich in einer Lagezeit ohne Abschied des Vergangenen von der Gegenwart. Ebenso wären Wünsche und Projekte in einer reinen Lagezeit sinnlos, weil man keine offene Zukunft vor sich hätte, sondern nur eine gleichmäßige Folge von Zeitstellen. Keine böte sich dafür an, als die gegenwärtige vor früheren ausgezeichnet zu werden. Ein zehnjähriger Knabe, der in der modalen Lagezeit einmal achtzig Jahre alt werden wird, hätte keinen Anlass, zu wählen, ob er der zehnjährige Knabe oder der vielerfahrene Greis oder das zwei Monate alte, an der Mutterbrust saugende Baby zu sein beliebt, geschweige denn, dass ihm wie uns keine solche Wahl angeboten würde; er wäre alles das und vieles dazwischen in gleicher Weise. Zwar kann dem Zehnjährigen ohne Modalzeit ein Unwissen über den Zustand des Achtzigjährigen, der er auch ist, zukommen, aber das braucht nicht sein Standpunkt zu sein, und jedenfalls ist es kein Standpunkt, der in seinem Leben je vor anderen bevorzugt wäre; er ist zwar zehn Jahre alt, aber nicht jetzt und nicht anders, als wie er achtzig Jahre alt ist. In einer reinen Lagezeit gäbe es durchaus noch den Unterschied zwischen dem Zehnjährigen und dem Achtzigjährigen mit allen Konsequenzen für den Wissensumfang, die Vitalität, das Aussehen usw., aber keine Gelegenheit für den Menschen, eher an irgend einer Stelle seines Lebens als an einer anderen Platz zu finden, weil keine als die gegenwärtige ausgezeichnet wäre. Diese Perspektive ist so irreal, dass sie genügen sollte, um jeden Versuch einer Flucht vor den tensed facts in der modalen Lagezeit aus der Modalzeit in die Lagezeit als aussichtslos zu entlarven. 105

Epikurs Brief vom Sterbebett an Idomeneus bei Diogenes Laertios X22

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Die Modalzeit

Von ganz anderer Art ist das Argument für die Existenz der Modalzeit aus ihrer Unentbehrlichkeit für das Denken; ich habe es unter 2.2 kurz vorgetragen und will es jetzt noch etwas vertiefen. Allen Beziehungen liegen ungerichtete Verhältnisse zu Grunde (1.4). Das menschliche Denken ist aber nicht so intuitiv, dass es dem bloßen Verhältnis mit einem Schlag die gewünschten Aufschlüsse entnehmen könnte; es ist auf die Spaltung der Verhältnisse in gerichtete Beziehungen angewiesen, um diese (diskursiv) zu durchlaufen und zusammenzusetzen. Eine Landkarte mit eingetragenen Straßen präsentiert das durch die Straßen bestimmte Verhältnis zwischen den von diesen verbundenen Orten. Der Mensch, der sich an der Karte orientieren will, um seinen Weg zu finden, muss das Verhältnis in Beziehungen von hier nach dort usw. (mit dort als abermaligem hier) aufspalten, um Aufschluss über die möglichen Straßenverbindungen zu gewinnen. Entsprechender Bedarf ergibt sich bei andern Denkaufgaben. Nun ist die Frage, wie dem Denken die Spaltung der Verhältnisse gelingt. Man macht sich die Antwort zu leicht, wenn man meint, es werde genügen, dass der Denkende einfach eine Richtung seines Gedankenweges durch das Verhältnis wählt. Für die Wahl müssen die möglichen Richtungen, unter denen gewählt werden soll, schon als Angebote vorliegen. Die Auszeichnung einer Richtung, die Voraussetzung für das Einschlagen eines Weges (der Gedanken), ist aber das Selbe wie die Spaltung des Verhältnisses, wodurch mehrere Richtungen entstehen, zwischen denen dann gewählt werden kann. Die Spaltung ist für das Wählen also schon vorausgesetzt, aber der Denkende kann nicht anders spalten, als indem er eine Richtung wählt und einen Weg einschlägt. Das kann er aber nur, wenn ihm die Richtung schon als Angebot vorliegt. Er kann, mit anderen Worten, gar nicht von sich aus spalten, denn dann müsste er gewählt haben, bevor er wählen kann. Die Spaltung des Verhältnisses kann ihm also nur geschenkt werden, gleichsam in den Schoß fallen, indem die Zeit ihn am Ausgangspunkt der Beziehung (an dem, was sich auf etwas bezieht) mitnimmt und 115 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Schichten der Zeit

am Endpunkt (bei dem, worauf es sich bezieht) wieder absetzt. Das ist die Leistung des Flusses der Zeit als Modalzeit (in der modalen Lagezeit); sie mag sich ganz schnell, etwa in der Präsenzzeit nach William Stern und William James 64, abspielen, aber auch daran kann sich die Modalzeit beteiligen, etwa in Gestalt der Retention nach Husserl, der Anwesenheit des eben Gewesenen 69 noch in der Gegenwart, auf der Schwelle zum Vorbeisein. Auf diese Weise bahnt die Modalzeit dem Denken den Weg, ohne den es hilflos vor ungespaltenen Verhältnissen stünde. Schließlich entscheidet für die Existenz einer Modalzeit das unter 2.1.1 und 2.1.2 vorgebrachte Argument, das ich kurz wiederhole und fortführe. Es versteht sich nicht von selbst, dass ein Gegenstand selbst (dieser oder jener) ist; die Inhalte eines absolut konfus chaotischen Mannigfaltigen werden dieser Auszeichnung nicht teilhaft. Sie liegt aber auch nicht an dem besonderen Inhalt dessen, was absolut identisch ist, denn der könnte ebenso in einer teilnahmslosen Welt vorkommen, ohne absolute Identität. Er muss also allem dem, was selbst als Gegenstand einer Zuwendung (sprachlich, oder vorsprachlich in Einleibung) werden kann, übertragen werden, als Voraussetzung dafür, dass es als dieses oder jenes vorliegen kann. Die Übertragung setzt einen Ursprung, von wo her übertragen wird, voraus, einen Eintritt des Selbstseins in die Wirklichkeit, in das Seiende, durch eine Hervorhebung, die einerseits einen Kontrast gegen alles Seiende (das Nichtsein durch Abschied ins Vorbeisein) verlangt, andererseits die Weckung zum Selbstsein durch die subjektive Betroffenheit mit der passiv-aktiven Doppelseitigkeit, zu erleiden und darauf einzugehen. Das ist das Geschehen der primitiven Gegenwart, in der Zeit dargeboten als zeitliche Gegenwart. Diese trägt in der Zeit die ursprüngliche Auszeichnung, an der andere Zeiten sekundär teilnehmen, indem sie abgeleitete (vergangene und zukünftige Gegenwarten) und dadurch Daten (Zeitstellen) werden. Die Modalzeit in Gestalt der zeitlichen Gegenwart ist also für die Zeitstellen erforderlich, die der Lagezeit 116 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Modalzeit

ihre Fassung geben. Ohne Modalzeit versänke die Lagezeit im chaotischen Mannigfaltigen. An der Modalzeit ist die der A-Reihe nach McTaggart entsprechende Modalzeit der modalen Lagezeit, die die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt voraussetzt, von der reinen Modalzeit ohne Welt und ohne Vereinzelung (Fortbildung der absoluten Identität zur Einzelheit) zu unterscheiden. Bei menschlichen Personen kommt die reine Modalzeit nur in hyperkinetischen und (weniger) in hypokinetischen Ausnahmezuständen vor, wie besinnungslose Wut (wenn man nicht mehr weiß, was man tut), rasende Flucht in Panik, Hineinsteigerung in Ekstasen, sowohl kollektiv (und dann neuerdings organisiert, z. B. Techno-Festivals) als auch individuell (»flow« des Motorradfahrers 27). Sie dürfte aber für Tiere und Säuglinge die normale Zeit sein, in der sie leben und erleben. Statt der Beziehungen, die auf bestimmte Zahlen der Stellen und Teilnehmer angewiesen und daher nur zwischen einzelnen Beziehungsgliedern möglich sind, gibt es in der reinen Modalzeit nur unspaltbare Verhältnisse, aber von der Gegenwart aus auf verschiedene Weise zur Zukunft und zur Vergangenheit hin. Im Geschehen der primitiven Gegenwart ist die Exposition der Gegenwart durch den Andrang des Neuen unmittelbar verbunden mit dem Zerreißen der Dauer und ihrem Abschied ins Vorbeisein, doch wird die Schroffheit dieses Bruchs in der reinen Modalzeit überlagert und gedämpft durch assoziierte unzerrissene Dauer, so dass Retention möglich wird, ein Abgleiten im Vorbeisein, das die Gegenwart nicht gleich ganz verlässt (2.1.4). Dadurch kann sich die zeitliche Gegenwart, wenn sie nicht von der primitiven absorbiert wird, zur Vergangenheit gewissermaßen öffnen, ihren Inhalt in diese ergießen und eine Perspektive in die Vergangenheit gewinnen, eine Sicht auf das, was abgeschieden ist oder sich gerade verabschiedet. Zur Zukunft hin ist die Sicht dagegen in der reinen Modalzeit durch den Andrang des Neuen, die Appräsenz, blockiert. Appräsenz ist Zukunft in total absolut unspaltbarem Verhältnis mit Gegenwart. Zur Öffnung der Zukunft bedarf es 117 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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der Vereinzelung und der Spaltung des erst danach in Beziehungen zerlegbaren Verhältnisses. Dann kann das unmittelbare Betroffensein von dem, was sich als Neues aufdrängt, durch Beziehungen, die das Drängende zum Ziel ihrer Richtung machen, distanziert werden als das Bevorstehende, das noch nicht ist oder noch möglich ist; das ist die Eröffnung einer Perspektive in die Zukunft, die damit zur erwartbaren wird. Der Retention in die Vergangenheit entspricht also nicht, wie Husserl glaubte, spiegelbildlich genau eine Protention in die Zukunft. Wohl aber ist die Eröffnung der Zukunft in der reinen Modalzeit schon durch Protentionen vorbereitet, die aber von wesentlich anderer Natur als Retentionen sind. Ich verstehe beide nicht als Inhalte des sogenannten Bewusstseins, an das (als private Innenwelt) ich gar nicht glaube, sondern die Retention als zwiespältiges, noch nicht dem Bruch des Abschieds preisgegebenen Versinken ins Vorbeisein, die Protention aber als das Vorschweben von Bedeutungen (Sachverhalten, Programmen, Problemen), die in die binnendiffuse Bedeutsamkeit von Situationen beim Andrang des Neuen in die zeitliche Gegenwart der reinen Modalzeit gebunden oder versenkt sind. In dieser Weise bereitet sich die Aussicht in die im Fluss der Zeit schrumpfende Zukunft schon an der reinen Modalzeit vor, z. B. für das nach Beute springende Raubtier durch den Verbrauch der Spannweite seines Gespanntseins auf den Erfolg in der Annäherung an diesen bis zum vollendeten Erreichen. Zur Vereinzelung und damit zur Reihenbildung wie nach McTaggart kommt es aber nicht, solange die reine Modalzeit nicht überschritten wird. Nicht einmal die drei Massen Zukunft (Appräsenz), Gegenwart und Vergangenheit sind in der reinen Modalzeit nach einander, sondern sie gehen über im Fluss der Zeit, schon mit absoluter Identität, aber noch ohne Einzelheit. Ich will das an zwei Beispielen verdeutlichen. Wenn jemand sich in besinnungsloser Panik auf der Flucht befindet, wächst das Vergangene ihm als Spur der schon abgelaufenen Flucht, die sich dehnt, und die Gegenwart wechselt als immer wieder ohne Vereinzelung neu einsetzende Angst. 118 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Modalzeit

Wenn jemand ganz unter dem Eindruck ohrenbetäubenden Lärms steht, wächst das Vergangene als Druck des Lärms, der sich im Fortwähren spannend staut, bis zur Unerträglichkeit, und die Gegenwart wechselt als dessen immer neues bedrängendes Eindringen. Das Schrumpfen der Zukunft wird spürbar, wenn die Aussicht auf Entkommen, der die Protentionen in der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situation zugewandt sind, näher rückt. Vereinzelung ist dazu nicht erforderlich. Die ungeheuerliche Überfrachtung der Retention mit Einzelheit – der Urimpressionen eines dauernden Tones, der von diesen ausgehenden Ketten von Retentionen, der Folge solcher Ketten in der Retention zweiter Stufe – durch Husserl, und erst recht die entsprechende Überfrachtung der Protention, wenn man die angebliche Symmetrie ernst nimmt, ist in der reinen Modalzeit gänzlich unangebracht. In der modalen Lagezeit mag es ausnahmsweise vorkommen, dass eine Retention als einzelne festgehalten wird, aber das erfordert von der Sorgfalt des Beachtens schon viel Mühe, und der Fluss der Zeit, auch in seiner Verzögerung zur Retention, kümmert sich nicht darum. Der Fluss der Zeit, dass die Vergangenheit wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt, ist demnach auch ohne Vereinzelung und ohne Lagezeit möglich und wirklich. In der reinen Modalzeit imponiert er als regressiver Fluss, weil ihr das Geschehen der primitiven Gegenwart, nur überlagert von unzerrissener Dauer, zu Grunde liegt. In diesem Geschehen ist der Betroffene vom Andrang des Neuen nicht nur getrieben, sondern, mehr noch, mit ihm konfrontiert, weil affektives Betroffensein in seiner aktiv-passiven Doppelseitigkeit immer auch ein Eingehen auf das Betreffende in Zuwendung oder Abkehr (Abwendung) ist, nie gleichgültig. Deswegen steht der Betroffene gleichsam frontal gegen den Andrang, der hinter ihm die zerrissene Dauer ins Vorbeisein verabschiedet. In der Modalzeit der modalen Lagezeit ist die Richtung des Flusses eher progressiv, weil nun die Perspektive in die Zukunft aufgetan ist und überdies die Gegenwart, wie nachher (3.5) ausgeführt wird, eine 119 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Schichten der Zeit

Konversion offener Zukunft in geschlossene mit sich bringt, also einen Verlust offener Zukunft, der sich in die Zukunft hinein fortsetzt. Dieser Richtungsunterschied ist eine Frage der Perspektive; für den Fluss der Zeit an sich hat er keine Bedeutung, da dieser in beiden Perspektiven darin besteht, dass die Vergangenheit wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt. In der modalen Lagezeit, wenn die Welt als das Feld möglicher Vereinzelung voll aufgespannt ist, wirkt das Geschehen der primitiven Gegenwart als Motor des Flusses der Zeit weiter, aber nun in der Form der Besonnenheit, d. h. der Orientierung an Fällen von Gattungen und dem Verhältnis dieser Gattungen unter einander. Dann erscheint die Struktur dieses Geschehens in erhaltener Orientierung. Ein Beispiel dafür, diskrete Retention beim Hören eines verstörenden Geräusches, wurde unter 2.1.4 besprochen. Ein anderes ist die Enttäuschung. Rilke dichtet in den Sonetten an Orpheus:106 Wir sind frei. Wir wurden dort entlassen, Wo wir glaubten, erst begrüßt zu sein. Hiernach erfahren wir unsere Freiheit als Enttäuschung der Illusion, in einer uns freundlich begrüßenden Umgebung zu leben, während das, was den Anschein der Begrüßung hatte, vielmehr die Entlassung war, durch die wir allein auf uns gestellt sind. Der Mensch, dem auf solche Weise die Illusion liebevoller Geborgenheit entzogen wird, ist vom Andrang der ihn als neu überraschenden Verfremdung in die Enge einer exponierten Gegenwart getrieben, in der die Dauer seines arglosen Dahinlebens in der durch Enttäuschung entwerteten Situation zerrissen und ins Vorbeisein verabschiedet ist. Damit sind die Momente des Geschehens der primitiven Gegenwart beisammen, aber freilich ist dieser Mensch nicht so benommen wie unter einem alle Orientierung auslöschenden Schock, sondern er sucht sich durch 106

Teil 2, Sonett XXIII

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Die Lagezeit

Vereinzelung und Neutralisierung in den neuen Umständen zurechtzufinden.

3.3 Die Lagezeit 3.3.1 Prämetrische Lagezeit Die Lagezeit, d. h. die Anordnung von Zeitinhalten als frühere, spätere oder gleichzeitige bzw. (bei Zusammenfassung der gleichzeitigen) als frühere und spätere, ist die zeitliche Seite der Entfaltung der Gegenwart zur Welt. An ihrer Spitze steht die Vereinzelung, d. h. die Erzeugung der Einzelheit (des Einzelseinkönnens von etwas) durch Ergänzung absoluter Identität durch das Fallsein unter Gattungen, die von satzförmiger Rede aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden und identifizierbar gemacht werden. Die Spaltung der Verhältnisse in Beziehungen und die Projektion der Einzelheit ins Nichtseiende (nicht mehr bzw. noch nicht Seiende) ermöglicht dann die Reihenbildung in Vergangenheit und Zukunft. Auf diese Weise entstehen relative, vergangene oder künftige, Gegenwarten als Massen gleichzeitiger (d. h. mit einander ganz oder teilweise gegenwärtiger) Zeitinhalte, die einmal das Schicksal hatten oder haben werden, zu sein in der Weise, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein. Zwischen ihnen wird die zeitliche Gegenwart, d. h. die durch unzerrissene Dauer meist gedämpfte primitive Gegenwart als absoluter Augenblick, nivelliert zur auch nur noch relativen Gegenwart, die als Auszeichnung die tautologische Ehre empfängt, die gegenwärtige Gegenwart zu sein. Unmittelbar und beliebig genau sind nur aktuelle Situationen der lagezeitlichen Anordnung unterworfen, die zuständlichen nur allmählich und mit Pausen; sie geben aber Halt für die Wahl der Anordnung, da sie Rhythmen des Geläufigen und Gewöhnlichen (z. B. des Wechsels von Tag und Nacht) enthalten, an denen sich die Erinnerung zurücktasten kann. Sie kann sich 121 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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auch auf das allmähliche Verblassen des Erinnerten verlassen; jüngst vergangene Ereignisse kommen häufig schneller und deutlicher als weiter vergangene zum Vorschein. Nachrichten von Zeitgenossen, Erzählungen aus der (bis ins 18. Jahrhundert maßgebenden) Bibel oder anderen Quellen, Schlüsse der Naturwissenschaft aus für allgemeingültig gehaltenen Naturgesetzen usw. geben weitere Stützen. Die bloße Anordnung enthält aber noch keine zeitlichen Abstände. Sie lässt offen, wie viel Zeit zwischen irgend zwei als früher und später angeordneten relativen Gegenwarten verstreicht. Diese Frage kann erst gestellt werden, wenn die intensive (2.1.4) Dauer durch Verräumlichung zur Zeitstrecke extensiviert, in eine extensive Größe umgedeutet worden ist. Dann erst kann die Zeit (genauer: die Dauer) skaliert (in eine Skala von Einheiten gleicher Länge zerlegt) und gemessen werden. Vor dieser Umwandlung ist die Lagezeit prämetrisch. Die prämetrische Lagezeit ist die Zeit, wie Leibniz sie sich dachte, die Ordnung sukzessiven Existierens. 107 Ein packender Beleg für das Vorkommen prämetrischer Lagezeit im Leben ist der folgenden Bericht eines Geretteten von seiner vielfach durch Verstopfungen aufgehaltenen Flucht aus dem von einem Flugzeugangriff zum Einsturz gebrachten World Trade Center in New York am 11. September 2001 über eine lange Folge von Treppenabsätzen, abwärts vom 70. Stockwerk: »I couldn’t tell how long we’d been in there. Time had vanished. There was no time. There was only descent. There was only counting (the floors, H. R.) and walking and counting, circling around again and again.« 108 Offenbar versteht der Berichterstatter Zeit als Correspondance Leibniz-Clarke, presentée (…) par André Robinet, Paris 1957, S. 118 (Brief an Bernoulli vom 7. Juni 1716), vgl. S. 42 (Brief an Conti Dezember 1715) und S. 97 (4. Schreiben an Clarke § 41) 108 von mir übernommen aus: Hartmut Rosa, Beschleunigung, Frankfurt a. M. 2005, S. 28. Rosa zitiert aus: Brian Charles, The numbers. The World Trade Center, in: Thomas Bellers (Hg.), Before and After. Study from New York, New York 2002, S. 31 f. 107

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Die Lagezeit

metrische Lagezeit mit Einteilung durch Abstände der Zeitlänge. Diese Zeit ist in der Todesangst beim Abstieg aus einem brennenden und einstürzenden Turm verschwunden, nicht aber die Anordnung relativer Gegenwarten mit Markierung durch die Stockwerkfolge. Die Frage nach dem Verhältnis von Modalzeit und Lagezeit ist in erster Linie ein begriffliches Problem. Heiß umstritten ist bei Philosophen, ob die Lagezeit die Modalzeit oder umgekehrt die Modalzeit die Lagezeit sozusagen »schluckt«, indem die jeweiligen Merkmale der einen Zeitart durch Definition sinngleich auf Merkmale der anderen zurückgeführt werden können, oder ob beide Zeitarten unableitbar aus einander bestehen. Diese Diskussion wurde namentlich in England im Anschluss an McTaggart geführt, wobei die Lagezeit korrekt als B-Reihe, die Modalzeit aber, unkorrekt überbestimmt, als A-Reihe (modale Lagezeit, 3.1) aufgefasst wurde. Gemäß der die englischen Autoren leitenden Tendenz, die ihnen als subjektiv suspekte Modalzeit wegzuschaffen, ging ihr Bestreben hauptsächlich auf Ersatz der modalzeitlichen Merkmale durch lagezeitliche Umschreibung. Ihr Prunkstück ist die sogenannte token-reflexiveAnalyse, wobei angenommen wird, dass sich ein Sprecher (reflexiv) auf seinen eigenen Ausspruch bezieht und Gegenwärtigkeit, Vergangenheitlichkeit und Zukünftigkeit so umschreibt, dass ein gewisser Zeitinhalt gleichzeitig mit dieser Äußerung bzw. früher bzw. später als sie sei. Während dieser Reduktionsversuch wohl von Reichenbach ausging, ließ Russell die Reflexivität fallen und begnügte sich mit etwas, worauf man zeigen kann, so dass sich eine allgemeinere Form der Reduktion ergibt, die Bieri so beschreibt: »Ihr zufolge bedeutet der Satz ›x ist vergangen (gegenwärtig, zukünftig)‹ oder ›x war (ist, wird sein)‹ : ›x ist früher (gleichzeitig mit, später) als dieses Ereignis‹.« 109 Diese Technik erfreut sich so breiter und anhaltender Sympathie, dass Sorabji noch 1986 die Umschreibung mit »this«, nebensächliche 109

Peter Bieri, Zeit und Zeiterfahrung, Frankfurt a. M. 1973, S. 97

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Bedenken abgerechnet, als zusätzliche Errungenschaft eines Merkmals der A-Reihe McTaggarts ausgibt. 110 Die Bestimmung des Sinnes von »Dies ist gegenwärtig« als »Dies ist gleichzeitig mit dieser Äußerung« ist handgreiflich zirkelhaft, weil nur brauchbar unter der Voraussetzung, dass diese Äußerung gegenwärtig ist. Das mag augenscheinlich oder gut begründet sein, muss aber jedenfalls vorausgesetzt werden, und das macht den Vorschlag zum nichtssagenden Zirkel. Diese Äußerung könnte ja auch in ferner Vergangenheit oder Zukunft stattfinden. Dagegen spricht die intuitive Gegenwartsgewissheit, die übrigens auch leicht schwankend werden kann. 111 Aber man muss sich wenigstens auf sie berufen können, und das genügt schon zum Zirkel. Eine weitere Widerlegung der token-reflexive-Analyse stellt sich heraus, wenn man versucht, die Umschreibung von »Dies ist gegenwärtig« mit »Dies ist gleichzeitig mit dieser Äußerung« auf diese Äußerung selbst anzuwenden. »Diese Äußerung ist gleichzeitig mit dieser Äußerung« sagt keineswegs so viel wie »Diese Äußerung ist gegenwärtig«, denn jede Äußerung ist gleichzeitig mit sich, aber nicht jede Äußerung ist gegenwärtig. Entsprechend erledigen sich die Versuche, Vergangenheitlichkeit und Zukünftigkeit durch token-reflexiveAnalyse wegzuschaffen, und die Verallgemeinerung von Russell. 112 Einen Vorschlag für die Vergangenheit von gestern macht Cockburn, nicht im eigenen Namen, sondern indem er der Gegenseite – namentlich Mellor – folgende ÄquivalenzRichard Sorabji, Time, Creation, and the Continuum, Ithaca (NJ) 1986, S. 33–37 111 Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, 7. Kapitel: »Hilariens Herz war zu sehr verwundet, als dass es einen neuen, reinen Eindruck zu empfangen fähig gewesen wäre, aber wenn die Anmut einer herrlichen Gegend uns lindernd umgibt, wenn die Milde gefühlvoller Freunde auf uns einwirkt, so kommt etwas Eigenes über Geist und Sinn, das uns Vergangenes, Abwesendes traumartig zurückruft und das Gegenwärtige, als wäre es nur Erscheinung, geistermäßig entfernt.« 112 Auch Bieri a. a. O. S. 90–114 bestreitet, übrigens scharfsinnig, aber meines Erachtens viel zu vorsichtig, diese Ersetzungsvorschläge. 110

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Die Lagezeit

brücke zur Wegdeutung zuschreibt: »Thus, my utterance today of the words ›It rained yesterday‹ is true if and only if it rains on the day before my utterance of those words: where ›rains‹ is used tenselessly.« 113 Diese Behauptung, wenn sie der Vergangenheit eine Brücke in die Lagezeit bauen soll, beruht auf einer Äquivokation. Das Wort »gestern« wird doppelsinnig gebraucht. Es kann gemeint sein: »am vorigen Tag«. Damit ist noch nichts über Vergangenheit und Gegenwart behauptet, sondern nur, dass ein Ereignis einen Tag früher als ein anderes stattgefunden habe. So wird das Wort in lebendigen Erzählungen gebraucht, z. B.: »Gestern noch war er siegesgewiss gewesen, aber nun verließ ihn der Mut«. Der normale Sinn von »gestern« besteht aber in der Angabe, dass ein Ereignis gerade einen Tag vergangen (nicht mehr gegenwärtig) ist. Dies ist eine Aussage über die modale Lagezeit (die A-Reihe), aber keine Umschreibung von Modalzeit durch bloße Lagezeit. Vielleicht sind sich die Reduktionisten ihrer token-reflexiveAnalyse nicht mehr so sicher, oder diese hat sich aus anderen Gründen mehr oder weniger überlebt; wenigstens gibt es Ansätze einer neuen »B-Theorie«, die wiederum die A-Serie McTaggarts durch die B-Serie ersetzen will, sich aber, statt einer Definition, mit dem schwächeren Mittel der Äquivalenz begnügt, das auch schon in Cockburns Bericht auftaucht. Turetzky gibt dafür folgende Formulierung an: »Was einen Spruch eines Satzes im Präsens wahr macht, ist, dass er in derselben B-SerienZeit erfolgt wie das, worüber er ist.« 114 Vielmehr ist gegebenenfalls die Tatsache, dass es in der Lagezeit gleichzeitig mit einem Spruch des Wortlauts »Es regnet gerade« regnet, nur deswegen zureichend für die Wahrheit dieses Spruches, weil er gerade jetzt, gegenwärtig stattfindet. Es geht also nicht an, die TatDavid Cockburn, Other Times. Philosophical perspectives on present, past and future, Cambridge 1997, S. 100 114 Philip Turetzky, Time, London 1998, S. 154: »what makes a token of a present-tense sentence true is that it occurs at the same B-series time as what it is about.« 113

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sachen, die Sprüche über Zeitmodi wahr machen, einer Lagezeit zu reservieren, die nicht auch modale Lagezeit mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist. So zeugt auch – ein anderes Beispiel von Turetzky – der von A. N. Prior für die Modalzeit angeführte Ausruf »Gott sei Dank, das ist vorbei« (»Thanks God, that’s over«) nicht bloß von der lagezeitlichen Tatsache, dass der Erleichterung eine quälende Belastung kurz vorangeht, sondern auch von der modalzeitlichen Vergangenheit; wenn nämlich jene lagezeitliche Reihenfolge sich in ferner Zukunft abspielte, wäre der Ausruf nicht nur unmotiviert, sondern enthielte auch eine falsche Behauptung. Die Versuche einer Reduktion der Lagezeit auf die Modalzeit mit begrifflichen Mitteln sind also gescheitert, und das ist kein Zufall. Alle solche Versuche sind aus einem einsichtigen Grund prinzipiell verfehlt. Er besteht darin, dass die lagezeitlichen Bestimmungen (früher, später) Attribute sind, die modalzeitlichen (vergangen, gegenwärtig, zukünftig) dagegen Existenz-Inductiva, also keine Attribute (1.1). Wenn diese nun durch jene ersetzt, gar als jene definiert werden, hat man aus einem ExistenzInductivum ein Attribut gemacht oder es wenigstens als Attribut behandelt, und das ist jedenfalls ein falsches Ergebnis. Viel ergiebiger scheint mir der umgekehrte, von der Äquivalenz ja ebenso nahegelegte Weg der begrifflichen Vereinigung von Lagezeit und Modalzeit: die lagezeitlichen Attribute modalzeitlich zu umschreiben, ohne sie in Existenz-Inductiva umzudeuten. Die modalzeitliche Definition des Früherseins lautet: A ist früher als B, wenn A vergangen ist, wenn B gegenwärtig ist. Dieses »wenn« ist doppelt zu verstehen, teils indikativisch, teils im Irrealis; es ist gemeint, dass es zwei Möglichkeiten gibt: B ist wirklich gegenwärtig und A vergangen, oder B ist nicht gegenwärtig, aber, wenn B gegenwärtig wäre, wäre A vergangen. Dieser Irrealis seinerseits hat folgenden Sinn: In jeder möglichen Welt, die sich von der wirklichen Welt nur durch Verschiebung der Gegenwärtigkeit auf eine andere Masse von Zeitinhalten und die damit automatisch verbundenen Verschiebungen der 126 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Lagezeit

Vergangenheitlichkeit und Zukünftigkeit unterscheidet und in der B gegenwärtig ist, ist A vergangen. Wegen des Irrealis wird aus dem Frühersein kein Existenz-Inductivum. Allerdings werden Gegenstände A und B aus der wirklichen Welt in mögliche Welten 115 versetzt. Das wäre unzulässig, wenn die Versetzung mit dem Wechsel eines Attributes verbunden wäre, denn jedem Gegenstand kommen seine Attribute notwendig zu (1.1), und durch deren Auswechslung entsteht ein anderer Gegenstand. Das ist hier nicht der Fall, weil Existenz-Inductiva für die Identität des Gegenstandes, dem sie zukommen, belanglos sind. Die Definitionen von »gleichzeitig« und »später« entsprechen der Definition von »früher« mit Auswechslung von »vergangen« gegen »gegenwärtig« bzw. »zukünftig«. Die begriffliche Zurückführung der Lagezeit auf die Modalzeit wird dem sachlichen Vorrang gerecht, den die Modalzeit vor der Lagezeit dadurch besitzt, dass die primitive Gegenwart an der Wurzel der zeitlichen Gegenwart, die sich von ihr nur durch einen Überschuss unzerrissener Dauer unterscheidet, die Quelle absoluter Identität ist, auf der die Einzelheit aufbaut, auf diese die Lagezeit. Diese Fundierungsordnung wird verkannt, wenn man die Zeit als Lagezeit zur Voraussetzung auch der Modalzeit mit ihrem Fluss macht, der ein Übergang aus dem Entstehen ins Vergehen durch die Mitte gegenwärtigen Seins noch ohne Vereinzelung ist, also ohne dass es Sinn macht, zu sagen, welche einzelnen Schichten in welcher Reihenfolge den Übergang durchmachen. Diesen Fehler begeht Kant, wenn er schreibt: »Die Beharrlichkeit drückt überhaupt die Zeit, als das beständige Korrelatum allen Daseins der Erscheinungen, des Wechsels und aller Begleitung, aus. Denn der Wechsel trifft die Zeit selbst nicht, sondern nur die Erscheinungen in der Zeit. (…) Wollte man der Zeit selbst eine Folge nacheinander beilegen, so müsste man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Folge mögVgl. Hermann Schmitz, Logische Untersuchungen, Freiburg i. Br./München 2008, Kapitel 10 (S. 108–114): Mögliche Welten

115

127 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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lich wäre.« 116 Kant übersieht die Schichtung der modalen Lagezeit in Modalzeit und Lagezeit, die sich an einander anpassen, die Modalzeit, indem sie die lagezeitliche Reihenordnung übernimmt und zur A-Reihe McTaggarts wird, die Lagezeit, indem sie vom modalen Fluss der Zeit, dass die Vergangenheit wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt, die Richtung übernimmt, dass später ist, wo mehr Vergangenheit und weniger Zukunft ist, früher umgekehrt. Mit dieser Richtung beharrt freilich die Lagezeit der modalen Lagezeit, aber sie hat sie vom modalen Fluss der Zeit, der von sich aus (ohne Einordnung in die Lagezeit) keine »Folge nacheinander« ist, da eine solche erst in der Lagezeit möglich wird. Der Übergang vom Entstehen ins Vergehen bedarf keiner zweiten Zeit, in der er möglich wäre, aber er fügt sich durch die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt mit einer zweiten Schicht der Zeit zusammen, der Lagezeit, die nach Extensivierung und Metrisierung der Dauer zur Zeitmessung benützt werden kann, aber nicht zur Messung des Flusses der Zeit, der ihr zu Grunde liegt. Von anderer Art sind die Prozesse, die in der modalen Lagezeit ablaufen und von der Lagezeit die ihr vom modalen Fluss der Zeit aufgedrückte Richtung haben, von der Modalzeit aber das Entstehen und Vergehen, wodurch sie Prozesse sind, anders als etwa die gerichtete Folge der natürlichen Zahlen von Null an aufwärts, die kein Prozess ist. Man hat versucht, die Modalzeit von der der Lagezeit Richtungen gebenden Rolle durch solche Prozesse zu verdrängen, in erster Linie durch den Kausalprozess, als ob dieser der Zeit (als Lagezeit) ihre Richtung gäbe, obwohl er doch selbst den Fluss der Zeit voraussetzt, um eine Richtung zu erhalten, denn, abgesehen vom Entstehen und Vergehen, das die Vergangenheit wachsen lässt, könnte man kausale Zusammenhänge ebenso von der Wirkung zur Ursache hin ablesen wie umgekehrt. Dennoch werfe ich einen Blick auf die kausale Theorie der lagezeitlichen Anordnung. Sie scheint von Leibniz 116

Kritik der reinen Vernunft A183 B228

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Die Lagezeit

zu stammen, der sich so äußert: »Wenn von den Dingen, die nicht zugleich sind, eines den Grund des anderen in sich trägt, ist jenes für das Frühere, dieses für das Spätere zu halten. Mein früherer Zustand enthält den Grund dafür, dass der spätere existiert. Und da mein früherer Zustand wegen der Verknüpfung aller Dinge auch den früheren Zustand anderer Dinge in sich trägt, trägt mein früherer Zustand auch den Grund des späteren Zustandes anderer Dinge in sich und ist somit auch früher als der Zustand anderer Dinge. Und daher ist, was auch immer existiert, im Verhältnis zu einem anderen Existierenden entweder zugleich oder früher oder später.« 117 Wenn man hier »Ursache« für »Grund« setzt, hat man die kausale Theorie der Zeit, die (nach Variation in Kants Kausaltheorie) im 20. Jahrhundert durch Reichenbach wieder eingeführt worden ist. Die Leibniz’sche Deutung der lagezeitlichen Anordnung als Kausalverhältnis leidet an dem Zirkel, dass die Kausalordnung die Ordnung der Lagezeit nur abbilden kann, wenn sie diese voraussetzt. Die Gesamtursache eines Effektes nämlich, wie immer sie bestimmt werden mag, 118 muss nämlich früher sein, weil sonst keine zeitliche Ordnung zu Stande käme, sondern nur ein zeitlicher Zusammenfall. Die Kausalordnung kann also die Lagezeit nicht ersetzen, sondern höchstens konkretisieren, in der Weise, dass die Beziehungen des Früheren zum Späteren immer genau mit den Beziehungen der Ursache zum Effekt übereinstimmten, bezogen auf Schichten von Ursache und Effekt, die Leibnizens mathematische Schriften hg. v. C. I. Gerhardt, 7. Band, Halle 1863, S. 18 (Initia rerum mathematicarum metaphysica): Si eorum quae non sunt simul unum rationem alterius involvat, illud prius, hoc posterius habetur. Status meuss prior rationem involvit, ut posterius existat. Et cum status mus prior, ob omnium rerum connexionem, etiam statum aliarum rerum priorem involvat, hinc status meus prior etiam rationem involvit status posterioris aliarum rerum atque adeo aliarum rerum statu est prior. Et ideo quidquid existit alteri existenti aut simul est aut prius aut posterius. 118 Einen Vorschlag macht (referiert) Michael Baumgartner in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg/München 2011, S. 1269 (Band 2). 117

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jeweils die ganze Masse genau gleichzeitiger Zeitinhalte umfassen müssten. Das ist an sich schon eine überaus kühne, ja phantastische Vorstellung, aber sie stößt auf eine weitere Schwierigkeit bei der Spezifizierung des zeitlichen Zusammenhanges von Ursache und Effekt, sofern der nicht ein zeitlicher Zusammenfall sein darf. Befriedigend lässt sich dieses Problem nur bei Annahme einer diskreten Lagezeit lösen, in der zu jeder Position, die nicht am Anfang steht, genau eine unmittelbar vorangehende existiert. Wenn die Ursache diesen Platz einnimmt, kommt sie dem Effekt so nah wie möglich ohne Zwischendauer zwischen ihr und diesem. Solange aber die Dauer noch intensiv und nicht zur Zeitstrecke extensiviert ist, kann sie nicht diskret sein, denn nur extensive Größen können in benachbarte Teile zerlegt werden. Wenn aber die Lagezeit nicht diskret, sondern dicht oder stetig ist, erhält die Ursache eine Ausweitung, die sie uneingrenzbar macht. Sie muss sich dann dem Effekt so nahtlos annähern, dass keine Zwischendauer zwischen ihr und ihm bleibt. Andernfalls könnte der Effekt durch ein Hindernis in dieser Zwischendauer vereitelt werden. Um das auszuschließen, muss die Ursache als eine infinitesimale Folge von Ursachen mit dem Effekt als Grenzwert diesem beliebig nahe kommen. Das wieder setzt voraus, dass die Kausalität transitiv ist, die Ursache einer Ursache von x also immer auch Ursache von x. Die Transitivität einmal zugelassen, gibt es kein Halten mehr bis zum Anfang der Welt oder, wenn sie keinen Anfang hat, ins Unendliche; es wäre Willkür, den Regress irgendwo aufzuhalten und ein Zwischenglied als die »eigentliche«, emphatische Ursache auszuzeichnen. Da alle anderen Kausalketten am Effekt insofern mitwirken, als sie so gestaltet sind, dass sie nicht hindernd dazwischenkommen, können auch sie in die Kausalität eines beliebigen Effektes einbezogen werden. Dann ergibt sich als einzige Ursache jedes beliebigen Effektes die Gesamtheit aller Ursachen. Die Angabe einer Ursache wird immer die gleiche und daher nichtssagend sein. Ohnehin gehört Kausalität zu dem unentbehrlichsten, aber 130 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Lagezeit

auch dunkelsten Zubehör menschlichen Denkens. Die Orientierung der Kausalität an der hinreichenden Bedingung, d. h. die Forderung, dass die Ursache für das Eintreten des Effektes hinreichen muss, ist mit einem unentbehrlichen Bedürfnis des rational besonnenen Menschen ebenso wenig wie mit dessen Intuitionen vereinbar. Das Bedürfnis besteht darin, wählen zu können; rationales Verhalten ist Wählen aus Gründen. Wählen besteht darin, angesichts einer Herausforderung in der Überzeugung von mehreren Möglichkeiten eigenen Verhaltens sich wissentlich darauf zu beschränken, von diesen höchstens einige (meist nur eine), nicht alle, zu verwirklichen. Damit wird dem Wählenden Kausalität sowohl des Tuns (einige Möglichkeiten zu verwirklichen) als auch des Unterlassens (einige zu verwerfen) zugeschrieben, obwohl seine Aktivität sicher nicht allein hinreichend ist, sondern unabsehbar vieler ergänzender Nebenbedingungen, bezüglich auf Körperfunktionen (z. B. des Gehirns) und äußere Umstände, bedarf. Ferner liefert die Intuition nur an einer einzigen Stelle völlig evidente, unwidersprechliche Zeugnisse kausaler Wirksamkeit, nämlich in Gestalt der von mir so genannten Halbdinge mit unterbrechbarer Dauer und Zusammenfall der Ursache mit der Einwirkung, wie z. B. stürmischer Wind, gegen den man sich wehren muss, um nicht umgeworfen zu werden, niederreißende Schwere (beim Ausgleiten oder Absturz), wiederkehrender Schmerz. Auch in diesen Fällen sind aber zahlreiche Nebenumstände zum Hinreichen erforderlich. Ein Kausalverständnis, das sowohl dem Anspruch eines rationalen Kausalbegriffs auf Hinreichen der Ursache als auch den Voraussetzungen menschlicher Rationalität und der intuitiven Erfahrung genügt, scheint unerreichbar zu sein. Kausalität ist so irrational wie Rot, eine Farbe, die auch nur hingenommen und vom Denken nicht, wenigstens nicht vollständig, in Merkmale aufgelöst werden kann. Eine andere Frage betrifft die Lagezeit topologisch, ob es nämlich möglich ist, mit einer einzigen Lagezeit – einer linearen Folge früherer und späterer Massen gleichzeitiger Zeitinhalte – 131 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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auszukommen, oder ob mehrere Lagezeiten mit oder auch durch einander zu berücksichtigen sind. Die Frage tritt auf, weil die (gemeinsame) Gegenwart, die für die Gleichzeitigkeit ausschlaggebend ist, 119 ein Existenz-Inductivum und kein Attribut ist. Gattungen können wegen der unerlässlichen Bezugnahme auf (logisches) Folgen von Behauptungen nur für Attribute, nicht auch für Existenz-Inductiva definiert werden. 120 Die Inhalte der Lagezeit sind dank der Entfaltung der Gegenwart einzeln, daher fähig, Elemente von Mengen zu sein; Massen solcher Inhalte können daher im Allgemeinen auch als Mengen aufgefasst werden, und damit als Fälle einer Gattung, deren Umfang die Menge ist. Im Fall der Massen gleichzeitiger Zeitinhalte stößt das aber auf die Schwierigkeit, dass die Gegenwart, die in diesem Fall die definierende Gattung (gemeinsam gegenwärtig zu sein) sein müsste, als Existenz-Inductivum kein Attribut und daher nicht zur Gattung tauglich ist. Daher ist es fraglich, ob sich alle gemeinsam gegenwärtigen Zeitinhalte in eine einzige Größtklasse zusammenfassen lassen, so dass eine einzige Folge aller dieser früheren und späteren Mengen die gesamte Lagezeit ausschöpfen würde. Wenigstens von der Logik des Denkbaren her lohnt es sich, auch die andere Möglichkeit ins Auge zu fassen. Ich beschränke mich daher auf ein Denkmodell, dessen Keim in einer Idee von E. J. Lemmon besteht, die von Arthur N. Prior mitgeteilt wurde. 121 Lemmon stellt sich die Zeit wie einen Globus vor, in dem die Längengrade die verschiedenen Lagezeiten sind, die sich nur am Nordpol und am Südpol treffen. Er meint die beiden Pole als den Anfang bzw. das Ende der Zeit. Es liegt aber nahe, seine Idee zu iterieren und sich die gesamte Lagezeit nach dem Modell einer Serie über einander (mit gemeinsamer gerader Achse) getürmter Globen vorzustellen, auf denen die Zwei Zeitinhalte sind gleichzeitig, wenn es eine Zeit gibt, zu der sie gemeinsam gegenwärtig sind. Massen gleichzeitiger Zeitinhalte können sich also überschneiden. 120 s. o. 1.2, ausführlicher: wie Anmerkung 1, S. 33–44 121 Arthur N. Prior, Papers on Time and Tense, Oxford 1968, S. 107 119

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Die Lagezeit

einzelnen Lagezeiten die ebenmäßig von Globus zu Globus sich fortsetzenden Längengrade sind, die sich an den Polen der Globen treffen und zwischendurch auseinanderlaufen. Nur von Pol zu Pol besteht zwischen verschiedenen Lagezeiten dieses Systems eine gemeinsame Beziehung des Früheren zum Späteren. Zwischen den Polen wären Zeitinhalte, Anordnungen solcher Inhalte und Zeitlängen (einer metrisierten Lagezeit) auf verschiedenen Lagezeiten unvergleichbar. Der Laplace’sche Dämon, gebannt in eine solche spezielle Lagezeit, wäre trotz seiner umfassenden Kenntnis von Anfangszuständen und Naturgesetzen unfähig, vorauszusehen, was an den Berührungsstellen geschehen wird, weil dort andere Lagezeiten mit anders angeordneten Zeitinhalten anderer Art wirksam einmünden würden. Das wäre fatal für planende Übersicht und kausale Durchordnung der Umwelt durch die Menschen. Wohl aber könnten mehrere Beobachter, die die Lagezeiten auf verschiedenen Längegraden von Pol zu Pol durchgemacht hätten, an den Berührungsstellen ihre Geschichten austauschen, ohne Anordnungen von Zeitinhalten oder Zeitlängen vergleichen zu können. Sie hätten aber eine gemeinsame bruchstückhafte Lagezeit durch die Folge früherer und späterer Berührungsstellen und könnten sich davon überzeugen, dass sie gemeinsam die Zwischenzeit durchgemacht haben, wenn auch ohne gemeinsames Maß für deren Länge. Gemeinsam bliebe ihnen also der modale Fluss der Zeit, bar jeden Längemaßes. Die Menschen können froh sein, dass eine solche Spaltung der Lagezeit noch nicht vorgekommen ist. Sie hätten sonst – etwa bei Einwirkung aus Paralleluniversen – die größte Schwierigkeit, sich auf Erden zurechtzufinden.

3.3.2 Metrisierte Lagezeit Schon in der prämetrischen Lagezeit hat die Dauer eine Länge, aber keine extensive, denn die Dauer ist intensiv (2.1.4). Die intensive Länge besteht in mehr oder weniger allmählichem 133 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Schichten der Zeit

Verbrauch unzerrissener Dauer durch das sie zerreißende, aber von ihr gedämpfte Geschehen der primitiven Gegenwart. Allmählich ist der Verbrauch, wenn er sich nicht in plötzlichen Rucken privativer Engung des Leibes abspielt, sondern im gleitenden Auf und Ab von Engung, Weitung und Richtung. Das Tempo einer solchen intensiven Länge (Beschleunigung und Verzögerung des Flusses der Zeit) ist nicht einheitlich und keiner Metrik unterworfen, so dass keine Messung seiner Geschwindigkeit sinnvoll ist. Eine Zeit vergeht mal schneller (Kurzweil) und langsamer (Langeweile). Wohl aber gibt die prämetrische Lagezeit durch die Anordnung einzelner Zeitinhalte, namentlich Ereignisse, Eckpunkte vor, die eine indirekte Messung gestatten, z. B. bei Kürzung der Töne (ganze, halbe, Viertelnoten usw.). Man kann von einem Anfang bis zu einem in der prämetrischen Lagezeit folgenden Ende einen langen Ton ablaufen lassen und feststellen, dass genau zwei oder vier usw. kurze Begleittöne im selben Rahmen Platz haben; diese heißen dann Halbton oder Viertelton. Dadurch wird aber nicht der längere Ton zerlegbar in eine Folge kürzerer Töne, wie es bei extensiven Größen möglich wäre. Sechzehn Sechzehnteltöne nach einander klingen ganz anders als ein Ganzton. Entsprechend verhält sich die Bewegung. Man kann eine langsame Bewegung in denselben Rahmen zwischen zwei Ereignissen der prämetrischen Lagezeit einspannen wie eine nahtlose Folge schneller Bewegungen und jene dadurch als Äquivalent dieser Folge indirekt messen (was allerdings wenig Nutzen hätte), aber man kann die langsame Bewegung nicht aus den schnellen zusammensetzen. Die Dauer bleibt intensiv. Menschliche Personen extensivieren die intensive Dauer, die im Fluss der Zeit mehr oder weniger verbraucht (ins Nichtmehrsein verabschiedet) wird, indem sie diese Dauer mit Hilfe einer als gleichförmig imponierenden Bewegung in den Raum projizieren, nämlich als eine Zeitstrecke 122, die der als Bahn der Be122

Ich gebrauche hier das Wort »Strecke« zur Bezeichnung einer linearen

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wegung durchlaufenen Raumstrecke analog gebaut und wie diese teilbar und skalierbar – an einer feststehenden, bezifferten Reihe (Skala) abmessbar – ist. Der Verbrauch von Dauer im Fluss der Modalzeit der modalen Lagezeit besteht in Zerreißung von Dauer mit Abschied ins Nichtmehrsein (Vorbeisein); im Raum fällt diese Zerreißung und Flüchtigkeit weg (2.1.3). Daher nivelliert die Projektion in den Raum die Dauer, indem sie diese vom Bruch des Abschieds löst, also bruchlos macht. Diese Nivellierung macht aus der intensiven Dauer eine extensive Größe. Vor dieser Extensivierung ist die intensive Dauer chaotisch gestreut, dem zerreißenden Einbruch des Neuen bald mehr, bald weniger unterworfen, bald in die Enge gespannter Erwartung gepresst, bald bis zum Genuss verweilender Gegenwart 65 von solchem Druck entlastet. Die Verräumlichung zur extensiven Größe macht die Dauer gleichmäßig, übersichtlich und für menschliche Planungen, die im Vertrauen auf die Gleichmäßigkeit der Grundform des Geschehens Vergangenes in die Zukunft extrapolieren und dabei den Zwecken des Planens gemäß umformen, einheitlich beherrschbar. Es handelt sich um einen an der Wurzel unwillkürlichen, willkürlich ausgestaltbaren Kunstgriff, dessen die Menschen bedürfen, wenn sie der tierischen Gefangenschaft in Situationen entkommen und darauf angewiesen sind, durch Kombination der aus Situationen explizierten Bedeutungen zu Konstellationen die Situationen in den Griff zu nehmen und planend zu überholen. Dafür benötigen sie die vom Bruch des Abschieds befreite und zur gleichmäßigen Anwesenheit des Räumlichen geglättete Zeit als Feld der Planung, aber immer mit einem Seitenblick aus diesem künstlichen Spielplatz des Konstruierens auf die vollständige modale Lagezeit mit ihrem Fluss, dem die Planung angepasst werden muss, wenn sie dem Leben dienen soll. So verfährt der Physiker, der in seiner Theorie nur die künstlich verräumlichte Dauer, die Zeit als exForm, auch wenn sie zyklisch ist wie bei den meisten Uhren. Von »Zeitkurve« zu sprechen, wäre befremdlich, während »Zeitstrecke« geläufig ist.

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tensive Länge, kennt, in der Praxis seines wissenschaftlichen Tuns aber zum Experiment greift, um die Haltbarkeit der Theorie zu prüfen, und dadurch in die Modalzeit (der modalen Lagezeit) zurückkehrt (3.3.2). Die Extensivierung durch Projektion in den Raum mit Hilfe einer als gleichförmig imponierenden Bewegung geschieht bei der intensiven Dauer auf gleiche Weise wie bei der intensiven Wärme. Im Fall der Wärme handelt es sich um das Steigen und Fallen der Quecksilbersäule ins Thermometer, eine für gleichförmig (ohne Beschleunigung und Verzögerung) gehaltene Bewegung, von der man annimmt, dass sie der Erwärmung bzw. Entwärmung entspricht. Die Skalierung erfolgt zwischen Grenzpunkten (z. B. Gefrieren und Verdampfen des Wassers) in einem gleichmäßig eingeteilten und danach über diese Ränder hinaus erweiterten Zwischenbereich. An die Stelle des Thermometers tritt bei der Extensivierung und Skalierung der Zeit die Uhr. Sie kann natürlich sein (Sonnenlauf am Tage, Drehung des Fixsternhimmels bei Nacht) oder künstlich durch mechanische (Räder-, Pendeluhren) oder theoretische (Quarz-, Atomuhren) Konstruktion. Das Vorbild der Natur hat die Menschen belehrt, wie vorteilhaft es ist, als Bahn der für gleichförmig gehaltenen Bewegung eine Kurve mit periodischer Wiederholung (kreisförmig oder hin und her schwingend) zu wählen. Zwar kann man die Zeit auch durch Uhren mit geradliniger Bewegung, wie Sand- und Wasseruhren, messen, aber die periodische Bewegung hat den Vorteil, mit der Längengleichheit der durchlaufenen Einheitsstrecken vom und bis zum Ausgangspunkt, gleichförmige Bewegung vorausgesetzt, die Gleichheit der Dauern der Durchlaufungen zu sichern, während die Längengleichheit der in gerader Bewegung durchlaufenen Einheitsstrecken mit zusätzlichem Längenvergleich und Messung abgesichert werden muss. Zugleich liefert die periodische Bewegung eine natürliche Skalierung, während diese bei der Wärmemessung wie bei der Dauermessung mit Wasser- oder Sanduhr künstlich festgesetzt werden muss. 136 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Lagezeit

Ob die zur Projektion der Dauer in den Raum benützte Bewegung wirklich gleichförmig (weder beschleunigt noch verzögert) ist, lässt sich nur schätzen, nicht messen, da Messung der Dauer die Extensivierung mit Hilfe solcher Bewegung schon voraussetzt. Man muss sich, wie im Fall der Quecksilbersäule, mit dem Eindruck der imponierenden Gleichförmigkeit begnügen, der sich allenfalls zusätzliches Vertrauen dadurch erwerben kann, dass man die Intervalle beim Messen in immer kürzere und reichlich sich überschneidende Subintervalle teilt; wenn jedes von diesen den überzeugenden Eindruck gleichförmiger Bewegung macht, wird die Wahrscheinlichkeit von Unregelmäßigkeiten mit größerer Amplitude herabgesetzt. Wichtiger für die Wahl des Kandidaten für gleichförmige Bewegung ist die Zweckmäßigkeit für ein übersichtlich durchgestaltetes, zur Naturbeherrschung geeignetes Weltbild; davon wird gleich die Rede sein. Das Vertrauen auf einen imponierenden, aber nicht exakt nachprüfbaren Eindruck ist bei der Extensivierung intensiver Größen, sei es Wärme oder Dauer, noch an tieferer Stelle als im Fall der Gleichförmigkeit einer Bewegung erforderlich, nämlich als Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Raumes, in den die intensive Größe durch die Bewegung projiziert wird. Dieser Raum muss ein Ortsraum sein, gebildet aus Orten, die sich durch Lage und Abstand an ihnen befindlicher Objekte gegenseitig bestimmen und Gelegenheit geben, zu sagen, wo etwas ist. Ich habe unter 2.2 kurz gezeigt, dass sich ein solcher Ortsraum zirkelfrei nur einführen lässt, wenn aus tiefer liegenden, flächenlosen Räumen ein Eindruck von Ruhe zur Verfügung steht, der zur Etablierung des Ortsraumes benützt werden kann. Diese Ruhe ist so wenig wie die Gleichförmigkeit einer Bewegung exakt nachprüfbar, kann aber wie diese durch geeignete Korrekturen nach den Bedürfnissen der Menschen zurechtgemacht werden. Die angenommene Gleichförmigkeit der Uhrbewegung, die um so mehr räumliche Länge überstreicht, je mehr Dauer sie verbraucht, gestattet eine Egalisierung der Zeit: eine Einteilung 137 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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der Dauer, die zwischen dem Früheren und Späteren verstreicht, durch gleich lange Abstände. Dadurch wird beliebiger Zeitvergleich möglich. Dazu bedarf es der simultanen Darbietung im Raum, die es erlaubt, messbare Vorgänge und Zustände neben einander festzuhalten, während sie, zeitlich nach einander, schon vorbei wären, ehe der Vergleich beginnen kann. Diese Errungenschaft hängt aber von dem Zufall ab, dass als gleichförmig imponierende Bewegungen vorkommen und z. B. am Himmel beobachtet werden. Auf diesen Zufall bauen die Menschen, was sie gewöhnlich »die Zeit« nennen, eine extensivierte, egalisierte Überformung der prämetrischen modalen Lagezeit, deren Stand man an Uhren ablesen kann. Ob es eine solche Zeit »gibt«, ist eine müßige Frage. Sie ist eine Erfindung der Lebenstechnik, die die Menschen brauchen, um überleben zu können, da sie nach dem Ausbruch aus dem Gefängnis der Situationen nicht mehr wie die Tiere instinktiv leben können, d. h. geleitet von den Programmen in der binnendiffusen Bedeutsamkeit aktueller und zuständlicher Situationen. Die messbare Zeit gibt es so sehr und so wenig wie die Luft oder den elektrischen Strom, d. h. die Auffüllung von Halbdingen zu Volldingen im Interesse kausaler Durchordnung und Übersichtlichkeit der Welt. So legen sich die Menschen zurecht, was ihnen unwillkürlich widerfährt, um im Leben durchzukommen. Unwillkürlich stoßen ihnen die primitive Gegenwart und der Fluss der Zeit mit Entstehen und Vergehen zu, in gewissem Sinn auch die prämetrische Lagezeit als Geschenk der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt, die sie nicht gemacht, aber durch Erzeugung der Einzelheit in Kraft ihrer satzförmigen Rede angestoßen haben. Die Metrisierung der Lagezeit ist zwar von ihnen gemacht, aber nicht durch willkürlichen Entschluss, sondern in erst spontaner, danach planmäßig ausgebauter Reaktion auf unabweisbaren Bedarf. Ich unterscheide zwei Hauptbedürfnisse, die durch die Extensivierung und Egalisierung der Dauer befriedigt werden: Zeitmessung – etwa in Vorbereitung auf erwartete Termine – und Zeiteinteilung. Im ersten Fall wird eine gleichförmige Teilung 138 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Lagezeit

gesucht, und die Modalzeit ist in Einklang mit der Lagezeit: Während der Messung, von Messung zu Messung spürt man den Fluss der Zeit, der die Vergangenheit wachsen lässt und durch Schrumpfen der Zukunft das Erwartete näher bringt. Bei der Zeiteinteilung kommt es dagegen darauf an, variable Vorhaben in der verfügbaren Zeit unterzubringen und dafür eine Vielfalt ungleicher Einteilungsmöglichkeiten der Dauer möglichst zweckmäßig auszunützen. Dieser Gebrauch der Extensivierung steht in Konflikt mit der Modalzeit, weil der Fluss der Zeit, das Wachsen der Vergangenheit und Schrumpfen der Zukunft vor der wechselnden Gegenwart, die Zeit knapp macht. Man muss mit ihr geschickt und haushälterisch umgehen, um dem Fluss der Zeit genügend unzerrissene Dauer abzugewinnen. Die Verräumlichung der Zeit zur extensiven Größe ist hiernach ein Hilfsmittel zur Ermöglichung menschlichen Überlebenkönnens durch planmäßiges Handeln. Daher ist auch die Aufgabe, eine gewisse Uhrbewegung als gleichförmig auszuwählen, lediglich von pragmatisch-technischer Art; es geht darum, eine Wahl zu treffen, die für menschliches Planenkönnen möglichst zweckmäßig ist, indem sie sich den beobachteten Regelmäßigkeiten des Weltlaufs (den sogenannten Naturgesetzen) möglichst reibungslos anpasst. Die Entscheidung, welche Bewegungen und Bewegungsabschnitte als frei von Beschleunigung und Verzögerung (als gleichförmig) gelten sollen, braucht sich nicht an daran ablesbare Tatsachen zu halten, sondern bedarf nur der Brauchbarkeit für bequeme Integration in ein System von Regeln für planbares Sichzurechtfinden. Daher ist es unnütz, einen nicht vom menschlichen Zweck her, sondern von der Natur der Sache begründeten Standard der Zeitmessung zu suchen.123 Statt dessen ist es erlaubt, auf Grund neuer NaturIch kenne einen solchen Versuch nur von Peter Janich (Protophysik der Zeit, Frankfurt a. M. 1980); er missglückt, weil Janich nur die relative Gleichförmigkeit verschiedener Bewegungen konstruiert, nicht die absolute Gleichförmigkeit einer Bewegung in allen ihren Teilen

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gesetze (neu beobachteter Regelmäßigkeiten) neue Standards für Gleichförmigkeit zu setzen. Von dieser Art war die Entdeckung der Invarianz der Lichtgeschwindigkeit gegen Translationen in Inertialsystemen durch den Michelson-Morley-Versuch. Darauf reagierte in besonders geschickter Weise die spezielle Relativitätstheorie mit einem Vorschlag, der zusätzlich eine sehr elegante Vereinfachung physikalischer Gesetze erlaubte und sich in Prognosen gegen andere Konzepte bewährte. Später kam die Berücksichtigung der Gravitation in der noch kühneren allgemeinen Relativitätstheorie hinzu und leistete abermals gute Dienste bei der Einordnung von Beobachtungen in naturgesetzliche Zusammenhänge. Die Phänomenologie befindet sich im besten Einvernehmen mit der Relativitätstheorie, da es gar keine Reibungsflächen gibt. Die Relativierung der Zeit in der Relativitätstheorie betrifft nur die Metrik der extensivierten und egalisierten Lagezeit. Von deren Hintergründen, für die die Phänomenologie sich interessiert, die intensive Dauer, die Modalzeit, den Fluss der Zeit, das Geschehen der primitiven Gegenwart, nimmt die Physik und mit ihr die Relativitätstheorie überhaupt keine Notiz. Versuche, von diesem Standpunkt aus jene Hintergründe abzutun, wie von Weyl 87, Kiefer 88 und vielen anderen, kranken an der Verkennung der Voraussetzungen des eigenen Standpunktes, indem sie z. B. Einzelheit, absolute Identität, die aus der primitiven Gegenwart entfaltete Welt ahnungslos als selbstverständlich unterstellen. Solche Übergriffe brauchen den Phänomenologen nicht zu beunruhigen; ebenso wenig hat er Anlass, ein zweckmäßigeres Arrangement von Naturgesetzen durch die Relativitätstheorie zu beanstanden. Eine mögliche Reibungsstelle, die sich leicht ausräumen lässt, betrifft die Gleichzeitigkeit. Der phänomenologische Begriff von Gleichzeitigkeit – gleichzeitig sind Zeitinhalte, die gemeinsam gegenwärtig sind – ist für die Relativitätstheorie unbrauchbar, da sie eine Gleichzeitigkeit benötigt, die für Uhren auf verschiedenen Weltlinien nach Entfernung und Bewegungszustand variiert. Dann lassen sich nicht mehr alle gleichzeitigen Ereignisse 140 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Lagezeit

in Größtklassen, die durch eine symmetrische und transitive Beziehung gegen einander elementefremd sind, 124 vereinigen. Die Möglichkeit, dass die Bildung von Größtklassen, die alle modalzeitlich gleichzeitigen Ereignisse umfassen, scheitert, habe ich selbst unter 3.3.1 herausgearbeitet. (Sie bestünde ohnehin höchstens, wenn lediglich Zeitinhalte mit genau gleicher extensivierter Dauer berücksichtigt werden.) Relative Größtklassen, die so viel wie möglich gleichzeitige Zeitinhalte mit gleich langer Dauer (eventuell der Dauer Null, Zeitpunkte) umfassen, werden sich aber immer bilden lassen. Solche Größtklassen sind Daten, die durch ein beliebiges Element aus ihnen bestimmt werden, als das Datum, an dem dieses Element stattfindet. Von einem solchen Ereignis (z. B. Christi Geburt, verlegt an die Grenze zwischen 1 v. Chr. und 1 n. Chr.) kann man ausgehen und dann eine rein lagezeitliche Definition der Gleichzeitigkeit so formulieren: Ein Datum ist eine Größtklasse von als früher und später angeordneten, gleich lang dauernden Inhalten einer metrisierten Lagezeit mit demselben zeitlichen Abstand von dem ausgezeichneten Ereignis (eventuell dem Abstand Null). Die Elemente einer solchen Größtklasse heißen gleichzeitig (mit einander). Dieser Begriff von Gleichzeitigkeit enthält nichts mehr von Gegenwart, von der die Physik nichts weiß, jedenfalls nicht als Theorie, wenn auch in der Praxis des Physikers. In den spezifischen Interessenbereich der Phänomenologie greift sie damit nicht ein, schon deshalb nicht, weil sie sich nur mit Seiendem beschäftigt, während die Phänomenologie, sobald es an Entstehen und Vergehen kommt, mit Nichtseiendem zu tun hat und Anlass sieht, den Kopf über die Weltfremdheit der Menschen zu schütteln, die nicht merken, wie ungeheuer groß der Anteil des Nichtseienden an der Welt ist.

124

Vgl. wie Anmerkung 1, S. 149 f.

141 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Schichten der Zeit

3.3.3 Reine Lagezeit Wenn aus einer prämetrischen oder metrisierten Lagezeit jeder Einfluss der Modalzeit entfernt wird, ergibt sich eine reine Lagezeit, das, was McTaggart die »C-Reihe« nannte. 125 Es handelt sich dann um ein ungerichtetes Verhältnis, in dem keine Prozesse (Vorgänge, Abläufe) möglich sind, wohl aber noch monotone Funktionen, bei denen einem größeren Wert der unabhängigen Variablen immer ein größerer oder gleichbleibender, nie ein kleinerer Wert der abhängigen Variablen entspricht. Als Beispiel nenne ich die Potenzfunktion. Mit dem Exponenten wächst die Potenz, aber deswegen ist nicht etwa die Richtung von der Wurzel zur Potenz vor der Richtung von der Potenz zur Wurzel ausgezeichnet. Den Physikern fällt es ungemein schwer, den Unterschied zwischen einer solchen monotonen Funktion und einem Prozess einzusehen. Sie pochen auf irreversible Prozesse wie das Wachsen der Entropie, die ihrer Meinung nach dafür verantwortlich sind, dass die Zeit eine Richtung (einen richtungweisenden »Pfeil«) hat. Dabei übersehen sie, dass ihr theoretischer Apparat, in dem für die Modalzeit (speziell die ausgezeichnete zeitliche Gegenwart) kein Platz ist, nicht ausreicht, um mehr als ein nach zwei Richtungen (monotonen Steigens oder Fallens einer Funktion) spaltbares Verhältnis zu konstruieren. Was der theoretische Physiker dann vor sich hat, ist in der Tat das statische Universum ohne Prozesse nach Hermann Weyl 87, sogar dann, wenn er nicht Relativitätstheorie, sondern statistische Thermodynamik betreibt. Was er dann vor sich hat, ist eine Anordnung am Leitfaden der monotonen Funktion, die gleich gut nach zwei Seiten, wie ein vorwärts oder rückwärts laufender Film, abzulesen ist. Dass der Physiker dann einer von beiden Richtungen den Vorzug gibt, nämlich der des Vorwärtslaufs, kommt nur davon, dass er aus seiner Theorie in die Praxis des Lebens fällt, d. h. in die Modalzeit, in der er merkt, dass in dieser 125

wie Anmerkung 96, S. 72

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Die Lagezeit

Richtung – mit der Zunahme der Unordnung oder, wie Eddington sagt, des Zufallselementes 126 – die Vergangenheit wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt. Die Abstraktion einer reinen Lagezeit kann ein überaus nützliches Hilfsmittel zur Aufstellung physikalischer Theorien sein, die sich durch aus ihnen abgeleitete Prognosen im Experiment bewähren, aber als Versuch eines Einblicks in die »Natur der Sache« macht sie sich selbst unmöglich, wenigstens als physikalisch gestützte Theorie. Das spaltbare Verhältnis, das als mehrseitig gerichtete Anordnung ablesbar ist, ist an sich in sich geschlossen und gibt keinen Anknüpfungspunkt, keine Anregung, für die Spaltung und die Wahl einer Richtung. Ich habe gezeigt, dass erst die Modalzeit eine Gelegenheit zum spaltenden Eindringen in das Verhältnis liefert (3.3.1). Erst dadurch entstehen aus dem Verhältnis gerichtete Beziehungen von etwas zu etwas. Solcher bedarf die Physik, z. B. der Signalübertragung in der Relativitätstheorie. Also sägt sie den Ast, auf dem sie sitzt, selbst ab, wenn sie der Modalzeit die objektive Realität bestreitet. Ein strenger Beweis dafür, dass kein irreversibler Prozess der Zeit ihre Richtung gibt, ist der folgende: Unter 3.3.2 habe ich in Anknüpfung an eine Idee von E. J. Lemmon auf die Möglichkeit einer nach Art von Längengraden in verschiedene Lagezeiten, die periodisch sich trennen und wieder zusammenlaufen, gespaltenen Zeit aufmerksam gemacht. 121 Für jeden irreversiblen Prozess im Sinne der Physik ist es denkbar, dass er in der Gegenrichtung abläuft. Jeder solche Prozess könnte bei gespaltener Zeit der angegebenen Art auf einem Längengrad so, auf einem anderen umgekehrt ablaufen. Dennoch könnten sich an den Berührungsstellen zusammentreffende Beobachter davon überzeugen, dass sie von Stelle zu Stelle dieselbe Zwischenzeit, nämlich modale Lagezeit, durchlaufen haben, und zwar in derselben, vom Fluss der Zeit vorgegebenen Richtung. Diese Richtung ist

126

ebd. S. 139

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Die Schichten der Zeit

also invariant gegen Umkehr der Richtung eines irreversiblen Prozesses. Im Anschluss an Minkowski ist es populär geworden, die Zeit als vierte Dimension der Raumzeit aufzufassen. Bei den drei räumlichen Dimensionen weiß man genau, wie man sie finden soll: Man muss abwechselnd nach vorn, zur Seite und nach oben oder unten blicken. Wie aber findet man die Zeitdimension, die Lagezeit als Leitfaden für eine Anordnung früherer und späterer Ereignisse? Da hilft kein Blick in irgend eine Richtung. Man muss sich vielmehr der Modalzeit überlassen, dem Wachsen der Vergangenheit, Schrumpfen der Zukunft, Wechseln der Gegenwart, dem Entstehen und Vergehen. Sonst bleibt man ratlos.

3.4 Die modale Lagezeit Aus der reinen Modalzeit entsteht die modale Lagezeit im Zuge der Entfaltung der Gegenwart zur Welt als dem Feld möglicher Vereinzelung, indem der Fluss der Zeit, das Entstehen und Vergehen, von der zeitlichen Gegenwart aus mit einzelnen Stellen besetzt wird, nachdem es gelungen ist, das unspaltbare Verhältnis zwischen dem Andrang des Neuen (Appräsenz) und der exponierten Gegenwart in ein durch Beziehungen spaltbares zu verwandeln und so die Zukunft für Erwartungen zu öffnen. Die Zeitstellen sind Daten, d. h. vergangene und zukünftige Gegenwarten (Massen von Zeitinhalten, die mit einander einmal gegenwärtig waren oder sein werden), zwischen denen die zeitliche Gegenwart als ein weiteres Datum, eine relative Gegenwart unter anderen, nivelliert wird und zur Sonderstellung nur die tautologische Auszeichnung als die gegenwärtige Gegenwart erhält. Ein Datum ist also eine möglichst große (vielleicht aber nicht vollständige) Klasse mit einander gegenwärtiger und dadurch gleichzeitiger Zeitinhalte, von denen einer, der ganz in dem Datum enthalten ist, zu dessen Kennzeichnung als das Datum des betreffenden Zeitinhalts ausgewählt wird. Im Übrigen 144 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die modale Lagezeit

können die Daten sich überschneiden, so dass ein Zeitinhalt mehreren Daten angehört. Ein weiterer, rein lagezeitlicher Begriff des Datums, der aber für die modale Lagezeit nicht in Betracht kommt, wurde unter 3.3.2 angegeben. Die Daten werden in der modalen Lagezeit durch eine lineare Anordnung des Früheren und Späteren aufgereiht. Was früher und was später ist, richtet sich nach dem modalen Fluss der Zeit (des Entstehens und Vergehens), dass die Vergangenheit wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt. Ohne diese modale Maßgabe wäre es nicht möglich, einen Leitfaden zu finden, der auf das Verhältnis zwischen dem Früheren und dem Späteren passt. Eine bloße Nachbarschaft und deren Fortsetzung genügt nicht. Es könnten außer zeitlicher Nachbarschaft Nachbarschaften aller Art in Betracht kommen, z. B. chemische. Der Sinn der Rede vom Früheren und Späteren im spezifisch zeitlichen Sinn hängt ganz vom Sinn der Reden vom Vergangenen (Vergangenheitlichen), Gegenwärtigen und Zukünftigen ab. Entsprechend habe ich unter 3.3.3 die Definitionen gefasst. Der wichtigste Ertrag der Datierung in der modalen Lagezeit besteht darin, dass es möglich wird, zu sagen, wann etwas ist, entsprechend der Auskunft, wo etwas ist, die dem Ortsraum zu entnehmen ist. Dazu ist aber eine metrisierte Lagezeit erforderlich. Vor der Metrisierung, in der reinen Modalzeit und der prämetrischen modalen Lagezeit, muss sich die zeitliche Orientierung an Protentionen und Retentionen in aktuellen und zuständlichen Situationen halten. Diese Orientierungsweise verhält sich zu der in der metrisierten modalen Lagezeit möglichen, die darüber Auskunft gibt, wann etwas ist, entsprechend wie die richtungsräumliche, nicht auf Orte, wo etwas ist, angewiesene Orientierung, von der unter 2.2 kurz die Rede war, 127 zu der Orientierung im Ortsraum. Es gibt aber einen Unterschied. etwas ausführlicher in: Atmosphärische Räume, in: Atmosphären II. hg. v. R. Goetz und S. Graupner, München 2012, S. 17–29, hier 26–28, und in früheren Publikationen von mir

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Die Schichten der Zeit

Die Wann-Frage ist anspruchsvoller als die Wo-Frage. Im Ortsraum sind alle relativen Orte, wo etwas ist, gleichberechtigt; grundlegend für ihre Identifizierbarkeit sind die Lagen und Abstände zu allen während der Frist, in der der betreffende Ortsraum festgehalten wird, ruhenden Objekten. 128 Der Ort, wo der Betrachter sich gerade befindet, ist zwar in tieferen Schichten der Räumlichkeit als absoluter Ort ausgezeichnet (2.1.2), im Ortsraum aber nur durch das persönliche Interesse des Betrachters, sich zu an anderen Orten befindlichen Gegenständen in Beziehung zu setzen. Die Wo-Frage sucht also nur nach einer Beziehung, nach Lage und Abstand zweier Objekte, die sich an verschiedenen Orten befinden. Die Wann-Frage hat darüber hinaus auch einen absoluten Sinn. Man fragt nicht nur, wie viel früher oder später ein Objekt als ein anderes ist, sondern geradezu: Wann war das? Wann wird das sein? Die Antwort ist etwa: gestern, vor 100 Jahren, morgen. Man bedient sich dann einer Einteilung, für die es im Ortsraum kein Analogon gibt, nämlich der modalzeitlichen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Natürlich ist auch darin eine lagezeitliche Beziehung versteckt, nämlich auf die gegenwärtige Gegenwart als ein Datum, das zu anderen Daten (vergangenen oder zukünftigen Gegenwarten) in Beziehung gesetzt wird. Aber die Auswahl des Referens ist bei diesem Jetzt nicht so wie beim räumlichen Hier der Wo-Frage bloß von dem subjektiven Interesse diktiert, sich persönlich in Meine Definition des relativen Ortes lautet so: »Wenn F eine Frist ist und A ein Gegenstand aus der Menge G der Gegenstände, die sich während einer Teilfrist von F (sie kann auch F sein) in Lage- und Abstandsverhältnissen zu während der gesamten Frist F ruhenden Objekten befinden, dann ist der relative Ort von A während einer Teilfrist f von F die Menge aller geordneten Paare, bestehend aus einem g e G als erstem Glied und irgend einer Teilfrist von F als zweitem Glied, sofern diese g während der betreffenden Teilfrist zu allen während der ganzen Frist F ruhenden Objekten gleiche Lage- und Abstandsbeziehungen haben, wie A während f. (Die Frist F ist die Zeit, für die der betreffende Ortsraum definiert ist, im Idealfall die ganze Weltzeit)« (Hermann Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 61 Anmerkung 35) 128

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Die modale Lagezeit

der Zeit, wie dort im Raum, zurechtzufinden, sondern hat eine ontologische Grundlage in dem Vorsprung, den die Gegenwart als Masse des Seienden, das nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr ist, vor dem Nichtseienden besitzt, das nicht mehr oder noch nicht ist. Auf dieser Sonderstellung der Gegenwart beruht die Einteilung, die viele Objekte absolut, noch ohne ihre Anordnung in Erwägung zu ziehen, in diese oder jene Masse des Nichtseienden (das war oder sein wird) verweist, im Gegensatz zum seienden Gegenwärtigen. Nach dieser Grobeinteilung verfeinert sich die Antwort auf die Wann-Frage durch lagezeitliche Unterscheidungen, z. B. zwischen »gestern« und »vor hundert Jahren«. Ganz verwerflich ist aber der Versuch, die Schichtung der Zeit über den Haufen zu werfen, indem man die modalzeitliche Einteilung durch die lagezeitliche Datierung ersetzt, Gegenwärtigkeit durch Gegenwärtigkeit zur Zeit X, Vergangenheitlichkeit durch Vergangenheitlichkeit zur Zeit Y, Zukünftigkeit durch Zukünftigkeit zur Zeit Z. 129 Brutus ist gegenwärtig zur Zeit der Ermordung Caesars, aber er ist nicht gegenwärtig. Etwas, das gegenwärtig zu Zeit t ist, ist gegenwärtig nur unter der Voraussetzung, dass die Zeit t gegenwärtig ist. Die auf ein Datum relativierten Zeitmodi geben keinen Aufschluss über die Zeitmodi, nur über das Datum. Die modale Lagezeit kann nicht leer sein: die reine Modalzeit nicht, weil Entstehen (Übergang von Nichtsein in Sein) und Vergehen (Übergang von Sein in Nichtsein) immer etwas, das entsteht und vergeht, voraussetzen; die prämetrische Lagezeit nicht, weil ihre Daten Massen von etwas, das ist, war oder sein wird, sind; die Dauer nicht, weil eine intensive Größe nicht leer sein kann, die Dauer so wenig wie die Wärme; die metrisierte Lagezeit nicht, weil sie zur prämetrischen nur die Extensivierung der intensiven Dauer durch Verräumlichung mittels gleichförmiger Bewegung hinzubringt. Die modale Lagezeit ist nicht ein Rahmen, der alles umfasst, was sich in ihr abspielt und 129

so Sorabji, wie Anmerkung 110, S. 68

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Die Schichten der Zeit

auch ohne solchen Inhalt auskommt, sondern sie ist ihr eigener Inhalt, aber nicht ein Inhalt, der sich in ihr abspielt, sondern der Inhalt, der sie ausmacht: zuerst das Werden und Vergehen, das Zerreißen von Dauer durch den Gegenwart exponierenden Andrang des Neuen, der das Dauernde ins Nichtmehrsein abschiebt (verabschiedet), aber unzerrissene Dauer übrig lässt, indem das Neue Seiendes nachschiebt, so dass sich Vergehen und Entstehen die Waage halten; sodann die von der Entfaltung der primitiven Gegenwart in die Welt gebrachte Lagezeit mit einzelnen Daten und gegen den Andrang des Neuen geöffneter Zukunft; schließlich die Einführung messbarer Zeitabstände durch Extensivierung der Dauer. Alles, was diese Ereignisse und Zustände durchmacht, ist in der modalen Lagezeit, und diese ist nichts als das, was sich auf solche Weise abspielt. Ewige Wiederkehr wird aber nicht, wie Newton-Smith meint, 130 dadurch ausgeschlossen, dass es keinen Zeitrahmen über allen Zeitinhalten gibt, denn Daten sind relative Gegenwarten (vergangene, gegenwärtige, zukünftige), und Gegenwärtigkeit, Vergangenheitlichkeit und Zukünftigkeit sind keine Attribute, daher nicht wesentlich für die absolute Identität von etwas (1.1); also braucht der Wechsel zwischen ihnen, die Versetzung von etwas aus der Gegenwart in die Zukunft, der Sache nichts anzutun. Zyklisch kann die modale Lagezeit aber nicht sein, weil der Fluss der Zeit eine kreisförmige Lagezeit umkreisen müsste und nicht mit ihr in eine einzige Zeit zusammenpassen würde: Die zweite Passage würde sich als zweite von der ersten unterscheiden und ein Weiterzählen in der Lagezeit erfordern.131 DisW. H. Newton-Smith, The Structure of Time, London 1980, S. 74 Robin Le Poidevin: Wie die Schildkröte Achilles besiegte oder die Rätsel von Raum und Zeit, aus dem Englischen (2003) von Michael Schmidt, Leipzig 2004, S. 126: »Eigentlich führen wir zwei Darstellungen der Zeit in unser Bild ein: den Kreis an sich und die Bewegung der Gegenwart um ihn herum. Aber wir können anscheinend nicht beides haben. Somit gibt es offensichtlich eine Spannung zwischen der Vorstellung von zyklischer Zeit einerseits und dem Vergehen der Zeit andererseits.«

130 131

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Offene und geschlossene Zukunft

kret kann die modale Lagezeit erst nach Extensivierung der Dauer sein, also als metrisierte, denn eine intensive Größe kann, wie gesagt, nicht diskret sein. Die reine Lagezeit dagegen kann diskret und zyklisch sein. Das hat aber nicht viel zu bedeuten, da es sich bei ihr um ein Kunstprodukt der Abstraktion handelt, das, wenn man es von der Anbindung an die modale Lagezeit gänzlich löst, schlecht definiert und gar nicht mehr aufzufinden ist; ich habe ja schon darauf hingewiesen, dass es keinen Leitfaden für die Anordnung des Früheren und Späteren gibt, wenn man den Fluss der Zeit außer Acht lässt.

3.5 Offene und geschlossene Zukunft Die Zukunft ist nach gemeinem Verständnis die Masse alles dessen, was noch nicht ist, aber einmal sein wird; das Wort »noch« hat den Sinn unvermeidlichen Bevorstehens des Entstehens, des Übergangs aus Nichtsein in Sein. Wenn das die Zukunft ist, steht für alles, was entsteht, d. h. gegenwärtige Wirklichkeit erhält, im Voraus fest, was es sein wird; alles Gegenwärtige ist dann aus der Zukunft determiniert. Es hilft auch nichts, zu hoffen, im Voraus auf das Künftige einzuwirken und so die Determinierungsrichtung umzukehren; denn solches Einwirken beträfe die Zukunft nur durch Modifikation des gegenwärtigen Zustandes, aber der wäre nichts als das, was eben noch nicht war, also aus der Zukunft determiniert ist. Wenn aber alles Gegenwärtige, d. h. das, was nicht mehr noch nicht (und noch nicht nicht mehr) ist, im Voraus festgelegt ist, lohnt es sich nicht mehr, sich darum Mühe zu geben, um etwas daran oder am Zukünftigen zu ändern; wie eben gesagt, könnte eine Änderung des Zukünftigen nur über eine Änderung am Gegenwärtigen gelingen. Damit ist das Argument der faulen Vernunft ausgespielt: »Es lohnt nicht die Mühe, sich Mühe zu geben.« 132 132

»Il ne vaut pas la peine de se donner de la peine.« (H. F. Amiel, Journal

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Die Schichten der Zeit

Die einzige Aussicht, diesem Raisonnement zu entgehen, besteht darin, das gemeine Verständnis von Zukunft als zu eng zu erweisen, so dass nicht nur das, was noch nicht ist, zukünftig wäre, sondern zudem ein Überschuss an Möglichkeiten: Was noch möglich ist, sollte mehr sein als das, was noch nicht ist. Wenn wir jenes als die offene, dieses als die geschlossene Zukunft bezeichnen, lautet das Postulat: Die offene Zukunft geht über die in ihr enthaltene geschlossene Zukunft hinaus. Dass dieses Postulat falsch und die Zukunft nur die geschlossene ist, soll das aus dem Altertum von Aristoteles 133 und Cicero 134 überlieferte Argument des logischen Fatalismus erweisen, das so gebaut ist: Die Existenz irgend eines zukünftigen Zeitinhaltes (etwa Ereignisses, Zustandes usw.) kann im Voraus, gegenwärtig oder in der Vergangenheit, sowohl behauptet als auch bestritten werden, sei es von derselben Person oder von mehreren, die mit einander diskutieren. Dann ist nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten mindestens eine der beiden kontradiktorischen Behauptungen wahr. Aus der Wahrheit einer Behauptung folgt aber die Tatsächlichkeit des behaupteten Sachverhalts. Mit dem wahren Spruch ist also jetzt schon die Tatsächlichkeit des behaupteten Zeitinhalts besiegelt, auch wenn noch niemand wissen kann, welcher von beiden Sprüchen wahr ist. Daraus kann man wegen der Beliebigkeit des ausgewählten Falls verallgemeinernd schließen, dass für gar keinen Zeitinhalt in der Zukunft offen ist, ob er entstehen (gegenwärtig werden) wird oder nicht. Aristoteles sucht sich dem Zwang des Argumentes mit dem Vorschlag zu entwinden, die Disjunktion der beiden entgegengesetzten Sprüche für notwendig wahr zu halten, aber keinen von ihnen. Das ist unhaltbar, weil die Wahrheit einer (starken oder schwachen) Disjunktion voraussetzt, dass wenigstens eines intime ed. par L. Bopp, Band III, Genf 1958, S. 80, Aufzeichnung vom 24. 04. 1850) 133 De interpretatione Kapitel 9, 18a28–19b4 134 De fato Kapitel 21, 27–29, 37

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Offene und geschlossene Zukunft

der disjungierten Glieder wahr ist. Brauchbar wäre dagegen die Konjunktion zweier Möglichkeiten: M(a) ^ M(:a), d. h., es ist möglich, dass a, und es ist möglich, dass nicht a. Statt mich sofort mit dem Argument des logischen Fatalismus 135 auseinanderzusetzen, verlege ich es in den Anhang eines direkten Beweises dafür, dass die offene Zukunft in der Tat über die geschlossene hinausgeht, also mehr noch möglich ist als das, was noch nicht ist. Danach ist das Argument des logischen Fatalismus der Sache nach widerlegt; die Kritik mit Nachweis seines Fehlers kann dann leicht nachgeholt werden. Der Beweis beruht auf meiner Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung, der unter diesem Titel von Kant aufgestellt wurde136 und in gereinigter Fassung lautet: Für jeden Gegenstand (im allgemeinsten Sinn von »etwas überhaupt«) und jede Bestimmung als etwas gilt, dass die Bestimmung dem Gegenstand entweder zukommt oder nicht zukommt. Ich habe diesen Satz in meinem Buch Kritische Grundlegung der Mathematik 1, Kapitel 5, widerlegt und mich dabei zweier Eigenschaften der Einzelheit bedient, die ich in Kapitel 1 bewiesen hatte: Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt; einzeln ist, was Element irgend einer endlichen Menge ist. 137 Die Widerlegung auf dieser Grundlage schreibe ich nun der Einfachheit halber aus meinem Buch 138 ab: Satz 1: Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung ist falsch. Gemäß dem Grundsatz muss eine Regel der Paarung zwischen jedem Gegenstand und jeder Bestimmung angenommen In England würde das Argument neuerlich wichtig genommen und eifrig diskutiert, vgl. R. M. Gale (ed.), The Philosophy of Time. A Collection of Essays, London 1968, S. 169–291. 136 Kritik der reinen Vernunft A571 f. B599 f. 137 Der Beweis geht aus von dem anfänglichen Begriff der Einzelheit: Einzeln ist, was Element einer Menge mit der Anzahl 1 ist. 1 ist die Anzahl jeder nicht leeren Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist. 138 wie Anmerkung 1, S. 70 f. 135

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Die Schichten der Zeit

werden, wobei dem Paar entweder ein positiver Wert (etwa ja) zugeordnet wird, wenn der Gegenstand die Bestimmung hat, oder ein negativer Wert (etwa nein), wenn er sie nicht hat. Es genügt, einen beliebigen Gegenstand G herauszugreifen und an ihm die These zu prüfen. Die Paarung ist dann, mathematisch gesprochen, eine Funktion mit zwei Argumenten, deren erstes G ist und deren zweites alle Bestimmungen durchläuft, und einem Funktionswert, der positiv (ja) ist, wenn der Gegenstand die betreffende Bestimmung besitzt, und negativ (nein), wenn er sie nicht besitzt. Die Argumente bilden geordnete Paare, in denen stets G das erste Glied ist und jede Bestimmung einmal als zweites Glied in einem Paar vorkommt. Die Menge der Glieder eines geordneten Paares ist eine endliche Menge mit der Anzahl 2 oder 1; 1 käme im vorliegenden Fall nur einmal vor, wenn G selbst eine Bestimmung sein sollte. Unter den drei definierenden Charakteristiken des Einzelnen (1) befindet sich diese: Einzeln ist, was Element einer endlichen Menge ist. Wenn der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung zutrifft, muss also jede Bestimmung einzeln sein. Das Beweisziel wird erreicht sein, wenn gezeigt wird, dass für keinen Gegenstand, hier nicht für G als beliebiges Beispiel, jede Bestimmung einzeln sein kann. Eine Bestimmung kann Bestimmung von G nur dadurch sein, dass sie G zukommt. Sie ist Anfang oder erstes Glied dieser Beziehung, deren Ende oder zweites Glied G ist. Dieser Beziehung entspricht die umgekehrte Beziehung von G zu b, dass G b bekommt. Beide Beziehungen entfalten dasselbe Verhältnis von zwei Seiten. Jede Bestimmung muss dem, was sie bestimmt, zukommen. Das Zukommen einer Bestimmung zu etwas ist eine Bestimmung dieser Bestimmung. Sei Z1 das Zukommen von b zu G. Daher muss Z1 b zukommen. Dieses Zukommen Z2 von Z1 zu b ist eine Bestimmung von Z1. Daher muss Z2 Z1 zukommen. Diese Zukommen Z3 von Z2 zu Z1 ist eine Bestimmung von Z2. Sie muss daher Z2 zukommen, und so geht es weiter ohne Ende. Diese Komplikation wäre für G keine Vereitelung, b dennoch zu bekommen, wenn die Reihe ein Ende hätte. Jedem Zukommen 152 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Offene und geschlossene Zukunft

von der einen Seite entspricht ja ein Bekommen von der anderen. Das Verhältnis des Zukommens/Bekommens würde durch die Zwischenglieder kompliziert, aber nicht vereitelt. G würde b durch Zwischenglieder bekommen, etwa bei drei Gliedern das Bekommen des Bekommens des Bekommens von b, und so schließlich b. Das wäre aber nur möglich, wenn G Endglied der von b absteigenden Reihe des Zukommens wäre, also Anfangsglied der aufsteigenden Reihe des Bekommens. Das wird dadurch ausgeschlossen, dass die absteigende Reihe ins Unendliche weiterläuft. Also kann G niemals b bekommen. Da G und b beliebig sind, ergibt sich: Alles ist in jeder Beziehung unbestimmt. Das stimmt nicht. Da aber die Deduktion in sich korrekt ist, muss der Fehler in einer versteckten Voraussetzung gesucht werden. Diese ist leicht gefunden. Es ist die Voraussetzung, dass jede Bestimmung einzeln ist. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt (1). Von dieser Art sind die Schritte durch zusätzliche Bestimmungen auf der absteigenden Leiter. Jeder von ihnen vermehrt die Anzahl der Stufen um 1. Wenn diese Konstruktion fallen gelassen wird, verschwindet die Schwierigkeit. Daraus ergibt sich: Zu jedem Bekommen einer Bestimmung für einen Gegenstand gehören Bestimmungen, die nicht einzeln sind. Als Weisen des Bekommens irgend einer Bestimmung sind sie zugleich seine Bestimmungen. Daher ergibt sich: Jeder Gegenstand kann durch einzelne Bestimmungen nur bestimmt werden, wenn er zugleich Bestimmungen hat, die nicht einzeln sind. Es wurde schon gezeigt, dass der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung auf irgend einen Gegenstand nur zutreffen kann, wenn dessen Bestimmungen sämtlich einzeln sind. Das kann, wie sich gezeigt hat, nicht der Fall sein, da der Gegenstand dann überhaupt keine Bestimmungen bekäme. Damit ist Satz 1 bewiesen. Bis hierhin reicht das Zitat meiner Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung am angegebenen Ort. Man kann nun sofort zur Widerlegung des logischen Fatalismus fortschreiten: Was nicht durchgängig bestimmt ist, kann auch 153 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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nicht durchgängig vorbestimmt sein. Es wäre aber durchgängig vorbestimmt, wenn die Zukunft geschlossen wäre, also nur aus dem bestände, was noch nicht ist, aber sein wird. Also muss die Zukunft offen sein und mehr enthalten, nämlich einen Überschuss an Möglichkeiten, die vielleicht sein werden, vielleicht auch nicht. Um diese Möglichkeiten etwas genauer fassen zu können, will ich den Beweis etwas ausführlicher gestalten. Da der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung falsch ist, sind für jeden Gegenstand mehr Bestimmungen möglich als die, die ihm tatsächlich zukommen. Das gilt auch für Gegenstände, die künftig einmal gegenwärtig (wirklich) sein werden. Diese ihnen versagten Bestimmungen müssen aber in der Zukunft enthalten sein; denn nichts kann gegenwärtig werden, ohne zukünftig gewesen zu sein. Wenn die einem Gegenstand versagten Bestimmungen nicht zukünftig gewesen wären, hätten sie dem Gegenstand also auch beim Gegenwärtigwerden nicht zukommen können, im Widerspruch dazu, dass es für sie möglich war, ihm zuzukommen. Also enthält die Zukunft auch die tatsächlich versagten Bestimmungen als Möglichkeiten und damit mehr als das, was noch nicht ist, aber sein wird. Dieser Überschuss der Möglichkeiten bläht die geschlossene Zukunft zur offenen auf. Mit dem Entstehen (Gegenwärtigwerden) schwindet dieser Spielraum des Möglichen, wenigstens im Gebiet der objektiven Tatsachen 139 , für alle Attribute, da jedes Attribut seinem Besitzer notwendig zukommt (1.1). Daraus ergibt sich die Unveränderlichkeit des Vergangenen, die aus dem Eintritt in Gegenwart stammt. Davon kann man sich überzeugen, wenn man sich prüft, woraus man die Gewissheit dieser Unveränderlichkeit schöpft. Sie stammt für jeden aus der Besinnung auf sein gegenwärtiges Erleben. Wenn ich mir gewiss bin, dass jetzt etwas stattfindet, bin ich mir ebenso gewiss, dass niemals jemand, der

Für die Lage bei den subjektiven Tatsachen vgl. wie Anmerkung 1, S. 36 f.

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Offene und geschlossene Zukunft

das bestreitet, etwas Wahres sagen wird. Ohne diese Begleitgewissheit stünde nichts der Hypothese im Weg, dass das Vergehen iterierbar wäre, so dass die Vergangenheit abermals vergehen, das Nichtmehrsein nicht mehr sein könnte. Die absolute Identität, und damit die Notwendigkeit, dass ein Gegenstand, damit er dieser und kein anderer ist, gerade diese Attribute hat (1.1), stammt aus der primitiven Gegenwart (2.2) und damit auch aus der zeitlichen Gegenwart, die die durch unzerrissene Dauer gedämpfte primitive ist. Das gilt für die absolute Identität des Vergangenen und ebenso für die absolute Identität des Inhalts der geschlossenen Zukunft. Die geschlossene Zukunft mit der absoluten (und gegebenenfalls relativen) Identität ihrer Inhalte entspringt dem Entstehen, dem Eintritt in die Gegenwart, aber wegen des Wechsels der Gegenwart im Fluss der Zeit nur sukzessiv und vor dem Ende der Zeit (falls es ein solches gibt) nie vollständig: Mit jedem Eintritt in eine Gegenwart der modalen Lagezeit wird die Zukunft ein Stück weit geschlossen, aber bis zu einer neuen, späteren Gegenwart bleibt noch etwas offen usw. Die Geschlossenheit der geschlossenen Zukunft ist also immer nur nachträglich da, als das, was zukünftig gewesen ist. Eine solche Rückdatierung des Nochnichtseins wäre unmöglich, wenn es sich um ein Attribut handelte. Nun sind Nochnichtsein, Nichtmehrsein und Gegenwärtigkeit (nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein) aber keine Attribute, sondern Existenz-Inductiva (1.1) und also belanglos für die Identität dessen, dem sie zukommen. Eine und dieselbe Sache kann also, ohne sich im Mindesten zu ändern, nachträglich noch-nicht (Inhalt der geschlossenen Zukunft) werden, genau so, wie sie nachträglich vergangen werden (vergehen) und dabei dieselbe Sache bleiben kann, die sie gegenwärtig war (1.1). Genauer besehen, ereignet sich der Übersprung aus der offenen Zukunft in die geschlossene beim Entstehen als Wechsel zwischen zwei Existenz-Inductiven. Die Inhalte der offenen Zukunft, die deren Überschuss über die geschlossene ausmachen, sind Paare möglicher Sachverhalte, die bei Verwirklichung zu 155 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Schichten der Zeit

Tatsachen einander kontradiktorisch ausschließen würden, aber als bloße Möglichkeiten widerspruchsfrei vereinbar sind, vom schon zur Verbesserung des aristotelischen Vorschlags benützten Typ: M(a) ^ M(:a). Ihre Zukünftigkeit ist ein partielles Seinwerden in der Weise, dass ein und nur ein Glied des Paares als Tatsache entstehen wird. Dieses partielle Seinwerden ist ein Existenz-Inductivum so gut wie das totale Seinwerden des Nochnichtseienden, also kein Attribut von etwas (1.1), und der Wechsel zwischen beiden Formen der Zukünftigkeit ist also kein Antasten der Identität eines Zeitinhaltes. Viele Zeitinhalte der offenen Zukunft schweben in der durch das partielle Seinwerden geschaffenen Unentschiedenheit oder Unsicherheit darüber, ob sie sein werden oder nicht. Das gilt aber nicht für alle Inhalte der offenen Zukunft. Einige stehen schon vor dem Entstehen fest, z. B. logische und mathematische Tatsachen, untatsächliche Sachverhalte oder die Form der Welt als Rahmen, in dem sich die modale Lagezeit ereignet (2.2). Zukunft im umfassenden Sinn ist der Vorbereich des Übergangs vom Nichtseienden zum Seienden (des Entstehens), wohin gehört, was einmal entsteht, aber auch, was entstehen kann, aber nicht entsteht. Zur geschlossenen Zukunft gehört ein Zeitinhalt, wenn es jemals einen gegenwärtigen Zeitinhalt gibt, mit dem er in allen Attributen übereinstimmt. Zur offenen Zukunft gehören außer den Zeitinhalten, die dann zukünftig gewesen sein (zur geschlossenen Zukunft gehören) werden, alle Zeitinhalte, für die noch offen (unentschieden) ist, ob es je einen gegenwärtigen Zeitinhalt gibt, mit dem sie in allen Attributen übereinstimmen. Zur weiteren Verdeutlichung mag ein Vergleich des Zukünftigen mit dem Fiktiven dienen. Eine fiktive Gestalt wie Werther oder Hamlet ist ein Individuum, an dem nur einige Attribute ausgemacht sind, während unzählige andere nach Belieben gewählt werden können, vorausgesetzt, sie vertragen sich mit den ausgemachten und dem, was bei deren Auszeichnung stillschweigend vorausgesetzt wird. Die verbleibende Unsicherheit bezieht sich also auf Attribute. Sie gleicht in gewissem Maß der 156 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Offene und geschlossene Zukunft

Unentschiedenheit über die absolute Identität eines Menschen, den ein Betrachter in einer großen Menschenmenge sucht, weil er zwar einzelne Züge von ihm kennt, aber ihn als diesen einzelnen Menschen, von dem er weiß, dass er in der Menge ist, nicht herauszufinden vermag. Ein Unterschied besteht darin, dass er mit einer Menge wirklicher Objekte zu tun hat, der Fingierende mit seinen Hörern oder Lesern aber mit einer Menge möglicher Welten. In beiden Fällen handelt es sich um ein Unvermögen des einen Gegenstand meinenden und nennenden Subjektes zu genauerer Bestimmung von Attributen eines Gegenstandes. Dem Suchenden ist dieses Unvermögen im Allgemeinen lästig, dem Fingierenden gleichgültig. Die Unentschiedenheit der offenen Zukunft betrifft dagegen zwei Existenz-Inductiva, partielles und totales Seinwerden, zwischen denen das Entstehen eine Auslese trifft, so dass der auserlesene Teil nachträglich in das totale Seinwerden der geschlossenen Zukunft überführt wird und dort mit absoluter Identität alle seine Attribute unangefochten behält, während der ausgeschiedene Teil, dem die Wirklichkeit versagt ist, dem Fiktiven mit der Unsicherheit über unzählig viele Attribute gleicht. Im Gegensatz zum Fiktiven kommt er aber in die Entscheidung, die im Entstehen besteht. An diese Betrachtung über das Fiktive lässt sich ein wichtiger Aufschluss über das Verhältnis von Erwartung und Erinnerung anknüpfen. Absolute Identität einer Sache, dass sie diese und keine andere ist, geht zwar logisch und zeitlich (in der Evolutions- und Individualgeschichte) der Einzelheit voraus, hängt aber, wenn sie zur Einzelheit gediehen ist, davon ab, dass die Sache alle ihre Attribute besitzt (1.2). Kein Mensch kann alle Attribute einer Sache kennen, denn es sind unendlich viele, wohl gar überzählbar unendlich viele. Jedoch können die Attribute einer gegenwärtigen oder vergangenen Sache summarisch identifiziert werden, nämlich als diejenigen, die die Sache in der wirklichen Welt besitzt. Sie selbst kann also als diese Sache mit diesen Attributen identifiziert werden. Das Entsprechende gilt für jede einzelne Sache in der geschlossenen Zukunft; sie ist die 157 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Schichten der Zeit

Sache mit den Attributen, die sie einmal in der wirklichen Welt haben wird. Tatsächlich ist die Zukunft aber offen; geschlossen wird sie erst beim Entstehen an der Gegenwart, als das, was dann noch-nicht-gewesen sein wird. In der offenen Zukunft sind alle Inhalte der geschlossenen Zukunft zwar schon enthalten, aber es steht noch nicht fest, welche es sind, weil das, was noch nicht ist, aus dem, was noch möglich ist, vor dem Entstehen noch nicht ausgelesen ist. Fast alle Inhalte der offenen Zukunft (mit Ausnahme der notwendigen, wie der Weltform oder der mathematischen Tatsachen, s. o.) gehören also noch nicht zur wirklichen Welt. Das gilt auch für den Vorrat ihrer Attribute. Diese Inhalte der offenen Zukunft gehören also erst in bloß mögliche Welten. Man kann aber nicht sagen, in welche, weil man dafür alle ihre Attribute kennen müsste. Also lassen sich solche Inhalte nicht, wie Inhalte der Gegenwart oder der Vergangenheit, eindeutig als Besitzer der Attribute, die ihnen in einer bestimmten möglichen Welt (und zwar beim Gegenwärtigen und Vergangenen: in der möglichen Welt, die die wirkliche ist) zukommen, kennzeichnen. Daraus folgt, dass die Erwartung, die sich in die offene Zukunft richtet, (fast) keine einzelne Sache als diese absolut identische identifizieren kann. Dadurch unterscheidet sie sich von der Erinnerung. An eine eindeutig gekennzeichnete Sache, die nicht mehr ist, etwa ein wichtiges Ereignis in der eigenen Lebensgeschichte, kann man sich deutlich erinnern. Nicht ebenso deutlich kann man eine einzelne Sache erwarten, denn die lässt sich in der offenen Zukunft nicht identifizieren. Was man aber erwarten und dabei eindeutig identifizieren kann, sind Sachverhalte, die als Tatsachen erwartet werden, z. B., dass eine Sache mit gewissen Eigenschaften zu einer gewissen Zeit eintreten wird. Damit legt man sich auf keine bestimmte Sache mit genau diesem Vorrat sämtlicher Attribute fest. Wenn man Glück hat und die Erwartung ziemlich detailliert gewesen ist, gilt man als Prophet. Die Erwartungen angesichts offener Zukunft sind also außer in den trivialen Fällen, in denen das Erwartete logisch notwendig ist, nur legitim als Erwartungen von der Art, dass 158 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Offene und geschlossene Zukunft

etwas mit dieser oder jener Beschaffenheit eintreten wird, nicht als Erwartungen bestimmter einzelner Sachen, z. B. der Geburt eines Kindes oder des betreffenden Kindes. Die Analogie zum Fiktiven besteht darin, dass sowohl erwartete als auch fiktive einzelne Gegenstände in der Weise unbestimmt sind, dass sich keine mögliche Welt (auch nicht die wirkliche) angeben lässt, in der sie mit allen ihren Attributen unterkommen. Der Fluss der Zeit, dass die Vergangenheit wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt, gewinnt in der modalen Lagezeit einen schärferen Sinn durch die Konversion der offenen Zukunft in geschlossene beim Entstehen. Die Verkürzung der offenen Zukunft zur geschlossenen beim Entstehen ist nun das Schrumpfen der Zukunft. Das Vergehen ist weniger kompliziert, zwar auch ein Wechsel von Existenz-Inductiva, aber nicht innerhalb der Vergangenheit ein vom Vergehen zu setzender Wechsel zwischen zwei Existenz-Inductiven, wie zwischen dem partiellen und dem totalen Seinwerden unter dem Druck des Entstehens. Für die Richtung des Flusses der modalen Lagezeit hat diese Besonderheit des Entstehens eine wichtige Folge. Sie bahnt nämlich erst den Weg für die lagezeitliche Durchordnung der zukünftigen Zeitinhalte in der linearen Ordnung früherer und späterer Gegenwarten (Daten). Die offene Zukunft lässt sich so nicht durchordnen, weil noch gar nicht feststeht, welche Massen in die früheren und späteren Gegenwarten, die angeordnet werden sollen, aufzunehmen sind. Die modale Lagezeit bahnt sich also den Weg ihres lagezeitlichen Armes durch das Schrumpfen der Zukunft im Umsprung offener Zukunft in geschlossene. Dabei wächst sie, mit zunehmender Vergangenheit im Schlepptau, gleichsam sinnfällig vor den Augen des Betrachters in die Zukunft hinein; sie frisst sich gleichsam vorwärts. Diese Tendenz gibt dem Fluss der Zeit eine entschiedene progressive Richtung in die Zukunft, während in der reinen Modalzeit die regressive Richtung herrscht, der Andrang des Neuen, der im unspaltbaren Verhältnis der Appräsenz-Präsenz in Gegenwart einfällt, diese exponiert und Dauer 159 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Schichten der Zeit

zerreißend ins Vorbeisein verabschiedet, als Nahrung für die wachsende Vergangenheit. Ich komme nun auf das Problem des logischen Fatalismus zurück, das von dem Argument aus der Möglichkeit beliebiger (auch grundloser) Vorhersagen aufgeworfen wird, und gebe zunächst meine Lösung an. Sie besteht darin, dass die Vorhersage a einer unentschiedenen Möglichkeit der offenen Zukunft einfach unentschieden140 ist, in dem Sinn, dass der einfache Satz vom ausgeschlossenen Dritten (a _ :a, mindestens a oder das Negat nicht -a ist wahr) auf a nicht und auf :a nicht zutrifft. Um einen Widerspruch zu vermeiden, muss man auf den Sinn der Negation achten. Man darf :a nicht erklären als: »a ist falsch«. Dann käme man bei Falschheit von a und von :a auf den Widerspruch :a ^ ::a. Vielmehr muss man sagen: Wenn a falsch ist, ist :a der Satz, der durch seine bloße logische Form automatisch wahr ist. Dann besagte einfache Unentschiedenheit, dass es einen solchen Satz nicht gibt. :a hat dann den schwächeren Sinn, nur wahr zu sein, wenn sowohl a falsch ist als auch die Behauptung, es sei unentschieden, ob a. Wenn a und :a einfach unentschieden sind, können beide nicht wahr sein. Der einfache Satz vom ausgeschlossenen Dritten ist nämlich eine schwache Disjunktion, die wahr ist, wenn auch nur ein Glied wahr ist; die Erweiterung um ein zweites ändert nichts daran. Wenn a wahr ist, ist also auch a v :a wahr, entsprechend für :a. Mithin können im Fall einfacher Unentschiedenheit weder die affirmative Vorhersage a noch ihr Negat :a wahr sein. Das Argument für den logischen Fatalismus beruht aber auf der Annahme, dass eine der beiden Vorhersagen, a oder :a, wahr ist. Damit ist es widerlegt, vorausgesetzt, dass (in der offenen Zukunft) unentschieden ist, ob a, und damit, ob :a. Dies ist nur die eine Hälfte meiner Lösung. Nachträglich Ich habe die Aussagenlogik um eine Logik der einfachen und iterierten Unentschiedenheit erweitert (wie Anmerkung 1, Kapitel 9 und 10); hier genügt einfache Unentschiedenheit.

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Offene und geschlossene Zukunft

kann das zu seiner Zeit nicht wahre a wahr werden, wenn nämlich die Prophezeiung in Erfüllung geht, ebenso :a. Dann ist a bzw. :a wahr gewesen, obwohl es zu seiner Zeit nicht wahr war. Wie ist das möglich? Eine nachträgliche Korrektur an dem, was einmal gewesen ist, scheint unmöglich. In diesem Fall ändert sie aber nichts am Vergangenen, steht also nicht in Gegensatz zu dessen Unveränderlichkeit. Um das einzusehen, muss man sich darauf besinnen, dass alle Vorhersagen (z. B. »Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden«, Beispiel des Aristoteles) affirmative Existenzbehauptungen sind. Das gilt sogar für negative Existenzbehauptungen (z. B. »Morgen wird keine Seeschlacht stattfinden«), denn diese lassen sich leicht in äquivalente affirmative Existenzbehauptungen (z. B. »Morgen wird die Tatsache existieren, dass tagsüber keine Seeschlacht existiert«) umformen. Die Wahrheit affirmativer Existenzsätze ist aber ein Existenz-Inductivum so gut wie Vergangenheitlichkeit, Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit, s. o. 1.1, also kein Attribut. Durch Hinzufügung solcher Wahrheit wird also am Vergangenen nichts verändert. Weder gewinnt es eine für seine Identität relevante Bestimmung noch verliert es eine, denn der Verlust der Falschheit ist bloße logische Folge eines Wechsels, der nichts ändert. Ich diskutiere nun andere Lösungsvorschläge. A. N. Prior stellt zwei klassische Versuche mit Zuschreibung an Peirce (P) und Wilhelm von Ockham (O) einander gegenüber. 141 Nach P sind beide Vorhersagen (»Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden«, »Morgen wird keine Seeschlacht stattfinden«) nicht wahr und bleiben so. Das Erste stimmt mit meiner Meinung überein; das Zweite ist paradox, da die Vorhersage, nachdem sie in Erfüllung gegangen ist, sich als wahr herausgestellt hat und also erst recht wahr gewesen sein muss. 142 Nach O kann VerganArthur Norman Prior: Past, Present, and Future, Oxford 1967, S. 131– 136 142 Dieses Bedenken macht auch Michael Groeneberg geltend: Die verschiedenen Logiken von Gedächtnis und Voraussicht, in: Gedächtnis und Voraussicht, hg. v. E. Angehrn und P. Buertschi (Studia Philosophica, Jahrbuch 141

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Die Schichten der Zeit

genes sich in dem Sonderfall ändern, dass es sich um den Wahrheitswert von Voraussagen über kontingentes Zukünftiges handelt: dieser Wahrheitswert sei, während die Voraussage a gemacht wird, unentschieden, später aber, je nach dem, ob das Vorausgesagte eingetreten oder ausgeblieben ist, das Wahre bzw. das Falsche. Diese Lösung vermeidet den Einwand gegen Peirce, verstößt aber willkürlich gegen den Grundsatz der Unveränderlichkeit des Vergangenen. Meine Lösung verbindet die Vorzüge von P und O mit Meidung ihrer Fehler. Mit P und O bestreite ich die Wahrheit der Vorhersage unentschiedener Möglichkeiten der offenen Zukunft während des Vorhersagens, aber mit O nehme ich nachträgliches Wahrwerden an, jedoch ohne Eingriff in die Unveränderlichkeit des Vergangenen, weil die nachträglich hinzukommende Wahrheit ein Existenz-Inductivum und kein Attribut ist. Zwei weitere Lösungsvorschläge sollen kurz erwähnt werden. Jan Lukasiewicz will einen dritten Wahrheitswert neutral (neben wahr und falsch) einführen, um die kritischen Vorhersagen als neutral dem Argument entziehen zu können, und stellt entsprechend geänderte und ergänzte Wahrheitswerttafeln für aussagenlogische Wahrheitsfunktionen auf. Prior143 weist ihm nach, dass diese wenigstens bei der Konjunktion (»und«) nicht glücken: Soll die Konjunktion neutraler Behauptungen wahr, neutral oder falsch sein? Wahr kann sie nicht sein, wenn beide Glieder im Widerspruch stehen und je für sich neutral sind, wie nach Lukasiewicz bei den beiden die morgige Seeschlacht betreffenden Voraussagen; dann ist sie auch nicht neutral, sondern schlicht falsch wie jeder Widerspruch. Andererseits geht es zu weit, jede Konjunktion neutraler, aber widerspruchsfrei vereinbarer Voraussagen für falsch zu halten. Ein anderer Lösungsvor-

der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft 60/2001), S. 235–256, hier 248 143 wie Anmerkung 141, S. 135

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Anfang und Ende der Zeit

schlag, den Groeneberg 144 vorsichtig begünstigt, wendet die aussagenlogische Hyperbewertung nach van Fraassen auf die Zeit an. 145 Dieses System führt zwar keine Wahrheitswerte außer Wahrheit und Falschheit ein, lässt aber unendlich viele Behauptungen unbewertet. Das scheint mir unzulässig, wenn nicht logischer Zwang zur Abwendung eines sonst unvermeidlichen Widerspruchs, wie im Fall der Antinomie des Lügners, ein Aussetzen der Bewertung erzwingt. Warum soll einer so schlichten Behauptung wie »Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden« die Bewertung als wahr versagt bleiben, auch wenn die Schlacht wirklich entbrennt oder stattgefunden hat? Nach meinem Vorschlag wird sie nur bis dahin aufgeschoben.

3.6 Anfang und Ende der Zeit Kant schreibt: »Die Unendlichkeit der Zeit bedeutet nichts weiter, als dass alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkung einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei. Daher muss die ursprüngliche Vorstellung Zeit als uneingeschränkt gegeben sein.« 146 Wenn es sich so verhält und die Zeit – wie Kant offensichtlich annimmt, da er daraus Schlüsse zieht – tatsächlich unendlich ist, kommen weder Anfang noch Ende der Zeit in Betracht, da sie nur die Ränder eines Ausschnittes aus einer umfassenderen Zeit wären. Aber Kant kann so nur schreiben, weil er, blind für die Schichten der Zeit, nur die oberste Schicht, die Lagezeit in der zur Welt entfalteten Gegenwart, zur Kenntnis nimmt; diese Zeit kann freilich in Gedanken über alle Grenzen hinaus ausgedehnt werden, weil in der Welt die Einzelheit die Grenze des Seienden ins Nichtseiende hinein übersteigt und Einzelnes phantasierend, planend, erinnernd usw. 144 145 146

wie Anmerkung 143, S. 252–254 R. Thomason, Theoria 26, 1970, S. 264–281 Kritik der reinen Vernunft A32 B 47 f.

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in dieses hinein projiziert werden kann (2.2). Das ist aber nur der obere Rand der Zeit, in dem die Gedanken beliebig schweifen können, nach Metrisierung der Lagezeit auch über schwindelnd lange Zeitstrecken hin; wer sich damit zufrieden gibt, im Glauben, über »die« Zeit zu sprechen, täuscht sich gründlich. Es hat sich herausgestellt, von welchen Tiefenschichten, bis hinab zur primitiven Gegenwart, die Zeit, von der Kant spricht, abhängt. Die wirkliche Zeit, mit der aus unabweisbarem Bedürfnis von Menschen verräumlichten und extensivierten metrischen Lagezeit als Krone, ist keineswegs »als uneingeschränkt gegeben«, sondern höchst kontingent und gebrechlich. Da ihre Möglichkeit von der satzförmigen, einzelne Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbindenden Rede abhängt (2.2) und uns nur Menschen als Sprecher solcher Rede bekannt sind, ist anzunehmen, dass es eine modale Lagezeit erst gegeben hat, seit Menschen satzförmig sprechen konnten. Ich habe hypothetisch angenommen, dass dies seit dem Cro-Magnon-Zeitalter, in dem der homo sapiens sapiens auftrat, der Fall ist. 147 Wenn das so ist, kann es vorher schon Zeit als reine Modalzeit der in Situationen gefangenen Tiere gegeben haben, aber auch erst, seit Erschrecken und damit primitive Gegenwart möglich ist, also vermutlich nicht vor dem Anfang tierischen Lebens. Vorher dürfte es überhaupt keine Zeit gegeben haben, mangels absoluter Identität, erst recht Einzelheit. Die Naivität, in der Zeit weiter (z. B. bis zum »Urknall« der Physiker) zurückzurechnen, d. h. die Weltzeit und die Welt überhaupt in das Urkontinuum (2.1.3) hineinzuziehen, darf man Naturwissenschaftlern und ihren Gläubigen, die als Singularisten Einzelheit für selbstverständlich halten, gönnen, und vielleicht haben sie Recht, sofern nämlich auch damals besonnene, satzförmiger Rede kundige Subjekte (z. B. aus den sieben himmlischen Chören des Pseudodionys vom Areopag) anwesend waren. Viel dramatischer gestaltet sich die Aussicht auf ein mög147

Das Reich der Normen, Freiburg/München 2012, S. 242

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Anfang und Ende der Zeit

liches Ende der Zeit. Die Zeit entspringt dem Andrang des Neuen, der sich in Gegenwart hinein, diese aus der Dauer abreißend und exponierend, ereignet, indem er Dauer zerreißt und ins Nichtmehrsein verabschiedet, während aber unzerrissene Dauer übrig bleibt, die dem Andrang des Neuen Stoff zur Fortsetzung seines Werkes bietet; so entsteht der Fluss der Zeit: Die Vergangenheit wächst, die Zukunft (zunächst noch als Appräsenz in unspaltbarem Verhältnis der Gegenwart aufsitzend) schrumpft und die Gegenwart (die von unzerrissener Dauer zur zeitlichen gedämpfte primitive) wechselt. Mit dem Auftreten der Einzelheit auf dem Boden der Welt als des Feldes möglicher Vereinzelung spaltet sich die Appräsenz-Präsenz in Beziehungen, und die Zukunft wird frei; die vorher reine Modalzeit wird zur modalen Lagezeit als zeitlicher Dimension der Welt. Wenn aber das Neue ausbleibt, die Zukunft versiegt, ist die Zeit zu Ende. Ein anderes Ende könnte sie nehmen, wenn der Andrang des Neuen plötzlich so stark wird, dass er die intensive Dauer zerreißend total verbraucht; mit einem starren Schreck würde der Fluss der Zeit zum Stillstand kommen. Die Dauer als solche ist die dem Zerreißen unter dem Druck des Neuen ausgesetzte Seite des Urkontinuums, das sich an der primitiven Gegenwart in Weite als Stoff des Raumes und der Dauer als Stoff der Zeit scheidet. Das Ende der Zeit durch Ausbleiben der Zukunft oder Abschied aller Dauer ins Vorbeisein (Nichtmehrsein) nach totalem Riss wäre eine Katastrophe, die ohne physischen Eingriff das Ausmaß aller erdenklichen physischen Katastrophen überstiege. Zukünftigkeit, Gegenwärtigkeit und Vergangenheitlichkeit wären mit einem Schlag verschwunden. Nichts geschähe mehr, um Gegenwart zu exponieren und durch Riss in der Dauer den Abschied ins Nichtmehrsein einzuleiten. In meinen früheren Darstellungen der Eschatologie 148 habe ich angenommen, mit dem Ende der Vergangenheit sei die Gegenwart endgültig festSystem der Philosophie, Band V, Bonn 1980, S. 177–188; Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1990, S. 271–274

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Die Schichten der Zeit

gestellt, weil sie nicht mehr vergehen könne. Das war falsch gedacht. Das Verschwinden der Gegenwart am Ende der Zeit wäre kein Vergehen als Übergang (3.1) in Nichtmehrsein, sondern ein Erlöschen der Exponiertheit. Auch die Erstarrung des Flusses der Zeit durch Verbrauch aller Dauer ließe keine bleibende Gegenwart zurück, denn zum Bleiben wäre Dauer nötig. Mit der Zeit wären auch die vier Geschenke der primitiven Gegenwart entzogen: das Hier (mit ihm der Raum), das Jetzt (mit ihm die Zeit), das Dieses (die absolute Identität, selbst zu sein) und die Subjektivität (das Betroffenwerdenkönnen), mit der absoluten Identität selbstverständlich auch die Einzelheit und die relative Identität, mit der Subjektivität die Personalität. Personen würden unmöglich. Nur das Sein könnte der Vernichtung entgehen, da es der primitiven Gegenwart nicht zu entspringen scheint (2.1.2). Mit der Rückkehr ins Urkontinuum müssten aber nicht alle geordneten unspaltbaren Verhältnisse unterbunden werden. Solche sind, wie ohne Einzelheit, sogar ohne absolute Identität in einer teilnehmerlosen Welt möglich, wie sie in einer anonymen Sprache mit Überzeichnung von Sachverhalten, Programmen und Problemen zur Einzelheit dargestellt werden könnte (2.1.1). In einer solchen Welt wären zwar Tatsachen möglich, aber nichts, das selbst oder als etwas bestimmt wäre. Das Ende der Zeit kann jederzeit eintreten, aber auch ausbleiben. Das Schicksal der Zeit dürfte an das Schicksal der leiblichen Dynamik 149 , wenigstens hinsichtlich ihrer wichtigsten Dimension, in der Zeit und Leib merkwürdig übereinstimmen, der Dimension von Enge und Weite, gekoppelt sein. Der Andrang des Neuen, der Gegenwart exponiert, ist Engung, das Zerreißen der Dauer unter dem Druck des Andrangs sogar privative Engung; die unzerrissene Dauer öffnet sich dann wieder weitend bis zur verweilenden Gegenwart, die in Rousseaus Schilderung von seinem Ergehen auf der St. Petersinsel im Lac de Bienne Züge entHermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 15–27: Die Dynamik des Leibes

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Anfang und Ende der Zeit

spannter privativer Weitung annimmt, in der bedrängenden Langeweile, die man aus dem Alltag kennt, dagegen mit Engung zum vitalen (aber in rhythmischer Kompaktheit erstarrendem) Antrieb verschmilzt, unter dem Andrang des Neuen, der nicht weniger wuchtig ist, weil er in seinem intensiv gespürten Ausbleiben besteht. Übrigens braucht ein Ende der Zeit nicht unwiderruflich zu sein. Keinerlei Widerspruch ist darin zu finden, dass etwas, das nicht mehr ist, wiederkommt. Jede Stimme gibt Zeugnis davon. Menschenstimmen, tierische Artstimmen (z. B. Löwengebrüll, Schafsgeblök) sind individuelle Halbdinge durch den wechselnden Stimmschall hindurch. Sie sind da, verstummen, sind wieder da, ohne dass es Sinn hat, zu fragen, wie sie die Zwischenzeit verbracht haben: Sie haben sie überhaupt nicht verbracht. Zwischen einem Ende und einem Wiederanfang der Zeit könnte es freilich keine Zwischenzeit geben, sondern nur ein zeitlich nicht interpretierbares Loch, aber die modale Lagezeit der neuen Welt könnte sich über die der vorangegangenen erstrecken.

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4. Aporien der Zeit

4.1 Aristoteles, Skeptiker und Augustinus Aristoteles beginnt seine Abhandlung über die Zeit im 4. Buch der Physik mit der Aufforderung, zunächst Aporien (Probleme, die ratlos machen) aufzustellen, und führt folgende Beispiele an: »Dass sie entweder gar nicht ist oder kaum und schwach, könnte man aus Folgendem entnehmen: Die eine Hälfte von ihr geschah und ist nicht, die andere steht bevor und ist noch nicht. Aus solchen Hälften besteht sowohl die unendliche Zeit als auch jeder irgend herausgegriffene Ausschnitt von ihr. Was aus nichtseienden Teilen zusammengesetzt ist, dürfte unmöglich des Seins teilhaftig sein. Obendrein müssen von jedem Teilbaren, sofern es ist, dann, wenn es ist, entweder alle Teile oder wenigstens einige sein; im Fall der Zeit aber ist das eine bereits geschehen, das andere steht bevor, es ist aber nichts, obwohl sie doch teilbar ist. Das Jetzt ist kein Teil; der Teil misst nämlich, und das Ganze muss aus den Teilen zusammengesetzt sein, die Zeit aber scheint nicht aus den Jetzten zusammengesetzt zu sein.« 150 Allem Anschein nach geht Aristoteles von der schon homerischen151 Einteilung der Modalzeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus, streicht aber die Gegenwart aus der Liste der Teile, weil er Vergangenheit und Zukunft als Stücke auffasst, die unmittelbar an einander grenzen, so dass die Gegenwart, wenn sie ein Teil der Zeit sein sollte, aus einem Stück Vergangenheit und einem Stück Zukunft bestehen müsste; jedes beliebig herausgegriffene Stück Zeit sei ja so zusammengesetzt. Durch 150 151

217b 32–218a 8 Ilias 1,70

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Aristoteles, Skeptiker und Augustinus

fortgesetzte Zerlegung wird die Gegenwart aus der Zeit herausgedrückt.152 Von ihr bleibt nur eine keine Zeit füllende Grenze zwischen zwei nichtseienden Stücken, Vergangenheit und Zukunft, die die ganze Zeit ausmachen, so dass diese, verstanden als die Summe ihrer Teile, selbst nicht sein kann. Voraussetzung des Raisonnements ist die Auffassung der Zeit als extensive Größe, die obendrein messbar sein müsste, da die Teile das Ganze aufzumessen hätten, als Teil von so und so bestimmter Zahl und Größe. Zum Gewesenwerden müsste die Zeit aber vorliegen. Vergangenheit und Zukunft liegen nicht vor, da sie nicht sind, nämlich nicht mehr bzw. noch nicht sind, und die Gegenwart, die an Zeit allein vorliegt, taugt nicht dazu, die Zeit auszumessen, da nicht einmal ihre Vervielfältigung zu lauter Jetzten die Zeit zusammenzusetzen vermag. Einfacher könnte man diesen verwickelten Gedankengang in Gestalt von zwei Einwänden gegen die Zeit zusammenfassen: 1. Die Zeit existiert nicht, denn, um zu existieren, müsste sie dauern, aber Vergangenheit und Zukunft dauern nicht, weil sie nicht sind, und die Gegenwart ist zwar, dauert aber nicht, weil ihr jede Aussicht auf Dauer von Vergangenheit und Zukunft, die nahtlos an einander rücken, weggefressen wird; andererseits ist die Einteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vollständig. 2. Die Zeit ist teilbar, also eine extensive Größe, und müsste daher auch messbar sein, durch Zusammensetzung der Teile an Hand einer Skala. Durch Zusammensetzung von Vergangenheit und Zukunft ist sie aber nicht messbar, weil Vergangenheit und Zukunft gar nicht sind, also auch nicht zusammengesetzt werden können, und aus noch so vielen Jetzten, wenn sie auch sind, kann man keine Zeit zusammensetzen, weil sie so wenig gemeinsam wie einzeln dauern. Diese beiden Argumente sind von den Skeptikern übernommen worden, um die

Augustinus (Confessiones 11, 20) hat solche gegen Null konvergierende Dauer der Gegenwart anschaulich vorgeführt.

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Aporien der Zeit

Unmöglichkeit von Zeit (und damit von Musik, die Zeit braucht) zu beweisen. 153 Dieses aristotelisch-skeptische Aporienduett hat Augustinus übernommen und mit glänzender Rhetorik und eindringlicher Präzision, belebt durch viele Beispiele, so plausibel gemacht, dass es durch seine Darstellung ins 11. Buch der Confessiones geradezu populär geworden ist. Grundlage seiner Überlegungen ist auch für ihn die Auffassung der Zeit als extensive Größe, als längere und kürzere Zeit, die gemessen werden kann und dafür Dauer benötigt. Diese der Zeit zugemutete Dauer soll sich nicht mit ihrer Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vertragen, aus den bekannten Gründen: Vergangenheit und Zukunft können nicht dauern, weil sie nicht sind (nicht mehr bzw. noch nicht sind), da in der Zeit nur Gegenwärtiges ist, das aber auch nicht dauern kann, weil ihm jede zeitliche Ausdehnung durch Zerlegung in Anteile von Zukunft und Vergangenheit genommen wird. Originell ist Augustinus darin, dass er keinen Gedanken an die Zeitmessung mit Uhren verwendet, sondern lediglich die indirekte Messung akustischer Längen von Silben und Klängen aus dem Gedächtnis als Modell wählt. So entgeht ihm die Chance der Metrisierung der Zeit durch extensivierende Verräumlichung, die einen Simultanvergleich von Dauern an Hand gleichmäßig zurückgelegter Bahnstrecken und damit eine Kontrolle gestattet, die dem ohne Uhr nicht nachprüfbaren Gedächtnis versagt bleibt. Demgemäß verlegt er resignierend die gemessene Länge der Zeit in die gegenwärtige Erinnerung, als ob die Vergangenheit nur in ihrer Repräsentation im Gedächtnis bestünde. Die aristotelisch-augustinische Aporie ist ein Scheinproblem aus Verkennung der Schichten der Zeit. Dauerlos ist allein die primitive Gegenwart, die durch den Andrang des Neuen aus der Sextus Empiricus: Pyrrhonische Hypotyposen III, 142–146; Adversus Mathematicos VI (Adversus Musicos) 61–67 und X (Adversus Physicos II), 190–200

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Aristoteles, Skeptiker und Augustinus

Dauer abgerissen wird. Sie ist ein seltener Ausnahmezustand, aber unentbehrlich dafür, dass es Zeit, zunächst als Modalzeit, gibt, weil ohne scharfen Einschnitt in die Dauer weder der Kontrast des Abschieds dessen und von dem, was nicht mehr ist, noch die Offenheit für den Empfang des sich ereignenden Neuen möglich wäre, also keine Perspektiven in Vergangenheit und Zukunft sich auftäten. Von der primitiven Gegenwart unterscheidet sich die zeitliche Gegenwart der reinen Modalzeit als die von unzerrissener Dauer gedämpfte und mehr oder weniger verdickte Gegenwart; sie kann mehr oder weniger dauern, aber diese Dauer ist intensiv, wie die Dauer der Töne und Geräusche, der Bewegungen, der Langeweile und Kurzweil. Die Gegenwart einer zuständlichen Situation kann ein Zeitalter umfassen, eine Gegenwart einer aktuellen Situation nur fast unmerklich dauern. Durch die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt wird die reine Modalzeit zur modalen Lagezeit ausgebaut; dabei wird die zeitliche Gegenwart relativiert, als primus inter pares (gegenwärtige Gegenwart) im Kranz vergangener und zukünftiger Gegenwarten. Damit die Menschen planen und zu diesem Zweck Zeit messen können, deuten sie die intensive Dauer durch Projektion in den Raum, mit der als gleichförmig imponierenden Bewegung einer Uhr als Projektor, in eine extensive Größe um und verstehen nun die modale Lagezeit, analog der von der gleichmäßigen Bewegung durchlaufenen Bahn und nach dieser sich bemessend, als Zeitstrecke. Damit entsteht abermals die Aussicht auf eine dauerlose Gegenwart, aber nicht durch Abreißen aus der Dauer wie im Fall der primitiven Gegenwart, sondern durch eine mathematische Operation an der zur Zeitstrecke gewordenen modalen Lagezeit: Die an der extensivierten Größe unterscheidbaren und trennbaren Stücke, die modalzeitlich vergangen bzw. zukünftig, lagezeitlich früher und später sind, werden in konvergenten Reihen immer enger zusammengeschoben, so dass zwischen ihnen die Gegenwart nur als Grenze, als mathematischer Limes ohne Dauer, übrig bleibt. An dieser Schicht der Zeit setzen Aristoteles, die antiken Skeptiker und Augusti171 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Aporien der Zeit

nus mit ihren Aporien an. Der Gegenwart werden sie damit nicht gefährlich, denn die wurzelt in tieferen Schichten, und damit verpufft dieser Angriff auf die Zeit. Er erreicht diese auf einem Niveau, wo sie nicht einmal mehr den Menschen unwillkürlich widerfährt, wie noch die prämetrische Lagezeit bei der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt, sondern ein Konstrukt verräumlichend-extensivierend Umdeutung ist, freilich nicht einer Umdeutung, die man ebenso auch lassen könnte, sondern als Mittel, das die Menschen zu ihrer Selbstbehauptung in der Welt so nötig brauchen wie das tägliche Brot. Indem die antiken Aporetiker ausschließlich die metrisierte modale Lagezeit ins Auge fassen und nach Art einer räumlichen Strecke behandeln, wird ihnen die Modalzeit, die sie nicht los werden, zu einem Menetekel, das die ganze Zeit zum Einsturz bringt, statt zur tragenden Tiefenschicht des Gebäudes. Sie sind zwar auf die Modalzeit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fixiert, nehmen diese aber nicht als Modalzeit mit intensiver Dauer ernst, sondern so, wie sie auf die Ebene einer verräumlichten, extensivierten Lagezeit transportiert ist. Diese verzerrte Modalzeit lässt sich in Stücke schneiden, die als vergangene und zukünftige die Gegenwart immer mehr zusammenpressen, bis diese als bloßer Zeitpunkt aus der extensiv gewordenen Dauer herausfällt und als Teil der Zeit gar nicht mehr in Betracht kommt. Sogar für Augustinus verwandelt sich die Zeit in ein erstes Stück Nichtsein (Vergangenheit), ein zweites Stück Nichtsein (Zukunft) und ein zu einem dauerlosen Punkt geschrumpftes Stück Sein (Gegenwart) dazwischen. Ganz verloren geht dabei die Dynamik des Flusses der Zeit, des Übergangs vom Nichtsein in Sein (Entstehen) und von Sein in Nichtsein (Vergehen). Den antiken Heiden mit ihrem mehr statischen Weltbild mag man solche Verzerrungen im Schichtenbau der Zeit verzeihen. Den Christen mit ihrem dynamischen Zeitverständnis, fixiert auf die Erschaffung der Welt durch Gott, die Vergänglichkeit der irdischen Dinge und Angelegenheiten, die Alarmstimmung der Menschen in Hoffnung und Furcht wegen 172 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

McTaggart

des ihnen von Gott zugedachten Schicksals, sollten sie unzumutbar sein. Es ist erstaunlich, dass selbst Augustinus in den Confessiones, wo er sich als den Prototyp eines antiken Christen darstellt, darauf hereinfällt.

4.2 McTaggart McTaggarts 96 beide Zeitreihen, die A-Reihe und die B-Reihe, verhalten sich etwa wie die Modalzeit der modalen Lagezeit und die Lagezeit der modalen Lagezeit (3.1). Er will die Unwirklichkeit der Zeit in zwei Schritten beweisen. Erstens: Die Zeit, einschließlich der B-Reihe, sei nur durch die A-Reihe möglich. Zweitens: Die A-Reihe sei widerspruchsvoll konstruiert. Erster Schritt: Zeit sei nur möglich, wenn etwas sich verändert. Veränderung gebe es aber nur in der A-Reihe, nämlich von Zukünftigkeit über Gegenwärtigkeit zu Vergangenheitlichkeit. Alle anderen Bestimmungen von Ereignissen, mitsamt ihrem Platz in der B-Reihe, seien unveränderlich. Die Behauptung, dass Zeit an Veränderung gebunden sei, habe ich empirisch schon durch Hinweis auf den unablässigen, alles andere übertönenden Brennschmerz der armen Sünder im christlichen Höllenfeuer entkräftet, gesetzt, eine mögliche Welt bestünde nur aus solchen Sündern. Rein begrifflich krankt die Bevorzugung der A-Reihe als Sitz der Veränderung aber am Übersehen einer Äquivokation. McTaggart gibt für die zur Zeit gehörige Veränderung folgendes Beispiel: »Ein Universum, in dem sich absolut nichts veränderte (einschließlich der Gedanken der in ihm existierenden bewussten Menschen) wäre ein zeitloses Universum«. Anscheinend meint er, dass die Menschen, damit Zeit sei, in einem sonst unveränderlichen Universum wenigstens anders oder anderes denken müssten, so dass sich die Attribute ihres Denkens verändern würden. Es gibt aber Wechsel ohne Veränderung – englisch »change« kann beides heißen –, und gerade die A-Bestimmungen (Zukünftigkeit, Gegenwärtig173 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Aporien der Zeit

keit, Vergangenheitlichkeit) sind von dieser Art, weil sie Existenz-Inductiva sind, also an einer Sache als deren Bestimmungen wechseln können, ohne dass die Sache sich auch nur im Mindesten änderte. Sie sind ja ohne Belang für deren absolute Identität, diese Sache und keine andere zu sein. Somit würde die bloße A-Reihe, eingeführt in ein Universum, nicht genügen, um es aus der Unveränderlichkeit zu befreien. Zweiter Schritt: McTaggart sagt der A-Reihe den Widerspruch nach, dass in ihr jedes, aber kein Ereignis vergangen, gegenwärtig und zukünftig ist. Jedes Ereignis sei nämlich erst zukünftig, dann gegenwärtig und dann vergangen; andererseits seien diese Merkmale untereinander logisch unverträglich. Er weist zwei Ausflüchte aus dieser Verlegenheit zurück: erstens den Versuch, bloß das Zugleichsein von Vergangenheitlichkeit, Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit einer Sache zu verbieten, und zweitens den Versuch, durch Kombination der Zeitmodi (»gegenwärtig vergangen«, »zukünftig vergangen«, »gegenwärtig gegenwärtig« usw.) und Wiederholung der Prozedur die unverträglichen Bestimmungen auseinanderzuhalten; das führe zu einem unendlichen progressus, indem die gefürchtete Kombination von Stufe zu Stufe nachrücke und ad infinitum zur Flucht auf die nächsthöhere zwinge. Der Fehler dieser Argumentation scheint mir ebenso wie beim ersten Schritt im Übersehen der Besonderheit der Zeitmodi als Existenz-Inductiva, die keine Attribute sind, zu bestehen. Es ist ganz richtig, dass genau dieselbe Sache ohne jede Veränderung sein und nicht (nämlich noch nicht bzw. nicht mehr) sein kann und tatsächlich diese Bestimmungen (Zukünftigkeit, Gegenwärtigkeit, Vergangenheitlichkeit) durchläuft. Aber diese Lockerheit, unbeschadet den Wechsel zu überstehen, wird erkauft mit Preisgabe des Leibniz-Prinzips, dass identische Sachen in allen Bestimmungen übereinstimmen. Welchen Zeitmodus etwas gerade hat, richtet sich nach der Zeit, genauer: nach der gerade gegenwärtigen Gegenwart in der Modalzeit der modalen Lagezeit. (Gerade gegenwärtig ist die Gegenwart, die ihre Aus174 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

McTaggart

zeichnung von der zeitlichen Gegenwart der reinen Modalzeit und daher letztlich von der primitiven Gegenwart bezieht.) Man darf also nicht folgern: »Diese gegenwärtige Sache ist identisch mit einer vergangenen und einer künftigen Sache, also ist sie vergangen und gegenwärtig und zukünftig.« Die bloße Identität ist bei Existenz-Inductiven kein ausreichendes Fundament für eine solche logische Konjunktion. Vielmehr gilt die starke Disjunktion: »Diese Sache ist entweder vergangen oder gegenwärtig oder zukünftig.« Jeder der drei Zeitmodi schließt jeden anderen aus, nicht etwa nur für das Zugleichsein, sondern überhaupt. Ein Zeitinhalt ist nicht und niemals sowohl gegenwärtig als auch vergangen und zukünftig, obwohl zu einer gewissen Zeit gegenwärtig zu einer anderen vergangen, zu einer dritten zukünftig, immer in derselben modalen Lagezeit. Eine Sache ist aber nicht in der Weise bald gegenwärtig, bald vergangen, wie sie, durch Wechsel eines Attributes, bald grün, bald rot sein kann. Vielmehr übersteht sie den Wechsel von Zukünftigkeit, Gegenwärtigkeit und Vergangenheitlichkeit ohne jede Veränderung. Es handelt sich also nicht um zwei Phasen in der Geschichte einer Sache. Die Angabe, dass sie in einem gewissen Augenblick gegenwärtig ist, ist nicht genauer als die Angabe, dass sie gegenwärtig ist, während die Angabe, dass sie dann grün ist, genauer ist als die Angabe, dass sie überhaupt nur grün ist; vielmehr handelt es sich um eine Information anderer Art. Wenn ich sage, dass ein Ereignis zu einer gewissen Zeit gegenwärtig ist, bezeichne ich seinen Platz in der Lagezeit, ein Attribut. Wenn ich sage, dass es gegenwärtig ist, gebe ich kein Attribut an, sondern ein modalzeitliches Existenz-Inductivum. Das ist der Unterschied, den McTaggart übersehen hat. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Grund für die Auszeichnung der jeweils gegenwärtigen Gegenwart als Maßgabe für die Verteilung der Zeitmodi nicht in der Datierung besteht, d. h. in der Verknüpfung dieser Gegenwart mit einer Stelle in der Früher-Später-Ordnung der Lagezeit der modalen Lagezeit. Brutus ist nicht etwa deshalb gegenwärtig, weil er am 175 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Aporien der Zeit

15. März 44 v. Chr. gegenwärtig ist. Diese Ereignisse im gegenwärtigen Jahr 2013 n. Chr. sind nicht deshalb vergangen, weil sie im Jahr 200000 n. Chr. vergangen sind. Jedes Datum hätte in der Lagezeit gleichen Anspruch darauf, gegenwärtig zu sein, wenn nicht die Modalzeit den Ausschlag gäbe. Die Relativierung der Gegenwart auf Gegenwart zu einer Zeit liefert keine Angabe über Zeitmodi, sondern nur eine Einordnung in die Lagezeit. Kein Datum kann sich zum gegenwärtigen qualifizieren; es trifft sich nur zufällig so, dass die zeitliche Gegenwart der reinen Modalzeit, in der modalen Lagezeit verkleidet zur gegenwärtigen Gegenwart, gerade auf dieses Datum fällt.

4.3 Die Aporie der Erinnerung Die Auflösung der Aporie von McTaggart hat ergeben, dass zwar ein vergangenes Ereignis mit einem gegenwärtigen (nämlich dem, was es einmal war) strikt identisch ist, man aber trotzdem irrt, wenn man sagt, dieses Ereignis sei sowohl gegenwärtig als auch vergangen, es existiere und existiere nicht mehr; die Identität ist zu schwach, um eine logische Konjunktion zweier untereinander unverträglicher Existenz-Inductiva zu tragen. Diese Lösung befriedigt aber nicht ganz, wenn es sich um Gegenwärtigkeit handelt. Diese ist kein bloßes Existenz-Inductivum von gleichem Rang wie z. B. die Wahrheit affirmativer Existenzbehauptungen, sondern die Spur des Geschehens der primitiven Gegenwart in der modalen Lagezeit. Es handelt sich um die Urform des Geschehens, dass – populär gesprochen – etwas passiert, etwas los ist, genauer gesagt: dass Neues ankommt, mit seinem Andrang Gegenwart exponiert und Dauer ins Nichtmehrsein (Vorbeisein) verabschiedet. Vergangenheit ist nur ein Schatten solcher Gegenwart. In ihr geschieht nichts. Der zweite Weltkrieg ist vorbei. Man kann nicht mehr die Schlachten von damals schlagen und das entsetzliche Elend erdulden, das mit ihnen und anderen Schrecknissen jener Zeit verbunden war. 176 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Aporie der Erinnerung

Das liegt nicht nur daran, dass die modale Lagezeit seither zu einem späteren Datum weitergerückt ist, sondern an der Vergangenheit als einem Milieu, das für Geschehen unempfänglich ist. Aber gerade an dieses Geschehen erinnert man sich doch. In der Erinnerung kann es gleichsam wieder lebendig werden. Deshalb fällt der Erzähler aus dem Präteritum gern ins historische Präsens. Die Erinnerung muss also den Schritt tun, der gemäß der Auflösung der Aporie von McTaggart verboten ist: Sie muss Vergangenheitlichkeit und Gegenwärtigkeit kombinieren; sie muss etwas in seiner vollen Gegenwärtigkeit als Gegenwärtiges nehmen, das dennoch vergangen ist. Das ist unmöglich. Nichts kann sein und nicht sein, gegenwärtig und vergangen sein. Erinnerung ist unmöglich. Niemand kann sich je an irgend etwas erinnern. Aber das stimmt doch nicht. Wir erinnern uns ständig. Dieser Widerspruch ist die Aporie der Erinnerung. Dieser Widerspruch gleicht vom Typ her den Antinomien der Logik und der Mengenlehre, die kurz nach 1900 die sogenannte Grundlagenkrise der Mathematik ausgelöst haben und damals leidenschaftlich diskutiert worden sind. Ich habe in meinem Buch Kritische Grundlegung der Mathematik 1 einen Weg aufgezeigt, sich mit diesen Antinomien, ohne sie wegzudeuten oder ihre Aufstellung zu umgehen, logisch zu befreunden, indem man den Widerspruch als Zwiespalt auffasst und darauf zurückführt, dass man nicht darauf gefasst war, dass Zwiespältiges in der Natur der Dinge tatsächlich und dann natürlich widerspruchsfrei vorkommt. Ein Zwiespalt unterscheidet sich von einem Widerspruch (des Typs a ^ : a für beliebige Behauptungen a) dadurch, dass die kontradiktorischen Gegenteile in absolut unspaltbarem Verhältnis zusammenhängen, so dass die gerichteten Beziehungen, kontradiktorisch entgegengesetzt zu sein, nicht aus dem Verhältnis befreit werden können. Als Musterbeispiel dient mir die Figur der Husserl’schen Puppe. Husserl fiel im Panoptikum auf eine täuschend als Frau nachgestellte Wachsfigur herein; als er merkte, dass daran etwas nicht stimmte, kam er nicht gleich zu dem richtigen Ergebnis, sondern sah 177 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Aporien der Zeit

für einige Sekunden eine Erscheinung, in der sich Frau und Puppe zwiespältig mischten oder überlagerten. Das brauchte man nicht weiter ernst zu nehmen, da sich die Illusion schnell auflöst; dieselbe Struktur des Zwiespalts kehrt aber permanent in einem Zusammenhang wieder, der für jeden Menschen äußerst wichtig sein muss, weil es sich um ihn selbst handelt. Jeder Mensch macht, allein schon dadurch, dass er etwas lernt, verschiedene Phasen seines Lebens durch, in denen er jeweils ein anderer Mensch (weil mit anderen Attributen, s. o. 1.2) ist, z. B. mit anderem Kenntnisstand, und auch sonst so anders, dass man den Greis im Säugling kaum wiedererkennen könnte. Dennoch ist er immer derselbe Mensch. Hinsichtlich seiner Vergangenheit könnte er sich freilich täuschen; aber niemand wird sich durch die Einrede, künftig sei nicht mehr er selbst, sondern statt seiner ein Anderer, davon abhalten lassen, bei ausbrechendem Feuer vor dem Flammentod zu fliehen. 108 So tief ist die Überzeugung von eigener Dauer über die Zeit hin verwurzelt, dass Wegdeutungsversuche im Ernstfall nicht ernst genommen werden. Wer sie nicht teilt, kann nicht vorgeben, glaubhaft als Wissenschaftler aufzutreten (3.2). Zwischen der Identität des personalen Menschen über die Zeit hin und der Verschiedenheit der »Phasenmenschen«, die er dabei durchläuft, besteht ein gleicher Zwiespalt wie im Fall der logischen Antinomien oder in der Erinnerung, die ihren Gegenstand zugleich als gegenwärtig und als vergangen meint. Um dieser Sachlage gerecht zu werden und Zwiespälte auch formal auffangen zu können, habe ich die Aussagenlogik durch einen Formalismus der iterierten Unentschiedenheit erweitert und nachgewiesen, dass der bezifferte Grad der Unentschiedenheit bis zur kleinsten transfiniten Ordnungszahl vorgetrieben werden muss, wenn der Widerspruch verschwinden soll. 154 Danach kann der Widerspruch als bloßer Ausfluss der Weigerung, Zwiespalt als real anzuerkennen, abgetan werden. 154

wie Anmerkung 1, S. 123–132

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Die Aporie des Ankommens der Gegenwart

4.4 Die Aporie des Ankommens der Gegenwart Der Fluss der Zeit besteht darin, dass die Vergangenheit wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt. In der reinen Modalzeit kommt er ohne Einzelheit aus. Der Andrang des Neuen, die Appräsenz als Zukunft in unspaltbarem Verhältnis mit Gegenwart, drückt, sich entladend, neuen Inhalt in diese hinein, indem er sie exponiert, d. h. aus der Dauer reißt und die so zerrissene Dauer ins Nichtmehrsein der wachsenden Vergangenheit entgleiten lässt. In der reinen Modalzeit gibt es nur diese Gegenwart als absolut identische. In der modalen Lagezeit kommt zur absoluten Identität Einzelheit hinzu. Der Fluss der Zeit durchläuft einzelne Stationen, die vergangene oder zukünftige Gegenwarten sind, je nach dem, ob seine Richtung progressiv oder regressiv ist. Die Gegenwart wird relativiert, als Gegenwart unter Gegenwarten; sie behält nur noch die tautologische Auszeichnung als die gegenwärtige Gegenwart. Alle Gegenwarten sind datiert und dadurch in der Skala der Lagezeit nivelliert; dennoch ragt die eigentliche Gegenwart als die gegenwärtige hervor. Durch diesen Gegensatz von Nivellierung und Auszeichnung entsteht eine Zweideutigkeit. Der Fluss der Zeit wird zu einer Art von Reise, die viele Stationen durchläuft. Das Bild der Reise ist aber schief. Jede Reise braucht einen Weg; die Gegenwart an der Spitze des Flusses der Zeit verzehrt aber ihren eigenen Weg, sobald sie sich auf den Weg macht, denn ihre Reise besteht darin, dass das vergeht, was sie durchläuft. Sie kommt also nicht über den Anfang hinaus. Wo, d. h. hier wann, kommt sie an? Offenbar immer jetzt, bei der Gegenwart. Die Gegenwart kommt bei der Gegenwart (der gegenwärtigen) an, bei sich selbst. Bei sich selbst anzukommen, ist aber keine Reise. Das Reiseziel muss vom Reisenden verschieden sein. Der Fluss der Zeit krankt in der modalen Lagezeit an einer Unstimmigkeit, die auf die Zweideutigkeit von Nivellierung und Auszeichnung der Gegenwart zurückgeht. Einerseits ist die Gegenwart eine unter vielen, die durch gleichmäßige Datierung 179 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Aporien der Zeit

in der Lagezeit eingeebnet sind. Dazu passt das Bild einer Reise, auf der die Gegenwärtigkeit gleichmäßig viele Stationen durchläuft. Andererseits ist die Gegenwart nur einmal da, nämlich jetzt. Dieses Doppelgesicht ist Schopenhauer aufgefallen. In seinen früheren handschriftlichen Notizen steht: »Bisweilen wieder drängt sich mir ein Verwundern über die Gegenwart auf und die Frage: warum ist dieses Jetzt denn gerade jetzt?« 155 »Dieses Jetzt« ist das Jetzt auf der Reise, das gerade ans Ziel gelangt. Man sollte annehmen, dass das Reiseziel vom Reisenden verschieden wäre, aber verblüffenderweise ist es »gerade jetzt«, also bei sich selbst geblieben. Man könnte diesen Doppelsinn als Produkt unnützer Grübelei über ein falsch gewähltes Bild verwerfen, aber dagegen spricht, dass er sich von der Zeit als solcher, die etwas gespensterhaft und schwer zu fassen sein mag, auf alle handgreiflichen und augenscheinlichen Prozesse vererbt, die sämtlich in der modalen Lagezeit ablaufen. In jedem Prozess reihen sich viele Gegenwarten (»gegenwärtige Stände«) des Prozesses an einander, aber nur, um sogleich vorbei zu sein, wenn der Prozess beginnt und weiter geht. »Vorbei« hat hier nicht den räumlichen Sinn, zurückzuliegen, der ihm vom Bild der Zeit als Zeitstrecke in der extensivierten metrischen Lagezeit aufgedrängt wird, sondern den radikaleren Sinn: nicht mehr zu sein. Was nicht mehr ist, kann niemand durchreisen. Um den Fluss der Zeit in die modale Lagezeit zu projizieren, ist also ein Doppelsinn von Gegenwärtigkeit erforderlich, nämlich einerseits nivellierende Gegenwärtigkeit, die viele Gegenwarten gleichmäßig durchläuft, und andererseits auszeichnende Gegenwärtigkeit, die nur einmal vergehen wird. Gegenwärtigkeit steht aber nur einmal, in einer einzigen Fassung, zur Verfügung, nämlich als das Geschehen der primitiven Gegenwart, abgeschwächt weitergereicht durch die reine Modalzeit in die Arthur Schopenhauer: Von ihm über ihn. Ein Wort der Verteidigung von Ernst Otto Lindner und Memorabilien, Briefe und Nachlassstücke von Julius Frauenstädt, Berlin 1863, S. 731

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Die Aporie des Ankommens der Gegenwart

modale Lagezeit. Diese Unstimmigkeit ist ein Indiz für die unter 2.2 bemerkte Tatsache, dass die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt auf der zeitlichen Seite irgendwie verunglückt ist, jedenfalls nicht so gut gelungen wie in den vier anderen Dimensionen. Sie kann aus der Falle des Widerspruchs nur durch den Zwiespalt herausgeführt werden, wie bei der Aporie der Erinnerung: Die Gegenwärtigkeit in der modalen Lagezeit schillert zwiespältig zwischen nivellierender und auszeichnender Gegenwärtigkeit.

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5. Zeit als Geschichte

5.1 Begriff der Geschichte »Geschichte« ist ein Wort mit vielfacher Verwendung. Geschichten werden erzählt, und was erzählt wird, ist eine Geschichte, auch wenn es sich um Anekdoten, Schwänke, Märchen handelt, einfache Formen im Sinn von Jolles. 156 Andererseits gibt es Naturgeschichten, zu denen keine menschlichen Mitspieler gehören, wie die Erdgeschichte oder die Geschichte der Ausbreitung einer Tierart, und Kulturgeschichten, in denen die Menschen unter den Produkten verschwinden, wie die Geschichte der Sprachen oder einer Sprache oder die Geschichte der prähistorischen Keramik. Das ist jetzt nicht gemeint. Ich spreche jetzt nur von Geschichte, die ein besonderes Gewicht, einen eigentümlichen Ernst dadurch besitzt, dass menschliche Schicksale ihren Kern bilden. Ein menschliches Schicksal, noch ganz vage und volkstümlich gesprochen, liegt vor, wenn einem Menschen nachhaltig etwas nahe geht, auf das er gestoßen wird, so dass er nicht ganz leicht damit fertig wird. Um dieses vage und metaphorische Vorverständnis zu präzisieren, greife ich auf die Ausführungen unter 2.2 über die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt auf der Ich-Seite aus dem präpersonalen Leben aus primitiver Gegenwart zurück. Ich setze voraus, dass der Mensch im Zuge von Vereinzelung und Neutralisierung durch Selbstzuschreibung zu einer Person mit eigener zuständlicher persönlicher Situation (Persönlichkeit) geworden ist. Eine Umgestaltung der persönlichen Situation, wobei sich einer sie umgestaltenden Explikation durch personale Regression – 156

André Jolles, Einfache Formen, Tübingen 1930, 4. Auflage 1968

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Begriff der Geschichte

z. B. Schreck, Erschütterung, Konfrontation mit Überraschungen –, in der sich etwas herausstellt, eine Implikation in der Erinnerung als einheilende Verarbeitung des Explizierten anschließt, bezeichne ich als persönliches Schicksal. Als Geschichte im hier gemeinten prägnanten Sinn bezeichne ich eine Umgestaltung von Situationen (1.3) unter dem Einfluss der Auseinandersetzung von Menschen mit Sachverhalten, Programmen und Problemen, die aus jenen Situationen hervortreten, sofern an dieser Umgestaltung persönliche Schicksale beteiligt sind. Geschichten in diesem Sinn können in vielfacher Schachtelung andere Geschichten umfassen; dazu gehört ebenso die Weltgeschichte wie die Geschichte eines Staatensystems, eines Krieges, einer Familie, die Lebensgeschichte eines Menschen,157 die Geschichte einer Jugend usw. Bei Spezialgeschichten von Kulturformationen, wie Kunstgeschichte, Philosophiegeschichte, Geschichte der Technik usw., wird es nicht immer leicht sein und auf die Behandlung ankommen, um zu entscheiden, ob es sich um Geschichte in diesem Sinn handelt; die Geschichte der indogermanischen und germanischen Lautverschiebungen gehört sicher nicht dazu. Unter 1.3 habe ich gezeigt, dass Menschen aus Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit schöpfen müssen, um Einzelnes bewusst zu haben. Das Denken im weitesten Sinn, alles, was Menschen hilft, sich in der Welt zurechtzufinden, kann sich nie von diesem Mutterboden lösen, nie als Umgang bloß mit Einzelnem und dessen Vernetzung selbständig machen. Auch der Stoff der Geschichte besteht aus Situationen, die von Menschen explizierend und Netze einzelner Knoten (Konstellationen) bildend bearbeitet werden. Die Situationen bilden ein Geflecht oder Geschiebe, in dem aktuelle Situationen sich mit zuständlichen mischen, von denen sie durchdrungen, in die sie eingebettet sind. Der Zusammenhang der Geschichte wird einerseits durch diese Hermann Schmitz, System der Philosophie Band IV, Bonn 1980, in Studienausgabe 2005, S. 496–501: Die Lebensgeschichte

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Zeit als Geschichte

Einbettung hergestellt, weil die zuständlichen Situationen für kurzfristige Veränderungen unempfänglich sind und zwar abreißen können, sich aber nur unauffällig ändern. Ein Zusammenhang anderer Art entsteht in den aktuellen Situationen selbst durch den Fluss der modalen Lagezeit, der unablässig offene Zukunft in geschlossene, zukünftig gewesene verwandelt. Dadurch werden die aktuellen Situationen zur beständigen Anpassung genötigt, hauptsächlich ihrer prospektiven Anteile in Gestalt willkürlicher und unwillkürlicher Erwartungen, einschneidend aber auch in die übrige Bedeutsamkeit. Der geschichtliche Zusammenhang besteht also teils in Trägheit (der zuständlichen Situationen), teils in Anpassung (der aktuellen Situationen an den Wandel des Typs der Zukunft). Die ursprünglichen Entscheidungen trifft der Fluss der Zeit mit dem Andrang des Neuen; die Entscheidungen der Menschen sind Anpassungsreaktionen. Keineswegs ist der geschichtliche Zusammenhang das Werk leitender Themen, denn Themen sind einzeln, während die Bedeutsamkeit der Situationen binnendiffus ist. Freilich können Themen wie rote Fäden den Gang der Geschichte durchziehen, aber ihr Anteil am geschichtlichen Zusammenhang ist akzidentell, wenn auch oft auffällig und interessant. Erst recht gibt es kein Leitthema, das der Geschichte im Ganzen Zusammenhang verschaffen könnte. Sinn und Ziel der Geschichte gibt es so wenig wie Sinn und Ziel der Natur. Die Menschen geraten in die Situationen, die Geschichte bilden, so hinein, wie sie in die Natur hineingeraten, und versuchen das ihnen Gegebene umzugestalten, ohne der Natur oder der Geschichte ein Ziel verleihen zu können. Statt eines Zieles sollte man ein mögliches Ende der Geschichte ins Auge fassen, wenn die menschliche Gestaltungskraft den Situationen nicht mehr gewachsen ist oder feiert. 158 Diese Auffassung von Geschichte als jedem Betrachter vorliegender, wenn auch nicht von durchlaufenden Themen geord158

Martin Meyer, Ende der Geschichte?, München 1993

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Begriff der Geschichte

neter Zusammenhang stößt auf den Widerstand einer modischen, lautstark vertretenen Tendenz, Geschichte in Erzählung verschwinden zu lassen; krass formuliert Kurt Röttgers: »Die historischen Tatsachen ›gibt‹ es nur in den Texten des Geschichtserzählers, die sich als Reflexion auf sie beziehen. (…) Noch etwas deutlicher, ich meine nicht nur, dass die historischen Tatsachen nur über den Text zu erschließen wären, in Wirklichkeit aber ›hinter‹ ihnen lägen, sondern ich behaupte: die Tatsachen sind im Text und nirgendwo sonst.«159 Einflussreicher war das Buch des verstorbenen Michael Baumgartner. 160 Er bestreitet Geschichte als Prozess161 und formuliert seine Gegendefinition gleich als These 162, so dass es unmöglich wird, seine Aufstellungen an seinem Begriff zu prüfen. 163 Die Auffassung, dass die Geschichte selbst durch eine »narrative Organisation« des Erzählers entstehe, ist unhaltbar, weil sich Erzählungen nur auf das Vergangene beziehen können, während Geschichte bruchlos aus der Vergangenheit in die Zukunft weiterläuft, dem Historiker also nur in einem durch seinen Standpunkt bedingten Ausschnitt zugänglich ist. Ein Beispiel aus der LebensKurt Röttgers, Die Lineatur der Geschichte, Amsterdam 1998, S. 46. Die These »Geschichtliche Tatsachen sind Erzählungen von geschichtlichen Tatsachen« führt bei Entfaltung durch Einsetzung zu dem unendlichen progressus: »Geschichtliche Tatsachen sind Erzählungen von Erzählungen von Erzählungen von …« usw. Er lässt sich in einen Kreis umbiegen; dann wären geschichtliche Tatsachen ein Zyklus unaufhörlich sich wiederholender Erzählungen. 160 Hans Michael Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, Frankfurt a. M. 1972 161 ebd. S. 253: Geschichte ist »überhaupt nicht als Prozess zu begreifen, sondern ausschließlich als Bewusstseinsphänomen menschlicher Bewältigung des Vergangenen im Hinblick auf mögliche Sinngebung für heute und morgen.« 162 ebd. S. 282: »Geschichte ist somit retrospektive, narrative Organisation vergangener Ereignisse aus grundlegenden Interessen.« 163 Das Buch scheint mir (außer der großenteils treffenden Kritik an anderen Autoren) hauptsächlich auf die Durchsetzung eines gewünschten Sprachgebrauchs angelegt zu sein. 159

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Zeit als Geschichte

geschichte: Wenn eine Frau ihrem Ehemann, der an ihr hängt, überraschend ihre Absicht erklärt, sich scheiden zu lassen, sagt man, die Szene habe in dessen Leben Geschichte gemacht. Er ist erschrocken und entsetzt; diese gegenwärtige Geschichte ist für ihn noch nicht erzählbar, aber sie wirft einen Schatten auf sein künftiges Leben, geht also in seine zukünftige Geschichte ein. Baumgartner scheint zu seiner Übertreibung der Rolle der Erzählung für die Geschichte dadurch verführt worden zu sein, dass er geschichtlichen Zusammenhang nur als thematischen unter einem das Erzählen jeweils leitenden Gesichtspunkt gelten lässt, 164 nicht als Geschiebe von Situationen im Fluss der Zeit; er ist blind für Situationen, die von sich aus einen Zusammenhang stiften, der beim Abreißen deutlich wird, wie in der Sicht des alten Goethe auf das herankommende Zeitalter der Technik und Demokratie, wenn er seinem Freund Zelter schreibt: »Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende, praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind. Lass uns so viel wie möglich an der Gesinnung halten, in der wir herankamen; wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die Letzten sein einer Epoche, die so bald nicht wiederkehrt.« 165 Der ontologische Fehler Baumgartners, wie aller Kantianer als Erben Kants 166, darunter des ähnlich wie Baumgartner argumentierenden Heinrich Rickert, 167 besteht im Singularismus; er hält das Gegebene für lauter einzelne Episoden, die durch Erzählungen verknüpft werden müssen, um einen geschichtlichen Zusamebd. S. 304 Goethe an Zelter, 6. Juni 1825 (?), Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, 4. Abteilung, Band 39, Weimar 1907, S. 216 166 Über Kants Singularismus: Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie Band 2, Freiburg/München 2007, S. 323–326 167 Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 2 Bände, Freiburg/Leipzig 1896–1902, 5. Auflage Tübingen 1929; Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 4. Auflage Tübingen 1921 164 165

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Die Aufgabe des Historikers

menhang zu ergeben, und ignoriert die Voraussetzungen der Einzelheit (1.2; 1.3). Der Zusammenhang zwischen Geschichte und Erzählung wird durch die Figur des Historikers, der Geschichte erzählt, hergestellt. Was ihn von seinem Gegenstand, dem erlebenden Menschen, unterscheidet, ist seine Perspektive, in der die Zukunft, die für diesen offen war, zur geschlossenen Zukunft geworden ist. Der Historiker weiß mehr oder weniger, was damals noch nicht war, während sein Gegenstand dieses Nochnichtseiende aus dem Überschuss ambivalenter Möglichkeiten in der offenen Zukunft nicht herausholen konnte. Der erlebende Mensch lebt in der exponierten Gegenwart der Modalzeit der modalen Lagezeit zwischen einer ins Nichtmehrsein entgleitenden Vergangenheit und einer offenen Zukunft. Der Historiker sieht ihn in einer zum Datum unter lauter Daten der Lagezeit einer modalen Lagezeit nivellierten, nicht mehr exponierten Gegenwart. Daher kann er sein Objekt an einer Stelle in der Lagezeit von der Vergangenheit her einholen und über diese Stelle in eine inzwischen geschlossene Zukunft hinausführen. Dieses Erzählprivileg, das der Historiker den Menschen, deren Geschichte er erzählt, voraus hat, hat aber nichts mit einem Fabulierprivileg zu tun, das ihn in die Nähe des Romanciers oder Novellisten versetzen würde. Dieser kann frei entwerfen, während der Historiker, auch wenn er einen auslesenden Leitfaden oder Gesichtspunkt seiner Darstellung wählt, an die geschichtlichen Tatsachen einschließlich der vorgegebenen Zusammenhänge in einer gleichmäßig fortschreitenden Lagezeit gebunden bleibt.

5.2 Die Aufgabe des Historikers Das Vertrauen in die Möglichkeit historischer Erkenntnis wird seit Jahrzehnten vom hermeneutischen Relativismus erschüttert, der die Möglichkeit bestreitet, den Autor eines Textes hinsichtlich dessen, was er sagen wollte, zu verstehen, weder so, wie 187 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Zeit als Geschichte

dieser seinen Text verstanden wissen wollte, noch gar besser als er. 168 Dieser Relativismus lässt sich vor solchen Texten wie technischen Gebrauchsanweisungen, medizinischen, mathematischen und chemischen Texten nicht halten; auch könnte die relativistische Skepsis, konsequent angewandt, vor mündlicher Rede nicht Halt machen und würde alles Vertrauen auf Verständigung unter Menschen zerstören. Im Recht ist sie aber gegen eine psychologische Theorie, die das Verstehen auf Einfühlung gründen will. Einfühlung gibt kein Kriterium für Richtigkeit des Verstehens her. Vielmehr krankt der hermeneutische Relativismus am Vorurteil des Singularismus, dass der Wahrnehmung primär einzelne Sachen begegneten, denen die Bedeutsamkeit durch Sachverhalte, Programme und Probleme nachträglich aufgeprägt werden müsse, wobei der Interpret mehr oder weniger frei sei, welche Bedeutungen er hineinlegt. In der Tat ist Wahrnehmung aber von vorn herein Wahrnehmung von Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit. Das gilt sogar für die Wahrnehmung von Texten, deren Sinn man nicht versteht, weil man die Sprache nicht kennt. Sobald man sie aber kennt, begegnet der Text in einer Situation, aus deren binnendiffuser Bedeutsamkeit hervor der Autor absichtlich oder unabsichtlich – eventuell gegen seine Absicht – zu verstehen gibt, was er meint. Diese Vorgabe kann täuschen, aber nun beginnt die kritische Arbeit, die Situation hypothetisch zu explizieren und die explizierten Hypothesen an Indizien im Text oder seinem Umfeld auf die Probe zu stellen, jedem Anzeichen eines Irrtums nachgehend, ebenso wie bestätigenden Explikaten. Wenn sich dabei ein harmonisches Gefüge bestätigter Vermutungen ergibt, darf das Verstehen bis zum Erweis des Gegenteils als gelungen gelten. Ein endgültiger Nachweis seiner Richtigkeit ist nicht möglich. Das ist aber nicht anders bei allem zwischenmenschlichen Verstehen, auch dem nichtsprachlichen, z. B. von Gesicht, Stimme, Haltung Till Kinzel, Wahrheit ohne Methode. Hermeneutischer Relativismus als Herausforderung, in: Philotheos Band 12, Belgrad 2012, S. 3–16

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Die Aufgabe des Historikers

und Gang. Überdies gibt es zwischen Textsorten große Unterschiede in der Möglichkeit zutreffend verstehender Auslegung. Für mathematische und technische Texte ist sie bei hinlänglicher Könnerschaft nicht schwer, äußerst schwierig aber angesichts von Dichtungen. Das liegt daran, dass Dichtungen durch einen hinlänglich dünnen Schleier explizit gesagter Sachverhalte, Programme und Probleme ganze Situationen in ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit durchscheinen lassen und nur um dieser Vermittlung willen Dichtungen sind. Das Hervorziehen explizierender Deutungen ist in Gefahr, diese vermittelnde Leistung zu zerstören. 169 Der Historiker, der einen Vorgang erzählt, hat die Aufgabe der Erklärung durch Verstehen und Verständlichmachen, die er so erfüllt: Er rekonstruiert aus einzelnen Dokumenten eine aktuelle Situation der Beteiligten einschließlich der darin verwobenen zuständlichen Situationen (z. B. Persönlichkeiten, Standpunkte, Konventionen, Gesinnungen, Fassungen, Zu- und Abneigungen); es kann sich auch um mehrere aktuelle Situationen handeln. Alle den Dokumenten entnommenen Einzelheiten sollen in die Rekonstruktion stimmig passen. Am Zusammentreffen mehrerer Situationen oder innerhalb einer einzelnen entdeckt der Historiker eine Herausforderung in Gestalt von Enttäuschung oder Überraschung, die die Beteiligten zur Anpassung oder Umorientierung zwingt. Aus dem Rekonstruierten greift er die Faktoren heraus, von denen er annimmt, dass die Beteiligten damit auf die Herausforderung reagieren. Sodann sucht er nach einer durch diese Reaktionen, einschließlich des Einwirkens äußerer Umstände, sich bildenden aktuellen, wiederum mit zuständlichen Situationen beladenen Situation. Dabei hat er Erfolg, wenn es ihm gelingt, die den Dokumenten glaubwürdig entnehmbaren Einzelheiten in ein stimmiges, d. h. den Ein warnendes Beispiel sind Heideggers Versuche, das Ungesagte von Dichtungen zu sagen, vgl. Walter Muschg, Die Zerstörung der deutschen Literatur, 3. Auflage Bern 1958, S. 214–230: Zerschwatzte Dichtung.

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Ansprüchen auf Zusammenhalt und Abgehobenheit einer Situation genügendes Ganzes, das auch in mehreren Situationen bestehen kann, zusammenzufassen. Ständig arbeitet er mit intuitiven Kausalzuschreibungen, ohne sich auf hypothetische Naturgesetze zu stützen. Dazu hat er keine Gelegenheit, weil naturgesetzliche Regeln immer nur einzelne Faktoren zu Konstellationen verknüpfen. Der Historiker hat aber mit Situationen voller binnendiffuser Bedeutsamkeit zu tun. Ihnen kann er nur mit ganzheitlicher Intuition, nicht durch erschöpfende Analyse, gerecht werden. Die Intuition ist der Anteil des poetischen, d. h. durch die Zergliederung hindurch ein Ganzes unangetastet zum Vorschein bringenden Verstehens, das zusammen mit der analytischen Intelligenz dem Historiker unerlässlich ist, damit er sich nicht in der Illusion wiegt, die Situationen, die sein Thema sind, bis auf den Grund durchschaut zu haben, aber vor ihnen auch nicht resignierend die Hände in den Schoß legt. Ich habe gezeigt, dass die sogenannten Naturgesetze der Physik und Chemie, soweit ihre Geltung empirisch begründet werden kann, nur provisorische Regeln sind, die der Prognose bis zu einem unbestimmt nah oder weit von der Gegenwart entfernten Zeitpunkt der Zukunft vorleuchten und ohne logisch ausreichende Begründung über die vorläufige Bewährung hinaus zu allgemeinen Naturgesetzen aufgebläht werden, mit deren Hilfe es gelingt, der menschlichen Neugierde durch mannigfache Erklärungen beobachteter Tatsachen aus Annahmen über Vergangenheit und Gegenwart mit einer durch enormen Aufwand an Scharfsinn und Sorgfalt erzielten hohen Plausibilität zu schmeicheln. 170 Wenn es solche provisorischen Regeln über menschliches Verhalten gibt, sind sie relativ banal nach Art der antiken Sprüche der sieben Weisen und werden von den Historikern auch weit und breit benützt. Sie eignen sich aber nicht für die Aufblähung zu allgemeinen Naturgesetzen. Das liegt an einem Unterschied der Abstraktionsbasen von Natur- und Geisteswis170

Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, Freiburg 2010, S. 50–59

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senschaften. Die Abstraktionsbasis der Naturwissenschaft, bestehend aus dem zur Bewährung oder Entkräftung von Hypothesen herangezogenen Material beobachteter Merkmale, ist reduziert auf bequem intermomentan und intersubjektiv identifizierbare, messbare und selektiv variierbare, daher für Statistik und Experiment taugliche Merkmalsorten; die selektive Variierbarkeit erlaubt die Herstellung standardisierter Zusammenhänge, während die Messbarkeit Gelegenheit zur Anwendung der Statistik gibt. Die geisteswissenschaftliche Arbeit verbietet solche Reduktion schon deshalb, weil sie mit sinnvollen Reden zu tun hat, deren Sinn sich nicht so glatt identifizieren, messen und selektiv variieren lässt wie die naturwissenschaftlichen Merkmalsorten. Daher kann sie von der Grundgegebenheit der menschlichen Lebenserfahrung, den in einander verschränkten aktuellen und zuständlichen Situationen, nicht abgehen. Was die historische Erklärung für die Anwendung des HempelOppenheim-Schemas hypothetisch-deduktiver Erklärung untauglich macht, ist weniger die Unbrauchbarkeit der ersten Prämisse, des allgemeinen Gesetzes, als die der zweiten, singulären. Diese muss einzelne Vorkommnisse betreffen. Zwar knüpft der Historiker an solche an, um andere einzelne Ereignisse zu erklären, aber er darf diese nicht so isolieren, dass sie in die zweite Prämisse eingehen, sondern muss sie in die binnendiffuse Bedeutsamkeit aktueller und zuständlicher Situationen einbinden. Sein Erklären ist daher ein entwickelndes Erzählen, das an Hand einzelner Sachverhalte, Programme und Probleme, wie der Dichter, Situationen vergegenwärtigt und an Hand empirisch plausibler Regelmäßigkeiten in andere Situationen überführt. Wie das geschieht, führt für das entwickelnde Erzählen Rankes Karl Heinz Metz am Beispiel von dessen Schilderung der Schlacht bei Hastings im 1. Band der Englischen Geschichte aus: »Der Leser versteht am Ende sehr wohl, warum es so und nicht anders kam, denn der beschriebene Sachverhalt erscheint als einsehbares Gefüge von Ursachen und Wirkungen und ist aus sich heraus vollkommen erklärbar. Man kann jedoch nicht 191 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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sagen, es gäbe eine Rangfolge von Ursachen. (…) Würde man nur einen der beteiligten Faktoren entfernen, so wären Ablauf wie Ausgang der Ereignisskette wieder grundsätzlich offen, denn da die einzelnen Bestandteile des Gesamtmoments nicht in ihrer Bedeutung für das schließliche Eintreten des Ereignisses meßbar sind und da sich jedes mit einem überdeckenden Gesetz erfassen läßt, müssen möglichst viele davon aufgezählt werden, und zwar möglichst auch solche, die weiter zurückliegen, sofern sie nur relevant erscheinen. Das ist aber nur über ein entwickelndes Erzählen erreichbar.« Und weiter: »Ranke versteht es meisterhaft, mit der Struktur des genetischen Verfahrens umzugehen. Der Ablauf des Geschehens wird in immer kleinere Teile zerlegt, die am Ende fast wie Abschweifungen wirken, sich nach oben zu größeren Gefügen zusammenschließen, bei denen es dann gerade diese scheinbaren Verzettelungen im Kleinen sind, die es erlauben, den ›roten Faden‹ in einigen Worten auszuspinnen.«171 Dass die einzelnen Faktoren nicht in ihrer Bedeutung für das schließliche Eintreten messbar sind, weist auf die Unanwendbarkeit des naturwissenschaftlichen Umgangs mit messbaren, selektiv variierbaren Variablen hin. Ein Historiker wie Ranke muss so viele Wirkfaktoren, auch aus dem Hintergrund des Geschehens, zusammenstellen, dass sich schließlich der Eindruck einer abgerundeten Situation ergibt, die sich nach plausiblen Regeln der Lebenserfahrung in eine andere Situation hinüberwälzt. Ranke bleibt allerdings darin oberflächlich, dass er nur die Umbildung aktueller Situationen erzählt und den hintergründig mitwirkenden zuständlichen Situationen nicht die gebührende Aufmerksamkeit zuwendet. In der Historiographie des 20. Jahrhunderts haben namentlich die Franzosen, unter der Flagge der Zeitschrift Annales, viel dafür getan, diesen Mangel zu beheben, und namentlich die Geschichte des täglichen Lebens sorgfältig in Karl Heinz Metz, Grundformen historiographischen Denkens, München 1979, S. 88 ff.

171

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den Blick genommen. 172 Ein deutscher Historiker hat kürzlich den Versuch unternommen, ein ganzes Jahrhundert als eine Folge zuständlicher Situationen zu porträtieren. 173 Er interessiert sich nicht für »lineare, narrativ (…) darstellbare Abläufe«, sondern für »Übergänge und Transformationen«174 und empfiehlt, damit diese nicht aus dem Blick geraten, »große Ereignisse (…) in die Mitte statt an den Rand von Perioden zu rücken, sie von einer zeitlichen Peripherie her, vom Vorher und Nachher zu betrachten«,175 also unter dem Gesichtspunkt der zuständlichen Situationen, in denen sie sich anbahnen und in die ihre Ausstrahlung einwächst. Die Problematik dieses Unternehmens wird an folgender Bemerkung deutlich: »Epochenschwellen werden nicht durch tiefere Einsicht in einen objektiven ›Sinn‹ von Zeitaltern erkennbar. Sie ergeben sich dadurch, dass zahlreiche feinere Zeitfenster übereinander gelegt werden. Epochenschwellen sind gewissermaßen verdickte Aufschichtungen solcher zarter Trennlinien.« 176 Geschichte im Zeichen zuständlicher Situationen wird für den registrierenden Historiker also zu einem Arrangement von Fäden statt von Stationen der Entwicklung. Für die erlebenden Menschen waren es aber keine Fäden, sondern ein Ganzes, in dem sich aktuelle und zuständliche Situationen durchdringen. Um die geschichtliche Wirklichkeit unter dem Fadengeflecht vernehmbar zu machen, müsste an typischen Einzelfällen in pointierender Scharfeinstellung, und seien es Anekdoten, der Akkord, in dem die linear geführten Ober- und Unterstimmen auf der Partitur vereinigt sind, zum Klingen gebracht werden. in deutscher Übersetzung: Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Der Alltag, München 1985; Philippe Aries, Georges Duby (Hg.), Geschichte des privaten Lebens, 5 Bände, Frankfurt 1989–1993 173 Jürgen Osterhammel, Die verwandelte Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009 174 ebd. S. 86 175 ebd. S. 99 176 ebd. S. 114 f. 172

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Verstehen, ganz allgemein gesprochen, ist kundiger Umgang mit Situationen, entweder praktisches Sichverstehen auf etwas in überlegter Distanz wie beim Demagogen oder in unwillkürlicher Routine bei Mensch und Tier, oder gedankliches Verstehen. Dieses hat, wenn es sich zum Objektivieren, also zu kritisch geprüfter Rechenschaft, erheben will, die Schwierigkeit gegen sich, sich auf einzelne Gegenstände beziehen zu müssen, während nicht alle Bedeutungen in der integrierenden Bedeutsamkeit der Situationen einzeln sind. Diese Schwierigkeit braucht den Erfolg des Objektivierens aber nicht zu vereiteln; die hermeneutische Intelligenz 177 kann sich auch im Objektivieren bewähren und mit »Fingerspitzengefühl«, wenn es darauf ankommt, die gesuchten Bedeutungen, namentlich Sachverhalte als Tatsachen, kundig explizieren. Diese Aufgabe stellt sich dem Nachdenklichen fortwährend im Leben, das Umgang mit und in Situationen ist, deutlich etwa in der Erziehung, wenn eine Mutter ihre Söhne, die sie vor Rätsel stellen, da die eigene Erfahrung aus der Mädchenzeit ihr keinen Schlüssel liefert, zu verstehen sucht, um ihnen gerecht zu werden. Auch das Umgekehrte kann im Generationenverhältnis eintreten, wenn Kinder ernsthaft auf ihre Eltern eingehen wollen. Der Gegenstand ist da, er kann getroffen werden, auch wenn er in eine Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit gehüllt bleibt. Diese Chance kommt dem Historiker beim geschichtlichen Verstehen ebenso zugute wie dem Richter, der den Tatbestand ermitteln will. Ranke, der erkennen möchte, »wie es eigentlich gewesen ist«, hat zu dieser Absicht gleiches Recht wie der Richter, der durch Vernehmung von Zeugen herausfinden möchte, wie es eigentlich gewesen ist. Allerdings hat der Richter einen Vorsprung. Er kann zurückfragen, den Zeugen in einen Dialog verwickeln, ihn mit anderen Zeugen oder Fragern konfrontieren. Der historische Gegenstand ist dagegen für den Historiker nur einmal da, in Gestalt des Quellenmaterials, das nur zufällig durch neue Funde ergänzt wird; das ist nur so, 177

Hermann Schmitz, Bewusstsein, Freiburg 2010, S. 86 f., 90 f.

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wie wenn der Zeuge seine erste Aussage fortsetzte, aber auf Rückfragen stumm bliebe. Der Historiker kann sich in die Quellen vertiefen, ihre Glaubwürdigkeit prüfen, ihnen neue Seiten und Einsichten abgewinnen, aber er kann sie nicht zum Dialog bewegen; sie sind einmal da, und dabei bleibt es. Hans Georg Gadamer ist anderer Meinung. Er will »das hermeneutische Phänomen nach dem Modell des Gesprächs, das zwischen zwei Personen stattfindet, zu betrachten suchen«;178 das ist für das geschichtliche Verstehen der Überlieferung eine falsche Fährte. Im Gespräch zwischen zweien ist jeder der Betroffene; wenn er angegriffen wird, kann er sich verteidigen, und er muss es, wenn das Gespräch nicht erlahmt. Der geschichtliche Gegenstand verteidigt sich nicht; jeder Ansprache hält er genau so stand, wie er in den erhaltenen Dokumenten gegeben ist. Wer aber seinem Gegenüber, das ihm nicht widerspricht, sondern sich ungerührt darbietet, dennoch eine Stimme leihen will, gerät in Abhängigkeit von diesem Partner, denn nur er kann noch von dessen vermeintlicher Stimme betroffen sein; der andere reagiert ja nicht wirklich. Das ist das Schicksal Gadamers beim geschichtlichen Verstehen, von dem er sagt: »Die Hermeneutik im Bereich der Philologie und der historischen Geisteswissenschaften (…) ordnet sich selbst dem beherrschenden Anspruch des Textes unter.« 179 Das ist missverständlich. Einerseits handelt es sich um eine Trivialität: Wer verstehen will, muss sich zurückhalten und geduldig hinhören, damit dem Objekt nicht das Wort abgeschnitten oder verdreht wird. Gadamer aber meint mehr, nämlich Unterordnung als Applikation nach dem Vorbild der juristischen und theologischen, dogmatisch gebundenen Hermeneutik als »Dienstform. Im Dienste dessen, was gelten soll, sind sie Auslegungen, die Applikation einschließen.« 179 Wenn schon von den historischen Geisteswissenschaften Applikation verlangt wird, müsste diese auch die Gestalt der 178 179

Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 360 ebd. S. 295

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Warnung haben dürfen. Das ist nicht Gadamers Meinung. Er ruft zur »Rehabilitierung von Autorität und Tradition« 180 am »Beispiel des Klassischen«181 auf. Er empfiehlt einen »Vorgriff der Vollkommenheit« auf den zu verstehenden Text, d. h. die Erwartung, »dass das, was er sagt, die vollkommene Wahrheit ist«. 182 Das ist eine gute und wichtige Maxime für den ersten Zugang, aber es wäre schlecht für das Verstehen, wenn dadurch die Bereitschaft zu misstrauischer Wachsamkeit gehemmt würde. Die zum objektivierenden Verstehen gehörige Distanzfähigkeit kommt bei Gadamer zu kurz. Er vergleicht das philologischhistorische Verstehen mit einem intimen »Verhältnis zwischen Ich und Du. Wer sich aus der Wechselseitigkeit einer solchen Beziehung herausreflektiert, der verändert die Beziehung und zerstört ihre stille Verbindlichkeit. Genauso zerstört, wer sich aus dem Lebensverhältnis zur Überlieferung herausreflektiert, den wahren Sinn dieser Überlieferung.« 183 Das halte ich für falsch, ebenso beim intimen Verhältnis wie für das geschichtliche Verstehen. Der Mensch als Person ist ja nicht wie das Tier gefangen in Situationen, sondern kann sich durch Explikation und Neutralisierung von Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit »herausreflektieren«, ohne dadurch die Treue zur intimen Bindung oder zur Überlieferung zu verraten oder zu verletzen; denn zwischen totaler Subjektivität und totaler Neutralität von Bedeutungen gibt es Grauzonen, in denen subjektive und neutrale Sachverhalte nicht in einander übergehen müssen, sondern auch parallel geführt werden können. Man kann einen Menschen innig lieben und sich zugleich kühl und sachlich von dessen Schwächen Rechenschaft geben. Die Bindung an die Situation, der die Explikate entnommen sind, kann 180 181 182 183

ebd. S. 261–269 ebd. S. 269–275 ebd. S. 278 ebd. S. 343

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durch die Rechenschaft sogar gefestigt werden. So kann man auch sein Volk und dessen Geschichte als implantierende Situation treu im Herzen bewahren und sich über die dunklen Stellen in dieser Geschichte und die Schwächen des Volkes völlig klar sein. Die für personale Reife wichtige Möglichkeit dieser doppelten Einstellung wird von Gadamer nicht berücksichtigt. Ebenso wenig wie Gadamers Hörigkeit kann die sogenannte Standortgebundenheit der Erkenntnis den Anspruch der Geschichtsschreibung auf Objektivität entkräften. Sie wird heute oft beschworen; Hedinger malt sie übertreibend aus: »Wenn aber alle Situationen individuell sind, der Boden historischer Erkenntnis immer wieder anders ist, (…) – was kann dann sinnvoll ›Objektivität‹ überhaupt noch meinen? Um in dem erwähnten Bilde zu bleiben: es wandeln sich dann nicht nur kontinuierlich Schiff und Ozean, sondern auch die nautischen Instrumente, Seezeichen und Seekarten, ja sogar der Sinn aller kartographischen Zeichen, das ganze geographische und astronomische Koordinatensystem. Dabei ist das Ausmaß der Wandlungen, mangels eines Fixpunktes, gar nicht messbar.« 184 Es handelt sich darum, dass kein Gegenstand einfach durch seine bloße absolute Identität, als dieser und kein anderer, einzeln ist, sondern nur als Fall einer Gattung, die als Bedeutung (Sachverhalt) aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit einer Situation abgerufen werden muss, in einer von dieser Gattung und dieser Situation gefärbten Weise: Einzelnes begegnet immer nur als etwas, im Licht gewisser Voraussetzungen. »Derselbe Wald ist dem Förster, dem Jäger, dem Spaziergänger auch ein anderes ›Milieu‹ ; prinzipiell nicht anders, wie er dem Rehbock ein anderes Milieu ist als dem Menschen und wieder ein anderes der im Wald lebenden Eidechse.« 185 Diese zur Einzelheit gehörige Abhängigkeit von Hans-Walter Hedinger, Subjektivität und Geschichtswissenschaft. Grundzüge einer Historik, Berlin 1969, S. 516 185 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Auflage Bern 1954, S. 162. Scheler irrt gründlich, wenn er den Menschen 184

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einer Perspektive und ihrem Horizont hat zwar großen Einfluss auf die Gewichtung und Bewertung des Einzelnen, ist aber gleichgültig für die bloße Feststellung der Tatsachen, die in der betreffenden Perspektive zum Vorschein kommen. Dabei handelt es sich nämlich um die bloße Unterscheidung zwischen ja und nein, um die Wahl zwischen zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Behauptungen, die beide gleichmäßig in derselben Perspektive zugänglich sind, und dafür braucht deren Rahmen nicht überschritten zu werden. Meister Anton, der in Hebbels Maria Magdalena seine unehelich schwanger gewordene Tochter in den Tod treibt, würde sein Verhalten sicherlich bereuen und die sexuelle Entfaltung der jungen Frau anders sehen, wenn sein kleinbürgerlich enger Horizont sich erweiterte, aber an der Tatsache, dass sie schwanger ist (war), würde sich nichts ändern. In einer anderen Perspektive wird diese Tatsache anders eingeordnet und vielleicht in ganz anderer Weise beschrieben werden, aber dadurch wird die Beschreibung in Antons Perspektive nicht entkräftet. Ebenso kann der Historiker auf die Invarianz der Geltung der in seiner Sicht zutreffenden Tatsachenbehauptungen trotz der Standortgebundenheit dieser Sicht vertrauten, nicht ebenso aber auf die Invarianz der Geltung seiner Gewichtung der Tatsachen. Irreführend ist auch die Rede von einem hermeneutischen Zirkel, in dem das historische Erkennen befangen sei. Ein Zirkel wäre ein logischer Fehler, der den Erkenntnisanspruch entwerten würde. Er liegt z. B. vor, wenn man die totale Bösartigkeit der Nationalsozialisten unter Hitler voraussetzt und damit die Bösartigkeit aller ihrer Handlungen beweisen will, statt zu prüfen, ob nicht auch einmal eine gutartige Handlung vorgekommen ist. Die historische Erkenntnis ist wie jede andere darauf angewiesen, Situationen in Konstellationen zu rekonstruieren und zu diesem Zweck einzelne Bedeutungen aus binnendiffuser Beauf eine Stufe mit dem Tier (»prinzipiell nicht anders«) stellt, als sei jener wie dieses in Situationen gefangen.

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deutsamkeit zu explizieren, Sachen vereinzelnd unter explizierte Bedeutungen zu subsumieren und diese zu Konstellationen zu kombinieren; ob das Ergebnis auf die Situation passt, muss immer wieder durch Rückfragen geprüft werden, und dieses Hin und Her von Annahme und Nachprüfung kann den täuschenden Anschein eines Zirkels erzeugen. Das ist in der Naturwissenschaft nicht anders als in den Geisteswissenschaften, nur mit dem Unterschied, dass diese die Abhängigkeit ihres Erkennens von Situationen als ihrem Gegenstand auf sich nehmen, während die Naturwissenschaft durch Wahl ihrer Abstraktionsbasis die Situationen theoretisch ausschaltet und nur in der Praxis der (z. B. experimentellen) Ausübung und der Anwendung auf sie zurückkommt. Abschließend werfe ich noch einen Blick auf die Historik Hedingers, der den Situationen eine ähnlich große Wichtigkeit für die Geschichte wie ich einräumt, sie aber anders auffasst. Er schreibt: »Primäres Ziel der Historie ist die Erkenntnis der Situation in ihrer unverwechselbaren Einmaligkeit.« 186 Eine Situation »umfasst die natürlichen und sozial-kulturellen Bedingungen, denen ein Ich sich gegenübersieht – gelegentlich auch die persönlichen Umstände (z. B. Temperament, Gesundheit), die es selbst kennzeichnen. Der Situation steht dann ein Wille gegenüber, der zu einem Verhalten drängt« (S. 85). Alle Situationen sind wie geschlossene Monaden mit je eigenen Wesen (147 f.). Alle Lebensläufe, Völker und Epochen lassen sich auf Situationen zurückführen (173). Das Lebensganze wird aus Situationen verstanden, nicht umgekehrt (339). »Jede Situation ist notwendig hierarchisch strukturiert« (294). Diese Struktur wird von einer Strukturdominante reguliert (205, s. 117–119) und »hierarchisch durchgeordnet. Ihr Inhalt hat einen gerade für diese Situation charakteristischen Stellenwert, Funktionswert« (120). Jedoch meint Hedinger auch, das sei wohl nur ein Grenzfall; konsequenter Strukturzusammenhang aller in einer 186

wie Anmerkung 184, S. 303

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Situation vorkommenden Inhalte sei eher die Ausnahme als die Regel (120, 127 f.). Dennoch behauptet er: »Auswahl und Gliederung braucht der um Situationen bemühte Historiker nicht selbst zu vollziehen; dies ist von der geschichtlichen Situation schon geleistet« (267). Wie ich führt Hedinger die Geschichte auf die Wirksamkeit von Situationen, vermittelt durch willentliches menschliches Verhalten, zurück. Damit ist die Übereinstimmung aber auch schon zu Ende. Die Situationen werden von Hedinger atomistisch-additiv und konstellationistisch (als Strukturgefüge) verstanden; damit hängt sein übertriebener Erkenntnisoptimismus zusammen. Er hält objektive Erkenntnis der Geschichte schlicht für möglich. Ihm entgeht die mangelhafte Passung zwischen einem auf Konstellationen, Netzen einzelner Knoten, angewiesenen Erkennen und seinem Gegenstand, den Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit.

5.3 Der Gang der Geschichte Der Gang der Geschichte bildet sich durch Überlagerung des Übergangs offener Zukunft in geschlossene mit dem Übergang, der aus Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit zu Konstellationen durch Vernetzung von Einzelnem und dann wieder zur Implikation des Einzelnen in neue Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit führt. Außer durch natürliche, vom Menschen nicht direkt beeinflusste Kausalität z. B. des Wetters oder Erdbebens wird dieser Gang weitgehend durch menschliches Wollen bestimmt. Das Wollen reagiert auf Herausforderungen, teils durch ambivalente Möglichkeiten der offenen Zukunft, auf die es sich vorgreifend einstellt, teils auf die Umwandlung offener Zukunft in geschlossene, wodurch eine Lage entsteht, mit der man sich tätig oder leidend abfinden muss. Die Reaktion des Wollens auf beide Weisen der Herausforderung wird weitgehend durch die zuständlichen Situationen bestimmt, in die seine aktuelle Situation eingebettet ist. Dabei handelt es 200 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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sich einerseits um die zuständlich persönliche Situation des Wollenden, andererseits um die zuständlichen Situationen, in die diese persönliche Situation sowie in seiner Sicht die aktuelle Situation der Herausforderung eingebettet sind. Wirksam sind diese Situationen durch ihre binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen, die nicht sämtlich einzeln sind. Besonders wirksam ist der Programmgehalt, der Nomos, einer Situation, bestehend aus Normen, Wünschen, lockenden und abstoßenden Anmutungen. Das Wollen ist abhängig von der Führung durch diese Bedeutsamkeiten und ihnen gegenüber nicht originell, d. h. ohne transzendentale Freiheit ursachlosen Anfangens im Sinne von Kant. Die Führung des Wollens durch die Bedeutsamkeiten ist aber oft nicht einstimmig. Schon in sich kann der Nomos einer Situation dissonant sein, etwa durch Konflikte partieller Situationen in der persönlichen Situation. Erst recht können die Nomoi verschiedener zuständlicher Situationen divergieren. Die eigene Leistung des Wollens ist daher primär die intellektuelle des Sichzurechtfindens in den Stimmen – manchmal dem Stimmengewirr – der die aktuelle Situation in seiner Sicht einbettenden Situationen, mit dem Erfolg, dass der Wollende weiß, was er will. Dahin zu gelangen, ist eine mehr oder weniger schwere Aufgabe der Klärung oder Vermittlung, ja mitunter der Diplomatie des Aushandelns unter den einschlägigen Tendenzen. Oft versagt diese Kunst, und dann versagt das Wollen durch Verwirrung oder Zurückhaltung wie bei Hamlet. Wenn aber ein Programm zu Stande kommt, für das der Wollende die ihn führenden Tendenzen der einbettenden Situationen zu gewinnen versteht, ist die erste Phase des Wollens, die Absichtbildung, geschafft. Damit aus der Absicht wirklich ein Wollen wird, muss noch der vitale Antrieb, der den Schwung zur Ausführung zu gehen hat, zur Zuwendung eingewoben werden. Der Antrieb aus Spannung und Schwellung, als konkurrierend in einander greifenden Bewegungssuggestionen der Engung und Weitung, schwingt zunächst nur in sich, wie bei 201 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Zeit als Geschichte

der Atmung; damit er über sich hinausgreift, bedarf er zweier Scharfeinstellungen oder Zuspitzungen: der Auslese von Reizen in der Reizempfänglichkeit und der Fähigkeit, unter den zugelassenen Reizen das Ziel seiner Zuwendung abermals auszulesen. Auf allen drei Ebenen kann die Mitwirkung des vitalen Antriebs beim Wollen gestört sein: durch Schwäche oder Schwerfälligkeit des Antriebs, durch Überflutung der Reizempfänglichkeit mit ungefilterten Reizen und durch Flüchtigkeit und Präzisionsmangel seiner Zuwendung zu empfangenen Reizen. Wenn die Kooperation der Absicht mit dem Antrieb gelingt, ist das Wollen und damit auch schon die Handlung vollständig. Meist gehört zu dieser auch noch eine Körperbewegung, aber es gibt auch Handlungen ohne solche, z. B. Kopfrechnen. Die Absicht und das Wollen können mittelbar (besonders aus der Körperbewegung) erschlossen oder unmittelbar in antagonistischer Einleibung wahrgenommen werden. Ich besinne mich, in der Studentenzeit einen Film gesehen zu haben, in dem der Schauspieler Peter Lorre als Kunde einer als Dirne agierenden Schauspielerin gegenüberstand; es ging um das gewöhnliche Prostituiertengeschäft. Plötzlich blitzte es in den Augen des Kunden auf. Es folgte für einen Sekundenbruchteil Totenstille. Dann sagte die Dirne mit tonloser Stimme: »Also so einer bist du.« Ohne auch nur einen Sekundenbruchteil zu warten, schrie sie schrill um Hilfe. Der Kunde ließ ab. Seine Absicht des Lustmordes war in dem Sekundenbruchteil des Blitzens seiner Augen sinnfällig sichtbar geworden. Wenn die Handlungen mehrerer Wollenden in einer aktuellen Situation zusammentreffen, wird diese umgestaltet. Dabei kann eine weitere Form geschichtlicher Kausalität zum Zuge kommen. Sie besteht im affektiven Betroffensein durch Wendungen, die aktuelle Situationen nehmen, in Erschütterungen (Traumata), die nicht nur leidvoll sein müssen, sondern auch lustvolle Überraschungen sein können, jedenfalls aber beim Betroffenen in einschneidender personaler Regression bestehen. Solche Ereignisse greifen in die die aktuelle Situation einbetten202 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Der Gang der Geschichte

den zuständlichen Situationen ein, mindestens in die persönliche Situation des Betroffenen. Sie setzen in dieser einen Riss, der mehr oder weniger eine Narbe bildet, aber mit dieser in das Ganze der persönlichen Situation einheilt. Exemplarisch für dieses Geschehen ist die Enttäuschung. Erst durch solches Betroffensein in personaler Regression und deren Verarbeitung in der persönlichen Situation gewinnt eine Kette von Ereignissen das Gewicht des Geschichtlichen, sowohl in der Lebensgeschichte eines einzelnen Menschen als auch in der Geschichte von Kollektiven, die solche erschütternden Erfahrungen personaler Regression und ihrer Verarbeitung in gemeinsamen Situationen durchmachen. Zur Geschichte wird eine Ereignisfolge erst, wenn sie mit affektiv eindringlich betroffen machenden Eingriffen menschliche Schicksale gestaltet. Geschichtliche Entwicklungen können aktuelle und zuständliche Situationen, persönliche und gemeinsame, betreffen. Besonders bedeutsam sind sie, wenn sie, von aktuellen Situationen ausgelöst, zuständliche Situationen umstrukturieren. Solche Rückwirkungen aktueller Situationen auf sie tragende und durchdringende zuständliche Situationen werden von Überraschungen und Enttäuschungen ausgelöst. Gemeinsam haben diese, dass die prospektiven Anteile aktueller und/oder zuständlicher Situationen von ihnen in Mitleidenschaft gezogen werden. Diese prospektiven Anteile sind erstens Sachverhalte, teils explizit erwartete, teils Protentionen, d. h. Sachverhalte, die in unwillkürlichem Gefasstsein auf etwas ohne Vereinzelung vorschweben; zweitens Programme, Normen oder Wünsche187, integriert in den Nomos der Situation; drittens Probleme 188, die entweder, wie Sorgen, ausdrücklich vorschweben oder in der binnendiffusen Bedeutsamkeit versteckt wühlen. Das Spezifische der Enttäuschungen besteht darin, dass sie programmatiZu den Begriffen von Norm und Wunsch: Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg 2012, S. 11 188 ebd. S. 12 187

203 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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sche Anteile aus dem Nomos einer Situation, geltende Normen und/oder gehegte Wünsche, durchkreuzen, namentlich wenn durch Entkräftung von Erwartungen oder Protentionen diesen Anteilen der Boden entzogen wird; dann muss der Nomos umgestaltet werden. Das ist eine mehr oder weniger tief greifende Umorientierung der Menschen hinsichtlich dessen, worauf sie aus sind. Überraschungen tasten dagegen entweder den Nomos nicht an oder liegen sozusagen quer zu allen prospektiven Anteilen der Situation, in die sie einbrechen. Es handelt sich dann um etwas, worauf man überhaupt nicht gefasst war, was weder in Sachverhalten noch in Programmen noch in Problemen explizit oder implizit vorweggenommen war. Überraschungen können als fördernd und als störend erfahren werden und in beiden Fällen Anpassungen erzwingen, aber auch einen ganz neuen Horizont für die prospektiven Einstellungen öffnen, wodurch neue aktuelle und zuständliche Situationen geweckt werden. Ein Beispiel solcher Überraschung in der europäischen Geschichte mag die Ankunft der evangelischen Botschaft des Urchristentums z. B. in den Predigten des Paulus gewesen sein; Beispiele von Enttäuschung sind geschichtliche Katastrophen wie die sizilische Expedition der Athener mit ihren Folgen oder die deutsche Katastrophe von 1945. Ein bezeichnendes, durchgängiges Merkmal des Ganges der Geschichte ist seine Unumkehrbarkeit, auf die Hans Werhahn hingewiesen hat. 189 Er deutet den Rhythmus dieses unumkehrbaren Ganges als Ernüchterung (metaphorisch: Säkularisierung) durch Zerbrechen einer Konzeption, also nach Art einer Enttäuschung, die in der Tat ernüchternd wirkt. Das ist zu eng. Ein Hans Werhahn, Das Vorschreiten der Säkularisierung. Erweiterte Neuausgabe (philosophische Dissertation Bonn 1950 mit Anhang später verfasster Aufsätze), Freiburg/München 2012. Werhahn verbindet den Hinweis mit einer Metaphysik, wonach das wirkende Sein als Grund des »ist« mit dem menschlichen Tun auf eine Ent-scheidung, d. h. Zusammenführung (Umkehrung von Entscheidung) von Tun und Wirken und damit auf einen Sinn (des Lebens), der von Verzweiflung abhält, tendiere.

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Prototyp unumkehrbarer Veränderung im Gang der Geschichte ist das Ende der antiken Welt. Sie endet aber nicht mit Ernüchterung durch Zerbrechen einer Konzeption, sondern mit einer ungeheuren Verdichtung phantastischer Hoffnungen und Befürchtungen, metaphysischer und transzendenter Ausschweifungen, schon in der Spätantike. Zerbrechen einer Konzeption, überhaupt Enttäuschung, ist eine wichtige Triebkraft im Gang der Geschichte, aber nicht die Quelle seiner Unumkehrbarkeit. Ich sehe diese vielmehr im Verhältnis von Situation und Explikation mit anschließender Konstruktion von Konstellationen, aus denen wieder Situationen zusammenwachsen. Situationen werden expliziert, indem in satzförmiger Rede einzelne Sachverhalte, Programme und/oder Probleme aus ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit entbunden und zu Konstellationen vernetzt werden. Die Explikation kann nicht rückgängig gemacht werden, weil sich die binnendiffuse Bedeutsamkeit aus einzelnen Bausteinen nicht wieder zusammensetzen lässt; die Rekonstruktion liefert nur Konstellationen, aus denen sich aber neue Situationen bilden, die wieder expliziert werden usw. Den Sprung in die Binnendiffusion der alten Situation kann der Rückbau nie schaffen. Solche Explikation mit unwiderruflichem Vorschreiten geschieht im Leben der Personen und Kulturen ständig, ist gleichsam ihr Lebensatem. Eindringlich stellt sie sich bei Enttäuschungen ein, wenn eine mit implizierter Bedeutsamkeit gefüllte Situation am Widerstand harter Tatsachen zerbricht. Der unumkehrbare Gang der Geschichte findet aber auch andere Wege. Die griechische Welt mit ihrer Religiosität ist keineswegs am Christentum gescheitert, denn Apollon, Artemis, Athene, Aphrodite, Demeter und Kore, Dionysos sind geglückte Konkretisierungen wirkmächtiger Atmosphären und noch heute spürbar, so dass Wilamowitz-Moellendorff sagen durfte: »Die Götter sind da.« 190 Anders haben die gebildeten Griechen seit der Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen, 3. Auflage Darmstadt 1959, S. 11: »Die Götter sind da. Dass wir dies als gegebene

190

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Sophistenzeit meist auch nicht mehr an ihre Götter geglaubt. Vielmehr dürfte die griechische Welt an ihr Ende gekommen sein, weil sie sich so glücklich und reichlich in vielfältigen Äußerungen explizit darstellte und seither aus diesen rekonstruiert werden muss, was, wie gesagt, nicht oder nur unzulänglich und museal gelingen kann. Hätten die Griechen ihr Griechentum schweigend als selbstverständliche Lebensform gelebt, würde sich diese leicht über Jahrtausende erhalten haben, wie die sogenannter Naturvölker. Durch den Wechsel von Situation über Explikation und Konstellation zu neuen Situationen kommt in den Gang der Geschichte ein unumkehrbarer Zug. Was ich bisher über den Gang der Geschichte gesagt habe, klingt so, als wollte ich der Meinung von Rothacker beipflichten, der über »Kulturen als Lebensstile« sagt: »Die Lebensformen (…) sind nachverstehbar aus existentiellen Entscheidungen handelnder Menschen und Gruppen angesichts bestimmter konkreter Lagen.« 191 Oder gar der von Angermeier: »Nur der menschliche Geist ist es also, der Geschichte bewirkt, selbst dann, wenn dieser Geist nicht mehr der Geschichte und der Welt zugeordnet ist, sondern nur noch durch seine Selbstreflexion geschichtsmächtig ist.« 192 Es fehlt aber noch eine ganze Dimension der Kräfte, die den Gang der Geschichte bestimmen. Was Rothacker schreibt, kann so verstanden werden, als sei Geschichte ein Drama, in dem sich Zug und Gegenzug, challenge and response nach Toynbee, abwechseln wie beim Schach, nur dass es nicht um Spiel als Luxus geht, sondern um Leben und Tod wie zwischen Antigone und Kreon. Das Drama der Geschichte hat aber eine Bühne und diese eine Beleuchtung, die sich dem Handeln der Menschen unbeeinflussbar entzieht, aber durch ihren Wechsel als Atmosphäre oder Klima der Geschichte wesentlich mitTatsache mit den Griechen erkennen und anerkennen, ist die erste Bedingung für das Verständnis ihres Glaubens und ihres Kultus.« 191 Erich Rothacker, Geschichtsphilosophie, Münster 1971, S. 70 192 Heinz Angermeier, Geschichte oder Gegenwart. Reflexionen über das Verhältnis von Zeit und Geist, München 1974

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Der Gang der Geschichte

bestimmt, was auf der Bühne geschehen kann. Es handelt sich um die leibliche Disposition. Einen nicht geringen Teil meiner philosophischen Arbeit habe ich der Aufdeckung und Durchforschung der Ausdehnung und Dynamik des spürbaren Leibes gewidmet, der im Gegensatz zum Menschen- und Tierkörper nicht sichtbar und tastbar ist, aber in dessen Gegend von jedem als etwas von sich selbst gespürt wird, etwa in Schreck, Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Wollust, Müdigkeit, Erleichterung, Entzücken, ferner im affektiven Betroffensein von Gefühlen, in der am eigenen Leib auch ohne Zusehen gespürter Motorik, in unumkehrbar aus der Enge in die Weite führenden Richtungen wie dem Blick. Eine zentrale Bedeutung in dieser Dynamik hat der vitale Antrieb aus Spannung und Schwellung, von denen Anteile als privative Engung bzw. privative Weitung abgespalten werden können. Dieser spürbare Leib gibt an die Person, die sich im Zuge der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt auf der Ich-Seite herausbildet, eine leibliche Disposition ab, die die persönliche Situation unterfüttert oder grundiert. Deren wichtigste Dimension ist der vitale Antrieb seiner Stärke und Bindungsform nach. Die Bindungsform ist die Weise, wie Spannung und Schwellung, d. h. Engung und Weitung, in der Verschränkung zusammenhängen. Ich habe die drei Menschentypen nach Kretschmer und Veit (bathmothym, zyklothym und schizothym, d. h. stufenmütig, kreismütig und spaltmütig) auf diese Bindungsform umgedeutet. Beim Bathmothymiker ist der Antrieb kompakt, so dass Spannung und Schwellung zäh an einander haften und nur ruckweise, in Stufen, das Niveau wechseln. Beim Zyklothymiker dominiert die Schwingung des Antriebs zwischen Engung und Weitung. Beim Schizothymiker ist die Bindung so locker, dass privative Engung und privative Weitung leicht abgespalten werden können. Auf die Geschichte wende ich diese Unterscheidungen durch meine Hypothese an, dass der Wechsel ihrer Formationen weitgehend durch den Wandel kollektiver Dispositionen bestimmt wird, die in einer Population dominant, wenn auch keineswegs 207 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Zeit als Geschichte

bei allen Angehörigen zu finden sind. Ich bin durch die Analyse der Entstehung und des Wandels von Kunststilen an Hand eines Leitfadens für die Zuordnung künstlerischer Formen zu Typen leiblicher Dynamik zu dieser Hypothese geführt worden. Auf das Einzelne gehe ich hier nicht ein. Ich habe meine Lehre vom Leib kürzlich knapp und übersichtlich zusammengefasst und dabei auch die Belege, die ich für meine noch entwicklungsfähige Hypothese gesammelt habe, zusammengestellt. 193 Dabei geht es vor allem um die Auswirkungen von Zähigkeit oder Lockerheit der Bindung im vitalen Antrieb. Das Thema ist besonders deshalb wichtig, weil der Leib nicht nur in Gestalt des vitalen Antriebs die Kraftquelle für den Einsatz der Person ist, sondern darüber hinaus der Resonanzboden der Empfänglichkeit für Atmosphären des Gefühls und vielsagende Eindrücke, von der wiederum die Gestaltungskraft abhängt, das formende Schöpfen aus Situationen. Was ich davon im Einzelnen an dieser Stelle heranziehen könnte, wären, wenn es nicht den Rahmen sprengte, oberflächliche Andeutungen. Deshalb begnüge ich mich damit, auf die genannte Darstellung zu verweisen.

5.4 Störungsstellen im Gang der Geschichte Der Gang der Geschichte ist einem Verdauungsvorgang vergleichbar, in Gestalt des Verhältnisses von Situationen und Konstellationen: Menschen geraten in Situationen, erleiden sie und werden ihrer Herr – gleichsam sie verdauend – durch Rekonstruktion und Überholung der Situationen in Konstellationen, die sich im Weiterleben, unter dem Druck des vitalen Antriebs und der Einleibung, wieder zu Situationen auffüllen. Dieser Grundrhythmus der Geschichte kann an zwei Stellen gestört werden: erstens, wenn die Rekonstruktion der Situationen nicht Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 97–112: Leib und Kunst, S. 113–120: Leib und Geschichte

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Störungsstellen im Gang der Geschichte

mehr gelingt, so dass der Mensch ihrer nicht mehr Herr werden, sie nicht mehr in den Griff nehmen kann; zweitens am anderen Ende des Verdauungsvorgangs, wenn der Sprung vom Turm der Konstellationen in das flüssige Element der Situationen nicht mehr gelingt und das Leben sich in der Künstlichkeit seiner Konstrukte verfängt, ohne mehr aus dem Vollen einer binnendiffusen Bedeutsamkeit Neues rekonstruierend und überholend schöpfen zu können. Auf beide Geschichtshindernisse, seien sie schon real oder nur erst potentiell, werde ich nun einen Blick werfen. Das erste Hindernis, das Unvermögen, mit den Situationen durch Nach- und Weiterbau in Konstellationen »fertig« zu werden, scheint schon wie ein Unwetter heraufzuziehen in Gestalt der von Hartmut Rosa als Grundstruktur der Dynamik des modernen Gesellschaftsbetriebs meisterhaft analysierten Beschleunigung.194 Er entdeckt einen »Akzelerationszirkel« (243– 255), wodurch »die Beschleunigung in der Moderne zu einem sich selbst antreibenden Prozess geworden ist« (243), von technischer Beschleunigung, Beschleunigung des sozialen Wandels und Beschleunigung des Lebenstempos. Der technische Fortschritt ist dazu bestimmt, Zeit zu sparen, hat aber den umgekehrten Effekt, weil er die Menschen mit immer neuen Lebensmöglichkeiten konfrontiert. Dadurch driften Erwartungshorizont und Erfahrungsboden aus einander: Es gibt viel mehr zu erwarten als das, worauf man aus Überlieferung und eigener Erfahrung gefasst sein kann. Dadurch werden ständig neue Anpassungen erforderlich, die Zeit wird knapp, und das Lebenstempo muss gesteigert werden, um sich in der Fülle des Angebotenen und Auferlegten zu behaupten. Um diesen Aufgaben gerecht zu werden, wird der technische Fortschritt zu Hilfe gerufen, der ja durch rationellere Methoden und Hilfsmittel Zeit zu sparen geHartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005, danach im Text bloß mit Seitenzahlen angeführt

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stattet, aber den Teufelskreis wieder in Bewegung setzt, mit der Folge weiterer Zeitverknappung, gegen die wiederum nur Technik hilft usw. Rosa fragt, »an welcher Stelle der sich selbst antreibende Beschleunigungszirkel potentiell gestoppt bzw. unterbrochen werden könnte« (252). Die Folgen der technischen Beschleunigung, dass durch Überfüllung mit Neuerungen und daraus sich ergebendem Anpassungsdruck die Zeit, die eigentlich gespart werden sollte, immer knapper und das Lebenstempo entsprechend schneller wird, sind nach seiner Meinung »einer intentionalen Steuerung und Kontrolle gegenüber weitgehend immun«, aber »die technische Antwort auf das Problem sich verknappender Zeitressourcen ist logisch nicht zwingend und scheint intentionalen Eingriffen gegenüber zugänglich« (252). Warum rufen die Menschen immer wieder die Technik zu Hilfe, obwohl sie davon fortgesetzt in zeitliche Bedrängnis gebracht werden? Die marxistische Antwort lautet: Es liegt an der kapitalistischen Wirtschaftsform, die mit der Maxime »Zeit ist Geld« die Menschen peitscht, das Äußerste an Zeit herauszuholen. Dagegen Rosa: »Der kapitalistische Beschleunigungszwang alleine reicht nicht aus, um die beinahe widerstandslose Fortführung des Akzelerationsprozesses auch in den nichttechnischen Beschleunigungsdimensionen zu erklären« (279). Es muss ein anderes, vom Automatismus des Beschleunigungszirkels unabhängiges Motiv geben, das die Menschen dazu treibt. Auch die protestantische, d. h. calvinistische Ethik, der jene Maxime (Benjamin Franklins) entstammt, mit ihrem Einfluss auf den Kapitalismus nach Max Weber und möglichen weiteren diffusen Folgen reicht nicht aus, wie Rosa mit Recht feststellt; ihr Ausstrahlungsradius ist zu eng, um die ausgedehnte Beschleunigung des Lebenstempos, die die Menschen bei der Technik um Hilfe rufen lässt, zu erklären. Vielmehr hält Rosa diese Beschleunigung für die neuzeitliche Antwort auf das Todesproblem (289), weil sich um so mehr Möglichkeiten realisieren lassen, je schneller die einzelnen Stationen durchlaufen werden (291). »Wer unendlich schnell wird, braucht den Tod als Optio210 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Störungsstellen im Gang der Geschichte

nenvernichter nicht mehr zu fürchten; es liegen unendlich viele ›Lebensphasen‹ zwischen ihm und dessen Eintreten« (292). Diese hypothetische Erklärung trennt mich von Rosa. Erstens ist es gar zu unwahrscheinlich, dass die der Beschleunigung verfallene Menschheit durch diese Strategie verführt worden ist, da deren Aussichtslosigkeit allzu offensichtlich ist; das Leben kann zwar schnell, aber nicht unendlich schnell werden. Zweitens gewinnt Rosa seine Belege für den »Gedanken der Optionenausschöpfung« aus Formationen, die vor dem Beschleunigungsexzess liegen, nämlich von Goethe (Faustfigur) und dem »humanistischen Bildungsideal« (290). Drittens und vor allem aber halte ich diese Diagnose der modernen Mentalität, die einige Ähnlichkeit mit Heideggers Deutung des in Gerede, Neugier und Zweideutigkeit befangenen alltäglichen Daseins (des »Man«) als Flucht vor dem Tode hat 195 , für einen Irrtum. Rosa deutet die Triebkraft der Auslieferung an den Beschleunigungszirkel als Erlebnishunger aus latenter Todesangst. Aber die Menschen sind heute nicht besonders erlebnishungrig. Ich gebe dafür folgenden Beleg: Die Pornographie hat sich endemisch ausgebreitet; träfe sie auf gesteigerten Lebenshunger, wäre sie Auslöser einer Epidemie hemmungsloser sexueller Exzesse, aber nichts davon ist der Fall. Die jungen Leute leben unauffällig in Paaren, nur ohne das frühere Ideal lebenslanger Bindung; die Martin Heidegger, Sein und Zeit, Halle a. d. Saale 1927 und öfter, S. 254, und S. 172 über die Neugier: »Sie sucht das Neue nur, um von ihm erneut zu Neuem abzuspringen. (…) Daher ist die Neugier durch ein spezifisches Unverweilen beim Nächsten charakterisiert. Sie sucht daher auch nicht die Muße des betrachtenden Verweilens, sondern Unruhe und Aufregung durch das immer Neue und den Wechsel des Begegnenden.« Das ist die Beschleunigung des Lebenstempos durch Hunger nach Optionen laut Rosa. Ferner S. 424: »Geworfen-verfallend ist das Dasein zunächst und zumeist an das Besorgte verloren. In dieser Verlorenheit bekundet sich die verdeckende Flucht (…) vor dem Tode.« S. 425: »Hier wird nicht etwa die Endlichkeit der Zeit verstanden, sondern umgekehrt, das Besorgen geht darauf aus, von der Zeit, die noch kommt und ›weitergeht‹, möglichst viel zu erraffen«. Das ist genau Rosas Diagnose.

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gefürchtete Aids-Epidemie ist in Europa ausgeblieben. Ich habe eine andere Erklärung. Unter den von mir beschriebenen Verfehlungen des abendländischen Geistes 196 befindet sich die dynamistische Verfehlung, d. h. die Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht, die seit 1600 aus den Händen Gottes in die eigenen Hände der Menschen genommen wird; weiter die konstellationistische Verfehlung, die Welt als ein Netz einzelner Knoten zu deuten; die Verbindung beider Verfehlungen zur dynamistisch-konstellationistischen Verfehlung, wonach die Welt als großes Netz dazu da ist, von Menschen nach Belieben umgeknüpft zu werden; schließlich die ironistische Verfehlung, die sich ab 1790 aus der Verlegenheit ergab, sich in den objektiven Tatsachen der naturalistisch versachlichten Welt (etwa in materialistischer oder humeanischer Deutung) nicht mehr finden zu können und dennoch alle Tatsachen für objektiv zu halten. Fichte zog sich von allen Tatsachen in ein absolutes Ich zurück und, als dessen Absolutheit sich nicht halten ließ, in die zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit schwebende Einbildungskraft. Die Not dieses Schwebens verwandelte Friedrich Schlegel in die Virtuosität der romantischen Ironie als die absolute Wendigkeit, jeden Standpunkt verlassen und jeden einnehmen zu können. Dieser Ironismus wurde im 19. Jahrhundert zur aristokratischen Haltung der Dandys und im 20. Jahrhundert vulgarisiert. Die ironische Wendigkeit hat den Menschen das Rückgrat ihres konsequenten Wollens gebrochen; an die Stelle des Berufs aus Berufung tritt der frei wechselbare Job, an die Stelle des Festhaltens an einem Partner (mit familiären Konsequenzen) die Lebensabschnittspartnerschaft. Auf das ironistisch geschwächte Wollen trifft die Wucht der mit allen Errungenschaften der Technik bewaffneten dynaAdolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 32–82; Jenseits des Naturalismus, Freiburg i. Br. 2010, S. 80–97, 111–130; Von der Verhüllung zur Verstreckung. Der Mensch zwischen Situationen und Konstellationen, in: Michael Großheim, Steffen Kluck (Hg.), Phänomenologie und Kulturkritik, Freiburg i. Br. 2010, S. 37–51

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mistisch-konstellationistischen Verfehlung mit einer riesigen Fülle von Angeboten, denen jenes geschwächte Wollen mit vorgeblicher Souveränität des Wählens widerstandslos verfällt, wie einem riesigen Schienennetz, in dem jeder nur noch für sich die Weichen stellen, aber nicht mehr aus ungeformten Möglichkeiten selbst Formen bilden kann. Nach meiner Auffassung ergibt sich die moderne Beschleunigung des Lebenstempos also nicht, wie Rosa will, aus sthenischer Reaktion eines Lebenshungers, der alles einmal durchmachen will, auf latente Todesangst, sondern asthenisch, aus Erschlaffung des Wollens in ironistischer Wendigkeit angesichts eines Überdrucks von Angeboten, denen man nicht widerstehen kann, zumal sie suggerieren, man habe ihnen gegenüber die Souveränität des Wählenden. Diese asthenische Reaktion ist so etwas wie der »Wirbel«, den Heidegger als »die Bewegungsart des Absturzes in die und in der Bodenlosigkeit des uneigentlichen Seins im Man (…) in die beruhigte Vermeintlichkeit, alles zu besitzen und zu erreichen« beschreibt. 197 Wie auch immer der Motor der Beschleunigung des Lebenstempos und damit der Eintritt der Menschen in den Beschleunigungszirkel erklärt werden mag, so viel ist klar, dass dieser Zirkel, nachdem sie einmal in ihn eingetreten sind, im Gang der Geschichte eine Störungsstelle besetzt, und zwar bei der Selbstbehauptung der Menschen gegen den Druck von Situationen durch Übersetzung in Konstellationen. Die Situationen dürfen nicht so eilig wechseln, dass für die konstellierende Rekonstruktion die nötige Zeit, um Übersicht zu gewinnen und Schlüsse für das planende Hinausgehen über das Gegebene zu ziehen, nicht mehr zur Verfügung steht. Das aber ist, mit unheimlich schneller Verifizierung der Vorhersagen von Rosa, mindestens in der Politik schon eingetreten, und zwar unter dem Einfluss der Macht der digitalen Informationstechnik. Die Finanzmärkte der Welt sind so schnell geworden, z. B. über den Computerhandel an der Börse, dass sie die Politiker, aber auch alle Teilnehmer am 197

wie Anmerkung 195, S. 178

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Finanzgeschehen selbst, vor sich her treiben, ohne ihnen genügend Zeit und Gelegenheit für Übersicht und strategische Planung zu lassen. Dabei schälen sich neue Typen politischer Führung heraus. Bezeichnend ist der Vergleich zwischen Angela Merkel und Präsident Obama. Frau Merkel ist eine Virtuosin ironistischer Politik, die mit wendiger Anpassung im politischen Geschehen immer aufrecht zu stehen vermag und lauter geschickte kleine Schritte als große Linie imponieren lässt. Obama manifestiert die Tragik des wohlmeinenden politischen Strategen in einer Zeit, in der es für Strategie in der Politik zu spät ist. Die politischen Situationen überfluten, meist von der Wirtschaft, aber auch von demographischen Krisen usw. her, die Umsetzung in Konstellationen, deren es bedarf, um den Situationen nicht nur durch elastische Eindrucksverarbeitung mit leiblicher Intelligenz 198 wie die Tiere, sondern mit besonnener Rechenschaft zu begegnen. Rosa sagt als weitere Folgen der Wirksamkeit des Beschleunigungszirkels das Ende der Demokratie und der Selbstbestimmung von Personen, schließlich den Zusammenbruch der Kultur voraus;199 vielleicht hat er Recht. Der Grundrhythmus des Ganges der Geschichte besteht im Wechsel von Situationen zu durch Explikation und Kombination aus ihnen gewonnenen Konstellationen und weiter im Hinüberwachsen der Konstellationen in neue Situationen, indem die Menschen die durch die Konstellationen geschaffenen Rahmenbedingungen mit Leben füllen, sich einleben und durch die aktuellen Situationen dieses Lebens zuständliche wachsen lassen. Die bisher erörterte Störungsstelle befindet sich in der Eingangsphase; ihr entspricht eine zweite in der Ausgangsphase, bei der Rückkehr von Konstellationen zu Situationen. Dann ist der Gang der Geschichte gestört, weil er sich gleichsam nur noch im Stech- und Stelzenschritt vollziehen kann, indem das EinHermann Schmitz, Bewusstsein, Freiburg i. Br. 2010, S. 87–90 wie Anmerkung 194, S. 460–490. Rasender Stillstand? Das Ende der Geschichte

198 199

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leben nicht mehr als flüssiger Umgang mit ganzheitlich innegehabter binnendiffuser Bedeutsamkeit gelingt, sondern steife Formen annimmt. Noch bahnt sich diese Störung nicht einmal merklich an, aber eine Gefahr scheint schon auf, die ebenso wie an der ersten Störungsstelle von der modernen digital-elektronischen Informationstechnik ausgeht. Diese sammelt ungeheure Datenmengen, die es dem Kenner bei Auswertung gestatten, sehr ins Einzelne gehende Informationen über Persönlichkeit, Vorgeschichte und Lebensführung beliebiger Mitmenschen herauszulesen. Wenn dann jemand an einen anderen irgend ein Gesuch stellt, z. B. nach einer Anstellung oder einer Wohnung, muss er darauf gefasst sein, von diesem mit genauen Kenntnissen seiner Lebensführung kontrolliert zu werden. Niemand kann sich dann mehr frei bewegen; er muss unauffällig bleiben, aus Sorge, durch eine Sonderbarkeit, die Anstoß erregen könnte, Chancen zu verlieren. Er muss darauf bedacht sein, sich stets in günstigem Licht zu zeigen, während zu einem unverstellten Leben gehört, auch einmal im Schatten zu stehen. Damit würden sich die Menschen die Unbefangenheit versagen, die zur Entfaltung von Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit gehört, weil eine solche Situation unwillkürlich über die Menschen kommen muss und nicht inszeniert werden kann.

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6.1 Sukzession als Leitmotiv der Schichtenmischung Die beiden Hauptschichten der Zeit, jeweils mit Differenzierungen, sind Modalzeit und Lagezeit. Die Modalzeit ist eine Einteilung, die Lagezeit eine Anordnung. Die Einteilung geht der Anordnung voran, da diese einzelne Reihenglieder erfordert, während die Einteilung schon bei absoluter Identität, noch vor Vereinzelung, möglich ist. In der Tradition des philosophischen Nachdenkens über die Zeit steht die Anordnung im Vordergrund und wird mit der modalzeitlichen Einteilung zur Sukzession vermischt, zu einer Anordnung, die niemals Bestand hat, weil das, was gerade angeordnet war, sogleich vergangen ist und durch Neues, dem das gleiche Schicksal bevorsteht, ersetzt wird. Dabei überwiegt aber die Ordnung so sehr, dass sie sich in der Zeitvorstellung über den Wechsel zwischen Sein und Nichtsein hinweg behauptet. Insofern hat in der Sukzession die Lagezeit einen Vorsprung vor der Modalzeit. Oft wird diese auch nur am Rande, als eine Störung, mit der man schlecht und recht fertig werden muss, berücksichtigt oder über der Lagezeit vergessen. Die Schichten der Zeit werden in der philosophischen Tradition nirgends säuberlich von einander abgehoben. Statt dessen ist der Rhythmus der Geschichte des philosophischen Denkens über die Zeit ein Schwanken des vorwiegenden Interesses an der Lagezeit oder an der Modalzeit. Im Altertum steht bis zur Spätantike die Lagezeit im Vordergrund, aber auch die Modalzeit wird thematisiert. In der Spätantike stehen Autoren, die wie Plotin nur die Lagezeit sehen, den Christen wie Augustinus und Boethius gegenüber, denen die Zeit hauptsächlich durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wichtig ist. Die 216 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Scholastiker belassen es bei der Vermengung beider Schichten zur Sukzession. In der Neuzeit schiebt sich mit der Dominanz der Physik die Lagezeit in den Vordergrund. Für Leibniz und Kant scheint es keine Modalzeit als philosophisch ernst genommene zu geben. Der Deutsche Idealismus sieht dagegen die Zeit ganz überwiegend als Modalzeit und leitet die Lagezeit höchstens daraus ab. Bergson konzipiert eine Zeit als Dauer, die von der Sukzession die Richtung hat, aber als vorwärts treibende flüssige Dynamik ohne Anordnung einzelner Glieder auskommt, mit einer durch Projektion in den Raum entstehenden reinen Lagezeit als ihr vom Denken aufgeladenes Konstrukt. Heidegger entwirft gar eine Zeit ganz ohne Sukzession, aus der er die sukzessive Lagezeit als Verfallsprodukt herleiten will, auf der Grundlage einer eigenwillig zusammengesetzten Modalzeit. McTaggart unterscheidet die lagezeitliche und die modalzeitliche Seite der modalen Lagezeit als zwei Reihen, die als solche primär Lagezeit sind.

6.2 Heidegger Heidegger gibt im Titel seines Hauptwerks Sein und Zeit 200 die Zeit als eines seiner beiden zentralen Themen an und betitelt den 2. Abschnitt des 1. Teils (mehr nicht erschienen) »Dasein und Zeitlichkeit«; dieser macht die knappe Hälfte des Ganzen aus. Es wäre aber unergiebig, seine Lehre von der Zeit nur diesem Abschnitt entnehmen zu wollen, da sie in den Gang seines Denkens so eingewickelt ist, dass nicht nur der erste Abschnitt des Buches, sondern auch dessen Vorgeschichte berücksichtigt werden muss, um Heideggers Gedanken über die Zeit angemessen entfalten und würdigen zu können. Ich stütze mich daher Zuerst 1927, von mir benutzt in der 5. Auflage Halle a. d. S. 1941 (noch mit dem später weggefallenen Untertitel »Erste Hälfte«), im Folgenden angeführt mit bloßen Seitenzahlen

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auf meine schon vorliegenden ausführlichen Darstellungen zu Heidegger 201, in denen ich den logischen Zusammenhang seiner Gedanken über die zuweilen rau belassenen Bruchstellen hinaus nachgezogen habe, und ziehe das zur Beleuchtung der Zeitlehre Wesentliche heraus. Das ursprüngliche Anliegen, das Heidegger zur Entwicklung seines philosophischen Denkens trieb, entnimmt man wohl am Besten zwei Stellen aus seinen frühen Briefen an Elisabeth Blochmann: »Das geistige Leben muss wieder bei uns ein wahrhaft wirkliches werden – es muss eine aus dem Persönlichen geborene Wucht bekommen, die ›umwirft‹ und zu echtem Aufstehen zwingt. (…) Geistiges Leben kann nur vorgelebt und gestaltet werden, so dass die daran teilhaben sollen, unmittelbar, in ihrer eigenen Existenz davon ergriffen sind. (…) Weil der Geist als Leben allein wirklich ist, kann lebendiges Für-einander-Sein solche Wunder wirken. (…) Jede Leistung gewinnt den Charakter der Endgültigkeit im Sinne der Echtheit, d. h. des inneren Zugehörens zum zentralen Ich und seiner gottgewollten Zielstrebigkeit.« 202 »Und in Momenten, wo wir uns selbst u. die Richtung in die wir lebend hineingehören unmittelbar fühlen, da dürfen wir das Klargehabte nicht nur als solches konstatieren, einfach zu Protokoll nehmen – als stünde es uns wie ein Gegenstand bloß gegenüber – sondern das verstehende Sichselbsthaben ist nur echtes, wenn es wahrhaft gelebtes, d. h. zugleich ein Sein ist.« 203 Heidegger will gegen die theoretische oder ästhetische Distanz, die Neutralisierung oder Versachlichung (2.2), das volle Gewicht der Subjektivität durchsetzen, »Grunderfahrung auslösen, Entscheidungssorge, Verzweiflung« (59,

Hermann Schmitz: Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 173–568; Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung Band 2, Freiburg/München 2007, S. 721–778: Heidegger 202 Martin Heidegger, Elisabeth Blochmann: Briefwechsel 1918–1969, hg. v. I. W. Storck, Marbach a. N. 1990, S. 7 (Brief vom 15. 06. 1918) 203 ebd. S. 14 (Brief vom 1. 05. 1919) 201

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131) 204 angesichts der »zersetzenden und depravierenden Verblassung«, die »die faktische Lebenserfahrung in ihrer Ursprünglichkeit gefährdet« (59, 183), mit Sorge für das Existieren, das mehr ist, als bloß da zu sein; durch das Existieren wird »all das, was (…) mit da ist, (…) zugespitzt mit der Richtung auf die Selbstwelt« (59, 82): »Die Bekümmerung um das Selbst ist eine ständige Sorge um das Abgleiten aus dem Ursprung« (59, 173). Dabei drohen Ruinanz, Larvanz, Darbung205 sowie Reluzenz: »Das Leben, das sich in seine Welt ausgibt, bietet sich ihm selbst welthaft in der Gestalt und im Seinssinn seiner Welt an« (61, 103). »Wir stehen an der methodischen Wegkreuzung, die über Leben und Tod der Philosophie überhaupt entscheidet, an einem Abgrund: entweder ins Nichts, d. h. der absoluten Sachlichkeit, oder es gelingt der Sprung in eine andere Welt, oder genauer, überhaupt erst in die Welt« (56/57, 63). Im Herbst 1922 sendet Heidegger, um sich für ein Extraordinariat in Marburg zu empfehlen, an Natorp und Misch eine erst 1989 gedruckte Einleitung zu einem geplanten Buch über Aristoteles. Er spricht darin von der »Grundtendenz des Lebens zum Abfallen von sich selbst und damit zum Verfallen an die Welt und hiermit zum Zerfall seiner selbst«. 206 Um ihr entgegenzuwirken, bleibt nur der Appell an die unvermittelte Verneinung des Lebens selbst, an den Tod: »Im zugreifenden Haben des gewissen Todes wird das Leben an ihm selbst sichtbar.« 207 Dieses radikalen Heilmittels bedarf Heidegger, weil er das VerGemeint ist: Martin Heidegger – Gesamtausgabe Band 59, S. 131 (Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, Vorlesung Sommersemester 1920, hg. v. C. Strube). Entsprechend (links vom Komma Bandzahl, rechts Seitenzahl) zitiere ich im Folgenden. 205 61, 131.107.155 (Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung. Vorlesung Wintersemester 1921/22, hg. v. W. Bröcker und K. Bröcker-Oltmanns) 206 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), hg. v. H.-U. Lessing, in: DiltheyJahrbuch Band 6, 1989, S. 237–269, S. 242 (S. 9 in Heideggers Manuskript) 207 ebd. S. 244 (S. 12 in Heideggers Manuskript) 204

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fallen als bloßes Verhängnis versteht, wie einen Fluch, der auf dem Leben lastet. Er macht keinen Versuch, zwischen dem Leben, wie es an ihm selbst (als Existieren, zugespitzt in Richtung auf die Selbstwelt) ist, und seinem Abfall von sich einen Zusammenhang verständlich zu machen. Daher kann auch die Befreiung nur von der unvermittelten Gegenmacht des Lebens, vom Tode, kommen. Auf der anderen Seite muss Heidegger sich bemühen, für das Selbstleben, das er der Ruinanz im Verfallen durch Reluzenz entziehen will, einen Begriff zu finden. Es handelt sich gemäß der Jaspers-Rezension (1919–1921) um die »Grunderfahrung des bekümmerten Habens seiner selbst« (9, 10). 208 Das größte Missverständnis des Inhalts dieser Grunderfahrung ist die bloß positionale Subjektivität, ihre Auffassung als ein bloß durch eine ausgezeichnete Stelle unter anderen Objekten ausgezeichnetes Subjekt, als ein Objekt, das nur andere Objekte irgendwie überragt. Der vor Heidegger anwesende Hauptvertreter dieser ruinant-larvanten Fehldeutung ist für ihn Husserl, gegen dessen »starre Ichsubstruktion« er sich 1919/20 wendet (58, 189. 243). Für das, was er statt dessen sucht, findet er in der Jaspers-Rezension eine sehr glückliche, wenn auch noch tastende Formulierung, indem er die »spezifische Regions- und Sachgebietsfremdheit des ›ich‹« hervorhebt, der gemäß »jede versuchte regionale Bestimmung – eine solche also, die einem Vorgriff entspringt auf so etwas wie Bewusstseinsstrom, Erlebniszusammenhang – den Sinn des ›bin‹ verlöscht und das ›ich‹ zu einem einstellungsmäßig feststellbaren und einzuordnenden Objekt macht (9, 29 f.). Das geht natürlich gegen Husserl, der das reine Ich der Region des reinen Bewusstseins 209 zugewiesen hatte. Wie ist diese Regions- und Sachgebietsfreiheit positiv zu beHeidegger übersetzt 1921 »cura« mit »Bekümmerung« (Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Los Angeles/London 1993, S. 201). Gemeint ist also nicht kummervolles, sondern Sorge tragendes Haben seiner selbst. 209 Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi208

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stimmen? Heidegger gewinnt die Antwort, die zum Ansatz der existenzialen Analytik in Sein und Zeit wird, aus der spätmittelalterlichen Ontologie der thomistischen Schule, die ich für die Quelle seines Seinsgedankens halte; dort taucht nämlich die Unterscheidung zwischen esse existentiae und esse essentiae, Sein als Existenz (im Sinn von Existenzsätzen) und als Sosein oder Beschaffenheit (im Sinn der Copula) auf, und Heidegger ist davon so fasziniert, dass er – übrigens zu seinem Unglück – ein übergeordnetes »Sein selbst« annimmt, dessen »Grundartikulation« in das esse essentiae und das esse existentiae »eines der tiefsten Probleme« sei, welches »das Geschick der abendländischen und der gesamten europäischen Geschichte« »durchherrscht.«210 Grundlage der Unterscheidung ist die distinctio realis von essentia und existentia im endlichen Seienden (nicht in Gott), die von Thomas von Aquino, der aber noch nicht das Wort »existentia« verwendet, vertreten und von den Thomisten gegen andere Scholastiker (Heinrich von Gent, Duns Scotus, Suarez; im selben Sinn später Kant gegen Wolff und Baumgarten) verteidigt wird. Nach den Thomisten sind Sein und Wesen im endlichen Seienden zwar verschieden, aber unzertrennlich; Heidegger – das ist seine originelle Leistung – spreizt sie im Fall des »Seienden (Mensch)«, das er »Dasein« nennt (11), so auseinander, dass das Was oder Wesen des Daseins zur bloßen Möglichkeit wird (42, ebenso 143, 144, 145, 181), die das Dasein ist, indem es sie zu sein hat, während es hinter diesen Möglichkeiten als pures »dass es ist«, dessen Woher und Wohin verhüllt ist, zurückbleibt (134). »Diesen in seinem Woher und Wohin verhüllten, aber an ihm selbst um so unverhüllter erschlossenen schen Philosophie, 1. Buch, 1913, Überschrift des 3. Kapitels im 2. Abschnitt, vgl. § 80 210 26, 192 f. (Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, Vorlesung Sommer 1928); 29/30, 519 (Die Grundbegriffe der Metaphysik, Vorlesung Winter 1929/30); 3, 223 f. (Kant und das Problem der Metaphysik, 1929); 9, 328 f. (Brief über den Humanismus, 1947); Nietzsche, Band 2, Pfullingen 1961, 5. Auflage 1989, S. 349

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Seinscharakter des Daseins, dieses ›Dass es ist‹« bezeichnet Heidegger als die »Geworfenheit dieses Seienden in sein Da« (135), dem »das Dass seines Da in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstarrt« (136). Diese Rätselhaftigkeit ergibt sich aus der Entkleidung der Existenz (des Dass) vom Wesen (Was) durch dessen Abspreizung in bloße Möglichkeit; das Dasein weiß nicht mehr, was mit ihm los ist, woher und wohin. Wenn ihm auch die Welt durch Ausfall der Bedeutsamkeit keine Anhaltspunkte mehr gibt, wird das vom Was entkleidete Dasein in der Angst das »nackte Dass im Nichts der Welt« (276 f.). Statt sich an mitgegebenem wirklichem Sosein sättigen zu können, muss es sein in Möglichkeit entrücktes Wesen als Last tragen (»Lastcharakter des Daseins«, 134, 135), die es (erst noch) zu sein hat; so wird das pure »dass es ist« zum »Dass es ist und zu sein hat« und die Geworfenheit zur »Faktizität der Überantwortung« (135). Das Dasein ist der Atlas seiner Möglichkeiten, als die das, was es ist, von ihm abgespreizt und ihm aufgeladen ist. Diese Umdeutung der thomistischen Realdistinktion in ein Seiendes, das ein auf sein Was gespanntes Dass ist, wird von Heidegger mit schockierenden Formulierungen ausgeleuchtet. Das Dasein ist »das Unterwegs seiner selbst zu ihm« 211 , »je schon sein Noch-nicht« (243) und in diesem Sinne sich vorweg (192), »es ›ist‹ überhaupt noch nicht ›wirklich‹« (243) und »muss als es selbst, was es noch nicht ist, werden, d. h. sein« (ebd.), d. h. eben das sein, was es noch nicht ist, sondern erst wird. Aber sogar dieses Werden ist ihm in Ambivalenz entzogen: »(…) es ist, was es wird bzw. nicht wird« (145). Das heißt: Was es in der Weise ist, dies noch nicht zu sein, sondern erst zu werden, ist nicht ein bestimmtes Was, das es wirklich wird, sondern die offene Möglichkeit, dies zu werden oder nicht zu werden; die eindeutige Aussicht auf die bestimmte, nicht zwischen Sosein und Nichtsosein schwebende Wirklichkeit bleibt der Möglichkeit, die

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das Dasein ist, ebenso entzogen wie dem Tantalus die Frucht. Es ist ein Tantalus seiner Möglichkeiten. »Auf dem Grunde dieser Seinsart ist das Dasein ständig mehr, als es tatsächlich ist, wollte man es und könnte man es als Vorhandenes in seinem Seinsbestand registrieren. Es ist aber nie mehr als es faktisch ist, weil zu seiner Faktizität das Seinkönnen wesenhaft gehört. Das Dasein ist aber als Möglichsein auch nie weniger, d. h. das, was es in seinem Seinkönnen noch nicht ist, ist es existenzial« (145). In dieser Charakteristik ist die Zeitlichkeit des Daseins, die in § 72 als das Geschehen des Daseins vorgeführt wird, schon implizit angesprochen. Ohne Weiteres ist die zeitliche Bedeutung der hier gebrauchten Ausdrücke ersichtlich: sich vorweg sein, unterwegs zu sich sein, sein Noch-nicht sein, Sein als Werden, was man noch nicht ist, was man wird, bzw. nicht wird. Daraus ergibt sich eine Gespanntheit in die Zukunft, die in § 72 sehr glücklich als »die spezifische Bewegtheit des erstreckten Sicherstreckens« (373) bezeichnet wird: Dem Dasein fällt das Schicksal zu, so auf seine Möglichkeiten hin ausgestreckt zu werden, wie Tantalus auf die Frucht, aber dieses Schicksal ist auch sein eigenes Sicherstrecken, weil es seine Möglichkeiten als bloße Möglichkeiten ist. Dies nennt Heidegger dort »das Geschehen des Daseins«, in dem dessen Geschichtlichkeit die Wurzel habe. Ein solches Geschehen lässt keine Folge einzelner Zustände zu, weil in jedem solchen Zustand das Dasein noch nicht das wäre, was es ist, nämlich wird bzw. nicht wird. Deswegen ist es konsequent, wenn Heidegger dem Geschehen des Daseins jede Datierbarkeit zwischen Geburt und Tod abstreitet: »Im Sein des Daseins liegt schon das ›Zwischen‹ mit Bezug auf Geburt und Tod. Keineswegs ›ist‹ das Dasein in einem Zeitpunkt wirklich und außerdem noch von dem Nichtwirklichen seiner Geburt und seines Todes ›umgeben‹. (…) Das faktische Dasein existiert gebürtig, und gebürtig stirbt es auch schon im Sinne des Seins zum Tode« (375). Es ist gleichsam eine in seine Zukunft hinein ausgespannte Gegenwart der nackten Faktizität, da zu sein, ohne Aufenthalt auf dem Weg zu dem, was es noch nicht ist, weil es nur insofern 223 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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überhaupt etwas ist. Wenn es anhält und sich besinnt, an welcher Stelle des Lebens es gerade angekommen ist, erliegt es der »vulgären Zeitvorstellung«, die »ihr natürliches Recht« hat, aber zur »Zeitlichkeit des verfallenden Daseins« gehört (426): Ohne in ein Missverstehen seiner selbst zu verfallen, könnte das Dasein nichts Bestimmtes über sich erfahren. Diese konsequent aus dem ursprünglichen Ansatz der existenzialen Analytik entwickelte Zeitlichkeit des Daseins hat aber wenig mit der Zeitlichkeit zu tun, von der Heidegger in den anderen Teilen des 2. Abschnitts Dasein und Zeitlichkeit des 2. Abschnitts von Sein und Zeit handelt; da liegt eine andere Konzeption zu Grunde, von der gleich die Rede sein wird. Ebenso wenig, wie das Dasein in der Lagezeit an einer bestimmten Stelle zwischen Geburt und Tod sein kann, vermag es Schuld als Verfehlung gegen ein moralisches Sollen oder Gesetz auf sich zu laden, »denn auch hier wird die Schuld notwendig noch als Mangel bestimmt, als Fehlen von etwas, was sein soll und kann« (283). Um den Mangel festzustellen, müsste man das Dasein »als Vorhandenes in seinem Seinsbestand registrieren«, und das ist, wie gesagt, ontologisch ausgeschlossen. In einem anderen Sinn ist das Dasein aber sehr wohl schuldig, nämlich so, dass es seiner Seinsweise nach immer etwas schuldig bleibt. Dieses Schuldigsein ist die einfache Kehrseite des Sich-vorwegseins als Je-schon-sein-noch-nicht. Wer sich vorweg ist, bleibt eo ipso hinter sich zurück. Indem das Dasein ist, was es wird bzw. nicht wird, ist es Grund von vielem Nichtwerdenden, insofern Nichtigen, in sich selbst. Demgemäß bestimmt Heidegger das Schuldigsein des Daseins als »das (nichtige) Grund-sein einer Nichtigkeit« (285). Das ist ganz konsequent; irreführend ist nur, dass er das Eingeständnis dieser Unzulänglichkeit dem Gewissen überträgt, wodurch die Seinsart des Daseins unnötig moralisiert wird. Der Ausbau der thomistischen Realdistinktion zur Abspreizung der essentia von der existentia bringt Heidegger zwei große Erfolge bei der Bewältigung seiner Probleme. An erster Stelle 224 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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erlaubt er einen Vorschlag für die inhaltliche Füllung der Subjektivität, nachdem der Platz, den Husserl mit der Tradition ihr zugewiesen hatte, durch die »Regions- und Sachgebietslosigkeit des ›ich‹« gemäß der Jasper-Rezension freigeworden ist. Heidegger will über die bloß positionale, nur durch eine Ausnahmestellung des Subjekts unter Objekten bestimmte Subjektivität zu einer strikten, auf die Eigenart des Subjekts bezüglichen hinauskommen und findet dafür eine nicht nur negative Deutung in Gestalt des Daseins, das als nacktes Dass-es-ist-und-zu-sein-hat ohne anderen Inhalt als diese Möglichkeiten, die es erst noch zu sein hat, in keine Region, kein Sachgebiet, gehört. Der andere Erfolg ist die einsichtige Ableitbarkeit des Verfallens. In der Anfangszeit, mindestens bis zur Empfehlungsschrift für Natorp (1922), war es ihm wie ein unerklärter dumpfer Fluch, der auf dem Dasein lastete und nur durch die Konfrontation mit dem Tod geheilt werden konnte. Nun ergibt sich als Quelle des Verfallens »die Unbestimmtheit, die ein Seiendes, das existiert, durchherrscht« (308, vgl. 298). Unbestimmt wird das Dasein für sich selbst durch den Entzug seines Was in bloße offene Möglichkeiten, der ihm sogar deren thematische Erfassung unmöglich macht: »Solches Erfassen benimmt dem Entworfenen gerade seinen Möglichkeitscharakter, zieht es herab zu einem gegebenen, gemeinten Bestand« (145), im Gegensatz dazu, dass sich das Dasein gerade nicht »in seinem Seinsbestand registrieren« (ebd.) lässt. Das Dasein kommt also aus sich an seine Möglichkeiten gar nicht heran, obwohl ihm diese als Last überantwortet sind. Um sie zu finden, bedarf es der Stütze durch weniger unbestimmtes Seiendes, das ihm sie zeigt. Daher ist es »an Seiendes überantwortet, dessen es bedarf, um sein zu können, wie es ist, nämlich um willen seiner selbst« (364). Die Folge ist, dass es sich »zunächst von dem Seienden und dessen Sein her versteht, das es selbst nicht ist, das ihm aber innerhalb seiner Welt begegnet« (58). Diese Welt ist »ein Ganzes von Bedeutsamkeit, in deren Verweisungsbezügen das Besorgen als In-derWelt-sein sich im vorhinein festgemacht hat« (151). Dieses Fest225 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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machen ist doppelsinnig. Einerseits gibt es dem Dasein die Anknüpfungspunkte für die Verweisungen, die ihm seine Möglichkeiten thematisch erschließen, und gewährt ihm so »Durchsichtigkeit« im Sinn der »wohlverstandenen ›Selbsterkenntnis‹« (146); andererseits kann sich das Dasein nur festmachen, indem es selbst fest wird vermöge der »Geneigtheit, an eine Welt, in der es ist, zu verfallen und reluzent aus ihr her sich auszulegen« (21). »Im ontischen Sichmeinen versieht es sich bezüglich der Seinsart des Seienden, das es selbst ist« (321). Heidegger spricht deshalb von uneigentlicher Existenz. Diese kann ebenso wie die eigentliche echt und unecht sein (146). Unter den Formen echter uneigentlicher Existenz kommt zunächst die objektivierende und dabei auf ihrer sicheren Gewissheit bestehende Einstellung in Betracht, mit Descartes und Husserl als Prototypen. 212 »Die sichere Objektivität ist unsichere Flucht vor der Faktizität« (61, 90). Uneigentlich existiert hiernach jeder, dessen Leben »ganz in einer objektiven Aufgabe aufgeht« (ebd.), sogar dann, wenn er es zu »Höchstleistungen bringt, die einen Aufschwung und Fortschritt der Kultur mit sich führen« (59, 79). Echt uneigentlich existiert ferner der Handwerker, in dem »auch bei aller Selbstvergessenheit, noch eine Tendenz der Sorge lebendig ist«, 213 und der von Traditionen geleitete Mensch mit der Geneigtheit des Daseins, »an seine Welt, in der es ist, zu verfallen und reluzent von ihr her sich auszulegen. Dasein verfällt in eins damit auch seiner mehr oder minder ausdrücklich ergriffenen Tradition« (21). Allgemein handelt es sich um die »Rückstrahlung des Weltverständnisses auf die Daseinsauslegung« (16). Das Dasein hat das tragikomische Schicksal, sich zur Bestimmung seiner Möglichkeiten nur durchsichtig zu werden, indem es sich von dem Seienden, das ihm durch Verweisung auf diese Möglichkeiten dazu unerlässliche Hilfe leistet, her selbst ver-

212 213

17, 284 (Vorlesung Wintersemester 1923/24) 21, 231 (Logik. Wintersemester 1925/26)

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steht und dadurch missversteht. Mit diesem Schicksal kann es aber eine Art Possenspiel treiben, in Gestalt der unechten Formen uneigentlicher Existenz, Gerede, Neugier, Zweideutigkeit, mit denen Heidegger sich in Sein und Zeit, unter Vernachlässigung der echten Formen, allein auseinandersetzt. Die Gelegenheit zum Ausbruch aus der uneigentlichen Existenz ist die Angst (184–191), die dadurch entsteht, dass die Bewandtnisganzheit in sich zusammensinkt und die Welt den Charakter völliger Unbedeutsamkeit annimmt (186), also dem Dasein nicht mehr bei der Bestimmung seiner Möglichkeiten hilft, so dass es seiner genuinen Unbestimmtheit (308) ansichtig wird. Die »Unheimlichkeit des Daseins« in der Angst ist die »Bedrohung«, »die das Dasein von ihm selbst her trifft« (189), als »eigentümliche Unbestimmtheit dessen, wobei sich das Dasein in der Angst befindet« (188). In der Stimmung der Angst (295 f.) ruft das »Dasein in seiner Unheimlichkeit, das ursprüngliche geworfene In-der-Welt-sein als Un-zuhause, das nackte ›Dass‹ im Nichts der Welt« (276 f.) in die Entschlossenheit als »eigentliches Selbstsein« (298); sie ist »das verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein« (297), d. h. das verschwiegene, aber zur Angst offene Eingeständnis eigener Unzulänglichkeit vor den Möglichkeiten, die das Dasein ist. Diese Grundhaltung aus Einsicht in die eigene Nichtigkeit, als nichtiger Grund einer Nichtigkeit, lässt allerdings das Dasein vor seinen Möglichkeiten ratlos, ohne differenzierende Anhaltspunkte und ohne Auftrag; die Einsicht in die Unzulänglichkeit hilft nicht weiter. Heidegger hätte die existenziale Analytik nicht weiterführen können, ohne deren Struktur gründlich zu verändern. Dafür hat er aber frühzeitig die Weiche gestellt, nämlich durch Umdeutung der Geworfenheit in Schon-sein in der Welt bei Einführung der Sorge als das Sein des Daseins (192). Eingeführt wurde die Geworfenheit als »das pure ›dass es ist‹«, »das Woher und Wohin bleiben im Dunkel« (134 f.). Man möchte an den alten Spruch denken: 227 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Ich komme, und weiß nicht, woher, Ich bin, und weiß nicht, wer, Ich fahre, und weiß nicht, wohin. Mich wundert, dass ich so fröhlich bin. Diese Geworfenheit ist eine Abgerissenheit, eine Darbung (mit einem früheren, oben angeführten Ausdruck Heideggers); es fehlt etwas, nämlich das Was zum Dass und der Horizont von Herkunft und Zukunft. Die neue Geworfenheit ist dagegen eine Einbettung, eine Unterfütterung. Heidegger erläutert sie so: In der Geworfenheit »enthüllt sich, dass Dasein je schon als meines und dieses in einer bestimmten Welt und bei einem bestimmten Umkreis von bestimmten innerweltlichen Seienden ist« (221). Damit verliert das Dasein die ihm bisher zugedachte triadische Struktur seines Seins aus Entwurf, Geworfenheit und Verfallen: Der Entwurf gibt die Möglichkeiten vor, die das Dasein ist; die Geworfenheit wirft es zurück auf sein bloßes Dass (es ist und zu sein hat), ohne sich in diesen Möglichkeiten zurechtzufinden und über Herkunft und Zukunft orientiert zu sein; das Verfallen an das begegnende Seiende schließt ihm die Möglichkeiten thematisch auf durch Verweisung auf mögliche Weisen seiner Selbstverwirklichung im Verhalten zu diesem Seienden. Nun übernimmt die Geworfenheit selbst den Kontakt und das Verfallen als Infektion durch das, was es berührt: Das Dasein wird »in der Geworfenheit mitgerissen, d. h. als in die Welt Geworfenes verliert es sich an die ›Welt‹ in der faktischen Angewiesenheit auf das zu Besorgende« (348). Die dreigliedrige Struktur ist zur zweigliedrigen geworden, bestehend aus dem Entwurf und der Geworfenheit als dem Verfallen. Heidegger denkt aber nicht daran, sich von der dreigliedrigen Struktur zu verabschieden, so wenig wie er auch nur ein Wort der Begründung an den Übergang von der Geworfenheit zum Schon-sein in der Welt wendet; je nach Bedarf bedient er sich der triadischen und der dyadischen Struktur. Die Umdeutung der Geworfenheit in das Verfallen hat einen 228 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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großen doppelten Nutzen für die Fortführung der nun allerdings zweideutig gewordenen existenzialen Analytik. Der erste Nutzen besteht darin, dass die eigentliche Existenz nun aus ihrer Einbettung in das Schon-sein den Boden für einen Auftrag gewinnt, den ihr die Entschlossenheit allein nicht gehen konnte. Das Dasein wird in die Lage versetzt, dass es »entschlossen das Seiende, das es schon ist, übernehmen kann. Im Vorlaufen holt sich das Dasein wieder in das eigenste Seinkönnen vor. Das eigentliche Gewesen-sein nennen wir die Wiederholung. Das uneigentliche Sichentwerfen auf die aus dem Besorgten (…) geschöpften Möglichkeiten ist aber nur so möglich, dass sich das Dasein in seinem eigensten geworfenen Seinkönnen vergessen hat« (339). Die Geworfenheit wird also zur Gewesenheit des wiederholbar gewordenen Seinkönnens im Gegensatz zum Vergessen bei der an das Besorgte ausgegebenen uneigentlichen Existenz. Der in seinem Woher verhüllte Seinscharakter des Daseins, als der auf S. 135 die Geworfenheit eingeführt worden war, spielt keine Rolle mehr. »Die Wiederholung ist die ausdrückliche Überlieferung, das heißt der Rückgang in die Möglichkeiten des dagewesenen Daseins« (385); sie »erschließt die jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene übernimmt« (383). Die eigentliche Existenz hat durch Umdeutung der Geworfenheit ein Erbe und an dessen Verwaltung durch Wiederholung eine Aufgabe bekommen, die dem Leben Führung gibt. Der andere große Nutzen des Übergangs von der triadischen Struktur des Daseins (Entwurf, Geworfenheit, Verfallen) zur dyadischen (Entwurf, Geworfenheit als Verfallen) besteht darin, dass die Kooperation beider Seiten der Existenz, die in Sein und Zeit als die eigentliche und die uneigentliche bezeichnet werden, glatter als zuvor funktioniert. Nach dem ursprünglichen Ansatz, vor der Umdeutung der Geworfenheit in das Schon-sein in der Welt, war zur Rücknahme der unvermeidlichen Verstrickung in Uneigentlichkeit das unvermittelte Aufbrechen der Angst nötig, die das Dasein in entschlossener Ratlosigkeit zurückließ. Als 229 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Schon-sein wird der Gegenpol des Entwurfs in die eigenen Möglichkeiten zum tragenden Boden, von dem sich der Entwurf als Aufschwung in Transzendenz abstoßen und tragen lassen kann. Diese Harmonisierung des Verhältnisses steht aber nicht in Sein und Zeit, sondern gehört erst in die unmittelbar folgende Phase von Heideggers Denken, für die die Vorlesung des Sommersemesters 1928 214 und der Beitrag zur Husserl-Festschrift Vom Wesen des Grundes Aufschluss geben. »Das Dasein ist geworfenes, faktisches, durch seine Leiblichkeit ganz inmitten der Natur, und gerade darin, dass dieses Seiende, inmitten dessen es ist und wozu es gehört, von ihm überschritten wird, liegt die Transzendenz« (26, 212). »Aber gerade dieser in der Eingenommenheit von Seiendem beschlossene Entzug gewisser Möglichkeiten seines In-der-Welt-sein-könnens bringt erst die ›wirklich‹ ergreifbaren Möglichkeiten des Weltentwurfs dem Dasein als seine Welt entgegen« (9, 167). 215 Dieses Dasein ist kein Tantalus mehr mit ungesättigtem Dass, dem sein Was in Möglichkeit aussteht; seine feste Verankerung im Seienden gibt dieser Möglichkeit die festere Form wirklich ergreifbarer Möglichkeit und befreit es dadurch aus der Verlegenheit eines Geschehens, in dem eigentlich nichts geschieht, mangels eines Zeitpunktes, in dem das Dasein wirklich wäre, seine Geburt aber nicht mehr und sein Tod noch nicht (374 f.). Demgemäß bedarf es auch nicht mehr des anderen Seienden, um sein zu können, wie es ist, nämlich um willen seiner selbst (364), sondern es hält sich als Freiheit das Umwillen entgegen (9, 164), nämlich die Welt als »die jeweilige Ganzheit des Unwillen eines Daseins« (9, 158), als »das Ganze der wesenhaften inneren Möglichkeiten des Daseins« (26, 248), und schenkt dem Seienden den Welteingang (9, 159; 26, 249). Diese neue Form der existenzialen Analytik nähert sich der dualistischen Anthropologie Plessners; dessen »exzentrische PositionaMetaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, Gesamtausgabe Band 26 215 aus: Vom Wesen des Grundes (9, 123–175) 214

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lität« entspricht mehr oder weniger der »Transzendenz« Heideggers, dem Überstieg des Daseins über das Seiende mit Gewährung des Welteingangs an dieses. Der Nachteil dieses glatteren Konzepts gegenüber der ursprünglichen Form der Daseinsanalyse besteht darin, dass Subjektivität doch wieder bloß positional, als eine ausgezeichnete Stellung des transzendierenden Subjektes unter allem Vorhandenen, verstanden wird. Auf diesem Standpunkt argumentiert Heidegger gegen Cassirer in Davos. Heidegger, der die dreigliedrige Struktur des Daseins als Sorge da ausformuliert, wo er sie durch Umdeutung der Geworfenheit in Schon-sein unter der Hand fallen lässt, benennt die bloße Gegliedertheit als Zeugnis »eines noch ursprünglicheren Phänomens, das die Einheit und Ganzheit der Strukturmannigfaltigkeit der Sorge ontologisch trägt« (196). Das ist für die ursprüngliche Fassung unberechtigt, weil in ihr die Dreiheit aus der Abspreizung des Was in Möglichkeit logisch konsequent entwickelt werden kann; diese Abspreizung des Was vom Dass wäre also das gesuchte ursprünglichere Phänomen. Heidegger will aber auf die Zeit hinaus, genauer auf die Modalzeit mit den drei Zeitmodi, die er sogar noch kompliziert, indem er die Zukünftigkeit in ein Vorlaufen in den Tod und ein Zurückkommen auf sich zerlegt. Er führt die Zeitlichkeit als »ursprüngliche Zeit« (329) und »ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur« (327) vor; sie sei »der ontologische Sinn der Sorge« (323, Überschrift). Das versucht er so zu verdeutlichen: »Sinn bedeutet das Woraufhin des primären Entwurfs, aus dem her etwas als das, was es ist, in seiner Möglichkeit begriffen werden kann. Das Entwerfen erschließt Möglichkeiten, d. h. solches, das ermöglicht. Das Entwerfen eines Entwurfs freilegen, besagt, das erschließen, was das Entworfene ermöglicht« (324). Das ist dunkel. Es scheint, dass hinter dem primären Entwurf der Möglichkeiten des Daseins die Zeit als ein zweiter Entwurf von Möglichkeiten, die das Woraufhin des ersten Entwurfs ausmachen und dessen Möglichkeiten ermöglichen, in Gestalt der Zeitlichkeit eingeführt werden soll. Das ist eine hybride Komplikation. Das Woraufhin 231 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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des Entwurfs sind die entworfenen Möglichkeiten selbst, 216 nicht weitere Möglichkeiten, die diese erst möglich machen. Schief ist auch die Formulierung, Möglichkeiten seien solches, das ermöglicht. Umgekehrt geht die Ermöglichung, das Möglich-machen, der Möglichkeit voraus. Sie besteht in Erfüllung der notwendigen Bedingungen, der Bedingungen der Möglichkeit, wie Kant sagt. Heidegger ist durch seine hybride Rückfrage nach der Ermöglichung der Möglichkeit zum Kantianer geworden. Die Wurzel der Zeitlichkeit ist für Heidegger der Tod. Er zieht ihn zur »Aufweisung eines eigentlichen Ganzseinkönnens des Daseins« (234) heran. Das ist eine unmögliche Aufgabe. Das Dasein kann nicht ganz sein, wenn es sich vorweg ist, je schon sein Noch-nicht, schuldig im Zurückbleiben hinter sich als nichtiger Grund einer Nichtigkeit, noch nicht eigentlich wirklich im Werden, was es wird bzw. nicht wird. Was ganz sein kann, ist das Sein oder die Struktur des Daseins, einsichtig abgeleitet aus dem Ausstehen dessen, was es ist, in bloße Möglichkeit. Ganz wäre es, wenn es diese Möglichkeit einholen könnte, aber dann wäre es nicht mehr das Dasein in seiner Geworfenheit. Heidegger setzt sich über diese Bedenken mit dem Satz hinweg: »So wie das Dasein vielmehr ständig, solange es ist, schon sein Nochnicht ist, so ist es auch schon immer sein Ende. Das mit dem Tod gemeinte Enden bedeutet kein Zu-Ende-Sein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden« (245). Er versteht den Tod also als eine der Möglichkeiten, die das Dasein als geworfenes zu sein hat: »Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hat. (…) Der Tod ist die Möglichkeit des Nicht-mehr-da-sein-könnens« (250). Das ist ein Spiel mit zwei verschiedenen Begriffen von Möglichkeit. Die zuerst genannte ist, in scholastischer Sprache und der Sprache der modernen Modallogik, eine Möglichkeit de re: Sie wird vom »Der Entwurfcharakter des Verstehens besagt ferner, dass dieses das, woraufhin es entwirft, die Möglichkeiten, selbst nicht thematisch erfasst« (145).

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Dasein selbst ausgesagt, als dessen eigene Möglichkeit, eine ihm zukommende mögliche Bestimmung, die es zu übernehmen hat (die »Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit«, wie es gleich darauf heißt). Die an zweiter Stelle genannte Möglichkeit ist eine Möglichkeit de dicto: Sie wird von einem Satz oder einem Sachverhalt ausgesagt, nämlich dem Nichtmehrdaseinkönnen des Daseins, also von dem Sachverhalt, dass das Dasein einmal nicht mehr da sein kann. Nun könnte der Übergang von de re zu de dicto nicht so schwierig scheinen, aber in diesem Fall ist er unmöglich; denn kein Dasein kann die Möglichkeit, nicht mehr da zu sein, auf sich nehmen, wenn es gar nicht mehr da ist. Heidegger versteht das eigentliche Sein zum Tode, bei dem er die Zeitlichkeit ansetzt, als das Sichverstehen des Daseins, »dass es dem Tod unter die Augen geht, um so das Seiende, das es selbst ist, in seiner Geworfenheit ganz zu übernehmen« (382). Das ist schon zu viel verlangt, denn wie soll das Dasein den Tod als seine Möglichkeit finden, da es doch seine Möglichkeiten gar nicht thematisch erfasst (145), außer durch Verfallen in uneigentliche Existenz? Aber auch wenn das gelänge, würde es sich wieder nur um eine schwebende, offene Möglichkeit handeln, die das Dasein wird bzw. nicht wird, nicht aber um sein Ende, mit dem das Schweben aufhört. Die Auszeichnung des Todes als Abrundung des ganzen Daseins in Gestalt des Vorlaufens zu ihm ist Heidegger also nicht gelungen. Damit hat er den höheren Standpunkt verfehlt, von dem er die Zeitlichkeit als den Sinn des »primären Entwurfs« des geworfenen Daseins enthüllen könnte. Die Struktur der Zeitlichkeit gewinnt Heidegger durch Anleihen bei der Sorge als dem Sein des Daseins. An der Spitze steht das Vorlaufen in den Tod als eigentliches Sein zu ihm, offenbar eine Abwandlung des Sich-vorweg-seins. Noch gar nicht vorgebildet ist dagegen ein zusätzliches Glied, mit dem er das Vorlaufen zur Zukunft ergänzt, nämlich das Zurückkommen aus dem Verlaufen auf sich. Er gewinnt es nicht durch sachliche Erwägungen, sondern durch bloß verbale Reflexion auf die bei233 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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den Silben des Wortes »Zukunft«: »›Zukunft‹ meint (…) die Kunft, in der das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt« (325). Ihr schließt sich die Gewesenheit an, die einerseits aus dem Schuldigsein (dem Zurückbleiben hinter sich) und der Geworfenheit gewonnen wird, andererseits als Bedingung der Möglichkeit des zukünftigen Zurückkommens auf sich: »Nur sofern Dasein überhaupt ist als ich bin-gewesen, kann es zukünftig auf sich selbst so zukommen, dass es zurückkommt« (326). Mit einander erzeugen Zukunft und Gewesenheit auf mysteriöse Weise die Gegenwart, indem sie diese aus sich entlassen: »Zukünftig auf sich zurückkommend bringt sich die Entschlossenheit in die Situation. Die Gewesenheit entspringt der Zukunft, so zwar, dass die gewesene (besser gewesende) Zukunft die Gegenwart aus sich entlässt. Dies dergestalt als gewesend-gegenwärtige Zukunft einheitliche Phänomen nennen wir die Zeitlichkeit« (326). »Die ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur liegt in der Zeitlichkeit« (327). Es ist schwer zu sehen, was an Einheitlichkeit über die Sorgestruktur hinaus mit der Zeitlichkeit gewonnen sein soll. Die triadische Sorgestruktur hatte eine einsichtige innere Konsequenz, abgesehen von der Umdeutung der Geworfenheit in Schonsein, die zunächst unauffällig blieb, da sie unvorbereitet und unerklärt eingeführt wurde. Dieser einsichtige Zusammenhang fehlt bei der Zeitlichkeit, einerseits wegen des unvermittelten Auftauchens des Zu- oder Zurückkommens neben dem Sich-vorweg-sein (Vorlaufen), andererseits wegen der unverständlichen Rede vom Entlassen der Gegenwart aus der gewesenden (?) Zukunft, einer Art Zauber. Die Zeitlichkeit ist sogar komplizierter als die Sorge, eine tetradische Struktur wegen der Aufspaltung der Zukunft in Vorlaufen und Zurückkommen. Die Ableitung der öffentlichen Zeit aus der Zeitlichkeit des Daseins im letzten Kapitel erfolgt ziemlich schlicht. Sie knüpft an die Gegenwart (des »Gegenwärtigen«) an, die offenbar als zeitliches Analogon des verfallenden, besorgenden Seins bei in der Welt begegnendem Seienden verstanden wird. Indem das 234 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Dasein seine Geschäfte besorgt, besorgt es auch die Zeit und den zeitlichen Zusammenhang mit Hilfe der Datierung, die jeweils an einen Anlass des Besorgens anknüpft. Dadurch werden die Pfeiler zum Aufbau einer Lagezeit errichtet, die mit Hilfe des Sonnenlaufs und des Uhrgebrauchs metrisiert wird. Heidegger geht dabei ins Detail und erwähnt sogar die Schattenlänge als Uhr auf gleicher Polhöhe. Nur von der zur Extensivierung der Dauer bei der Metrisierung erforderlichen Verräumlichung der Zeit will er nichts wissen.217 Die Rücksicht auf die Dauer und damit die Kontinuität der Zeit fehlt in Heideggers Darstellung. Das zeigt sich auch beim Übergang zur öffentlichen Weltzeit durch Fortlassen der vom Besorgen bezogenen Datierungsanlässe. Heidegger hält sie für eine ununterbrochene und lückenlose Jetztfolge (423), gleichsam ein Maschinengewehrfeuer von Jetzten, das ohne verbindende Dauer auskommen könnte. Ich habe vermutet, dass diese Konstruktion der öffentlichen Zeit aus der Datierung über den Sonnenlauf zur bloßen Jetztfolge auf eine Anregung zurückgehen könnte, die Heidegger vielleicht aus einem Bericht des Albertus Magnus nach Avicenna, der seinerseits von einer solchen Theorie berichtet, geschöpft haben könnte. 218 Ich komme nun zur Würdigung des Beitrags, den Heidegger zur philosophisch denkenden Durchdringung der Zeit geleistet hat. Als wichtiges und wertvolles Ergebnis hebe ich die Auflösung des Gemenges von Lagezeit und Modalzeit in der traditionellen Vorstellung von Sukzession hervor. Schon das Geschehen des Daseins (374 f.) realisiert den Gedanken einer von Sukzession freien Zeit, so wenig er auch in dieser Form empirisch anwendbar ist. Die Stufenfolge von der Zeitlichkeit des eigentlich existierenden Daseins zur vulgären und Weltzeit erbringt eine säuberliche Trennung modalzeitlicher und lagezeit»Ebensowenig ist das existenzial-ontologisch Wesentliche der Zeitmessung darin zu suchen, dass die datierte Zeit aus Raumstrecken und dem Ortswechsel eines räumlichen Dinges zahlenmäßig bestimmt wird« (418). Das ist wahrscheinlich ein Seitenhieb gegen Bergson. 218 Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 359 f. 217

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licher Begriffe. In der Zeitlichkeit scheint es, den Angaben Heideggers nach, nur Modalzeit, in der vulgären Zeit und Weltzeit nur Lagezeit zu geben. Hiermit sind die bleibenden Erträge der Zeitspekulation Heideggers meines Erachtens schon erschöpft. Dass die Konstruktion der Zeitlichkeit in sich brüchig ist und in ihre Ausfaltung zur Geschichtlichkeit aus der Umdeutung der Geworfenheit in Schonsein ein falsches Pathos zu Gunsten der eigentlichen Existenz (durch die Wiederholung eines Erbes) hereinkommt, dürfte sich gezeigt haben. Außerdem gräbt Heidegger nicht tief genug. Das Verlaufen in den Tod mit Richtungsumkehr zum Zurückkommen auf sich setzt einen Spielraum offener Zukunft voraus, der erst zugänglich wird, wenn das unspaltbare Verhältnis der Appräsenz-Präsenz zwischen Zukunft und Gegenwart in Beziehungen zu Künftigem aufgespalten werden kann; das ist aber erst nach Entbindung von Einzelnem aus Situationen im Zuge der Entfaltung der Gegenwart zur Welt (2.2) möglich. Vorher ist schon reine Modalzeit da, und mit ihr primitive Gegenwart, aus der absolute Identität und Subjektivität (mit einander) sich ergeben. Heidegger scheint Einzelheit naiv in Anspruch zu nehmen, ohne sich über deren Voraussetzungen Gedanken zu machen; an absolute Identität (noch vor der Identität mit etwas) hat er überhaupt nicht gedacht. Für den größten Fehler seiner Zeitanalysen halte ich indes sein Ignorieren der Grausamkeit des Abschieds, den ich unter 2.2 bei den tragischen Zügen der Zeit genannt habe. Ich berufe mich auf Goethe: »Scheiden ist der Tod!« 219 »In jeder großen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn; man muss sich hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen.« 220 Und auf Hugo v. Hofmannsthal: Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen: Wie kann das sein dass diese nahen Tage Fort sind für immer fort und ganz vergangen? 219 220

Trilogie der Leidenschaft 1: An Werther Maximen und Reflexionen, hg. von Max Hecker, Weimar 1907, Nr. 998

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Dies ist ein Ding das keiner voll aussinnt Und viel zu grauenhaft als dass man klage: Dass alles gleitet und vorüberrinnt.221 Heidegger wendet sich jedoch gegen die Anwendung des Wortes »Vergangenheit« auf die Zeitlichkeit des Daseins, da er das echte Nichtmehrsein auf das Vorhandene, das nicht den Seinscharakter des Daseins (sondern unzertrennliche Einheit von essentia und existentia im thomistischen Sinn) hat, abwälzt. Daher würdigt er auch nicht die Großtat der Erinnerung, über den Abschied von dem, was nicht mehr ist, die Brücke zu schlagen. Insofern kann man seine Zeitlichkeit als eine Verniedlichung der Zeit bezeichnen. Das gilt erst recht für den späteren Aufsatz Zeit und Sein, der den Buchtitel umkehrt.222 Das »lichtende Einander-sich-reichen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart« ist hiernach »die eigentliche Zeit als dreidimensional« und ergänzt sich durch die »Einheit der drei Zeitdimensionen in dem Zuspiel jeder für jede« als eine »vierte Dimension«, so dass gilt: »Die eigentliche Zeit ist vierdimensional.« 223 Besser kann man die vermeintlich bruchlose Harmonie in der Modalzeit kaum ausdrücken als in Gestalt einer vierten Dimension, in der die drei Zeitmodi, selbst als Dimensionen gedeutet, sich gegenseitig zuspielen, indem sie einander etwas reichen, was, bleibt ungenannt.

6.3 McTaggart Heidegger und McTaggart teilen sich in das Verdienst, im 20. Jahrhundert auf den Unterschied zwischen Modalzeit und Lagezeit aufmerksam gemacht zu haben. Ihre Verdienste sind Terzinen über Vergänglichkeit Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, 3. Auflage Tübingen 1988, S. 1–25 223 ebd. S. 15 f. 221 222

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aber nicht ohne Mängel. Heidegger löst die Zeit von der Bindung an die Sukzession, aber seine Vorschläge für nicht mehr sukzessive Zeit sind nicht haltbar. McTaggart hält an der Sukzession fest und beleuchtet damit das Verhältnis von Modalzeit und Lagezeit in der modalen Lagezeit, analysiert die Modalzeit aber unzulänglich und bleibt dadurch hinter der Radikalität Heideggers zurück. McTaggart hat nach dem oben 96 besprochenen Aufsatz von 1908 seine kritische Zeitanalyse abermals 1927 in einem Kapitel Time seines Buches The Nature of Existence dargestellt. 224 Die beiden Serien A und B führt er folgendermaßen ein: »For the sake of brevity, I shall give the name of the A series to that series of positions which runs from the far past through the near past to the present, and then from the present through the near future to the far future, or conversely. The series of positions which run from earlier to later, or conversely, I shall call B-series.« 225 In der B-Serie erkennt man leicht die Lagezeit. Dagegen ist die A-Serie nicht die Modalzeit (der modalen Lagezeit), sondern die ganze modale Lagezeit. McTaggart ignoriert den Unterschied, dass die Modalzeit der Zeit eine Einteilung bringt, erst die Lagezeit aber eine Anordnung von über die ganze Zeit hin gestreuten Positionen. Lineare Anordnung in einer Reihe enthält eo ipso die Beziehung des Früheren zum Späteren, als abstrakte mathematische Beziehung in jedem Fall, als zeitliche Beziehung jedenfalls bei der A-Reihe, wo es sich um eine Reihung in der Zeit handelt. Wenn McTaggart schon nicht die reine Modalzeit, sondern nur die Modalzeit der modalen Lagezeit, die von der Lagezeit mit Anordnung infiziert ist, betrachten wollte, hätte er, um der Lagezeit der modalen Lagezeit einen Vorsprung zu lassen, der A-Reihe nur die grobe Anordnung zumuten dürfen, dass das Vergangene früher, das Zukünftige später als das GeIch benütze den Abdruck in: The Philosophy of Time, ed. by Robin Le Poidevin und Murray MacBeath, Oxford 1993, S. 23–34 225 ebd. S. 24 224

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genwärtige ist. In der A-Reihe ist darüber hinaus die voll entfaltete Lagezeit (die B-Serie) enthalten. Dadurch erhält die Lagezeit von vorn herein ein Übergewicht als Fundament der als A-Serie gedachten Modalzeit. McTaggart sucht dieser Einseitigkeit entgegenzuwirken, indem er auch umgekehrt die Unentbehrlichkeit der A-Reihe für die B-Reihe mit der vermeintlichen Angewiesenheit der Zeit auf Wechsel oder Veränderung (change) zu erweisen sucht. Dieses äußerliche und umwegige Verfahren lässt die in jedem Sinn, nicht nur für die Zeit, ausschlaggebende Bedeutung der Modalzeit aus der primitiven Gegenwart außer Acht. Merkwürdig ist der in dem Aufsatz von 1908 noch fehlende Zusatz »or conversely«, der es dem Belieben anheimstellt, ob die Zeit in beiden Reihen von der Vergangenheit in die Zukunft oder von der Zukunft in die Vergangenheit (bzw. vom Früheren zum Späteren oder umgekehrt) abgelesen werden soll. Man könnte daraus schließen, dass McTaggart auf die Richtung des Flusses der Zeit keinen Wert mehr legt, zumal er die 1908 neben der A-Reihe und der B-Reihe eingeführte C-Reihe, die reine Lagezeit, fallen lässt. Wahrscheinlich ist aber etwas anderes gemeint. Man sollte zwischen dem Fluss der Zeit und der Strömung dieses Flusses unterscheiden. Der Fluss der Zeit besteht darin, dass die Vergangenheit wächst, die Zukunft (selbst wenn sie unendlich sein sollte) schrumpft und die Gegenwart wechselt. Die Richtung dieses Flusses besteht darin, dass nicht auch das Umgekehrte, Schrumpfen der Vergangenheit und Wachsen der Zukunft, geschieht. Diesem Fluss wird eine Strömung aufgeprägt, wenn man sich eine ihn treibende Kraft vorstellt. Dann ist die Strömung progressiv, wenn die wachsende Vergangenheit die Gegenwart in die Zukunft vorwärts drückt, und regressiv, wenn sich die Zukunft in die Gegenwart ergießt und diese dadurch an sich zieht. Für die primitive Gegenwart und die reine Modalzeit (die durch unzerrissene Dauer gedämpfte primitive Gegenwart) ist allein dieses Bild, der regressiven Strömung, angemessen; in der modalen Lagezeit kann man die Sache so und 239 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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so nehmen, wenn auch mit Vorrang der progressiven Strömung, und dann lässt sich bei McTaggart, der nur auf die modale Lagezeit achtet, der Zusatz »or conversely« in diesem Sinn verstehen. Dass McTaggart es wirklich so meinen dürfte, kann man der Anmerkung auf derselben Seite entnehmen, die sich mit den beiden Richtungen der Strömung des Flusses der Zeit beschäftigt. Sie beginnt mit den Sätzen: »It is very usual to contemplate time by the help of a metaphor of spatial movement. But spatial movement in what direction? The movement of time consists in the fact that later and later terms pass into the present, or – which is the same fact expressed in another way – the presentness passes to later and later terms. If we take it the first way, we are taking the B series as sliding along a fixed A series. If we take it the second way, we are taking the A series as sliding along a fixed B series. In the first case time presents itself as a movement from future to past. In the second case it presents itself as a movement from earlier to later.« Diese Sätze zeigen, dass McTaggart von der offenen Zukunft keine Ahnung hat oder nichts hält. Er betrachtet beide Reihen, die Lagezeit (B-Serie) und die modale Lagezeit (A-Serie), als feste Schienen, die von der fernen Vergangenheit in die ferne Zukunft oder umgekehrt von dieser in jene verlaufen und an denen, je nach der Betrachtungsweise, die andere Reihe entlangläuft. Das gelänge nur in einer vollständig geschlossenen Zukunft. Wenn aber die Lagezeit als Anordnung von Daten, d. h. größtmöglichen Massen gleichzeitiger (mit einander gegenwärtiger) Zeitinhalte, verstanden wird, kann sie sich nicht in die offene Zukunft hinein erstrecken, weil noch nicht feststeht, welche Zeitinhalte angeordnet werden können, d. h. welche durch das Entstehen aus der offenen Zukunft »herausgefischt« und nachträglich in die geschlossene Zukunft des Nochnichtseienden überführt werden. Die Lagezeit der modalen Lagezeit kann daher immer nur bis zur Gegenwart reichen. Man kann sie zwar darüber hinaus verlängern und von dem sprechen, was morgen, übermorgen usw. geschehen wird oder geschehen soll, aber das ist eine Leistung 240 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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der Phantasie, die ins Nichtseiende hinübergreift und sich nicht einmal, wie die Erinnerung, auf einen unveränderlich feststehenden Bestand berufen kann. Dies ist, wie ich schon gesagt habe, der wichtigste Grund für die Annahme einer progressiven Strömung des Flusses der modalen Lagezeit: Die modale Lagezeit wächst auf ihrem lagezeitlichen Arm selbst mit dem Wachsen der Vergangenheit auf Kosten der Zukunft und dem damit verbundenen Wechsel der Gegenwart mit in die Zukunft hinein, und dieses Wachsen gibt ihr die Richtung. Insofern ist das »or conversely« McTaggarts, die Gleichberechtigung der progressiven und der regressiven Strömung des Flusses der Zeit, nicht einmal der modalen Lagezeit angemessen, da diese sich selbst mit der Gegenwart in die Zukunft vorschiebt. McTaggart vergleicht seine beiden Reihen, A und B, nur, um die Unmöglichkeit der A-Reihe und damit auch die der nach seiner Meinung ohne diese nicht möglichen B-Reihe und also die Unmöglichkeit und Irrealität der Zeit überhaupt abzuleiten. Ich habe seine Argumentation unter 4.2 widerlegt. Sein Fehler war, die Verschiebung von Zukunft über Gegenwart zu Vergangenheit wie den Wechsel eines Attributes, nach Art der Veränderung einer grünen Sache in eine rote, aufzufassen, also die Sonderstellung der Existenz-Inductiva zu verkennen.

6.4 Husserl Husserls 226 Beitrag von bleibender Bedeutung zum Studium der Zeit ist die Entdeckung der Retention. Er fußt dabei auf der Lehre von William James, der die ausgedehnte Gegenwart einem Ich benütze für diese Darstellung zwei Bände der Husserliana: X Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893– 1917), hg. v. Rudolf Böhm, Haag 1963; XXXIII Edmund Husserl: Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein (1917/18), hg. v. Rudolf Bernet und Dieter Lohmar, Dordrecht 2001. Aus diesen Büchern zitiere ich im Folgenden bloß mit römischer Band- und arabischer Seitenangabe. Band X

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zur Vergangenheit sich absenkenden Sattel verglichen hatte. 64 Während James sich an die Gegenwart hält, legt Husserl in diesem Zusammenhang den Akzent auf die Vergangenheit, indem er herausarbeitet, wie sich dem gegenwärtigen Eindruck bruchlos ein automatisch sich abschwächendes Abgleiten anschließt, in dem die Vergangenheit, fast noch als Gegenwart, zum Vorschein kommt. Der eben gehörte Ton »ist mir noch gegenwärtig, obschon nicht mehr selbst-gegenwärtig, sondern nur noch gegenwärtig als vergangen« (X 212). Für diese zunächst als primäre oder frische Erinnerung bezeichnete Erscheinung findet Husserl in einem zwischen Oktober 1908 und dem Frühsommer 1909 entstandenen Aufsatz den besonders passenden Namen »Retention«, 227 zur Unterscheidung von der Reproduktion, der diskreten Erinnerung, die wieder aufsteigt oder wieder hergeholt wird. Über die Retention habe ich schon unter 2.1.4 gesprochen und darauf aufmerksam gemacht, dass Husserl ihre Tragweite überschätzt, indem er sie für ubiquitär hält, für eine allgemeine Form des Zeitbewusstseins. Es ist kein Zufall, dass fast alle seine Belege an Tönen und Klängen, selten an Geräuschen (Pfiff), abist so gegliedert: S. 3–98: Vorlesungen über das innere Zeitbewusstsein, 1928 hg. v. Martin Heidegger, angeblich von 1905, in Wirklichkeit aus Ausarbeitungen Husserls zwischen 1893 und 1911 ausgewählt und in Zusammenarbeit mit Husserl redigiert von Edith Stein. Der Text wurde von Husserl zum Druck freigegeben. S. 99–134: Beilagen der Ausgabe von 1928, enthaltend verstreute Aufsätze Husserls aus den Jahren 1905–1910, oder auch (Anmerkung des Herausgebers Böhm S. 99) 1910–1917. 137–382: Weitere Aufsätze Husserls zum Zeitproblem aus dem angegebenen Zeitraum, von Böhm hinzugefügt. Es folgt ein textkritischer Anhang. Was Husserl nach 1918 zur Zeit notiert hat, ist meines Wissens noch nicht zusammenhängend ediert. Was mir zugänglich war, habe ich behandelt in meinem Buch: Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 161–164 (zur Zeitlehre Husserls dort S. 152–167). Außer auf die Husserl-Darstellung in diesem Buch (S. 88–172) verweise ich auf die spätere in meinem Buch: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Band 2, Freiburg/ München 2007, S. 662–703 227 X 324 f., Anmerkung des Herausgebers

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gelesen sind, denn der akustische Bereich ist die Heimstatt der Retention, weil der Schall geschichtlich ist, indem er sich – anders als die Farbe – mit seiner vergangenen Dauer gleichsam auflädt, so dass diese in ihm als Retention noch mit- oder besser nachgehört wird. Aber nicht nur die Tragweite der Retention hat Husserl überschätzt, sondern auch ihr Gewicht für die Ausbildung des Zeitbewusstseins. Er hält nämlich die Retention für dessen Quelle bezüglich der Vergangenheit. 228 Das geht zu weit. Vergangensein ist Nichtmehrsein, Vorbeisein, von der Gegenwärtigkeit dessen, was noch nicht nicht mehr ist, getrennt durch den Riss des Abschieds221, und der fehlt gerade bei der Retention, die sich bruchlos, wie abrutschend auf einem Abhang, der Gegenwart anschließt. Sie ist ein zwiespältiges Zwitterwesen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Vergangenheit, die sich von der Gegenwart nicht lösen kann, ein bloßer Ansatz zur Vergangenheit, der diese, um Eintritt in sie zu gewinnen, als Perspektive schon voraussetzt, und dafür bedarf es einer elementareren Erfahrung, des Geschehens der primitiven Gegenwart (2.1). Diese Überschätzung nimmt der Entdeckung Husserls aber nicht den Wert. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass es solche Brücken von der Gegenwart zur Vergangenheit gibt, die den Bruch des Abschieds überdecken. Leider unterliegt Husserl einem grundsätzlichen Missverständnis der Retention, ihrer Dauer nach. Jede Dauer vor der Metrisierung durch Umdeutung der Zeit in eine Strecke nach dem Vorbild räumlicher Ausdehnung ist eine intensive, nicht extensive Größe (2.1.4), und dafür ist die Dauer der Retention, X 34: »Wie ich in der Wahrnehmung das Jetztsein erschaue und in der extendierten Wahrnehmung, so wie sie sich konstituiert, das dauernde Sein, so erschaue ich in der Erinnerung, wofern sie primär ist, das Vergangene, es ist darin gegeben, und Gegebenheit von Vergangenem ist Erinnerung.« X 159: »(…) in jedem Moment ist die Einheit des just Gegenwärtigen und Wahrgenommenen mit dem in der Kontinuität der Erinnerung Gegebenen eine gegenwärtige Erlebniseinheit. Und in dieser Erlebniseinheit erfahren wir das ›Wesen‹ der Vergangenheit.«

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des unwillkürlichen Nachwirkens frischer Eindrücke beim Abgleiten aus der Gegenwart in die Vergangenheit, ein exemplarisches Muster. Indem die intensive Stärke des frischen Eindrucks immer mehr abnimmt, wird die intensive Länge der Dauer dieser Abnahme immer größer, ohne dass man das Kontinuum dieser Verlängerung einer Abnahme in einzelne Phasen zerlegen und aus diesen bruchlos wieder zusammensetzen könnte; in der Unmöglichkeit einer solchen Operation, in dem absolut unspaltbaren Verhältnis der Retentionsphasen mit einander, besteht der jeden Eingriff vereitelnde Automatismus des Ablaufens der Retention. Husserl hält dagegen das Retentionskontinuum hartnäckig für eine extensive Größe, 229 ebenso die Zeit als unbegrenzter Teilung fähiges Kontinuum benachbarter Teilstrecken mit Grenzpunkten zwischen ihnen (XXXIII 306 und 307). Wie er diese Auffassung am Hörerlebnis bewähren will, zeigt folgendes Beispiel: »Ich höre soeben einen langen Pfiff. Er ist wie eine gedehnte Linie. In jedem Moment habe ich haltgemacht, und von da aus dehnt sich die Linie. Der Blick dieses Moments umfasst die ganze Linie, und das Linienbewusstsein wird als gleichzeitig erfasst mit dem Jetztpunkt des Pfiffs. Ich habe also in mehrfachem Sinn Wahrnehmung« (X 112). Husserl bemüht sich vergebens, Halt zu machen bei etwas, das nicht steht. Wohl kann man ständig (nicht eigentlich: von Moment zu Moment) auf das Anwachsen der Dauer des Pfiffs achten. Dann hat man aber nicht erstens einen erzwungenen Stillstand und zweitens einen dadurch ermöglichten Rückblick, sondern eine einzige, fortwährende Wahrnehmung des schon begonnenen und vorwärts drängenden Ansteigens der Dauer des Pfiffs. Husserl versucht auch die Zerlegung durch das, was ich unter 3.3.2 als indirekte Messung bezeichnet habe, wenn man z. B. einen ganzen Ton in zwei Halbtöne zerlegt, weil die beiden kürzeren Töne, XXXIII 65 f. teilt er das Kontinuum der »Abklangsstrecken« in größere, kleinere und gleiche Teile, lässt auch »ideell« die Umkehrung der Reihenfolge zu, allerdings nicht jede beliebige Teilung.

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die man für gleich lang hält, gemeinsam zur selben Zeit anfangen und aufhören wie der längere Ton; er meint, dass dadurch Abschnitte in der Dauer unterscheidbar würden (X 86). Aber dann könnte man ja auch gleich zur direkten Messung mit der Uhr übergehen und einen Ganzton als das Ganze von 16 Abschnitten mit je einem Sechzehntelton darstellen. Das Ergebnis dieser Zerlegung und Zusammenstellung klänge ganz anders als der Ganzton. Die Zerlegung einer intensiven Länge in Abschnitte ist unmöglich. Husserl fasst die extensive Dauer des Kontinuums, das sich aus frischen Eindrücken mit angehängten Retentionen ergibt, als Punktemannigfaltigkeit auf: »Jeder frühere Punkt dieser Serie schattet sich als ein Jetzt wieder ab im Sinne der ›Erinnerung‹, und stetig schließt sich an jede solche Erinnerung eine Kontinuität von Erinnerungsabschnitten an, und diese Kontinuität ist selbst wieder ein Punkt der Aktualität, ein ›Jetzt‹, das sich erinnerungsmäßig abschattet« (X 327). Zwischen 1870 und 1884 veröffentlichte Georg Cantor seine bahnbrechende Artikelserie Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten, in der er ganz besonders stetig angeordnete Punktmengen betrachtete. Husserl mag als Mathematikstudent bei Weierstraß, der Cantor früh rezipierte, davon gehört haben, oder später in Halle, als er dort Privatdozent der Philosophie und Cantor Professor der Mathematik war, obwohl sich Husserl meines Wissens nie auf Cantors (und Dedekinds) Topologie stetiger Mengen bezieht. Jedenfalls ist seine Vorstellung des Zeitkontinuums als Urimpressionen und Retentionen (sowie Protentionen, s. u.) ganz nach dem von Cantor vorgegebenen Leitbild, ausgeweitet auf mehrere Dimensionen, geformt. Diese Ausweitung führt aber zu einem Problem, mit dem Husserl nie fertig geworden ist, weil kein Grund dafür zu finden ist, bei einer Dimensionszahl aufzuhören, so dass sich eine Aufblähung der Retentionen ins Unendliche ergibt. 230 Man kann sich das so klarmachen: Die 230

»Den Fluss entlang oder mit ihm gehend, haben wir eine stetige zum

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Urimpressionen (frischen Eindrücke) bilden ein Linearkontinuum, wobei sich an jeden Punkt der Linie ein Linearkontinuum sich abschwächender Retentionen anschließt. Die Retention aller dieser Linearkontinuen (mit je einer Urimpression als Anfang und einer Folge von Retentionen als Anhang) bildet ein sich während der Dauer fortwährend verlängerndes Flächenkontinuum, in dem die Retention jedes Retentionspunktes durch Längslinien parallel zum Linearkontinuum der Urimpressionen dargestellt ist. Die Retention aller dieser in stetiger Folge der Verlängerung angeordneten Flächenkontinuen bildet ein dreidimensionales Kontinuum, die Retention der in diesem durch stetige Verlängerung angeordneten Kontinuen ein vierdimensionales Kontinuum, und so weiter für jede natürliche Zahl, so dass man schließlich einen unendlichdimensionalen Raum braucht, um alle diese Kontinuen unterzubringen. Mit dem Schreckgespenst solcher Aufblähung der Retentionen zu einem unendlichen progressus ist Husserl nie fertig geworden. Gründlich hat er sich damit in einer Aufzeichnung von 1908/09, in die sein glücklicher Fund des Namens »Retention« fällt, auseinandergesetzt (X 324–334, Nr. 50). Nach mehreren Anläufen, die ihn nicht befriedigen, zerhaut er den gordischen Knoten durch die Entscheidung: »Der Fluss der Bewusstseinsmodi ist kein Vorgang, das Jetzt-Bewusstsein ist selbst nicht jetzt« (X 333). »Also Empfindung, wenn damit das Bewusstsein verstanden wird (nicht das immanente dauernde Rot, Ton etc., also das Empfundene) ebenso Retention, Wiedererinnerung, Wahrnehmung etc. ist unzeitlich, nämlich nichts in der immaEinsatzpunkt gehörige Reihe von Retentionen. Überdies jedoch schattet sich jeder frühere Punkt dieser Reihe als ein Jetzt wiederum ab im Sinne der Retention. An jede dieser Retentionen schließt sich eine Kontinuität von retentionalen Abwandlungen an, und diese Kontinuität ist selbst wieder ein Punkt der Aktualität, der sich retentional abschattet. Das führt auf keinen einfachen unendlichen Regress, weil jede Retention in sich selbst kontinuierliche Modifikation ist, die sozusagen in Form einer Abschattungsreihe das Erbe der Vergangenheit in sich trägt.« (X 29)

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nenten Zeit« (X 333 f.). »Die subjektive Zeit konstituiert sich im absoluten zeitlosen Bewusstsein, das nicht Objekt ist« (X 112). Aus der Relativität immer höherer Retentionsstufen weicht Husserl in einen absoluten zeitlosen Urfluss als letzte Instanz aus. Er hat »die absoluten Eigenschaften eines im Bilde als ›Fluss‹ zu Bezeichnenden, in einem Aktualitätspunkt, Urquellpunkt, ›Jetzt‹ Entspringenden usw. Im Aktualitätserlebnis haben wir den Urquellpunkt und eine Kontinuität von Nachhallmomenten. Für all das fehlen uns die Namen« (X 75). Diese merkwürdige Sprachnot verstehe ich so, dass Husserl an einen Bereich rührt, der vor der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt (2.2) liegt und daher des Einzelnen, das er »individuell« nennt, ebenso wie der nur durch Einzelheit möglichen Lagezeit ermangelt; er drückt sich darüber so aus: »Die zeitkonstituierenden Phänomene sind also evidentermaßen prinzipiell andere Gegenständlichkeiten als die in der Zeit konstituierten. Sie sind keine individuellen Objekte bzw. keine individuellen Vorgänge, und die Prädikate solcher können ihnen nicht zugeschrieben werden. Also kann es auch keinen Sinn haben, von ihnen zu sagen (und in gleicher Bedeutung zu sagen), sie seien im Jetzt und seien vorher gewesen, sie folgten einander zeitlich nach oder seien miteinander gleichzeitig usw.« (74 f.). Da Husserl sich nur im Einzelnen zurechtfindet, wird er hier ratlos, genauer: sprachlos. Als eingeschworener Singularist lässt er Dauer nur als Beharrlichkeit einzelner Objekte gelten und muss sie daher dem Urfluss absprechen: »Im ursprünglichen Fluss gibt es keine Dauer. Denn Dauer ist die Form eines dauernden Etwas, eines Identischen in der Zeitreihe, die als seine Dauer fungiert« (X 113). Er ist blind für absolute, intensive Dauer, die so wenig einer dauernden einzelnen Sache bedarf wie Wärme eines warmen Gegenstandes, z. B. eines Heizofens, der nur physikalisch (etwa als Sonnenofen), nicht phänomenologisch benötigt wird. Ich würde an die Stelle des Husserl’schen Urflusses etwa den Fluss der reinen Modalzeit setzen, in dem solche Dauer ohne Vereinzelung das Geschehen der primitiven Gegenwart dämpft. 247 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Husserl ist blind für solche Schichtung der Zeit und weicht, wenn er den Halt an der Zeit als einem Ablauf auf der Bühne des Geschehens an einzelnen Figuren verliert, ins Zeitlose aus. Nur die voll metrisierte Lagezeit (3.3.2) genügt seinen Ansprüchen an die Zeit. Deswegen findet er es absurd, dass der Urfluss nicht schneller oder langsamer laufen kann (X 74). Husserl hat sich aus Furcht vor dem Ausschweifen der Retention ins Unendliche, aber auch im Zuge des subjektiven Idealismus seiner Konstitutionstheorie, in die Mystifikation eines zeitlosen, Zeit konstituierenden Urflusses oder urtümlichen Strömens verstrickt. Er ist diese Mystifikation nicht mehr losgeworden und hat nicht aufgehört, mit ihr zu kämpfen, seit sie zu einem gefährlichen Rivalen des transzendentalen Ichs als des spiritus rector aller Konstitution geworden war. 231 Die Wurzel dieser fast tragischen Verstrickung ist die Verkennung der Dauer (der Retentionen und Urimpressionen) als extensive statt als intensive Größe, als n-dimensionales, in Abschnitte teilbares Punktekontinuum. Ich glaube nicht einmal, abgesehen von aller Retention, dass auch nur die Dauer eines Tones, Husserls Anknüpfungsstelle seiner Überlegungen zum Zeitbewusstsein, als eine Folge von Urimpressionen (momentanen frischen Schüben von Tonfragmenten) gehört werden kann, schon gar nicht als stetige Folge, aber auch nicht, wie Husserl manchmal, von seinem Postulat der Stetigkeit abweichend, sich ausdrückt, als Folge benachbarter Urimpressionen. Und das ungeheuerlich aufgeschwemmte Gebilde von Retentionen, Retentionen von Ketten von Retentionen in Retentionen usw., mit eigener Retention jeder Phase dieser fortschreitenden Komplikation, ist doch wohl noch in keines Menschen Gehör gekommen. Husserl ist einer selbst gemachten Chimäre erlegen, mit zu viel unverdauter Mengenlehre in der Phänomenologie. Husserl hat der Retention, der unwillkürlich in VergangenHusserl und Heidegger (s. Anmerkung 226), S. 156–161: Die Unterminierung des Ich

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heit abgleitenden, aber noch an Gegenwart hängenden frischen Erinnerung, die Protention zur Seite gestellt, die unwillkürlich auf das Bevorstehende gespannte Erwartung; ausführlicher beschäftigt er sich mit ihr erst in den Bernauer Manuskripten. Sie ist »das genaue Gegenstück zur unmittelbaren Retention«. 232 Diese Übereinstimmung schränkt Husserl gelegentlich ein. 233 Hiernach ist die Protention anders als die Retention mit Unsicherheit behaftet und borgt Motive von der Retention. Diese von Husserl notierten Abweichungen werden aber von der Übereinstimmung überwogen, die Husserl so ausdrückt: »Kontinuierliche Zusammenhänge von protentionalen Reihen gehen zu jedem Punkt der Urpräsentation, sich in ihm erfüllend, kontinuierliche Abfolgen von Retentionen strömen von jedem dieser Punkte aus als notwendige Folgen von Entfüllungen« (XXXIII 111). Hiernach laufen die Protentionen ebenso in Reihen auf die Urimpressionen (hier »Urpräsentationen« genannt) zu, wie die Retentionen von solchen abführen. Solche Protentionen gibt es zwar, z. B. bei lebhafter Erinnerung an den Gang einer schon bekannten Geschichte234 und besonders beim Hören der Musik, wenn man, z. B. in der Kadenz, auf einen ganz bestimmten Fortgang gefasst ist. Gewöhnlich aber sind die ProtenEdmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch, Halle a. d. Saale 1913, S. 145 (hg. v. Walter Biemel, Husserliana III, Haag 1950, S. 179) 233 »Wesentlicher Unterschied aber zwischen Protention, die offen lässt, wie das Kommende sein mag und ob nicht die Objektdauer aufhören und ›wann‹ sie aufhören mag, und der Retention, die gebunden ist.« (X 297 Anmerkung 2, nachträgliche Randbemerkung Husserls zu seinem Aufsatz) »Im Ganzen ist doch ein großer Unterschied zwischen Retention und Protention, was die Bestimmtheit im intentionalen Gehalt angeht. Der Verlauf des retentionalen Zweiges bzw. der jeweilige retentionale Gehalt des eben auftretenden retentionalen Zweiges wirkt auf die Protention inhaltsbestimmend ein und zeichnet ihr den Sinn mit vor. Die Vorzeichnung, die Motivation, ist etwas, das gesehen werden kann.« (XXXIII 38) 234 »Jede Phase (…) enthält eine auf die nächste, und durch sie hindurch auf die ganze Folge, gerichtete Antizipation: ›Jetzt muss das kommen, dann das usw.‹« (XXXIII 368, über Protentionen in der Wiedererinnerung) 232

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tionen, die unwillkürlichen Vorwegnahmen dessen, worauf man gefasst ist, nicht gereiht, sondern gespeichert in der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen als unwillkürlich erwartete Sachverhalte, die meist erst bei Überraschungen, wenn es nicht so kommt wie erwartet, einzeln hervortreten. Diesen grundlegenden Unterschied zwischen Retentionen und Protentionen, dass Retentionen den vollständigen Inhalt der erlebten Gegenwart abführen, Protentionen aber nur Sachverhalte aus der Zukunft vorwegnehmen, und auch das meist ohne Vereinzelung dieser Sachverhalte, scheint Husserl übersehen zuhaben. Das wird besonders angesichts der offenen Zukunft wichtig. Ich habe unter 3.5 gezeigt, dass die in offene Zukunft gerichtete Erwartung nur legitim ist, wenn sie sich auf Sachverhalte richtet, weil man andere Inhalte der offenen Zukunft wegen deren Offenheit nicht schon identifizieren, d. h. als diese und keine anderen bestimmen kann. Bei der Rückerinnerung an eine schon bekannte Geschichte234 spielt das freilich keine Rolle, wohl aber bei der echten Erwartung, die an der Offenheit der Zukunft vorbeisieht, wenn sie über Sachverhalte, dass etwas sein wird oder nicht, hinaus auf bestimmte Zeitinhalte abzielt, während die Erinnerung solche in der Vergangenheit sehr wohl identifizieren kann. Diesen Unterschied hat Husserl übersehen. Er meint, dass in beiden Einstellungen »prinzipiell eine vollkommene Vorstellung möglich ist, d. h. eine solche, die nichts mehr von einer Diskrepanz zwischen Gegebenem und Intendiertem, also nichts von einem Unterschied zwischen Bildobjekt und Sujet enthält«, und beruft sich auf ein adäquates prophetisches Bewusstsein und einen Plan, der dem Geplanten »mit Haut und Haar« gleicht (X 206). Eine vollkommene Vorstellung ist nie möglich, denn wer will schon alle unendlich vielen, wo nicht gar überabzählbar unendlich vielen, Attribute einer Sache kennen? Außerdem übersieht Husserl den angegebenen Unterschied zwischen Erwartung und Erinnerung. Vielleicht hielt er nichts von offener Zukunft. Über das Verhältnis von Modalzeit und Lagezeit geht Husserl 250 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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lange Zeit ziemlich nonchalant hinweg, indem er lagezeitliche Bestimmungen (vorher, nachher) und modalzeitliche (gegenwärtig, vergangen) bedenkenlos mischt. Dagegen nimmt er in den Bernauer Manuskripten (Nr. 10, XXXIII 181–183) sehr dezidiert Stellung: Die Zeitmodi (vergangen, gegenwärtig, künftig) gelten als bloße subjektive Gegebenheitsweisen, die die Zeitgegenstände selbst nicht berühren. »Die Zeit und ihre Gegenstände fließen nicht, sie sind und das Sind ist starr.« »Der Vogel fliegt: Eine bestimmte Zeitstrecke der objektiven Zeit ist so und so objektiv erfüllt«, und »in der objektiven Zeit ist diese erfüllte Strecke starr. Und Veränderung in der objektiven Zeit darf nicht verwechselt werden mit dem ›Fluss‹ der Gegebenheitsweisen, in denen jedes Zeitliche für das Subjekt ›erscheint‹.« Das klingt wie die Meinung von Weyl, 86 die von Bertrand Russell expliziter vertreten wurde. Man muss aber den Kontext des Denkens berücksichtigen. Weyl und Russell sind Realisten, die die objektive Vorhandenheit von etwas als Grundlage und Voraussetzung der Beziehung auf ein Subjekt ansehen. Für den Idealisten Husserl ist etwas vorhanden nur kraft Konstitution durch ein transzendentales Subjekt, so dass die Vorhandenheit von vorn herein auf dieses Subjekt bezogen (Vorhandenheit für es) ist. Diese Sicht scheint durch, wenn Husserl an anderer Stelle der Bernauer Manuskripte über die »Zeitmodi« Gegenwart und Vergangenheit schreibt: »Ursprünglich gegeben ist individuell Seiendes in der Wandlung dieser Zeitmodalitäten oder in dieser Wandlung der endlos ›strömenden Zeit‹, in der sich als Einheit (der zusammengehörigen Mannigfaltigkeiten des Strömenden) die starre oder objektive Zeit konstituiert (als starre Form des starren ›Seins‹, in dem Veränderung nur scheinbar die Starrheit überschreitet) oder die Zeit, die Wesensform alles (selbst starren) Daseienden ist« (XXXIII 297). Dieser Idealismus ist der Hintergrund aller Zeitanalysen Husserls seit dessen idealistischer Wendung im 1. Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Er beruht auf der Überzeugung, dass das 251 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Sein aller objektiv vorhandenen Gegenstände, namentlich der »äußeren« und dinglichen z. B. der Natur, auf der Weise beruht, wie sie sich im Bewusstsein darstellen können; Husserl nennt das »Konstitution«. Dieses Bewusstsein fasst er auf als Innenwelt eines Ichs, das dort Empfindungen (»hyletische Daten«) vorfindet, die es mit Hilfe von Auffassungen durch intentionale Akte auf Gegenstände, besonders solche der Außenwelt, bezieht. Nun ergibt sich aber für ihn aus der Entdeckung der Retention, dass diese Bewusstseinsinhalte, hyletische Daten und Akte, selbst wieder in den mehrdimensionalen Punktekontinuen, die aus Urimpressionen, Retentionen und Protentionen bestehen, konstituiert werden müssen. Der Urfluss, der diese Kontinuen zusammenfasst, wird damit zum Urheber aller Konstitution und rückt in der Rolle ein, die eigentlich dem Ich zusteht; er gilt als »absolute Subjektivität« (X 75). Alle späten – auf die hier behandelten Aufsätze folgenden – Bemühungen Husserls um das Zeitproblem dienen dem Bemühen, die Konkurrenz zwischen dem stehenden Ich und dem strömenden Urfluss um den Rang des »letzten und wahrhaft Absoluten«, der in einer Andeutung von 1913 235 dem Urfluss zugeschrieben wird, durch Versöhnung zu beenden. Husserl versucht das, indem er den Urfluss in das Ich hineinverlegt, als stehend-strömende (»lebendige«) Gegenwart. Damit wird aber der Gegensatz von Stehen und Strömen in das Ich selbst hineingetragen. Rein logisch gesehen, ist das keine unüberwindliche Schwierigkeit. Stehendes Strömen kommt sogar anschaulich über längere Zeit vor in der Wasserfallillusion. 236 Es handelt sich um einen Fall von Zwiespalt, 237 in dem die unverträglichen Konkurrenten einem Widerspruch dadurch entgehen, dass sie aus ihrem absolut unspaltbaren Verhältnis nicht in die Beziehung des Widerspruchs wie Anmerkung 232, S. 163 (Ausgabe von Biemel, S. 198) Hermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg i. Br. 2013, S. 61 f. 237 ebd. S. 59–67 235 236

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freigesetzt werden können. Wie ein solcher Zwiespalt logisch einwandfrei zu konstruieren ist, habe ich durch eine Erweiterung der Aussagenlogik gezeigt. 238 Nicht das stehende Strömen ist dem alten Husserl anzulasten, sondern die Chimäre des Urflusses und der verunglückte subjektive Idealismus. Er hat sich als alter Mann am Gigantenkampf zweier Illusionen abgerungen.

6.5 Bergson Husserl ist an seiner Entdeckung der Retention gescheitert, weil er deren Dauer als extensive Größe missverstand. Bergson239 ist der Erste, der entdeckt hat, dass die Dauer – sein Hauptthema – intensiv ist, während man sie sonst nur oberflächlich als Zeitabstand in der metrisierten modalen Lagezeit aufzufassen pflegt. Ehe ich diese große Leistung näher beleuchte, muss ich auf die Quelle und ihre Entstehung, auf die es für die Würdigung in diesem konkreten Fall etwas ankommt, eingehen. Es handelt sich um das zweite, der Dauer gewidmete Kapitel (51–92) von Bergsons 1889 gedruckter Doktorthese Essai sur les données immediates de la conscience; darauf konzentriere ich mich im Folgenden, weil alle späteren Äußerungen Bergsons über die Dauer nur Paraphrasen dieses ersten Wurfs sind. Das erste Kapitel betrifft die Intensität, das dritte, auf dem zweiten fußend, die Freiheit. In die Entstehung des Werkes gab Bergson anekdotische Einblicke in einem Bericht (1541–1543), den Ch. Duclos in seinem Tagebuch 1921/23 festhielt; er wurde 1946 zuerst gedruckt.

ebd. S. 123–132 Ich zitiere mit bloßen Seitenzahlen aus: Henri Bergson, Oeuvres, Edition du centenaire, Paris (Presses Universitaires de France) 1963. Ich erwähne meine Darstellung der Philosophie Bergsons an drei seiner Hauptwerke: Der Weg der europäischen Philosophie Band 2, Freiburg/München 2007, S. 628–635.

238 239

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Da er mit wenig Verständnis für seine Ausführungen über die Dauer rechnete, stellte Bergson diesen ein Kapitel über die damals im Zuge der Diskussion über das Fechner’sche psychophysische Gesetz beliebtere Intensität voran und hatte damit Erfolg; in der Verteidigung (soutenance) vor der Prüfungskommission fand dieses Kapitel besonderen Anklang. Die Ausführungen über die Dauer im 2. Kapitel stießen dagegen auf ein Unverständnis, das Bergson wütend machte und zu einer Umarbeitung veranlasste, um die Prüfer wenigstens ahnen zu lassen, worum es ging. Weil Kant damals so hoch im Ansehen stand, dass ein Werk wie das Bergsons ohne Auseinandersetzung mit ihm nicht durchgehen konnte, fügte Bergson eine Schlussbemerkung über die Irrtümer Kants hinzu, obwohl dieser ihn nicht sonderlich interessierte. Es kann gewagt scheinen, dass ich Bergson als den Entdecker der intensiven Dauer ausgebe, da er gemäß dem 1. Kapitel des Essai von intensiven Größen nichts wissen will und ihnen die quantitative Vergleichbarkeit bestreitet. Das liegt aber nur daran, dass er den Vergleich nur zulässt, wenn er sich durch Abbildung der kleineren Größe auf einen herausnehmbaren Teil der größeren durchführen lässt, d. h., wenn die Größen extensiv sind. 240 Deswegen will er die Intensität durch eine Vielheit qualitativer Nuancen (sowie Projektion der Ursachen in die gespürten Effekte) ersetzen. Diese Umdeutung misslingt. Es bleibt unverkennbar, dass Schmerzen und Kraftanstrengung stärker und schwächer, Wärmen wärmer, Kälten kälter, Geräusche und Klän-

von Körpern und Zahlen: »In beiden Fällen handelt es sich um ungleiche Räume, wie wir es im Detail etwas später zeigen werden, und man nennt den Raum größer, der den anderen enthält. Aber wie sollte eine intensive Empfindung eine Empfindung von geringer Intensität enthalten?« (5) »Wenn eine Quantität wachsen und abnehmen kann, wenn man darin sozusagen das Weniger an der Seite des Mehr wahrnimmt, ist sie nicht eben dadurch teilbar, eben dadurch ausgedehnt? Ist es dann nicht ein Widerspruch, von einer unausgedehnten Quantität zu sprechen?« (6)

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ge lauter und heiser sein können. Das sind quantitative Dimensionen. Es trifft auch nicht zu, dass nur extensive Größe quantitativ vergleichbar wären. Ich habe unter 2.1.4 einen Intensitätsbegriff angegeben, der solchen Vergleich in vernünftigen Grenzen erlaubt. Demnach hat die intensive Größe wie die extensive Teile, aber nur solche, die mit einander in absolut unspaltbarem Verhältnis stehen, also nicht zu einander in Beziehung gesetzt werden können. Von zwei qualitativ gleichen oder wenigstens hinlänglich ähnlichen intensiven Größen a und b ist a kleiner als b, wenn für den Fall, dass es gelingt, beide zu mischen, a in b aufgeht und b dadurch größer wird. So geht ein milder Schmerz, wenn der Unterschied dem Ort oder der Art nach nicht zu groß ist, in einem starken auf, eine leisere Stimme in einem lauten Rufen, die Wärme einer Kerze in der Strahlung eines heißen Ofens. Bergson hat aber Recht, wenn er den intensiven Größen ein homogenes Substrat bestreitet, eine Qualität, die ohne Änderung als solche nur mehr oder weniger wird. Ich habe unter 2.1.4 darauf hingewiesen, dass das Beharrliche im intensiven Größenwandel nur im Spielraum einer spezifischen Ähnlichkeit besteht. Überdies sollte man die systematische Bedeutung des Intensitätskapitels im Essai nicht überschätzen. Bergson gibt ja zu, dass er es nur aus den erwähnten Karrieregründen hinzugefügt hat, während es ihm eigentlich um Dauer und Freiheit ging. Das eigentümliche Verdienst von Bergsons Konzeption der Dauer kann ich nur herausarbeiten und von den Überbleibseln unhaltbarer Vorurteile abschälen, wenn ich einiges über den Zahlbegriff vorausgeschickt habe. Die Zahl (Anzahl) ist nicht das Zählen und hängt nicht von diesem ab, aber sie ist das, was die Welt dem Menschen so entgegenbringt, dass Zählen möglich wird: die Zählbarkeit einer Menge, d. h. ihre umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit. Demgemäß habe ich definiert: Anzahl einer Menge M ist die Eignung einer Menge dazu, umkehrbar eindeutig auf M abgebildet zu werden. Da es sich um eine Äquivalenzrelation handelt, hat jede Menge eine und nur eine solche Eig255 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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nung.241 Welche es ist, kann man für jede Menge leicht angeben. 1 ist die Anzahl jeder nichtleeren Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist. Durch sukzessive Vereinigung solcher Mengen erreicht man für jede natürliche Zahl einen Repräsentanten. Um einem solchen auch für transfinite Zahlen zu gewinnen, braucht man nur alle diese Repräsentanten zu einer Menge zusammenzufassen und mit denselben Operationen fortzufahren; man erhält für die transfiniten Ordnungszahlen Repräsentanten, die gruppenweise dieselbe Zahl (Kardinalzahl, Anzahl) haben. Dann braucht man nur die leere Menge mit der Anzahl Null hinzuzufügen und hat alle Mengen bei den Zahlen untergebracht (vorausgesetzt natürlich, der Beweis des Wohlordnungssatzes stimmt für unendliche Mengen). Die Einsicht in diese Natur der Zahl ist nicht sehr alt. Hume scheint der Erste gewesen zu sein, der die entscheidende Bedeutung der umkehrbar eindeutigen Abbildbarkeit für die Zahl bemerkte. Er hat die Zahl aber noch mit der Menge, die diese Eignung hat, identifiziert. Frege hat bemerkt, dass die Zahl um eine Abstraktionsstufe höher gelegt werden muss, weil viele Mengen dieselbe Zahl haben. Er hat aber eine extensionale Abstraktionsstufe gewählt und die Zahl als die Äquivalenzklasse der Äquivalenzrelation ausgegeben. Dies ist wenig informativ, weil man dadurch, dass man hört, dass eine Sache Element einer gewissen Klasse oder Menge ist, noch nicht erfährt, durch welche Eigenschaft sie sich dazu qualifiziert; es können viele in Frage kommen. Ich habe daher den angegebenen intensionalen Zahlbegriff bevorzugt. Vor dem Hume-Frege’schen Neuansatz war das Zahlverständnis seltsam naiv und undurchdacht. Den Tenor gab Euklid vor mit den Definitionen: »Einheit (Monas) ist, der gemäß ein jegliches von den Seienden eines genannt wird. Zahl ist die aus

Beweis bei Hermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg i. Br. 2013, S. 149 f.

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den Einheiten (Monaden) gebildete Menge.« 242 Im ersten Satz ist von einer Eigenschaft die Rede, die Euklid jedem Seienden zuschreibt.243 Im zweiten Satz macht Euklid daraus Sachen, die man mit anderen Sachen ihresgleichen zusammensetzen kann, aparte Einsen. Dieselbe Eigenschaft aller Seienden, eine einzige, verwandelt sich in lauter Trupps von Sachen, die einander völlig gleich sind, da sie keinen anderen Inhalt haben als diese Eigenschaft, nur hypostasiert und vervielfältigt. Aus dieser Magie der Begriffsvertauschung entsprang die Sage, die Zauberkraft der Mathematik schleife die bunte Vielfalt der Wirklichkeit zu einer öden Gleichförmigkeit nivellierter Abstrakta ab. Nietzsche machte daraus den Vorwurf gegen das Denken in Begriffen, es sei »Weglassen des Ungleichen«, »Übersehen des Individuellen und Wirklichen«, bis hin zu der »Verpflichtung, nach einer festen Konvention zu lügen.« 244 In Wirklichkeit wird keiner Sache ein Haar gekrümmt, keine Spur ihrer bunten Fülle genommen, wenn man sie als Fall einer Gattung ansieht; unzählige andere Gattungen bleiben ihr offen, und dadurch erst wird die Sache vielseitig. Im vorliegenden Fall ist besonders wenig Schaden für die (laut Redensart unaussprechlichen) Individuen zu fürchten, denn die Abschleifung träfe nur die Mengen, deren Gattungen oder Eigenschaften die Zahlen sind. Es ist aber höchst merkwürdig, wie lange sich die durch Begriffsverschiebung verbogene Zahlauffassung Euklids auch bei Mathematikern gehalten hat, bis hin zu Freges Zeitgenossen Cantor, der unablässig mit um-

Elemente Buch 7, Definitionen 1 und 2 Er meint wahrscheinlich die numerische Einheit oder Einzelheit, Element einer Menge mit der Anzahl 1 zu sein. Für weitere Einheitstypen (analytische, synthetische, elementare oder einfache Einheit) vgl. Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 31–34 244 Nietzsche, Sämtliche Werke, Studienausgabe von Colli und Montinari, als Taschenbücher Berlin 1980, Band 1, S. 879–881 (Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn) 242 243

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kehrbar eindeutiger Abbildbarkeit der transfiniten Kardinalzahlen zu tun hatte. 245 Noch ein weiteres Missverständnis, nächst der vermeintlichen mathematischen Nivellierung der Welt zu einer Serie entleerter Einsen, droht vom Erbe des durch Euklid formulierten Zahlverständnisses, nämlich die Verwechslung der Zahl mit dem Ergebnis des Zählens. So wie man beim Zählen die Elemente der gezählten Menge Stück für Stück durchläuft, um sie mit den Elementen einer Zählmenge (z. B. von Zahlwörtern oder Fingern) zu paaren und dadurch das Zählen als umkehrbar eindeutiges Abbilden jener Menge auf diese zu vollenden, so durchläuft man nach Euklid eine Reihe von Einsen, um am Ende, das Ganze zusammenfassend, die Zahl zu haben. Die von dieser Analogie motivierte Verwechslung bestimmt die Zahlauffassung von Kant. »Also ist die Zahl nichts anderes, als die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung überhaupt, dadurch, dass ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge.« 246 Offensichtlich wird Kant von der Vorstellung des Durchlaufens einer Reihe gleicher Einsen mit Zusammensetzung nach Euklid geleitet. Aber die Zahl ist nicht das Ergebnis eines Durchzählens, sondern die Zählbarkeit; sonst wäre die Zahlenreihe ziemlich kurz. Beide Fehler des atavistischen post-antiken Zahlverständnisses, der von Cantor (Nivellierung) und der von Kant (Zusammensetzung durchlaufener Einsen), verbinden sich bei Bergson zu einem durch und durch veralteten Zahlbegriff und machen ihm möglich, die Zahl mit dem Raum in Übereinstimmung zu Georg Cantor, Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts, hg. v. Ernst Zermelo, Berlin 1932, Nachdruck 1980, S. 283: »Da aus jedem einzelnen Elemente, wenn man von seiner Beschaffenheit absieht, eine ›Eins‹ wird, so ist die Kardinalzahl M selbst eine bestimmte aus lauter Einsen zusammengesetzte Menge, die als intellektuelles Abbild oder Projektion der gegebenen Menge M in unserem Geiste Platz hat.« 246 Kritik der reinen Vernunft A142 f. B182 245

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bringen, da sein Raumverständnis von gleicher Art ist. Der Entleerung der Zahl zu einem Haufen von Einsen entspricht die Entleerung des homogenen und isotropen Raumes zu einem Haufen von Punkten247 und die Aufreihung nach Kant der Nebeneinanderstellung (iuxtaposition), die für Bergson das übereinstimmende Strukturmerkmal von Raum und Zahl und die eine Seite des sein ganzes Denken prägenden Hauptgegensatzes von iuxtaposition und pénétration (Durchdringung) ist. Wenn man sich damit begnügen dürfte, müsste man über Bergson das vernichtende Urteil fällen, dass er einem veralteten und unangemessenen Denkmodell zum Opfer fällt, zumal sein Raumverständnis so einseitig ist, wie sein Zahlverständnis von Grund auf verkehrt. Der Raum, an den Bergson denkt, ist allenfalls der Ortsraum, der zu sagen gestattet, wo etwas ist, eine späte und oberflächliche Schicht der Räumlichkeit, möglich erst durch die Entfremdung des Raumes vom Leib und vom leiblichen Raum durch das Eintreten der Fläche in den Raum. Zu den tieferen Schichten der Räumlichkeit, die vom Ortsraum vorausgesetzt werden, gehören alle flächenlosen Räume, darunter der Richtungsraum (der flüssigen Bewegung, des Schalls, der gerichteten Gefühle), atmosphärische Räume, 248 der Weiteraum, der in Ekstasen und Raumängsten aufdringlich wird. 249 Von all dem hat Bergson keine Ahnung. Er bleibt an dem Raum hängen, von dem die Physiker sprechen. In der Tat ist aber die Entdeckung der Dauer mit Gegenüberstellung ihrer pénétration zur iuxtaposition eine geniale und bahnbrechende Tat, da sie zwei Typen der Mannigfaltigkeit beDer Vergleich der Einsen mit den Punkten findet sich bei Bergson meines Wissens nicht, obwohl sie gut zu seinem Brückenschlag von Zahl zu Raum passen würde und auch in der Antike angelegt ist, wenn Aristoteles den Punkt als eine Eins, die eine Lage hat, charakterisiert. 248 Hermann Schmitz, Atmosphärische Räume, in: Atmosphären II, hg. v. R. Goetz und St. Graupner, München 2012, S. 17–29 249 für alles: Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 121–128: Leib und Raum 247

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trifft (81), von denen die Mannigfaltigkeit der Bewusstseinszustände nicht numerisch ist. 250 Man braucht nur »Zahl« durch »numerische Mannigfaltigkeit«, »Mannigfaltigkeit nur von Einzelnem«, zu ersetzen und ist bei einer Entdeckung, mit der Bergson nahezu allen Philosophen der Neuzeit voraus ist. Die wechselseitige Durchdringung, die Bergson der Dauer des Erlebens vindiziert, ist eigentlich das absolut unspaltbare Verhältnis, das bei den Partnern des Verhältnisses ohne Einzelheit auskommt (s. o. Kapitel 1.4). Die Momente dieser Dauer konstituieren keine numerische Mannigfaltigkeit (91). Sie sind intensive Größen mit absolut unspaltbarem Verhältnis ihrer nicht einzelnen Teile gemäß der von mir angegebenen Eigenart der Intensität. Auf diese Weise wird Bergson der intensiven Natur der Dauer besser gerecht als mit seiner förmlichen Verwerfung der intensiven Größe im 1. Kapitel des Essai. Er hat damit auch einen entscheidenden Vorteil vor Husserl bezüglich der Retention, denn die hat die von Bergson als nicht-numerische Mannigfaltigkeit der Dauer beschriebene Eigenart. Zur Veranschaulichung dieser Eigenart bedient sich Bergson gern der Zeitgestalten, besonders der musikalischen (Melodie, Glockenschlag), die ich unter 2.1.3 und 2.1.4 als Beispiele für die mit der vom Geschehen der primitiven Gegenwart zerrissenen Dauer assoziierte unzerrissene Dauer hervorgehoben habe. Wenn man Bergson so versteht, als den Entdecker der intensiven Dauer malgré soi, gewinnt auch die Gegenüberstellung von Dauer und Raum (Ortsraum) Sinn. Der Ortsraum ist neben der Lagezeit eine der Dimensionen der Welt als Entfaltung der primitiven Gegenwart im Zuge der Entbindung der Einzelheit aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen (2.2). Die intensive Dauer mit wechselseitiger Durchdringung (absolut unspaltbarem Verhältnis) nach Bergson kommt dagegen ohne Vereinzelung aus. Vollkommen richtig gedacht ist der von ihm eingeschärfte Gegensatz zwischen der S. 80: »(…) la multiplicité des états de conscience (…) ne présente aucune resemblance avec la multiplicité distinctive qui forme un nombre.«

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intensiven Dauer des Erlebens und der durch Verräumlichung extensiv zur Zeitstrecke umgedeuteten Dauer der metrisierten modalen Lagezeit. Bergson hat also das Verdienst, in einer dem Singularismus völlig verfallenen Zeit den Blick für andere Typen der Mannigfaltigkeit, neben dem numerischen Typ, geöffnet zu haben. Eine Schwäche dieser Version besteht aber darin, dass er keine Anstrengung unternimmt, um den Übergang vom Typ der Dauer zum Typ der äußerlichen Nebeneinanderstellung verständlich zu machen. Er stellt beides einfach zusammen: »Es gibt einen wirklichen Raum, ohne Dauer, wo aber die Phänomene gleichzeitig mit unseren Bewusstseinszuständen auftreten und verschwinden. Es gibt eine wirkliche Dauer, deren heterogene Momente sich durchdringen, wobei jeder solche Moment einem Zustand der äußeren Welt, der mit ihm gleichzeitig ist, zugeordnet werden kann und sich dank eben dieser Zuordnung von den anderen Momenten trennen kann« (73). Bergson hätte erklären müssen, wie es möglich ist, dass sich aus der Intensität wechselseitiger Durchdringung der Momente in der Dauer ein einzelner Moment herauslöst und dann für die Zuordnung (rapprochement) zur Verfügung steht. Statt dessen begnügt er sich damit, im Bewusstsein eine Tiefenzone echt intensiver Dauer von einer Oberflächenzone der Anpassung an die homogene Äußerlichkeit zu konstatieren (83) und unser echtes Leben auf die seltenen Momente schöpferischer Spontaneität des Handelns zu beschränken, wo unser Ich mehr ist als ein entfärbtes Phantom, ein Schatten, den die reine Dauer in den homogenen Raum wirft (151). Auf diese Weise wird seine Weltanschauung zu einer Neuauflage des cartesischen Dualismus, der durch die Aufnahme des Gegensatzes von Innerlichkeit und Äußerlichkeit in das Erleben (die seelischen oder Bewusstseinszustände) selbst weit über das von Descartes erreichte Maß hinaus verschärft und durch die Unterscheidung von Typen der Mannigfaltigkeit vertieft ist. Den Dingen der Außenwelt (außerhalb der Seele) gönnt Bergson nicht einmal eine Dauer, unterstellt ihnen aber unre261 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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flektiert eine Modalzeit, die ihnen im Sinn des aristotelisch-augustinischen Problems (4.1) nur eine Menge von Momentanexistenzen ohne Vergangenheit und Zukunft und sogar ohne Lagezeit gestattet; eine lagezeitliche Früher-Später-Ordnung erhalten sie demnach erst durch unsere Bearbeitung, die die seelische Zeitfolge auf sie überträgt. Das sieht bei ihm so aus: Die Uhrzeit ist ein widerspruchsvoller Kompromiss zwischen der an uns erlebten Sukzession mit wechselseitiger Durchdringung und der disjunkten, aber nicht sukzessiven Anordnung von Schichten in der Außenwelt. »So bildet sich die Mischidee einer messbaren Zeit, die als Raum Gleichförmigkeit und als Sukzession Dauer ist, das heißt, im Grunde: die widerspruchsvolle Idee der Zeitfolge in der Gleichzeitigkeit« (149). In der Außenwelt gibt es keine Sukzession mit Gleichzeitigkeit und Gegenwart, aber aus einem unerklärlichen Grund müssen wir, wenn wir ihre Schichten in sukzessiven Augenblicken unserer Existenz betrachten, feststellen, dass sie sich verändert haben. Verschiedene Schichten der Gleichzeitigkeit, aber ohne zeitliche Folge, lassen sich an ihr beobachten (148).

6.6 Deutscher Idealismus Die vier bisher betrachteten Philosophen bilden eine geschlossene Gruppe von Denkern, in deren Denken die Zeit ein zentrales Thema ist, das sie um seiner selbst willen, zeitweise oder auf Dauer, nicht loslässt. Heidegger und McTaggart artikulieren den Gegensatz von Modalzeit und Lagezeit mit Vorrang der Modalzeit, die sich Heidegger apart mit Tod, aber ohne Abschied zurechtlegt, während McTaggart sie benützt, um die Unmöglichkeit der Zeit zu erweisen. Husserl und Bergson kreisen mit ihrem Denken um die Dauer, die Husserl als extensive, Bergson als intensive Größe versteht. Diese zentrale Wichtigkeit der Zeit im Denken scheint eine späte Errungenschaft zu sein, die erst in diesem Kreis virulent wird. Vorher nehmen die Philosophen die 262 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Deutscher Idealismus

Zeit hin, ordnen sie in ihr System ein, stellen sie auch in den Dienst von dessen Konstruktion, aber leitendes Thema des Denkens wird die Zeit dabei nicht. Das erste ausgeprägte Beispiel solchen Philosophierens liefert der Deutsche Idealismus. Dort fällt der Blick, der Akzent des Interesses, überwiegend auf die Modalzeit, während die Lagezeit und die Dauer nachrangig sind. Den besten Einstieg in Hegels Zeitauffassung bieten die Jenaer Systementwürfe II und III. 251 Im 2. Systementwurf wählt Hegel einen auch phänomenologisch einleuchtenden, wenngleich durch seine Dialektik erschwerten Zugang zur Zeit, ausgehend von einem Begriff der Unendlichkeit, der etwas von dem späteren abweicht. 252 Ich ziehe die Formulierungen, auf die es mir ankommt, mit Auslassungen zusammen: »Zeit und Raum sind der Gegensatz des Unendlichen und des Sichselbstgleichen (…). Das Unendliche in dieser Einfachheit, ist als Moment gegen das Sichselbstgleiche, das Negative (…), das Ausschließende, Punkt, oder Grenze überhaupt, aber in diesem seinen Negieren sich unmittelbar auf das Andere beziehend, und sich selbst negierend. Die Grenze, oder das Moment der Gegenwart, das absolute Dieses der Zeit, oder das Jetzt, ist absolut negativ, einfach, absolut alle Vielheit aus sich ausschließend, und darum absolut bestimmt. (…) Dieses Einfache, in diesem seinem absoluten Negieren, ist das Tätige, das Unendliche gegen sich selbst als ein Ich zitiere beide Entwürfe nach den Studienausgaben in der Philosophischen Bibliothek des Verlags Meiner: Jenaer Systementwürfe II: Logik, Metaphysik und Naturphilosophie, hg. v. R.-P. Horstmann, Hamburg 1982; Jenaer Systementwürfe III, hg. v. R.-P. Horstmann, Hamburg 1987. 252 Zur Verdeutlichung dieses frühen Unendlichkeitsbegriffs führe ich folgende Stellen an: »Das Unendliche aber ist das Andre an sich, das absolut Bestimmte, oder Negative, nur gesetzt als Aufgehobenes; sein Wesen ist das Andere seiner selbst.« (2. Systementwurf S. 236, Z. 29–32) »Die Unendlichkeit oder diese absolute Unruhe des reinen sich selbst Bewegens, dass, was auf irgend eine Weise, zum Beispiel als Sein, bestimmt ist, vielmehr das Gegenteil dieser Bestimmtheit ist (…).« (Phänomenologie des Geistes, hg. v. H.-F. Wessels und H. Clairmont, Hamburg 1988, Philosophische Bibliothek Band 414, S. 116, Z. 27–29) 251

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sichgleiches; (…) und das Jetzt ist unmittelbar das Gegenteil seiner selbst, das sich Negieren. (…) Dies, dass die Grenze in ihr selbst unmittelbar nicht ist (…), ist die Zukunft, der das Jetzt nicht widerstehen kann; denn sie ist das Wesen der Gegenwart, welche in der Tat das Nichtsein ihrer selbst ist. (…) Es ist also in der Tat weder Gegenwart noch Zukunft, sondern nur diese Beziehung beider auf einander (…); die Differenz beider reduziert sich in die Ruhe der Vergangenheit.« 253 Hegel versteht hier die Zeit als Modalzeit dynamisch, als Übergang; er vermeidet also den Fehler der antiken Zeitproblematiker (4.1), sie wie eine gewöhnliche extensive Größe in Stücke zu zerschneiden. Was er über sie sagt, lässt bald an das Geschehen der primitiven Gegenwart, bald an die reine Modalzeit durch Verbindung dieses Geschehens mit unzerrissener Dauer denken. Das Jetzt als das absolut einfache, absolut bestimmte Dieses im Bann der Zukunft, der es nicht widerstehen kann, erinnert an die primitive Gegenwart in der Appräsenz-Präsenz, unter dem Druck der sich in sie hinein als Appräsenz ereignenden Zukunft. Das Übergehen in sich selbst als das Andere seiner selbst, die Unendlichkeit im angegebenen Sinn, lässt an den Fluss der reinen Modalzeit mit Fortwälzen der Gegenwart denken. Dagegen kommt mir als bloßes dialektisches Kunststück vor, dass sich Zukunft und Gegenwart gegenseitig auslöschen und dann als Vergangenheit wiederfinden sollen; die Vergangenheit als die »paralysierte Unruhe des absoluten Begriffs« wechselt die der Zeit eigene »Bestimmtheit des Unendlichen« in die »Bestimmtheit der Sichselbstgleichheit« um und wird damit Raum. 254 Diese dialektischen Verzauberungen sind jetzt nicht so beachtlich wie Hegels Auffassung der Dauer als »das Sichselbstgleiche, als die Zeit als die sich im Raum realisiert hat«, »in diesem Raume, nämlich in der Dauer«. 255 2. Systementwurf S. 207, Z. 22 f., 38 – S. 208, Z. 7; S. 208, Z. 12 f. 16 f. 20 f. 23–25 31–33 35 f. 254 ebd. S. 210 255 ebd. S. 222 Z. 1 f. und 10 253

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Deutscher Idealismus

Hegel denkt an die unzerrissene Dauer, die in der Tat die Zeit mit dem Raum verbindet (2.1.3), dem das spezifische Merkmal der Zeit, das Zerreißen der Weite als Dauer mit Übergang ins Vorbeisein, abgeht. Im 3. Systementwurf (1805/06) hält Hegel an der Dynamik der Zeit, dem Verschwinden von Gegenwart und Zukunft in wechselseitiger Aufhebung, fest, aber nur, nachdem er einen Blick in die der Erwartung geöffnete Zukunft geworfen hat: »Die Zukunft wird sein, wir stellen sie als etwas vor, wir tragen selbst das Sein der Gegenwart auf sie über, wir stellen sie nicht als etwas bloß Negatives vor; (…).« 256 Damit ist er der Sache nach über die reine Modalzeit zur modalen Lagezeit weitergegangen, und gleich darauf entdeckt er die Lagezeit an der zyklischen Bewegung, die zum Ausgangsort zurückkehrt, »so dass das Vor ebenso ein Nachher ist, als das Nach ein Vor«. 257 Hier kann man schon an die durch periodische Uhrbewegung metrisierte Lagezeit denken. In der späteren Ausführung des ganzen Systems als Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (3. Ausgabe 1830) widmet Hegel der Zeit die Paragraphen 257– 259, wobei die dynamische Auffassung der Zeit als Modalzeit des Entstehens und Vergehens festgehalten wird; sie ist »dies Werden, Entstehen und Vergehen, das seiende Abstrahierende, der alles Gebärende und seine Geburten zerstörende Chronos« (§ 258). Hegel vergleicht diese Zeit mit dem Feuer, das »die materialisierte Zeit« als »die für sich seiende Unruhe« sei (§ 283). »Die Dimensionen der Zeit, die Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit, sind das Werden der Äußerlichkeit als solches und dessen Auflösung in die Unterschiede des Seins als des Übergehens in nichts und des Nichts als des Übergehens in Sein« (§ 259). Hegel versteht die Zeit nur noch als Modalzeit; die Lagezeit kommt nicht mehr vor. 256 257

3. Systementwurf, S. 11, Z. 6–9 ebd. S. 19

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Die Zeit der Philosophie

Schelling beschäftigt sich mit der Zeit im Rahmen seines theosophischen Bemühens um die Weltalter, bestehend aus Vergangenheit (der Zeit des Vaters, vor Erschaffung der Welt), der Gegenwart (der Zeit des Sohnes, von der Erschaffung bis zum jüngsten Tag) und der Zukunft (der Zeit des Geistes, nach dem Ende der Welt). Genauer analysiert hat er nur die Vergangenheit, d. h. die Vorbereitung Gottes auf die Erschaffung der Welt. Viele seiner Entwürfe sind während des Bombenkriegs 1943 verbrannt. Der erste, schon in Druckfahnen vorliegende Entwurf enthält einige Seiten zur Modalzeit ohne Theosophie. 258 Schelling führt dort aus: Kein Ding hat eine äußere Zeit, jedes nur eine eigene, innewohnende. Jede solche Zeit ist in jedem Augenblick ganz, als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; sie fängt vom Mittelpunkt an und ist in jedem Augenblick der Ewigkeit gleich. Es kann unendlich viele Zeiten geben, aber nicht eine einzige unendliche Zeit. Der Schein einer allgemeinen, abstrakten Zeit entsteht nur durch Vergleichung der Eigenzeiten. »Nicht durch diskrete, sukzedierende Teile Einer Zeit, sondern nur dadurch, dass die Zeit in jedem Augenblick die ganze ist und die ganze der ganzen folgt, ist jene sanfte Stetigkeit zu begreifen, die wir durch das Bild eines Zeitflusses auszudrücken suchen.« Jede mögliche Zeit enthält die ganze absolute Zeit, die dann wäre, wenn sie nicht mehr zukünftig wäre. Jede einzelne Zeit setzt die Zeit als Ganzes schon voraus. Also ist die Zeit im Großen und Ganzen organisch. Daher lässt sich ein »System eines nach innen oder dynamisch unendlichen, nach außen allerdings endlichen oder geschlossenen Organismus der Zeiten denken«. Es handelt sich um eine eigenwillige Umdeutung der Modalzeit, wie sie einem Mystiker wohl ansteht. Sie ist verwandt – auch durch Abschiedslosigkeit – mit der entsprechenden Umdeutung Heideggers, wobei ich weniger an dessen »ursprüngliche Zeitlichkeit« in Sein und Zeit denke als an den späFriedrich Wilhelm Joseph v. Schelling, Die Weltalter. Fragmente, hg. von Manfred Schröter, München 1946 (aus der Urfassung von 1811), S. 78–82

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Deutscher Idealismus

ten Aufsatz Zeit und Sein. 222 Als Vorklang der Idee eigener Zeit von etwas statt der allgemeinen kann vielleicht in Schellings System des transzendentalen Idealismus (1800) der Satz gelten: »Insofern kann man sagen, dass jede Intelligenz, nur nicht für sich selbst, sondern objektiv angesehen, ein absoluter Anfang der Zeit ist, ein absoluter Punkt, der in die zeitlose Unendlichkeit gleichsam hingeworfen und gesetzt wird, von welchem nun erst alle Unendlichkeit in der Zeit beginnt.« 259 Das geschlossenste Konzept der Zeit aus dem Deutschen Idealismus stammt von Fichte. Er entwickelt es am Schluss seiner Schrift Grundriss des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen (1795, 2. Auflage 1802). 260 Fichte geht vom sich setzenden Ich aus, schränkt aber ein: »Das Ich kann sich für sich überhaupt nicht setzen, ohne sich zu begrenzen, und demzufolge aus sich herauszugehen« (359). »Es muss, so gewiss es ein Ich, und begrenzt sein soll, sich als begrenzt setzen, d. i. es muss ein Begrenzendes sich entgegensetzen« (360). Auf diesen beiden Sätzen beruht Fichtes Herleitung der Zeit. Als setzend ist das Ich frei. Es bewährt seine Freiheit durch die Zufälligkeit des gesetzten Produkts, als das es sich begrenzt. Dieses zufällige Produkt ist die zeitliche Gegenwart, in der sich das Ich an einer Stelle findet, die auch anders ein könnte. (Damit wird noch keine durchgängig geordnete Lagezeit vorausgesetzt, sondern nur irgend eine Mehrheit von Stellen, die in Frage kämen.) Weil das Ich sich aber nur durch Abgrenzung gegen ein Begrenzendes begrenzen kann, muss seine zufällige Gegenwart von einer anderen Zeitstelle abhängen, die, als ihr vorausgesetzt, vergangen ist. Mit Fichtes Worten: »13. Das Ich setzt sich, nach obiger Erörterung, als völlig frei, mit dem Punkte zu vereinigen, was es nur wollte; also das gesamte unSchellings Werke, 1. Abteilung, 3. Band, Stuttgart/Augsburg 1858, S. 485 260 Ich zitiere die Schrift nach der Ausgabe on J. G. Fichtes Werken durch I. H. Fichte, Band I, 1845, als Taschenbuch Berlin 1971, S. 329–411. 259

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endliche Nicht-Ich. Der so bestimmte Punkt ist nur zufällig, und nicht notwendig; nur abhängig, ohne einen andern zu haben, der von ihm abhängt, und heißt der gegenwärtige« (409). »Aber es ist für uns notwendig eine Vergangenheit; denn nur unter Bedingung derselben ist eine Gegenwart, und nur unter Bedingung einer Gegenwart ist Bewusstsein möglich. (…) Bewusstsein ist nur möglich unter der Bedingung, dass das Ich ein Nicht-Ich sich entgegensetze (…). Diese Tätigkeit ist die seinige, und nicht die des Nicht-Ich, lediglich inwiefern sie frei ist, inwiefern sie demnach auf jedes andere Objekt gehen könnte, als auf dieses. So muss sie gesetzt werden, wenn ein Bewusstsein möglich sein soll, und so wird sie gesetzt, und das ist der Charakter des gegenwärtigen Moments, dass auch jede andere Wahrnehmung in ihn fallen könnte. Dies ist nur möglich unter Bedingung eines anderen Moments, in den keine andere Wahrnehmung gesetzt werden kann, als diejenige, welche in ihn gesetzt ist; und das ist der Charakter des vergangenen Moments« (409 f.). »Allerdings kann der vergangene Moment und jeder mögliche vergangene Moment wieder zu Bewusstsein erhoben, repräsentiert oder vergegenwärtigt gesetzt werden, als in demselben Subjekte vorgekommen, wenn darauf reflektiert wird, dass in ihn doch auch eine andere Wahrnehmung hätte fallen können. Dann wird demselben wieder ein anderer ihm vorhergehender entgegengesetzt in welchen, wenn in den letztern einmal eine gewisse bestimmte Wahrnehmung gesetzt werden soll, keine andere fallen konnte, als welche in ihn gefallen ist. Daher kommt es, dass wir immer, soweit wir nur wollen, ja ins Unbedingte und Unendliche hinaus, zurückgehen können« (410 f.). »14. Demnach sind, wenn von der synthetischen Vereinigung eines bestimmten Punktes mit dem Objekte, mithin von der gesamten Wirksamkeit des Ich, die nur durch diesen Punkt mit dem Nicht-Ich vereinigt ist, abstrahiert wird, die Dinge, an sich und unabhängig von dem Ich betrachtet, zugleich (d. i. synthetisch vereinbar mit einem und ebendemselben Punkte) im Raume; aber sie können nur nacheinander, in einer sukzessiven Reihe, deren jegliches 268 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Glied von einem andern abhängig ist, ohne dass dasselbe von ihm abhänge, wahrgenommen werden in der Zeit« (409). Fichte behandelt hier die Setzung des Ichs, wenn es sich als begrenzt setzt, als freien Sprung in eine zufällige Gegenwart, der ebenso auch auf eine andere Stelle hätte fallen können, da keine für diese Rolle besonders qualifiziert ist, in der objektiven Welt der es begrenzenden Dinge, deren es bedarf, um sich begrenzen zu können. Was den gegenwärtigen Moment begrenzt, ist das Vergangene, von dem er abhängt und bestimmt wird. Dieses Vergangene darf nicht wieder zufällig und beliebig sein, damit es dem Ich eine feste Bindung auferlegen kann. Es gewinnt, wie man Fichtes Worte mit Hilfe der üblichen Kausalvorstellung ergänzen kann, als vergangener Moment diese Notwendigkeit aus weiteren vergangenen Momenten, von denen es seinerseits abhängt, und so entsteht eine »Zeit-Reihe« (409), die zugleich eine Kausalreihe ist. 261 Sie gehört der objektiven Welt an, ohne Rücksicht auf das Ich, und ist nur nötig, damit dieses, wenn es sich einmal durch einen freien Sprung an einen zufälligen Platz gesetzt hat, dort wirksam von etwas anderem begrenzt werden kann, dessen es bedarf, um sich selbst begrenzen zu können und dadurch für sich (bei Bewusstsein) zu sein. Demnach nimmt die Zeit ihren Anfang bei der Gegenwart, ergänzt diese in der Modalzeit durch die Vergangenheit und führt diese weiter in eine nicht mehr dem Ich, sondern der bloßen Objektivität angehörigen Zeitstrecke mit lagezeitlicher Gliederung, die, wie Fichte ausführt, in Gedanken ins Unendliche zurückgeführt werden kann, wenn man sich ausmalt, dass doch auch jeder Zeitpunkt, der jetzt vergangen ist, der gegenwärtige hätte sein können. Eine Zukunft kommt in dieser Zeitkonstruktion Fichtes nicht vor. Wohl aber wirft er gerade noch, vor dem Ende der Schrift, einen Blick auf die Metrisierung der Lagezeit vermöge der Projektion in den Raum mit Hilfe »regelmäßig sich fortFichte selbst deduziert diesen Reihencharakter, ohne die Kausalität zu bemühen, mit schwer durchschaubaren Haarspaltereien.

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Die Zeit der Philosophie

bewegender Körper (die Sonne, der Zeiger an der Uhr, der Pendel)« (411).

6.7 Kant Vom Deutschen Idealismus zu Kant dreht sich der Blickwinkel auf die Zeit um 180 Grad. Hegel und Schelling nehmen fast nur von der Modalzeit Notiz; Fichte konstruiert aus der Modalzeit die Lagezeit als das Schicksal, das dem Ich widerfährt, wenn es sich in freiem Wurf, um für sich zu sein, der Notwendigkeit des Objektiven übergibt. Kant ist der Unterschied von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchaus geläufig, aber er geht gedankenlos damit um, indem er als selbstverständlich in Anspruch nimmt, dass eine gewisse Zeit gerade die gegenwärtige ist, und sich nicht darum kümmert, wie es dazu kommt und was das zu bedeuten hat. Das zeigt sich an der einzigen Stelle, an der er sich in der Kritik der reinen Vernunft262 zur Modalzeit äußert, bei Einführung des Systems der kosmologischen Ideen: »Die Zeit ist an sich selbst eine Reihe (und die formale Bedingung aller Reihen), und daher sind in ihr, in Ansehung einer gegebenen Gegenwart, die antecendentia als Bedingungen (das Vergangene) von den consequentibus (dem Künftigen) a priori zu unterscheiden. (…) Es wird nach der Idee der Vernunft die ganze verlaufene Zeit als Bedingung des gegebenen Augenblicks notwendig als gegeben gedacht. (…) Den gegenwärtigen Zeitpunkt konnte ich in Ansehung der vergangenen Zeit nur als bedingt, niemals aber als Bedingung derselben ansehen, weil dieser Augenblick nur durch die verflossene Zeit (oder vielmehr durch das Verfließen der vorhergehenden Zeit) allererst entspringt« (A411 f. B438 f.). Kant sieht den gegenwärtigen Augenblick einfach als gegeben an; er fragt nicht, was ihn gibt und was da (in Ich zitiere die Kritik der reinen Vernunft mit den Buchstaben A und B für die erste bzw. zweite Auflage.

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Kant

Gestalt der Gegenwart) gegeben wird. Fichte war die Zufälligkeit aufgefallen, dass gerade dieser Augenblick gegenwärtig ist, da doch jeder andere ebenso geeignet wäre, und er hatte sich eine Erklärung zurechtgelegt: Weil der Sprung des Ich in die objektive Welt frei ist, muss das Ergebnis zufällig sein. Bei Kant fehlt entsprechende Reflexion. Die Zeit, die Kant bedenkt, ist Lagezeit. Er schreibt: »Die drei modi der Zeit sind Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein« (A177 B219). Die Beharrlichkeit zu erwähnen, ist allerdings überflüssig, denn sie versteht sich von selbst: Eine Zeit, die nicht wenigstens eine Zeit lang besteht, wäre keine Zeit. Es bleiben also Folge und Zugleichsein. Das sind die modi der Lagezeit. Allerdings meint Kant etwas anderes, wenn er von Beharrlichkeit spricht, nämlich nicht einen modus der Zeit selbst, sondern die Beharrlichkeit (Dauer) von etwas in der Zeit. »Durch das Beharrliche allein bekommt das Dasein in verschiedenen Teilen der Zeitreihe nacheinander eine Größe, die man Dauer nennt. Denn in der bloßen Folge ist das Dasein immer verschwindend und anhebend, und hat niemals die mindeste Größe. Ohne dieses Beharrliche ist also kein Zeitverständnis. Nun kann die Zeit an sich selbst nicht wahrgenommen werden; mithin ist dieses Beharrliche das Beharrliche aller Zeitbestimmungen (…)« (A183 B226). Eine Deduktion mit Sprüngen! Weder ist einsichtig, dass nur beharrlich dauernde Objekte lagezeitlicher Verhältnisse fähig wären – die moderne Physik im Zeichen der Relativitätstheorie kommt mit Weltpunkten auf Weltlinien aus –, noch die Bindung der Dauer an dauernde Objekte (Substrate), als ob nicht auch eine Dauer des gegenstandslosen Dösens oder Dahingleitens 263 möglich wäre, und schon gar nicht, dass es immer dasselbe Substrat sein müsste; Kant will auf die Beharrlichkeit der Materie hinaus (A265 B321). Falsch ist auch die von Conrad Ferdinand Meyer, Eingelegte Ruder: Nichts, das mich verdroß! Nichts, das mich freute! Niederrinnt ein schmerzenloses Heute!

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Kant noch mehrfach (B219, 225, 233) vorgebrachte Behauptung, dass die Zeit nicht wahrgenommen werde könne. Kant kommt darauf, wie er sich als Singularist nur einzelne Objekte wie Empfindungen oder Dinge (sogenannte Erscheinungen) vorzustellen vermag, die dann simultan und sukzessiv angeordnet werden. Die Gegenstände, mit denen Menschen im Leben in erster Linie zu tun haben, sind aber Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit (1.3), aus denen jene Objekte nur mit Hilfe satzförmiger Rede freigesetzt werden können, und im Umgang mit Situationen nehmen sie in einem fort die Zeit wahr, als den Fluss der modalen Lagezeit im Entstehen und Vergehen der Situationen, wodurch sie zu mehr oder weniger beständiger Anpassung gezwungen werden. Kant macht sich auch Gedanken darüber, wie die von ihm anerkannten Zeitverhältnisse, Zugleichsein und Zeitfolge, ihren spezifisch zeitlichen Sinn erhalten, und macht daraus einen Grund für die überempirische Apriorität der Zeit: »Die Zeit ist kein empirischer Begriff, der irgend von einer Erfahrung abgezogen worden. Denn das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen würde selbst nicht in die Wahrnehmung kommen, wenn die Vorstellung der Zeit nicht a priori zum Grunde läge« (A30 B46). In der Dissertation von 1770 lautet die entsprechende Begründung: »Denn ob das, was in die Sinne eindringt, zugleich ist oder nacheinander, kann nur durch die Vorstellung der Zeit vorgestellt werden, und die Aufeinanderfolge erzeugt nicht den Begriff der Zeit, sondern beruft sich auf ihn.«264 Die Frage ist berechtigt. Eine lineare oder (mit Rücksicht auf die Gleichzeitigkeit) zweidimensionale Folge (wie die der Seiten eines Buches) ist selbstverständlich nicht eo ipso eine zeitliche Folge; wodurch wird sie dazu? Kant meint: dadurch, dass sie in der Zeit ist, deren Unendlichkeit nichts weiter bedeute, »als dass alle bestimmte De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, § 4 De Tempore, 1, übersetzt von Norbert Hinske, in: Kant, Werke, hg. von W. Weischedel, Band 5, als Taschenbuch Darmstadt 1968, S. 47

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Kant

Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei« (A32 B47 f.). Aber dadurch, dass eine n-dimensionale Folge in einem riesig großen Ganzen enthalten ist, wird sie noch lange nicht zeitlich. Wenn man sich überhaupt mit einer unendlichen Zeit belasten wollte (s. u. 3.6), müsste man immer noch fragen: Wodurch wird dieses Ganze Zeit, was ist das Zeitliche daran? Hier gibt es keine treffende Antwort außer der: Es ist das Entstehen und Vergehen, der Fluss der Modalzeit (s. o. 3.4). Damit fällt die Antwort auf die von Kant abgeschobene Modalzeit zurück. Noch durch ein weiteres Argument sucht Kant die Apriorität der Zeit zu erweisen: »Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zu Grunde liegt. Man kann in Ansehung der Erscheinungen die Zeit selbst nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann. Die Zeit ist also a priori gegeben« (A31 B46). Warum soll das so sein? Ich finde bei Kant keine Antwort. Eher leuchtet das entsprechende Argument für den Raum ein: »Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, dass kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, dass keine Gegenstände darin angetroffen werden« (A24 B38 f.). Wenn man den Raum für eine unentbehrliche Bühne der Erscheinung hält, kann man zugeben, dass die Bühne einmal leer sein kann, aber nicht, dass Gegenstände ohne Bühne auftreten. Aber auf die Zeit lässt sich dieser suggestive Vergleich kaum übertragen. Warum sollte nicht einmal eine Erscheinung ohne jeden zeitlichen Zusammenhang aufblitzen können? In einem tieferen Sinn hat Kant freilich Recht. Ohne Zeit als Modalzeit könnte es keine Welt mit einzelnen Gegenständen geben, es würde nicht einmal zu absoluter Identität und Subjektivität (dass jemand selbst und bei Bewusstsein ist) kommen, erst recht nicht zu relativer Identität und diskursivem Denken (2.1.2; 3.2). Insofern kann man die Zeit a priori nennen, bezüglich auf die Möglichkeit des Einzelnseins von etwas; aber deswegen ist sie noch nicht überempirisch, weil es sogar in der Erfahrung möglich ist, hinter die Einzelheit 273 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Die Zeit der Philosophie

zurückzugehen. Das fällt aber nicht in den Horizont von Kant. Für ihn ist alles a priori einzeln. Bezeichnend ist dafür seine Verteilung der Gegner seiner Raum-Zeit-Lehre auf die beiden Parteien der Absolutisten, die »zwei einige und unendliche für sich bestehende Undinge (Raum und Zeit)« annehmen, und der Relativisten, denen »Raum und Zeit gelten (…) als von der Erfahrung abstrahierte, obzwar in der Absonderung verworren vorgestellte Verhältnisse der Erscheinungen (neben oder nacheinander)« (A39 f. B56 f.). Er stellt sich die Leistung der Zeit also nur als Ordnung einzelner Erscheinungen in Verhältnissen der Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge vor und lässt keinen Platz für eine dritte Partei, die der Zeit viel mehr zutrauen würde, nämlich die Bereitung des Bodens für die Existenz einzelner Erscheinungen. Für diese Enge des Kant’schen Blickes auf die Zeit gibt es aber nicht nur den sachlichen Grund seines Singularismus, aus dem er nicht herauskommt, sondern tiefer liegend einen psychologischen Grund. Die Zeit ist Kant längst nicht so wichtig wie der Raum; er zieht sie meist in dessen Schlepptau heran und spricht von »Raum und Zeit«. Er hat keine Hemmung, gelegentlich die eine und einzige Zeit in Privatzeiten einzelner Beobachter aufzulösen (A362 f.); vom Raum ist mir Entsprechendes nicht bekannt. Der Raum ist ein Stachel seines Denkens. Das hängt mit der barocken Raumtheologie zusammen, die den Raum mit Gottes Unermesslichkeit und Allgegenwart gleichsetzt, wie Clarke, der sich dafür in seinem Streit mit Leibniz als Anwalt Newtons auf den Apostel Paulus beruft, nach dem wir in Gott leben und weben und sind wie – nach Clarke – im Raum. 265 Kant kannte früh die Kontroverse; wahrscheinlich wurde sein Interesse 1763 durch eine ausführliche Darstellung im Anschluss an Euler aufgefrischt.266 Kant, dessen Hauptinteresse der Wahrung persönli5. Antwort Clarkes zu den §§ 36–48 (Correspondance Leibniz – Clarke présentée … par André Robinet, Paris 1957, S. 193) 266 Hermann Schmitz, Was wollte Kant?, Bonn 1989, S. 17 f. 265

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Kant

cher Selbständigkeit und Autonomie gegen Gott, die Frau und das Tier galt, 267 fürchtete »das Gespenst des Spinozismus«: im Raum als dem Magen Gottes verdaut zu werden. Nachdem er sich 1768, mit der Abhandlung über den ersten Grund des Unterschiedes der Gegenden im Raum, davon überzeugt hatte, dass der Raum nicht nur auf die äußeren Verhältnisse, sondern auch auf die inneren Eigenschaften der Gegenstände im Raum Einfluss nehme, rettete er sich vor dem Gespenst 1769 durch Erfindung des transzendentalen Idealismus, der den Raum durch Introjektion als bloße Anschauungsform des Gemüts unschädlich machte. Die erste Frucht dieses Stellungswechsels war die Dissertation von 1770, während erst die Entwicklung Kants im folgenden Jahrzehnt die kritizistische Grenzziehung gegen die Metaphysik und die kopernikanische Wendung zur Gesetzgebung des Verstandes brachte. 268 Diese viel größere Wichtigkeit des Raumes als der Zeit für Kant führt dazu, dass er von der Zeit nur Notiz nimmt, sofern er sie, der Struktur nach, in Analogie mit dem Raum sehen kann, und das hält ihn an der Lagezeit fest, da er den Raum, und mit ihm die Zeit, auf die Leistung einer reinen Form der Anschauung beschränkt, als das, »welches macht, dass das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann« (B34; A20, am Schluss etwas abweichend: »(…) geordnet, angeschaut wird«). Aus dieser Einschränkung ergibt sich die These Kants, dass die Zeit ohne Wechsel steht und stehen muss, weil sonst noch eine weitere Zeit nötig wäre, um den Verlauf der ersten Zeit denken zu können (A143 B183; A183 B226). Was steht, ist die Lagezeit, wie schon McTaggart gesehen hat, als reine Lagezeit und als Lagezeit der modalen Lagezeit; aber ohne den modalen Fluss

ebd. S. 365–367 Zur Begründung dieser Thesen: ebd. S. 11–79 (Der Raum und Gott) und: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Band 2, Freiburg/München 2007, S. 347–358: Die Entstehung der Kritik der reinen Vernunft

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Die Zeit der Philosophie

der Zeit wäre diese keine Zeit, auch keine Lagezeit. Kant sieht das nicht, weil er für die Schichten der Zeit blind ist.

6.8 Leibniz Wenn schon auf Kant zutrifft, dass ihm die Zeit nur im Schlepptau des Raumes wichtig war, gilt das Entsprechende erst recht für Leibniz. Der Raum erregt seine Aufmerksamkeit an mehreren Stellen, z. B. bei Unterscheidung des idealen Raumes der Geometrie vom Raum der sinnlichen Phänomene 269 und im Zusammenhang mit dem sogenannten Labyrinthum de compositione continui.270 Die Zeit rückt dagegen, soweit mir bekannt ist, in sein Augenmerk erst in seinen letzten Lebensjahren, aus Anlass seiner Kontroverse mit Clarke. 265 Leibniz, der gegen Newtons Vorstellung vom absoluten Raum polemisieren will, greift ihn bei dessen theologisch anfechtbarer, der barocken Raumtheologie entstammender These an, der Raum sei das sensorium Gottes. Von da an steht der Raum im Mittelpunkt der Kontroverse und zieht die gründlichsten Bemühungen von Leibniz 271 auf sich, während die Zeit nach dem Vorbild des Gegners Newton, der dem absoluten Raum die absolute Zeit an die Seite gestellt hatte, mitgeschleppt wird. Der Raum, von dem Leibniz spricht, ist der Ortsraum, bestehend aus den relativen, sich der Lage und dem Abstand nach Näheres bei Hermann Schmitz, Was wollte Kant?, Bonn 1989, S. 25 Näheres bei Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Band 2, Freiburg/München 2007, S. 292. Es handelt sich um die bis zur Mengenlehre als anstößig empfundenen »Paradoxien des Unendlichen« (Bolzano) von der Art, dass eine größere Punktemenge einer kleineren umkehrbar eindeutig zugeordnet werden kann (z. B. durch die Radien zweiter konzentrischer Kreise). 271 z. B. in der modern anmutenden, auf eine Klassenbildung durch einer Äquivalenzrelation abzielenden Erörterung des Ortsbegriffs ins 5. Schreiben an Clarke, (47), vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 1, Bonn 1969, in Studienausgabe 2005, S. 90–92 269 270

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Leibniz

gegenseitig (unter Voraussetzung ruhender Objekte) bestimmenden Orten, an denen zu verschiedenen Zeiten beliebige Objekte unterkommen können, wobei die Orte selbst für Leibniz nichts sind als Leerstellen für Beziehungsglieder, wie die Einsen in den Zahlen nach der alten, von Bergson geteilten Zahlauffassung (6.5). Er ist als bloße Möglichkeit (Platzangebot) eine Ordnung der Dinge, die zur selben Zeit existieren. 272 Demnach kennt Leibniz Gleichzeitigkeit nur für Dinge im Raum. Er scheint mit einem einzigen Ortsraum für alle Zeit auskommen zu wollen, trotz des Relativitätsprinzips von Galilei; insofern ist sein Raum auch absolut, unterscheidet sich aber von dem absoluten Raum Newtons dadurch, dass es für Leibniz keinen leeren Raum geben kann und der Raum keine Verschiebung oder Spiegelung zulässt. Entsprechend dem Raum als Ortsraum ist die Zeit für Leibniz Lagezeit, speziell die lineare Früher-SpäterAnordnung der Raumschichten des Gleichzeitigen. Er bestimmt die Zeit als Ordnung sukzessiver Lagen: 273 Das ergibt eine prämetrische Lagezeit. Seltsamerweise drückt sich Leibniz – erstaunlich für einen so versierten Mathematiker – um die Metrisierung, die Einführung von Zeitabständen. Das hält Clarke ihm vor: »Also that Time is not merely the order of things succeeding each other, is evident; because the quantity of time may be greater or less, and yet the order continue the same.« 274 In der Antwort begeht Leibniz einen Fehler: »Ich antworte: Das ist nicht so. Denn wenn die Zeit größer ist, wird es mehr ähnlich dazwischengesetzte sukzessive Zustände geben, und wenn sie kleiner ist, wird es weniger davon geben, weil es in der Zeit so wenig wie im Raum etwas Leeres oder sozusagen Verdichtung oder Durchdringung gibt.« 275 Hier irrt Leibniz. Nur bei endlich 3. Schreiben an Clarke (4) 3. Schreiben an Clarke (4) – (6); 4. Schreiben an Clarke (41), vgl. die Briefe an Conti vom Dezember 1715 und an Johann Bernoulli vom 7. Juni 1716 bei Robinet (wie Anmerkung 265), S. 42 und 117 f. 274 4. Schreiben Clarkes nr. 41 275 5. Schreiben an Clarke (105) 272 273

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Die Zeit der Philosophie

vielen Zuständen mit einem bestimmten Minimum von Ausdehnung und also zeitlicher Quantität würde das Ergebnis eintreten, aber da jeder Moment nach Leibniz dauerlos ist (siehe gleich) und seine Philosophie ohnehin beliebige Feineinteilung verlangt, muss es für ihn unendlich viele Momentanzustände in jedem Intervall geben, und dann passen beliebig viele davon in jedes noch so kleine Intervall. Daher ist, in der Tat, wie Clarke behauptet, im System von Leibniz jede beliebige sukzessive Anordnung von Zuständen mit jeder Verteilung zeitlicher Abstände zwischen ihnen verträglich. Umsonst sucht sich Leibniz damit herauszureden, auch die Beziehungen hätten Quantität und sogar Abstände; 276 tatsächlich liefert er das Modell einer FrüherSpäter-Ordnung ohne Zeitabstände und braucht sich daher auch nicht um die Übertragung der Zeit in den Raum durch Uhren zu kümmern, sondern kann Raum und Zeit hübsch parallel führen. Nur einen Seitenblick wirft Leibniz auf die Modalzeit, um ein Argument gegen Newton für die Idealität des Raumes (als bloß gedanklicher Rahmen für die Anordnung gleichzeitiger Dinge) zu gewinnen. Dafür greift er zum Argument der antiken Skeptiker (4.1): Die Zeit kann es nicht wirklich geben, denn es gibt kein teilbares Ding, von dem kein einziger Teil wirklich ist, aber von dieser Art ist die Zeit, denn das Vergangene ist nicht mehr, das Künftige ist noch nicht, und zwischen ihnen existiert nur der unteilbare gegenwärtige Moment, aber der ist kein Teil der Zeit. Folglich ist die Zeit nicht wirklich, sondern nur eine ideale Wesenheit, ein Gedankending (Gottes, wenn es keine Kreaturen gäbe 277 ). Wegen der Analogie von Zeit und Raum gilt dann für diesen das Entsprechende: Auch der Raum ist nur eine ideale Wesenheit. 278 Leibniz schneidert sich die Zeit nach dem Muster des Raumes zurecht und kann daher sein Ergebnis, das er aus5. Schreiben an Clarke (54) 4. Schreiben an Clarke (41): »Mais s’il n’y avait point des creatures, l’espace et le temps ne seraient que dans les idées de Dieu.« 278 5. Schreiben an Clarke (49) 276 277

278 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Suarez

nahmsweise an der Modalzeit, die die Zeit dem Raum voraus hat, gewinnt, auf diesen übertragen: Das Besondere der Zeit ist ihm vernachlässigbar.

6.9 Suarez Die Disputationes metaphysicae des spanischen Jesuiten Francisco Suarez (2 Bände, zuerst Salamanca 1597) runden dank umfassender einschlägiger Bildung, Besonnenheit und Sorgfalt des Verfassers die scholastische Metaphysik im Rückblick, immer zusammen mit seiner eigenständigen Stellungnahme, übersichtlich ab, so dass es sich empfiehlt, auch die scholastische Lehre von der Zeit in diesem Spiegel zu betrachten. Ihr ist die 50. Disputation De praedicamento quando et in universum de durationibus rerum 279 gewidmet. Auf ihr beruht die folgende Darstellung. Suarez ist entschlossener Singularist wie alle Scholastiker, insbesondere die Nominalisten im Gefolge Wilhelms von Ockham, denen er nahesteht; er setzt voraus, dass alles ohne Weiteres einzeln ist. Demgemäß ist ihm die Dauer auf lauter einzelne Sachen verteilt. Es gibt so viele Dauern wie Sachen, so viele Zeiten wie Bewegungen (S. 950 s. 8 n. 6). Das erinnert an Schelling (6.6). Das Sein von etwas in einer äußeren Zeit ist nur ein Gedankending (ens rationis) (S. 967 s. 12 n. 6.7). Wir konzipieren zwar einen unendlich ausgedehnten permanenten Raum und eine von Ewigkeit in Ewigkeit unendlich ausgedehnte suk»Über die Kategorie Wann, und überhaupt über die Dauern der Dinge«, Suarez, Opera omnia, editio nova, a Carolo Breton, Band 26, Paris 1861, S. 912–972. Die Disputation ist (wie die übrigen) in Sektionen gegliedert, diese in nummerierte Abschnitte. Ich zitiere, bei Zitaten aus ihr die stereotype Angabe »d. 50« weglassend, mit Seitenzahl, Sektions- und Nummernzahl; beispielshalber würde »S. 943 s. 6 n. 11« bedeuten: Seite 943, Sektion 6, Nummer 11. Wenn ich andere Teile des Werkes heranziehe, setze ich mit »d.« die Ziffer der betreffenden Disputation ein.

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zessive Zeit, aber beide sind imaginär, bloße Einbildungen (S. 921 f. s. 2 n. 18. 19). Die Existenz in dieser eingebildeten Zeit, der Stelle und der größeren oder geringeren Ausdehnung in ihr nach, fügt – anders als der Platz im Raum – einer Sache keine zusätzliche Bestimmung hinzu, weil aller Wechsel dieser Art das Produkt der fließenden imaginären Zeit ist, nicht Resultat einer Änderung der Sache (S. 922 s. 2 n. 19. 20). Die imaginäre absolute Zeit ist der Sache nach nichts (S. 928 s. 4 n. 6; S. 932 s. 5 n. 9), ein Gedankending (denominatio rationis nostrae, S. 956 s. 9 n. 18). Die der gemeinsamen Zeit nach größere oder kleinere Dauer ist nicht wirklich (der Eigendauer nach) so; deswegen kann die wirkliche Dauer von drei Tagen genau so lang sein wie die Dauer eines einzigen Tages, sofern es nämlich Gott beliebt, den betreffenden Tag zweimal neu zu erschaffen, und nur an der imaginären Zeit liegt es, dass man plausibel sagen kann, das Vergangene könne nicht wiederkehren (S. 955 s. 9 n. 16). Das Sein von etwas in einer äußeren Zeit besteht nur im Gemessenwerden, und das ist eine bloße Zutat des Verstandes (denominatio mere rationis, S. 967 s. 12 n. 6). Suarez löst nicht nur die gemeinsame, umgreifende Zeit in lauter Eigendauern auf, sondern identifiziert obendrein die Dauer einer Sache der Wirklichkeit nach mit ihrer Existenz, so dass nur ein vom Verstand gesetzter Unterschied bleibt (S. 914 s. 1 n. 5). Das Recht zu dieser Identifizierung bezieht er aus der Voraussetzung, dass Dauer nur aktuell existierenden Sachen wahrhaft und eigentlich zukomme (S. 913 s. 1 n. 1). Das ist nicht richtig. Dauer ist im Gegensatz zur Existenz ein Attribut (1.1). Beim Vergehen schwindet die Existenz, aber nicht die Dauer. Aristoteles, so lässt sich wenigstens annehmen, ist nicht mehr. Sein Leben hat 62 Jahre gedauert. Es wäre falsch, dem vergangenen Aristoteles diese Lebensdauer abzusprechen oder etwas daran zu ändern. Ebenso ist die morgige Dauer von etwas, das heute (in offener Zukunft, 3.5) noch möglich ist, nach Bewährung durch Entstehen morgen etwas, das heute noch nicht gewesen ist, und das hat genau so lange gedauert (eine Seeschlacht, etwa zwei 280 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Stunden; ein Liebesakt, etwa eine halbe Stunde), als es noch nicht war, wie morgen, wenn es geschieht. Dauer ist zwar Dauer der Existenz, solange eine Sache existiert; darauf beruft sich Suarez im Anschluss an seinen zuletzt genannten Text: »Man sagt nämlich, dass eine Sache dauere, die in ihrer Existenz beharrt; daher hält man die Dauer für das Selbe wie das Beharren im Sein« (S. 913 s. 1 n. 1). Die Folgerung ist unberechtigt; nicht mehr und noch nicht existierende Sachen dauern genau so gut wie existierende, und ebenso dauern Sachen in bloß möglichen Welten, in die uns Figuren wie Hamlet und Werther oder Märchen einen für uns Menschen – anders als für den Gott von Leibniz – höchst beschränkten Einblick geben, bloß ohne Wirklichkeit. Daher sind die in s. 1 folgenden Ausführungen, mit denen Suarez die These begründet, dass die Dauer nicht in der Sache, sondern nur für den Verstand (ratione) von der Existenz verschieden sei, nirgends tragfähig. Dementsprechend missglückt auch sein Versuch, in s. 2 zu sagen, worin der Unterschied besteht, den der Verstand zwischen Existenz und Dauer mache. Er bringt zwei Vorschläge vor. Der erste besagt, eine Sache werde als dauernde begriffen, wenn sie für existent und nicht zerstört gehalten wird (S. 917 s. 2 n. 4); Johannes Capreolus drücke das so aus, dass Dauer Existenz sei, sofern sie nicht sofort vorübergeht (S. 917 s. 2 n. 6). Das ist ein handgreiflicher Zirkel, denn gemeint ist natürlich nicht, dass die Sache überhaupt nicht zerstört wird – viele dauernde Sachen werden zerstört –, sondern, dass sie nicht zerstört wird, solange sie dauert, und auch das »sofort (raptim)« des Capreolus setzt Dauer voraus, als deren Negation. Der zweite Vorschlag lautet, »dass die Dauer der Existenz in der Sache nichts hinzufügt, sondern bloß Vorausexistenz mitbezeichnet, entweder bloß als gedacht (secundum rationem), wenn sie im ganzen Sein besteht, wie bei den beständigen Sachen, oder in der Tat, wenn sie bloß von Teil zu Teil besteht, wie bei den sukzessiven Sachen« (S. 919 s. 2 n. 11). Aber auch diese Bestimmung der Dauer durch Vorausexistenz ist zirkelhaft, denn sie setzt Lagezeit voraus, das 281 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Verhältnis des Früheren und Späteren, und Lagezeit setzt Dauer voraus, denn sie besteht darin, dass Dauer durch eine Folge von Gegenwarten – vergangene, gegenwärtige, zukünftige – gegliedert wird. Bei der Bestimmung des Begriffs der Dauer hat Suarez also kein Glück; man muss ihm zugute halten, dass er den Umfang des Begriffs allzu weit spannt, um ihn noch stimmig füllen zu können, indem er auch die Ewigkeit Gottes, von der hier nicht mehr die Rede sein soll, unter die Dauer aufzunehmen trachtet. Wesentlich mehr Erfolg hat Suarez bei der Einteilung der Dauer in Arten. Er unterscheidet (abgesehen von der ewigen Dauer Gottes) permanente (beständige) und sukzessive (vorübergehende) Dauer. Dauer ist permanent, wenn sie ohne Sukzession der Teile als ganze beharrt; sie ist sukzessiv, wenn sie nur so beharrt, dass ein Teil dem anderen folgt. Wenn die permanente kreatürliche Dauer ihrer Natur nach unwandelbar ist, heißt sie aevum (abgeleitet vom Aion der antiken Neuplatoniker); wenn sie ihrer Natur nach hinfällig (defectibilis) ist, hat sie keinen Standardnamen, wird aber von einigen »diskreter Augenblick« genannt (S. 930 s. 5 n. 1). Es handelt sich in meiner Terminologie um unzerrissene und zerrissene Dauer. Diese Haupteinteilung ist ein wichtiger Beitrag der Scholastik zur Phänomenologie der Zeit, mit Rücksicht auf die Vernachlässigung der unzerrissenen Dauer in der Neuzeit (außer bei Bergson) wohl der wichtigste. Nach dem Sprachgebrauch der Theologen ist aevum im eigentlichen Sinn die Dauer der unverderblichen Dinge (S. 930 s. 5 n. 2), die nur von Gott vernichtet werden können. Dazu gehören die Engel durch Einfachheit und Aktualität ihrer Substanz, die Himmelskörper (in aristotelischer Tradition) wegen unauflöslicher Verbundenheit ihrer Teile (S. 944 s. 6 n. 11), die rationale Seele, die erste (formlose) Materie (S. 944 s. 6 n. 12) und gewisse Akzidentien wie das Sonnenlicht (S. 944 s. 6 n. 13). Interessanter als diese altertümlichen Vorstellungen ist heute die Anwendung des Begriffs der permanenten Dauer auf Irdisches. Permanent, aber vergänglich dauern nicht nur Gold 282 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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und Steine, sondern auch Lebewesen, deren Substanz sich im beständigen Stoffwechsel als bleibende Form unverändert hält, wie es auch beim Feuer der Fall ist (S. 946 s. 7 n. 4), ja die vergänglichen Dinge überhaupt ihrer Substanz nach, die nicht der Dauer nach gemessen werden kann, da sie unteilbar und folglich unmessbar ist (S. 964 s. 11 n. 11); Messung wird hier im strengen Sinn als Messung an extensionalen Größen, durch Zusammensetzung von Teilen an Skalen, verstanden. Diese permanente, aber ihrer Natur nach vergängliche Dauer ist eigentlich kein aevum, wenn auch manche sie (in erweitertem Sinn) so nennen; Durandus (a Sancto Porciano) hat für sie den Namen: permanenter Augenblick (S. 946 f. s. 7 n. 5). Die freien und veränderlichen Operationen der Engel spielen sich in permanenten englischen Augenblicken ab, die sich nach Belieben der Engel in Folge zu einer diskreten Zeit verbinden können; jeder solche Augenblick ist als unteilbar auch unmessbar (S. 947 f. s. 7 n. 8–10). Unter den Qualitäten, deren Sein eigentlich, an sich gesprochen, nicht übergänglich oder sukzessiv (also vielmehr permanent) ist, erwähnt Suarez auch den Ton: Obwohl er leicht als übergänglich und fließend bezeichnet werden könnte, hat er doch nicht eigentlich sein Sein in der Sukzession, da vielmehr mehrere Teile von ihm zugleich bleiben und manchmal im Sein verharren (S. 949 s. 8 n. 5). Hier nähert sich Suarez der intensiven Dauer, die ich gerade auch am Ton als Beispiel für absolut unspaltbares Verhältnis der Teile einer intensiven Größe charakterisiert habe. Man kann auch an Stimmen denken, etwa die eigentümliche Stimme eines Menschen, die an ganz unterschiedlichen Schallfolgen als dieselbe herausgehört werden kann und nicht wie diese Schallfolgen sukzessiv dauert; ich habe das sentenzhaft so ausgedrückt: »Die Schallfolge wächst, die Stimme nicht.« In Gegensatz zur herrschenden Meinung der Theologen (S. 941 s. 6 n. 2) setzt sich Suarez, indem er bestreitet, dass das aevum gemessen werden könne, indem er ihm, wie es an sich ist, jede innerliche Ausdehnung oder Dauer betreffende Breite bestreitet (S. 942 s. 6. N. 5). Am Beispiel zweier Engel erörtert er 283 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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die Frage, ob der eine länger als der andere dauern könne, und kommt zu dem Ergebnis: das könne nur durch Vergleich mit der sukzessiven Zeit geschehen, in der die Dauer des einen früher beginnt oder früher endet als die des anderen; in sich selbst enthalten beide Dauern kein Maß für den Vergleich, weil man sie nicht in Teile zerlegen und daher nicht deren Länge und Zahl additiv messen kann (S. 937 f. s. 5 n. 28. 30). Er spricht dem aevum also die Messbarkeit einer extensiven Größe ab; was er statt dessen zulässt, ist die Methode indirekter Messung wie beim Tonlängenvergleich durch Markierung der Zeitpunkte von Anfang und Ende der Dauer. Das lässt sich auf das aevum im weiteren Sinn, die permanente Dauer vergänglicher Dinge, übertragen, Suarez ist sich klar über die Grenzen der Messbarkeit nicht extensiver Größen, ohne allerdings den Schritt zu ihrer Extensivierung und Verräumlichung, zur Messung durch Uhr oder Thermometer ins Auge zu fassen. Noch ist nicht das Verhältnis der permanenten Dauer zur Modalzeit zur Sprache gekommen. Suarez äußert sich darüber in Abwehr eines abwegigen, von den übrigen Scholastikern abgelehnten Vorschlags von Bonaventura, der das aevum als sukzessive Dauer permanenter Substanzen verstanden wissen wollte. Bonaventura hatte seinen Vorschlag damit begründet, dass in permanenter Dauer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft trotz ihrer Unvereinbarkeit zusammenfallen müssten. Suarez hält dagegen, dass solche Dauer keinen Anteil an Vergangenheit und Zukunft habe, weil in ihr nichts vergehe und nichts Neues hinzukomme (S. 938 s. 5 n. 31). Dagegen meint er, dass sie, solange sie ist, als ganze gegenwärtig sei (S. 938 s. 5 n. 32). Das ist inkonsequent. Ohne Vergangenheit und Zukunft kann nichts gegenwärtig sein, da Gegenwärtigkeit darin besteht, zwar zu sein, aber nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein. Das aevum ist also so wenig gegenwärtig als vergangen oder zukünftig. Ob so etwas mitten in der Zeit wirklich vorkommt, wenn diese modale Lagezeit ist, möchte bei abstrakter Betrachtung fragwürdig scheinen. Tatsächlich ist es aber der Fall 284 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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bei unzerrissener Dauer. Das zeigt sich in erster Linie an den zuständlichen Situationen, die den Hintergrund der aktuellen bilden, z. B. Sprachen, Sitten, Gesittungen, Lebensformen, motorische Kompetenzen (Gehen, Sprechen, Tanzen, Schwimmen usw.), Persönlichkeiten mit ihnen eingelagerten partiellen Situationen, individuellen und gemeinsamen Standpunkten, Charakteren von Dingen und Halbdingen (wie Stimmen) usw. Sie nehmen gleichsam schwebend an der Zeit teil. Erst nach längeren Fristen hat es Sinn, zu prüfen, ob und wie sie sich verändert haben. Ihr Anfang oder Ende lässt sich kaum datieren. Schon mit Rücksicht auf die zuständlichen Situationen ist es ein Verdienst der scholastischen Zeitphilosophie, auf den permanenten, nicht sukzessiven Typ der Dauer hingewiesen zu haben, wobei für uns natürlich kaum das aevum der von Natur unverderblichen Dinge, das aevum im strengen Sinn, in Betracht kommt, wohl aber das aevum im erweiterten Sinn; der permanente Augenblick nach Durandus. Nach der permanenten Dauer behandelt Suarez die sukzessive, die er mit der Zeit identifiziert und auf die Bewegung (aber nicht nur die körperliche) einschränkt. Zeit ist weiter nichts als die Dauer der Bewegung (S. 951 s. 9 n. 1; S. 962 s. 11 n. 4). Ihr Merkmal ist ein instabiler Fluss, dessen Dauer nur in seiner Unaufhörlichkeit besteht (S. 949 s. 8 n. 3). Solche Dauer kommt nur in sukzessiver, kontinuierlicher Bewegung vor (S. 949 s. 8 n. 4). Qualitäten wie Ton, Stimme, Impetus sind keine Gegenbeispiele (S. 949 s. 8 n. 5). Die Zeit ist von der Bewegung nicht wirklich verschieden, sondern ein vom Verstand zu dieser hinzugebrachter Aspekt (S. 951 s. 9 n. 1). Gegen diese These erhebt sich ein gewöhnlicher, nicht leicht zu entkräftender Einwand. Dieselbe Bewegung desselben Körpers über dieselbe Strecke kann schneller und langsamer sein, also mehr oder weniger Zeit verbrauchen, so dass Zeit und Bewegung unabhängig von einander variieren (S. 951 s. 11 n. 3). Suarez hatte diesen Einwand schon an früherer Stelle formuliert und besprochen: Anders variieren Zeit und Bewegung, da schnelle Bewegung kleine Zeit 285 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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und große Bewegung braucht, langsame umgekehrt (S. 586 d. 40 s. 9 n. 10). Die dort angegebene Lösung wiederholt er nun: Die schnelle Bewegung dauert genau so lang wie die langsame derselben Sache über dieselbe Strecke, denn die Dauer hat in beiden Fällen gleich große und gleich viele Teile, nur sind diese bei der schnelleren Bewegung dichter gepackt (gleichsam gepresst), bei der langsameren dünner und lockerer verteilt. Ein Größenunterschied der Dauer entsteht dann nur beim Vergleich in der äußeren, absoluten Zeit, aber die ist imaginär (S. 951 f. s. 9 n. 4). Bei dieser Lösung findet kein Unterschied der Geschwindigkeit mehr statt; er verwandelt sich in einen Unterschied der Packungsdichte. Suarez bietet noch einen anderen Lösungsweg an. Nun wird ein Geschwindigkeitsvergleich zwischen schneller und langsamer Bewegung überhaupt unmöglich, weil es keine Bewegung mehr gibt, die bald schneller, bald langsamer sein könnte, sondern schnelle und langsame Bewegung von vorn herein qualitativ verschieden sind, ohne dass Schnelligkeit und Langsamkeit als besondere modi an einer Bewegung unterschieden werden könnten (S. 952 f. s. 9 n. 6–7). Dieses Verfahren scheint ihm doch nicht ganz geheuer zu sein, denn er kommt auf die erste Lösung zurück, die er als gleichfalls billigenswert anerkennt. Demnach besteht die größere Geschwindigkeit in größerer Packungsdichte der Teile der Bewegung, und diese Packungsdichte hat ebenso ihre Dauer wie die Bewegung, deren modus sie ist, so dass die Dauer als Dauer der Bewegung und als Dauer ihres modus mit dem, dessen Dauer sie ist, der Sache nach zusammenfällt und bloß vom Verstand davon unterschieden werden kann, so wie Suarez es gern haben möchte. Interessant ist an dieser Lösung die Umdeutung des quantitativen Geschwindigkeitsunterschiedes in einen Unterschied der Dichte. In der Tat sind die Unterschiede der Dauer einer schnellen und einer langsamen Bewegung eher intensiv als quantitative Unterschiede einer intensiven Größe, solange die intensive Dauer nicht im Dienste ihrer Messbarkeit verräumlicht wird, um sie dem menschlichen Planen verfügbar zu machen 286 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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(3.3.2). 280 Es fragt sich nur, ob Suarez Schwankungen der Dichte als intensive Schwankungen gelten lässt. Er drückt sich darüber nicht unzweideutig aus. Nach d. 42 s. 5 n. 17 (S. 627) beruht Dichte (als Gegenteil der Dünne) nicht auf einer Lage der Teile (nah beieinander), sondern auf einer Eigentümlichkeit, die vieler Materie gestattet, wenig Raum einzunehmen; das versteht Suarez als kleine Intensität der Quantität in Bezug auf den zu besetzenden Platz. Nach S. 768 (d. 46 s. 2 n. 8) ist die Variation der Dichte nicht eigentlich größere Intensität, sondern größere oder geringere Ausdehnung in Bezug auf den Ort, obwohl sie bezüglich der Qualität, die Dichte oder Dünne ist, den Typ der Intensivierung hat. Seinen originellsten Beitrag zur Problematik der Zeit leistet Suarez bei der Erörterung des aristotelisch-augustinischen Problems der antiken Zeitskepsis (S. 956–958, s. 9 n. 19–16, s. o. 4.1). Suarez bringt zwei Lösungsvorschläge vor: 1. Der Fehler liegt daran, die Zeit als extensive Größe zu behandeln. Ihre Sukzession ist aber dynamisch, ein transitus, ein Geschehen (S. 957 s. 9 n. 22. 23). Dieser Einwand ist berechtigt; ich habe ihn auch erhoben. 2. Zur Sukzession gehört das Unfertige, dass etwas noch aussteht, daher auch das Nichtsein des Zukünftigen; statt dessen könnte das Entstandene, statt zu vergehen, in einer nicht vergehenden Gegenwart, die dann keine zeitliche mehr wäre, sondern ein ewiger Augenblick, aufgefangen werden, denn, was einmal entstanden ist, kann in seiner Früher-Später-Ordnung aufbewahrt werden, ohne die Sukzession bis dahin zu vereiteln. Wenn es sich wirklich so verhalten sollte, haben die An einem hübschen Beispiel verdeutlicht der Gestaltspsychologe Wolfgang Metzger den Unterschied intensiver und extensiver Geschwindigkeit einer Bewegung, indem er darauf hinweist, »dass für unsere Augen der Kinderwagen schon wild dahinrast, wenn der Schnellzug erst ganz gemächlich anrollt, und ihn dabei doch nicht überholt.« (Wolfgang Metzger, Gesetze des Sehens, 3. Auflage Frankfurt a. M. 1975, S. 574, übernommen aus der 2. Auflage 1953, als noch Dampflokomotiven fuhren).

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Teile der Sukzession, nachdem sie einmal entstanden sind, reale Existenz, die das Skeptikerargument ihnen bestreitet; sie können dann zugleich sein (S. 957 f., s. 9 n. 24–25). Dieser Vorschlag, die Vergangenheit abzuschaffen, ist ein origineller und nicht ganz naheliegender Beitrag von Suarez. Er hat insofern etwas für sich, als in gewissem Sinn die (offene) Zukunft mehr noch nicht ist als die Vergangenheit nicht mehr, weil das, was noch nicht ist, sich aus dem, was noch möglich ist, erst mit dem Entstehen (dem Eintritt in Gegenwart) herausbildet, während das, was nicht mehr ist, mitsamt seiner lagezeitlichen Anordnung schon durch die Gegenwart feststeht, noch ehe es vergeht (in Vergangenheit eintritt). Insoweit macht der Vorschlag von Suarez auf eine Asymmetrie von Entstehen und Vergehen, die sonst verborgen geblieben wäre, aufmerksam. Zur Lösung der Aporie durch Abschaffung der Vergangenheit trotz beibehaltener Zukunft kann er aber nicht beitragen, weil es nicht angeht, ohne Vergangenheit an der Sukzession des Früheren und Späteren festzuhalten. Diese Sukzession kann dem, was noch nicht ist, nämlich erst zukommen, wenn es sich aus dem, was in der offenen Zukunft noch möglich ist, herausgeschält hat, und das ist erst der Fall, wenn es schon nicht mehr zukünftig, sondern durch die Entscheidung im Entstehen hindurchgegangen ist. Dieses Nichtmehrsein ist der Anteil der Vergangenheit am Nochnichtsein im Zukünftigen. Die Lagezeit der modalen Lagezeit kann in die Zukunft hinein erst dann verlängert werden, wenn feststeht, durch was hindurch sie verlängert werden kann, und dazu eignet sich nur, was noch nicht ist, aber erst im Entstehen aus dem, was noch möglich ist, ausgesondert wird, also erst dann, wenn es nicht mehr zukünftig ist. Ohne Vergangenheit keine Sukzession; man kann die Vergangenheit nicht abschaffen und an der Beziehung des Früheren zum Späteren festhalten.

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6.10 Augustinus Augustinus281 und Suarez verkörpern als Philosophen entgegengesetzte Einstellungen des Menschen zur Zeit. Augustinus lässt die Zeit an sich heran; er ringt mit der Flüchtigkeit der Modalzeit, um ihr einen Zeitraum abzugewinnen, der für die Abmessung von Zeiten und damit für die menschliche Orientierung in der Zeit eine genügende Grundlage bietet. Bemerkenswert ist, dass diese Fragestellung ein praktisches und alltägliches Problem menschlicher Lebensführung betrifft, kein theologisch transzendierendes wie das des ein Jahrhundert späteren Boethius, der vor der Frage steht, welchen Sinn das Bittgebet noch haben kann, wenn für Gott alles zugleich und damit schon fertig ist (Consolatio Philosophiae). Bemerkenswert ist das besonders, weil Augustinus nicht nur seine Erörterungen in lange Tiraden der demütig preisenden Anrede Gottes einkleidet, sondern auch die Ausgangsstellung für die Frage des Boethius scharf herausarbeitet (13). Suarez dagegen entzieht sich der Zeit so weit als möglich. Er wälzt sie auf die Bewegung ab und entzieht ihr die irdischen Substanzen, darunter die rationale Seele, und mehr oder weniger auch die Qualitäten durch Übernahme aus der sukzessiven Dauer in die permanente, in ein von den Himmelskörpern und den transzendenten reinen Geistern auf die Erde herabgezogenes aevum zweiten Ranges. Dass die Zeit den Menschen angeht, spielt bei Suarez keine Rolle. Augustinus beginnt seine Diskussion der Zeit im 11. Buch seiner Confessiones mit einer Gegenüberstellung der Ewigkeit Gottes, die als ganze immer gegenwärtig ist, und der Zeit, von der nie ein Ganzes gegenwärtig ist, weil die Zukunft die Vergangenheit immer vor sich hertreibt und alles Künftige aus VerganIch benütze für Augustinus den lateinischen Text der Ausgabe: Aurelius Augustinus, Was ist Zeit? (Confessiones XI / Bekenntnisse 11), eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Norbert Fischer, Hamburg 2000 (Band 534 der Philosophischen Bibliothek des Verlages Meiner). Ich belege mit den arabischen Ziffern der Kapitel.

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genem folgt (13). Er unterscheidet also den regressiven Fluss der Zeit, den treibenden Druck des ankommend Künftigen (Appräsenten) als Abschieben in Vergangenheit, von dem progressiven Fluss, der als Zusammenhang des Folgens weniger dramatisch beschrieben wird. Vor der ewigen Gegenwart Gottes fällt die zeitliche aus: Sobald das Künftige wirklich kommt, ist es auch schon vergangen (16). Die Gegenwart findet nur statt, weil sie in Vergangenheit übergeht, und diese ist nicht mehr, während die Zukunft noch nicht ist; in diesem Sinn ist das Sein der Zeit ein Streben ins Nichtsein (17). Dieser Flüchtigkeit der Zeit als Modalzeit wird »trotzdem« die lange und kurze Zeit abgewonnen, die uns zu sagen gestattet, dass etwas vor zehn Tagen oder in zehn Tagen geschieht; wie aber kann das lang und kurz sein, was nicht ist? (18) Wie wird aus der reinen Modalzeit eine metrisierte Lagezeit? Nur solange die Zeit gegenwärtig ist, kann sie lang sein (18, aber sie kann ja nie ganz gegenwärtig sein). An der zur Zeitstrecke verräumlichten, extensiv gemachten Zeit von z. B. 100 Jahren führt Augustinus das lagezeitliche Analogon der modalzeitlichen Flüchtigkeit vor, die Zerquetschung ausgedehnter Gegenwart durch banale Konvergenzbetrachtung: Durch fortgesetzte Aufteilung jedes angenommenen Stückes gegenwärtiger Dauer in einen Anteil noch nicht seiender Zukunft und einen Anteil nicht mehr seiender Vergangenheit schrumpft die Gegenwart auf einen unausgedehnten Punkt, der keine Zeit mehr füllt, zusammen (19. 20). Und doch messen und vergleichen wir Zeitintervalle. Wie ist das möglich? Wir messen sie als vorübergehende (21). Hier spielt Augustinus die Dynamik des Geschehens gegen die aristotelisch-skeptische Zerstückelung der Zeitstrecke in zwei Halbgeraden (die eine vergangen, die andere künftig, beide nichtseiend) aus. Aber die Dynamik hilft der Zeitmetrik nicht weiter: Wir messen die gegenwärtige Zeit, während sie vorübergeht, aber dann fällt der Zeitraum (spatium) aus, der zum Messen einer extensiven Größe benötigt wird; jeder Zeitraum würde Anteile von Vergangenheit und Gegenwart umfassen (27). Hat nun die Zeit eine Er290 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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streckung (distentio)? Augustinus wird unsicher (30). Helfen könnte hier die Extensivierung der Zeit durch Projektion in den Raum vermöge der Bahn einer gleichförmigen Bewegung auf einer Uhr. Tatsächlich erwähnt Augustinus diese Möglichkeit: »Wenn wir aber die Abstände der Orte bemerken könnten, woher und wohin ein Körper bei seiner Bewegung kommt, oder seine Teile, wenn sie etwa eine Drehbewegung ausführen, dann können wir sagen, wie groß der Zeitaufwand ist, aus dem von jenem Ort zu jenem die Bewegung des Körpers oder eines Teils von ihm hervorgebracht ist« (31). Das ist für Augustinus aber nur eine Abschweifung, die nicht dazu dient, der Messbarkeit der Zeit näher zu kommen, sondern nur in der Polemik gegen eine andere Zeitauffassung das Ergebnis vorbereitet. Die Zeit ist nicht die Bewegung eines Körpers (31). Statt auf die Bahn einer Uhrbewegung im Raum verlässt sich Augustinus für die Zeitmessung auf das Gehör, das die Dauer von Silben, Versen, Gesängen usw. vergleichend abschätzt. Das gelingt nur im Vorübergehen des Schalls, und bei der Frage, wo dann die zur Messung erforderliche Erstreckung (distentio) zu finden ist, ergehen sich die schon benannten Schwierigkeiten (33). Das Vorübergehende strebt zwar in einen Zeitraum (spatium temporis), in dem es gemessen werden könnte, kann ihn aber nicht erreichen, weil jede Dauer, ehe sie ihn ausgefüllt hat, auch schon vorbei ist, während ihres Ablaufs zerrissen in einen vergangenen und einen künftigen Teil. »Wir messen also weder vergangene noch gegenwärtige noch vorübergehende Zeiten, und wir messen dennoch Zeiten« (34). Der Sprung aus dem Fluss der reinen Modalzeit in die extensive Größe einer metrisierten Lagezeit ist also nicht gelungen. Die Aporie ist so rätselhaft wie zuvor. Aus dieser Verlegenheit rettet sich Augustinus durch einen Trick, dem er die Lösung seines Problems, der flüchtigen Zeit eine Erstreckung zu verschaffen, abzugewinnen hofft, in die Introjektion der Zeit. Er beginnt mit einer durchaus nachvollziehbaren Beobachtung an der Zeitschätzung: Sie baut auf die (frische) Erinnerung, in der das Vergangene hängen bleibt (35). Die darauf bauende Abschätzung 291 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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der Länge einer Tondauer stellt er sich so vor: Der Ton »erklang und wird erklingen, denn, was von ihm schon ausgeführt ist, ertönte jedenfalls, was aber übrig bleibt, wird ertönen und so ausgeführt werden, indes die gegenwärtige Zuwendung das Künftige ins Vergangene zieht, in der Weise, dass die Zukunft schrumpft und die Vergangenheit wächst, bis durch Verbrauch des Künftigen das Ganze vergangen ist« (36). Der Fluss der Zeit, dass die Vergangenheit wächst und die Zukunft schrumpft, wird hier auf dem Weg über die an die Retention anknüpfende Schätzung der Dauer eines gerade vorübergehenden Tones introjiziert, und das widerfährt auch der Zeitlänge selbst, die durch Introjektion gerettet wird: »Nicht also ist eine lange Zeit die zukünftige, die nicht ist, sondern lange Zukunft ist lange Erwartung des Zukünftigen, und ebenso wenig lang ist die vergangene Zeit, die nicht ist, sondern lange Zeit ist lange Erinnerung an das Vergangene« (37). Durch weitere Steigerung des Introjektionsgedankens wird dieser von Zeitlänge und Zeitmessung unabhängig: Vom Nichtseienden kann man keine Kunde haben und nicht wahr darüber sprechen, aber beides gelingt in Bezug auf Vergangenes und Zukünftiges; daher müssen diese irgendwo sein (22). Wo aber sind sie? Sie sind nur als gegenwärtig, und zwar in der Seele: Vergangenheit als gegenwärtige Erinnerung, Gegenwart als gegenwärtige Anschauung (contuitus), Zukunft als gegenwärtige Erwartung (26). Aus der ganz richtigen Beobachtung, dass an der Schätzung der Dauer von Tönen durch das Gehör Erinnerung und in geringerem Maß Erwartung beim Ablauf des Schalls, als Aufnahmen von Vergangenem und Zukünftigem, beteiligt sind, springt Augustinus zu der These, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft selbst in der Seele sind und sich dort so ausbreiten, dass sie gemessen werden können. Diese Verschiebung rächt sich durch eine logische Absurdität: Man kann nicht mehr sagen, was Erinnerung ist. Dafür müsste man diese als Bewusstsein von Vergangenem bestimmen. Wenn nun das Vergangene selbst Erinnerung in der Seele, also Bewusstsein von Vergangenem sein soll, ergibt sich aus jener Angabe über 292 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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die Erinnerung ein unendlicher Progressus: Erinnerung ist Bewusstsein von Bewusstsein von Bewusstsein von Bewusstsein von usw. ad infinitum. Es ergibt sich ein unendlich langes, sinnloses Satzfragment. Vergangenheit kann nicht stimmig als etwas, das in der Seele gegenwärtig und auf Vergangenheit bezogen ist, erklärt werden. Welchen Fehler hat Augustinus gemacht, so dass ihm nur dieser unhaltbare Ausweg bleibt? Er ist unmittelbar durch die Schichten der Zeit gesprungen, von der reinen Modalzeit in der Tiefe zur metrisierten Lagezeit an der Oberfläche, und hat die unzerrissene Dauer außer Acht gelassen, den permanenten Augenblick (Durandus) der zuständlichen Situationen, der verweilenden Gegenwart, der Retention (Husserl) usw. Die Modalzeit ist ein dynamisches Geschehen als Konflikt zwischen unzerrissener Dauer und Andrang des Neuen, der Dauer zerreißt und ins Vorbeisein verabschiedet und dabei dauerlose primitive Gegenwart freisetzt. Der Rhythmus dieses Konflikts wird durch Einführung der Einzelheit bei Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt zu einer durch Stationen (zeitliche Gegenwarten, gegenwärtige, zukünftige) gegliederten Lagezeit, deren Projektion in den Raum bei der Metrisierung eine Zeitstrecke mit einem dauerlosen Zeitpunkt in der Mitte ergibt. Diesen Zeitpunkt darf man nicht mit der zeitlichen Gegenwart verwechseln; damit lässt man die Dynamik der Modalzeit außer Acht. Dieser Verwechslung ist Augustinus, obwohl er diese Dynamik wuchtig betont, verfallen.

6.11 Plotin Plotin trägt seine Lehre von der Zeit in der 7. Schrift der 3. Enneade (45 in chronologischer Anordnung) mit dem Titel »Über Zeit und Ewigkeit« vor. 282 Die ersten sechs Kapitel behandeln 282

Die Schrift steht in der zweisprachigen (griechisch-deutschen) Ausgabe

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den Aion. Er ist ungespreizt (adiastaton), d. h. ohne Auseinandertreten seiner Inhalte, und unterscheidet sich dadurch von der Zeit (2, 32 f.). Er ist immer in der Gegenwart; nichts von ihm verging oder wird werden (3, 21 f.). Was weder war noch sein wird, sondern bloß ist, feststehend im Sein ohne Verwandlung in das, was sein wird, oder gehabte Verwandlung ist der Aion (3, 34–36). Nun könnte man annehmen, dass dieser Aion so blockartig undifferenziert wäre wie das aevum der Engel nach Suarez, aber Plotin fährt fort: »So wird um das Seiende das Leben im Sein ganz und voll, überall ungespreizt, dieses, was wir suchen: Aion« (3, 36–38). Mit dem Leben kommt Vielheit und Bewegung in den Aion. Seine Grundzüge sind die fünf obersten Gattungen nach Platon, 283 die Gattungen des Seienden, d. h. der geistigen (intelligiblen) Welt nach Plotin: 284 Substanz, Ruhe, Bewegung, Identität und Verschiedenheit (3, 9–11). Daraus ergibt sich eine vollere Wesensbestimmung des Aion: Er ist seine eigene Unterlage, d. h. die geistige Welt selbst mit ihrer Bestimmtheit (5, 17), und man könnte ihn als den hervorleuchtenden Gott bezeichnen, der sich zeigt, wie er ist: das unerschütterliche und identische Feststehen im Sein, aus vielem bestehend, da dort (in der geistigen Welt) jedes durch unendliche Kraft vieles ist, unendlich ohne Nachlassen und ohne Verbrauch; »und wenn jemand den Aion als unendliches Leben bezeichnet, unendlich, indem es das ganze ist und nichts davon aufbraucht, ohne Vorübergegangensein oder Bevorstehen, wäre er nahe an einer Definition« (5, 20–28). Mit dem Aion als Leben des Geistes bringt Plotin seinen Leitvon Beutler und Theiler in Band IV, S. 306–349. Ich belege daraus nur mit Kapitel- und Zeilenzahl (nach Bréhier und Henry-Schwyzer). Die Angabe aus anderen Schriften Plotins wird nachher erklärt. »Ewigkeit« ist eine fragwürdige Übersetzung für »Aion« wegen der theologischen Konnotation; es handelt sich um das aevum (6.9) im höchsten, transzendenten Sinn, die ganz permanente Dauer. 283 Sophistes 254b–255e 284 VI 2 [43] 6–8 (d. h.: 6. Enneade, 2. Abhandlung, Kapitel 6–8)

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gedanken der Vieleinigkeit ein, in der Ruhe und Bewegung, Identität und Verschiedenheit in einander übergehen, weil jeder Inhalt (Idee, Logos) des Geistes, indem er er selbst ist und bleibt, auch schon alle anderen umfasst und mit ihnen zusammenfällt. Ich habe diese Konzeption ausführlich belegt und mit dem von mir inzwischen schärfer herausgearbeiteten Typ des zwiespältigen Mannigfaltigen 285 logisch zu rehabilitieren versucht.286 Inzwischen habe ich einen einfacheren Weg zum widerspruchsfreien Verständnis für dieses den heidnischen spätantiken Neuplatonismus seit Plotin faszinierenden und in den christlichen Westen bei Scotus Eriugena übergangenen Gedankenmotiv gefunden, einen Weg, der mich nicht mehr zwingt, der intelligiblen Welt nach Plotin Zwiespalt nachzusagen: Die Einheit von Ruhe und Bewegung, Identität und Verschiedenheit, die der Neuplatonismus an die Stelle der bloßen wechselseitigen Anteilhabe im platonischen Sophistes setzt, besteht in absolut unspaltbarem Verhältnis (1.4). Wie dieses sich auf Identität und Verschiedenheit auswirkt, kann man an dem schon angeführten 28 Vers aus Goethes Ballade Die Braut von Korinth studieren, womit der Dichter die Ekstase der Liebenden charakterisiert: »Eins ist nur im andern sich bewusst.« Diese Liebenden haben sich nicht preisgegeben; jeder ist im anderen sich bewusst, behält also sein Sichbewussthaben und damit seine absolute Identität als dieser, aber in absolut unspaltbarem Verhältnis mit seinem Bewussthaben des anderen, so dass er nur noch in diesem sich seiner bewusst ist. Keine Beziehung der Verschiedenheit oder des Unterschiedes kann dieses Zusammenfallen aufsprengen. Vielfalt und Dynamik bleiben, aber ohne Übergang von einem ersten Beziehungsglied (Referens) zu einem zweiten, worauf jenes sich bezieht (Relat). In der Geschlossenheit eines solchen Hermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg 2012, S. 59–67 und 133–137 286 Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Band 1, Freiburg/München 2007, S. 326–337 285

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absolut unspaltbaren Verhältnisses kann sich die Bewegung entfalten, ohne der Ruhe als unerschöpflicher Beständigkeit des Ganzen Eintrag zu tun. So verstehe ich jetzt die Vieleinigkeit in der oberen geistigen Welt, die Plotin hier als den Aion einführt. Ich übergehe die Kapitel 7–10, in denen Plotin sich, nicht ohne Scharfsinn, polemisch mit früheren Lehren von der Zeit (Aristoteles, Stoiker, Epikur) auseinandersetzt, und komme zu seiner eigenen Einführung der Zeit in Kapitel 11. Er lässt die Zeit erzählen, wie sie entstand: »Die Natur war umtriebig und wollte selbst herrschen und sich gehören und wählte, mehr zu suchen als das Gegenwärtige; so wurde sie bewegt und wurde auch ich bewegt und – immerdar in das Danach und das Spätere und das nicht Selbige, sondern in anderes und immer wieder anderes bewegt – brachten wir, nachdem wir ein gutes Stück Weges hinter uns gebracht hatten, als Bild der Ewigkeit die Zeit zustande. Da nun in der Seele eine unruhige Kraft war und sie das dort Geschaute immer in etwas anderes übertragen wollte, passte ihr nicht die Gegenwart des gedrängten Ganzen. Wie aus dem ruhenden Samenkorn das genetische Programm (wörtlich: der Logos) den Durchgang ins – wie es meint – Reiche antritt, das Reiche durch Zerlegung verdeckend, und, statt des In-sichEinen nicht in sich das Eine verwendend, in schwächere Länge vorangeht, so hat auch sie (die Seele), indem sie die sinnliche Welt durch Nachahmung jener (geistigen) machte als bewegt mit einer Bewegung – nicht der dortigen, aber der dortigen ähnlich und bemüht, ihr Bild zu sein – zuerst sich selbst verzeitlicht, indem sie statt der Ewigkeit diese (die Zeit) machte; dann gab sie dem Gewordenen, der Zeit zu dienen« (11, 15–31). Plotin unterscheidet hier zwei Bewegungen, die der oberen, ewigen Welt, die dort mit Ruhe wie Identität mit Verschiedenheit vereint ist, und die zeitliche Bewegung, die ein Teil der Seele an die Stelle der intelligiblen Bewegung (11, 50) setzt. Was ist eigentlich der Nachteil? An der Schilderung der zeitlichen Bewegung fällt der Vorzug auf, den Plotin der Vorwärtsrichtung in die Zukunft gibt: Ihre Triebkraft sucht das Danach und das Spä296 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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tere, schreitet vor in schwächere Länge. Bezeichnend für diese Zuspitzung nach vorne ist weiter eine Schilderung derselben Tendenz an früherer Stelle: Das Sein der dem Werden unterworfenen Dinge »eilt auf das Bevorstehende zu und will nicht stehen, zieht das Sein mit bald-dieses-bald-jenes-Machen und Bewegung im Kreis an sich aus einem gewissen Durst nach Sein, womit wir auch den Grund der so hastigen Bewegung gefunden haben: durch das Bevorstehende zum Immersein« (4, 29–34). Neben dem Vorwärtsdrang vernachlässigt Plotin die Vergangenheit, das Frühere, abgesehen von stereotypen Zusammenstellungen mit dem Bevorstehenden und dem Späteren; nur bei Erörterung der Zeitmessung hebt er die Vergangenheit hervor: Die periodische Bewegung der Gestirne misst, wie viel Zeit vergangen ist (12, 45). Diese betonte Vorwärtsrichtung der durch Abfall aus der Ewigkeit verzeitlichenden Bewegung der Seele auf das hin, was noch bevorsteht, gibt Plotin die Gelegenheit zur Spaltung des unspaltbaren Verhältnisses der Gegensätze in der oberen Welt durch eine gerichtete Beziehung an Stelle des ungerichteten Verhältnisses. Die Vergangenheit ist vom Lauf der Zeit abgetan; um zu ihr eine Beziehung aufzunehmen, müsste dem Hunger nach Sein und nach Neuem eine zusätzliche Tendenz aufgepfropft werden. Plotin scheint die Neugier eines Seelenteils also zu benützen, um das in der oberen Welt herrschende unspaltbare Verhältnis durch gerichtete Beziehungen abzulösen. In der oberen Welt ist die Bewegung in ungerichteten Verhältnissen eingeschlossen; in der Sinnenwelt wird sie in gerichtete Beziehungen freigesetzt und verliert damit die Übereinstimmung mit der beständigen Ruhe und beharrlichen Fertigkeit, den harmonischen Akkord der Gegensätze in der Welt des Geistes. In der Seele scheint Plotin eine nicht näher erklärte Spaltung anzunehmen. Der unruhige Seelenteil nach 11, 50, die rätselhafte »Natur«, die nach 11, 15 umtriebig ist und herrschen will, wird verantwortlich gemacht für den Abfall der Seele aus der Ewigkeit, wo sie ohne Zeit, Früher und Später im Seienden der 297 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Ruhe pflegte (11, 12–14). Dieser Sündenfallmythos passt schwerlich zu Plotins normaler Seelenlehre. Er nimmt vielmehr einen allmählichen Übergang von der geistigen Welt zur Seele an, wobei die Vieleinigkeit erhalten bleibt und nur etwas gelockert wird. 287 Der Übergang von der Ewigkeit zur Zeit scheint für ihn ein Sprung über einen Abgrund zu sein, den er nur mit einem Mythos überbrücken kann. Offenbar verfällt die Seele auch nicht ganz in den Sündenzustand der Verzeitlichung, sondern ihr bleibt genug von der Bewegung der intelligiblen Seele (11, 50), um die Zeit aufhören zu lassen, falls sie sich zur höheren Einheit zurückwenden sollte (13, 28–30). Über die körperliche Bewegung im Bann des Früheren und Späteren hinaus behält die ihrige die Eigenmacht selbständiger Wirksamkeit, womit sie die Folge ihrer Zustände regelt (13, 38–40). Sie zeugt mit ihrer Energie die Zeit und in die Zeit hinein; die Zeit ist überall, weil die Seele von keinem Teil der Welt absteht (13, 45–49). Die Vieleinigkeit geht ihr dabei nicht verloren: Die Zeit ist in jeder Seele gleichermaßen, denn alle Seelen sind eins. Daher zerfällt die Zeit auch nicht in viele Zeiten, so wenig wie der Aion in seine Inhalte (13, 66–69). Was Plotin an der Zeit verglichen mit der Ewigkeit auszusetzen hat, was ihn minderwertig dünkt, breitet er 11, 35–59 in üppigen Umschreibungen desselben Mangels aus: Es ist die Spreizung (Diastasis, 11, 41) bloßer Reihenfolge eines nur noch stetigen (11, 53) Zusammenhangs an Stelle der gedrängten Geschlossenheit und Ganzheit der immer auf der Stelle verharrenden unerschöpflichen Fülle der Ewigkeit. Für diesen Mangel reicht die Lagezeit mit Zusammenhang des Früheren und Späteren über zeitliche Abstände. Für den Bruch des Zusammenhangs durch die Modalzeit hat Plotin keinen Sinn, wenn er auch Vergangenheit und Zukunft über dem Früheren und Späteren nicht vergisst, aber sie lassen ihn kalt. Dabei läge es nahe, der BestänIV 3 [27] 5, 8–18 (d. h. 4. Enneade, 3. Abhandlung, 27. Schrift in chronologischer Folge, Kapitel 5, Zeilen 8–18)

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digkeit die Flüchtigkeit entgegenzusetzen, die durch den Abschied dessen, was nicht mehr ist, und das entsprechende Nochnichtsein des Künftigen in die Zeit gebracht wird. Die Heimsuchung des in Gegenwart zusammengedrängten Seins vom Nichtsein des Vergangenen und Zukünftigen spielt bei Plotin keine Rolle. Die Modalzeit wird ihm nicht zur ultimativen Herausforderung über das von der lagezeitlichen Spreizung vorgegebene Maß hinaus. Bezeichnend dafür ist seine Verteidigung der Realität der Zeit durch Berufung auf den Spruch »Gott war und wird sein« (13, 49–52) in sonderbarem Widerspruch zu der Identifizierung Gottes mit dem Aion 5, 19. Vergangenheit und Zukunft können demnach als Unterbau für das unanfechtbare Sein Gottes die Ewigkeit ersetzen; kein Bruch mit dem Sein fällt ihnen zur Last. Dieses Nichternstnehmen der Modalzeit unterscheidet Plotin von Augustinus und lässt darauf schließen, dass er, anders als dieser, die Zeit nicht an sich herankommen lässt, sondern sie eher wie ein Schauspiel betrachtet, in das freilich auch er hineingezogen wird, ohne es aber als sein eigenes Schicksal zu erfahren.

6.12 Aristoteles Aristoteles behandelt in seiner Zeitabhandlung 288 die Zeit differenzierter als jeder der bisher herangezogenen Philosophen, aber in verworrener Anordnung mit kurzen, schwer verständlichen Andeutungen in schlechter Überlieferung, mit zahlreichen Lesarten und philologischen Verbesserungsvorschlägen. Auf den ersten Blick scheint er die Zeit nur als Lagezeit aufzufassen und die Modalzeit nur am Rande zu berücksichtigen. Insbesondere ist ihm das Nichtsein des Vergangenen und ZuPhysik 4. Buch, 217b29–224a17. Ich benütze die Ausgabe: Aristotle’s Physics, a revised text with introduction and commentary by W. D. Ross, Oxford at the Clarendon Press, first published 1936.

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künftigen zwar geläufig, aber nur als ein zu registrierender Nebenumstand, nicht als prägender Zug der Zeit. Er lässt die Zeit so wenig wie Kant, Leibniz oder Plotin an sich heran; er denkt nicht daran, sich als betroffenen Menschen auf die schmale Schwelle der gerade seienden Gegenwart zwischen den Abgründen des Nichtmehrseienden und des Nochnichtseienden gestellt zu wissen. Vielmehr registriert er dieses Nichtsein ganz beiläufig: »Von dem, was an Nichtseiendem die Zeit umfasst, war einiges, z. B. Homer war einmal, anderes wird sein, etwa etwas von dem Bevorstehenden, (je nach dem), auf welcher Seite sie es umfasst, und wenn sie es beiderseits umfasst, war es und wird es sein« (221b31–222a2). Vergangenheit und Zukunft ordnet er der Lagezeit ein: »Zugleich ist die Zeit überall dieselbe, früher und später aber nicht dieselbe, weil zwar die gegenwärtige Veränderung nur eine ist, die gewesene und die bevorstehende aber von einander verschieden sind, ist doch die Zeit (…) früher und später immer verschieden« (220b5–10). Tatsächlich nimmt Aristoteles die Modalzeit aber sehr wichtig, nur gleichsam einäugig, nämlich zwar nicht blind, aber gleichgültig gegen das, was in ihr nicht ist, also gegen Vergangenheit und Zukunft, aber mit desto größerem Interesse an der Gegenwart, dem Jetzt oder – wie ich um des Gleichklangs mit dem griechischen Wort sagen werde – dem Nun, das er zwar nicht als flüchtiges versteht – damit hätte er das Nichtsein mit im Blick –, aber als wanderndes, das nicht steht wie das nunc stans der göttlichen Ewigkeit nach Boethius u. a., sondern die Zeit durchläuft; dieses Durchlaufen ist das, was bei ihm von der Modalzeit übrig bleibt und über die bloße Anordnung von Prozessstadien in der Lagezeit hinausgeht. Wenn man die Zeitabhandlung genau durchmustert, kann man feststellen, dass sich in ihr zwei deutlich verschiedene und ziemlich unabhängige Abhandlungen völlig ungeordnet verschlingen, so dass unvorhersehbar, teils mitten im Satz sich abwechselnd, Fragmente der einen Abhandlung von solchen der anderen abgelöst werden. Die eine Abhandlung betrifft die Zeit als Lagezeit mit Anord300 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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nung des Früheren und Späteren, die andere das Nun. Im Verlauf der Zeitabhandlung kehrt sich das Fundierungsverhältnis um: Während die Zeit zunächst nur als Lagezeit eingeführt wird und das Nun als Randerscheinung mitläuft, übernimmt es anschließend die fundierende Rolle, so dass die Ordnung des Früheren und Späteren auf dieser Spur der Modalzeit beruht. Um diese doppelte und hintergründige Gedankenführung durchsichtig zu machen, bleibt nichts übrig, als sozusagen in der Zeitabhandlung eine Lagezeitabhandlung von einer Nunabhandlung zu unterscheiden und die von der unvermittelten Abwechslung beider Abhandlungen auseinandergerissenen Fragmente jeder von beiden Teilabhandlungen der Reihe nach durchzusprechen und mit einander zu verbinden. Summarischer zu verfahren, würde angesichts der Differenziertheit und der kryptischen Züge des Gedankengangs nur ein oberflächlich verwischendes Verständnis ermöglichen. Ich werde also zunächst die Lagezeit an Hand folgender Reihung der Fragmente, der Reihung im Text folgend, besprechen: 217b29–218a6, 218a30–219b10, 220a24– 222a9, 222b16–223a4, 223a16–224a17. Anschließend bespreche ich in gleicher Weise die zum Nun gehörigen Fragmente: 218a6– 30, 219b10–220a24, 222a10–b16, 223a4–15.

6.12.1 Die Lagezeit 217b29–218a6: Dieser Text wurde schon unter 4.1 besprochen. Es handelt sich um das aus dem Missverständnis der Zeit als extensive Größe entspringende Problem, ihr das Sein absprechen zu müssen, da sie aus nichtseienden Teilen bestehe. Aristoteles scheint dieses Problem vergessen zu haben, indem er sich der bloßen Lagezeit zuwendet. Er löst es aber im Zuge der Nunabhandlung, und zwar in dem Textstück 222a10–b16, auf seine Weise, aber so versteckt durch Zwischenbemerkungen, dass man die entscheidenden Passagen erst zusammenstellen muss. 218a30–219b16: Ich zerlege diesen Text in kleinere Abschnit301 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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te, die sich zum Teil kurz abtun lassen. 218a30–b18: Die Zeit ist weder der Umlauf des Himmels noch gar der Himmel selbst. 218b19 f.: Jede Veränderung wird »im gegenwärtigen Zusammenhang« als Bewegung angesehen, so noch 223a13–15. Zwischendurch scheint die Bewegung, auf die die Zeit bezogen wird, auf Ortsbewegung beschränkt zu werden. 218b21–219a1: Zeit gibt es nicht ohne Veränderung. Aristoteles führt zwei Gründe an: 1. Schläfer merken nichts von Zeit und nichts von Veränderung. Das beweist nichts. Es müsste gezeigt werden, dass kein Zustand vorkommt, in dem etwas von Zeit, aber nichts von Veränderung bemerkt wird. Solche Zustände kommen aber vor: gedankenloses Dahindämmern, verweilende Gegenwart in unzerrissener Dauer (2.1.4), heftige gleichmäßige Erregung mit angespannter Aufmerksamkeit (3.1). Nur in der Mittellage zwischen diesen Extremen bedarf das Zeitbewusstsein der Veränderung. 2. Wenn die Seele in einem unveränderlichen Zustand beharrt, merkt man nichts von Zeit. Auch das wird durch die Gegenbeispiele entkräftet. 219a1–10: Die Zeit ist weder Bewegung noch ohne Bewegung; als solche genügt schon Bewegung in der Seele (Träume?). Sie ist also etwas an der Bewegung. 210a10–14: Aristoteles scheint vergessen zu haben, dass er eben noch Veränderung und bloße Seelenbewegung der Bewegung zugerechnet hatte, und versteht diese jetzt bloß als Bewegung auf einer Bahn im Raum. In der Struktur entspricht der Bahn die Bewegung und dieser die Zeit; alle sind extensive und stetige Größen. 219a14–b2: Ein weiteres gemeinsames Strukturmerkmal dieser Größen ist die lineare Anordnung des Früheren und Späteren, die sich von der Bahn auf die Bewegung und von dieser auf die Zeit überträgt. Wir nehmen Notiz von der Zeit und sprechen von ihrem Geschehensein, wenn wir an der Bewegung frühere und spätere Stadien als Grenzmarken wahrnehmen, und zwischen diesen etwas anderes. Wenn die Seele zwei Nune als solche Marken, als früher und später, anspricht, sagen wir, das sei Zeit: Das vom Nun Begrenzte soll als Zeit zu Grunde gelegt werden. Ohne diese Struktur – frühere und spätere Markierun302 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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gen und Bewegung zwischen ihnen – scheint keine Zeit zu sein, weil keine Bewegung. Zeit ist also Zahl der Bewegung nach dem Früheren und Späteren. Des Aristoteles Enkelschüler Straton hat an dieser Definition ausgesetzt, dass nach Aristoteles die Zeit stetig, die Zahl aber diskret sei. 289 Das ist ungerecht. Gemeint ist offenbar ein durch diskrete Zahlen linear geordnetes Kontinuum von Bewegungen, entsprechend einem so gegliederten Lineal als Kontinuum von Strecken. Auch der zusätzliche Einwand Stratons gegen diese Auffassung der Definition geht fehl. Straton meint, sie sei zu allgemein. Auch die Strecke im Raum sei ein so gegliedertes Kontinuum, und erst recht die Zeit, so dass es auch eine Zeit der Zeit geben müsse. Aber Aristoteles meint offenbar, die Zeit sei gerade nur dasjenige nach Zahlen diskret gegliederte Kontinuum, das an der Bewegung und nur an ihr abgelesen werden kann. Deswegen trifft auch der Einwand von Hans Wagner nicht, die entsprechend gegliederte Bahn der Bewegung sei ebenso eine Zahl der Bewegung nach dem Früheren und Späteren 290 . Die zeitliche Gliederung kann man nur an der Bewegung ablesen, indem man Marken in sie einspricht, die räumliche Gliederung aber auch ohne Bewegung, z. B. mittels eines an die Stecke angelegten Lineals. 219b2–5: Als Indiz für das Zutreffen seiner Definition auf die Zeit gibt Aristoteles an: Wir beurteilen das Mehr und Weniger der Bewegung nach der verbrauchten Zeit, allgemein aber das Mehr und Weniger nach der Zahl; also ist die Zeit Zahl. Dann wäre aber dicht gezählte Bewegung in kurzer Zeit mehr Bewegung als lang dauernde Bewegung mit nur spärlich in sie gesetzten Zählmarkierungen. Hier zeigt sich, dass Aristoteles die LeisStraton von Lampsakos, hg. v. Franz Wehrli (Die Schule des Aristoteles, Heft 5), Basel 1950, fr. 75 nach: Simplikios Physikkommentar ed. Diels (Commentaria in Aristotelem Graeca IX), p. 788, 36 ff. (aus dem Corollarium de tempore) 290 Hans Wagner, Aristoteles: Physikvorlesung, übersetzt (und kommentiert) von H. W., Darmstadt 1967, S. 573 289

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tung seiner Definition überschätzt, indem er ihr auch eine Metrisierung zutraut. Lineare Anordnung gezählter Stadien ist eine topologische Eigenschaft, die beliebige Abstände zulässt, also über die Metrik gar nichts vorwegnimmt. Die Zeit, die Aristoteles eingeführt hat, ist erst eine prämetrische Lagezeit wie die Zeit von Leibniz, die Ordnung des Sukzessiven. 219a5–9: Die Zeit als Zahl ist nicht die reine Zahl, womit wir zählen. Aristoteles denkt offenbar an die reine Zahl aus abgeschliffenen Einsen, die sich völlig gleichen, weil sie weiter nichts sind als Konkretisierungen der Eigenschaft, eines zu sein, die Zahl nach Euklid 242 und Cantor 245; sie kommt schon bei Platon 291 vor, und Aristoteles scheint an sie zu denken, wenn er schreibt: »Die Zahl ist eine Menge Unteilbarer.« 292 Nicht eine solche Zahl ist die als Zeit gemeinte Zahl, sondern sie ist eine gezählte Zahl, die Zahl als Menge der Bewegungsphasen, der sie zukommt. 220a24–222a9: Auch dieses Textstück zerlege ich in kleinere Abschnitte. 220a24–b5: Als Kontinuum diskreter Stücke kann eine Zeit wie eine Stecke nur eine bestimmte Zahl solcher Stücke (mindestens 2) enthalten, als stetige Größe dagegen beliebig viele Stücke in beliebig kleiner Größe. Viel und wenig, groß und klein kann die Zeit sein, aber nicht schnell und langsam. Der wahre Grund dafür – Aristoteles nennt einen hier unpassenden, dass nämlich die reine Zahl, die die Zeit ja gerade nicht sein soll, auch nicht schnell oder langsam sei – besteht für die Zeit, wie Aristoteles sie definiert hat, darin, dass ihr die Metrik fehlt. 220b5–14: Die Zeit ist überall zugleich, d. h., es gibt nicht zwei Zeiten, die neben einander herlaufen. Das ergibt sich aber keineswegs aus dem Gesagten. Da bisher noch keine besondere Bewegung als die, deren Zahl der Zeit ist, ausgezeichnet wurde, kommen alle Bewegungen – wenigstens alle Ortsbewegungen – in Betracht, schnelle und langsame, gleichmäßige und beschleu291 292

Staat 526a Metaphysik 1085b22

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nigte oder verlangsamte. Jede von ihnen empfängt eine eigene Zahl. Dagegen zieht sich Aristoteles, obwohl er eben noch (220b8 f.) eingeschärft hat, dass die reine Zahl nicht in Betracht komme, auf diese zurück (220b10–12): Die Zahl sei dieselbe bei 10 Menschen und 10 Pferden. Die Zeit kann als extensive Größe durch Ansetzen von Stücken verlängert werden. 220b15–32: Aristoteles beruft sich auf die Analogie StreckeBewegung-Zeit als extensiver Größen, um eine wechselseitige Messbarkeit von Zeit und Bewegung durch einander behaupten zu können, also die prämetrische Lagezeit zur metrischen auszubauen. Er verwendet dafür folgenden Vergleich: Die in der Zeit abgegrenzten Bewegungsstücke sind wie die Pferde einer Herde; insofern misst die Zeit die Bewegung (als Zahl der Stücke) und die Bewegung die Zeit (durch entsprechende Vervielfältigung eines Stücks). Der Fehler des Vergleichs liegt in der Voraussetzung, dass für die Zeit schon ein Längenmaß verfügbar ist. Was gemessen werden soll, ist die Länge der Zeit; darüber sagt die Zahl der Bewegungsstücke nichts aus, denn die können beliebig lang oder kurz, gleich oder ungleich sein. Zur Einführung eines Standards wäre eine Abstandsfunktion nötig. Die Metrisierung der prämetrischen Lagezeit ist missglückt. 220b32–221a30: Unter der falschen Voraussetzung, gezeigt zu haben, dass die Zeit nicht nur Zahl, sondern auch Maß der Bewegung ist, führt Aristoteles den Begriff ein: in der Zeit sein. In der Zeit ist, was – wie die Bewegung und deren Stücke – nebst seinem Sein von der Zeit gemessen wird, aber auch das Zubehör der Zeit als Zahl, z. B. die zum Zählen benützten Nune (Zeitpunkte). Davon muss man unterscheiden, was nicht in der Zeit ist, aber dann ist, wenn die Zeit ist (Suarez würde sagen: was mit einer Zeit koexistiert), namentlich das Unverderbliche, das immer ist (221b3–7). Weil alles Zeitliche in der Zeit als Zahl ist, wird es von der Zeit als Zahl umfasst und übertroffen, weil es zu jeder Zahl eine größere gibt. Das dürfte ein Fehlschluss durch Verwechslung der reinen Zahl mit der gezählten oder angewandten, die die Zeit sein soll, sein. 305 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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221a30–b7: Die Zeit ist Ursache des Abbaus (Verderbens) eher als Ursache des Aufbaus, z. B. eher des Vergessens und Alterns als des Lernens oder Jung-und-schön-werdens, weil sie die Zahl der Bewegung ist und diese das Bestehende aussetzt (wie man ein Kind aussetzt, im Sinne der Entlassung aus der Geborgenheit im Sein 293 ). Man kann sich das mit der Potenzlehre des Aristoteles so zurechtlegen, dass die Bewegung nach seiner Lehre die Verwirklichung des Potentiellen – nicht im Sinne des bloß Möglichen, sondern im Sinn des chaotisch Mannigfaltigen, das ungeformt, gestaltlos, aber bereit für Gestaltungen ist – in seiner Potentialität ist, 294 das Potentielle aber das eigentlich nicht Seiende, 295 seine Verwirklichung als Bewegung also Erscheinung des Nichtseins, die den Bestand im Sein anficht. Obendrein kann hier wie an der verwandten Stelle 222b19–25 die akademische Zweiprinzipienlehre nachwirken.296 Das Immerseiende, das nicht in der Zeit ist, obwohl dann, wenn die Zeit ist (s. o.), leidet nicht an der Zeit, die es nicht vermöge der Bewegung, deren Zahl sie ist, »ankratzen« kann (obwohl auch dieses Immerseiende im Fall der Himmelskörper unermüdlich in Bewegung ist, 297 so dass man eigentlich fürchten müsste, diese werde auch ihm etwas antun). 221b7–23: Die Zeit als Zahl der Bewegung misst auch die Ruhe dessen, was seiner Natur nach der Bewegung fähig ist. Aristoteles ist sich immer noch nicht klar, dass er seiner als prämetrische Lagezeit eingeführten Zeit noch keine Metrik verliehen hat, die der Rede, dass eine Zeit so und so lang ist, Sinn geben könnte.

so auch Aristoteles De anima 406b12–14 Physik 201a10 f.; zum Verständnis dieser Definition der Bewegung: Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles Band 2: Platon und Aristoteles, Bonn 1985, S. 501–506 295 Metaphysik 1007a25–29 und 1047b1 f. 296 Vgl. Schmitz, wie Anmerkung 294, S. 456 f. 297 Metaphysik 1050b22–28 293 294

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221b23–222a9: Nicht alles Nichtseiende ist in der Zeit, nämlich nicht das, dessen Gegenteil immer ist, wohl aber das Nichtseiende, das war und/oder sein wird; auch dieses wird von der Zeit umfasst. 222b16–223a4: Dieses Textstück zerlege ich in zwei Teile. 222b16–27: Wiederaufnahme des Gedankens von 221a30–b7, dass die Zeit mehr Ursache des Verderbens als des Aufbaus sei, nun ausgedehnt auf jegliche Veränderung. Aristoteles äußert sich zwiespältig zu diesem Gedanken. Einerseits führt er die verderbliche Macht der Zeit nicht mehr auf die Bewegung zurück, denn er erweist sie dadurch, dass etwas mit der Zeit auch ohne Bewegung verderbe. Andererseits behauptet er, nicht die Zeit sei schuld, sondern es treffe sich nur so, dass die verderbliche Veränderung in der Zeit stattfinde. Wenn weder die Zeit noch die Bewegung beschuldigt werden darf, muss sich der erstaunte Leser fragen: Was ist denn nun die Ursache des Verderbens? 222b30–223a4: Aristoteles, der 222a3 die Bewegung, deren Zahl die Zeit ist, auf die Ortsbewegung eingeschränkt hatte, lässt nun jede Bewegung in der Zeit sein, d. h. von der Zeit gemessen werden. Das braucht kein Widerspruch zu sein; die Zahl der Ortsbewegung kann andere Veränderungen ebenso messen, wie sie die Ruhe misst. Zum Beweis führt er an: Jede Veränderung kann schneller und langsamer stattfinden; schneller sei, was über denselben räumlichen Abstand in gleichförmiger Bewegung zeitlich früher ans Ziel kommt. Diese Definition ist zirkelhaft, denn gleichförmig ist eine Bewegung, die weder schneller noch langsamer wird. Um den Zirkel zu vermeiden, musste Aristoteles wie Suarez die Schnelligkeit durch ein intensives Merkmal (Verdichtung und Pressung der Teile der Bewegung, 6.9) bestimmen. 223a16–224a17: Dieses Textstück zerlege ich in vier Teile. 223a16–29: Hier geht es, nach kurzer Wiederholung des Gedankens von 221b7–23 (223a17–21), um das Verhältnis von Zeit und Seele. Aristoteles lehrt: Ohne Zählendes gäbe es nichts Zählbares und daher auch keine Zahl; da nun nichts zählen kann 307 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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als die Seele, und zwar 298 der Geist der Seele, ist es unmöglich, dass es Zeit ohne Seele gibt, während Bewegung ohne Seele sein könnte. Die Begründung, dass es ohne Zählendes nichts Zählbares geben kann, leuchtet nicht ein, denn selbstverständlich kann etwas, das zu etwas geeignet ist, schon vorliegen, wenn auch noch niemand da ist, der sich dieser Eignung bedienen könnte. Vielmehr muss es am Besonderen der Bewegung und der Zahl liegen, dass schon die bloße Zählbarkeit auf einen Zählenden wartet. Auf das Verständnis dürfte die Stelle 221a17 f. leiten: Was in der Zeit als einer Zahl ist, wird von der Zeit ebenso umgriffen wie das, was an einem Ort ist, vom Ort umgriffen wird. Näheren Aufschluss über dieses Umgreifen liefert die Stelle 209b1–11: Der Ort umgreift als Grenze, die Idee (Eidos) und Form (Morphé) ist, die Größe (Ausdehnung) und den Stoff (Hyle). So gesehen, ist er Idee, als Ausdehnung der Größe aber ist er Stoff und weniger als die Größe selbst, die bereits von der Idee als ihrer Grenze (der Figur) umgriffen und begrenzt ist; die nackte Ausdehnung ist dagegen der Stoff als das Indefinite. Dies nun angewandt auf Zeit und Bewegung, ergibt sich: Der Geist der Seele gibt dem bloßen Stoff, der die ausgedehnte Bewegung im Rohzustand, d. h. ohne lineare Ordnung durch die Zahl, wäre, die Idee und Form in Gestalt der Zahl. Der Geist wirkt hier als Diskretionsprinzip, wie nach De anima 407a6–10. 299 223a29–b12: Aristoteles kehrt ausführlich und unzweideutig zu dem anfangs angenommenen Standpunkt zurück, jede Veränderung als Bewegung, deren Zahl die Zeit ist, anzuerkennen; die Einschränkung auf Ortsbewegung spielt keine Rolle mehr. Damit wird das Problem brisant, wie die Einheit und Einzigkeit der Zeit in der Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Bewegun-

298 Das kaffl 223a35 ist explikativ (s. Schmitz, wie Anmerkung 294, S. 459 Anmerkung 657), also mit »und zwar«, statt nur mit »und« zu übersetzen. 299 Vgl. Schmitz, wie Anmerkung 294, S. 459–464: Der Geist als Diskretionsprinzip

308 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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gen zu retten ist. Diesem Problem ist Aristoteles so wenig gewachsen wie vorher. Teils dekretiert er die Invarianz der Zeit von Bewegung zu Bewegung, teils beruft er sich auf die reine oder abstrakte Zahl, die dieselbe in ihren vielfältigen Anwendungen auf Mengen aller Art sei, aber nicht diese, sondern die angewandte Zahl soll doch Zeit sein. Eine zusätzliche Schwierigkeit entsteht aus der gerade erst konstatierten Abhängigkeit der Zahl von der Seele. Dass die Zahl in die Bewegung kommt, ist demnach ein Werk der Seele, die die reinen Zahlen auf die Bewegungen anwendet. Dazu hat sie unzählige Möglichkeiten, so oder so zu zählen, das Tempo zu variieren. Je nach dem, wie die Seele (welche?) zählt, müsste sich eine andere Zeit ergeben. 223b12–224a2: Aus diesem Dilemma befreit sich Aristoteles durch einen Gewaltstreich, indem er die lange versäumte Metrisierung der Lagezeit durch Projektion auf die Bahn der gleichförmigen periodischen Bewegung einer Normaluhr nachholt: auf die Bahn der Drehung des Fixsternhimmels, die wir uns als Projektion der Drehung der Erde um ihre Achse zurechtlegen. Diese Metrisierung ist noch modern; bis vor Kurzem beobachtete man den Sterndurchgang durch den Himmelsmeridian, um die genaue Zeit zu ermitteln. Aristoteles hat so zwar nicht eine einzige Zeit, aber eine einzige Bewegung, die als Taktgeber für die Zählung des Früheren und Späteren auf alle Bewegungen und Veränderungen angewendet werden kann, vorausgesetzt nur, dass es gelingt, die Seele so zu dressieren, dass diese in gleichmäßigen Abständen, je nach dem Stand der Normaluhr, zählt. Freilich ist die Versuchung groß, aus der Einheitsuhr nun Einheitszeit zu machen. Aristoteles verfällt ihr mit einem kaum merklichen Rest von Zurückhaltung, indem er sich so ausdrückt, die Zeit selbst scheine ein Kreis zu sein, da sie Maß der kreisenden Himmelsbewegung sei und von dieser gemessen wurde. Vielleicht war dies ein Grund für den Protest Stratons gegen seine Definition der Zeit als Lagezeit. Die an den Himmel entrückte Zeit ist noch weniger eine Zeit, die den Menschen nahegeht, als die zuvor beschriebene aristotelische Zeit. Straton dreh309 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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te die Sicht auf die Zeit in die umgekehrte Richtung, indem er sie als das Quantum in den menschlichen Geschäften bestimmte. 300 224a2–17: Als sei er von schlechtem Gewissen wegen der Unifizierung der Zeit durch Reduktion auf die zyklische Himmelsuhr getrieben, kommt Aristoteles auf die schon zweimal missglückte Lösung des Problems der Zeiteinheit mit Hilfe der Invarianz der reinen Zahl bei Anwendung auf viele verschiedene Mengen als gezählte Zahlen zurück, aber nur wegen einer etwas spitzfindigen Sprachregelung: Unterschiede sollen als Unterscheidungen auf der nächsthöheren Allgemeinheitsstufe bestimmt werden, so dass etwa Kreis und Dreieck unterschiedliche Figuren sind. Dreiecke verschiedener Formen unterschiedlicher Dreiecke. Das ist trivial und hat mit Zeit nichts zu tun.

6.12.2 Das Nun 218a6–8: Das Nun ist kein Teil der Zeit, denn das Ganze ist aus seinen Teilen zusammengesetzt, die Zeit aber nicht aus den Nunen. 218a8–30 Aporetik des Nun, bezüglich auf die Alternative, ob (1) das Nun immer das Selbe ist oder (2) in immer wieder andere Nune zerfällt. Gegen (2) spricht: Dann müsste ein voriges Nun in einem anderen Nun als dem, in dem es zuletzt existierte, zuerst vergangen sein. Dieses andere Nun könnte aber nicht als nächstes folgen, denn die Nune grenzen in der Zeit so wenig an einander wie die Punkte im Raum. Zwischen beiden Nunen müssten also unendlich viele weitere Nune liegen, in denen das vorige Nun nicht mehr existiert und noch nicht vergangen wäre; das ist unmöglich. Dieses Argument ist brüchig. Die Vorstellung von einem Nun, das in einem Nun existiert und in einem anderen Nun zuerst vergangen ist, muss Anstoß erwie Anmerkung 289, Fragment 76, nach Simplikios Physikkommentar, p. 789, 33 ff. (Diels)

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regen. Aristoteles könnte sich leicht aus der Schlinge ziehen, wenn er seine Lehre aus dem 8. Buch der Metaphysik, 1044b21 f., beherzigte: Einiges ist und ist nicht ohne Werden und Vergehen, z. B. die Punkte; diesen Nunen vergleicht er die Punkte auch hier, 218a19. Dann erübrigte sich die Frage, wann ein Nun vergangen ist. Auch dass es irgendwann zuerst vergangen sein müsste, ist eine Vorgabe, die er nicht nötig hätte; in anderem Zusammenhang, in seiner Topologie der Bewegungsphasen im 6. Buch der Physik, verwendet er (der Sache nach) schon den Begriff der geordneten Menge ohne erstes Element (237a7–27). Diese Beobachtungen könnten eine frühe Entstehung der aporetischen Fragestellung nahelegen. Gegen (1) führt Aristoteles zwei Gründe an: Jedes (allseits) Begrenzte hat mindestens zwei Grenzen, und das Nun ist Grenze begrenzter Zeitstücke. Alles, was in demselben Nun ist, ist zugleich; wenn es nur ein einziges Nun gäbe, wäre also alles zugleich. 219b10–33: Hier löst Aristoteles die Aporie auf, indem er die Sache, die jeweils etwas ist, von ihrem Sein unterscheidet, nämlich von der Rolle oder Funktion, die sie in einem gewissen Zusammenhang annimmt. Den Sinn dieser Gegenüberstellung kann man an den Parallelstellen 319b3 f. (aus De generatione et corruptione) und 649a14 f. b20–27 (aus De partibus animalium) ablesen. An der ersten Stelle handelt es sich darum, dass derselbe Urstoff die Unterlage aller vier Elemente ist und sich von einem in das andere verwandelt, indem er nur ein anderes Sein annimmt. An der zweiten Stelle ist vom Blut die Rede, das als Stoff nicht warm ist, als Blut aber dieser Stoff im Stande des Warmseins. In den Begriff (Logos) des Blutes geht die Wärme als Affektion (Pathos) eines Stoffes so ein wie in den Begriff des kochenden Wassers, obwohl das Wasser an sich nicht warm ist. Was die Sache jeweils ist, ist also die Unterlage (649a15), die gewisse Rollen oder Zustände als ihr jeweiliges Sein annimmt. Ebenso ist das Nun der Sache nach immer das Selbe, nimmt aber verschiedene Rollen (verschiedenes Sein) als Früheres und Späteres an. Aristoteles vergleicht es dem Bewegten, das bei der 311 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Bewegung verschiedene Stellen im Raum einnimmt und dann als etwas anderes imponiert, gleichsam in andere Rollen schlüpft, so wie die Sophisten den Koriskos im Lyzeum als eine andere Sache als denselben Koriskos auf dem Markt ausgeben (219b20 f.). Das ist aber nur ein Unterschied der Rede oder Begriffsbestimmung (dem Logos) nach, ebenso wie nach De partibus animalium im Fall des Blutes, das nur als Blut, nicht als der Stoff, der gerade Blut ist (die Blutrolle spielt), wesentlich warm ist. Aristoteles vergleicht das Nun, indem es durch die Zeit an frühere und spätere Stellen wandert, dem bewegten Körper, der das gleiche Schicksal hat. Beide sind in gleicher Weise das Selbe und nicht das Selbe, ja nach dem, ob man ihnen die Stelle ihres jeweiligen Aufenthaltes zurechnet oder nicht. Sie sind auch das Bekannteste in der Bewegung bzw. der Zeit: Den Stand der Ortsbewegung lesen wir daran ab, wie weit der bewegte Körper gekommen ist, und den Stand der Zeit daran, was nun ist. 219b33–220a24: Dieser Abschnitt – wohl der verwickeltste der ganzen Zeitabhandlung, zudem fragwürdig überliefert – ist dem Verhältnis des Nun zur Zeit als der Zahl der Bewegung gewidmet, und zwar 219b33–220a14 dem Verhältnis zur Bewegung, 220a14–24 dem Verhältnis zur Zahl. Im ersten Teil (219b39–220a14) spezialisiert Aristoteles die Bewegung auf die Ortsbewegung, um das Nun dem auf diese Art bewegten Körper vergleichen zu können: Wie der Körper zu seiner Bewegung verhält sich das Nun zur Zeit, indem es ihr durch seine Beständigkeit Kontinuität verleiht und durch den Wechsel seiner Stellung Gliederung und Einteilung verschafft. Als weiteres Analogon zieht Aristoteles das Verhältnis der Eins (Monas) zur Zahl hinzu; er sagt 220a3 f.: »Zeit ist nämlich die Zahl der Ortsbewegung, das Nun aber ist wie das Bewegte, wie die Monas der Zahl.« Hier tritt die Vorstellung auf, dass die Monas sich durch die Zahl bewegt wie der Körper durch die Bahn seiner Bewegung, das Nun durch die Zeit, die sie mit dieser Bewegung erzeugen. Wie kommt Aristoteles an diesen Ver312 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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gleich mit Anwendung auf Eins und Zahl? Das Wahrscheinlichste scheint mir, dass er sich auf den Standpunkt Speusipps stellt, der die Zahl als Ergebnis einer Anwendung des Einen (spezialisiert zur Monas, der arithmetischen Eins) auf die Menge als zweites Prinzip konstruierte. 301 Der dreistelligen Beziehung Nun-Bewegung-Zahl stellt Aristoteles die speusippische Beziehung Monas-Menge-Zahl an die Seite: Die Eins durchläuft die Menge wie das Nun die Bewegung mit der Zahl als Ergebnis. Dass Aristoteles einen Gedanken des ihm nicht gerade sympathischen Speusipp so unbefangen zum Vergleich heranzieht, darf nicht Wunder nehmen angesichts der viel entschiedener aneignenden Benützung von dessen Prinzipienlehre über das Eine und die Menge im 2. Kapitel des 4. Buches der Metaphysik. 302 In der Passage 220a9–14 bespricht Aristoteles das Verhältnis des Nun zum Punkt, bezüglich auf die Strukturgleichheit von Strecke, Bewegung und Zeit. Punkt und Nun haben die stetig verbindende und andererseits gliedernde Doppelleistung für Strecke bzw. Zeit gemein. Während aber derselbe Punkt stehen bleibt, indem er als Ende der vorigen Teilstrecke und Anfang der folgenden beide Teilstrecken zur ganzen Strecke verbindet und diese zugleich gliedert, wird das Nun, indem es die Zeit verbindet und gliedert, an immer andere Stellen weitergetragen. Im zweiten Teil (220a14–24) folgert Aristoteles aus diesem Vergleich zwischen Punkt und Nun einen Unterschied, um dann wieder die Analogie zu betonen. Der Unterschied (222a14–18): Der Punkt bleibt als Ende des vorigen Linienabschnitts und Anfang des folgenden an der Stelle, nur seine Funktion ist doppelt; das Nun wird wegen der Bewegung des bewegten Gegenstandes immer anders. Es wird gleichsam gespreizt, als ob ein und derZur Begründung vgl. die Anmerkung von Ross (Aristotle’s Metaphysics. A revised text with introduction and commentary by W. D. Ross, Oxford at the Clarendon Press, first published 1924) Band 2 S. 455, Punkt (2) der Anmerkung zu 1085a9 302 Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles Band I Teil 2: Ontologie Noologie Theologie, Bonn 1985, S. 143–147: Speusippisches in G2 301

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selbe Punkt zwei Randstellungen (¥kcata) einnehme, 303 und so wird durch Spreizung des Nun in verschiedene Stellungen die Zeit zur Zahl. Die Zeit ist daher nicht wie die Teile einer Linie, die von einem ruhenden Mittelpunkt zugleich getrennt und vereinigt werden (sondern das Resultat der Spreizung eines bewegten Punktes in verschiedene Positionen). Die Analogie (222a18– 24): Das Nun ist so wenig Teil der Zeit wie der Einschnitt Teil der Bewegung, der Punkt Teil der Linie, deren beide Teilstücke er zu einer einzigen Linie verbindet. Grenze der Zeit zu sein, ist eine Rolle, die dem Nun, dessen Wesen Bewegung ist, nur beiläufig zufällt, aber sofern jemand zählt, fällt dieser Grenze die Rolle zu, Zahl zu sein. 304 Als Zahl, z. B. Zehnzahl, kann dieses zur Zahl gewordene bewegte Nun auch andererseits (in der Zeit) vorgefunden werden. 220a10–b16: In diesem Abschnitt löst Aristoteles auf seine Weise das erste Problem der Zeitabhandlung (4.1), d. h., er befreit mit der Dynamik des Nun die Zeit vom Verdacht des Nichtseins wegen ihrer Zerlegbarkeit in zwei nichtseiende Stücke, Vergangenheit und Zukunft. Die Lösung wird aber dadurch versteckt, dass der Zusammenhang des einschlägigen Textes durch Nebenbemerkungen zerrissen und gefolgt wird. Er muss aus den Ich halte für möglich, an der schwierigen Stelle 220a16 das überlieferte »a't»@« zu halten, und habe entsprechend paraphrasiert. Man kann auch die wohlfeile Konjektur »g@mm»@« statt »a't»@« lesen, darf dann aber nicht in den banalen Irrtum verfallen, Aristoteles wolle nur sagen, die Zeit sei nicht ständiges Wiederholen eines einzigen Zeitpunktes, sondern eine Serie von Zeitpunkten auf einer Linie. Das wird durch den folgenden Satz (Z. 16– 18) ausgeschlossen, denn nach der banalen Deutung wäre die Zeit ja ihre Teile mit einem ruhenden Punkt in Doppelrolle in der Mitte. 304 Den Satz 220a21 f., den ich so paraphrasiere, setzt Ross zwischen Kreuze der Verzweiflung (des Verständniswillens), und Hans Wagner (wie Anmerkung 290, S. 576) schreibt: »Niemand scheint zu wissen, was die beiden Sätze genau besagen sollen.« Ich verstehe Aristoteles so, dass die dem Punkt und dem Nun gemeinsame Grenzleistung dem Punkt, der auf der Stelle bleibt, wesentlich ist, dem Nun in seiner Bewegung ohne Aufenthalt aber nur beiläufig zufällt, weil jemand hinzukommt, der zählt und so aus der beiläufigen Grenze die Zeit als Zahl macht. 303

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Stücken 22a10–20 und 222a33–b7, die nahtlos an einander passen, wiederhergestellt werden. Daher übersetze ich diese beiden Stücke, als ob ihr Zusammenhang im Text nicht unterbrochen wäre: »Das Nun ist Zusammenhang der Zeit, wie gesagt wurde; es hält nämlich die vergangene und zukünftige Zeit zusammen und ist Grenze der Zeit; es ist nämlich Anfang der einen und Ende der anderen. Aber das ist nicht so offenbar wie bei dem beharrenden Punkt. Es teilt aber potentiell. Und in dieser Funktion ist das Nun immer ein anderes, sofern es aber zusammenhält, immer dasselbe, wie bei den mathematischen Linien. Nicht nämlich ist für die gedankliche Auffassung immer derselbe Punkt da; wenn man zerlegt, ist es ein anderer und wieder anderer; insofern die Linie aber eine ist, ist der Punkt überall derselbe. So ist auch das Nun der Potenz nach Zerlegung der Zeit, andererseits aber Grenze für beide (Seiten) und Einheit. Es ist aber das Selbe und in Bezug auf das Selbe die Zerlegung und die Vereinigung, das Sein aber ist nicht dasselbe. 305 Da aber das Nun Ende und Anfang der Zeit ist, aber nicht derselben, sondern Ende der vergangenen und Anfang der zukünftigen Zeit, verhält sich so, wie der Kreis in derselben (Figur) die konvexe und die konkave (Seite) hat, auch die Zeit: immer im Anfang und im Ende. Und deswegen scheint sie immer verschieden; nicht nämlich ist das Nun Anfang und Ende des Selben; somit wäre es ja zugleich und in derselben Beziehung Entgegengesetztes. Und somit wird sie nicht aufhören; immer nämlich ist sie im Anfang.« Ich kommentiere nun die beiden Textstücke nach einander. 222a10–20: Aristoteles knüpft an das im vorigen Stück der Nunabhandlung 291b33–220a24 Gesagte an. Das Nun hält die jeweils vergangene und zukünftige Zeit als Grenze zwischen ihnen, Ende der einen und Anfang der anderen, zusammen, aber anders als der Punkt, der die entsprechende Funktion in der Li305

Hier beginnt das zweite Textstück.

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nie zwischen zwei Halbgeraden hat; bei diesem ist die Doppelfunktion der Grenze ersichtlich, weil diese ebenso feststeht wie die Teile, die sie abgrenzt, während das Nun als Grenze beständig »verrutscht« und nur potentiell die Zeit zerlegt, indem es durch seine verschiedenen Stellungen Gelegenheit zur Einteilung gibt. Insofern ist es immer ein anderes, als die Vergangenheit und Zukunft verbindend aber immer dasselbe. Diese Selbigkeit vergleicht Aristoteles 222a15–17 der bei den mathematischen Linien. Es empfiehlt sich, zum Verständnis des Vergleichs aus der Metaphysik die Stelle 1085a31–35 heranzuziehen: Gewisse Akademiker (wohl Speusipp) erzeugen die Linie aus dem Punkt als so etwas wie dem Einen und einem Stoff, der so etwas wie die Menge ist, aber nicht eigentlich die Menge. In dieser Sicht macht der Punkt die Quasi-Menge zur Linie, indem er Gelegenheit zu einer echten Menge von Teilungen gibt, während er selbst als Erzeugender der Linie immer derselbe bleibt. Ebenso ist das fortlaufende Nun potentiell Zerlegung der Zeit mit Gelegenheit zum Zählen, als Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft zugleich aber deren Vereinigung. 222a33–b7: Als Ende der vergangenen und Anfang der zukünftigen Zeit ist das Nun ein Umschlag oder Umschwung: Es hat Ende und Anfang in sich wie der Kreis das Konvexe und Konkave und scheint daher immer wieder ein anderes zu sein, weil der alte Teil der Zeit mit ihm endet und ein neuer beginnt, an dessen abermaligem Ende wieder das dynamisch schwingende Nun steht, dasselbe in einer anderen Position. Dieser Umschwung vom Enden zum Anfangen wird nie aufhören, da er das Nun selbst ist, und mit ihm nicht die Zeit: Immer ist sie im Schwung zum Neuen, immer beim Anfangen. Mit Hilfe des Nun hat Aristoteles sich aus der Fixierung auf die Zeit als extensive Größe gelöst und die Problemstellung von 217b29–218a6 (4.1) hinter sich gelassen. Die Zeit kann nicht mehr in einen Teil Vergangenheit und einen Teil Zukunft zerlegt werden, weil die Drehung von der Vergangenheit zur Zukunft im Nun jede Zerlegung überholt. Aber freilich stürzt sich Aristoteles mit der 316 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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Reise des Nun, die die Zeit erzeugt wie der fließende Punkt nach Speusipp die Linie, in den Rachen einer anderen Aporie, auf die er nicht gefasst ist: der des Ankommens der Gegenwart bei sich selbst (4.4). Dieser zentrale Gedankengang der Zeitabhandlung ist zwischen den Nebenbemerkungen 222a20–33 und 223b7–16 mehr oder weniger versteckt. Aristoteles gibt in diesen weitläufig lexikalische Erklärungen über den Sinn von Zeitadverbien. Dabei bietet er 222a29–33 eine Erwägung über die Unaufhörlichkeit der Zeit an, die gar nicht in die Nunabhandlung, sondern in die Lagezeitabhandlung passt: Die Zeit wird nicht aufhören, sofern die Bewegung nicht aufhört, und immer dieselbe Zeit sein, sofern dieselbe Bewegung immer fortwährt. Diese Erwägung ist hypothetisch; es bleibt offen, ob Bewegung überhaupt und ob dieselbe eine immer sein wird. Unmittelbar darauf kehrt Aristoteles, ohne die Rückkehr zu markieren, zum Nun zurück und verkündet, dass die Zeit in der Tat nicht aufhören wird, nicht der Bewegung halber, sondern auf Grund der Dynamik des Nun. 223a4–15: In diesem Abschnitt führt Aristoteles die beiden Teilabhandlungen der Zeitabhandlung zusammen, indem das, was auf Grund der Definition der Zeit als Lagezeit (Zahl der Bewegung nach dem Früheren und Späteren) gesagt wurde, eine tiefere Begründung aus der Modalzeit vom Nun her erhält. Abermals erschwert Aristoteles die Erfassung des Gedankengangs durch Einschub einer für diesen belanglosen lexikalischen Erläuterung 223a8–13. Um den Zusammenhang hervortreten zu lassen, werde ich abermals den Text ohne den Einschub übersetzen: »Aber freilich ist das Frühere in der Zeit. Früher und später nennen wir etwas nach dem Abstand zum Nun, das Nun aber ist Grenze des Vergangenen und Bevorstehenden. Da also das Nun in der Zeit ist, ist auch das Frühere und Spätere in der Zeit; in welchem nämlich das Nun ist, ist auch der Abstand vom Nun. Da also das Frühere und Spätere in der Zeit ist, jede Bewegung aber das Frühere mit sich bringt, ist klar, dass jede Veränderung und jede Bewegung in der Zeit ist.« In diesem Text 317 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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werden die Begriffe des Früheren und Späteren umdefiniert, und das Verhältnis der Bewegung zur Zeit wird neu gefasst, so dass es keine Schwierigkeit mehr macht, jegliche Veränderung zur Bewegung hinzunehmen. Die Einführung des Früheren und Späteren am Anfang der Zeitabhandlung 219a14–19 nimmt auf den zeitlichen Sinn dieser Begriffe nicht Bezug und berücksichtigt nur die lineare Anordnung als eine Struktur, die primär an der Lage im Raum vorkomme und sich von dort auf die Bewegung und von dieser auf die Zeit übertrage. Die neue Einführung des Früheren und Späteren geht vom Nun aus, zurück in die Vergangenheit als das Frühere und vorwärts in die Zukunft als das Spätere. Vom Früheren und Späteren kann man dann nur noch in Bezug auf eine Gegenwart sprechen. Die Lagezeit ist in der Modalzeit fundiert. Sie bedarf daher nicht mehr der Bewegung, um Zeit zu sein. Bisher wurde sie als Anhängsel der Bewegung vorgeführt, als eine Art Zubereitung, die diese durch die zählende Seele erhält. Jetzt wird umgekehrt die Bewegung dadurch, dass zu ihr das Frühere und Spätere und also ein Bezug auf das Nun (die Gegenwart) gehört, in die Zeit eingelassen. Das bringt den Vorteil, die Auszeichnung der Ortsbewegung fallen lassen zu können. Das präzise Zählen und Messen ist auf extensive Größen und daher letztlich auf den Raum, die Strecke, angewiesen; daher war es sinnvoll, bei der Einführung des Früheren und Späteren, wobei es auf die Zahl ankam, der räumlichen Größe den Vortritt zu lassen. Die Abschätzung des Früheren und Späteren im Verhältnis zur Gegenwart kann aber auch durch Erinnerung und Erwartung gute Ergebnisse an intensiven Größen bringen, z. B. bei Bestimmung von Tonlängen mit Hilfe der Retention. Deshalb erreicht Aristoteles sein Ziel, alle Veränderungen auf gleiche Weise in die Zeit einzubeziehen, am besten mit Hilfe der hier von ihm eingeführten modalzeitlichen Bestimmung des Früheren und Späteren.

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6.13. Platon Aristoteles tastet sich phänomenologisch an die Zeit heran, einerseits mit der lagezeitlichen Erfahrung der an der Bewegung das Frühere und Spätere zählenden Seele, andererseits mit der modalzeitlichen Erfahrung der dynamisch wandernden Gegenwart; es gelingt ihm aber nicht, beide Zugänge zusammenzuführen. Platon greift auf die Zeit von oben zu, indem er ihr in der mythischen Erzählung von der Errichtung des Weltgebäudes nach dem Vorbild des Ideenreiches durch einen göttlichen Handwerker einen schmalen Platz einräumt (Timaios 37c–38b). Der Handwerker baut die Zeit in die Welt ein, um dieses ihm schon gut gelungene Kunstwerk dem idealen Vorbild nach ähnlicher zu machen. Es traf sich nun, dass die Natur dieses Vorbildes aionisch war. Diese Eigenschaft konnte er seinem Produkt nicht eingeben; statt dessen begnügte er sich damit, ein bewegliches, der Zahl nach im Kreise (38a) laufendes Bild des Aion herzustellen: die Zeit (38d). Der Aion ist im gängigen Sprachgebrauch der Zeit das Leben als Lebenszeit im Unterschied von der Psyché, dem Leben als Qualität (Lebendigkeit), und nach Art einer Lebenszeit ist auch der Aion des idealen Vorbildes zu denken, denn es heißt, dass dieses den ganzen Aion über seiend ist, so wie der Himmel die ganze Zeit über geworden und seiend und sein werdend (38c). Von der Lebenszeit der Menschen unterscheidet sich dieser Aion aber dadurch, dass er sich immer unbeweglich in derselben Weise verhält (38a). Aion und Zeit verhalten sich also etwa so zu einander, wie die Seherin Manto in Goethes Faust II ihren Zustand charakterisiert: »Ich harre, mich umkreist die Zeit« (Vers 7479). Im Gegensatz zu Aristoteles, nach dessen Feststellung die Zeit nicht selbst Bewegung, wenn auch etwas an der Bewegung ist, 306 hält Platon die Zeit für eine Bewegung, einen Kreisgang. Es fragt sich, was für eine Bewegung das sein soll. Die mit ihr 306

Physik 218b18, 219a9 f.

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eng verbundene Bewegung der Gestirne kann es nicht sein, die ist ihr nur »zur Unterscheidung und Bewachung der Zahlen der Zeit« (38c) beigegeben. Eher könnte man an die Modalzeit als Bewegung denken, etwa so, wie der Schwung des Nun, das immer im Anfang ist, nach Aristoteles die Zeit nicht aufhören lässt. 307 In die Modalzeit versetzt Platon den Himmel, der die ganze Zeit über immerfort geworden, seiend und sein werdend (künftig) sei. Er unterscheidet also die Zeit selbst von dem modalzeitlichen Geschehen in ihr. Außerdem lässt er die Modalzeit nicht einmal als eine besondere Art, einen Typus von Zeit gelten. Das ergibt sich aus den ihr 37e–38b zugedachten Bemerkungen. Als edh (Plural von edo@, Eidos) der Zeit bezeichnet Platon nicht Vergangenheit und Zukunft, sondern sie vertretende Verbformen (»war«, »wird sein«). Es wäre seltsam, Verbformen, für deren richtige Verwendung Platon sich einsetzt, als Arten der Zeit auszugeben. Das Wort kann hier auch gar nicht »Arten« bedeuten, sondern muss den etymologisch ursprünglichen, vom Sehen abgeleiteten Sinn haben, der Heidegger veranlasste, »Eidos« mit »Aussehen« zu übersetzen, also so etwas wie »Ansicht« oder »Aspekt« meinen. 308 Zwar ist »Eides« bei Platon ein abgeschliffenes Wort mit vielen Verwendungen, unter denen die prominentesten die im Sinn von »Art« oder »Idee« sind, aber die kommen hier nicht in Frage, weil er sagt, dass wir die betreffenden edh der Zeit unbewusst auf das ewige Sein, wo sie nicht hingehörten, übertrügen. Arten oder Ideen kann man nicht übertragen, denn sie haben ihren Umfang, ihr festes Gebiet, wohl aber (durch Blickwechsel) Aspekte oder Ansichten. Alle Verbformen des Futurums und Präteritums – so will Platon sagen – bezeichnen nichts am Gegenstand, weder in der idealen Welt noch in der Zeit, am Himmel oder auf Erden, sondern es sind bloße Ansichten, die auf das Innerzeitige passen, weil das Physik 222b6 f. Diese Übersetzung empfiehlt auch Gernot Böhme, Idee und Kosmos. Platons Zeitlehre, Frankfurt a. M. 1996, S. 113.

307 308

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Platon

ein nicht glaubwürdig Seiendes (m¼ n) ist, nicht aber auf das wahrhaft Seiende, Ideale. In diesem Sinn sagt Platon über das Werden, das einst oder nun Gewordensein und das künftig sein Werden: »Das sind Aspekte der Zeit, die den Aion nachahmt und nach der Zahl im Kreis läuft, und dazu noch die folgenden: dass das Gewordene geworden ist und das Werdende Werdendes ist, ferner dass das künftig Werdende künftig Werdendes ist und das nicht glaubwürdig Seiende nicht glaubwürdig Seiendes ist; nichts von diesen Reden trifft genau zu.« Platon, der den existenzialen und den kopulativen (subsumierenden) Sinn von »ist« nicht unterscheidet, 309 reserviert das Sein in jedem Sinn dem zeitlosen Ideenreich, und mit dem Sein die Gegenwart, die im »ist« gleichfalls gemeint ist; daher fallen unter den finiten Verbformen, die als zulässige Ansichten vom nicht glaubwürdig Seienden gelten gelassen werden, die präsentischen völlig aus. Gegenwart gibt es für Platon nur als ewige Gegenwart, Sein nur als Sein des Ewigen. Gleich darauf hält er sich nicht mehr an diese strikte Einschränkung, denn er sagt dem Himmel nach, dass dieser immerfort, die ganze Zeit über, geworden und seiend und sein werdend sei. Diesen Widerspruch kann ich nicht erklären. Von welcher Art die Kreisbewegung ist, die Platon der Zeit selbst als einem Abbild des Aion zuschreibt, muss demnach offen bleiben. Nur so viel ist klar, dass es an dieser Bewegung, sofern die Zeit sich überlassen bleibt, keine Zahlen gibt, so dass sie dann von der Art ist oder wäre wie die Bewegung, die nach Aristoteles möglich sein könnte, wenn es keine Seele gäbe, die der Bewegung die Zahl in der Ordnung des Früheren und Späteren aufdrückt.310 Damit in die Bewegung der Zeit Zahlen eingetragen werden können, hat der göttliche Handwerker ihr als unzertrennliche Begleiter den Himmel mit Sonne, Mond und den Planeten »zur Unterscheidung und Bewachung der Zahlen Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles Band I Teil 2, Bonn 1985, S. 31–34 310 Physik 223a27 f. 309

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Die Zeit der Philosophie

der Zeit« (38b.c) beigegeben, und dadurch wird die Zeit in abzählbare Teile gegliedert, von denen Platon Tage, Nächte, Monate und Jahre nennt (37e). Er ist also gleich mit einer metrisierten Lagezeit zur Hand, einer Himmelsuhr für die Zeit, zu der Aristoteles erst ganz am Schluss seiner Zeitabhandlung sich entschließt. Merkwürdig bleibt nur, dass Platon in diesem Zusammenhang nicht wie Aristoteles den viel besser als die Planetenbahnen zur Zeitmessung geeigneten Kreislauf des Fixsternhimmels heranzieht, von dem er unmittelbar vorher (36c, 37a) aus Anlass der Erschaffung und Bekörperung der Weltseele durch den göttlichen Handwerker gesprochen hatte. Was eigentlich die Zeit zu einem Bild des Aion der Ideen macht, sagt Platon nicht; weder ihre Eigenbewegung, die unaufgeklärt bleibt, noch die Belegung mit Zahlen kommen als gemeinsames Merkmal in Betracht. Deutlich wird dagegen, dass diese Belegung die Zeit zur extensiven Größe macht. Dieser Umstand zusammen mit dem Ausfall der Gegenwart und der Verweigerung des Seins an Zukunft und Vergangenheit versetzen Platons Zeit in den Ausgangszustand, den die unter 4.1 erörterte Aporie des Aristoteles 150 formuliert. Im Gegensatz zu diesem müsste und würde wohl auch Platon den antiken Zeitskeptikern 153 Recht geben. Dann aber ist mit der Verschönerung der Welt durch die Zeit nicht viel gewonnen.

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Personenregister

Albertus Magnus 235 Amiel, Henri-Frédéric 149 Angermeier, Heinz 206 Anschütz, Georg 39 Aristoteles 105, 150, 161, 168, 171, 259, 280, 296, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 317, 318, 319, 321, 322 Armstrong, David 37, 38 Augustinus 10, 169, 170, 171, 172, 173, 216, 289, 291, 292, 299 Avenarius, Richard 39, 40, 42, 108 Avicenna 235 Baumgarten, Alexander Gottlieb 221 Baumgartner, Hans Michael 185, 186 Baumgartner, Michael 129 Bergson, Henri 217, 235, 253, 254, 258, 259, 260, 261, 262, 277, 282 Bieri, Peter 123, 124 Boethius 216, 289, 300 Bolzano, Bernard 276 Bonaventura 284 Braudel, Fernand 193 Brutus 147, 175 Caesar 147 Cantor, Georg 28, 71, 245, 257, 258, 304 Capreolus, Johannes 281 Cassirer, Ernst 231 Christian, Paul 31

Cicero 150 Clarke, Samuel 104, 274, 277, 278 Cockburn, David 124, 125 Conrad-Martius, Hedwig 33 Dedekind, Richard 245 Descartes, René 50, 226, 261 Duclos, Ch. 253 Duns Scotus 221 Durandus a Sancto Porciano 283, 285, 292 Eddington, Arthur Stanley 143 Einstein, Albert 94, 95 Epikur 69, 85, 114, 296 Euklid 256, 257, 258, 304 Euler, Leonhard 274 Fichte, Johann Gottlieb 212, 267, 269, 270, 271 Finck, Nikolaus 40 Fludd, Robert 42 Fraassen, Bastian Cornelis van 163 Franklin, Benjamin 210 Frege, Friedrich Ludwig Gottlob 13, 18, 256, 257 Freud, Sigmund 52 Frisch, Karl v. 78 Gadamer, Hans Georg 195, 196, 197 Galilei, Galileo 277 Goethe, Johann Wolfgang v. 32, 56, 69, 84, 86, 99, 124, 186, 211, 236, 295, 319

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Personenregister

Groeneberg, Michael 161, 163 Haas, Renate 31 Händel, Georg Friedrich 23 Hartmann, Nicolai 93 Hebbel, Christian Friedrich 198 Hedinger, Hans-Walter 197, 199, 200 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 263, 264, 265, 270 Heidegger, Martin 189, 211, 213, 217, 219, 220, 221, 222, 224, 225, 226, 227, 228, 231, 232, 233, 235, 236, 237, 238, 262, 266, 320 Heine, Heinrich 82 Heinrich von Gent 221 Hitler, Adolf 198 Hofmannsthal, Hugo v. 236 Howard, Luke 99 Hume, David 18, 110, 111, 256 Husserl, Edmund 70, 71, 72, 73, 93, 94, 116, 117, 119, 177, 220, 225, 226, 241, 242, 243, 244, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 260, 262, 292 James, William 67, 68, 71, 116, 241, 242 Janich, Peter 139 Jolles, André 182 Kant, Immanuel 10, 13, 14, 42, 64, 72, 73, 93, 94, 97, 103, 104, 105, 109, 110, 127, 128, 129, 151, 163, 164, 186, 201, 217, 221, 232, 254, 258, 259, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 300 Kiefer, Klaus 95, 140 Kinzel, Till 188 Kisiel, Theodore 220

Klages, Ludwig 79 Kretschmer, Ernst 207 Le Poidevin, Robin 148 Leibniz, Gottfried Wilhelm 13, 15, 29, 85, 89, 90, 104, 105, 122, 128, 129, 217, 274, 276, 277, 278, 281, 300, 304 Lemmon, Edward John 132, 143 Lichtenberg, Georg Christoph 50, 52 Loizou, Andros 108 Lorentz, Hendrik Antoon 95 Lorenz, Konrad 35 Lorre, Peter 202 Lukasiewicz, Jan 162, 281 Mach, Ernst 108 McTaggart, John M. E. 105, 106, 107, 108, 111, 117, 118, 123, 124, 125, 128, 142, 173, 175, 176, 217, 237, 238, 239, 240, 241, 262, 275 Mellor, David Hugh 124 Merkel, Angela 214 Metz, Karl Heinz 191 Metzger, Wolfgang 62, 287 Meyer, Conrad Ferdinand 271 Meyer, Martin 184 Minkowski, Hermann 94, 95, 144 Misch, Georg 219 Moser, Justus 86 Muschg, Walter 189 Natorp, Paul 219 Newton, Isaac 104, 105, 274, 276, 277, 278 Newton-Smith, William Herbert 148 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 29, 33, 34, 257 Novalis 34

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Personenregister

Obama, Barack 214 Ockham, Wilhelm v. 29, 161, 279 Osterhammel, Jürgen 193 Parmenides 110 Paulus 204, 274 Peirce, Charles Sanders 161 Platon 28, 88, 110, 294, 304, 319, 320, 321, 322 Plessner, Helmuth 230 Plotin 216, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300 Prior, Arthur Norman 126, 132, 161, 162 Protagoras 88 Pseudodionys vom Areopag 164

186, 203, 208, 214, 256, 257, 274, 276, 295, 308, 313 Schopenhauer, Arthur 180 Scotus Eriugena 295 Seddon, Keith 108 Seuse, Heinrich 33, 34, 56 Sextus Empiricus 170 Skeptiker 171 Snell, Bruno 10 Sokrates 28 Sorabji, Richard 123, 124, 147 Speusippos 313, 316, 317 Stern, William 116 Straton 303, 309 Suarez, Franz 63, 221, 279, 282, 283, 284, 285, 287, 288, 289, 305, 307

Quine, Willard Van Orman 45 Ranke, Leopold v. 34, 191, 192, 194 Reichenbach, Hans 123, 129 Rickert, Heinrich 186 Rilke, Rainer Maria 120 Rosa, Hartmut 122, 209, 210, 211, 213, 214 Ross, William David 313, 314 Rothacker, Erich 206 Röttgers, Kurt 185 Rousseau, Jean-Jacques 69, 166 Russell, Bertrand 48, 123, 124, 251 Ruysbroeck, Jan v. 34 Scheler, Max 197 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph v. 266, 267, 270, 279 Schlegel, Friedrich 212 Schmitz, Hermann 15, 21, 24, 29, 31, 32, 42, 55, 76, 93, 97, 127, 183,

Thomas von Aquino 221 Thomason, R. 163 Toynbee, Arnold Joseph 206 Turetzky, Philip 125, 126 Uexküll, Jakob v. 23 Veit, Hans 207 Wagner, Hans 303, 314 Weber, Max 210 Weierstraß, Karl 245 Werhahn, Hans 204 Weyl, Hermann 89, 90, 95, 109, 112, 140, 142, 251 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich v. 205 Wittgenstein, Ludwig 73, 108 Wolff, Christian 221 Zelter, Carl Friedrich 186 Znoj, Hansjörg 32

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Sachregister

Abbildbarkeit, umkehrbar eindeutige 255, 256, 258 Ablauf 31, 142 Abschied 48, 49, 57, 58, 59, 60, 61, 63, 66, 69, 70, 72, 74, 83, 84, 100, 101, 114, 116, 117, 118, 135, 165, 171, 236, 237, 243, 262, 299 Absicht 201 Abstand 47, 80, 82, 84, 86, 122, 137, 146, 276, 305 Abstraktionsbasis 190, 191 Aevum 282, 283, 284, 285, 289, 294 Ähnlichkeit 67 Aion 294, 296, 298, 299, 319, 321, 322 Akzelerationszirkel 209 Angst 118, 222, 227, 229 Ankommen der Gegenwart 317 Anordnung 98, 105, 106, 107, 108, 121, 122, 123, 133, 142, 143, 144, 145, 147, 149, 216, 238, 288, 300, 302, 304 Antinomie 177, 178 Antrieb, vitaler 57, 59, 65, 74, 75, 79, 91, 167, 201, 202, 207, 208 Anzahl 18, 255 Appräsenz 48, 83, 101, 117, 118, 144, 165, 179, 264 Appräsenz-Präsenz 101, 159, 165, 236, 264 Apraxie 76 Atmosphäre 81, 82, 205, 206 Atmung 59, 75, 202

Attribut 12, 13, 14, 15, 21, 22, 23, 49, 50, 126, 127, 132, 148, 154, 156, 157, 158, 161, 162, 173, 174, 175, 178, 241, 250, 280 Äquivalenzklasse 18, 19 Äquivalenzrelation 255, 256, 276 Augenblick, absoluter 56, 67, 78, 121 Augenblick, diskreter 282 Augenblick, ewiger 287 Augenblick, permanenter 283, 293 Augenblick, streng absoluter 49 Ausatmen 59, 75 Ausleibung 33, 35, 79 Balancieren 77 Bathmothymiker 207 Bedeutsamkeit 30, 36 Bedeutsamkeit, binnendiffuse 25, 26, 27, 43, 60, 76, 77, 78, 79, 91, 93, 94, 97, 118, 119, 138, 164, 183, 188, 189, 190, 191, 194, 196, 197, 198, 200, 201, 203, 205, 209, 215, 250, 260, 272 Bedeutung 25, 27, 29, 35, 37, 41, 77, 91, 92, 94, 97, 118, 135, 188, 194, 196, 198, 199 Beschleunigung 63, 67, 68, 134, 209, 210, 211, 213 Beschleunigungszirkel 210, 213, 214 Bestimmung 12, 13, 14, 15, 18, 22, 41, 42, 45, 49, 79, 151, 152, 153, 154, 161, 174, 197, 251 Betroffenheit 116

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Sachregister

Betroffensein, leiblich-affektives 52, 92 Betroffensein, affektives 53, 54, 55, 90, 91, 119, 202, 207 Bevorstehende, das 48, 83, 84, 118, 249 Bewegung 62, 64, 66, 82, 83, 134, 137, 279, 285, 286, 289, 294, 295, 296, 297, 298, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 309, 312, 313, 314, 317, 318, 319, 320, 321 Bewegung, gleichförmige 65, 66, 104, 136, 147, 291, 307, 309 Bewegung, langsame 62, 63, 66 Bewegung, schnelle 62, 63, 66, 286 Bewegungsphase 311 Bewegungssuggestion 47, 58, 64, 75, 76, 77, 80, 81, 86, 201 Bewussthaben 38, 39, 40 Bewussthaber 78, 88, 89 Bewusstsein 39, 40, 252, 268 Beziehung 15, 16, 30, 31, 34, 35, 36, 37, 42, 48, 54, 65, 78, 83, 87, 88, 90, 91, 95, 101, 102, 115, 117, 118, 121, 144, 146, 152, 165, 177, 236, 255, 278, 295, 297 Bienen 77 Blick 75, 77, 79 Charakter 27 Charakter, synästhetischer 75 Christentum 205 Cro-Magnon-Zeitalter 164 Dasein 46, 49, 56 Datum 116, 141, 144, 145, 146, 147, 148, 159, 176, 177, 187, 240 Dauer 10, 46, 48, 49, 57, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 72, 73, 74, 78, 82, 83, 84, 94, 100, 102, 103, 104, 105, 117, 120, 122, 128, 130, 133, 134, 135, 136, 137, 138,

139, 140, 147, 148, 149, 159, 165, 166, 169, 170, 171, 172, 176, 179, 217, 235, 243, 244, 245, 246, 247, 248, 253, 254, 255, 259, 260, 261, 263, 265, 271, 279, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 286, 293 Dauer, intensive 66 Dauer, permanente 282, 284, 285, 289, 294 Dauer, sukzessive 282, 284, 285, 289 Dauer, unzerrissene 58, 59, 60, 61, 63, 66, 67, 70, 73, 74, 75, 83, 102, 104, 106, 117, 119, 121, 127, 134, 139, 148, 155, 165, 171, 239, 260, 264, 265, 282, 285, 293, 302 Dauer von Tönen 61, 62 Denken, menschliches 131 Deutscher Idealismus 217 Dichte 286, 287 Dichte, intensive 66 Dichtung 189 Dieses, das 54, 56 Ding 27 Disjunktion 150, 160 Disposition, leibliche 207 Drehung 316 Dualismus, cartesischer 261 Durchdringung 260, 261, 262 Dynamik 172, 293, 314, 317 Dynamik, leibliche 45, 55, 57, 63, 74, 75, 76, 79, 94, 166, 208 Egalisierung 137, 138 Eigendauer 280 Eigene, das 92 Eigenzeit 266 Einatmen 59, 75, 81 Eindruck, vielsagender 25 Eindrucksverarbeitung, elastische 214 Einfühlung 188

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Sachregister

Einleibung 32, 35, 75, 76, 77, 79, 80, 116, 202, 208 Einleibung, antagonistische 54 Einleibung, solidarische 94 Einsen 257, 258, 304 Einteilung 98, 106, 108, 146, 147, 216, 238 Einzelheit 17, 18, 20, 22, 23, 24, 25, 29, 34, 35, 36, 37, 42, 43, 44, 45, 65, 76, 77, 78, 86, 87, 94, 96, 98, 102, 105, 117, 118, 119, 121, 127, 138, 140, 151, 157, 163, 164, 165, 166, 179, 187, 189, 197, 236, 247, 257, 260, 273, 293 Ekstase 32, 33, 34, 35, 102, 117, 295 Emanzipation, personale 81, 86, 92, 93 Ende der Geschichte 184 Ende der Zeit 165, 166, 167 Enge 45, 47, 56, 57, 59, 63, 74, 80, 90, 135, 166, 207 Engel 282 Engung 50, 57, 59, 65, 74, 91, 134, 166, 201 Engung, privative 57, 79, 90, 134, 166, 207 Entfaltung 100, 101, 102, 105, 117, 128, 138, 148, 171, 172, 181, 182, 207, 215, 247, 260, 293 Entfaltung der Gegenwart 87, 88, 121, 132, 144, 236 Entropie 103, 142 Entspannung 102 Entstehen 99, 100, 104, 127, 128, 138, 144, 145, 147, 148, 149, 154, 155, 157, 159, 172, 240, 265, 272, 273, 280, 288 Enttäuschung 92, 120, 189, 203, 204, 205 Erinnerung 60, 73, 101, 121, 157, 170, 177, 178, 181, 183, 237, 241, 249, 250, 292, 318

Erkenntnis, historische 187, 198 Erklärung 189, 190, 191 Erlebnishunger 211 Ersticken 45 Erwachsen, das 91 Erwartung 59, 68, 78, 83, 101, 135, 144, 157, 158, 159, 184, 204, 249, 250, 265, 292, 318 Erzählung 185, 186, 187, 192 Erzeugerschaft 14 Eschatologie 165 Evidenz 21 Existenz 13, 14, 15, 46, 49, 86, 110, 111, 280, 281 Existenz-Inductivum 14, 15, 21, 22, 49, 126, 127, 132, 155, 156, 157, 159, 161, 162, 174, 175, 176, 241 Experiment 103, 112, 113, 136, 143 Explikation 93, 182, 196, 205, 206, 214 Exposition 44, 55, 61, 69, 117 Extensivierung 67, 83, 84, 105, 107, 128, 135, 136, 137, 138, 139, 147, 148, 149, 235, 284, 291 Fall 20, 21, 23, 24, 29, 37, 77, 78, 88, 101, 197, 257 Farbe 72, 243 Fatalismus, logischer 150, 151, 153, 160 Fixsternhimmel 309, 322 Fläche 80, 81, 85, 86, 259 Flüchtigkeit 58, 63, 66, 67, 84, 135, 290, 299 Fluss der Zeit 58, 59, 69, 87, 88, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 116, 118, 119, 120, 128, 133, 134, 138, 139, 140, 143, 144, 148, 149, 155, 159, 165, 166, 172, 179, 180, 184, 186, 239, 240, 241, 275, 276, 292 Fluss der Zeit, progressiver 100, 102, 103, 119, 290

328 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

Sachregister

Fluss der Zeit, regressiver 100, 102, 103, 104, 119, 290 Folge, logische 21 Form 308 Frau 275 Freiheit, transzendentale 201 Fremde, das 92 Frische 63 Funktion, monotone 142 Furcht 78 Gang 59, 60 Gattung 17, 18, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 37, 77, 78, 88, 89, 92, 96, 101, 120, 121, 132, 197, 257 Gedächtnis 26, 27 Gefahr 26 Gefühl 81 Gefühlsraum 82 Gegenwart 14, 15, 48, 49, 57, 60, 61, 68, 69, 73, 74, 78, 83, 84, 85, 95, 98, 99, 100, 101, 102, 106, 109, 114, 116, 117, 118, 119, 120, 126, 132, 141, 143, 144, 146, 147, 148, 154, 155, 159, 165, 166, 168, 169, 170, 171, 172, 176, 179, 180, 187, 190, 216, 223, 234, 236, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 249, 250, 251, 263, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 284, 287, 288, 290, 292, 294, 299, 300, 318, 319, 321, 322 Gegenwart, absolute 84, 85, 145, 264 Gegenwart, entfaltete 94, 163 Gegenwart, gegenwärtige 85, 121, 144, 146, 171, 174, 176, 179 Gegenwart, primitive 11, 46, 48, 49, 50, 54, 55, 56, 57, 60, 63, 67, 69, 70, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 84, 86, 87, 88, 90, 92, 93, 94, 96, 98, 100, 101, 102, 104, 105, 116, 117, 119, 120, 121, 127, 128,

134, 138, 140, 148, 155, 164, 165, 166, 170, 171, 172, 175, 176, 180, 181, 182, 207, 236, 239, 243, 247, 260, 264, 293 Gegenwart, relative 84, 85, 121, 122, 123, 144, 148 Gegenwart, verweilende 69, 135, 166, 293, 302 Gegenwart, zeitliche 57, 67, 116, 117, 118, 121, 127, 142, 144, 155, 165, 171, 175, 176, 293 Gegenwärtigkeit 100, 123, 126, 147, 148, 155, 161, 165, 174, 176, 177, 180, 181, 284 Geist 294, 297, 308 Geisteswissenschaft 191, 195, 199 Geld 94 Geschehen 99, 102, 105, 176, 177, 287, 290, 293 Geschehen des Daseins 223, 235 Geschichte 11, 180, 183, 184, 185, 186, 187, 193, 203, 206, 214 Gesicht 27 Gesinnung 55 Gespräch 26 Gewesenheit 229 Geworfenheit 222, 227, 228, 229, 231, 232, 234, 236 Gleichzeitigkeit 132, 140, 141, 262, 277 Gott 42, 172, 173, 275, 294, 299 Grenze 315, 316 Griechen 206 Größe, extensionale 283 Größe, extensive 61, 62, 63, 65, 66, 122, 130, 134, 135, 139, 169, 170, 171, 243, 244, 248, 253, 254, 255, 262, 264, 284, 287, 290, 301, 302, 305, 316, 318, 322 Größe, intensive 61, 64, 65, 66, 67, 72, 82, 83, 104, 137, 147, 149,

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243, 248, 255, 260, 262, 283, 286, 318 Grundsatz der durchgängigen Bestimmung 151, 153, 154 Halbdinge 94, 131, 138, 167 Hamlet 201 Hempel-Oppenheim-Schema 191 Herausforderung 200, 201 Hier, das 47, 56, 80, 166 Himmelskörper 282, 306 Historiker 187, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 200 Hoffnung 78 Husserl’sche Puppe 177 Hypothese 112, 191 Ich, das 52, 88 Idealismus 93 Idealismus, subjektiver 248, 251, 253 Idee 308 Identifizierung 89, 90 Identifizierung, spielerische 72 Identität 12, 13, 14, 15, 16, 22, 34, 35, 36, 45, 50, 74, 111, 155, 161, 175, 294, 296 Identität, absolute 15, 16, 17, 20, 22, 23, 24, 25, 35, 36, 37, 38, 42, 43, 44, 45, 46, 48, 49, 54, 55, 56, 70, 76, 77, 78, 88, 90, 94, 96, 98, 116, 117, 118, 121, 127, 140, 148, 155, 157, 164, 166, 174, 179, 197, 216, 236, 273, 295 Identität, relative 15, 17, 22, 23, 45, 78, 88, 91, 166, 273 Impersonaliensatz 41 Implikation 93, 183, 200 Individuum 20, 24, 29, 156, 257 Informationstechnik, digitale 213 Informationstechnik, digital-elektronische 215

Insektenstich 47 Intelligenz, hermeneutische 194 Intelligenz, leibliche 214 Intensität 63, 65, 253, 254, 255, 260, 261, 287 Introjektion 275, 291 Intuition 190 Ironie, romantische 212 Iuxtaposition 259 Jetzt, das 48, 49, 56, 166 Kausale Theorie der Zeit 129 Kausalität 130, 131, 202 Kausalordnung 129 Kausalprozess 128 Kind 25 Kommunikation, leibliche 32, 33, 47, 54, 55, 63, 75, 76, 79, 93, 94 Konjunktion 151 Konstellation 27, 28, 43, 68, 77, 135, 183, 190, 198, 199, 200, 205, 206, 208, 209, 213, 214 Konstitution 252 Kontinuum 36, 63, 303, 304 Körper 81 Körperschema, motorisches 47, 76, 77 Körperschema, perzeptives 81 Kriterium des Seins 50 Kunststil 208 Lage 47, 80, 82, 137, 146, 276, 318 Lagezeit 98, 100, 101, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 111, 113, 114, 117, 119, 121, 123, 125, 126, 127, 128, 129, 131, 132, 133, 139, 140, 144, 148, 163, 164, 172, 175, 176, 179, 180, 187, 216, 217, 224, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 247, 250, 260, 262, 263, 265, 269, 270, 271,

330 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .

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275, 276, 277, 281, 282, 293, 298, 299, 300, 301, 309, 317, 318 Lagezeit, diskrete 130 Lagezeit der modalen Lagezeit 102, 103, 107, 128, 173, 238, 240, 275, 288 Lagezeit, metrische 164 Lagezeit, metrisierte 103, 141, 142, 145, 147, 248, 265, 290, 291, 293, 322 Lagezeit, metrisierte reine 103, 104 Lagezeit, modale 102, 103, 107, 114, 116, 119, 120, 125, 126, 128, 135, 136, 143, 144, 145, 147, 148, 149, 155, 156, 159, 164, 165, 167, 171, 172, 174, 175, 176, 177, 179, 180, 181, 184, 187, 217, 238, 239, 240, 241, 253, 261, 265, 272, 284 Lagezeit, prämetrische 122, 133, 134, 138, 142, 147, 172, 277, 304, 305, 306 Lagezeit, reine 101, 102, 103, 107, 142, 143, 149, 217, 239, 275 Länge, intensive 66, 133, 134, 244, 245 Langeweile 67, 68, 134, 167 Langsamkeit 63, 66, 67, 68, 286 Lapace’scher Dämon 133 Leben 294 Leben aus primitiver Gegenwart 76, 78, 80, 83, 88, 91, 93, 94, 100, 182 Lebenstechnik 138 Leib 9, 10, 32, 57, 63, 75, 81, 90, 166, 207, 208, 259 Leibesinsel 47, 75, 81 Leibniz-Prinzip 174 Mannigfaltiges, absolut konfus chaotisches 16, 20, 37, 104, 116

Mannigfaltiges, chaotisches 117, 306 Mannigfaltiges, zwiespältiges 20, 295 Mannigfaltigkeit, numerische 260 Menge 17, 18, 19, 20, 29, 132, 152, 255, 256, 257, 304, 309, 311, 313, 316 Mengenlehre 28, 248, 276 Mensch 27, 35, 77, 78, 79, 80, 81, 87, 88, 91, 92, 94, 178, 182, 183, 194, 196 Menschwerdung 79 Messung, indirekte 134, 170, 244, 284 Metrisierung 107, 128, 243, 269, 277, 293, 304, 305, 309 Modalzeit 98, 100, 101, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 123, 126, 127, 128, 135, 136, 139, 140, 142, 143, 144, 168, 171, 172, 176, 216, 217, 231, 235, 236, 237, 238, 239, 250, 262, 263, 264, 265, 266, 269, 270, 273, 278, 279, 284, 289, 290, 293, 298, 299, 300, 317, 318, 320 Modalzeit der modalen Lagezeit 102, 103, 117, 119, 173, 187, 238 Modalzeit, reine 101, 102, 103, 104, 107, 117, 118, 119, 144, 145, 147, 159, 164, 165, 171, 175, 179, 180, 236, 238, 239, 247, 264, 265, 290, 291, 293 Möglichkeit 154, 156, 221, 222, 223, 225, 230, 232, 233 Möglichkeit de dicto 233 Möglichkeit de re 232 Monas 312, 313 Müdigkeit 63 Musik 58, 170

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Naturgesetz 82, 139, 190 Naturwissenschaft 8, 112, 113, 164, 191, 199 Negation 44 Neue, das 46, 47, 48, 55, 57, 60, 61, 68, 69, 73, 74, 83, 98, 101, 102, 106, 117, 118, 119, 135, 144, 148, 159, 165, 167, 170, 171, 176, 179, 184, 293 Neuplatonismus 295 Neutralisierung 91, 92, 121, 182, 196, 218 Neutralität 196 Nichtmehrsein 48, 49, 50, 57, 60, 61, 66, 78, 83, 86, 98, 101, 134, 135, 148, 155, 165, 166, 176, 179, 187, 237, 243, 288 Nichtseiendes 110, 121, 141, 147, 156, 163, 241, 292, 307 Nichtsein 14, 78, 86, 99, 116, 147, 149, 172, 216, 287, 290, 299, 300, 306, 314 Nochnichtsein 83, 98, 155 Nominalisten 28, 29, 279 Nomos 201, 203, 204 Normaluhr 309 Normen 203, 204 Nun, das 300, 301, 302, 305, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 317, 318, 320 Objekt 75 Objekte, abstrakte 29 Objektivität 197 Ordnung 35, 36, 37, 76, 277, 308 Ort 308 Ort, absoluter 48, 78, 85, 146 Ort, relativer 47, 76, 77, 78, 80, 82, 84, 85, 146 Ort, schwach absoluter 47, 81 Ort, stark absoluter 48, 56, 57, 84 Ort, streng absoluter 47, 48

Ortsraum 48, 82, 84, 137, 145, 146, 259, 260, 276 Panik 102, 117, 118 Paralleluniversum 133 Pénétration 259 Person 53, 76, 77, 89, 90, 91, 93, 166, 182, 196 Person, fassungslose 102 Phänomen 7, 8 Phänomenologie 7, 8, 9, 10, 11, 140, 141, 248, 282 Phantasie 78, 83 Planung 78, 94, 135 Platonisten 28, 29 Plötzliche, das 48, 56, 67 Politik 213 Potenzlehre 306 Präsenz-Appräsenz 48, 49 Problem 25, 27, 29, 37, 41, 43, 77, 91, 92, 94, 118, 183, 188, 189, 191, 201, 203, 204, 205 Programm 25, 27, 29, 36, 37, 41, 43, 76, 77, 91, 94, 101, 118, 138, 183, 188, 189, 191, 201, 203, 204, 205 Projektionismus 29 Protention 71, 72, 118, 119, 145, 203, 204, 245, 249, 250, 252 Punkt 310, 311, 313, 314, 315 Qualität 66, 67, 255 Quantenphysik 95 Quantität 66, 278 Quasi-Traum 51, 52 Ratlosigkeit, entschlossene 229 Raum 57, 63, 84, 85, 86, 135, 136, 137, 165, 166, 171, 217, 258, 259, 260, 261, 264, 265, 268, 269, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 291, 293, 310, 312, 318

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Raum, flächenloser 80, 81, 82, 137, 259 Raum, unendlichdimensionaler 246 Raumzeit 144 Realdistinktion, thomistische 222, 224 Realismus 93 Rede, explikative 27 Rede, satzförmige 35, 37, 77, 80, 94, 138, 164, 205, 272 Regression, personale 92, 93, 182, 202, 203 Reizempfänglichkeit 202 Relativismus, hermeneutischer 187, 188 Relativitätstheorie 94, 95, 109, 140, 142, 143, 271 Reproduktion 242 Retention 70, 71, 72, 73, 117, 118, 119, 120, 145, 241, 242, 243, 244, 245, 246, 248, 249, 250, 252, 253, 260, 292, 293, 318 Richter 194 Richtung 87, 101, 102, 115, 128, 134, 142, 143, 144, 207, 217, 239, 241 Richtung, leibliche 59, 60, 74, 75, 76, 80, 81 Richtungsraum 80, 84 Ruhe 82, 137, 294, 296, 298, 306, 307 Sachverhalt 20, 22, 24, 25, 27, 29, 37, 41, 42, 43, 59, 72, 77, 91, 92, 94, 101, 118, 155, 158, 183, 188, 191, 194, 197, 201, 203, 204, 205, 250 Sachverhalt, neutraler 53, 196 Sachverhalt, subjektiver 196 Sägen 31 Satz vom ausgeschlossenen Dritten 150

Säugling 37, 53, 102 Schall 243 Schicksal, persönliches 183 Schimpanse 80 Schizothymiker 207 Schlafwandler 38, 39, 40 Schmerz 46 Schnelligkeit 63, 66, 67, 286 Scholastiker 217 Schon-sein in der Welt 227, 228, 229 Schreck 45, 46, 73, 102, 165 Schwellung 59, 60, 65, 74, 75, 79, 81, 201, 207 Schwung 316 Seele 296, 297, 298, 302, 308, 309, 318, 319 Seele, rationale 282, 289 Sein 14, 20, 46, 49, 50, 70, 78, 86, 87, 98, 99, 127, 147, 149, 166, 172, 216, 221, 252, 281, 290, 299, 301, 306, 321 Selbstzuschreibung 78, 88, 89, 90, 91, 182 Sichbewussthaben 53, 54 Singularismus 29, 71, 95, 97, 186, 188, 261, 274 Situation 25, 27, 28, 29, 35, 36, 43, 54, 60, 68, 76, 77, 78, 79, 80, 91, 92, 94, 97, 101, 118, 119, 135, 138, 164, 183, 186, 188, 189, 190, 191, 192, 194, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 203, 204, 205, 206, 208, 209, 213, 214, 215, 236, 260, 272 Situation, aktuelle 26, 27, 60, 68, 81, 121, 138, 145, 171, 183, 184, 189, 191, 192, 193, 200, 202, 203, 204, 214, 250, 285 Situation, gemeinsame 203 Situation, implantierende 197 Situation, impressive 26, 27

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Sachregister

Situation, persönliche 27, 68, 93, 182, 201, 203, 207 Situation, segmentierte 26, 27 Situation, zuständliche 26, 27, 28, 59, 60, 68, 79, 83, 94, 121, 138, 145, 171, 183, 184, 189, 191, 192, 193, 200, 201, 203, 204, 214, 285, 293 Skeptiker 169 Sonnenlicht 282 Sorge 203 Spannung 59, 60, 63, 65, 74, 75, 81, 201, 207 Sprache 27, 29, 36, 37, 77, 79, 80, 94 Sprache, polysynthetische 40 Spreizung 298, 299, 314 Stimme 167, 283 Stoff 308 Stoiker 296 Strecke 81 Strömung, progressive 239, 240, 241 Strömung, regressive 239, 241 Subjekt 54, 75, 78, 88, 93, 94, 220, 251 Subjekt, personales 55 Subjektivität 46, 52, 54, 55, 56, 70, 90, 91, 92, 94, 96, 108, 166, 196, 218, 225, 231, 236, 273 Subjektivität, positionale 220, 225 Subjektivität, strikte 225 Sukzession 98, 216, 217, 235, 238, 262, 283, 287, 288 Tantalus 223, 230 Tatsache 20, 22, 53, 156, 158, 194 Tatsache, neutrale 52 Tatsache, objektive 12, 52, 90, 91, 95, 109, 113, 154, 212 Tatsache, subjektive 12, 52, 53, 54, 90, 91, 95, 154

Tatsächlichkeit 14, 150 Tautologie 22, 85 Tendenz, epikritische 63 Thema 184 Thermodynamik 142 Thermometer 284 Tier 27, 35, 36, 37, 42, 53, 76, 77, 79, 87, 92, 102, 138, 164, 194, 196, 198, 214, 275 Tod 210, 211, 219, 220, 225, 232, 233, 236, 262 Token-reflexive-Analyse 123, 124, 125 Ton 70, 72, 119, 134, 242, 244, 248, 283, 292 Traum 91 Typen der Mannigfaltigkeit 261 Übergang 99, 147, 149, 156, 166, 264, 265, 298 Überraschung 189, 203, 204, 250 Uhr 61, 62, 66, 83, 103, 136, 140, 170, 171, 235, 278, 284, 291 Umfang 18 Unbestimmtheit 227 Unentschiedenheit, einfache 160 Unentschiedenheit, iterierte 160, 178 Universalie 8, 9 Universalienproblem 28 Unumkehrbarkeit 204, 205 Unveränderlichkeit des Vergangenen 154 Urfluss 247, 248, 252, 253 Urimpression 245, 246, 248, 249, 252 Urkontinuum 57, 60, 164, 165, 166 Urweite 57 Veränderung 105, 106, 173, 175, 239, 241, 302, 307, 317, 318

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Sachregister

Vereinzelung 91, 92, 100, 101, 102, 117, 118, 119, 120, 121, 127, 144, 165, 182, 216, 247, 250, 260 Verfallen 219, 225, 228, 233 Verfehlung, dynamisch-konstellationistische 212, 213 Verfehlung, ironistische 212 Verfremdung 92, 120 Vergangenheit 14, 15, 49, 59, 73, 74, 83, 84, 95, 98, 99, 100, 101, 102, 109, 112, 117, 118, 120, 121, 125, 126, 128, 139, 143, 144, 145, 146, 155, 158, 159, 160, 165, 168, 169, 170, 171, 172, 176, 177, 178, 179, 185, 187, 190, 216, 237, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 248, 250, 251, 264, 265, 266, 268, 269, 270, 284, 288, 289, 290, 292, 293, 297, 298, 299, 300, 314, 316, 318, 320, 322 Vergangenheitlichkeit 100, 109, 123, 124, 127, 147, 148, 161, 165, 173, 174, 175, 177 Vergehen 99, 100, 104, 127, 128, 138, 144, 145, 147, 148, 155, 159, 166, 172, 265, 272, 273, 280, 288 Verhältnis 30, 31, 34, 35, 36, 42, 43, 54, 78, 87, 88, 91, 100, 102, 103, 107, 115, 116, 118, 121, 142, 152, 153, 297 Verhältnis, absolut unspaltbares 31, 32, 33, 34, 35, 36, 46, 48, 54, 55, 65, 66, 90, 94, 101, 117, 177, 244, 252, 255, 260, 283, 295, 296 Verhältnis, relativ unspaltbares 31, 32 Verhältnis, spaltbares 142, 143 Verhältnis, unspaltbares 31, 35, 42, 75, 76, 83, 95, 96, 117, 144, 159, 165, 166, 179, 236, 297

Vernichtung 45, 166 Verschiedenheit 16, 25, 35, 36, 37, 38, 76, 294, 295, 296 Verstehen 188, 189, 190, 194, 195, 196 Versunkenheit 79 Vieleinigkeit 295, 296, 298 Volldinge 138 Volumen 81 Vorbeisein 46, 48, 49, 57, 58, 60, 61, 63, 69, 72, 73, 83, 98, 100, 101, 116, 117, 118, 119, 120, 135, 165, 176, 243, 265, 293 Wählen, das 131 Wahrheit 14, 150 Wahrnehmung 75, 188 Wärme 61, 66, 82, 104, 136, 137, 247, 247 Wasserfallillusion 252 Wechsel 173, 174, 175, 239, 241 Weite 45, 47, 48, 57, 59, 61, 63, 68, 74, 75, 80, 101, 165, 166, 207, 265 Weitung 57, 59, 65, 74, 75, 79, 91, 134, 201 Weitung, privative 59, 63, 79, 80, 94, 167, 207 Welt 11, 42, 78, 79, 83, 87, 88, 93, 94, 96, 100, 101, 117, 120, 121, 127, 128, 138, 140, 144, 156, 163, 164, 165, 167, 171, 172, 181, 182, 207, 225, 236, 247, 260, 273, 293 Welt, mögliche 157, 158, 159 Welt, persönliche 93 Welt, teilnahmslose 43, 44, 55, 56, 116 Welt, teilnehmerlose 166 Welt, wirkliche 158, 159 Widerspruch 85, 109, 112, 154, 160, 162, 163, 167, 174, 177, 178, 181, 252

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Sachregister

Wiederkehr, ewige 148 Wirklichkeit 20, 46, 49, 50, 51, 52, 56, 70, 78, 86, 149, 222, 281 Wollen 200, 201, 202, 212, 213 Wunsch 203, 204 Zahl 18, 19, 255, 256, 257, 258, 259, 260, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 312, 313, 314, 317, 318, 320, 321 Zählen 258 Zeit 10, 11, 31, 45, 49, 57, 60, 63, 67, 84, 85, 86, 87, 95, 96, 98, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 113, 115, 116, 122, 128, 135, 136, 139, 142, 144, 163, 164, 165, 166, 167, 169, 170, 171, 172, 173, 180, 216, 217, 231, 235, 236, 237, 238, 241, 244, 247, 248, 262, 263, 265, 266, 267, 269, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 282, 284, 285, 287, 289, 290, 291, 293, 294, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 312, 314, 316, 317, 318, 319, 320, 321, 322 Zeit, diskrete 283 Zeit, leere 104 Zeit, metrisierte 103 Zeit, zyklische 148 Zeiteinteilung 138, 139 Zeitgestalt 58, 59, 260 Zeitlichkeit 223, 224, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237

Zeitmessung 80, 105, 128, 138, 235, 297 Zeitpunkt 62, 293, 305 Zeitstrecke 61, 62, 84, 94, 122, 130, 134, 171, 180, 261, 269, 290, 293 Zirkel 199, 307 Zirkel, hermeneutischer 198 Zukunft 14, 57, 83, 84, 85, 95, 98, 99, 100, 101, 103, 109, 112, 113, 117, 118, 119, 120, 121, 126, 139, 143, 144, 145, 146, 148, 149, 150, 154, 159, 165, 168, 169, 170, 171, 172, 179, 185, 187, 190, 216, 223, 233, 236, 239, 240, 241, 250, 264, 265, 266, 269, 270, 284, 288, 289, 290, 292, 298, 299, 300, 314, 316, 318, 320, 322 Zukunft, beziehungslose 48 Zukunft, geschlossene 99, 120, 150, 151, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 184, 187, 200, 240 Zukunft, offene 99, 120, 150, 151, 154, 156, 157, 158, 159, 160, 184, 187, 200, 236, 240, 250, 280, 288 Zukünftigkeit 100, 123, 124, 127, 147, 148, 156, 161, 165, 173, 174, 175 Zusammenhang 183, 184, 186 Zuwendung 202 Zweiprinzipienlehre, akademische 306 Zwiespalt 177, 178, 181, 252, 253, 295 Zyklothymiker 207

336 https://doi.org/10.5771/9783495860564 .