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German Pages [295] Year 2021
Rolf Zimmermann
Philosophie nach Auschwitz
Eine Neubestimmung von Moral aus historischer Erfahrung VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495824023
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B
Rolf Zimmermann Philosophie nach Auschwitz
VERLAG KARL ALBER
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Rolf Zimmermann
Philosophie nach Auschwitz Eine Neubestimmung von Moral aus historischer Erfahrung
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Rolf Zimmermann Philosophy after Auschwitz On Redifining Morality in terms of Historical Experience The catastrophe of Auschwitz forces a philosophical redefinition of morality. The fracture in the moral image of the human being destroys the idea of the moral unity of humankind, which has been advocated by Kant to the present day. The »Gattungsbruch« of the Holocaust draws attention to the fact that there are fundamental alternatives between the morality of Nazism, Bolshevism and the morality of human rights. The philosophical penetration of this constellation shows how important it is to strengthen liberal institutions of politics. The historical responsibility must also prove itself in the current confrontation with nationalist or neo-nazi movements.
The Author: Rolf Zimmermann, born 1944 in Stuttgart, studied philosophy, sociology and politics in Heidelberg where he received his PhD in 1972. 1983: Habilitation in Konstanz, since 1983 professor of philosophy in Konstanz. 1988–2000: Human Resources Manager in a nationwide training company. Afterwards, Prof. in Konstanz and private scholar. Book publications, among others: Philosophy after Auschwitz. On Redifining Morality in Politics and Society (2005); Morality as Power. A Philosophy of Historical Experience (2008); Arriving in the Republic. Thomas Mann, Nietzsche and Democracy (2017).
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Rolf Zimmermann Philosophie nach Auschwitz Eine Neubestimmung von Moral aus historischer Erfahrung Die Katastrophe von Auschwitz zwingt zu einer philosophischen Neubestimmung von Moral. Der Riss im moralischen Bild des Menschen zerstört die Idee von der moralischen Einheit der Menschheit, die von Kant bis in die Gegenwart vertreten wird. Der »Gattungsbruch« des Holocaust macht darauf aufmerksam, dass es grundlegende Alternativen zwischen der Moral des Nazismus, des Bolschewismus und der Moral der Menschenrechte gibt. Die philosophische Durchdringung dieser Konstellation zeigt, wie wichtig es ist, liberale Institutionen der Politik zu stärken. Die historische Verantwortung muss sich auch in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit nationalistischen oder neonazistischen Strömungen bewähren.
Der Autor: Rolf Zimmermann, geboren 1944 in Stuttgart, Studium der Philosophie, Soziologie und Politik in Heidelberg, dort Promotion 1972. Habilitation 1983 in Konstanz, seit 1983 Professor für Philosophie in Konstanz. Von 1988–2000 Personalgeschäftsführer in einem bundesweiten Bildungsunternehmen. Danach apl. Prof. in Konstanz und Privatgelehrter. Buchveröffentlichungen u. a.: Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft (2005); Moral als Macht. Eine Philosophie der historischen Erfahrung (2008); Ankommen in der Republik. Thomas Mann, Nietzsche und die Demokratie (2017).
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin. EvrenKalinbacak – panthermedia Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49153-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82402-3
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Auschwitz und die Konsequenzen einer philosophischen Neubesinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
1. Moral oder die Absage an das schlechte Leben . . .
23
1.1 Gattungsbruch – der Riss im Bild des Menschen . . . Vom »radikal Bösen« zum Gattungsbruch . . . . . . . Gattungsbruch und Gattungsversagen . . . . . . . . . Abschied vom Gattungstraditionalismus . . . . . . . . Von Kant über Korsgaard zur kritischen Hermeneutik von Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23 23 32 47
1.2 Moral und Geschichte: Historischer Universalismus Was man von Richard Rorty lernen kann . . . . . . Unsere Moral und die Spielarten des Universalismus Entmenschlichung und moralischer Riss . . . . . . . Realgeschichte des Universalismus und Universalisierungsdynamik . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
60 60 63 69
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74
1.3 Moral und existenzieller Sinn . . . . . Das schlechte und das gute Leben . . . Moralische Zeitgenossenschaft . . . . . Begründungsfragen I . . . . . . . . . .
. . . .
87 88 93 98
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50
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Inhalt
2. Lehrstücke moralischer Divergenz . . . . . . . . . . 103 2.1 Nationalsozialistische Moral als Transformationsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Dimensionen moralischer Veränderung . . . . . . . . 104 (1) Tätermoral · (2) Rassenkampf und SS · (3) Moral und Recht · (4) Antisemitische Kultur · (5) Juden und andere Opfer Begriffliche Klarstellungen zur NS-Moral . . . . . . . 130 2.2 Bolschewistische Moral des Neuen Menschen . . . Holodomor: Revolutionäre Moral und Stalinismus Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bolschewistischer Idealtypus: Leo Trotzki . . . . . Radikale Erlösungsmoralen im Vergleich . . . . .
. . . . .
. . . . .
137 138 153 158 167
2.3 Moral der Menschenrechte . . . . . . . . . . Menschenrechte und historische Erfahrung . Universalismus als voluntativer Egalitarismus Begründungsfragen II . . . . . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
171 171 178 183
. . . .
. . . .
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3. Politik und historische Verantwortung nach Auschwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 3.1 Politik oder die Verhinderung von Barbarei . . . . . . 191 Adornos »kategorischer Imperativ« . . . . . . . . . . 191 Die politische Einlösung von Adornos Imperativ . . . 196 3.2 Politische Institutionen und Humanität . . . . . . . . Universalismus, Verfassung, Grundrechte, Demokratie »Grundrechtsdemokratie« und »dualistische Demokratie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liberale Theorie – Konfliktdemokratie – Macht . . . . Grundrechte und Demokratie: Ronald Dworkin . . . . Politische Diskurstheorie und Machtpragmatik . . . .
200 201 208 224 224 229
3.3 Historische Verantwortung nach Auschwitz . . . . . . 238 Auschwitz, historische Verantwortung, politische Ethik 239 Historische Verantwortung im Vergleich . . . . . . . 252
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Inhalt
Historische Verantwortung und Recht . . . . . . . . . 257 Deutsche Erinnerungskultur im Wandel . . . . . . . . 263
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Personenverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
9 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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Für Heidi
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Vorwort zur 2. Auflage
Die vorliegende Untersuchung stellt die Neufassung meines Buches aus dem Jahr 2005 dar. In dieser Neufassung habe ich meine Grundthesen durch neue Ausarbeitungen zur nationalsozialistischen und bolschewistischen Moral ergänzt und die frühere Version zugunsten des Schwerpunkts Politik und historische Verantwortung gestrafft. Freiburg, im November 2019
R. Z.
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Einleitung Auschwitz und die Konsequenzen einer philosophischen Neubesinnung »In weniger als sechs Jahren zerstörte Deutschland das moralische Gefüge der westlichen Welt, und zwar durch Verbrechen, die niemand für möglich gehalten hätte, während die Sieger die sichtbaren Zeugnisse einer über tausendjährigen deutschen Geschichte in Schutt und Asche legten.« 1 Für das Verbrechen, das Hannah Arendt mit diesem Satz anspricht, steht Auschwitz sowohl als historisch konkreter Ort wie als Inbegriff eines Geschehens, das als ›Holocaust‹ oder ›Shoah‹ bezeichnet wird. 2 Das nazistische Vernichtungsprogramm gegen das jüdische Volk und seine Realisierung an Stätten wie Auschwitz wirft immer wieder die Frage auf, wie dieses Ereignis von Weltbedeutung zu interpretieren ist. 3 Für die moralische Ablehnung scheint es kaum Worte zu geben, wenn es darum geht, der sie bestimmenden Empörung und dem mit ihr einhergehenden Erschrecken Ausdruck zu verleihen. Insofern ist es nachvollziehbar, dass JeanH. Arendt, Besuch in Deutschland, Berlin 1993, S. 23. Zu Kontroversen über den Sprachgebrauch ›Holocaust‹ und ›Shoah‹ : P. Novick, Nach dem Holocaust, Stuttgart/München 2001, S. 178 ff. Zur strikten Ablehnung des Terminus ›Holocaust‹ wegen seiner »antijüdisch gefärbten Bedeutungsgeschichte«: G. Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt/M. 2003, S. 28. Der Vorwurf von Agamben, diesen Terminus zu verwenden, beweise »Unwissen oder Mangel an Sensibilität«, ist überzogen. Zu Recht weist Novick darauf hin, dass die offizielle englische Übersetzung der Präambel der israelischen Unabhängigkeitserklärung den Terminus ›Holocaust‹ verwendet und dass dies ebenso in englischsprachigen Veröffentlichungen von Yad Vashem geschieht, die ›Shoah‹ mit ›Holocaust‹ wiedergeben. Beispiele dieser Art ließen sich mehren. Vgl. U. Wyrwa, »›Holocaust‹. Notizen zur Begriffsgeschichte«, in: Jahrbuch zur Antisemitismusforschung 8/1999, S. 300–311. 3 Vgl. S. Steinbacher, Der Holocaust als Jahrhundertsignatur, in: M. Sabrow/P. U. Weiß (Hg.), Das 20. Jahrhundert vermessen. Signaturen eines vergangenen Zeitalters, Göttingen 2017, S. 266–283. 1 2
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Einleitung
Francois Lyotard von der Spannung zwischen betroffenem Schweigen und dem Drang nach »unbekannten Sätzen« spricht, um den Namen von Auschwitz weiter zu verketten«. Die Frage ist nur, ob man versucht, die anstehenden Sätze zu Auschwitz in einer philosophischen Sprache zu formulieren, die eher spekulativ darum kreist, von einem Undarstellbaren Zeugnis abzulegen, oder ob man der Vermutung folgt, das geschichtlich Neue von Auschwitz über eine Kooperation von Philosophie und historischer Forschung zu erfassen. Für Lyotard markiert Auschwitz eine »äußerste Grenze, an der sich die Kompetenz der Geschichtswissenschaft zurückgewiesen sieht.« 4 Im Gegensatz dazu halte ich eine wechselseitige Ergänzung von Philosophie und historischer Forschung für unverzichtbar, um das, was Auschwitz bedeutet, moralphilosophisch zu erschließen. 5 Meine These lautet: Mit Auschwitz ist eine Grenzüberschreitung eingetreten, die sich als Gattungsbruch und Gattungsversagen darstellt. Mit dieser These beziehe ich mich auf Hannah Arendts Rede von der »Zerstörung des moralischen Gefüges der westlichen Welt«, die sie aber mit ihrer an Kant angeJ.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 1989 (2. Aufl.), S. 106. Zur spekulativen Thematisierung von Auschwitz vgl. ders., Streitgespräche oder Sprechen ›nach Auschwitz‹, Grafenau 1998. Vgl. S. Wendel, »Zeugnis für das Undarstellbare. Die Rezeption jüdischer Traditionen in der postmodernen Philosophie« Jean-Francois Lyotards, in: J. Valentin/S. Wendel (Hg.), Jüdische Traditionen in der Philosphie des 20. Jahrhundets, Darmstadt 2000, S. 264–278. Ähnlich auch die indirekte Zugangsweise von J. Derrida zur Problematik des Holocaust. Dazu erhellend: D. M. Levin, »Cinders, Traces, Shadows on the Page: The Holocaust in Derrida’s Writing«, in: A. Milchman/A. Rosenberg, (Hg.), Postmodernism and the Holocaust, Amsterdam/Atlanta 1998, S. 265–286. Ich orientiere mich an der Aussage von Jorge Semprun: »Man kann immer alles sagen. Das Unsagbare [… ] ist nur ein Alibi.« Zitiert nach N. Berg/J. Jochimsen/B. Stiegler (Hg.), Shoah. Formen der Erinnerung, München 1996, S. 7. Das bedeutet natürlich nicht, dass es immer leicht ist, alles zu sagen, was zu sagen ist. 5 Ein solches Desiderat formuliert auch H. Kuhlmann, »Ohne Auschwitz«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 6/1997, S. 101–110. Entsprechend B. Lang, Philosophy’s Contribution to Holocaust Studies, in: E. Garrard/G. Scarre (Hg.), Moral Philosophy and the Holocaust, S. 1–8, ebd., S. 8: »[ … ] the Holocaust should teach philosophy to ›speak history‹ [ … ]« 4
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Einleitung
lehnten Rede vom »radikal Bösen« und noch weniger mit ihrer späteren Rede von der »Banalität des Bösen« nicht adäquat fassen konnte. Meine These steht in Bezug zur historischen Forschung, die ihren »context of discovery« bildet. 6 Den vom Nazismus begangenen Gattungsbruch kann man zunächst so beschreiben: Im 20. Jahrhundert schufen Menschen eine Welt, die moralisch gesehen einem anderen Planetensystem zuzurechnen war als dem, das bis dahin vorstellbar schien. 7 Durch den Ausschluss des jüdischen Volkes aus der menschlichen Gattung betrieb der Nazismus die Selbstinterpretation eines moralischen Andersseins, das erst noch begrifflich bestimmt werden musste. Einerseits galt es, seine Unmoral zu brandmarken, andererseits den Tatbestand zu berücksichtigen, dass die wertsetzende Kraft des Nazismus das Selbstverständnis vieler Menschen nachdrücklich prägte und die Transformierbarkeit des Menschen in eine andere moralische Welt real möglich erschien. Der Nazismus legte ein Potenzial der moralischen Transformation des Menschen frei, das sich zu einer nazistischen Transformationsmoral entfaltete. Sie überschreitet herkömmliche moralische Grenzen und erschafft in einem groß angelegten Projekt ein neues »Menschentum«. Viele, nicht nur die Nazi-Elite, ließen sich auf diese moralische Selbstveränderung, deren Konsequenz am extremsten die Juden, jedoch auch andere »nichtarische« Völker erleiden mussten, ein. Was ergibt sich daraus für die ethische Begriffsbildung? 8 Zunächst einmal die Abkehr von dem, was man das Paradigma des Dass der Direktor des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, Feliks Tych, in seiner Rede vom 27. Januar 2010 vor dem Deutschen Bundestag meinen Begriff »moralischer Gattungsbruch« aufgreift, stellt eine erfreuliche Aufnahme meines Ansatzes dar (1. Auflage 2005). Quelle: https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/tych/rede248106: letzter Zugriff 1. 11. 2019. 7 Vgl. I. Kertész, Liquidation, Frankfurt/M. 2003, S. 121: »Auschwitz ist ein anderer Planet« 8 Zur Terminologie: Die Ausdrücke ›Moral‹ und ›Ethik‹ verwende ich im folgenden Sinn: ›Ethik‹ steht für die philosophische Disziplin, die sich mit Moral als ihrem Gegenstand beschäftigt. ›Moral‹ steht für die entsprechenden tatsächlichen Überzeugungen, Urteile und Prinzipien von Menschen. 6
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Einleitung
kantischen Gattungstraditionalismus nennen kann. Kant verbindet eine inhaltliche Vorstellung von universalistischer Moral, d. h. die Achtung eines jeden Menschen als Menschen, mit der Vorstellung von der Gattungsallgemeinheit dieser Moral. Diese Verbindung wurde obsolet, da es offenbar keinen begrifflichen Zusammenhang zwischen dem Inhalt des moralischen Universalismus und der Idee von Gattungsallgemeinheit gibt, der noch für Kant selbstverständlich war. Der Riss im moralischen Bild des Menschen aber lässt keine Hoffnung auf apriorische Gattungsgewissheiten zu. Wie soll man mit dieser Konstellation umgehen? Gewiss nicht so, dass der verzweifelte Versuch gemacht wird, noch strukturelle oder »transzendentale« Argumente für die universalistische Moral zu finden. Vielmehr ist der Einsicht zu folgen, dass die universalistische Moral eine geschichtliche Möglichkeit unter anderen darstellt. Es gibt keine Vernunftgarantie für die universalistische Moral. Man muss sich angesichts von historischer Erfahrung eher fragen, ob und wie es jemals gelingen kann, die universalistische Moral universell akzeptabel zu machen. Natürlich ist die Identifikation mit der universalistischen Moral für uns, der Wir-Gemeinschaft, der ich mich zurechne, ein Akt geschichtlich-existenzieller Selbstdefinition, doch dieser Akt erklärt sich aus historischen Vermittlungen, in denen er sich bewegt. Die erste Vermittlung ist unsere moralische Verurteilung von Auschwitz und der Werte-Welt des Nazismus, der wir die universalistische Anti-These entgegenhalten, dass jedem Menschen derselbe moralische Status und derselbe Anspruch auf Achtung und dieselben moralischen Rechte zustehen. Die zweite Vermittlung besteht in der epochalen Entfaltung des Universalismus, der seit der Amerikanischen und Französischen Revolution Wirkungsmacht besitzt. Seit dieser Zeitenwende ist eine Universalisierungsdynamik in Gang, die moralische Selbstinterpretation von Menschen leitet (z. B. Antirassismus, Frauenemanzipation). Ich schlage vor, diese Universalisierungsdynamik aus der RealAndere terminologische Gebräuche werden im Lauf der Untersuchung erläutert.
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Einleitung
geschichte des Universalismus selbst zu verstehen und nicht aus apriorischen Vorbegriffen. Daher mein Begriff des historischen Universalismus. Der Nazismus kann in seiner Werte-Welt als der Versuch verstanden werden, einer sich sukzessiv entfaltenden Universalisierungsdynamik das Ende zu bereiten. Im Nazismus wird die aus der Amerikanischen und Französischen Revolution entstandene Tradition negiert. Wir bekennen uns zu dieser Tradition, indem wir den Nazismus negieren. In dieser Perspektive ergibt sich ein Wechselzusammenhang von Moral und Geschichte, bei dem die Dimension der Politik eine konstitutive Bedeutung gewinnt. Diese scheint den Schauplatz von epochalen moralischen Selbstdefinitionen im Guten wie im Schlechten abzugeben. Ich verzichte jedoch darauf, philosophische oder soziologische Globaldiagnosen heranzuziehen, die den Nationalsozialismus und Auschwitz aus einer »Dialektik der Aufklärung« oder Theorien »instrumenteller Rationalität« zu erklären suchen. Solche Zugangsweisen leiden sowohl an begrifflichen Mängeln als auch an dem Verzicht auf historische Detailforschung. 9 Ähnliches gilt für die von Giorgio Agamben vorgelegte biopolitische Deutung der Moderne, in deren Rahmen das Konzentrationslager zum »nomos« der Moderne wird. Doch wenn es um Auschwitz geht, beschränkt sich dieser Deutungsansatz auf die Anknüpfung an Hannah Arendts »Banalität des Bösen« und beschreitet den Weg eines Kommentars zu Primo Levi, wobei ethische Begriffsbildungen weitgehend zurücktreten. 10 Wie ich näher am Beispiel Adornos aufzeige, können gesellschaftstheoretische Globaldiagnosen dazu verleiten, sein Diktum »daß Auschwitz nicht sich wiederhole« hochzuhalten, ohne daraus Konsequenzen für die Politik zu ziehen. Dies ist ein systematisches Defizit, das aufgrund meiner Interpretation des nazisti9 Vgl. dazu kritisch treffend: M. Schäfer, »Die Rationalität, die Moderne und der Holocaust«, in: M. Dabag/K. Platt (Hg.), Genozid und Moderne, Bd. 1, S. 100–122. 10 G. Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002, Teil III, Kap. 7; ders., Was von Auschwitz bleibt, a. a. O.
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Einleitung
schen Gattungsbruchs und seiner moralischen Epochenbedeutung der Korrektur bedarf. Ehe ich mich dieser Korrektur im einzelnen zuwende (Teil 3), vertiefe ich die im ersten Teil erzielten Resultate in moralphilosophischer Hinsicht. Ich beziehe mich dabei auf die Diskussion der letzten Jahre zu Fragen der nationalsozialistischen Moral und erweitere die Problematik des moralischen Andersseins durch eine Betrachtung der Moral des Bolschewismus und die moralischen Katastrophen des Stalinismus. Sie macht deutlich, dass das moralische Universum der neueren Geschichte nicht als eine prinzipiell erreichbare Wohlordnung gedacht werden kann, sondern tiefgehende moralische Divergenzen aufweist. Der von mir im ersten Teil historisch verstandene Universalismus wird dadurch in seiner geschichtlichen Sonderstellung erneut ausgezeichnet. Es stellt sich die Frage, welche Begründungs- oder Rechtfertigungspotenziale dieser Universalismus noch für sich beanspruchen kann, wenn man historische Erfahrung ernst nimmt und sich von illusionären Begründungsprogrammen verabschiedet. Die Gesichtspunkte, die den Universalismus rechtfertigen, kongruieren mit der These eines metaethischen Pluralismus, in dessen Rahmen der Universalismus nur als historischer gedacht werden kann. Ich verstehe ihn als den eigentlich humanen Universalismus. Er presst das moralische Universum nicht in eine homogene Struktur, sondern lässt konträren moralischen Grundüberzeugungen als moralischen Überzeugungen Raum. Auch wenn man die Moralen des Nazismus wie des Bolschewismus und das moralische Anderssein ihrer Vertreter ablehnt, so kann ihnen der Status von moralisch handlungsfähigen Subjekten nicht entzogen werden. Weil das moralische Universum vielfältig ist, muss zwischen der deskriptiven Erschließung anti-universalistischer Moralen und ihrer normativen Ablehnung methodisch klar unterschieden werden. Je klarer die moralische Problematik der neueren Geschichte in den Fokus rückt, desto klarer sind die politischen Konsequenzen. Sie können für Menschen, die sich mit dem Universalismus identifizieren und die Verhinderung oder Eindämmung von Barbarei 20 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Einleitung
auf Dauer stellen wollen, nur zur Option auf tragfähige politische Institutionen führen. Der Verwerfung der nazistischen Moral und des Unrechtsstaats des Dritten Reichs entspricht die Institutionalisierung des moralischen Universalismus im demokratischen Verfassungsstaat. Deshalb verfolge ich im dritten Teil meiner Untersuchung, wie die geschichtliche Vermittlung der »Grundrechtsdemokratie«, die mit dem deutschen Grundgesetz einhergeht, zu sehen ist. Als besonders aufschlussreich erweist sich dazu der Vergleich mit der Verfassungstradition der Amerikanischen Demokratie und deren Charakterisierung als »dualistische Demokratie«. Ein solcher Vergleich zeigt nicht nur verblüffende Unterschiede auf dem Weg zu einer grundrechtsbasierten Verfassung, sondern zugleich den Stand und die Entwicklung des moralischen Selbstverständnisses von dominanten Gruppen eines Volks. Aus deutscher Erfahrung lässt sich so der lange Schatten von Auschwitz daran aufzeigen, dass die Grundrechte – im Unterschied zu Amerika – dem deutschen Volk in absoluter Setzung vorgegeben sind, nicht jedoch das Volk zu ihrer Quelle haben. Da Grundrechte das wesentliche Strukturmerkmal des demokratischen Rechtsstaats darstellen, ist es von besonderem Interesse, sich mit Theoretikern auseinanderzusetzen, die vor diesem Hintergrund Beiträge zum tieferen Verständnis von Grundrechten, zum Verhältnis von Grundrechten und Demokratie oder zur utopischen Fortschreibung der liberalen Demokratie geliefert haben. So müssen zur Verhinderung von Barbarei, die humanen Potenziale aufgezeigt werden, für die u. a. wichtige liberale Theoretiker eintreten. Zu diesem Zweck kommentiere ich Beiträge von Ronald Dworkin, John Rawls und Jürgen Habermas, die als exemplarisch gelten können. Insgesamt gilt, der historischen Verantwortung nach Auschwitz in verschiedener Hinsicht gerecht zu werden. Dabei geht es zum Einen um die Klärung von moralischen Maßstäben der kollektiven Verantwortung Deutschlands und deren praktischer Umsetzung. Zum Anderen geht es ganz allgemein um die Frage des Umgangs mit historischem Unrecht angesichts gravierender moralischer Desaster in der Geschichte, die in ihrer jeweiligen 21 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Einleitung
Besonderheit zu untersuchen sind. So markiert insbesondere die rechtliche Verarbeitung Versäumnisse wie Erfolge auf diesem Gebiet. Und nicht zuletzt ist eine angemessene Erinnerungskultur unverzichtbarer Bestandteil von historischer Verantwortung. Auf diesem Gebiet hat die Errichtung des Berliner HolocaustDenkmals neben historischen und kulturwissenschaftlichen Beiträgen ein markantes Zeichen gesetzt, das moralisches Geschichtsbewusstsein mit dem politischen Willen verbindet, Barbarei ein für allemal zu verhindern. Das Denkmal steht für die Erinnerung an die Opfer und betont seine epochale Bedeutung. Darüber hinaus dokumentiert die Entscheidung für das Denkmal das Selbstverständnis einer moralischen und politischen Identität, die sich den Brüchen der deutschen Geschichte stellt. Künftige Generationen sind aufgefordert, einen angemessenen Umgang mit der deutschen Geschichte zu wahren. Hinzu kommt die Bedeutung des Denkmals und anderer Erinnerungsorte für die gegenwärtige Auseinandersetzung mit nationalistischen bis neonazistischen Strömungen. Das betrifft nicht nur Deutschland, sondern auch Europa und andere Teile der Welt. Die politische Borniertheit und Intoleranz solcher Strömungen kann man nicht oft genug mit den Schreckensbildern der Geschichte konfrontieren.
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1. Moral oder die Absage an das schlechte Leben
Bei der Analyse der Bedeutung von Auschwitz für die Ethik, gilt es, den im Nazismus manifestierten Zusammenhang von Gattungsbruch und Gattungsversagen genauer zu erläutern und das Selbstverständnis des moralischen Universalismus begrifflich neu zu ordnen. Eine solche Neuordnung führt zu einer kritischen Hermeneutik von Moral (1.1). Der Begriff des historischen Universalismus steht so für ein angemessenes geschichtliches Verständnis von Moral. Er verweist auf die Spannung zwischen Geschichtsgebundenheit und Universalisierungsdynamik, die im Rahmen einer Realgeschichte des Universalismus erörtert wird (1.2). Die nazistische Transformationsmoral ist der Widerpart dieses universalistischen Standpunkts, der sich geschichtlich-existenziell zu bewähren hat und zu einer Konzeption von moralischer Zeitgenossenschaft führt (1.3).
1.1 Gattungsbruch oder der Riss im moralischen Bild des Menschen Zunächst ist es aufschlussreich zu sehen, wie die von Kant so selbstverständlich angenommene Voraussetzung eines geschlossenen moralischen Gattungsbegriffs hinfällig wird, wenn man Auschwitz als moralisches Geschehen untersucht.
Vom »radikal Bösen« zum Gattungsbruch Hannah Arendt verwendet Kants Begriff vom »radikal Bösen«, um das »Grauen der Konzentrations- und Vernichtungslager« zu
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Moral oder die Absage an das schlechte Leben
interpretieren. 11 Es geht ihr dabei darum, das Spezifische der »totalen Herrschaft« herauszuarbeiten, wo »wirklich das Wesen des Menschen auf dem Spiele steht«. Denn diese Art von Herrschaft offenbart, »ohne es eigentlich zu wollen, daß es ein radikal Böses wirklich gibt und daß es in dem besteht, was Menschen weder bestrafen noch vergeben können« 12 . Dieses radikal Böse entzieht sich einer Einordnung in das bislang zur Verfügung stehende moralische Vokabular: »So wie die Opfer in den Fabriken zur Herstellung von Leichen und den Höhlen des Vergessens nicht mehr ›Menschen‹ sind in den Augen ihrer Peiniger, so sind diese neuesten Verbrecher selbst jenseits dessen, womit jeder von uns bereit sein muß, sich im Bewußtsein der Sündhaftigkeit des Menschen zu solidarisieren.«
Die Protagonisten und Akteure der totalen Herrschaft des Nazismus haben eine Grenze überschritten, die jenseits eines nachvollziehbaren Begriffs von allgemeiner moralischer Vergleichbarkeit unter Menschen liegt und sprengen insofern herkömmliche Begriffe von Strafe oder Vergebung. 13 Was Hannah Arendt mit ihrer Interpretation des durch die totale Herrschaft aufgeworfenen moralischen Problems im Auge hat, wird meines Erachtens treffender in Begriffen einer moralischen Gattungskrise gefasst. Das Novum, das von ihr als radikal Böses bestimmt wird, gilt es, als solches herauszustellen und als Vgl. insbes. H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 682 ff. 12 Dieses und die beiden folgenden Zitate ebd., S. 701 f. Dass Arendt auch den stalinistischen Kommunismus unter dem Begriff der totalen Herrschaft analysiert, kann für den gegenwärtigen Zusammenhang außer Betracht bleiben. Vgl. jedoch unten 2.2: Bolschewistische Moral. 13 Neuerdings hat Jeremy Adler seine Kritik an der Neuedition von Hitlers »Mein Kampf« mit der Begriffsbildung des »absolut Bösen« im Anschluss am Kant und Arendt verbunden, weil sich das »absolut Böse« dem rationalen Verständnis entziehe. Diese Begriffsbildung ist vergleichsweise problematisch wie Arndts Begriff des »radikal Bösen«: J. Adler, Das absolut Böse. Zur Neuedition von Mein Kampf, Bremen 2018, S. 78. Das ist unabhängig von der kontrovers diskutierten Neuedition festzuhalten. 11
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Gattungsbruch oder der Riss im moralischen Bild des Menschen
moralischen Gattungsbruch zu beurteilen. Ein erster Ertrag dieser Begrifflichkeit zeigt sich bereits daran, dass Arendts Diagnose der philosophischen Tradition im Verhältnis zum radikal Bösen durch die Deutung des Gattungsbruchs noch transparenter wird: »Es liegt im Sinne unserer gesamten philosophischen Tradition, daß wir uns von dem radikal Bösen keinen Begriff machen können, und dies gilt auch noch von der christlichen Theologie, die selbst Satan noch einen himmlischen Ursprung zugestand, wie von Kant, dem einzigen Philosophen, der in der einzigen Wortprägung seine Existenz zumindest geahnt haben muß, wenngleich er diese Ahnung in dem Begriff des pervertiert-bösen Willens sofort wieder in ein aus Motiven Begreifliches rationalisierte. So haben wir eigentlich nichts, worauf wir zurückfallen können, um das zu begreifen, womit wir doch in einer ungeheuerlichen, alle Maßstäbe zerbrechenden Wirklichkeit konfrontiert sind.«
Die Voraussetzung eines geschlossenen, in sich homogenen moralischen Gattungsbegriffs, für den Erscheinungen des Bösen quasi nur ein Einordnungsproblem im Rahmen einer moralischen Grundkonzeption vom Menschen darstellen, gilt nicht mehr. Insofern bedeutet die Einsicht, dass mit dem Holocaust ein moralischer Gattungsbruch erfolgt ist, einen philosophisch gravierenden Einschnitt, der Kants Begriff vom »radikal Bösen« – entgegen dem verbalen Anschein – als eher harmlos erscheinen lässt. Zugleich steht Kant für einen Idealtypus von Ethik, der sich weiterhin an einem geschlossenen moralischen Gattungsbegriff orientiert. Es ist fraglich, ob eine solche Orientierung noch Sinn macht. Für Kant ist das Moralgesetz im Sinne des kategorischen Imperativs so tief in der menschlichen Natur qua Vernunftnatur verankert, dass auch »der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu brauchen gewohnt ist«, keine Möglichkeit hat, sich der vernünftigen Einsicht in seine moralische Bindung zu entziehen. 14 Alles, was ihn hindern kann, sind die Neigungen und I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe Bd. 4, S. 454. Zum Folgenden ebd. S. 455.
14
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Moral oder die Absage an das schlechte Leben
Antriebe der Sinnenwelt, von denen er sich jedoch lösen kann, indem er den »Standpunkt eines Gliedes der Verstandeswelt« einnimmt, dessen Maßstab der kategorische Imperativ ist. Als Glied der Verstandeswelt folgt der Mensch dem moralischen Gesetz dieses Imperativs, die jedem Menschen eine Würde attestiert, die grundsätzlich zu achten ist. Mit der Thematisierung des »radikal Bösen« in der Religionsschrift erfolgen weitere Differenzierungen, wenn sich auch an Kants Grundposition nichts ändert. Wie ist das Böse im Rahmen einer Konzeption zu denken, die mit ihrem starken Freiheitsbegriff einerseits die Autonomie des menschlichen Willens mit dem Moralgesetz gleichzusetzen scheint, andererseits aber den Spielraum der Abweichung von diesem Gesetz so weit fasst, dass es die Sittenwidrigkeit des radikal Bösen als eine willentlich gewählte Maxime deutet? In Kants Systematik kann das Böse nur in einer entsprechenden Maxime, »einer Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht« 15 , gründen. Der Begriff der »Freiheit der Willkür« umfasst die Orientierung am moralischen Gesetz ebenso wie die »Abweichung vom moralischen Gesetze«. Der Hang zum Moralisch-Bösen besteht somit »in dem subjektiven Grunde der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze«. Dieser Hang ist für Kant beim Menschen so tief verwurzelt, dass dieser geradezu als »von Natur böse« oder böse »in seiner Gattung betrachtet« genannt werden kann. Da er selbstverschuldet ist, können wir »ihn selbst ein radikales, angeborenes (nichtsdestoweniger aber von uns selbst zugezogenes) Böse in der menschlichen Natur nennen […]« Diese auf den ersten Blick starke und düstere These, die für Goethe einem »Schandfleck« gleichkam 16 , zieht Kant aus einer Kenntnis des Menschen durch Erfahrung. Die »Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Taten der Men-
I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Akademieausgabe Bd. 6, S. 21. Vgl. dort zu den folgenden Zitaten: S. 24, 29, 32 f., 35 f. 16 J. W. Goethe, Brief an Herder, Weimarer Ausgabe Bd. 10, S. 75. 15
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schen vor Augen stellt«, macht die Diagnose des radikal Bösen in der menschlichen Natur geradezu zwingend und macht einen »förmlichen Beweis« überflüssig. So konstatiert Kant die Grausamkeit der »Naturvölker«, die Laster der »Kultur und Zivilisierung« wie Falschheit, Hinterhältigkeit und Hass oder den »rohen Naturzustand« des Krieges »zivilisierte(r) Völkerschaften«. Diese empirisch in vielerlei Hinsicht feststellbaren üblen Taten von Menschen reichen ihm als Evidenz für seine These vom radikal Bösen in der menschlichen Natur aus. Zu Recht lässt sich einwenden, dass aus einer Reihe von Beispielen keine allgemeine These über die menschliche Natur abgeleitet werden kann und insofern besser nur von der Möglichkeit des radikal Bösen zu sprechen wäre. 17 Diese schwächere Annahme reicht ohnehin aus, um nachzuvollziehen, wie Kant den Hang zum Bösen im Rahmen seiner Systematik interpretiert. Einerseits hält er an der – wie man sagen könnte – Reinheit des Moralprinzips fest, andererseits schlägt er vor, die empirische Verderbtheit des Menschen im Sinne einer Verkehrung der sittlichen Ordnung zu verstehen. Dabei bleibt das Moralgesetz als solches tabu, denn der Grund des Bösen kann »nicht in einer Verderbnis der moralisch-gesetzgebenden Vernunft« bestehen. Sich vom Moralgesetz lossagen könnte nur eine »gleichsam boshafte Vernunft (ein schlechthin böser Wille)«, was jedoch das Subjekt zu einem »teuflischen Wesen« machen würde. Der Mensch kann zwar dem Hang zum Bösen folgen, doch nicht zugleich gegen das moralische Gesetz rebellieren, denn dieses »dringt sich ihm vielmehr kraft seiner moralischen Anlage unwiderstehlich auf«. Analog dazu redet Kant in der Metaphysik der Sitten davon, dass zu unterscheiden sei zwischen einem verbrecherischen Abweichen vom öffentlichen Gesetz und einem Verwerfen des Gesetzes selbst, das im Leitprinzip des kategorischen Imperativs gründet. Dementsprechend stellt Kant fest, dass es »sich schlechterdings nicht erklären (läßt) […] wie es aber dem Subjekt mög-
Ch. Schulte, Radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, München 1988, S. 83 ff.
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lich ist, eine solche Maxime wider das klare Verbot der gesetzgebenden Vernunft zu fassen.« 18 Die Schwierigkeit besteht darin, dass der Verbrecher die Gültigkeit des Gesetzes »vor seiner Vernunft nicht ableugnen kann«, und deshalb wäre eine gegen das Gesetz gerichtete Maxime »nicht bloß ermangelungsweise (negative), sondern abbruchsweise (contrarie) [ … ] als Widerspruch (gleichsam feindlich) dem Gesetz entgegen«. Somit lautet das Fazit: »Soviel wir einsehen, ist ein dergleichen Verbrechen einer förmlichen (ganz nutzlosen) Bosheit zu begehen, Menschen unmöglich, und doch (obzwar bloße Idee des Äußerst-Bösen) in einem System der Moral nicht zu übergehen.«
Eine »boshafte Vernunft«, die gegen den kategorischen Imperativ oder die Autorität des Gesetzes rebelliert, wird so allenfalls einem außermenschlichen Wesen (»teuflisch«) oder dem Menschen als Subjekt einer Grenzidee zugeschrieben. »Abbruchsweise« gegen die moralisch-rechtliche Vernunft vorzugehen, bleibt ausgeschlossen. Aus Kants Erklärung für den menschlichen Hang zum Bösen geht hervor, dass es das »radikal Böse« schon immer gegeben hat. Daher bedarf das von Hannah Arendt als Novum thematisierte Epochenereignis einer anderen Begrifflichkeit. Kants Erklärung lautet: Da das Moralgesetz dem Menschen »unwiderstehlich« durch seine Vernunft gegeben ist, ist es, wenn keine andere Triebfeder gegen es wirkt, jederzeit als hinreichender Beweggrund seiner Willkür und als oberste Maxime zugrunde zu legen. Da jedoch der Mensch gemäß seiner Natur ebenso der Sinnlichkeit verhaftet bleibt, integriert er diese Sinnlichkeit gleichfalls in seine Maxime (n). Würde der Mensch nur dem Moralgesetz folgen, wäre er moralisch gut; würde er nur der Sinnlichkeit folgen, wäre er moralisch schlecht. Die Spannbreite zwischen moralisch-gut und moralisch-schlecht ergibt sich aus den unterschiedlichen Antrieben, I. Kant, Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe Bd. 6, 321. Weitere Zitate ebd., S. 321 ff.
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durch die Menschen bei ihren Maximen geleitet werden. Der Hang zum Bösen erklärt sich daraus, dass der Mensch »die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt; da er aber inne wird, daß eines neben dem anderen nicht bestehen kann, sondern eines dem anderen als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfedern der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht«.
Die moralische Verfehlung besteht darin, dass das moralische Gesetz eine untergeordnete Rolle spielt, denn es müsste eigentlich »als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden.« 19 Die Verkehrung der inneren sittlichen Ordnung also ist es, was im menschlichen Hang zum Bösen steckt, und dieses »Böse ist radikal, weil es den Grund aller Maximen verdirbt«. Indem der Mensch der Versuchung erliegt, seinen Egoismus (Selbstliebe) der Achtung für andere Menschen überzuordnen, verstößt er gegen die moralische Ordnung. Aber gleichwohl gilt: Nicht das »Böse als Böses« ist Antrieb, denn das wäre »teuflisch«, vielmehr handelt es sich um eine »Verkehrtheit des Herzens«, die »mit einem im allgemeinen guten Willen zusammen bestehen (kann)«. Die »Gebrechlichkeit der menschlichen Natur« erklärt, warum die Menschen in der Befolgung der moralischen Grundsätze nicht stark genug sind. Bei Kants Begriff des radikal Bösen handelt es sich darum, sowohl den alltäglichen Erfahrungen von moralischer Verfehlung und Schwäche als auch besonders gravierenden Fällen von Unmoral im Rahmen einer Systematik gerecht zu werden, für die das Moralgesetz qua kategorischer Imperativ unverbrüchlich steht. Zugleich kann vor dem Hintergrund des kantischen Begriffs deutlich werden, worin eine weit radikalere Art des Bösen bestehen könnte: in der Aufkündigung des Moralgesetzes selbst, in 19
I. Kant, Die Religion, a. a. O., S. 36. Das Folgende ebd., S. 37.
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der Zerschlagung der Rahmenordnung des kategorischen Imperativs, in der Postulierung anderer Imperative oder anderer Werte. Der nazistische Impetus zur Schaffung eines »neuen Menschentums«, das einem anderen Gattungsbegriff folgt, zielt in diese Richtung. 20 Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass die Antithese zwischen universalistischer Gattungsmoral und nazistischem Gattungsbruch eine andere Lesart verlangt als die von Hannah Arendt gewählte. Der »pervertiert-böse Wille«, den sie anführt, um das exzeptionelle Geschehen des Holocaust zu thematisieren, ist von ganz anderer Art als Kants Begriff des radikal Bösen, der quasi einen Alltagsbegriff für eine Vielfalt schon vorliegender Phänomene darstellt. Die Art von moralischer Zäsur, um die es geht, kann nicht in eine Reihe mit den menschlichen Untaten gestellt werden, die Kant nur allzu gegenwärtig war. Demgegenüber scheint unabweisbar, als müsste man in einer nach kantischen Maßstäben paradoxen Weise in Richtung einer Maxime des Gattungsbruchs und der diesen definierenden Werte denken, um der besonderen Problemlage nahe zu kommen, in der, wie Hannah Arendt sagt, »das Wesen des Menschen« auf dem Spiel steht. Hannah Arendts spätere Begriffsbildung von der »Banalität des Bösen« bestätigt ihre begriffliche Verlegenheit. Mit einem Begriff wie dem des Gattungsbruchs – oder eines Äquivalents –, um das moralisch Extreme des Holocaust zu interpretieren, wäre sie weniger der Gefahr erlegen, aus Anlass der Auseinandersetzung mit Eichmann den verkürzenden Begriff von der Banalität des Bösen zu wählen. 21 Sie hätte dann – in meiner Terminologie – Das erkennt auch John Silber, der feststellt: »Kant’s ethics is inadequate to the understanding of Auschwitz because Kant denies the deliberate rejection of the moral law.« Silber, ein ausgewiesener Kenner Kants, verbindet das mit der Aufforderung: »Philosophers must remain at Auschwitz until the questions posed by the Holocaust are answered – or at least until they are explored to the limits of human understanding and the unscrutability of evil.« Zitate: J. Silber, »Appendix: Kant at Auschwitz«, in: ders., Kant’s Ethics, Boston/Berlin 2012, S. 332, 342. 21 H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1991. Die folgenden Zitate ebd., S. 318, 326. Ähnliches gilt 20
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den Unterschied zwischen »Gattungsbrechern« und »gewöhnlichen Verbrechern« zur Verfügung gehabt, um die Eindringlichkeit ihrer Analysen zu unterstreichen. 22 Nicht zuletzt verlangt ihre Charakterisierung der Nazi-Verbrechen als »Verbrechen an der Menschheit«, die Täter wie Eichmann zu »hostis generis humani« machen, geradezu nach einem Begriff wie dem des Gattungsbruchs. Die Wendung von der Banalität des Bösen trifft allenfalls einen Teilaspekt der umfassenderen Problematik 23 , welche die nicht-triviale Wertekonzeption des Nazismus im Rahmen seiner »Weltanschauung« als auch die Behandlung des banalen Verbrechertums berücksichtigen muss. 24 Nur dann zeigt sich, für G. Agamben (Was von Auschwitz bleibt, a. a. O., S. 71), für den die Entmenschlichung von Auschwitz in dem von Primo Levi beschriebenen »Muselmann« ihre »wahre Chiffre« findet. Doch Primo Levi ist weit mehr im Sinne des Gattungsbruchs zu lesen. Vgl. dazu A. Finkielkraut (Verlust der Menschlichkeit, München 2000, S. 7 ff., 132), der von einer Lossagung vom humanitären Zusammenhalt unter den Menschen spricht. Eine differenzierte Darstellung von Arendts Phasen der Auseinanderung mit Auschwitz und Eichmann, in der das Unabgeschlossene ihrer Deutungen betont wird, gibt: N. Berg, Der Holcaust und die westdeutschen Historiker, Göttingen 2003, S. 466–503. 22 Im Sinne dieser Klarstellung ist zu verweisen auf die Untersuchung von B. Stangneth, Eichmann vor Jerusalem, Zürich/Hambrug 2011. Durch die Aufarbeitung von Quellen aus seiner argentinischen Zufluchtszeit dokumentiert die Autorin nicht nur Eichmanns Eingeständnis des Judenmords, sondern seine antisemitische Mentalität. H. Arendt unterlag einer Fehleinschätzung zur Person Eichmanns. Das Fazit lautet: »Eichmann war Nationalsozialist und genau deshalb ein überzeugter Massenmörder.« (ebd., S. 396). Vgl. R. Hilberg, Unerbetene Erinnnerung, Frankfurt/M. 1994, S. 130: »Dieses Böse hatte nichts Banales.« 23 Vgl. insbes. E. L. Fackenheim, »The Holocaust and Philosophy«, in: The Journal of Philosophy, Vol. 82, 1985, S. 511 ff. Vgl. dazu J. McCumber, »The Holocaust as Master Rupture: Foucault, Fackenheim, and ›Postmodernity‹«, in: A. Milchman/A. Rosenberg (Hg.), Postmodernism and the Holocaust, Amsterdam/Atlanta 1998, S. 239–264. 24 Eine unbefriedigende Lesart zur Banalität des Bösen findet sich bei: S. Neiman, Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt/M. 2004, S. 440: »Das Böse banal zu nennen, ist daher keine Definition, sondern eine Theodizee.« Der Weg der Theodizee bleibt mir verschlossen. Zu diesem Punkt auch wenig überzeugend: B. Stangneth, Böses
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was eine illusionslose Reformulierung des moralischen Universalismus nach dem Gattungsbruch bedeutet. 25
Gattungsbruch und Gattungsversagen Um die Bedeutung von Auschwitz für die Ethik angemessen zu fassen, ist es aus meiner Sicht unerlässlich, in Kontakt zur historischen Holocaust-Forschung zu treten. Dabei kann es hier nicht darum gehen, die ganze Fülle vorliegender Forschungsarbeiten und ihrer Kontroversen auszubreiten, sondern wichtige Erträge der historischen Forschung in eine konstruktive Beziehung zu dem in Ansatz gebrachten moralphilosophischen Vokabular zu bringen. Dazu gehe ich dem Gattungsbruch im Kontext der historischen Forschung nach und thematisiere seine Dimensionen. 26 Zu Beginn beziehe ich mich auf Ausführungen von Yehuda Bauer, der für die Forschung den zentralen Stellenwert der nazistischen Ideologie betont, um zu einem Verständnis und einer möglichen Erklärung des Holocaust zu gelangen. Die »präzendenzlose Katastrophe«, die Bauer diagnostiziert, sieht er nicht in der Brutalität, mit der die Nazis und ihre Helfer vorgingen, sondern »vor allem in der Motivation der Mörder« 27 Deren MotivaDenken, Reinbek bei Hamburg 2016, S. 117: »Die Theorie von der Banalität des Bösen ist eine Theorie der Hoffnung, und genau darum schön. Sie ist Ausdruck der Überzeugung, dass es einen Zusammenhang zwischen Denken und Moral gibt [ … ]« 25 Zu Recht wird gelegentlich ein »Test der Philosophie« angesichts des Holocaust gefordert, der jedoch als Dialektik von radikalem und banalem Bösen zu kurz greift: A. Rosenberg/P. Marcus, »The Holcaust as a Test of Philosophy«, in: A. Rosenberg/G. E. Meyers (Hg.), Echoes from the Holocaust. Philosophical Reflections on a Dark Time, Philadelphia 1988, S. 216. 26 Für wichtige Hinweise in diesem Abschnitt danke ich Hann-Jörg Porath. Ebenso danke ich für den Text seines Vortrags am Jüdischen Historischen Institut Warschau vom 16. 5. 2003 (60. Jahrestag der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto): Die Endlösung der europäischen Judenfrage – ein kulturgeschichtlich bedeutsames Ereignis und ein kulturwissenschaftliches Erklärungsproblem. 27 Y. Bauer, Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer
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tion verweist seiner Meinung nach auf das ideologische Gedankengebäude, in dem die Nazis ihre Haltung zu den Juden definierten: »Es ist wichtig, sich [ … ] klarzumachen, dass die ›Judenfrage‹ aus der Sicht der Nazis kein deutsches, nicht einmal ein europäisches, sondern ein globales Problem von allergrößter Tragweite darstellte. Sie stellten sich die Befreiung der Menschheit von den Juden in pseudo-religiösen, messianischen Begriffen vor. Von der ›Lösung ‹ des Problems hing für sie die Zukunft der Menschheit ab.«
Auf diesen Zusammenhang zielt auch der Begriff des »Erlösungsantisemitismus«, von Saul Friedländer. 28 Der Einfachheit halber setze ich nazistische Ideologie mit nazistischer Weltanschauung gleich. Es gilt, die Quellen dieser Weltanschauung ebenso zu befragen wie die Voraussetzungen und Bedingungen dafür, dass diese Weltanschauung nicht nur eine Wert setzende Dominanz in ihrer unmittelbaren Anhängerschaft gewinnen konnte, sondern in der Lage war, mit einem hohen Grad an Akzeptanz Gesellschaft und Staat sowie die entsprechenden Institutionen zu durchdringen. Friedländers Begriff des Erlösungsantisemitismus verweist auf Hitler und die Nazi-Elite als den Trägern eines weltanschaulichen Kerns, der nicht mit den antisemitischen Auffassungen gewöhnlicher NSDAP-Mitglieder oder großer Teile der Bevölkerung und auch nicht mit dem »Radau-Antisemitismus« der SA zusammenfiel. Gleichwohl konnte sich die Nazi-Elite diese Auffassungen nutzbar machen und insbesondere auf die rassistisch-biologistischen Strömungen in der deutschen intellektuellen Elite (Univer-
Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen, Frankfurt/M. 2001, S. 42. Weitere Zitate im Folgenden S. 42, 59 f. Die Frage nach der Motivation ist auch leitend bei D. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996. Anerkennend und kritisch dazu Bauer, S. 123 ff. 28 S. Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1, insbes. Teil I, Kap. 3.
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sitäten) zurückgreifen. Richtungweisend für weitere Überlegungen halte ich Bauers Erklärungsansatz für den Holocaust: »Insgesamt scheint es also, als habe eine politische Elite von ›Lumpenintellektuellen‹ – von der pseudo-messianischen Vorstellung besessen, sie müßte die Menschheit vor den Juden retten, allerdings aus Gründen an die Macht gelangt, die wenig mit ihrem Rassismus zu tun hatten – eine breite Schicht von Intellektuellen, die die NaziUtopie aus vollem Herzen unterstützten, benutzt, um ihr Völkermord-Programm durchzuführen. Dieses Programm blieb weitgehend unwidersprochen, weil die antijüdischen Neigungen in der Bevölkerung – vom Unbehagen gegenüber Juden bis hin zum offenen, wenn auch nicht auf Mord zielenden Antisemitismus – der extremen, mörderischen Spielart des Antisemitismus den Weg bereitete und einen wirksamen Widerstand gegen den Völkermord verhinderte.«
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Analogie zwischen Marx’ Begriff des Lumpenproletariats und den deklassierten Randexistenzen der bürgerlichen Gesellschaft vom Schlage Hitlers soziologisch zu überzeugen vermag. Bauers Ansatz erfasst jedoch bereits das ganze Spektrum der Problematik, das vom weltanschaulichen Kern des Nazismus als Quelle des Gattungsbruchs über seine intellektuellen Unterstützer, Sympathisanten, Helfershelfer, Tolerierer und Beschweiger reicht. Man kann geradezu einen Bogen von der Wert setzenden Kraft des Nazismus bis zu der durch ihn ermöglichten Auflösung oder Verdrängung tradierter Werte spannen, um das moralische Geschehen zu deuten, das damit einhergeht. Für die Frage, aus welchen Hauptelementen die nazistische Weltanschauung besteht, dürfte die folgende Aufzählung als Diskussionsfolie unkontrovers sein: – Antisemitismus/Antijudaismus – Rassentheorie – Völkische Großraumkonzeption – Geschichtstheorie des Lebenskampfes zwischen Völkern/ Rassen – Utopie: »neues Menschentum«, neue Lebensform 34 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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Diese Elemente werden sehr kontrovers interpretiert und mit ganz unterschiedlichen Gewichtungen versehen, jedoch kann sie keine Deutung der nazistischen Weltanschauung unbehandelt lassen, und sei es auch nur, um Skepsis gegenüber einer Einheitlichkeit der nazistischen Weltanschauung anzumelden. So selbstverständlich die Stichworte des Antisemitismus, Rassismus und der nazistischen Utopie in Bauers Erklärungsansatz zum Holocaust auftauchen, so selbstverständlich gehören die völkische Großraumkonzeption und die damit einhergehende Geschichtstheorie vom Kampf der Völker zum Interpretationsgegenstand nicht nur der Schriften und Reden Hitlers 29, sondern ebenso der »politischen Theorie der SS«. 30 Gerade im Umkreis der SS gibt es Bemühungen, sowohl die Rassentheorie als auch die völkische Theorie der Geschichte »wissenschaftlich« zu etablieren, ganz zu schweigen von einer sich wissenschaftlich drapierenden Bevölkerungstheorie, die den politischen Entscheidungsträgern als »Politikberatung« zur Seite stand. 31 Insgesamt kann kein Zweifel bestehen, dass es an deutschen Universitäten eine große Bereitschaft gab, im Geist der nazistischen Weltanschauung zu forschen, sie wissenschaftlich zu unterlegen und ihr rationale Kohärenz zu verschaffen. 32 Damit komme ich zu Interpretationen, welche die nazistische Weltanschauung in einer moralischen Terminologie zu deuten versuchen. Einerseits lässt sich hier die These des Gattungsbruchs bekräftigen und andererseits zeigen, dass dieser Bruch mit einem Vgl. E. Jäckel, Hitlers Weltanschauung, Suttgart 1986. Hierzu U. Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Kap. III, Bonn 1996. 31 Vgl. G. Aly/S. Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt/M. 2001. 32 Vgl. zur Interpretation des Potenzials an »wissenschaftlicher« Rationalität im Kontext des Sozialdarwinismus, das die nazistische Weltanschauung in Anspruch nehmen konnte: P. J. Haas, »Science and the Determination of the Good«, in: J. K. Roth, Ethics after the Holocaust: Perspectives, Critiques, and Responses, St. Paul/Minnesota 1999, S. 49–59. Haas gewichtet zwar den szientistischen Strang zu stark, doch zielt er zu Recht auf das Problem eines epochalen moralischen Bruchs, das durch den Nazismus aufgeworfen wird. 29 30
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moralischen Transformationsprojekt korreliert, das eine epochale Zäsur darstellt. Die von Bauer betonte Relevanz der Ideologie (Weltanschauung) findet sich auch bei A. Margalit und G. Motzkin, die nach der Motivation der Mörder fragen. Sie belegen, dass die Nazis aus ideologischer Überzeugung die »gemeinsame Menschlichkeit der Menschheit« negierten. Demzufolge ist zu unterscheiden zwischen einer schwächeren Version des Rassismus, in der die Unterlegenheit bestimmter Rassen behauptet, die Voraussetzung einer einheitlichen Gattung aber nicht bestritten wird, und einer stärkeren Version, die für bestimmte Rassen die »Nichtzugehörigkeit zur Menschheit« propagiert. 33 Der Ausschluss der Juden aus der menschlichen Gattung wird so zur leitenden Vorstellung für den Holocaust. Diese Vorstellung bezeichne ich terminologisch als Gattungsnegativismus in Anlehnung an die Antithese zur Gattungsmoral nach kantischem Vorbild. Mit dem Begriff des Gattungsnegativismus lässt sich analog zur Rede von Rassismus zwischen einem gattungsneutralen (schwächeren) Antisemitismus und einem gattungsnegativen Antisemitismus unterscheiden. Damit greife ich das in der Forschung problematische Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus auf. Sicherlich gehört zur nazistischen Weltanschauung der Rassismus, doch die Juden scheinen noch nach anderen als rassischbiologischen Kriterien zum Zielobjekt von Verfolgung und Vernichtung erklärt zu werden. Diese Kriterien resultieren aus dem, was den Juden als »Ideen« zugeschrieben wird. So behauptet der Nationalsozialismus nach Margalit und Motzkin, dass »die Idee lediglich einer menschlichen Rasse eine jüdische Erfindung, Teil einer heimtückischen und verderblichen Kampagne der Juden für den Wert der Gleichheit (sei) […] Für diese Erfindung der einen Menschheit sollten die Juden bestraft werden.« A. Margalit/G. Motzkin, »Die Einzigartigkeit des Holocaust«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45/1997, S. 7 f. Zum Folgenden ebd., S. 9. Vgl. auch G. Motzkin, Hannah Arendt: »Von ethnischer Minderheit zu universeller Humanität«, in: G. Smith (Hg.), Hannah Arendt Revisited: ›Eichmann in Jerusalem‹ und die Folgen, Frankfurt/M. 2000, S. 177–201, ebd., S. 192.
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Wenn es aber entgegen dem verbalen Anschein statt des rassistisch aufgezogenen Antisemitismus eher um einen normativen Antijudaismus geht, der sich gegen die »jüdische Aufklärungsideologie des Universalismus« als »negativer Universalismus« wendet, um letztendlich die Bekämpfung jüdischer Ideen durch die physische Vernichtung der jüdischen »Rasse« zu betreiben, dann wird eine Spannung zwischen Antijudaismus und Rassismus sichtbar, die für die nazistische Ideologie eher das Problem aufwirft, dem normativen Antijudaismus eine konsistente rassentheoretische Grundlage zu verschaffen, als umgekehrt den Antisemitismus aus der Rassentheorie abzuleiten. 34 So ist der Versuch verständlich, den gattungsnegativen Antijudaismus aus der Verbindung der Rassentheorie zu lösen und seine Wertorientierung mit Hilfe anderer Komponenten der nazistischen Weltanschauung zu prüfen. Den stärksten Versuch in dieser Richtung hat Gunnar Heinsohn unternommen. Ich greife seinen Beitrag auf, um den nazistischen Gattungsbruch in den Zusammenhang eines moralischen Transformationsprojekts zur Überwindung herkömmlicher Moralvorstellungen zu stellen. Die These von Heinsohn lautet: »Ich vertrete die Auffassung, daß der Mord an den Juden aus Fleisch und Blut der Versuch gewesen ist, die Ethik des Judentums zu beseitigen, die ihren überwältigenden Kerngedanken in dem aus der Opferverwerfung resultierenden Recht auf Leben hat [… ] Hitler wollte letzten Endes das gesamte – also nicht nur das europäische – Judentum vernichtet sehen, weil er hoffte, daß mit dem Verschwinden der Juden auch die Thoragesetze des Lebensschutzes sowie der Diese Thematik bleibt bei Margalit/Motzkin in der Schwebe, so fruchtbar die von ihnen thematisierte Gattungsproblematik ist. Fraglich bleibt ihre weitere Argumentation, in der sie versuchen, über die Begriffe der Erniedrigung und Demütigung eine innere Widersprüchlichkeit der NaziKonzeption aufzuzeigen bzw. eine »nationalsozialistische Identität« zu konstruieren, die Erniedrigung zu einem ihrer zentralen Motive haben soll. Zweifellos haben Erniedrigung und Demütigung eine wichtige Rolle gespielt, doch bleibt zweifelhaft, welches Gewicht ihnen insgesamt für das moralische Transformationsgeschehen zuzuschreiben ist.
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Liebes- und Gerechtigkeitsgebote aus der Welt wären. Die Judenbeseitigung sollte das Recht auf Töten wiederherstellen. Auschwitz war ein Völkermord für die Wiederherstellung des Rechts auf Völkermord.« 35
Hitler war sich nach Heinsohn bewusst, dass die abendländische Moral ihre historische Grundlage im Judentum hat. Sein »Angriff auf die Heiligkeit des Lebens« resultierte aus seiner Überzeugung, dass das politische Leitziel der völkischen Lebensraumgewinnung, die eine »Ausmordung fremder Gebiete« vorsah, eine Transformation der moralisch-motivationalen Grundlagen verlangte. Daher bedeutet die »ungeheure Umwälzung der Moralbegriffe«, von der Hitler spricht, zugleich ein revolutionäres Erziehungsprogramm, dessen Vorhut die Totenkopfverbände der SS bildeten, die als Avantgarde für die »Austreibung des Gewissens und des fünften Gebots« zuständig waren. Mit dieser These argumentiert Heinsohn für eine innere Verbindung zwischen der mit einer Vernichtungsstrategie einhergehenden völkischen Großraumpolitik und dem Holocaust. Diese Großraumpolitik verlangt rücksichtsloses Vorgehen und gemäß Hitler, dass »Erwägungen von Humanität« beim geschichtlichexistenziellen Selbsterhaltungskampf der Völker und Rassen keine Rolle spielen dürfen. Trotz der rassistischen Sprache, derer sich Hitler und die Nazis gegenüber den Juden bedienen, ist jedoch der tiefere Grund ihres Antijudaismus in einem geistigen Kampf mit dem Judentum zu sehen, dem deutlich Ausdruck verliehen wird. 36 G. Heinsohn, Warum Auschwitz? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 18. Zum Folgenden ebd., S. 134 ff., 19 f., 135, 14 ff. 36 Heinsohn zitiert aus dem »politischen Testament« Hitlers: »Die jüdische Rasse ist vor allem eine Gemeinschaft des Geistes. Geistige Rasse ist härter und dauerhafter als natürliche Rasse. Der Jude [ … ] muß uns als ein trauriger Beweis für die Überlegenheit des ›Geistes‹ über das Fleisch erscheinen.« Ebd., S. 166. Auch Hermann Schmitz (Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, Kap. 7) arbeitet überzeugend die geistige Gegnerschaft heraus, die Hitler gegenüber den Juden leitet, und sieht Hitlers »Judenphobie« unabhängig von einer biologistischen Rassentheorie: »[ … ] im strengen Sinn war Hitler [… ] kein Antisemit.« Ebd., S. 346. 35
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Das Interessante an der These von Heinsohn besteht aus philosophischer Sicht darin, dass er eine Frage behandelt, die sich für die nazistische Ideologie – man könnte sagen unvermeidlicherweise – stellen muss: Wie verhält sich diese Weltanschauung aus Sicht eines Protagonisten oder Anhängers dieser Weltanschauung zur herkömmlichen Moral? Denn die nazistische Weltanschauung kommt nicht ohne moralische Werturteile aus, die sich nur in Beziehung auf ein herkömmliches moralisches Vokabular artikulieren lassen. Darüber hinaus lässt sich die Kohärenz einer Weltanschauung nicht ohne Einbindung des moralischen Bewusstseins der Menschen, an die sie sich wendet, vermitteln. Außerdem ist ein moralisch-motivationaler Zugang nicht nur für das Erziehungsprogramm von elementarer Bedeutung, sondern ist unerlässlich, um die revolutionäre Ideologie dauerhaft akzeptabel zu machen. Diese Frage kann man nur ignorieren, wenn man der Meinung ist, dass die Rechtfertigung, innere Kohärenz oder Akzeptanz ihrer Weltanschauung für Hitler und seine Anhänger ausschließlich ein Thema der Macht, Propaganda oder Gewalt darstellte. Das ist offenbar so wenig zutreffend wie die Auffassung, sehr viele Deutsche seien Hitler und den Nazis nicht freiwillig, sondern nur gezwungenermaßen gefolgt. Heinsohns These unterstreicht die Diagnose, dass die nazistische Weltanschauung das Projekt einer nazistischen Transformationsmoral impliziert, die auf eine Überwindung herkömmlicher moralischer Vorstellungen zielt und zugleich Wege finden muss, eine Neuorientierung akzeptabel zu machen. 37 Hinzu kommt, dass eine solche Neuorientierung in der langfristigen Zeitperspektive einer Utopie zu sehen ist, die ihre »Idee zu einer neuen Lebensform« sukzessive über Generationen hinweg umzusetzen beabsichtigt und ihre Vorstellungen über »wahren Sozialismus« Schon bei Hannah Arendt (Elemente und Ursprünge, a. a. O., S. 701) findet sich die Rede von der »Transformation der menschlichen Natur«, auf welche die totalitäre Ideologie ausgerichtet sei. Allerdings meint sie, dass die menschliche Natur aufgrund ihrer Beschaffenheit sich dem totalitären Prozess entgegenstelle. Hieran sind Zweifel angebracht.
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Moral oder die Absage an das schlechte Leben
nur in einer »völligen Umbildung des Menschen« für realisierbar hält. Diese Sachverhalte 38 unterstützen die von Hitler gestellte Erziehungsaufgabe für seine Bewegung und bekräftigen den Tatbestand, dass so etwas wie eine nazistische Transformationsmoral oder eine Konzeption von epochaler moralischer Transformation zum Kern der nazistischen Weltanschauung gezählt werden muss. 39 Der Begriff einer nazistischen Transformationsmoral lässt sich nicht von vornherein in einen festen Kanon fassen. Auch kann er nicht auf Hitler als Quelle – so wichtig diese ist – beschränkt werden, sondern muss für die nazistische Bewegung und ihre Wirkmächtigkeit insgesamt zum Thema werden. Aus methodischer Sicht ist der Begriff eine idealtypische Konstruktion im Sinne Max Webers, die ein analytisches Hilfsmittel darstellt, um bestimmte Phänomene der Wirklichkeit besser zu verstehen. 40 Dabei dient die historische Forschung als Leitfaden, wobei von einem
H. Schmitz, a. a. O., S. 359 ff. Eine nähere Auseinandersetzung mit der beeindruckenden Studie von Schmitz muss hier unterbleiben. Sie hätte die Frage zu behandeln, inwieweit die durch die Philosophie von Schmitz entfaltete »Neue Phänomenologie« eine haltbare Begrifflichkeit abgibt, um historische Vorgänge im Detail zu analysieren oder ob sie sich zu sehr der Kritik aussetzt, die historische Forschung philosophisch überbieten zu wollen. Vgl. zur Wichtigkeit von Erziehung: R. Zitelmann, Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs, Stuttgart 1991, S. 222 ff.; E. Syring, Hitler. Seine politische Utopie, Frankfurt/Main 1994, S. 188 ff. 39 Ganz explizit spricht auch J. Glover (Humanity. A Moral History of the Twentieth Century, London 2001, Teil VI) davon, dass das »Nazi-Experiment« darauf ausgerichtet ist, die Menschheit durch Transformation der Menschen neu zu schaffen und eine eigene moralische Identität zu konstituieren. 40 Vgl. M. Weber, »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, S. 192 ff. Wie Weber ausführt, dienen Idealtypen als analytische Konstrukte, die nicht in unmittelbarer Korrespondenz zur Realität zu sehen sind, sondern Perspektiven zur Organisation von empirischem oder begrifflichem Material bereitstellen. Es geht nicht um die Darstellung normativer Ideale, sondern um analytisch-deskriptive Merkmale. Auch von der Mafia kann in diesem Sinn ein Idealtypus gebildet werden. 38
40 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Gattungsbruch oder der Riss im moralischen Bild des Menschen
unabgeschlossenen Prozess fachbezogener Kritik und Korrektur auszugehen ist. 41 Die Frage nach der Diagnose des Gattungsbruchs im Kontext der historischen Forschung ergibt das folgende Zwischenresultat: Der moralische Gattungsbruch des Nazismus ist im Rahmen von dessen Weltanschauung zu sehen. Diese beinhaltet ein moralisches Transformationsprojekt des Menschen, zu dessen konstitutivem Bestandteil der antijüdische Gattungsnegativismus gehört. In diesem Sachverhalt liegt die »objektive Bedeutung« der moralischen Zäsur, die der Holocaust darstellt. Doch diese Zäsur hat noch eine weitere Dimension, denn die große Resonanz auf die nazistische Weltanschauung und ihr moralisches Transformationskonzept offenbart die Brüchigkeit oder Angreifbarkeit herkömmlicher Moralvorstellungen. 42 Dass der Nazismus große Teile der deutschen Bevölkerung ebenso wie gesellschaftliche und staatliche Funktionsträger oder die Wehrmacht durchdringen konnte, zeugt von einem ideologisch induzierten moralischen Transformationspotenzial, das weit über den engeren Kreis der »wahren Gläubigen« 43 oder den organisierten Nazismus in Partei und SS hinausging. Das antisemitische Vokabular von Hitler und seinen Gefolgsleuten 44 , sowie die sich sukzessive steigernden Praktiken der Diskriminierung, Entrechtung und Verfolgung der Juden nach der »Machtergreifung« 45 zeigen Für eine philosophisch orientierte Fragestellung kann dahingestellt bleiben, ob es Heinsohn gelungen ist, seine an Hitler angeschlossene These im Kontext der historischen Forschung gegen eventuelle Einwände durchzubringen. Ein Quellenproblem betrifft die Zuverlässigkeit der Aufzeichnungen von H. Rauschning (Gespräche mit Hitler, Wien 1988) und die Frage, diese Quelle und andere Belege abzusichern sind. Hierzu ergänzend: G. Heinsohn, »What makes the Holocaust a uniquely unique genocide?«, in: Journal of Genocide Research 2 (3) 2000, S. 426. 42 Vgl. U. Herbert, »Der Holcaust und die deutsche Gesellschaft«, in: K.-D. Henke (Hg.), Auschwitz, Dresden 2001, S. 19–36. 43 Ch. Browning, Die Entfesselung der »Endlösung«. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939–1942, München 2003, S. 605. Dort auch (S. 610– 617) zusammenfassend: »Die Deutschen und die ›Endlösung‹«. 44 Vgl. E. Jäckel, Hitlers Weltanschauung, a. a. O., Kap. 3. 45 Vgl. zur Judenverfolgung insgesamt: P. Longerich, Politik der Vernich41
41 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Moral oder die Absage an das schlechte Leben
deutlich, dass die nazistische Weltanschauung eine Option der physischen Vernichtung beinhaltete, die herkömmliche moralische Grenzen, wie sie der christlich-humanistischen Tradition oder Maßstäben der Weimarer Verfassung entsprachen, missachtete. Insofern besteht die »objektive Bedeutung« des moralischen Geschehens, das sich in der Unterstützung, sympathisierenden Begleitung oder wohlwollenden Tolerierung des Nazismus äußert, darin, dass die moralische Bereitschaft zu einem Gattungsversagen gegeben war. Es erklärt, warum sich die Bevölkerung nicht gegen die Tendenzen zur Vernichtung der Juden wehrte. Diese Deutung ergibt sich spiegelbildlich zur idealtypischen Betrachtung des nazistischen Transformationskonzepts. Denn es ist klar, dass sich aus dem antijüdischen Gattungsnegativismus die Vernichtungsoption ergibt. Die Nicht-Verweigerung gegenüber der Vernichtungsoption in Verbindung mit der Bereitschaft, den Gattungsnegativismus zu akzeptieren, kann als Gattungsversagen bezeichnet werden. Daraus ergibt sich, dass die moralische Bedeutung des Holocaust in einem Wechselzusammenhang von Gattungsbruch und Gattungsversagen besteht, der in dem nazistischen Transformationskonzept gründet. 46 Dieser Zusammenhang kann vielleicht helfen, die Tragik der jüdischen Opfer weiter aufzuklären. Raul Hilberg nimmt an, dass die Opfer in der »Zwangsjacke ihrer Geschichte« gefangen blieben, weil sie auf die Verfolgung und Vernichtung durch den Natung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998. 46 Es gibt Anlass, zu betonen, dass meine These nicht in der Behauptung besteht, die »Gattung habe versagt«, sondern – wie gesagt – darin, dass tendenziell die Bereitschaft bestand, dem Gattungsnegativismus nichts entgegenzusetzen. Gegen dieses und andere Missverständnisse meiner Auffassung, die A. Thyen unterlaufen (»Die Historisierung des Universalismus«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie Bd. 55, 2007, H. 6, S. 991) bietet gute Klarstellungen: Ch. Menke: »Kontingenz und Solidarität. Das Problem des Menschen in Rolf Zimmermanns Philosophie nach Auschwitz. Eine Replik auf Anke Thyen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie Bd. 56, 2008, H. 1, S. 155–158. Zur Vertiefung des Problems der nationalsozialistischen Moral vgl. unten 2.1.
42 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Gattungsbruch oder der Riss im moralischen Bild des Menschen
zismus größtenteils mit Anpassung und Beschwichtigung reagierten, was ihren zweitausendjährigen Exilerfahrungen entsprach. 47 Die Untauglichkeit solcher Verhaltensmuster liegt angesichts der Dimension des Geschehens auf der Hand. Doch welche Anstrengung an Selbstdistanz gegenüber der eigenen moralischen Identität wäre nötig gewesen, um aus Sicht der jüdischen Opfer nachvollziehen zu können, dass an ihnen mit der Gewalt eines moralischen Andersseins ein Gattungsbruch begangen wurde, der sie als menschliche Wesen negierte? Wäre es nicht geradezu einer Selbstverleugnung und dem Eingeständnis völliger Hoffnungslosigkeit gleichgekommen, wenn sie sich hätten eingestehen müssen, in einem völlig anderen moralischen Planetensystem gelandet zu sein? Weitere Differenzierungen und einige wenige historische Ergänzungen unterstreichen die Adäquatheit des gewonnenen analytischen Rahmens. Im Sinne einer Abstufung an Radikalität habe ich bereits oben auf die Variante des gattungsneutralen Antisemitismus – oder besser Antijudaismus – hingewiesen. Er impliziert zwar nicht zwingend eine exterministische Option, schließt aber in seinen verschiedenen Ausprägungen (kulturelle, religiöse, rassistische) schlimme Auswüchse an Repression bis hin zu Morden, Pogromen und Massakern ein und kann vom gattungsnegativen Antijudaismus vereinnamt werden. Wieweit die Goldhagen-These von einem in Deutschland weit verbreiteten »eliminatorischen Antisemitismus« zutrifft, kann jedoch hier offenbleiben. 48 Die verschiedenen Spielarten des Antijudaismus ermöglichten Verschiebungen nach Maßgabe der einen oder anderen Variante. Denn weder für den herkömmlichen Nazi noch für die intellektuellen Führungszirkel bestand von vornherein Klarheit darüber, wie die »Judenfrage« schließlich zu lösen sei. Auch bei Hitler lässt R. Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1982, S. 698 ff. 48 Vgl. D. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, a. a. O., S. 69. Zur Geschichte des Antisemitismus: M. F. Zumbini, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler, Frankfurt/M. 2003. 47
43 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Moral oder die Absage an das schlechte Leben
sich keine bruchlose Intentionslinie von seinen frühen Äußerungen zur »Entfernung der Juden« (1919) 49 bis zu Auschwitz feststellen. Klar ist jedoch, dass sich Hitler und die Nazi-Elite – in welchen Begriffen auch immer – die Realisierung der Vernichtungsoption im Sinn des gattungsnegativen Antisemitismus offenhielten. Dass in ihrem Umfeld »wissenschaftliche« Diskussionen darüber stattfinden konnten, ob die Rechtfertigung der Judenvernichtung in der »Andersartigkeit« oder »Anderswertigkeit« der Juden oder in beidem zu sehen sei 50 , dokumentiert die Wirkungsmächtigkeit der exterministischen Option. Dasselbe gilt im Hinblick auf die barbarische Sprache oder Einstellung der unmittelbaren Peiniger oder Mörder von Juden, die der Überzeugung waren, es mit »Tieren« oder Exemplaren einer anderen Spezies zu tun zu haben. 51 Wie weit diese Einstellung auch bei Parteimitgliedern ging, zeigen interne Berichte des Sicherheitsdienstes (SD) über Pogrome in Wien (1938) mit der für sie plausiblen Erklärung, die Parteiangehörigen hätten »den Augenblick zur endgültigen Liquidierung der Judenfrage« für gekommen gesehen. 52 Schließlich kann an den verschiedenen Phasen der Judenverfolgung und -vernichtung nachvollzogen werden, wie sich die exterministische Option nach und nach durch immer systematischere Vernichtungsaktionen konkretisierte und welche Schlüsselfunktion der »Judenpolitik« für das Selbstverständnis des Nationalsozialismus zukam. 53 Im Rahmen des Krieges blieb der nazistischen Utopie quasi nur noch ihre negative Grundbedingung: die Verfolgung und Vernichtung der Juden. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, auf ein Projekt zur »territorialen Endlösung« einzugehen, das stellvertretend für andere stehen mag – den »Madagaskar-Plan« in einer DenkE. Jäckel, a. a. O., S. 55. U. Herbert, Best, a. a. O., S. 285 f. 51 Vgl. S. Friedländer, a. a. O., S. 130; P. Levi, Ist das ein Mensch?, München 2001, S. 128. 52 P. Longerich, a. a. O., S. 193 f. 53 Vgl. G. Aly, »Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt/M. 1995; P. Longerich, a. a. O., S. 535 f., S. 577–586. 49 50
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schrift von Himmler (1940). Auch aus diesem Plan spricht der Geist des Gattungsnegativismus, 54 denn Madagaskar als Abschiebungsort für die »territoriale Endlösung« der Judenfrage haftet nur auf den ersten Blick ein Hauch von Humanität an. Auch wenn es richtig ist, dass Hitler diesem Plan zustimmte und Himmler zum damaligen Zeitpunkt die »physische Ausrottung […] als ungermanisch« ablehnte, so kann doch kaum ein Zweifel bestehen, dass die exterministische Option der »physischen Endlösung« im Rahmen der »territorialen Endlösung« aktualisiert worden wäre, falls das politische Kalkül des Madagaskar-Plans nicht aufgegangen wäre: das Offenhalten eines Friedensschlusses mit Großbritannien und die Möglichkeit, durch ein »Großgetto« das jüdische Volk gegen »feindselige Handlungen von Juden in USA gegen Deutschland« in Geiselhaft zu nehmen. Es gehört wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, was den »Geiseln« geschehen wäre, wenn die Realisierung dieses Plans nicht die gewünschten Resultate erbracht hätte, ganz abgesehen davon, dass in einem solchen »Großgetto« alle Möglichkeiten der sukzessiven physischen Vernichtung bestanden hätten. Die zentrale Bedeutung der »Judenpolitik« für die »Durchdringung der deutschen Gesellschaft« und später des europäischen Kontinents wird aus dem Gesamtkomplex der Judenverfolgung deutlich. 55 Das unterstreicht das Problem einer nazistischen Transformationsmoral, ohne die eine solche »Durchdringung« kaum umsetzbar erscheint. Die moralische Deutung des Holo-
Ebd., S. 273, Zitat Himmler: »Den Begriff Jude hoffe ich durch die Möglichkeit einer großen Auswanderung nach Afrika oder sonst in eine Kolonie völlig auslöschen zu sehen.« Vgl. G. Aly, a. a. O., Kap. IV. 55 So die Gesamtdeutung von P. Longerich, a. a. O., S. 17. Dazu ergänzend die neuere Untersuchung: P. Longerich, Wannseekonferenz. Der Weg zur ›Endlösung‹, München 2016: Auch mit der Deportation der Juden in den Osten wurde das erpresserische Ziel verfolgt, deren »Rassegenossen« in den USA von einem Kriegseintritt abzuhalten (ebd., S. 162). Zu unterschiedlichen Konzeptionen der »Endlösung« von Heydrich und Himmler sowie der entscheidenden Rolle Himmlers nach dem Tod Heydrichs ebd., S. 145–158. 54
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Moral oder die Absage an das schlechte Leben
caust als Komplementarität von Gattungsbruch und Gattungsversagen sehe ich somit in Einklang mit der historischen Forschung. Der Deutlichkeit halber füge ich hinzu, dass sich mein Begriff des Gattungsbruchs von dem Begriff des »Zivilisationsbruchs«, den der Historiker Dan Diner eingeführt hat, unterscheidet. 56 »Zivilisationsbruch« ist für Diner ein epistemischer, kein moralischer Begriff, auch wenn er vielfach moralisch rezipiert wird. Diner verweist mit seinem Begriff auf die Schwierigkeiten der jüdischen Opfer, wenn sie eine Erklärung für die Motive und Taten der Nazis suchten. Er macht darauf aufmerksam, dass das NS-Projekt zur Vernichtung der Juden verfolgt wurde, obwohl es eigenen ökonomischen Interessen widersprach und obwohl es Prioritäten der Kriegsführung beeinträchtigte. Diner sieht darin eine kognitive Inkohärenz der Nazis. Sie hätten Zweckrationalität und das Interesse an Selbsterhaltung zurückgestellt, beides Orientierungen, die in der Tradition der westlichen Zivilisation als selbstevident anzusehen seien. Die Nazis handelten jedoch nicht einfach irrational, sondern sie standen für eine Gegen-Rationalität. Dadurch wurden die Hoffnungen der Juden zunichte gemacht, durch effektive Arbeit für Ihre Unterdrücker eine Chance auf Rettung zu bekommen. Teilweise war das möglich, doch insgesamt gesehen war der Ausweg, sich durch Rückgriff auf die Rationalität des homo oeconomicus zu retten, versperrt. Dagegen macht mein Begriff des Gattungsbruchs deutlich, dass aufgrund des moralischen Andersseins der Nazis die von Diner benannte Gegen-Rationalität eine fatale innere Konsequenz aufweist. 57 D. Diner, »Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus«, in: Ders. (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Frankfurt/M. 1987, S. 62–73. 57 Auch Friedländer orientiert sich an einer vergleichbaren inneren Konsequenz, wenn er Diners »kognitiver Inkohärenz« entgegenhält, dass die anti-jüdischen Aktionen des NS aus der Einschätzung folgen, dass die Juden als »aktive Bedrohung« gelten: S. Friedländer, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945, Bd. 2, München 2006, S. 586. In einem neueren Aufsatz hat Diner die epistemische Bedeutung seines Begriffs bekräftigt. Zugleich kritisiert er Tendenzen, in denen das Exzeptionelle des Holocaust verwässert und in anthropologischen Betrachtungen über neue Phänomene des Bösen zu einer Ikone des Negativen stilisiert 56
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Abschied vom Gattungstraditionalismus Der Zusammenhang von moralischem Gattungsbruch und Gattungsversagen, mit dem uns das Geschehen des Holocaust konfrontiert, sollte Anlass dazu geben, die philosophische Begrifflichkeit des moralischen Universalismus als Anti-These zum Nazismus zu überdenken. Denn in dieser Begrifflichkeit muss sich nicht nur die moralische Empörung über den nazistischen Gattungsbruch ausdrücken, sondern auch so etwas wie die moralische Trauer darüber, dass mit dem eingetretenen Gattungsversagen das Gefüge eines geschlossenen moralischen Gattungsbegriffs, das für Kant noch so selbstverständlich war, erschüttert ist. Karl Jaspers, der noch in dieser Tradition steht, hat das Gattungsversagen aus der Sicht des unmittelbaren Zeitgenossen auf seine Weise artikuliert, wenn er aus der Ich-Perspektive von »metaphysischer Schuld« spricht: »Metaphysische Schuld ist der Mangel an der absoluten Solidarität mit dem Menschen als Menschen. Sie bleibt noch ein unauslöschlicher Anspruch, wo die moralisch sinnvolle Forderung schon aufgehört hat. Diese Solidarität ist verletzt, wenn ich dabei bin, wo Unrecht und Verbrechen geschehen […] wenn ich dabei war, und wenn ich überlebe, wo der andere getötet wird, so ist in mir eine Stimme, durch die ich weiß: daß ich noch lebe, ist meine Schuld […] Wir Überlebenden haben nicht den Tod gesucht. Wir sind nicht, als unsere jüdischen Freunde abgeführt wurden, auf die Straße gegangen, haben nicht geschrien, bis man auch uns vernichtete. Wir haben es vorgezogen, am Leben zu bleiben, mit dem schwachen, wenn auch richtigen Grund, unser Tod hätte doch nichts helfen können […] Unter unserer Bevölkerung waren wohl viele empört, viele tief ergriffen […] Aber noch mehr setzten ohne Störung ihre Tätig-
wird. Diese Kritik ist treffend und wird durch meinen Begriff des Gattungsbruchs unterstrichen: D. Diner, »Rupture in Civilization. On the Genesis and Meaning of a Concept in Understanding«, in: M. Zimmermann (Hg.), On Germans and Jews under the Nazi Regime, Jerusalem 2006, S. 33–48, ebd., S. 47.
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Moral oder die Absage an das schlechte Leben
keit fort […] als ob nichts geschehen sei. Das ist moralische Schuld […] Diejenigen aber, die in völliger Ohnmacht, empört, verzweifelt es nicht hindern konnten, taten wiederum einen Schritt in ihrer Verwandlung durch das Bewußtwerden der metaphysischen Schuld.« 58
Jaspers Unterscheidung zwischen moralischer und metaphysischer Schuld kann zwar nicht in seiner Begrifflichkeit aufrecht erhalten werden, da er es unterlässt, »Gott« als die Instanz der absoluten Solidarität des Menschen mit dem Menschen zu hinterfragen. Doch wichtig ist Jaspers Einsicht, dass es über die Dimension von unmittelbarer moralischer Schuld, Verantwortung oder Pflichterfüllung hinaus eine Dimension des moralischen Bewusstseins gibt, in der die moralische Bedeutsamkeit der Welt insgesamt zur Frage werden kann. Die moralisch-existenzielle Ausweglosigkeit stellt die Frage nach den Grenzen der Moral und der moralischen Unheilbarkeit der Welt, ihrer, wenn man so will, moralischen Unrettbarkeit. Und wenn man weitere Stichworte von Jaspers wie das Bewusstsein von »Versagen« und »Scham« berücksichtigt, ist es möglich, sich von seinem Begriff der metaphysischen Schuld zu lösen und seine Leitidee aufrechtzuerhalten. So kann die Verstörung des moralischen Bewusstseins, die durch den Wechselzusammenhang von Gattungsbruch und Gattungsversagen deutlich geworden ist, zu einer Verarbeitung der moralischen Bedeutsamkeit der Welt in veränderten Begriffen führen. Welche Rolle spielt die historische Erfahrung bei einer »Verwandlung« unseres moralischen Bewusstseins? Die »Verwandlung«, die ich vorschlage, besteht darin, der von Jaspers zum Ausdruck gebrachten moralischen Erschütterung dadurch Rechnung zu tragen, dass wir uns den moralischen Erfahrungen stellen und den Gattungstraditionalismus überwinden. Es bedeutet u. a. auch, die nazistische Transformationsmoral als ein moralisches Konzept einzustufen, das sich als ein solches erklärt oder verstehen lässt. Auch wenn dieses Konzept von uns, der anti-nazistischen WirGemeinschaft, abgelehnt wird, so scheint das Potenzial an GatK. Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946, S. 64 f., vgl. zum Folgenden S. 31 ff.
58
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tungsversagen, das es unter Beweis gestellt hat, kaum eine andere Wahl möglich zu machen. Insofern muss umso deutlicher der materiale Gegensatz zur universalistischen Moral herausgestellt und das Rechtfertigungspotenzial entfaltet werden, das für eine universalistische Moral spricht. Natürlich ist es möglich, auch weiterhin auf einem Gattungstraditionalismus zu beharren und auf dem humanen Kern der Moral, den das Desaster des Holocaust nicht erschüttert habe, zu bestehen. So verständlich und respektabel die Motivation für eine solche Position ist und so engagiert sie sich als Reaktion auf die Unmoral der nazistischen Transformation artikulieren mag 59 , es ist eine Position, die sich gerade auch unter Berücksichtigung der dargelegten moralischen Bedeutung des Holocaust auf kaum mehr als eine metaphysische Hoffnung stützen dürfte. Meines Erachtens erweist man dem humanen Paradigma Kants einen besseren Dienst, wenn man den moralischen Universalismus über Kant hinaus in einen allgemeinen Bezugsrahmen stellt, der diesen Universalismus als ein inhaltlich-moralisches Spezifikum in einem Spektrum von Möglichkeiten zu verstehen erlaubt. Andere Moralentwürfe sind real möglich, wenngleich inhaltlich konträr zu dem, was ich hier als unsere Moral unterstelle. 60 Das heißt: die Gattungsperspektive ist als Frage der Universalisierung des inhaltlich verstandenen moralischen Universalismus zu behandeln, indem man die kantischen Stichworte (Mensch als Zweck an sich selbst, Würde etc.) aufnimmt. Moralischer Universalismus impliziert nicht eo ipso moralische Gattungsallgemeinheit, wenngleich der Anspruch des moralischen Universalismus Vgl. insbesondere K.-O. Apel, »Zurück zur Normalität? Oder könnten wir aus der nationalen Katastrophe etwas Besonderes gelernt haben? Das Problem des (welt-) geschichtlichen Übergangs zur postkonventionellen Moral in spezifisch deutscher Sicht«, in: Forum für Philosophie Bad Homburg, Zerstörung des moralischen Selbstbewußtseins: Chance oder Gefährdung?, Frankfurt/M. 1988, S. 91–142. 60 Zu Recht trifft E. Tugendhat (Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 1993, S. 80) die Unterscheidung zwischen Kants inhaltlicher Moralkonzeption und seiner Begründungsstrategie aus der Idee der Vernunft, die strukturell die Gattungsallgemeinheit verbürgen soll. 59
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auf Gattungsallgemeinheit zielt. Diese These, die ich zunächst bewusst abstrakt formuliere, bietet sich aus der Einsicht in das Gattungsproblem des Holocaust an. Für Kantianer und vergleichbare Traditionalisten mag das wie ein Skandal klingen. So bleibt nur, in eine philosophische Argumentation einzutreten, die aufzeigt, wie problematisch es ist, den genuinen kantischen Gattungstraditionalismus weiter zu führen. Das kann hier nur exemplarisch geschehen. Dazu wähle ich die vieldiskutierte Ethik von Christine Korsgaard, um dem abstrakt gestellten systematischen Problem genauer nachzugehen. In der Familie des kantischen Gattungstraditionalismus steht Korsgaard zudem näher bei Kant als etwa die Diskursethik 61 , weil sie eine klassisch subjektorientierte Zugangsweise beibehält, um die Grundlagen der Moral herauszuarbeiten. Umso interessanter ist es daher, gerade an diesem Beispiel des Kantianismus zu demonstrieren, wie seine Intentionen nur in einem systematisch veränderten Bezugsrahmen, der in Einklang mit meiner These steht, aufrecht zu erhalten sind.
Von Kant über Korsgaard zur kritischen Hermeneutik von Moral Korsgaards Idee ist, einerseits einen Begriff von moralisch-praktischer Identität zu entwickeln, der über Kant hinausgeht und andererseits ihr kantisches Modell durch ein »transzendentales Argument« abzusichern, um zu demonstrieren, dass die Moral der Aufklärung schlicht wahr ist. Korsgaard versteht moralische Verpflichtungen als Verpflichtungen »gegenüber der Menschheit als solcher«. 62 Damit folgt sie Kants »Zweckeformel« des kategorischen Imperativs, nach der die Zur Diskursethik als einer politischen – nicht moralbegründenden – Ethik vgl. unten 3.2. 62 Ch. Korsgaard, The Sources of Normativity, Cambridge, 1996/2010, S. 91. Der besondere Stellenwert des Werks von Korsgaard wird dadurch unterstrichen, dass es in (der mir zuletzt zugänglichen) unveränderten 14. Auflage vorliegt. Verweise auf Seitenzahlen in Klammern beziehen sich im Folgenden auf dieses Werk. Übersetzungen R. Z. 61
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Menschheit in der Person eines jeden Menschen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel gebraucht werden darf. Zugleich ist für sie »Autonomie« der Ursprung von Verpflichtungen – ebenfalls analog zu Kant und dessen Vorstellung von der Autonomie des Willens, die zum Moralprinzip führt. Doch durch eine wichtige Unterscheidung grenzt sich Korsgaard von Kant ab: »Ich nenne das Gesetz, nur nach Maximen zu handeln, von denen du wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werden, den ›kategorischen Imperativ‹. Diesen unterscheide ich von dem, was ich das ›moralische Gesetz‹ nenne […] Kants Argument zeigt […], dass der kategorische Imperativ das Gesetz eines freien Willens ist, aber zeigt nicht, dass das moralische Gesetz das Gesetz eines freien Willens ist.« (S. 98 f.).
Wesentlich erscheint Korsgaard, den Bereich (domain), auf den sich das Gesetz des freien Willens beziehen muss, als den Bereich aller rationaler Wesen, zu bestimmen. Dieser Bezug ist nicht gegeben, wenn der freie Wille sich ein Gesetz gibt, das in egoistischer Manier ausschließlich auf den Bereich der eigenen Lebensplanung ausgerichtet ist. Gemäß Korsgaard muss der Handelnde sich selbst als »Bürger eines Reichs der Zwecke« verstehen, um als moralisch Handelnder bezeichnet werden zu können (S. 100). Anhand der Unterscheidung zwischen dem kategorischen Imperativ qua Gesetzgebung eines freien Willens und dem moralischen Gesetz qua Gesetzgebung eines freien Willens in einem Reich der Zwecke gelingt Korsgaard ein erster wichtiger Argumentationsschritt. Wie immer buchstabengetreue Kantianer dazu stehen mögen, es kann meines Erachtens kaum bezweifelt werden, dass Korsgaards kantische Variante eine Lesart darstellt, die sich aus Kant gewinnen läßt. 63 Vgl. Kant, Die Religion, a. a. O., S. 36, im Hinblick auf die oben dargelegte Verkehrung von Triebfedern: »Bei dieser Umkehrung der Triebfedern durch seine Maxime wider die sittliche Ordnung, können die Handlungen dennoch wohl so gesetzmäßig ausfallen, als ob sie aus echten Grundsätzen entsprungen wären.«
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Fragt man, was es heißt, sich als Bürger eines Reichs der Zwecke zu verstehen, so trifft man auf Korsgaards Begriff der »praktischen Identität«. Dieser besteht darin, dass ich mich unter einer Beschreibung verstehe, unter der ich mich selber schätze (value yourself), unter der ich mein Leben für lebenswert halte und meine Handlungen wert finde, ausgeführt zu werden (S. 101). Moralisch kann man nur handeln aufgrund einer Konzeption von praktischer Identität, zu der das Selbstverständnis gehört, Bürger eines Reichs der Zwecke zu sein. Anders als bei Kant wird diese Überlegung jedoch durch keine Zwei-Welten-Lehre gestützt, sondern in der Perspektive weltlicher Diesseitigkeit ausgeführt. So verweist Korsgaard auf die Komplexität von »Identitäten« in Gestalt verschiedener Rollen (Frau, Mann, Beruf, religiöse Mitgliedschaft, Zweierbeziehungen, Gruppen etc.), die jeweils Handlungsgründe und normative Verpflichtungen generieren, die elementar sind. Wendungen wie »ich könnte nicht mit mir weiterleben, wenn ich das täte« verweisen auf eine Grunddimension von praktischer Identität, auf die es ankommt. Diese herauszuheben kennzeichnet Korsgaards originellen Ansatz und ermöglicht es, den Begriff der Verpflichtung in Rückbeziehung auf den Begriff von praktischer Identität einzuführen und zu erklären: »Konzeptionen von uns selbst, die wir für am Wichtigsten für uns halten, lassen unbedingte Verpflichtungen entstehen. Denn diese zu verletzen, bedeutet, die eigene Integrität und daher Identität zu verlieren und so nicht länger der zu sein, der du bist. Das heißt, nicht länger fähig sein, dich unter der Beschreibung zu denken, unter der du dich selbst schätzt und dein Leben lebenswert findest und deine Handlungen wert, getan zu werden. Es ist, wie für alle praktischen Zwecke tot zu sein oder schlimmer als tot. Wenn eine Handlung nicht ohne Verlust eines fundamentalen Teils der eigenen Identität ausgeführt werden kann und ein Handelnder genauso gut tot sein könnte, dann ist die Verpflichtung, nicht so zu handeln unbedingt und vollständig. Wenn Gründe aus reflexiver Bekräftigung entstehen, dann entsteht Verpflichtung aus reflexiver Zurückweisung.« (S. 102)
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Aufgrund ihrer Verknüpfung von praktischer Identität und Verpflichtung kommt Korsgaard zu der Aussage, dass Verpflichtung dann »tief« (deep) zu nennen sei, wenn es um wirklich wichtige Dinge gehe. Unbedingte Verpflichtungen gibt es auch in Berufsrollen: Wer als Rechtsanwalt »Mandantenverrat« begeht, ist professionell »tot«. Dagegen sind Verpflichtungen »tief« nur bei wirklich wichtigen Dingen. Damit ist der relevante Begriff der praktischen Identität so weit erläutert, dass nun der entscheidende Schritt in der Argumentation von Korsgaard ins Auge gefasst werden kann. Mit Blick auf Kant stellt Korsgaard fest, dass sie zunächst Kants Idee der Selbstgesetzgebung des Willens als Quelle von Normativität freigelegt habe, weil die reflexive Struktur des menschlichen Bewusstseins verlange, dass man sich mit einem Gesetz oder Prinzip identifiziere, welches Handlungsentscheidungen leitet (S. 103 f.). Doch im Unterschied zu Kant ist nicht geklärt, mit welchem Gesetz oder Prinzip sich der Wille identifiziert. Diese Sachlage ergibt sich aufgrund von Korsgaards Unterscheidung zwischen dem kategorischen Imperativ und dem moralischen Gesetz sowie nach Maßgabe ihres Begriffs der praktischen Identität als Quelle von tiefer Verpflichtung. Der nächste Schritt liegt damit auf der Hand: Um nicht, wie Korsgaard meint, bei einem Relativismus (»relativism in the system«, S. 113) zu verharren, muss unsere moralische Identität quasi als die richtige Identität nachgewiesen werden. Diese Identität schließt – wie Korsgaard in historischer Reflexion hervorhebt – im Verständnis der Aufklärung die Beziehung zur Menschheit als solcher ein. Korsgaard muss nun zeigen dass der aufklärerische Begriff von moralischer Identität, der dem inhaltlich verstandenen moralischen Universalismus als einem Prinzip moralischer Selbstdefinition korrespondiert, für jeden Menschen zwingend ist, so dass sich jeder diesen Begriff zu eigen machen muss. Das führt zu Korsgaards »transzendentalem Argument«, demzufolge die Aufklärungsmoral »wahr« ist (S. 123). Doch wie sieht dieses Argument aus? Im wesentlichen lautet es wie folgt:
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Moral oder die Absage an das schlechte Leben
1. Um mir überhaupt praktische Identität zuschreiben zu können, muss ich über eine Konzeption von praktischer Identität verfügen. 2. Meine Konzeption von praktischer Identität, die meine Handlungsentscheidungen leitet, kann nicht aus partikularen Identitäten meiner selbst entspringen, da sie diesen partikularen Identitäten als Orientierung zugrunde liegt. 3. Die Grundorientierung meiner praktischen Identität als solcher, die Gründe bereitstellt, welche partikularen Identitäten meiner selbst mit ihr übereinstimmen oder nicht, resultiert aus meiner Identität als einem menschlichen Wesen, »einem reflektierenden Tier, das Gründe zu handeln und zu leben braucht« (S. 121). 4. Um also überhaupt Handlungs- oder Orientierungsgründe zu haben, muss ich »mein Menschsein als praktische, normative Form von Identität betrachten, d. h., mich als menschliches Wesen schätzen« (S. 121). 5. Wenn ich mich jedoch selbst aufgrund meiner bloßen Identität als menschliches Wesen schätze, dann muss ich jedes andere menschliche Wesen auch aufgrund seiner bloßen Identität als eines menschliches Wesen schätzen. 6. Ergo ist die Aufklärungsmoral wahr, weil ihre Konzeption von praktischer Identität darin besteht, jedem Menschen als solchem eine praktische Identität nur aufgrund seines Menschseins zuzuschreiben. Worin steckt nun der Fehler dieses Arguments? Darin, dass aus der menschlichen Fähigkeit, sich eine bestimmte praktische Identität zuzuschreiben, nicht folgt, dass diese Selbstzuschreibung dazu führen muss, sich als ein menschliches Wesen mit einer Identität als Mensch wie jedes andere menschliche Wesen zu verstehen. Alles was folgt, ist – und dieser strukturelle Punkt ist unproblematisch –, dass wir jeden Menschen so betrachten, dass er in der Lage ist, sich eine bestimmte Konzeption von Identität zu geben. Diese für jeden Menschen geltende strukturell-identische Fähigkeit, sich eine Identität zu geben, ist jedoch etwas anderes, als sich eine Identität als Mensch zu geben, die dem inhaltlichen
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Gattungsbruch oder der Riss im moralischen Bild des Menschen
Verständnis folgt, dass jeder Mensch in seinem Menschsein geschätzt wird. Jeder Mensch kann sich als ein Wesen verstehen, das sich eine Identität zu geben weiß und sich in dieser menschlichen Eigenart schätzt. Doch dies fällt nicht zusammen mit der Selbstzuschreibung einer praktischen Identität, in der jeder Mensch sein Menschsein so schätzt wie das Menschsein jedes anderen Menschen. Die qualitative Identität eines Wesens, das in der Lage ist, sich eine sich selbst schätzende Identität zu geben, ist zu unterscheiden von der qualitativen Identität eines sich selbst schätzenden Wesens, welches das Menschsein jedes Menschen schätzt. Diese Differenzierung wird in den Schritten von Korsgaards obigem Argument verwischt. Die Aufklärungsmoral ist nicht in dem Sinn wahr, in dem Korsgaard das behauptet. 64 Die von Thomas Nagel kritisierte »existentialistische Idee« 65 , der Korsgaard mit ihrem Begriff von praktischer Identität folgt, sehe ich jedoch nicht als Nachteil, sondern als Vorzug ihrer Position. Ihre Stärke liegt darin, dass sie die inhaltliche Seite der kantischen Konzeption deutlich herausstellt und damit das Selbstverständnis als »Bürger eines Reichs der Zwecke« als Problem der Verallgemeinerung in Termini praktischer Identität formuliert. Warum sollen alle Menschen diesem Verständnis von praktischer Identität folgen? Dieser Vorzug an Klarheit hat den Nachteil, dass Korsgaard ihr im Geiste Kants angestrebtes Beweisziel nicht erreicht. Aber auch diesem Nachteil lässt sich ein Vorzug abgewinnen. Denn nachdem sich herausstellt, dass die menschliche Fähigkeit, sich eine praktische Identität unter einem bestimmten inhaltlichen Selbstverständnis zuzuschreiben, als unproblematische strukturelle Voraussetzung anzusehen ist, verliert die Rede von »Selbstgesetzgebung« oder »Autonomie« bei der Konstitution von Normativität qua praktischer Identität ihre spezifisch kantischen KonnotaVgl. zur vorstehenden Kritik insbes. G. A. Cohen, »Reason, humanity, and the moral law«, in: Ch. Korsgaard, a. a. O., S. 181 ff. 65 Th. Nagel, »Universality and the reflective Self«, in: Ch. Korsgaard, a. a. O., S. 203. 64
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Moral oder die Absage an das schlechte Leben
tionen. Der Bezug auf das moralische Prinzip wird nicht aufgegeben, aber er verliert den Charakter der Notwendigkeit. Die Rede von Selbstgesetzgebung oder Autonomie wird so noch formaler als bei Kant. Sie bezieht sich nur noch auf die Fähigkeit, die eigene praktische Identität selbstbestimmt unter einem inhaltlichen Prinzip zu definieren, einem Prinzip, das für uns die universalistische Moral repräsentiert, das aber für andere Menschen anders bestimmt sein kann. Diese systematischen Korrekturen erlauben, auf Korsgaards Begriff der Verpflichtung unter anderen Gesichtspunkten zurückzukommen. Denn die »Tiefe« der moralischen Verpflichtung (vgl. oben) steht jetzt für die moralische Selbstbindung, die aus dem Selbstverständnis der eigenen praktischen Identität unter dem Prinzip der universalistischen Moral resultiert. Kants »Pflicht« wird so zur Selbstbindung unter diesem Prinzip. Der rationale Wille besteht – um mit Robert Brandom zu reden – darin, »verläßlich auf die eigene Anerkennung einer Festlegung (einer Norm, die einen bindet) zu reagieren.« 66 Als Gewinn der Auseinandersetzung mit Korsgaard ergibt sich, dass man bei der Frage nach der Grunddimension von Moral eine Differenzierung erreicht. Sie erlaubt einerseits die unproblematische Lesart struktureller Elemente (»praktische Identität«, »Autonomie«, »Verpflichtung«, »moralisches Prinzip«), lässt aber andererseits umso deutlicher erkennen, dass die inhaltliche Seite der praktischen Identität im Sinne eines an Kant orientierten Achtungsprinzips zwischen Menschen als Menschen ohne zwingende Ableitung bleibt. Damit lässt sich die Differenzierung in eine unproblematischstrukturelle und inhaltlich-spezifische Seite von Moral weiterführen. Denn nachdem klar geworden ist, dass ein inhaltlich nicht präjudizierender Begriff von Autonomie darin besteht, die eigene praktische Identität unter einem inhaltlichen Prinzip zu definieren, ergibt sich die allgemeine Frage nach einem Vergleich der unterschiedlichen Moralauffassungen: Durch welche praktische Selbstdefinition unter welchem Prinzip bestimmt die jeweilige 66
R. Brandom, Begründen und Begreifen, Frankfurt/M. 2001, S. 123.
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Gattungsbruch oder der Riss im moralischen Bild des Menschen
Moral das Verhältnis des einzelnen Menschen zu anderen Menschen? So selbstverständlich für uns die Antwort durch das kantische Achtungsprinzip ausfällt, das durch seinen Universalismus alle Menschen einbezieht und in jedem Menschen die »Menschheit« respektiert, so evident ist auch, dass nicht alle Menschen ihre praktische Identität unter diesem Prinzip definieren müssen und es faktisch auch nicht tun. Diese Menschen nehmen ihre Autonomie im Sinne ihrer Fähigkeit, die eigene praktische Identität selbst zu bestimmen, in anderer Weise wahr. Dagegen kann man nur inhaltlich, nicht mehr »formal« argumentieren. So gewinnt man aus der Kritik an Korsgaard eine Beschreibungsstruktur von Moral, die sich folgendermaßen liest: 1. Von jedem Menschen erwarten wir, dass er in der Lage ist, sich eine praktische Identität zuzuschreiben. 2. Die Zuschreibung einer praktischen Identität geschieht unter einer bestimmten Konzeption von praktischer Identität. 3. Konzeptionen von praktischer Identität definieren Prinzipien von moralischen Grundorientierungen, die das wechselseitige Verhältnis zwischen Menschen betreffen. 4. Das Prinzip unserer moralischen Grundorientierung besteht in der wechselseitigen Achtung der Menschen als Menschen. 5. Das Prinzip unserer moralischen Grundorientierung grenzt unsere Moral von anderen Moralauffassungen ab und konstituiert den Maßstab gegenüber allen anderen Moralauffassungen. 6. Ergo haben wir nur eine Chance, unser Moralprinzip als universell akzeptabel zu demonstrieren, wenn es uns gelingt, andere Moralauffassungen zugunsten unseres Moralprinzips zu entkräften. Diese Beschreibungsstruktur lässt sich als analytisch-hermeneutischer Rahmen betrachten, in dem einerseits das Spezifische unserer moralischen Position formulierbar ist und andererseits die Perspektive besteht, den moralischen Universalismus gegenüber anderen Moralauffassungen zur Geltung zu bringen. In diesem Beschreibungsrahmen stellt die idealtypische Konzeption einer nazistischen Transformationsmoral eine reale Möglichkeit zu einer Konzeption von praktischer Identität dar. Die mit Korsgaard über Kant hinausführende Rede von Selbstgesetz57 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Moral oder die Absage an das schlechte Leben
gebung und Autonomie lässt keinen anderen Schluss zu. Horribile dictu: Auch die nazistische Transformationsmoral ist eine Möglichkeit von Moral. Es ist eine rein terminologische Frage, ob man bei der Charakterisierung dessen, was ich als nazistische Transformationsmoral bezeichnet habe, das Wort »Moral« vermeidet und stattdessen von einem nazistischen Wertekonzept der menschlichen Transformation oder ähnlichem spricht. Im Sinne der Bedeutung des moralischen Problems, das dahinter steht, ist es zutreffender, bei der Rede von nazistischer Transformationsmoral zu bleiben. Denn damit wird die Abgrenzung gegenüber dem kantischen Achtungsprinzip transparenter und die nazistische Transformationsmoral negativ bewertet. Der analytisch-hermeneutische Beschreibungsrahmen ermöglicht beides, die Einordnung unterschiedlicher Moralauffassungen und ihre Bewertung. Zugleich kann in diesem Rahmen die triftige Einsicht von Korsgaard, das Verständnis von Moral auf eine »tiefe« Verpflichtung unter dem Begriff von praktischer Identität anzulegen, bewahrt werden. Diese »tiefe« Verpflichtung ergibt sich aus existenziellen Entscheidungsalternativen, aus denen die Relevanz von Moral und deren Härte spricht: Wenn die eigene praktisch-moralische Identität zu verlieren, bedeutet, »für alle praktischen Zwecke tot zu sein oder schlimmer als tot« (vgl. oben), dann kann Korsgaards existenzialistischer Kantianismus auch die Folie sein für die Einschätzung des moralischen Geschehens, in dem sehr viele Menschen eben nicht der Auffassung waren, es sei besser zu sterben, als unschuldige jüdische Menschen umzubringen. Vor diesem Hintergrund kann nun die kritische Hermeneutik von Moral in Grundzügen umrissen werden. Nach der analytischdeskriptiven Seite zeigt sich im Fall der nazistischen Transformationsmoral, dass es sich dabei um ein Gebilde handelt, das nur im komplexen Kontext der nazistischen Weltanschauung zu erfassen ist. Simplifizierende Stilisierungen des »Nazi« zum Zwecke moralphilosophischer Widerlegung enden leicht in Zirkularität. 67 So bei R. M. Hare, Freiheit und Vernunft, Frankfurt/M. 1983, Kap. 9. Treffend dazu E. Tugendhat, Dialog in Leticia, Frankfurt/M. 1997, S. 90 f.
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Gattungsbruch oder der Riss im moralischen Bild des Menschen
Der bessere Weg besteht darin, die Grenzen der rationalen Überbrückung unterschiedlicher Moralauffassungen klar zu benennen und zugleich über eine hermeneutische Erschließung zu erkunden, wo überhaupt Chancen zur argumentativen Erschütterung der Gegenseite liegen könnten. Aufgrund der Einbettung der nazistischen Transformationsmoral in die sie tragende Weltanschauung bietet diese den Ansatzpunkt, das Geflecht aus Antisemitismus/Antijudaismus, Rassentheorie, deutsch-völkischer Raumund Lebenskampftheorie sowie die Utopie eines »neuen Menschentums« (vgl. oben) wenigstens so weit zu entwirren, dass die dabei mitgeführten Voraussetzungen oder Theoreme angreifbar werden. Ob es dabei um die Fragwürdigkeit der »jüdischen Weltverschwörung«, den vermeintlich wissenschaftlich fundierten Sozialdarwinismus bzw. Ethno-Biologismus, das »Naturgesetz« eines Lebenskampfs der Völker oder andere Theoreme geht – es stellt sich offenbar in jedem Fall die Aufgabe, mit Hilfe von rationaler Kritik so etwas wie Schneisen in die Weltinterpretation der Gegenseite zu schlagen. Dass etwa die »Protokolle der Weisen von Zion« auf einer antisemitischen Fälschung beruhen 68 , der Darwinismus keine haltbare Grundlage für eine Sozialwissenschaft darstellt, hierarchische Rassentheorien naturwissenschaftlich nicht begründbar sind, es keine Naturgesetze des Lebenskampfs zwischen Völkern und auch keine Gesetze der Geschichte welcher Art auch immer gibt – über all diese Streitpunkte kann mit der Gegenseite argumentiert werden. Falls es überhaupt Sinn macht, mit einem Vertreter der nazistischen Transformationsmoral zu diskutieren, müsste der moralische Universalist versuchen, durch analytische und empirische Verobjektivierungen für eine Weltinterpretation zu votieren, die für die moralische Dimension als eigenständige Dimension eintritt, damit ein sinnvoller Streit über Prinzipien in Gang kommen kann. Auf diese Weise können Wissenschaften in
Vgl. zu dieser Quelle, ihrer Geschichte und Analyse: J. L. Sammons (Hg.), Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar, Göttingen 1998.
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Moral oder die Absage an das schlechte Leben
den Dienst der Moral genommen werden, natürlich nicht, um irgend etwas Moralisches wissenschaftlich »ableiten« zu wollen, sondern zur Verteidigung einer Weltinterpretation, die Argumentationsmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Moralauffassungen eröffnet. Das verweist auf Begründungsfragen, die im Rahmen epochaler Moralvergleiche weiter zu diskutieren sind (vgl. unten Kap. 2).
1.2 Moral und Geschichte: Historischer Universalismus Vor dem Hintergrund des aufgezeigten Gattungsbruchs und Gattungsversagens halte ich den Begriff historischer Universalismus für angemessen, um ein Verständnis für die Geschichtlichkeit von Moral zu gewinnen. Historisch ist der Universalismus in Abgrenzung von einem Gattungstraditionalismus, dessen apriorische Begründungsmodelle der Moral von Kant bis Korsgaard und zur Diskursethik reichen. Dem Inhalt nach ist gleichwohl an einem universalistischen Selbstverständnis festzuhalten, das sich reflexiv an der Frage orientiert, wie die inhaltlich-universalistische Überzeugung gegenüber anderen Moralauffassungen zur Geltung gebracht werden kann.
Was man von Richard Rorty lernen kann Ein Abgrenzungsproblem anderer Art, das lohnende Perspektiven eröffnet, wirft Richard Rorty mit seiner Position des »Ethnozentrismus« auf. Diese Position des »liberalen Ironikers« Rorty reflektiert nicht nur die Geschichtlichkeit von Moral, sondern sie zielt darüber hinaus auf eine enge Verbindung von Moral und Politik, die zutreffende Einsichten zu formulieren erlaubt. Den anstehenden Problemlagen jedoch wird das ethnozentrische Selbstverständnis nicht gerecht. Ich möchte daher zeigen, wie Rortys Ethnozentrismus ebenso wie das kantische Paradigma des Universalismus in der Konzeption des historischen Universalismus »aufgehoben« wird. Das unterstreicht die enge Beziehung 60 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Moral und Geschichte: Historischer Universalismus
von Moral und Politik im Rahmen einer Realgeschichte des Universalismus, die dessen Universalisierungsdynamik freilegt. Den Beiträgen von Richard Rorty zu Ethik und Politik wird man nur dann gerecht, wenn man sie als Versuch, die geschichtlich-existenzielle Situiertheit von Menschen zum radikalen Ausgangspunkt philosophischer Reflexion zu machen, ernst nimmt. Denn Rortys Kritik an den traditionell rationalistischen oder objektivistischen Positionen von Kant bis Korsgaard zielt nicht nur auf eine Destruktion von ahistorischen Begründungsgewissheiten im Rahmen des üblichen philosophischen Argumentationsspiels. Vielmehr kritisiert Rorty an den Varianten objektivistischer Moralphilosophie, dass sie moralische Erfahrungen aus der Geschichte in ihrer Relevanz und Tragweite nicht begreifen und daher moralischen Desastern mit verbrauchten rationalistischen Mustern begegnen. Wer dagegen einen schonungslosen Blick auf das moralische Drama der Geschichte, speziell der neueren moralischen Katastrophen, aushält, kann den Schwerpunkt ethischer Reflexion nicht mehr in objektiven Moralbegründungen sehen. Dieses Paradigma hat ausgedient und ist nach Rorty durch eine neue Sichtweise von Moral im Kontext geschichtlich-existenzieller Situiertheit zu ersetzen: »Es gibt, wenn man so will, nur das Urteil der Geschichte – dieser partikularen Geschichte, die zu uns führt, mit den praktischen Identitäten, die wir gegenwärtig haben.« 69 Diese »praktischen Identitäten« richten sich gegen Identitäten, die wir auf gar keinen Fall akzeptieren können, wodurch sich zugleich das moralische »Wir« konkretisiert: »Was die Diskussion über Juden, aber nicht was die Diskussion über Arithmetik oder Musik betrifft, ist unser ›Wir‹ ein anderes ›Wir‹ als das der Nazis. Das liegt daran, dass wir lieber sterben als unschuldige jüdische Kinder töten würden, während die Nazis (wie wir, um ein extremes Beispiel zu nennen, sagen wollen) lieber sterben wür-
R. Rorty, »Gefangen zwischen Kant und Dewey. Die gegenwärtige Lage der Moralphilosophie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 49/2001, S. 192.
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den, als den Führer zu verraten, indem sie die unschuldigen Judenkinder nicht umbringen. Wir haben, um mit Korsgaard zu reden, eine ›andere praktische Identität‹ als sie, das heißt: wir könnten, wenn wir genauso handelten wie sie, keine zusammenhängende Geschichte über uns selbst ersinnen und umgekehrt.« 70
Indem Rorty sehr konkret »unsere« moralische Identität gegen die Nazi-Identität abgrenzt, eröffnet er zugleich eine geschichtliche Perspektive für die Relevanz von Moral, die darin besteht, »dass wir aus dem Tod von Millionen das Bestmögliche machen, indem wir die Umstände, unter denen sie starben, als aufschlussreich betrachten, um künftiges Sterben zu verhindern. Es hieße, dass wir unsere Kenntnis der diversen Schlächter, die an den Schlachtbänken der Geschichte das Kommando hatten – also unsere Kenntnis von Personen wie Hadrian und Attila, Napoleon und Stalin, Hitler und Mao –, zur Verhütung ihrer Nachahmung benutzen.« 71
In dieser Perspektive kommt der engen Verbindung von Moral und Politik eine zentrale Bedeutung zu und wird zum primären Gegenstand der ethischen Reflexion, weil die »moralische Identität«, auf die es ankommt, darin besteht, »dass man Bürger eines liberalen Gemeinwesens ist.« 72 Was es heißt, die moralische Identität von Bürgern eines liberalen Gemeinwesens zu besitzen, zeigt sich daran, worüber man sich moralisch empört und wogegen man ist, z. B. gegen Nazismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, gegen die Unterdrückung von Minderheiten, Folter, die Benachteiligung von Frauen, gegen die Diskriminierung von Homo-
R. Rorty, »Erwiderung auf Udo Tietz«, in: Th. Schäfer/U. Tietz/R. Zill (Hg.), Hinter den Spiegeln. Beiträge zur Philosophie Richard Rortys, Frankfurt/M. 2001, S. 109. 71 R. Rorty, »Das Ende des Leninismus, Havel und die soziale Hoffnung«, in: ders., Wahrheit und Fortschritt, Frankfurt/M. 2000, S. 348. 72 R. Rorty, »Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie«, in: ders., Solidarität oder Objektivität?, Stuttgart 1988, S. 108. 70
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Moral und Geschichte: Historischer Universalismus
sexuellen etc. Insofern definiert Rorty unmoralische Handlungen durch das, »was wir nicht tun.« 73 Positiv ausgedrückt führt das auf ein Verständnis von »moralisch« im Sinne von »in etwa die praktische Identität haben, die wir teilen.« 74 Fragt man nach einer allgemeinen Charakterisierung der praktischen Identität des moralischen »Wir«, so gibt das Stichwort einer »Menschenrechtskultur«, die Rorty im Anschluss an Eduardo Rabossi »als ein neues und begrüßenswertes Faktum der Welt nach dem Holocaust« bezeichnet, die Orientierung vor. Dieses Faktum spreche inzwischen für sich selbst, so dass »der Gedanke einer Fundierung der Menschenrechte durch das Phänomen der Menschenrechte aus der Mode kommt und belanglos wird.« 75
Der Inhalt unserer Moral Die Rede vom Faktum der Menschenrechtskultur nimmt Bezug auf eine De-facto-Gemeinschaft von Menschen, deren moralisches Selbstverständnis dem Inhalt nach »universalistisch« ist, unabhängig von der jeweiligen speziellen philosophischen Interpretation. »Universalistisch« ist die angemessene Charakterisierung dieses Selbstverständnisses, weil sich das moralische Wir dieser Gemeinschaft gegen jegliche Art von Partikularismen definiert, mit anderen Worten, das Faktum der Menschenrechtskultur beruht auf einem universalistischen Menschenbild. Den moralischen Inhalt der Menschenrechtskultur zu vergegenwärtigen, gibt die Grundlage ab, um verschiedene Bedeutungen von »Universalismus« zu unterscheiden und Rortys kritische Intentionen zu würdigen. Zugleich kehrt in den folgenden Formulierungen die Aufnahme eines kantisch inspirierten Moralprinzips dem Inhalt nach wieder:
R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1989, S. 108. R. Rorty, Gefangen, a. a. O., S. 188. 75 R. Rorty, »Menschenrechte, Vernunft und Empfindsamkeit«, in: ders. Wahrheit und Fortschritt, a. a. O., S. 245. 73 74
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Jeder Mensch genießt den gleichen moralischen Status und ist in den Kreis moralisch zu achtender und moralischer Haltung fähiger Wesen aufzunehmen. Man kann auch sagen, jeder Mensch wird betrachtet, als komme ihm eine eigene Würde zu, die von anderen Menschen zu respektieren ist, so wie von ihm erwartet wird, dass er die Würde anderer respektiert. Dieses universalistische Anerkennungspostulat zwischen Menschen als Menschen, ein Postulat des universell gedachten interhumanen Respekts, kennzeichnet die allgemeine Idee des Universalismus. Wer diesem Postulat folgt, sieht z. B. davon ab, andere Menschen zu beleidigen, physisch zu bedrohen oder zu schädigen, rassistisch zu diffamieren oder wegen ihres Geschlechts zu diskriminieren. Der interhumane Respekt, den der moralische Universalismus fordert, bedeutet aus der Perspektive des einzelnen Individuums die Übernahme einer moralischen Selbstbindung und die Erwartung, dass andere dieselbe Selbstbindung übernehmen. Komplementär zur moralischen Selbstbindung steht die Selbstzuschreibung eines moralischen Rechts auf interhumanen Respekt. Daher ist es möglich, das universalistische Anerkennungspostulat im Sinne von abstrakten, individuellen Grundrechten auszudifferenzieren. Grundrechte definieren auf der Basis wechselseitiger Selbstbindung anerkannte Ansprüche und Garantien von Menschen gegenüber Menschen als Menschen. Als Kernpostulat des moralischen Universalismus kann man daher festhalten: Respektiere den anderen Menschen, wer immer sie/er sei, und achte ihre/seine Grundrechte! Diese Charakterisierung drückt in allgemeinen Worten das Selbstverständnis der De-facto-Gemeinschaft von Menschen aus, eine Gemeinschaft von Menschen, die nicht auf Intellektuelle oder Philosophen begrenzt ist, sondern alle Menschen umfasst, die sich – in welchen Sprachen und Worten auch immer – mit dem Kernpostulat des moralischen Universalismus identifizieren, auch wenn sie noch nie eine Zeile von Kant oder Dworkin gelesen oder die Grundrechtsartikel des deutschen Grundgesetzes studiert haben. Meine Formulierungen nehmen zwar indirekt auf diese Quellen Bezug, doch sind auch andere Varianten zur Formulierung des universalistischen Inhalts ohne weiteres möglich. Ent64 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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scheidend ist, dass der universalistische Geist bzw. Habitus des moralischen Wir klar zum Ausdruck kommt. Wer aus philosophischen Gründen die Rede von individuellen Grundrechten oder Menschenrechten ablehnt, mag eine andere Version des Universalismus vorschlagen, doch muss diese, wenn sie ernst genommen werden soll, wenigstens annähernde deskriptive Adäquatheit hinsichtlich der tatsächlichen Auffassungen und moralischen Praxis von Menschen erreichen. Prima facie spricht für die Verbindung des interhumanen Respekts mit der Begrifflichkeit der individuellen Rechte, dass der Universalismus in den Verfassungen und Rechtsordnungen der westlichen Welt Eingang gefunden und die Selbstinterpretation von Menschen in einer Sprache der Rechte mit dem nötigen kritischen Potenzial (»Gleiche Rechte für Frauen!«) stattgefunden hat. So ist auch die Sprache der Menschenrechte Bestandteil der UN-Deklaration von 1948 und den nachfolgenden Dokumenten auf internationaler Ebene bis in die Gegenwart. Zur Tradition des universalistischen Selbstverständnisses gehören die Geschichte der Englischen, Amerikanischen und Französischen Revolution, die zur Ausprägung eines universalistischen Selbstverständnisses beigetragen haben. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns auf diese universalistischen Traditionen beziehen, verbinden sich mit der Selbstverständlichkeit der von Rorty in Anspruch genommenen Menschenrechtskultur. Die inhaltlich-moralische Bedeutung dieser Kultur ist universalistisch, so dass insofern kein Gegensatz zu Rorty besteht. Das zeigt, dass Rortys Kritik am Universalismus nur darauf abzielt, verfehlte philosophische Theorien des Universalismus zurückzuweisen. Das führt auf eine sachgerechte Spezifikation unter verschiedenen Varianten des philosophischen Universalismus, um diejenige hervorzuheben, die der philosophischen Interpretation und Kritik am besten standhält. Rorty schließt allerdings eine solche Perspektive aus: »Der typische Universalist ist ein moralischer Realist, mithin jemand, der glaubt, dass moralische Urteile durch etwas in der Außenwelt Existierendes wahr gemacht werden. Wahr gemacht werden sie
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nach universalistischer Auffassung im Regelfall von inneren Wesensmerkmalen des Menschen als Menschen.« 76
In der Tat: Wenn man diesen objektivistischen Universalismus zum Definiens von Universalismus macht, bleibt nur, das Begriffsfeld des Universalismus zu verlassen und sich terminologisch anderweitig festzulegen. Rorty geht diesen Weg, indem er seinen »Ethnozentrismus« dem objektivistischen Universalismus gegenüberstellt, nicht ohne klarzumachen, dass der Gegensatz zu dieser Art von Universalismus »schon alles (ist), worauf mein ethnozentrischer Partikularismus hinausläuft.« 77 Mit dieser Auskunft scheint es ein Leichtes, Rortys kritische Intentionen als inhaltlich verstandenen Universalismus aufzunehmen und zugleich von den Varianten eines objektivistischen Universalismus abzugrenzen. Für meine Zwecke lassen sich zwei Spielarten des objektivistischen Universalismus unterscheiden, den formal-strukturellen Universalismus und den Essenz-Universalismus. Der formal-strukturelle Universalismus wird repräsentiert durch Namen, die bei Rorty immer wieder auftauchen: Kant, Apel, Habermas, Korsgaard etc. Bei allen Unterschieden ist für diese Variante charakteristisch, dass sie aus einer vorgängigen Struktur von Vernunft oder Sprache ein universalistisches Moralprinzip abzuleiten sucht. »Formal-strukturell« ist eine adäquatere Charakterisierung dieser Variante als »transzendental«, weil sie Habermas, der keinen Anspruch (mehr) auf transzendentale Begründungen erhebt, einzuschließen erlaubt. Nach der obigen Diskussion zu Korsgaard dürfte deutlich sein, dass der Versuch, ein »transzendentales Argument« für ein universalistisches Moralprinzip zu gewinnen, als äquivalent zum Aufweis einer Formalstruktur der universalistischen Moral anzusehen ist. Als Essenz-Universalismus lässt sich diejenige inhaltlich-objektivistische Variante bezeichnen, die auf Argumentationen über die Natur des Menschen, sei es in Gestalt eines Neo-AristotelisR. Rorty, »Feminismus und Pragmatismus«, in: ders., Wahrheit und Fortschritt, a. a. O., S. 295. 77 R. Rorty, Erwiderung auf Udo Tietz, a. a. O., S. 108. 76
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mus des objektiv guten Lebens, sei es in Gestalt eines »anthropologischen« Universalismus, zurückgreift. 78 Beide Varianten des objektivistischen Universalismus lassen sich mit Rorty als Theorien verstehen, die auf Wesensmerkmale des Menschen rekurrieren, d. h. auf vermeintlich objektiv ausweisbare Tatbestände, die auf philosophische Begriffsbildungen zu Natur, Vernunft oder Sprache führen. Mit dieser Klarstellung wird deutlich, dass ein nicht-objektivistischer Begriff des Universalismus formulierbar ist. Ich verstehe ihn inhaltlich als Resultat eines geschichtlichen Prozesses moralischer Selbstdefinition, der keinem irgendwie vorgezeichneten Wesensmuster des Menschen folgt, sondern sich allenfalls aus der besonderen geschichtlichen Konstellation erschließt. Damit ist zugleich einzuräumen, dass die Rechtfertigungsmöglichkeiten für den geschichtlich situierten Universalismus nurmehr indirekt sind: Die rationalen Potenziale philosophischer Argumentation sollten darauf konzentriert werden, die geschichtliche Unhintergehbarkeit des erreichten moralischen Niveaus zu verteidigen. Es geht darum, anti-universalistische Positionen in die Defensive zu zwingen, ohne sich der Illusion hinzugeben, dass das rationale Potenzial des Universalismus auf eine irgendwie prinzipiell zu gewinnende Lösung bei der Konfrontation von Moralauffassungen rekurrieren kann (vgl. oben Kap. 1.1). Daher also auch in Termini von Begründung: historischer Universalismus. 79 Der Vorteil dieser Begriffsbildung besteht einerseits darin, dass die Varianten des philosophischen Universalismus hermeneutisch Beispiele hierfür wären M. Nussbaum, Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt/M. 1999, Th. Rentsch, Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt/M. 1999. 79 Die umfassende Studie von Martin Müller nimmt meine Einordnung Rortys unter den Begriff des historischen Universalismus konstruktiv auf. Auch für Müller ist Rorty der inhaltlichen Orientierung nach universalistisch zu lesen und er schlägt im Rahmen einer breiten Diskussion zu Rortys »Ethnozentrismus« die Kennzeichnung »kommunitaristischer Universalismus« vor: M. Müller, Private Romantik, öffentlicher Pragmatismus? Richard Rortys transformative Neubeschreibung des Liberalismus, Bielefeld 2014, S. 489–494. 78
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auf die Interpretation der De-facto-Gemeinschaft universalistisch gesinnter Menschen bezogen werden können und andererseits die kritische Auflösung des objektivistischen Universalismus vollzogen wird. Indem dessen Strahlkraft sich sukzessive erschöpft, wird er gleichwohl als kultureller Beitrag zur Beförderung des Universalismus historisch »aufgehoben«, die universalistische Familienähnlichkeit respektiert und zugleich der historische Universalismus als künftig dominanter Zug favorisiert. Immerhin: Die Einlösung einer solchen Perspektive bleibt dem philosophischen Argumentationsspiel überlassen, bei dem sich zeigen wird, inwiefern im Einzelfall – so wie oben zu Korsgaard – Schwächen in der Beweisführung von Vertretern des objektivistischen Universalismus auftreten. So kann ein gelassener Blick auf den Stand der Kontroversen in der Familie der philosophischen Universalisten fallen, da es dem Prozess des philosophischen Argumentation überlassen bleibt, wie viele Generationen von Philosophinnen oder ihre Kollegen noch das Paradigma Kants oder seiner diskursethischen Nachfolger annehmen. Denn als Mitglieder einer De-facto-Gemeinschaft universalistisch gesinnter Menschen ändern wir nicht deshalb unsere moralische Überzeugung, weil gewisse philosophische Begründungen nicht tragen. Insofern beschreibt Rorty das Verhältnis von moralischer Faktizität und philosophischer Reflexion mit treffender Lockerheit, wenn er Habermas zwar als »fundamentalistisch« oder »metaphysisch« kritisiert, doch in aller Freundschaft hinzufügt, dieser Gegensatz sei »bloß philosophisch«. 80 Der philosophische Dissens mit den Vertretern des objektivistischen Universalismus ist im guten Sinn des Worts rein akademischer Natur, da es lediglich um das »Wie«, nicht um das »Ob« der Übereinstimmung mit der universalistischen Moral geht. Entsprechend ist Habermas’ Feststellung, universalistische Moral bedeute »gleichmäßiger Respekt gegenüber jedermann« 81 , nicht zu kritisieren, sondern nur die philosophische Begründungsstrategie, die er damit verbindet. R. Rorty, »Kontingenz, Ironie und Solidarität«, a. a. O., S. 120, 144, in: ders., Solidarität oder Objektivität?, a. a. O., S. 8. 81 J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M. 1996, S. 26. 80
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Entmenschlichung und moralischer Riss In Rortys Verständnis von Ethnozentrismus gibt es jedoch eine geschichtlich-existenzielle Dimension, die zu einem weit radikaleren Umdenken hinsichtlich philosophischer Fragestellungen führt. Damit verabschiedet sich Rorty von einem einheitlichen Bild des Menschen, weil das »Thema der Entmenschlichung« für ihn so etwas wie einen Riss im Bild des Menschen bedeutet. Dieser Riss wird z. B. daran sichtbar, »daß serbische Mörder und Vergewaltiger nach eigenem Urteil keine Menschenrechte verletzen. Es sind nämlich keine Mitmenschen, denen sie diese Dinge antun, sondern Muslime. Sie verhalten sich nicht unmenschlich, sondern sie machen einen Unterschied zwischen wirklichen Menschen und Pseudomenschen.« 82
Dieses Beispiel ist nicht isoliert zu sehen. Es gehört in eine Reihe von Prozessen der Entmenschlichung, von denen der Nazi-Terror gegen die Juden ein Extrem darstellt, aber zugleich den Blick auf andere Phänomene der Entmenschlichung in Gegenwart und Geschichte lenkt. So lassen sich neben der Polarität Mensch – Pseudomensch die Gegensätze Erwachsener – Kind zur rassistischen Diskriminierung (Weiße – Schwarze) ebenso einsetzen wie der Gegensatz Mann – Frau zur sexistischen Hierarchisierung von dem, was primär als Mensch oder nicht als Mensch gilt. Diese Phänomenologie der Entmenschlichung, die zeigt, wie aus universalistischer Sicht unerhebliche Unterschiede zwischen Menschen zu prinzipiellen Gegensätzen zwischen Mensch und Pseudomensch etc. gemacht werden, tragen für Rorty dazu bei, »[…] daß sich unsere Spezies zu der von einer Menschenrechtskultur dominierten ›planetarischen Gemeinschaft‹ verbindet […] (Es) nutzt gar nichts, im Anschluss an Kant zu sagen: Erkennt, daß das, was euch gemeinsam ist – eure Menschlichkeit – wichtiger ist als R. Rorty, Wahrheit und Fortschritt, a. a. O., S. 241. Folgende Zitate ebd., S. 257, 260.
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diese belanglosen Unterschiede. Denn die Leute, die wir zu überreden versuchen, werden erwidern, daß sie nichts dergleichen erkennen. Solche Leute fühlen sich moralisch gekränkt, wenn man vorschlägt, sie sollten jemanden, mit dem sie nicht verwandt sind, wie einen Bruder behandeln, einen Nigger wie einen Weißen, einen Schulen wie einen Normalen oder eine Gottlose wie eine Gläubige. Was sie kränkt, ist das Ansinnen, sie sollten Menschen, die nach ihrer Auffassung keine Menschen sind, wie Menschen behandeln. Sie glauben es einfach nicht, wenn ihnen von utilitaristischer Seite gesagt wird, alle von Angehörigen unserer biologischen Spezies empfundenen Annehmlichkeiten und Schmerzen seien im Hinblick auf moralische Erwägungen von gleicher Bedeutung, oder wenn ihnen von kantianischer Seite gesagt wird, die Fähigkeit zur Teilnahme an der Beratung über solche Erwägungen sei ausreichend für die Zugehörigkeit zur moralischen Gemeinschaft […] Diese Erwiderung ist nicht bloß ein rhetorischer Kunstgriff, und sie ist auch keineswegs irrational. Sie ist tief empfunden. Die Identität dieser Leute, die wir dazu überreden möchten, ebenfalls in unsere eurozentrische Menschenrechtskultur einzutreten, ist eng verknüpft mit ihrem Gefühl für das, was sie nicht sind.«
In dieser Diagnose steckt eine durch moralisch-historische Urteilskraft angeleitete Bestandsaufnahme, der das Vertrauen in ein einheitliches Bild des Menschen unter moralischen Gesichtspunkten verloren gegangen ist. Es wäre zu vordergründig, dagegen zu argumentieren, man könne dem Kantianer nicht vorhalten, dass er nicht in der Lage sei, durch schnelle Knock-downArgumente x-beliebige Rassisten auf der Straße zu überzeugen. Rortys Diagnose verliert auch dann nicht ihre Kraft, wenn man den Kantianern mehr Zeit und geeignete äußere Argumentationsbedingungen zugesteht. Wie immer Kantianer und andere Objektivisten es anstellen mögen – ihr Ansatz lebt von der durch nichts mehr gedeckten Unterstellung eines einheitlichen moralischen Bildes vom Menschen. Diese Unterstellung versagt angesichts geschichtlicher Erfahrungen von Entmenschlichung und kann allenfalls nur als Hoffnung bewahrt werden. Systematisch gesehen ist sie unbrauchbar und »altmodisch«. Der Riss im moralischen Bild 70 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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des Menschen, der Rorty bewegt, verweist uns auf eine tiefreichende Skepsis seines moralischen Ansatzes trotz aller sonstigen Leichtfüßigkeit und stilistischen Brillanz des »liberalen Ironikers«. So definiert er seine Position in der Antwort auf Habermas wie folgt: »[…] wir sollten eher retrospektiv, statt prospektiv verfahren: die Forschung sollte eher von konkreten Ängsten der Regression angetrieben werden statt von abstrakten Hoffnungen auf Universalität.«
Die »Furcht vor Rückfall in die Barbarei« 83 wird so zum Leitgedanken von Rortys praktischer Philosophie. Rortys Thema der Entmenschlichung und die Absage an ein einheitliches moralisches Bild des Menschen bestärkt meine obige Analyse des Gattungsbruchs und des Holocaust. In Übereinstimmung mit Rorty muss man erkennen, dass es für eine geschichtlich-existenziell angeleitete Hermeneutik des Moralischen den Menschen nicht mehr gibt. Die Bedeutung des »Menschlichen« muss jeweils erst erschlossen werden, weil die Gefahr des Rückfalls in Barbarei als reale Möglichkeit bestehen bleibt. Zugleich verweist die Auseinandersetzung mit Fakten der Entmenschlichung auf die Motivation, die sich in Konfrontation mit moralischen Desastern bilden kann. Durch die Erfahrung, wozu Menschen imstande sind, kommt es zu einer Identifikation mit einem absoluten moralischen Standpunkt, der definiert, wie Menschen auf gar keinen Fall miteinander umgehen dürfen. Was oben in Bezug auf den Inhalt des Universalismus positiv formuliert wurde, kann so als Votum gegen Unmenschlichkeit verstanden werden: Keinem Menschen darf der »Status des Menschen« bestritten werden, was positiv bedeutet, dass jeder Mensch ein moralisch zu achtendes und moralischer Haltung fähiges Wesen ist. Das Grundpostulat des Universalismus im Sinne des interhumanen Respekts ergibt sich so aus der Negation von Inhumanität. Dabei von einem R. Rorty, »Response to Jürgen Habermas«, in: R. Brandom (Hg.), Rorty and his Critics, Oxford 2000, S. 61. Übersetzung R. Z. Vgl. auch R. Rorty, Response to Robert B. Brandom, ebd., S. 188.
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absoluten moralischen Standpunkt zu sprechen, ist völlig konsistent, auch wenn nicht der objektivistische Universalismus leitend ist. Denn dieser Standpunkt ist der einer praktisch-existenziellen Selbstdefinition, die sich mit geschichtlicher Erfahrung auseinandersetzt. Es ist die Absolutheit des »Hier stehe ich, ich kann nicht anders!« 84 Oder noch besser: »Ich will nicht anders!« Mit Rorty weitet sich der Blick auch auf andere moralische Katastrophen. Probleme der Entmenschlichung und die epochale Inhumanität sind nicht nur auf den Nazismus zu beziehen. Ohne die Besonderheit von Auschwitz in Frage zu stellen, müssen die Verbrechen des Kommunismus in vergleichbarer Weise diagnostiziert werden. Vorab sei nur skizziert, was noch über die Verbindung von Entmenschlichung und bolschewistischer Moral zu untersuchen ist (siehe 2.2). Der bekannte polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski spricht hinsichtlich des Gulag und der Völkermordpraxis des Stalinismus in eindrucksvoller Weise vom »Ende aller Zivilisation« als vom »Ende aller Vorstellungen vom Menschen«. 85 In dieselbe Richtung gehen historische Forschungen, die den »Klassen-Genozid« Stalins und anderer Vertreter kommunistischer Herrschaft in eine epochale moralische Menschheitsbilanz einstufen. 86 Joachim Gauck stellt fest: »Wir stehen vor gigantischen Menschheitsverbrechen, und bei allem Streit um Definitionen darf nicht verkannt werden, dass neben dem Nationalsozialismus auch mit dem Kommunismus in diesem Jahrhundert ein Qualitätssprung ins Negative erfolgt ist.« 87
Das Phänomen, dass bestimmten Volksgruppen, z. B. den Kulaken, der »Status des Menschseins« abgesprochen wurde, um sie Vgl. R. Rorty, Hoffnung statt Erkenntnis. Eine Einführung in die pragmatische Philosophie, Wien 1994, S. 83. 85 A. Szczypiorski, »Das Ende aller Zivilisation«, in: DIE ZEIT, 24. 3. 1995, S. 64. 86 St. Courtois et al., Das Schwarzbuch des Kommunismus, München/ Zürich 1998. 87 J. Gauck, »Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehmung«, in: Courtois, a. a. O., S. 885–894, ebd. S. 892. 84
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gezielt zu vernichten, veranschaulicht die Problematik. Es liegt daher nahe, analog zur Erforschung des Nazismus nach den Motivationen der stalinistischen und anderer kommunistischen Eliten in der jeweiligen geschichtlichen Konstellation zu fragen. Eine vergleichende Moralbetrachtung kann klären, inwieweit die kommunistischen Verbrechen einer Transformationsmoral zugeordnet werden können und was sie im einzelnen beinhalten. Die Bearbeitung des Themas der Entmenschlichung liefert daher triftige Argumente, um Rortys Position als geschichtlichexistenzielles Paradigma der Moralphilosophie zu würdigen. Der »Ethnozentrismus« übt radikale Kritik an den Moralbegründungen und Diskursen des objektivistischen Universalismus und dessen Voraussetzung eines nicht in Frage zu stellenden einheitlichen Bildes vom Menschen, das immer schon alle Menschen umfasst. Man kann auch sagen, der objektivistische Universalismus arbeitet mit einer Vorstellung vom Menschen in einem quasi homogenen moralischen Universum. Deshalb reagiert der objektivistische Universalismus auf das Thema der Entmenschlichung traditionalistisch-konventionell: Die Negierung der Inhumanität soll durch den Nachweis einer objektiv-rationalen Moral ein für alle Mal garantiert werden, so dass man die Unmoral der Entmenschlichung als Irrationalismus oder als partikularistische oder subjektivistische Verirrung diagnostizieren kann. In diesem gedanklichen Szenario kann jedoch auch die schlimmste Unmoral das einheitliche Bild des Menschen nicht erschüttern. Der Nazismus wird so in der Perspektive einer Irrationalität von gigantischen Ausmaßen wahrgenommen, nicht aber als Infragestellung des einheitlichen Bildes vom Menschen bzw. als Riss im Bild des Menschen. Und in analoger Weise gilt dies auch für andere Erscheinungen der Entmenschlichung. Dieses gedankliche Szenario wird von Rorty ad acta gelegt. Die Erkenntnis, dass die geschichtlich-moralische Erfahrung das Beharren auf einem einheitlichen Menschenbild nicht mehr zulässt, kehrt die Blickrichtung um. Unsere moralisch-existenzielle Selbstdefinition steht nicht mehr unter dem Vorzeichen einer bruchlosen Universalisierungshoffnung. Auch wenn sich unser moralischer Standpunkt nur inhaltlich als universalistisch ver73 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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steht, haben wir ein Universalisierungsproblem eben dieses inhaltlichen Standpunkts. Dem widerspricht nicht, sich um die inhaltliche, möglichst universelle Verbreitung von universalistischer Moral zu bemühen, obwohl man dabei auf die tröstenden Gewissheiten des objektivistischen Universalismus verzichten muss. Auch in der philosophischen Betrachtung kann die Ausweitung der universalistischen Moral nur mehr als Erschließungsprozess verstanden werden, in dem eine Abwehr der Entmenschlichung erst noch zeigen muss, ob jemals wieder ein einheitliches Bild des Menschen angenommen werden kann. Diese Lesart von Rortys geschichtlich-existenziellem Paradigma entspricht der Auflösung des kantischen Gattungstraditionalismus, zu der meine Reflexion des Holocaust geführt hat. Insofern lässt sich der objektivistische Universalismus durch seine petitio principii eines einheitlichen moralischen Bildes vom Menschen charakterisieren. Der historische Universalismus enthält jedoch keine solche petitio, sondern entfaltet die universalistische Perspektive anhand einer kritischen Hermeneutik von Moral. 88
Realgeschichte des Universalismus und Universalisierungsdynamik Die Voraussetzung eines einheitlichen moralischen Bildes vom Menschen kann man auch durch die Vorstellung wiedergeben, es gebe so etwas wie einen immunen moralischen Kern im Menschen, der durch keine Geschehnisse in der Welt zerstört werden kann. Nachdem sich diese Vorstellung als hinfällig erwiesen hat, ist es Sache eines historischen Universalismus den geschichtlichen Vermittlungen nachzugehen, in denen sich ein universalistisches Selbstverständnis herausbildet. So verweist dieser Prozess auf die Realgeschichte des Universalismus mit ihren epochalen PrägunAuch Martin Seel spricht von einer geschichtlich verstandenen Frage nach dem »Guten Leben« im Sinne eines »Universalismus des Guten«, der mit meinem historischen Universalismus übereinstimmt: M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt/M. 1995, S. 82.
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gen und Umbrüchen, die zu einem universalistischen Selbstbild des Menschen geführt haben. Umso mehr erschließt sich daraus die moralisch-geschichtliche Weltbedeutung des nazistischen Versuchs, einer sich sukzessive entfaltenden Universalisierungsdynamik ein Ende zu bereiten. Den angemessenen Einstieg in die Realgeschichte des Universalismus liefern geschichtlich-politische Zäsuren wie die Amerikanische und Französische Revolution. Denn die moralischpolitischen Selbstdefinitionen dieser Revolutionen prägten nun ihrerseits ganz wesentlich das moralische Selbstbild der letzten Jahrhunderte und die Entwicklung von Formen konstitutioneller Demokratie. Für diese Selbstdefinitionen wie sie in Gestalt der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 vorliegen, sind sowohl das Pathos und Weltbewusstsein einer neuen Zeit als auch die handfesten Krisensituationen zu beachten, aus denen die Deklarationen hervorgingen. Mit teils religiös, teils naturrechtlich inspirierten Definitionen der »unveräußerlichen Rechte aller Menschen« setzen sich Menschen gegen konkret empfundenes Unrecht und Benachteiligung zur Wehr und erreichen, dass sich ihnen dominante Menschengruppen anschließen. Es sind Vorgänge komperativischer Universalisierung, denen weitere Universalisierungsschübe folgen. So wehrten sich z. B. die nordamerikanischen Kolonien gegen die Bevormundung und Unterdrückung durch die britische Krone anlässlich einer willkürlich erscheinenden Steuergesetzgebung. 89 Das prosaische Argument für die unveräußerlichen Menschenrechte lässt sich in diesem Fall ungefähr so formulieren: Nicht nur die Engländer, sondern wir, die Amerikaner, sind ebenso gleich und frei wie die Engländer. Wir haben die gleichen Rechte, unsere gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten zu regeln. Und gerade dann, wenn wir Steuern zahlen sollen, wollen wir selbst an der Gesetzgebung mitwirken. Denn wir meinen: Alle Menschen sind Vgl. E. S. Morgan/H. M. Morgan, The Stamp Act Crisis. Prologue to Revolution, Chapel Hill/London 1995 (3. Aufl.).
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gleich und frei und mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet! Hinzu kamen unterstützende Stimmen aus England, die darauf hinwiesen, dass die Forderungen der Amerikaner im Einklang mit den naturrechtlichen Prinzipien der »Whig-Revolution« des 17. Jahrhunderts stünden und man daher diesen nicht verweigern könne, was man sich selbst zubillige. 90 Die moralische Empörung, mit der die amerikanischen Kolonien auf die diskriminierenden Maßnahmen der britischen Krone reagierten, setzte einen Prozess geschichtlich-existenzieller Selbstfindung in Gang, an dessen Ende die von Thomas Jefferson verfasste Unabhängigkeitserklärung steht. Angesichts des geschichtlichen Einschnitts appelliert sie an die »Meinung der Menschheit« und ruft die »gerecht urteilende Welt« als Instanz an, um die Trennung von der britischen Krone unter Hinweis auf »eine lange Reihe von Missbräuchen und Übergriffen« moralisch zu rechtfertigen. 91 Dieser Kontext ist zu berücksichtigen, wenn man die universalistische Selbstdefinition liest, die Geschichte gemacht hat: »Folgende Wahrheiten halten wir für selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören […]« 92
Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die den politischen Gründungsakt der Vereinigten Staaten von Amerika legitimiert, hat jedoch eine quasi schwarze Seite, denn in den Neu-EnglandVgl. hierzu die Quellen bei A. u. W. P. Adams (Hg.), Die Amerikanische Revolution und die Verfassung 1754–1791, München 1987. Zur Bedeutung von John Locke für die Amerikanische Revolution vgl. St. M. Dworetz, The unvarnished doctrine: Locke, liberalism and the American Revolution, Durham 1994, Kap. 3. 91 Th. Jefferson, Betrachtungen über den Staat Virginia, Zürich 1989, S. 470 f.; R. Koselleck (Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 1984, S. 250) verweist auf die »Negationskraft des allgemeinen Menschheitsbegriffs« in kritischer Funktion. 92 Th. Jefferson, Betrachtungen, a. a. O., S. 469. 90
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Staaten war die Sklavenhaltung keineswegs abgeschafft. Zwar spielte die Frage der Sklaverei bei den Beratungen über die Unabhängigkeitserklärung und der dieser vorangegangenen Grundrechteerklärung Virginias eine Rolle, doch aus Jeffersons Entwurf der Unabhängigkeitserklärung, der eine Verurteilung der Sklaverei und des Sklavenhandels enthielt, wurde dieser Teil wieder gestrichen. Bei den Beratungen über die »Bill of Rights« von Virginia, die in Artikel 1 ebenso wie die Unabhängigkeitserklärung ohne Einschränkung von »allen Menschen« spricht, befürchtete man, es könnten gesellschaftliche Unruhen durch eine solche Erklärung ausgelöst werden. Doch dem wurde mit dem Argument begegnet, »daß wir, während wir mit Waffengewalt die allgemeinen Menschenrechte verteidigten, nicht zu zaghaft und zurückhaltend bei ihrer Formulierung sein sollten; da Sklaven jedoch keine konstitutiven Mitglieder (constituent members) unserer Gesellschaft seien, könnten sie aufgrund dieser Grundsatzerklärung niemals einen Rechtsanspruch geltend machen.« 93
Aber es kommt noch schlimmer: Die rassistischen Vorurteile gegen Schwarze wurden als moralische Vorurteile festgeschrieben und führten dazu, dass sich nun die weißen Kolonisten Nordamerikas unter dem Motto »Aufstand gegen die Sklaverei« versammelten und sich gegen die britische Krone zur Wehr setzten. Denn in Sklaverei zu verharren, hieß aufgrund der rassistischen Vorurteile, moralisch minderwertig zu sein. 94 Dieser partikularistisch-rassistische Makel der universalistischen Menschenrechte zeigt exemplarisch die Geschichtsgebundenheit der universalistischen Moral und die mit ihr einhergehende Universalisierungsdynamik. 95 So, wie erst ein BürgerA. u. W. P. Adams, a. a. O., S. 262. P. Bradley, Slavery, Propaganda, and the American Revolution, Mississippi 1998. 95 Vgl. die neuere differenzierte Sicht der historischen Forschung: M. Hochgeschwendter, Die Amerikanische Revolution, München 2017, S. 20–22: »Eine solche Geschichte muss […] der Janusköpfigkeit einer Re93 94
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krieg nötig war, um die Sklaverei abzuschaffen, so legen auch andere Emanzipationsbewegungen, wie die Frauenbewegung, Zeugnis für die Dynamik der universalistischen Postulate ab. Dass die amerikanischen Verkünder universalistischer Menschenrechte ein kaum durchschaubares emanzipatorisches Risiko eingingen, ist als innovativer Schritt eines Selbst- und Weltverständnisses zu würdigen, das aus der Krise der damaligen Zeit entsprang. Vergegenwärtigt man sich diesen Zusammenhang von epochaler Krise und universalistischer Selbstdefinition, wird deutlich, dass das universalistische Selbstverständnis perspektivisch auf die jeweilige Zeit zu beziehen ist. Die Akteure der Amerikanischen Revolution konnten sich kaum anders als in der Fokussierung auf das dominante Problem ihrer Zeit moralisch und politisch zusammenfinden und nahmen – mit welchen Rechtfertigungen auch immer – das Fortbestehen der Sklaverei in Kauf. Sicherlich hätten sie sich noch nicht in der abstrakten Fassung des Universalismus von beispielsweise Ronald Dworkin wiedergefunden, der klarstellt, was universelle Gleichheit im Sinne eines Individualrechts bedeutet, ein Recht, das »alle Männer und Frauen besitzen, und zwar nicht kraft ihrer Herkunft oder bestimmter Merkmale oder Verdienste oder Vortrefflichkeit, sondern einfach deswegen, weil sie menschliche Wesen sind, die die Fähigkeit haben, Pläne zu machen und Gerechtigkeit zu üben.« 96
Diese historisch gesättigte Fassung des Universalismus formuliert, welche weiteren moralisch-politischen Abarbeitungen des Universalismus in den auf die Amerikanische Revolution folgenden historischen Phasen zu leisten waren und weiter zu leisten sind. Damit unterstreicht Dworkin einen uneingeschränkten Bevolution gerecht werden, die auf der einen Seite ganz dem frühneuzeitlichen, partikularistischen […] Denken verpflichtet war, auf der anderen Seite aber das Potential zu einem der Zukunft zugewandten, folgenreichen Universalismus in sich barg […] Die Revolution in Nordamerika war kein universalistisches Projekt, aber sie setzte ein solches in Gang.« 96 R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt/M. 1984, S. 300.
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griff von Gleichheit in einem individualistischen Verständnis, so dass im Folgenden der egalitäre Universalismus zum Grundbegriff des modernen Universalismus wird. Die Herausbildung moralischer Identität verweist so auf die Auseinandersetzungen von Menschen in ihrer Zeit, insbesondere auf solche mit großem Gewicht oder gar epochaler Bedeutung. Dworkins Formulierung kann retrospektiv als Resultat einer über 200-jährigen Universalisierungsdynamik angesehen werden, die dazu führt, partikularistische Einschränkungen aufzulösen. Da es sich hierbei um einen Prozess der sukzessiven Gewinnung und Erweiterung moralischer Selbstverständnisse handelt, macht es keinen Sinn, ein solches Resultat quasi a priori abzustützen: Nicht die historische Entwicklung holt einen a-priori-Begriff von Universalismus ein, sondern der abstrakte (inhaltliche) Begriff des Universalismus formuliert das Resultat einer historischen Entwicklung. Meine Argumentation gegen »transzendentale Argumente« (oben 1.1) wird so von Seiten einer Geschichtsdynamik, die sich apriorischen Fixierungen entzieht, bekräftigt. Ein Blick auf die Französische Revolution kann das soweit Gesagte unterstreichen. Obwohl in der historischen Konstellation sehr unterschiedlich, sind analoge Züge zur Amerikanischen Revolution erkennbar. Wiederum geht es um den Zusammenhang der entsprechenden Krisensituation mit den aus ihr resultierenden Veränderungen in der moralisch-politischen Selbstdefinition von Menschen. Da ist zunächst die französische Version des universalistischen Pathos in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789: »Art. 1. Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinsamen Nutzen begründet sein. Art. 2. Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung.« 97 W. Grab (Hg.), Die Französische Revolution. Eine Dokumentation, München 1973, S. 48.
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Die Vorgeschichte dieser Erklärung führt zur Krise des »Ancien regime«, die nicht zuletzt in einer Finanzkrise bestand, welche die Auseinandersetzungen zwischen dem Königtum unter Ludwig XVI. und den Ständen auslöste und zu einer wachsenden Konfrontation zwischen den privilegierten ersten beiden Ständen (Klerus, Adel) und dem »dritten Stand« führte. Ausdruck und große Resonanz fand dieser Konflikt in der berühmten Flugschrift des Abbé Sieyes »Was ist der Dritte Stand?« In dieser Schrift erfährt man nicht nur, worin für Sieyes der Dritte Stand besteht (Bauern, verarbeitendes Gewerbe, Handel, Wissenschaft, freie Berufe, Hausarbeit, öffentliche Dienste), sondern trifft auf eine Argumentation, welche sich gegen die »Knechtschaft des Volkes« durch die Privilegien von Klerus und Adel verwahrt und für Gleichberechtigung streitet: »Nicht durch Vorrechte, sondern durch Rechte des Bürgers, welche allen gehören, ist man frei.« 98 Im Kontext der vom König bereits zugestandenen Einberufung der »Generalstände« konnte das nur bedeuten, dass der Dritte Stand »wenigstens den gleichen Einfluss wie die Privilegierten« erhielt. Das führte zum Ende der Majorisierung durch getrennte Abstimmung nach Ständen und stattdessen zur Abstimmung »nach Köpfen«. 99 So wie die Amerikaner gegenüber den Engländern eine Symmetrie von Rechten einforderten, so beharrten die Vertreter des Dritten Standes darauf, ebenso gleich und frei zu sein wie die Mitglieder der übrigen Stände, zumal dann, wenn es auch hier darum ging, ihre Zustimmung zu Maßnahmen zu geben, bei der die Verteilung der Steuerlasten eine große Rolle spielte. Darüber hinaus zeigen die weiteren Ereignisse, wie die von Sieyes und der »patriotischen Partei« vertretenen Maßstäbe für die Emanzipation des Dritten Standes geradezu paradigmatisch in einen Akt der Selbstfindung mündeten, der das gewonnene Selbstverständnis besiegelte, der »Assemblée nationale«. Indem E. J. Sieyes, Was ist der Dritte Stand?, hrsg. v. O. Dann, Essen 1988, S. 35. 99 Vgl. zum Folgenden auch: F. Furet/D. Richet, Die Französische Revolution, München 1981, Kap. 3, 4. 98
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sich der Dritte Stand zu der Nationalversammlung erklärte, ignorierte er die Autorität des Königs und beanspruchte das Recht auf Änderung der Verfassung: »Der Name war die Tat.« 100 Die anderen Stände wurden aufgefordert, sich diesem Schritt anzuschließen, was schließlich auch unter dem Druck der Pariser Bevölkerung zehn Tage später geschah. In der revolutionären Selbstdefinition der Nationalversammlung vom 17. Juni 1789 kann man die Analogie zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sehen, weil mit ihr die Loslösung von König und Privilegien erfolgte. Nachdem der Sturm auf die Bastille (14. Juli 1789) den revolutionären Vorgang weiter beschleunigte und das Ancien Régime am Ende war, kam die erste Phase der Revolution mit der oben angeführten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zum Abschluss. Auch diese Erklärung enthält natürlich mehr als die oben zitierten universalistischen Grundsätze, die man in Verbindung mit dem Begriff der nationalen Souveränität geradezu als »Evangelium der Revolution« 101 bezeichnet hat. Ähnlich wie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung werden die Übel des Ancien Régime beim Namen genannt (staatliche Willkür und Brutalität, ungesetzliche Strafen, Unterdrückung der Religionsfreiheit, der Gedanken- und Meinungsfreiheit sowie der Pressefreiheit) und nach Maßgabe der universalistischen Postulate verurteilt, wobei bezeichnenderweise das Recht auf »Widerstand gegen Unterdrückung« herausgehoben wird. Ebenso vergleichbar mit der Amerikanischen Revolution gab es vor der Verkündigung der Menschen- und Bürgerrechte Debatten darüber, ob man mit den allgemeinen Menschenrechten nicht zuviel verspreche und beim Volk unerfüllbare Ansprüche wecke. Jedoch überwog – nicht zuletzt mit Blick auf die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung – der Wille, für die Menschheit ein Zeichen zu setzen. Die Einflüsse der Amerikanischen auf die Französische Revolution sind ein wichtiger Forschungsgegenstand, dem ich aber hier
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D. Sternberger, Herrschaft und Vereinbarung, Frankfurt/M. 1986, S. 98. A. Goodwin, Die Französische Revolution, Frankfurt/M. 1964, S. 68.
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nicht weiter nachgehen kann. 102 Zweifellos hat der zeitliche Vorlauf der Amerikanischen Revolution ebenso wie die – noch vorrevolutionäre – Intervention Frankreichs zugunsten der Revolutionäre im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg seinen Anteil an jenem Weltbewusstsein, mit dem die Französische Revolution den Beginn einer neuen Epoche verkündete. Signifikanter Ausdruck dafür sind spätere Maßnahmen wie die Einführung einer neuen Zeitrechnung. Wie immer man solche revolutionären Maßnahmen bis hin zu terroristischen Exzessen beurteilen mag – die Beendigung der Revolution durch den Staatsstreich Napoleon Bonapartes vom 18. Brumaire (9. 11.) 1799 änderte nichts mehr an der Zeitenwende, die spätestens mit dem autonomen Akt der Konstitution der »Assemblée nationale« begann. Im Gegenteil, in der Proklamation der Konsuln vom Dezember 1799 heißt es: »Bürger, die Revolution hält an den Grundsätzen, die an ihrem Beginn standen, fest. Sie ist beendet.« 103 Ähnlich wie bei der Amerikanischen Revolution setzt auch in Frankreich mit dem neu gewonnenen Selbst- und Weltverständnis eine Universalisierungsdynamik ein. Aber auch die partikularistischen Einschränkungen der Französischen wie der Amerikanischen Revolution sind nicht zu übersehen. Wie in Amerika ist auch hier das Problem der Sklaverei ungelöst. In anderer Hinsicht kritisierte Mirabeau die Spanne, die zwischen der »schönen Idee der uneingeschränkten Menschenrechte« sowie den Vorbehalten und Begrenzungen in anderen Teilen der Erklärung vom August 1789 bestand, die den Menschen »in seiner Bindung an die bürgerliche Gesellschaft zeigen.« Eine marxistisch orientierte Betrachtung mag unterstreichen, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte würde »die klare Handschrift der Bourgeoisie« tragen. 104 Sowohl historisch wie Vgl. M. Gauchet, Die Erklärung der Menschenrechte, Reinbek bei Hamburg 1991, Kap. 2. 103 W. Grab, a. a. O., S. 405. 104 A. Soboul, Die Große Französische Revolution, Frankfurt/M. 1983, S. 151. 102
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philosophisch fehlerhaft wird eine solche Sichtweise jedoch, wenn sie mit Marx’ Kritik der politischen Ökonomie auf eine darüber hinausgehende ideologiekritische Reduktion der Menschenrechte zielt. 105 Marx’ Reduktionismus besteht darin, in den universalistischen Postulaten der Menschenrechte nichts anderes als den ideellen Ausdruck der bürgerlichen Klassenherrschaft zu sehen und deren emanzipatorisches Potenzial zu negieren. Eine solche Auffassung ist jedoch entweder nur trivial oder verkennt die Universalisierungsdynamik der vorliegenden Postulate. Dass die universalistischen Postulate der Amerikanischen und Französischen Revolution den gesellschaftlichen Interessen der sie tragenden Menschengruppen entsprachen – wen wundert’s? Dass zu diesen Interessen der ungehinderte Warenverkehr einer sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaft gehörte, wen überrascht das? Dass gemäß den Marxschen Strukturbeschreibungen zur kapitalistischen Produktions- und Tauschgesellschaft die Prozesse der »Marktvergesellschaftung« 106 in Gestalt sachlich-unpersönlicher Sozialbeziehungen, die über Geldverkehr vermittelt werden, die Gesellschaft immer mehr durchdringen – wer wollte das bestreiten? Dass insofern die Gleichheit und Freiheit in Marktbeziehungen mit der Gleichheit und Freiheit von Menschen qua Menschen verträglich sein muss – wie anders als trivial ist eine solche Feststellung zu nennen? 107 Die einfache Wahrheit ist, dass man unterscheiden muss zwischen einer pseudo-universalistischen Beschränkung der verkündeten Menschenrechte auf bestimmte Gesellschaftsschichten oder Menschengruppen einerseits und ihrem emanzipatorischen Sinn andererseits, der z. B. in der oben von Dworkin gewählten 105 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt/M. 1939 (Nachdruck), S. 152 ff. 106 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, Tübingen 1976, S. 382 ff. 107 Vgl. zur Kritik der marxistischen Historiographie: F. Furet, 1789 – Jenseits des Mythos, Hamburg 1989, S. 97–148. Zur Kritik des ideologiekritischen Reduktionismus bei Marx im Detail: R. Zimmermann, Utopie – Rationalität – Politik, Freiburg/München 1985, §§ 12, 13.
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Formulierung des Individualrechts der Gleichheit zum Ausdruck kommt. Denn diese kann »nicht im Namen irgendeines radikaleren Begriffs von Gleichheit bestritten werden, weil es keinen radikaleren Begriff von Gleichheit gibt.« 108 Insofern begingen die französischen Sozialisten keineswegs die von Marx kritisierte »Albernheit«, wenn sie die universalistischen Postulate der Französischen Revolution mit der Idee des Sozialismus zu verbinden suchten und in radikaler Form die Frage der sozialen Gerechtigkeit aufwarfen. Sie bestätigten auf ihre Weise die Universalisierungsdynamik, die mit der Verkündung eines universalistischen Selbst- und Weltverständnisses korreliert. So gesehen wundert es nicht, dass die Französische Revolution Konzeptionen hervorbrachte, die das abstrakte Recht auf Gleichheit, d. h. die Gleichheit vor dem Gesetz, zu einer »tatsächlichen Gleichheit«, die im Rahmen einer gemeinwirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft erreicht werden sollte, weiter zu treiben suchten. Beispiele hierfür sind Babeufs »Manifest der Plebejer« von 1795 oder Maréchals »Manifest der Gleichen« von 1796. 109 Wie naiv auch immer diese Manifeste in ihrer gesellschaftlichen Utopie sind – sie rücken die Problematik der »sozialen Frage« im 19. Jahrhundert in den Brennpunkt und werden damit für den moralischen Universalismus zur Herausforderung. Man kann daher François Furet zustimmen, dass die Französische Revolution »das war, was sie sein wollte, nämlich der empirische Weg, auf dem die Welt der freien und gleichen Individuen in unsere Geschichte eingetreten ist« 110 und eine »ungeheure kulturelle Dynamik der Gleichheit« 111 in Gang setzte. Eine weitere Herausforderung, die zum Jahrhundertthema wurde, betrifft die Emanzipation der Frau. Nicht nur, dass ConR. Dworkin, a. a. O., S. 301. W. Grab, a. a. O., S. 374 ff., 383 ff. 110 F. Furet, Zur Historiographie der Französischen Revolution heute, München (Siemens-Stiftung) 1989, S. 34. 111 F. Furet, 1789 – Jenseits des Mythos, a. a. O., S. 36. Dazu ergänzend: W. M. Reddy, The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge 2001, S. 191 f.: Zitat von Joseph Fouché: »chacun a but dans la coupe de l’égalité l’eau de la régénération«. 108 109
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dorcet die uneingeschränkte Gleichstellung der Frau und deren Zulassung zum Bürgerrecht fordert 112 , die Frauen selbst betreten die revolutionäre Bühne und machen ihre Ansprüche geltend. In bewundernswerter Weise formuliert Olympe de Gouges im Jahr 1791 ihre Fassung der Menschenrechte. Der Artikel 1 lautet: »Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Manne gleich in allen Rechten. Die sozialen Unterschiede können nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.« 113
Dieser mutige Schritt unterstreicht exemplarisch die Universalisierungsdynamik der Menschenrechte. Das Ende von de Gouges auf der Guillotine verweist auf den auch später schwer zu beseitigenden »Androzentrismus der Menschenrechte.« 114 Am Beispiel der Emanzipation der Frau wird daher die Geschichtsgebundenheit von moralischen Selbst- und Weltverständnissen deutlich. 115 Ute Gerhard verweist darauf, wie stark die kulturelle Prägung von Geschlechterrollen in unserer wie in anderen Kulturen wirkt und wie geschichtsmächtig sie sind, so dass der Universalismus der Menschenrechte »aus der Frauenperspektive nicht nur bewahrenswert, sondern erst noch zur Geltung zu bringen« ist. Vergleichbares gilt auch für das Problem des Rassismus. Kulturelle Prägungen, soziale Unterschiede, gesellschaftliche und wirtschaftliche Machtverhältnisse sowie Formen politischer Herrschaft bilden den konkreten Stoff der Geschichte, der den Horizont von Selbst- und Weltverständnissen zwangsläufig begrenzt, auch wenn sich diese universalistisch artikulieren. Moralische Zäsuren von epochaler Bedeutung wie die Amerikanische und Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes [1793], Frankfurt/M. 1976, S. 213. 113 U. Gerhard, Gleichheit ohne Angleichung: Frauen im Recht, München 1990, S. 11. 114 U. Gerhard, »Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht«, in: St. Bazli/ F. Kissling/R. Zihlmann (Hg.), Menschenbilder Menschenrechte, Zürich 1994, S. 72, das nachfolgende Zitat ebd. S. 87. 115 Vgl. hierzu die lapidare Festellung von N. Luhmann, Liebe als Passion, Frankfurt/M. 1982, S. 127: »Die Frau wird als Mensch entdeckt.« 112
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Französische Revolution können neue Dimensionen eröffnen, nicht jedoch ihre Geschichtsgebundenheit aufheben. Die partikularistischen Beschränkungen, die sie zurückließen, sind Ausdruck dieses Tatbestands. Universalisierungsdynamik und Geschichtsgebundenheit erweisen sich so als komplementäre Merkmale der modernen universalistischen Moral. Die Geschichtsgebundenheit von Moral auf ihre Selbst- und Weltverständnisse zurückzuführen, bedeutet nicht, dass die hier vorgelegte Positionsbestimmung des Universalismus quasi einen Zustand absoluter Selbsttransparenz im Licht der Geschichte erreicht hat. Eine solche Vorstellung wäre abwegig. Auch die hier vertretene Position, den Inhalt der modernen Moral präzise zu formulieren und ihr Verständnis im Sinne des interhumanen Respekts eindeutig zu explizieren, um partikularistische Verengungen zu vermeiden, schließt weitere Akzentsetzungen nicht aus. So lassen sich Spannungen zwischen einer universalistischen Orientierung und kultureller Partikularität im Kontext von Feminismus und Postkolonialismus weiter diskutieren. 116 Hierzu gehören auch Reflexionen darüber, wie individuelle Verluste und Leid, die nicht in einem abstrakt-universalistischen Sinn von Gleichheit aufgehen, berücksichtigt werden können. 117 Welche systematischen Aufschlüsse lassen sich aus der soweit betrachteten Realgeschichte des Universalismus ziehen? Folgende Punkte vertiefen das Verständnis der Komplexität der universalistischen Moral: 1. Der abstrakte Inhalt des Universalismus, der auf die Kurzformel des interhumanen Respekts zwischen Menschen als Menschen zu bringen ist, ist seinerseits das Resultat einer spezifisch historischen Entwicklung. Aus der moralischen Selbstdefinition von Menschen mit Bezug auf alle Menschen entsteht die DynaVgl. z. B. J. Butler, »Reinszenierung des Universalen: Hegemonie und die Grenzen des Formalismus«, in: J. Butler, E. Laclau, S. Žižek, Kontingenz, Hegemonie, Universalität. Aktuelle Dialoge zur Linken, Wien 2013, S. 15– 55, insbes. S. 43–55. Vgl. H. Pauer-Studer, »Freiheit und Gleichheit aus der Perspektive feministischer politischer Theorie«, in: dies., Autonom leben, Frankfurt/M. 2000, S. 248–284. 117 Vgl. Ch. Menke, Spiegelungen der Gleichheit, Berlin 2004, S. 267 ff. 116
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mik einer Universalisierung des Humanen, deren Ende in einem nicht weiter zu überbietenden Begriff gefasst werden kann, dem Begriff des egalitären Universalismus. 2. Die Spannung zwischen Universalisierungsdynamik und Geschichtsgebundenheit ist als permanenter Grundzug der universalistischen Moral zu verstehen, die sich mit dem Erreichen des allgemeinen Inhalts des Universalismus nur umso stärker entfaltet (Feminismus, Anti-Rassismus etc.). 3. Die moralische Selbstdefinition des Universalismus verweist auf ein differenziertes Weltverständnis. Sie reflektiert die Spannungen zwischen Universalisierungsdynamik und Geschichtsgebundenheit und geht mit ihnen selbstkritisch um. Eine Realgeschichte des Universalismus stützt meine Resultate zur epochalen Dimension des nazistischen Gattungsbruchs und Gattungsversagens. Denn es handelt sich dabei um ein Menschheitsgeschehen, weil den Entwicklungsmöglichkeiten der Menschheit im Sinne einer sich sukzessive entfaltenden Universalisierungsdynamik ein Ende bereitet werden sollte. Die moralische Bedeutung der politischen Dimension tritt damit in ihrer Zwiespältigkeit zu Tage. Sie ist der Schauplatz von epochalen moralischen Selbstdefinitionen im Guten wie im Schlechten. Dadurch, dass es in der politischen Dimension um Grundfragen des menschlichen Zusammenlebens in gesellschaftlichen Beziehungen geht, kommt ihr so große Bedeutung im Prozess moralischer Selbstdefinitionen und der Erschließung moralisch relevanter Weltverständnisse zu. Nicht alle wichtigen Fragen einer Zeit haben politische Dimensionen, doch ohne Rückbeziehung auf sie scheinen keine moralischen Selbstdefinitionen von epochaler Bedeutung vorstellbar. Umso mehr steht damit das Verhältnis von Moral und Politik in unserer Zeit zur Diskussion.
1.3 Moral und existenzieller Sinn Der Verlust eines einheitlichen moralischen Bildes vom Menschen, der mit dem nazistischen Gattungsbruch und Rortys Reflexion der Entmenschlichung thematisiert wird, legt weitere 87 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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Konsequenzen zu Moral und Politik nahe. Daher betone ich die reflexive Brechung, die bei der Frage nach dem »guten Leben« zu berücksichtigen ist. Die Absage an das »schlechte Leben« verweist auf die widerständige Kraft von Moral und verlangt die Formulierung eines Begriffs von moralischer Zeitgenossenschaft und Weltinterpretation. Das verweist auf die motivationale Dimension von Moral und die Einsicht in moralische Zerbrechlichkeit.
Das schlechte und das gute Leben Wenn Menschen den nazistischen Gattungsbruch und andere moralische Desaster der Entmenschlichung verurteilen und sich inhaltlich im Sinn des moralischen Universalismus artikulieren, dann beziehen sie Position zu der Frage, die man als existenzielle Sinnfrage formulieren kann: Woran soll das menschliche Zusammenleben orientiert sein, um nicht als inhuman, inakzeptabel, sinnlos, hoffnungslos, trostlos, unerträglich erlebt zu werden? Mit dieser Sinnfrage nehme ich Bezug auf Ethiken des »guten Lebens«. So entwickelt Martin Seel in seinem Buch Versuch über die Form des Glücks minimale Bedingungen für ein gutes Leben in gleichermaßen historischer wie universalistischer Perspektive, die den »Spielraum für ein gutes Leben« offen halten. 118 In seiner Kritik spricht Jürgen Habermas von »falliblen anthropologischen Grundannahmen und Wertungen, die nicht nur zwischen verschiedenen Kulturen kontrovers sind« und möchte vermeiden, »positiv anzugeben, was ein gutes Leben überhaupt bedeutet.« 119 Dieser Einwand basiert auf der Vorstellung von einer kontextfreien abstrakten Moral aus strukturellen Bedingungen einer »kommunikativen Lebensform überhaupt« und ist daher der obigen petitio principii eines einheitlichen moralischen Bildes vom Menschen zuzurechnen. Falls man nach den minimalen Bedingungen 118 M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, a. a. O., S. 227; ders., Sich bestimmen lassen, Frankfurt/M. 2002, S. 210 f. Vgl. oben Anm. 20. 119 J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M. 1996, S. 42 f. Anm. 40, S. 45.
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des Glücks fragt und berücksichtigt, dass inhaltliche Bestimmungen für ein gutes Leben nicht ein für allemal festgeschrieben werden können, sondern auch in möglichen Veränderungen und Umbildungen im Verlauf geschichtlicher Prozesse zu denken sind, entfällt ein solcher Einwand. Vor allem aber entfällt er wegen Erfahrungen der Entmenschlichung, die nahelegen, die widerständige Kraft von Moral in geschichtliche Kontexte zu stellen und die Voraussetzung einer »infalliblen« übergreifenden Moral ad acta zu legen. Denn wer sich universalistisch versteht, grenzt sich – ob bewusst oder unbewusst – immer schon von anderen Moralauffassungen ab und bringt mit deren Ablehnung zum Ausdruck, dass er deren existenziellen Sinn verwirft. Indem ich und andere meiner Wir-Gemeinschaft konträre Konzeptionen von praktischer Identität verwerfen, als deren extremes Beispiel die nazistische Transformationsmoral zu gelten hat, legen wir uns auf eine Vermeidung des schlechten Lebens fest. So gesehen definiert der Inhalt des Universalismus die moralische Grundbedingung qua Minimalbedingung des existentiellen Sinns. Nur im Rahmen dieser Grundbedingung verstehen wir das menschliche Leben nicht als inhuman, nicht als sinnlos, nicht als unerträglich. 120 Im Rahmen dieser Grundbedingung sind dann verschiedene Konzeptionen des »guten Lebens« denkbar und können miteinander konkurrieren. Ein weiterer Schritt, der in der Verbindung von existenziellem Sinn und Weltverständnis besteht, schließt sich an. Das erscheint mir gerade für eine Interpretation der nazistischen Transformationsmoral und andere anti-universalistische Moralauffassungen wichtig. Nur wer sein Weltverständnis an den Komponenten der nazistischen Ideologie ausrichtet, wird einer Konzeption von In einem ganz anderen Zusammenhang stößt allerdings auch J. Habermas (Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/M. 2001, S. 124) auf den Zusammenhang von Moral und existenziellem Sinn: »[ … ] ohne das Befreiende moralischer Achtung [ … ] müßten wir [… ] das von Menschen bewohnte Universum als unerträglich empfinden.« Hieraus ergibt sich freilich eine Spannung zu Habermas’ formal-strukturellem Kantianismus, dem ein historischer Universalismus entgeht.
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praktischer Identität folgen, die in der Vernichtungsoption gegenüber den Juden eine gattungsnegative Orientierung einschlägt. Wie zu sehen war, schafft das Raum für ein Weltverständnis, das mit rationaler Kritik gegen irrationale Verschwörungstheorien, pseudo-wissenschaftliche Lehren oder geschichtsmetaphysische Theorien vorgeht (vgl. oben Kap. 1.1). Eine weiterführende Perspektive zur Verbindung von Moral, existenziellem Sinn und Weltverständnis kann aus der Untersuchung von Ursula Wolf zur Frage des guten Lebens gewonnen werden. Sie stellt diese Frage in den umfassenden Horizont der existenziellen Sinnfrage eines endlichen Wesens in einer so und so beschaffenen Welt. Wolf formuliert die anspruchsvolle Aufgabe, »auszubuchstabieren, was dabei ›endliches menschliches Wesen‹ und ›Welt‹ heißt, und zwar aus der Perspektive des fragenden ›ich‹. Zu erläutern wäre also das gesamte Welt- und Selbstverständnis in seiner allgemeinen Form.« 121 In dieser Perspektive ergeben sich unterschiedliche Bezugsformen zwischen Selbst und Welt, die je nach historischem Kontext variieren und sich an den unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der Philosophie zu einer bestimmten Zeit bzw. Epoche aufzeigen lassen. So erklären sich Descartes’ Suche nach Gewissheit vor dem Hintergrund prägender Erfahrungen von Unsicherheit in seiner Zeit (wissenschaftliche Umbrüche, Kritik christlicher Dogmen, Machtanspruch der Kirche etc.) und die »Radikalisierung des menschlichen Bedürfnisses nach Sicherheit«. Am Beispiel Nietzsches kann darüber hinaus erläutert werden, wie seine um das Problem des Nihilismus kreisende Kulturkritik auf den Zerfall starker gemeinsamer Zielsetzungen im Ganzen reagiert und seine Philosophie mit eigenen Sinnschöpfungen darauf antwortet (Künstlerexistenz, Übermensch, ewige Wiederkehr des Gleichen etc.). Diese beispielhaften Stichworte machen zweierlei verständlich. Zum einen wird durch Wolfs Ansatz deutlich, dass die Frage nach dem guten Leben sich nicht nur in Begriffen von Moral stellt, U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbek bei Hamburg 1999. Die folgenden Zitate ebd., S. 104, 96, 153.
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sondern – wie an den Beispielen Descartes und Nietzsche ablesbar – als existenzielle Sinnfrage mehrschichtig interpretiert werden muss. Zum anderen zeigt sich, dass mit der kritischen Auflösung von metaphysischen Antworten nach dem »guten Leben« oder dem »Zweck des Lebens« die existenzielle Sinnfrage nicht verschwindet. So illusionär es ist, die Frage nach dem guten Leben – sei es in der Ich-Perspektive, sei es in der Wir-Perspektive – »objektiv« zu beantworten, so unabweisbar stellt sich die existenzielle Sinnfrage, »welches die für die jeweilige Epoche typischen Sinnlosigkeitserfahrungen sind« und wie aus der Ich- oder Wir-Perspektive heraus in einer so und so verfassten Welt und ihren Lebensbedingungen möglichst sinnvoll zu leben ist. Wenn mit Wolf diese Frage als Verstehensfrage interpretiert wird (»Wie können wir uns als diese Wesen in einer solchen Welt verstehen?«), dann ergibt sich als konstitutiver Bestandteil unseres Selbst- und Weltverständnisses die Feststellung: Aufgrund der für unsere Epoche typischen Sinnlosigkeitserfahrungen können wir uns nicht als menschliche Wesen in der Welt verstehen, wenn wir nicht einen Standpunkt einnehmen, der sich aus der Negation von Unmenschlichkeit definiert und den Inhalt des moralischen Universalismus befürwortet. Was immer sonst noch für das Selbstverständnis in der Welt sowohl aus der Perspektive des Individuums als auch aus der Wir-Perspektive zu berücksichtigen und zu klären sein mag, die moralische Selbstdefinition zur Verneinung des schlechten Lebens ist dabei unverzichtbar. Reflektiert man die methodische Funktion der Philosophie in praktischer Absicht 122 , so lässt sich für Individuen, die sich die existenzielle Sinnfrage stellen, ein Vorschlag zur Selbstinterpretation ihrer Existenz formulieren. Darin kann sich das Individuum wiederfinden und zugleich mit anderen Individuen die Überzeugung nachvollziehen, an einer angemessenen Selbstinterpretation von Existenz teilzuhaben. So ergibt sich aus der Ich-Perspektive ein existenzielles Reflexionsradikal, das eine absolute Standpunktbestimmung enthält, die den bisherigen Interpreta-
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Vgl. hierzu weiter differenzierend U. Wolf, a. a. O., Kap. 10.
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tionsgang fokussiert: Indem ich mich den Abgründen der Entmenschlichung vorbehaltlos zuwende, kann ich in meiner menschlichen Existenz nur dann Sinn sehen, wenn ich mich dem Faktum der moralischen Zerrissenheit der Welt, dem Riss im moralischen Bild des Menschen, stelle und meine moralische und politische Identität aus dem Widerstand gegen Inhumanität heraus verstehe: Hier stehe ich, ich will nicht anders! 123 Dieser philosophische Vorschlag zur existenziellen Selbstinterpretation lässt sich in beliebigen individuellen Diktionen, die dem Sinn nach in das philosophisch gefasste Reflexionsradikal übersetzbar sind, denken. Seine Fortsetzung findet dieser Vorschlag darin, alle Potenziale von rationaler Weltinterpretation auszuschöpfen. Insofern führt die von Wolf in allgemeiner Hinsicht herausgearbeitete existenzielle Sinnfrage zu dem Versuch, die epochenspezifischen Sinnlosigkeitserfahrungen in eine Weltinterpretation einzuordnen, die auf die wichtigsten Dimensionen von Realität, die für unser Leben relevant sind, Bezug nimmt. Dabei ist offenkundig, dass die Aufgabe der Philosophie zur Gewinnung einer rationalen Weltinterpretation, ohne die Beiträge einschlägiger Wissenschaften nicht erfüllbar ist. Dass dabei Einschränkungen zu berücksichtigen sind, liegt auf der Hand. Selbst die jeweiligen Einzelwissenschaften können die inhaltliche Fülle der Wirklichkeitsdimensionen von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Recht, Kultur, Religion etc. auf nationaler, internationaler oder globaler Ebene nur exemplarisch durchdringen. Gleichwohl vermag jeder Einzelne, dem daran gelegen ist, sein Weltverständnis angesichts von Sinnlosigkeitserfahrungen zu ordnen, auf Informationen und Verarbeitungen zurückzugreifen, die einschlägige Wissenschaften bereitstellen, und sich über entsprechende Medien, die einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich sind, orientieren. Wer offen für diesen Weg ist, verfährt rational, denn er beruft sich dabei nicht auf irgendwelche pseudo-wissenVgl. hierzu die Überlegungen zur »Moralisierung der Geschichte«, die Jean Améry mit der Perspektive geistiger »Zeitumkehr« verbindet und dabei die Negation von Inhumanität in den Gedanken einer »Negation der Negation« fasst: »Ressentiments«, in: ders., Werke, Bd. 2, S. 142 ff.
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schaftliche Quellen und Lehren, wie sie Sekten, Ideologien oder totalisierenden Heilsbotschaften eigen sind.
Moralische Zeitgenossenschaft Der Zusammenhang von Moral und existenziellem Sinn, der durch ein existenzielles Reflexionsradikal aus der Ich-Perspektive nachvollziehbar wird, kann in einen Begriff von moralischer Zeitgenossenschaft aus der Wir-Perspektive fortgeschrieben werden. In der Wir-Perspektive verstehen wir uns wechselseitig als Individuen mit übereinstimmenden Selbstinterpretationen, die nicht nur einer moralischen Gemeinschaft universalistisch gesinnter Menschen angehören, sondern auch ein Interesse daran haben, dass diese Gemeinschaft stabil bleibt und sich nach Möglichkeit immer mehr erweitert. Mein Vorschlag eines existenziellen Reflexionsradikals besagt für die Wir-Perspektive, dass wir uns wechselseitig in unseren existenziellen Selbstinterpretationen bestärken und dazu motivieren, das schlechte Leben zu meiden. Dadurch verständigen wir uns auf eine moralische Kultur, die das moralisch sensible Geschichtsbewusstsein stärkt und eine entsprechende moralische Sozialisation oder Integration verlangt. Auf die Praxis bezogen gewinnt die methodische Funktion von Philosophie und Sozialwissenschaft ihre volle Bedeutung in der Wir-Perspektive, weil sie nun auf eine Pluralität von Menschen bezogen ist, die sich in ihren Motiven einig wissen und bereit sind, ihr moralisches Selbstverständnis auf rationale Potentiale der Weltinterpretation zu beziehen. Wieweit die einzelnen Menschen sich aktiv an diesem Prozess beteiligen, hängt von individuellen Umständen und Fähigkeiten ab. Die grundsätzliche Bereitschaft, für einen solchen Prozess und seine arbeitsteiligen Ergebnisse offen zu sein, reicht als elementare Disposition aus. Die Voraussetzung einer solchen Disposition ist jedoch nicht trivial, wie man sich an einem Gedankenexperiment klarmachen kann: Nehmen wir einmal an, ein erwachsener Mensch kann mit den Worten ›Auschwitz‹ oder ›Holocaust‹ nichts verbinden, weil er von den damit angesprochenen Ereignissen keine Kenntnis hat. 93 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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Wahrscheinlich fragt man zurück, wie so etwas möglich ist. Man würde zunächst vermuten, dass es sich um jemanden, der außerhalb von Europa lebt, handelt, der keinen Zugang zu einschlägigen Informationen hatte. Für den Fall, dass es sich um einen Deutschen handelt, würden wir uns bemühen, ihn auf den entsprechenden Kenntnisstand zu bringen, der als selbstverständlich für ein zeitgemäßes moralisches Bewusstsein gilt. Das würde ihm ermöglichen, so etwas wie die moralische Zeitgenossenschaft zu erlangen. Diese Überlegung zeigt, dass die Beschaffenheit der Welt hinsichtlich ihrer moralischen Relevanz und Bedeutsamkeit erschlossen sein muss, um moralische Standpunkte reflektieren zu können. Es geht dabei um das Niveau moralischer Probleme, dem man sich stellen oder versagen kann. 124 Der konstruierte Fall klingt wie die Robinsonade einer fernen Zeit, doch liegt er nicht weit ab von der Realität. 125 Vielleicht würde man einem Robinson von heute im vorliegenden Fall empfehlen Eli Wiesels Die Nacht oder Primo Levis, Ist das ein Mensch? zu lesen oder sich einschlägige Filme anzuschauen. 126 Je nachdem wie der Betreffende reagiert, würde sich zeigen, ob die Chance zu einer moralischen Sozialisation besteht, um den aus der Wir-Perspektive erforderlichen Begriff von moralischer Zeitgenossenschaft zu erfüllen. Dabei kann niemandem die Konfrontation mit Unmenschlichkeit erspart werden, auch wenn damit eine psychische Belastung verbunden ist. Als Beispiel
Dieses Beispiel wie der Begriff von moralischer Zeitgenossenschaft stehen in Übereinstimmung mit der Einsicht von Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt/M. 1995, S. 50 f.: »[…] die eigene Identität kann ich nur vor dem Hintergrund von Dingen definieren, auf die es ankommt […] vor einem Horizont wichtiger Fragen«. 125 Vgl. die empirische Studie: A. Silbermann/M. Stoffers, Auschwitz: Nie davon gehört?, Berlin 2000. 126 Der Hinweis auf Filme ist hier nicht näher auszuführen. Relevant sind sowohl Dokumentar- wie Spielfilme. Zu Büchern beschränke mich auf zwei klassische Beispiele: E. Wiesel, Die Nacht [1956], Freiburg 2008; P. Levi, Ist das ein Mensch? [1947], München 2000. Das folgende Zitat aus P. Levi ebd. S. 128. 124
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mag hier der Bericht von Primo Levi dienen, dessen Arbeitstauglichkeit auf dem Gebiet der Chemie von Dr. Pannwitz in Auschwitz geprüft wird: »Von Stund an habe ich oft […] an diesen Doktor Pannwitz denken müssen. Ich habe mich gefragt, was wohl im Innern dieses Menschen vorgegangen sein mag und womit er neben der Polymerisation und dem germanischen Bewußtsein seine Zeit ausfüllte; seit ich wieder ein freier Mensch bin, wünsche ich mir besonders, ihm noch einmal zu begegnen, nicht aus Rachsucht, sondern aus Neugierde auf die menschliche Seele. Denn zwischen Menschen hat es einen solchen Blick nie gegeben […], der wie durch die Glaswand eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen getauscht wurde, die verschiedene Elemente bewohnen […] Was wir alle über die Deutschen sagten und dachten, war in diesem Augenblick unvermittelt zu spüren. Der jene blauen Augen und gepflegte Hände beherrschende Verstand sprach: ›Dieses Dingsda vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist.‹«
Primo Levi vermittelt hier die menschenverachtende Kälte, die er in Auschwitz erfahren hat und zwar in Worten, die den Gattungsbruch geradezu phänomenologisch benennen. Der menschenverachtende kalte Blick wird für Levi zum Signum der NS-Mentalität. Am Beispiel dieser Erfahrung demonstriert Levi, was man in moralischer Hinsicht berücksichtigen muss, wenn man in der Wir-Perspektive an moralischer Zeitgenossenschaft teilhaben will. Levi zeigt die unmenschliche Haltung eines Gegenübers, der die elementare Bereitschaft verweigert, dem anderen Menschen als Menschen zu begegnen. Man kann das die Verweigerung einer menschlich-personalen Einschlussbeziehung, einer humanen Inklusion, nennen. Sichtbar wird eine Ebene von Unmenschlichkeit, die noch tiefer liegt als die Bestimmung von Ungerechtigkeit. Unmenschlichkeit impliziert Ungerechtigkeit, aber umgekehrt führt Ungerechtigkeit nicht immer zu der genannten Unmenschlichkeit, weil Ungerechtigkeit – etwa in Form sozialer 95 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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Ungleichheit – mit humaner Inklusion durchaus verträglich sein kann. Primo Levis Erfahrung rekurriert auf eine Realität, die in das Weltverständnis von Personen, denen wir in moralischer Zeitgenossenschaft begegnen, eingegangen sein muss. Zugleich legt ein solcher Bericht die emotional-affektuelle Ablehnung einer nazistischen Praxis nahe, die dabei exemplarisch zur Sprache kommt. Andere Beispiele können Vergleichbares zeigen. Erforderlich ist dazu auf elementarer Ebene eine psycho-moralische Einstellung, die sich durch ihr moralisches »Nein!« zur nazistischen Praxis mit zwischenmenschlicher Inklusion identifiziert. Diese Inklusion muss nicht unbedingt mit emphatischer Nächstenliebe oder Verantwortung für den Anderen (Levinas) verbunden sein, sondern soll nur konstatieren, dass der Andere in der einen oder anderen Weise – keineswegs immer positiv – als menschliches Wesen und Mitmensch wahrgenommen wird. Man kann auch sagen, dass es einer elementaren psycho-moralischen Disposition bedarf, menschliche Ko-Existenz in allen ihren Erscheinungsweisen zu akzeptieren. Eine durch Erfahrung geprägte moralische Zeitgenossenschaft ist so geeignet, die Weltnähe von Moral zu unterstreichen, die sich aus meiner Untersuchung ergibt. 127 Diese Weltnähe, die geschichtliche Erfahrung systematisch berücksichtigt, steht im Kontrast zu Kants Ansatz, in dem Weltabgewandtheit regiert: »Unerfahren in Ansehung des Weltlaufs, unfähig auf alle sich ereignenden Vorfälle desselben gefaßt zu sein, frage ich mich nur: kannst Du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde?« 128 127 Das sehe ich in grundsätzlicher Übereinstimmung mit: G. Böhme, Ethik im Kontext, Frankfurt/M. 1997. Sehr zu Recht unterstreicht Böhme, dass die Auseinandersetzung mit »ernsten Fragen« in historischen Kontexten sowohl in individueller wie gesellschaftlicher Hinsicht ins Zentrum von moralischen Selbstverständnissen gehört, ebd., S. 17, 92, 155 ff. Dem entspricht im Anschluss an Adorno das Desiderat einer »Ethik nach Auschwitz«, ebd., S. 54 ff. 128 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a. a. O., S. 403.
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Wer so fragt, der kann sich nicht vorstellen, dass jemals im »Weltlauf« der moralische Gattungsbegriff des Menschen bezweifelt werden könnte. Der aufgezeigte Gattungsbruch und das komplementäre Gattungsversagen haben uns eines Besseren belehrt. Der Riss im moralischen Bild des Menschen liegt außerhalb des Horizonts der kantischen Ethik oder vergleichbarer Ethiken. Doch umso mehr geht es um die inhaltliche Fassung, von Kants kategorischem Imperativ, die auch zu unserem Verständnis von Moral passt und aufzunehmen ist. Wenn wir dies tun und zugleich den Gattungsbruch reflektieren, dann kann aus der Perspektive der ersten Person die Frage nur lauten: durch geschichtliche Erfahrung geprägt und erschüttert, unfähig von der moralischen Zerrissenheit der Menschheit abzusehen – wie kann der Standpunkt der Humanität, der wechselseitige Respekt zwischen Menschen als Menschen, jemals für alle Menschen verständlich werden und von allen Menschen akzeptiert werden? Der Blick auf Kant lehrt, dass auch noch bei Habermas eine Moralkonzeption vorliegt, die von einer geradezu a-historischen Weltlosigkeit gekennzeichnet ist. Bei der Darlegung der unter idealen Diskursbedingungen unterstellten Unparteilichkeit normativer Argumentation betont Habermas: »Um uns der kategorischen Verbindlichkeit moralischer Gebote zu vergewißern, brauchen wir nicht den Kontakt zu einer Welt jenseits des Horizonts unserer Rechtfertigung aufzunehmen. Es genügt, den ›weltlosen‹ Raum des Diskurses auszuschreiten, weil wir uns aus der Teilnehmerperspektive am Bezugspunkt einer inklusiven Gemeinschaft wohlgeordneter interpersonaler Beziehungen orientieren – an einem Bezugspunkt also, der uns, sobald wir in Argumentationen eintreten, nicht mehr zur Disposition steht.« 129
Kant und Habermas stimmen in der Unterstellung eines vorgängigen Begründungsraums, der strukturell gesicherte Objektivität ermöglicht, überein. Diese Unterstellung ist nicht aufrechtzuerhalten, wenn man historische Kontraindikatoren von Moral 129
J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/M. 1999, S. 313.
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ernstnimmt. Deshalb überzeugt Rortys Einwand gegen Habermas, der darauf verweist, dass es einer Hypostasierung gleichkommt, wenn eine kontextfreie Argumentation in einer quasi natürlichen Ordnung von Gründen angenommen wird. 130
Begründungsfragen I Nachdem deutlich geworden ist, dass das Festhalten an Kants Gattungstraditionalismus sich auf historisch verlorenem Terrain bewegt und nicht durch einen neuen Transzendentalismus (Korsgaard) oder die Aussicht auf diskurstheoretische Gattungsrationalität zurückgewonnen werden kann, muss auch die Problemlage philosophischer Moralbegründungen neu überdacht werden. Es spricht viel dafür, sich von Ideen letztbegründender oder objektiver Moralfundierungen zu verabschieden und stattdessen auf Ansätze motivationaler Begründungen zurückzugreifen. Für eine erste Orientierung befasse ich mich mit Beiträgen von Ernst Tugendhat und Charles Taylor. Auf Tugendhat komme ich nochmals zurück, nachdem ich ein noch breiter gefasstes Spektrum an moralischer Divergenz dargelegt habe (vgl. unten Kap. 2.3). Tugendhat setzt sich mit Habermas’ Begründungsmodell auseinander, das sich an der theoretischen Wahrheit von Aussagen orientiert. Habermas meint, es sei analog zum Geltungsanspruch von Aussagen auch im Fall von moralischen Normen ein »Richtigkeitsanspruch« zu unterstellen, von dem er glaubt, dass dieser mit der sprachlichen Gestalt von normativen Sätzen oder Wertsätzen eo ipso gegeben sei. 131 Auf diese Weise wird ein propositionaler Sinn der Begründung von Normen vorgeschlagen, der, wenn er angemessen wäre, eine personenunabhängige Einlösung von Geltungsansprüchen auch für Normen bedeuten würde: So wie die Einlösung der Wahrheit von Aussagen personenunabhän130 R. Rorty, »Response to Jürgen Habermas«, in: R. Brandom (Hg.), Rorty and his Critics, Oxford 2000, S. 56–64, insbes. S. 59 f. 131 J. Habermas, »Richtigkeit versus Wahrheit«, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung, a. a. O., S. 271–318.
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gig ist, weil die in ihnen behaupteten Sachverhalte – sozusagen ohne Ansehen der Person – zu begründen sind, so soll etwas Vergleichbares für Normen gelten. 132 Dagegen unterscheidet Tugendhat zwei Bedeutungen in der Rede von Gründen. 133 Einmal geht es um Gründe für Aussagen, die auf die soeben dargelegte personenunabhängige Begründung des in den jeweiligen Aussagen Behaupteten abzielen. Zweitens geht es um Handlungsgründe, die auf eine personenbezogene Angabe von Motiven verweisen. So wie bei alltäglichen WarumFragen (»Warum fährst Du nach Berlin?«) die Angabe von Gründen im Sinne von Motiven erwartet wird (»Um das HolocaustMahnmal zu besichtigen« o. ä.), so verweist auch die Frage nach Handlungsnormen oder die Frage nach unserer moralischen Grundorientierung auf Antworten im Sinne von Motiven. Wie immer knapp oder ausführlich die Antwort auf die Frage »Warum identifizierst du Dich mit Menschenrechten?« ausfallen mag, sie führt uns auf die Angabe und Erläuterung von Motiven (»Um Unmenschlichkeit auszuschließen«, »Um Rückfall in Barbarei zu verhindern« etc.), die nicht zuletzt – wie zu sehen war – aus der Reflexion unserer geschichtlich-existenziellen Situation entstehen. Da man nur im Hinblick auf Individuen von Motiven für die Akzeptanz von Normen sprechen kann, betont Tugendhat, dass es sich bei dem Grundbegriff für die hier relevante Begründungsstruktur um ein »Begründetsein für x« handelt, womit die personenbezogene Art der Begründung, die in der Angabe von Motiven des betreffenden Individuums besteht, zum Ausdruck gebracht wird. Wenn Tugendhat fortfährt »dass das, wozu wir das Motiv haben, eine wechsel- und allseitige Praxis ist, von der jeder, der sie eingeht, unterstellt, dass auch alle anderen das gleiche Motiv haVgl. zum Folgenden auch: H. Schnädelbach, »Über Rationalität und Begründung«, in: ders. Zur Rehabilitierung des animal rationale. Vorträge und Abhandlungen 2, Frankfurt/M. 1992, S. 61–78. 133 E. Tugendhat, Dialog in Leticia, Frankfurt/M. 1997, S. 17 ff. Das nachfolgende Zitat ebd., S. 22. 132
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ben, sie einzugehen«, so steht diese motivationale Begründungskonzeption in Einklang mit der oben dargelegten moralischen Grundorientierung in der Wir-Perspektive, aus der heraus wir uns wechselseitig in unserer existenziellen Selbstinterpretation bestärken und dazu motivieren, das schlechte Leben zu verhindern. Die konkrete Gestalt der Gemeinschaft, auf die mit der motivationalen Begründungskonzeption und der inhaltlichen Bestimmung unserer Moralauffassung Bezug genommen wird, ist die De-facto-Gemeinschaft universalistisch gesinnter Menschen. Von dieser De-facto-Gemeinschaft müssen wir nicht einmal unterstellen, dass alle ihre Mitglieder genau das »gleiche Motiv haben«, um sich ihr zugehörig zu fühlen. Da diese Gemeinschaft eine weltumspannende Gemeinschaft von Menschen darstellt, deren universalistische Gesinnung auf verschiedenartige geschichtliche Entwicklungen und moralische Erfahrungen verweist, genügt es, für die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft von gleichartigen Motiven in Übereinstimmung mit dem universalistischen Respektprinzip zu sprechen. Sicherlich lässt sich in allgemeiner Weise das gleiche Motiv der Angehörigen dieser Gemeinschaft im Sinne der Absage an diskriminierende Inhumanität benennen, doch die Herausbildung der Motive der einzelnen Menschen verweist eher auf eine Familienähnlichkeit von Motiven. Umso interessanter ist, wie sich die Herausbildung, Entwicklung und Veränderung von Motiven im Rahmen eines personenbezogenen Begriffs von Begründung weiter untersuchen lässt. Hierzu ist es hilfreich, auf die narrative Dimension von Begründung, die Charles Taylor expliziert hat, einzugehen. Die besondere Relevanz dieser Dimension leuchtet im Hinblick auf Prozesse wechselseitiger Veränderung oder Modifikation von Moralauffassungen im Rahmen eines motivationalen Begründungsbegriffs sofort ein. Denn wenn es im moralischen Dialog darum geht, Motivationslagen zur Sprache zu bringen, Motive anzugeben, diese zu erläutern, gegen Kritik zu verteidigen, zu verändern oder modifiziert zu reformulieren, dann sind die Beteiligten gezwungen, die Entstehung maßgebender Motive zu rekonstruieren. Dies bedeutet, dass wir unsere persönliche Geschichte unter der Frage100 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Moral und Geschichte: Historischer Universalismus
stellung reflektieren, wie wir dazu gekommen sind, bestimmte moralische Motive auszubilden. Daher hebt Taylor zu Recht hervor, dass der Versuch, »die Überlegenheit eines Standpunkts im Verhältnis zu einem anderen« zu belegen, seinen »Ursprung in der biographischen Erzählung« hat. Näher betrachtet, handelt es sich um eine Umdeutung von moralischer Erfahrung: »Überzeugen wird mich der andere nur dadurch, daß er mich dazu bringt, meine moralische Erfahrung umzudeuten, insbesondere meine Interpretation der eigenen Lebensgeschichte, der Übergänge, die ich durchlebt oder die ich mich vielleicht zu durchleben geweigert habe.« 134
Auf diese Weise findet ein motivationaler Begründungsbegriff seine Fortsetzung in motivationalen Genese sowie deren Interpretation und Re-Interpretation. Begründung durch motivationale Genese heißt so viel wie narratives Verständlichmachen von Motiven. Es handelt sich um eine Begründung im Sinne einer Erläuterung, »was einem besonders am Herzen liegt […], um einem anderen das eigene Leben verständlich zu machen […]« Diesen Typus von Begründung übernimmt Taylor auch für die Orientierung an solchen Werten, die er »Hypergüter« nennt. Solche Güter oder auch oberste Leitwerte, von denen Taylor gelegentlich im Sinne von moralischen Idealen wie Freiheit, Altruismus und Universalismus spricht, betrachtet er als charakteristisch für die neuzeitliche Kultur. Ein Gut dieser Art lässt sich nach Taylor allerdings nur durch eine bestimmte Deutung seiner Genese rechtfertigen, was wiederum auf Motive seiner Genese führt. Damit wird nicht nur die individuell-biographische Perspektive angesprochen, sondern zugleich die Öffnung dieser Perspektive auf eine Vielzahl von Menschen mit vergleichbaren motivationalen Genesen. So konnte die Orientierung an einem »Hypergut« wie dem »Prinzip der gleichen Achtung« epochale Dominanz geCh. Taylor, Quellen des Selbst, Frankfurt/M. 1999, S. 140 f. Das nachfolgende Zitat ebd., S. 146. Zu »Hypergütern« S. 127.
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Moral oder die Absage an das schlechte Leben
winnen und den Grundzug von praktischer Identität im universalistischen Verständnis prägen. 135 Allgemein besagt daher der Zusammenhang von motivationaler Begründung und narrativer Dimension: Die Angabe von Motiven, die für eine Person x in Bezug auf eine Gemeinschaft G die Begründung abgibt, eine bestimmte Moralauffassung zu teilen, führt auf die Deutung einer motivationalen Geschichte aus der Perspektive eines jeden Individuums, aus der hervorgeht, warum das Individuum seine Motive verfolgt. Vor diesem Hintergrund fragt sich auch, wie motivationale Begründungen zu analysieren und zu beurteilen sind, die uns in Gestalt von Moralauffassungen, die wir ablehnen, begegnen. Im Fall der nazistischen Transformationsmoral hat sich gezeigt, dass diese eine Weltinterpretation einschließt, die nicht nur moralisch, sondern auch in ihren Thesen zu Judentum, Rasse und Geschichte angreifbar ist. Insofern bestehen Ansatzpunkte, durch rationale Kritik die Überzeugungen der Gegenseite und möglicherweise ihre Motive zu erschüttern. Das kann die Ablehnung anti-universalistischer Moralen nicht nur aus Gründen historischer Erfahrung, sondern auch durch Motivationskritik stützen. Allerdings muss man dazu die Details solcher Moralen und ihre Geschichtsmächtigkeit kennen. Deshalb geht es im Folgenden nicht nur um die nationalsozialistische Moral, sondern auch um die Moral des Bolschewismus. In diesen Lehrstücken moralischer Divergenz manifestieren sich die Kontraste zum Universalismus der Menschenrechte. Meine vergleichende Moralbetrachtung bekräftigt so den Begriff des historischen Universalismus und seine Begründungspotenziale. Allerdings geht Taylor darüber hinaus und versteht den egalitären Universalismus als einen gesicherten Kanon, gemessen an dem der Nazismus nur eine extreme Abweichung darstellt. Bei aller Anstrengung, die »dunkle Seite der Conditio humana« nicht zu übergehen, bleibt der Nazismus nur ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Hinzu kommt Taylors religiöse Vertiefung der modernen Moral des Universalismus, die sein Vorhaben, eine »Großerzählung« des Zeitalters im Sinne von »umfassenden Rahmenschilderungen der historischen Entwicklung« zu liefern, problematisch macht: Ch. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt/M. 2009, S. 538 f., 957. Zur näheren Kritik: Zimmermann, Ankommen in der Republik, a. a. O., Kap. 8.
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2. Lehrstücke moralischer Divergenz
Die Kennzeichen einer nationalsozialistischen Moral orientieren sich an der Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus und bilden die Grundlage für die Thesen zu Gattungsbruch und Gattungsversagen. Komponenten der nationalsozialistischen Moral lassen sich als Zentrum einer Gesellschaftsform, die geschichtsmächtig werden konnte, belegen. Dieser analytische Zugriff unterscheidet sich methodisch von der negativen Bewertung der NSMoral und eignet sich für die Fragestellung eines übergreifenden Vergleichs von verschiedenen Moralen (2.1). Die Beschäftigung mit der bolschewistischen Moral, bei der das Problem moralischer Divergenz in anderer Gestalt auftritt, unterstreicht die Relevanz eines solchen Vergleichs, denn auch diese Moral erwies sich seit der Russischen Revolution als geschichtsmächtig. Die Idee eines neuen Menschen mit einer neuen Moral entspricht der Selbstbeschreibung führender Bolschewiki, dem Wortlaut der Parteigliederungen und genießt gesellschaftliche Verbreitung. Sie bleibt bis in die Zeit der stalinistischen Gewalttaten. Der Vergleich mit der NS-Moral legt nahe, in beiden Fällen von innerweltlichen Erlösungsmoralen zu sprechen (2.2). Umso überzeugender wird damit die Moral der Menschenrechte, die von den Erlösungsmoralen abgelehnt wird, als geschichtsmächtige Alternative und historische Errungenschaft. Die Deutungsfragen zu Menschenrechten verweisen auf einen voluntaristischen Ansatz zum Verständnis des Universalismus und seiner Begründung (2.3).
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Lehrstücke moralischer Divergenz
2.1 Nationalsozialistische Moral als Transformationsgeschehen Dimensionen moralischer Veränderung Es ist aufschlussreich, zu verfolgen, wie sich in wichtigen Bereichen ein moralisches Anderssein im Zuge der Transformation moralischer Dispositionen und Überzeugungen herausbildet. Dazu untersuche ich im Folgenden: Tätermoral (1), Rassenkampf und exemplarische Tätergemeinschaft – die SS (2), Moral und Recht (3), Antisemitische Kultur als Normalität (4), Juden und andere Opfer (5). (1) Tätermoral Die Vernichtungsaktionen gegen Juden werfen die Frage auf, wie die dabei beteiligten Akteure die moralische Grenzüberschreitung mit ihrem Selbstverständnis in Einklang bringen konnten. Wie problematisch das war, zeigt Harald Welzer in seiner sozialpsychologischen Studie über konkrete Täter und Tätergruppen. Sein Ansatz deckt sich mit meiner Grundthese, dass der Nationalsozialismus mit seiner Transformationsmoral zu einem moralischen Anderssein führt. Für Welzer entwickelt sich ab 1933 ein gesellschaftlicher Prozess, »in dem die radikale Ausgrenzung von Anderen zunehmend als positiv betrachtet wird und der schließlich das Tötungsverbot in ein Tötungsgebot verwandelt […]« Daraus entsteht »eine dynamische gesellschaftliche Deutungsmatrix, die den individuellen normativen Orientierungen und ihren Veränderungen einen Rahmen gibt [ …] in dem Sinne etwa, dass die wahrgenommene Legitimität einer Judenerschießung durch einen gesellschaftlich dominanten Antisemitismus und Rassismus oder, noch allgemeiner, durch eine nationalsozialistische Moral kontextualisiert ist.« 136 136
H. Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder
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Nationalsozialistische Moral als Transformationsgeschehen
Die sukzessive gesellschaftliche Dominanz einer nationalsozialistischen Moral, mit der »die Auslöschung von Menschen in den Status einer moralischen Verpflichtung« erhoben wird, wird so zu einem unverzichtbaren Rahmen, um das situative Handeln von Tätergruppen und einzelnen Tätern zu analysieren. Dieser Rahmen ist für das Selbstverständnis der Täter die Voraussetzung, um aus ihrer Perspektive heraus ihrem Handeln Sinn zu geben. Die nationalsozialistische Moral fungiert so als rechtfertigende Sinninstanz, wie auch Welzer als »entscheidenden Punkt« hervorhebt: »Der Grund dafür, dass die weit überwiegende Zahl der Täter an ihrer Aufgabe nicht zerbrach, obwohl viele von ihnen vielleicht tatsächlich gegen ihr ›eigentliches‹ Empfinden töteten, liegt darin, dass die Tötungsmoral des Nationalsozialismus sowohl persönliche Skrupel als auch das Leiden an der schweren Aufgabe des Tötens normativ integriert hatte […] Das Verhältnis von Massenmord und Moral ist nicht kontradiktorisch, sondern das einer wechselseitigen Bedingung. Ohne Moral hätte sich der Massenmord nicht bewerkstelligen lassen.«
Viele der an unmittelbaren Tötungsaktionen Beteiligten hatten später keine Schuldgefühle, weil sie glaubten, im Sinne einer kohärenten Moral tätig gewesen zu sein, ganz so wie Himmler in seiner berühmt-berüchtigten Posener Rede tönte, dass es der SS zur Ehre gereiche, bei ihren Tötungsaktionen »anständig« geblieben zu sein (vgl. unten (2)). Im Rückgriff auf sozialpsychologische Analysen zeichnet Welzer ein Täterprofil am Beispiel des Polizeibataillons 45, das während des Krieges gegen die Sowjetunion für werden, Frankfurt/M. 2005, S. 16. Vgl. zu den folgenden Zitaten und Resultaten Welzers ebd., S. 67, 46 ff., 37, 212 ff. Vgl. auch schon: H. Welzer, Massenmord und Moral. Einige Überlegungen zu einem mißverständlichen Thema, in: Dabag, M./Platt, K. (Hg.), Genozid und Moderne, Opladen 1998, S. 254–272. Die Gefahren der Verführbarkeit durch die »Moral des Totalitarismus« unterstreicht F. Pohlmann: »Moral und totalitärer Terror«, in: M. Junge (Hg.), Macht und Moral. Beiträge zur Dekonstruktion von Moral, Wiesbaden 2003, S. 235–254.
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Massentötungen von Juden, einschließlich Kindern, eingesetzt wurde. Das Massaker von Babij Jar in der Ukraine, dem über 30 000 Menschen zum Opfer fielen, ist ein weiteres extremes Beispiel. Welzer betont in seiner überzeugenden Analyse auch die Kontinuität, die zwischen solchen Massakern und der späteren industriellen Massenvernichtung in Auschwitz und anderen Orten bestand. Sie ergab sich aus einer mit dem Krieg gegen die Sowjetunion immer stärker werdenden Radikalisierung der Vernichtung: »In dieser Perspektive macht es kaum Sinn, die Einsatzgruppenmorde systematisch von der industriellen Massenvernichtung zu differenzieren; es handelt sich um einen Gesamtvorgang, in dem die Letztere eine Handlungsfolge der Ersteren ist. Die Praxis des Vernichtungsprozesses stellt eine Entwicklung vom Handwerk zur industriellen Arbeit dar.« 137
Dieser Befund wird durch Ergebnisse der historischen Forschung ergänzt. Es ist wichtig, kein zu einfaches Bild der Judenvernichtung zu zeichnen. Die technisch-industrielle Durchführung des Mordens an Orten wie Auschwitz, Treblinka, Sobibór, Chełmno, Belżec darf nicht zum Standard-Typus erklärt werden. Denn die weitaus größere Anzahl der Opfer geht auf Erschießungen oder andere Formen physischer Gewalt – u. a. auch Tötungen durch Hunger – zurück. 138 Das Kennzeichen des Holocaust kann daher nicht zu einem abstrakten, quasi unpersönlichen, fabrikmäßigen Töten stilisiert werden. Damit werden philosophische oder soziologische Pauschaldiagnosen hinfällig, die eine innere Verbindung zwischen der technischen Rationalität der Moderne und dem Holocaust sehen. 139 Umso wichtiger ist es, sozialpsychologische Welzer, a. a. O., S. 215. Das geht bereits aus der Gesamtdarstellung von P. Longerich, a. a. O., hervor. Neuerdings auch entschieden betont von T. Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2010, S. 16 ff. 139 Sehr klar dazu: H. Mommsen, Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa, Göttingen 2014, S. 196: »Der größte Teil der Opfer starb jedoch nicht in ›Tötungsfabriken‹, und es ist irreführend, die Vernich137 138
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Untersuchungen an historisch-sozialen Kontexten zu orientieren. Dem entspricht die Orientierung meiner moralphilosophischen Fragestellung an geschichtlichen Realitäten. (2) Rassenkampf und exemplarische Tätergemeinschaft – die SS Es ist aufschlussreich die moralische Transformation des Nationalsozialismus an den herausragenden Trägern zu verfolgen, die für die Dynamik des Rassenkampfs stehen, die SS und ihre Mitglieder. Die Einbettung des Rassenkampfs in die nazistische Weltanschauung (vgl. oben 1.1) lässt sich wie folgt wiedergeben: Das Menschheitsideal eines arisch fundierten »höheren Menschentums« verlangt nach einem Rassenkampf im weltgeschichtlichen Maßstab, der nur zu gewinnen ist, wenn eine unter dem Führerprinzip agierende revolutionäre Bewegung und ihre Elite (SS) bereit ist, christliche und sonstige allgemein menschliche Bindungen hinter sich zu lassen. Gemäß den Gesetzen des Rassenkampfs muss der Hauptfeind, das Weltjudentum und seine Verbündete, mit allen Mitteln bekämpft und restlos vernichtet werden. Die Treue zum Ariertum gebietet eine Moral der Militanz und eine demgemäße Praxis. Diese Charakterisierung entspricht der Interpretation, die Barbara Zehnpfennig in ihrem detaillierten Textkommentar zu Hitlers »Mein Kampf« entwickelt. 140 Für Hitler ist die menschliche Kulturleistung von heute »nahezu ausschließlich schöpferisches Produkt des Ariers«, so dass es sich beim Arier um den »Begrün-
tung mit dem Begriff der Modernität in Beziehung zu setzen.« Von dieser historischen Kritik werden gleichermaßen getroffen: Adorno/Horkheimer, Dialektik, a. a. O.; M. Heidegger, »Das Ge-Stell«, in: Bremer und Freiburger Vorträge, Heidegger-Gesamtausgabe III. Abt., Bd. 79, Frankfurt/M. 1994, S. 24–45; Z. Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1994 (2. Aufl.). 140 B. Zehnpfennig, Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation, München 2000. Die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Werk. Originalzitate von Hitler werden in Anführungszeichen wiedergegeben.
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der höheren Menschentums überhaupt« handelt, um den Urtyp dessen [ … ], was wir unter dem Worte ›Mensch‹ verstehen«. Der Arier ist »der Prometheus der Menschheit, aus dessen lichter Stirne der göttliche Funke des Genies zu allen Zeiten hervorsprang, immer von neuem jenes Feuer entzündend [ … ] und den Menschen so den Weg zum Beherrscher der anderen Wesen dieser Erde emporsteigen ließ.« (132) Prometheus steht für den Aufstand gegen die Götter und ein auf völlige Diesseitigkeit eingestelltes Menschengeschlecht. Für Hitler repräsentiert die arische Rasse den prometheischen Antrieb des Menschen als Kulturschöpfer im Gegensatz zu den bloß kulturtragenden oder kulturzerstörerischen Rassen. Hieraus ergibt sich eine Geschichtsdynamik, ein Prozess vom Aufstieg und Niedergang der Kulturen, der an Spengler erinnert und verschiedene Phasen durchläuft: In der ersten Phase unterwerfen die Arier ein fremdes Volk, in der zweiten Phase gestalten die Arier eine neue Kultur aufgrund der vorliegenden Gegebenheiten des anderen Volkes und der eigenen schöpferischen Kräfte. In der dritten Phase, der Phase des Niedergangs, vermischen sich die Kulturschöpfer mit den Einheimischen und leiten zur vierten Phase, der Erstarrung, über. In einer möglichen fünften Phase besinnen sich die kulturschöpferische Rasse auf ihre Wurzeln und kehren aus eigenem Willen erneut zum Niveau des Herrenvolks zurück. Dies ist die Kurzfassung zu Hitlers Geschichtstheorie, der das weltgeschichtliche Geschehen nur unter dem Blickwinkel der »Äußerung des Selbsterhaltungstriebs der Rassen« sieht und damit zu einer Geschichte des Rassenkampfs macht. Rassenkampf statt Klassenkampf ist das leitende Prinzip der Geschichte, das Hitler entdeckt zu haben glaubt und das nun die offenkundige Antithese zum Marxismus darstellt (133 f.). Trotz dieser inhaltlichen Antithese bleibt die Parallele, dass das Menschheitsideal des arischen Kulturschöpfers mit einer spezifischen Theorie des Kampfes verbunden ist, die den Rassenkampf zum Geschichtsprinzip erklärt. Sobald man nach der Begründung für diese Konzeption fragt, tritt neben ihrer Schwäche auch die 108 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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Ambivalenz des Rassebegriffs hervor. 141 Wenn Hitler sich auf den »Willen der Natur« beruft, um seinem Gedanken des Rassenkampfs und der rassischen Abgrenzung eine biologische Grundlage zu verschaffen, ist das wenig überzeugend. Vor allem wird dabei deutlich, dass dem biologischen Begründungsversuch der Rassentheorie in Wahrheit eine Projektion von angeblichen Erfahrungen aus dem menschlichen Bereich auf die Natur zugrundeliegt. Zehnpfennig kommt zu dem wichtigen Ergebnis, dass Hitlers Rassismus nur scheinbar biologisch ist und sein Rassebegriff im Grunde die »Homogenität seelischer Qualitäten« meint. Hitler begeht keinen naturalistischen Fehlschluss, indem er geschichtliche Rassegesetze aus der Natur »ableitet«, sondern – so lässt sich sagen – einen normativistischen Fehlschluss, indem er seine Vorstellung von Rasse-Homogenität auf die Natur überträgt. Insofern muss auch der Rassenkampf als eine Auseinandersetzung gesehen werden, bei dem sich Rassen als homogen gedachte existenzielle Widersacher, die durch unterschiedliche seelische Qualitäten definiert werden, gegenüber stehen. Der Rassenkampf ist ein Kampf, bei dem sich unversöhnliche Wesenseigenschaften bekriegen. Demnach sind im Judentum und Deutschtum quasi zwei Daseinsweisen zu einer Rasse geworden, die um die Selbsterhaltung ihrer Wesensart kämpfen (76). Das Judentum steht für das Sinnliche, Materielle, Irdische, Egoistisch-Individualistische – das Deutschtum (als Spitze des Ariertums) für das Höhere, Idealistische, Schöpferische, Edel-Gemeinschaftliche. Der Gegensatz zum Judentum bildet deshalb den innersten Kern von Hitlers Weltanschauungslehre. Er sieht in der Lebenshaltung des Judentums, die seiner diametral widerspricht, eine Gefährdung für den Bestand der Menschheit (53). Der Marxismus ist dagegen nur der Widerschein des Judentums. Er verbreitet die jüdischen Eigenarten durch eine Gleichheitsideologie. Aus dieser Sichtweise erklären sich die haltlosen Beschreibungen der negativen Eigenschaften »des Juden« in Hitlers Mein Kampf wie im National141 Ausführlich zu dieser Ambivalenz: W. Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2014, Kap. III: »Rasse und Moral«.
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sozialismus insgesamt. Ausdruck dafür ist die völlige Blockade gegenüber Einwänden, die das einmal entworfene Bild des Judentums in Frage stellen könnten. Es ist bezeichnend, dass Hitler Hinweise, bei den »Protokollen der Weisen von Zion« handle es sich um eine antisemitische Fälschung, mit der Bemerkung abtut, allein die Tatsache, dass diese Meldung in der (damaligen) Frankfurter Zeitung stehe, beweise schon die Echtheit der Protokolle. 142 Ganz ähnlich reagiert Heinrich Himmler auf ein Argument von Felix Kersten, indem er dessen Verweis auf die historische Fälschung der »Protokolle« mit der Erwiderung quittiert: »Diese Feststellung ist entweder selbst wieder von Juden getroffen worden oder jüdisches Geld steckt dahinter.« 143 Dass man auf diese Weise jede historische Erkenntnis denunzieren kann, liegt auf der Hand. 144 Der soweit erläuterte Zusammenhang von Menschheitsideal und Rassenkampf wird mit einer Heroisierung des Kampfes verknüpft. Der Mensch bewährt sich im Kampf und wächst in ihm über sich hinaus, im alltäglichen Lebenskampf und insbesondere im kriegerischen Kampf. Die Funktion der Rasse besteht darin, dass sie die innere psycho-moralische Homogenität eines Volkes, die für den Kampf unabdingbar ist, verbürgt. (289) Der Staat wiederum hat die Funktion der Selbsterhaltung der Rasse, er ist kein Selbstzweck. Wenn der Staat diese Funktion nicht erfüllt, so führt Hitler im 3. Kapitel von Mein Kampf aus, dann ist Rebellion nicht 142 A. Hitler, Mein Kampf, München 1937 (248.–251. Aufl.), S. 337/Z, Bd. 1, S. 799. Im Folgenden zitiere ich aus einem Exemplar, das einem »jungvermählten Paar« im Herbst 1938 auf dem Standesamt mit den »besten Wünschen für eine glückliche und gesegnete Zukunft« überreicht wurde. Zum Vergleich und als Hinweis auf die Kommentare gebe ich mit dem Vorzeichen ›Z‹ die vom Institut für Zeitgeschichte herausgegebene Neuedition an: Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, hg. von Ch. Hartmann, Th. Vordermayer, O. Plöckinger, R. Töppel, 2 Bde., München/Berlin 2016. 143 F. Kersten, Totenkopf und Treue. Heinrich Himmler ohne Uniform, Hamburg 1953, S. 40. 144 Zur Geschichte der »Protokolle«: Sammons (Hg.), Protokolle der Weisen, a. a. O. Die Frankfurter Zeitung, die Vorgängerin der heutigen FAZ, wurde von Juden begründet.
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nur das Recht des Volkes, sondern Pflicht, denn die Bewahrung ihrer Art ist der höchste Zweck des Daseins der Menschen. Eine solche Situation entscheidet sich durch Gewalt und den Erfolg. Hier wird nicht nur deutlich, dass »Art« nicht im biologischen Sinn zu verstehen ist, sondern im Sinn von »Eigenart«. In diesen Kontext passt der Satz: »Menschenrecht bricht Staatsrecht«. Hitler bemüht dafür eine eigene normative Bestimmung von »Menschenrecht« im Sinne der »Bewahrung der Eigenart eines Volkes«, um daran die Aufforderung zum Kampf um das so verstandene Menschenrecht zu knüpfen und den Sieg in diesem Kampf als Beleg der »ewig gerechten Vorsehung« zu interpretieren. 145 In dieser Sichtweise ergibt sich auch eine Rechtfertigung der kriegerischen Expansion. So kann selbst der Expansionskrieg in Richtung Russland noch als Notwehraktion ausgelegt werden, weil der Bolschewismus des 20. Jahrhunderts die spezifische Form des jüdischen Weltmachtstrebens verkörpere. (267) Darüber hinaus verneine die marxistische Ideologie des Bolschewismus in ihrer Zielvorstellung das Prinzip des Kampfes, weil sich am Ende aller Klassenkämpfe der Kampf aus der Welt verabschiede. Die Vernichtungsoption gegen die jüdische Rasse ist gerechtfertigt, weil sie danach strebe, den Kampf als Lebensprinzip der Rassen außer Kraft zu setzen. Mit anderen Rassen könne man leben, weil sie um ihr »Menschenrecht« kämpfen, mit der jüdischen Rasse nicht. (288) Das Ideal des höheren schöpferischen Menschentums in Gestalt der arischen Rasse verbindet sich mit einer Konzeption des stetigen Kampfes, in dem entschieden werden muss, wer der Stärkere und das heißt dann der Bessere ist. Indem Zehnpfennig diesen Zusammenhang aufdeckt, kann sie die Identifikation »des Stark-Seins mit dem Gut-Sein« belegen und daran die Zirkularität von Hitlers Konzeption festmachen: »Die Herrschaft des Stärkeren ist auch immer zugleich die des Besseren, das ist die grundlegende Prämisse des Hitler’schen Ansatzes. 145
Hitler, Mein Kampf, a. a. O., S. 105/Z, Bd. 1, S. 305.
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Lehrstücke moralischer Divergenz
Demgegenüber ist die Herrschaft der Vielen die der Minderwertigen […] Sie erklären Friedfertigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit zur überlegenen Moral, obwohl diese Ideologie in Wahrheit nur das ihnen spezifische Herrschaftsinstrument ist […] Was macht demgegenüber das Gut-Sein der Starken aus? Sie sind bereit um die Macht zu kämpfen, sie verstecken sich nicht hinter der bloßen Zahl. Warum aber ist der Kampf besser als der Kompromiß? Er ist besser, weil sich in ihm unverstellt zeigt, wer wirklich stärker – und damit besser ist. Genau das ist der Zirkel, in dem sich Hitlers Ideologie […] bewegt. An der Durchsetzungstärke soll sich beweisen, wer besser ist; der Kampf ist ein bloßes Mittel. Setzt sich aber die dieser Ideologie nicht genehme Mehrheit durch, dann wird der Kampf auf einmal zum Zweck. Er dient nicht mehr dazu, den Guten zu ermitteln, sondern ist nun selbst das Gute.« (290 f.)
Diese Gedankenfigur macht verständlich, warum eine selbstkritische Befragung des arischen Menschheitsideals, die eventuell Zweifel an der Durchsetzungsfähigkeit im Rassenkampf aufkommen lassen könnte, ausbleiben muss. Indem der Kampf zum Selbstzweck erklärt wird, erfährt das Endziel eine zusätzliche Dogmatisierung. Es kann nicht verfehlt werden, weil der Kampf als solcher dafür steht. Dabei ist für Hitler der Einsatz von Gewalt ebenso selbstverständlich wie der kämpferische Heroismus, der das Leben eines Individuums für die Gemeinschaft opfert. Die Verbindung von Gewalt und Weltanschauung ist zwingend, aber bloße Gewalt ohne die »Triebkraft einer geistigen Grundvorstellung« qua Weltanschauung ziellos. Gewalt muss im Rahmen einer Weltanschauung »beharrlich« ausgeübt werden, die offensive Orientierung »für eine neue geistige Einstellung« bleibt jedoch maßgebend. Daher gilt für die Bekämpfung des Marxismus: »Nur im Ringen zweier Weltanschauungen miteinander vermag die Waffe der brutalen Gewalt, beharrlich und rücksichtslos eingesetzt, die Entscheidung für die von ihr unterstützte Seite herbeizuführen.« 146 146
Hitler, a. a. O., S. 189/Z, Bd. 1, S. 479.
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Gewalt wird moralisch in den Kampf um die richtige Weltanschauung integriert. Hitler stellt den »Programmatiker« der Weltanschauung in eine Reihe mit Religionsgründern, bei denen es zunächst nur um die Grundidee einer »allgemeinen menschlichen Kultur-, Sittlichkeits- und Moralentwicklung« geht. 147 Die Umsetzung der Idee verlangt für die Weltanschauung die Ergänzung des Programmatikers durch den Politiker. Damit kommt die Ebene der Führung und Gliederung der Partei und nationalsozialistischen Bewegung sowie deren Organisationsformen ins Spiel. Hierzu findet sich bereits in Mein Kampf die entscheidende Vorgabe, die für die weitere Entwicklung grundlegend ist: »So darf bei der Bildung der ersten organisatorischen Keimzellen nie die Sorge aus dem Auge verloren werden, dem ursprünglichen Ausgangsort der Idee die Bedeutung nicht nur zu erhalten, sondern zu einer überragenden zu steigern. Diese Steigerung der ideellen, moralischen und tatsächlichen Übergröße des Ausgangs- und Leitpunktes der Bewegung muß in eben dem Maße stattfinden, in dem die zahllos gewordenen untersten Keimzellen der Bewegung neue Zusammenschlüsse in organisatorischen Formen erfordern.« 148
Auch wenn dieser Satz in einem Kontext steht, der die erste Konzentration der Bewegung auf München begründet, so schwärmt Hitler im selben Atemzug vom »magischen Zauber eines Mekka oder Rom« und damit nicht nur von der politischen Zentrale in München, sondern von der Symbolkraft und dem Faszinosum seiner Weltanschauungsidee, die es in alle organisatorischen Formen der Bewegung als Leitpunkt zu integrieren gilt. Es kommt also darauf an, die Strukturelemente des arischen Menschheitsideals, des konsequenten Rassen- und Weltanschauungskampfes unter beharrlichem Einsatz von Gewalt in entsprechende Organisationsformen zu gießen. Da gemäß dem Führerprinzip und den gestaffelten Verantwortungsgraden die einzelnen Organisationen Hitler, a. a. O., S. 230/Z, Bd. 1, S. 569. Hitler, a. a. O., S. 381 f./Z, Bd. 1, S. 899; »Mekka und Rom« ebd., S. 381/ Z, Bd. 1, S. 897.
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unterschiedliche Zusammensetzungen und Aufgaben haben, stellt sich wie von selbst die Frage, welcher organisatorischen Einheit der erste Rang im Rassen- und Weltanschauungskampf gebührt. Es kann kein Zweifel bestehen, dass der Aufbau der SS und ihre Fortentwicklung zur Waffen-SS als »Hitlers Politische Soldaten« den höchsten Organisationsgrad bei der Integration von Weltanschauung und Rassenkampf darstellt. 149 Doch die SS steht nicht nur für die Organisationsform einer politischen Avantgarde, sondern für das elitäre Vorbild der nationalsozialistischen Persönlichkeit und ihres psycho-moralischen Selbstverständnisses. Bei aller Emphase für Volksgemeinschaft und Rasse darf nicht übersehen werden, dass Hitler und der Nazismus kein simples kollektivistisches Persönlichkeitsideal vertreten, sondern die starke Einzelperson – natürlich in Rückbindung an die Rassengemeinschaft – hochhalten. So preist Hitler am Ende von Mein Kampf die »Achtung vor der Person« und den persönlichen Wert des Menschen, weil nur diesem Ideen und Schöpferkraft zu verdanken seien. Führerprinzip, elitär-hierarchische Stufung von Verantwortlichkeiten nach persönlicher Befähigung und fanatische Massenbewegung sollen eine Einheit bilden. An den Grundsätzen der SS und ihrem Ehrenkodex lässt sich exemplarisch nachvollziehen, welches Potenzial zur psycho-moralischen Transformation der Nazismus entfalten konnte und langfristig in eine entsprechende Erziehung des ganzen Volkes umzusetzen gedachte. 150 Laut Bernd Wegners Untersuchung hat Himmler als »Reichsführer SS« den Gedanken des »soldatischen Ordens« in das Selbstverständnis und die Organisation der SS implementiert, so dass geradezu von einem »Gegenorden« zu den Jesuiten die Rede sein konnte und Himmler in Hitlers Meinung als »der völkische Ignatius von Loyola im guten Sinne«
B. Wegner, Hitlers Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933–1945, Paderborn 1982. 150 Vgl. A. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1935 (75.–78. Aufl.), S. 19: »Die staatspolitische Revolution ist beendet, die Umwandlung der Geister aber hat erst begonnen.« 149
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galt. 151 Dem Ordensgedanken entsprach ein Tugendideal mit religiöser Überhöhung sowie das Selbstverständnis einer gesamtgesellschaftlichen Elitestellung, an der teilzuhaben auf viele Jugendliche anziehend wirkte. 152 Für das Tugendideal ist entscheidend, dass die Begriffe von Treue, Gehorsam, Ehre oder Kameradschaft in eine direkte Beziehung zur Person Adolf Hitlers gesetzt werden. In der uneingeschränkten Personifizierung dieser Begriffe, die sich in der Eidesformel des SS-Mannes, in der Hitler »Treue bis in den Tod« gelobt wird, findet, vollzieht sich eine Entmoralisierung des einzelnen zugunsten einer höheren Bindung, die nun als die wahre Moral gilt. Deutlich wird das in demWahlspruch »SS-Mann, Deine Ehre heißt Treue« und dem Leitwort in der 1. Person Plural: Unsere Ehre heißt Treue. Damit geht auch die Suspendierung eines christlich geprägten Gewissensbegriffs einher, der die moralische Reflexion des Individuums für nicht mehr relevant erklärt und die Voraussetzung dafür schafft, dass herkömmliche moralische Grenzen im Namen höherer Ziele überschritten werden können. Insofern steht Himmlers Charakterisierung des Christentums als der »größten Pest«, die überwunden werden muss, für den Entwurf einer »Gegenmoral« 153 , die zur Überwindung der weltanschaulichen Gegner unerlässlich ist. Auch Hitler versteht die Überwindung des Christentums zugunsten der eigenen Weltanschauung als Ausdruck einer epochalen moralischen Transformation, denn der »Zusammenbruch des Christentums« ist für ihn »eine der größten Umwälzungen, welche die Geschichte kennt.« 154 Für ihn bestand die »Größe des Christentums« einst-
Hierzu und zum Folgenden: B. Wegner, a. a. O., S. 38 ff., 50 ff.: Bialas, Moralische Ordnungen, a. a. O., S. 282 ff. 152 Das späte Eingeständnis von Günter Grass (2006), als 17-Jähriger Mitglied der Waffen-SS geworden zu sein, kann hierfür exemplarisch stehen. Zur historischen Erforschung verschiedener Aspekte der Attraktivität des NS vgl. G. Brockhaus (Hg.), Attraktion der NS-Bewegung, Essen 2014. 153 Wegner, a. a. O., S. 44, 52. 154 Zitiert nach Zitelmann, Hitler, a. a. O., S. 104 f. 151
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mals »in der unerbittlichen fanatischen Verkündung und Vertretung der eigenen Lehre«. 155 Bei Himmlers Charakterprofil des SS-Mannes und des Mitglieds der Waffen-SS geht es weniger um militärische Perfektion, sondern um eine Charakterhaltung, die das »politische Soldatentum« im Kampf für die nationalsozialistische Weltanschauung verkörpert und ein gesamtgesellschaftliches Beispiel gibt. An der SS wird so der Idealtypus der deutschen Volksgemeinschaft greifbar. 156 Umso mehr war für die SS das Attentat des 20. Juli Anlass, den moralischen Zustand der deutschen Gesellschaft zu reflektieren. Bereits mit der Niederlage von Stalingrad, aber insbesondere mit dem 20. Juli 1944 stellte sich für die SS die Frage, wie belastbar die moralische Ordnung des Nationalsozialismus ist. Man kam zum Ergebnis, dass der eigenen elitären Identität eine Minderheit an Verrätern und Zweiflern gegenüber steht, dass aber die Mehrheit der Deutschen, wenn auch nicht mit vergleichbar revolutionärem Schwung, so doch aus pflichtbewusster Loyalität, der rassisch bestimmten Volksgemeinschaft die Treue hält. 157 Die Differenzierung der deutschen Gesellschaft nach Maßgabe der moralischen Integration aus Sicht der SS unterstreicht einerseits das bedingungslose Engagement für die durch den Nationalsozialismus herbeigeführte moralische Transformation, andererseits aber zeigt sie, dass diese Transformation keineswegs abgeschlossen war, sondern sich immer wieder neu zu bewähren hatte. Insofern steht auch Himmler als Reichsführer SS paradigmatisch für einen Prozess der moralischen Transformation, denn in seiner Rede vor Reichs- und Gauleitern in Posen führt er zur Vernichtung der Juden aus:
Hitler, a. a. O., S. 385/Z, Bd. 1, S. 907. Vgl. dazu die eindringliche Untersuchung: Th. Kühne, Belonging and Genocide. Hitler’s community, 1918–1945, New Haven/London 2010, Ch. 3. 157 Bialas, a. a. O., S. 281 f. Belege aus dem SS-Organ Das Schwarze Korps, ebd. 155 156
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»Es mußte der schwere Entschluß gefaßt werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen. Für die Organisation, die den Auftrag durchführen mußte, war es der schwerste, den wir bisher hatten. Er ist durchgeführt worden, ohne daß – wie ich glaube sagen zu können – unsere Männer und unsere Führer einen Schaden an Geist und Seele erlitten hätten. Diese Gefahr lag sehr nahe. Der Weg zwischen den beiden hier bestehenden Möglichkeiten, entweder zu roh zu werden, herzlos zu werden und menschliches Leben nicht mehr zu achten oder weich zu werden und durchzudrehen bis zu Nervenzusammenbrüchen – der Weg zwischen dieser Scylla und Charybdis ist entsetzlich schmal.« 158
Die Vernichtung des Judentums zu betreiben, ohne dabei der eigenen moralischen Integrität verlustig zu gehen –, dies ist kein Zynismus, sondern das in völligem Ernst gesprochene idealtypische nazistische Selbstverständnis, das die führenden Protagonisten der Kampfbewegung wie Hitler und Himmler mit dem Idealtypus der konkreten kämpfenden Einheiten in Gestalt der Waffen-SS zusammenschließt. 159 Die Gewaltoptionen, die dem nazistischen Menschheitsideal eingeschrieben sind, haben ihre personalen Träger in Gestalt neuer psycho-moralischer Charaktere gefunden, deren moralisches Anderssein die geschichtliche Dynamik und ihre katastrophalen Folgen prägt. 160
H. Himmler, Geheimreden 1933 bis 1945, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1974, S. 169 f. Vgl. hierzu auch das Prinzip des »heroischen Realismus«, das im Umkreis der »politischen Theorie der SS« entwickelt wurde und darauf hinauslief, den völkischen Gegner radikal und rücksichtslos zu bekämpfen, ohne ihn zu hassen: Herbert, Best, a. a. O., S. 218. Das stimmt zwar nicht mit Hitlers offen ausgesprochenem Hass auf die Juden in »Mein Kampf« überein, war aber der Versuch, Hitlers früher Formel (1919) vom »Antisemitismus der Vernunft« eine »rationale« Ausführung zu geben. 159 Vgl. dazu die Erziehungssprogramme der SS: J. Matthäus/K. Kwiet/ J. Förster/R. Breitman, Ausbildungsziel Judenmord? ›Weltanschauliche Erziehung‹ von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der ›Endlösung‹, Frankfurt/M. 2003. Zur neueren Forschung: J. E. Schulte/P. Lieb/B. Wegner (Hg.), Die Waffen-SS. Neue Forschungen, Paderborn 2014. 160 Vgl. die Zusammenfassung bei J. Chapoutot, Das Gesetz des Blutes, 158
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(3) Moral und Recht Charakteristisch für das moralische Transformationsgeschehen ist die enge Verbindung von Moral und Recht, die der Nationalsozialismus anstrebt. Die Gestaltung des NS-Rechts greift auf verschiedenen Ebenen stark in die Gesellschaft ein und bestimmt damit auch die alltäglichen Lebensvollzüge der Bevölkerung. Das soll in exemplarischer Weise deutlich werden. Ich beziehe mich dabei auf die von Roland Freisler bei der Reform des Strafrechts vorangestellte Überzeugung, dass die Moral qua »völkische Sittenlehre« als Basis für die Umgestaltung des Strafrechts anzusehen ist. 161 Freislers stellvertretend für die nazistische Rechtsauffassung erhobener totaler Anspruch dieser »Sittenlehre« bestätigt sich in einer sehr persönlichen Konfrontation. Der vor dem Volksgerichtshof angeklagte Helmuth James Graf von Moltke hat dazu ein beredtes Zeugnis hinterlassen: »Freisler sagte zu mir in einer seiner moralischen Tiraden: ›Nur in einem sind das Christentum und wir gleich: wir fordern den ganzen Menschen!‹ Ich weiß nicht, ob die Umsitzenden das alles mitbekommen haben, denn es war ein Art Dialog […] bei dem wir uns durch und durch erkannten.« 162
Dieser Abgrenzung zwischen verschiedenen moralischen Grundpositionen entspricht auf Seiten des NS die Zerstörung des bürgerlichen Rechtsstaats und die Gestaltung einzelner Gesetze, die nicht zuletzt die Diskriminierung der Juden bezweckten. Die vom NS betriebene Aufhebung des Rechtsstaats verweist nicht nur auf die Missachtung der persönlichen Grundrechte der Weimarer Verfassung, sondern auch auf den scheinbar paradoxen TatDarmstadt 2014, S. 373: »Die Endlösung ist also keineswegs ein Verbrechen, ganz im Gegenteil, sie ist Zeichen und Ausdruck höchster Moral.« 161 R. Freisler, »Gedanken zur Technik des werdenden Strafrechts und seiner Tatbestände«, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 55 (1936) Nr. 1, S. 503–532, ebd., S. 511. 162 H. J. Graf von Moltke, Letzte Briefe aus dem Gefängnis Tegel, Berlin 1959 (8. Aufl.), S. 51.
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bestand, dass diese Verfassung unter dem NS nie aufgehoben wurde. Die alte Verfassung bestand auf dem Papier fort, doch wurde sie sukzessive mit neuen gesetzlichen Regelungen überschrieben, die sie faktisch bedeutungslos werden ließen. Mit dem »Ermächtigungsgesetz« vom März 1933, das in einem von Terror beeinflussten Reichstag zustande kam, wurde der Regierung unbeschränkte Gesetzgebungsgewalt erteilt; faktisch eine Abkehr vom Grundsatz der Gewaltenteilung, die für Hitlers Innenminister Wilhelm Frick die »vorläufige Verfassung des Reiches« bedeutete. 163 Nach dem Tod des Reichspräsidenten Paul v. Hindenburg im August 1934 wurde dessen Amt mit dem des Reichskanzlers zusammengelegt; eine weitere Aushöhlung der Verfassung, die sich in der Aufhebung der Eigenständigkeit der Länder und ihrer »Gleichschaltung mit dem Reich« fortsetzte (»Reichsstatthaltergesetz« 1935). Hinter der Zerstörung des Rechtsstaats auf Verfassungsebene steht die Instrumentalisierung des Staates im Sinne des Primats der nationalsozialistischen Bewegung und deren Leitprinzip der Bewahrung der Eigenart des Volkes. Aus der »Moralisierung des Rechts« im NS 164 resultieren das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (Juli 1933) und die Phasen der antijüdischen Gesetzgebung, die vom »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« (April 1933), den »Nürnberger Gesetzen« (»Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«; »Reichsbürgergesetz«, beide 1935), der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben« (1938) bis zu der Verordnung reichen, den »Judenstern« zu tragen (ab September 1939 in Polen, ab September 1941 im Deutschen Reich). Die Nürnberger Gesetze brachten mit den gegen Juden gerichteten Verboten der Eheschließung und des sexuellen Verkehrs mit F. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944 [1944], Frankfurt/M. 1984, S. 79 ff. 164 H. Pauer-Studer, »Einleitung: Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus«, in: H. Pauer-Studer/J. Fink (Hg.), Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus in Originaltexten, Frankfurt/M. 2014, S. 20 ff. Zum Folgenden vgl. ebd., S. 67–80: »Die Gesetzgebung der Judenverfolgung«. 163
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Staatsangehörigen »deutschen oder artverwandten Blutes« nicht nur eine massive Entwürdigung und gesellschaftliche Diskriminierung, sondern beschränkten politische Rechte auf »Reichsbürger«, Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, die treu zu Volk und Reich stehen. Die Begriffe ›Treue‹, ›Gehorsam‹ und ›Ehre‹ spielen eine wesentliche Rolle in den persönlich auf den »Führer« bezogenen Eidesformeln von Kabinettsmitgliedern, Beamten, Angehörigen der Reichswehr und der SS (vgl. oben (2)). Das bewirkt die personale Fixierung auf eine charismatische Führerfigur und die Loslösung der Inhaber politischer Spitzenfunktionen von allgemeinen Gesetzen und rechtsförmiger Amtsführung. Mit Carl Schmitts Diktum »Der Führer schützt das Recht« wurde Hitler zur unmittelbaren Rechtsquelle erklärt und damit die Geltung des Rechts von Führerbefehlen abhängig. 165 Dem entsprachen auch die Funktionalisierung des Rechts zur Durchsetzung politischer Ziele und die Verbreitung von Willkürentscheidungen bis hin zu Verhaftungen und Exekutionen ohne Gerichtsurteil. Die Zerstörung des Rechtsstaats ging weit über die anti-jüdische Ausgrenzungs- und Verfolgungsstrategie hinaus und führte zu Rechtsunsicherheit und Gesetzlosigkeit, die jeden Bürger zum potenziellen Opfer von Terror und Repression machen konnte. Franz Neumann hat diese Sachverhalte in seiner frühen Studie zur NS-Herrschaft bereits treffend auf den Begriff gebracht. Er diagnostiziert, dass der Nationalsozialismus die »Allgemeinheit des Gesetzes zerstört« und mit der Verweigerung der Gleichheit vor dem Gesetz eine formale »Minimalgarantie der Freiheit« außer Kraft gesetzt habe. 166 Mit anderen Worten, die spezifische Moralisierung des Rechts im NS zielt darauf ab, die durch das allgemeine Recht gewährleistete moralische Schutzfunktion aufzuheben. C. Schmitt, »Der Führer schützt das Recht«, in: Deutsche Juristen-Zeitung, 39. Jg., 15 (1934), Sp. 945–950. Entsprechend auch E. R. Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches (1939), Auszug in Pauer-Studer/ Fink, a. a. O., S. 332–346: »Der Führer«. Vgl. dazu auch: P. Longerich, Hitler, München 2015, S. 525. 166 Neumann, Behemoth, a. a. O., S. 514, 517. 165
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Die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Rechtsentwicklung aus dem Geist der »völkischen Sittenlehre«, die einerseits zur Identifikation mit dem Nationalsozialismus anhalten soll, andererseits aber Rechtsmissbrauch und Rechtsunsicherheit in der Alltagswirklichkeit befördert, sind ein wichtiger Bestandteil im Prozess der Umformung moralischer Selbstverständnisse und sozialer Einstellungen. Diese Entwicklung setzt sich auf einer anderen Ebene fort. Die Abkehr vom Völkerrecht wurde seit dem Austritt des Deutschen Reiches aus dem Völkerbund im Oktober 1933, der durch eine Volksabstimmung bekräftigt wurde, immer weiter vorangetrieben. Im Zuge der nazistischen Expansions- und Kriegspolitik wurden Neukonstruktionen zum Völkerrecht entworfen, die an die Stelle von souveränen Einzelstaaten als Subjekte des Völkerrechts »Großraumordnungen« setzten, die teils noch mit einem völkerrechtlichen Vokabular operierten, teils aber mit einem »völkischen Rechtsbegriff« eine völkerrechtliche Beziehung von Staaten untereinander verneinten. 167 Das traditionelle Völkerrecht wurde als Schöpfung der Juden und Deckmantel des britischen Imperialismus denunziert und so der kriegerischen Expansion eine Legitimation gegeben. (4) Antisemitische Kultur als Normalität Der moralische Transformationsprozess im NS kommt in den Bestrebungen zur Homogenisierung der Gesellschaft im Namen von »deutschem Volkstum« und »deutscher Sittlichkeit« zum Ausdruck mit dem Ziel, eine antisemitische Kultur zur gesellschaftlichen Normalität zu stilisieren. Im einzelnen wird die Homogenisierung über die Ortsgruppen der NSDAP vollzogen, die einerseits Hilfe im Alltag anboten, andererseits aber Kontrolle und Einschüchterung ausübten. 168 Ihr C. Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht [1939], Berlin 1991. 168 Im Folgenden stütze ich mich auf Longerich, Hitler, a. a. O. S. 528–545. 167
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Einfluss zeigt sich u. a. daran, dass die Ortsgruppen zum Beflaggen der Häuser, zum Anbringen von Hitler-Bildern in der Wohnung oder zum Praktizieren des »Hitlergrußes« anhielten. Auch auf anderer Ebene wurden die Massenorganisationen ständig erweitert. Die Jugend wurde über das »Jungvolk«, die »Hitlerjugend« oder den NS-Studentenbund organisatorisch eingebunden, wobei davon auszugehen ist, dass der NS-Bewegung viele Jugendliche und junge Erwachsene aus eigenem Antrieb folgten. Die einschlägigen akademischen Berufe waren ebenfalls in entsprechenden Berufsverbänden organisiert (Ärzte, Lehrer, Juristen, Dozenten etc.), die »Deutsche Arbeitsfront« (DAF) stieg von ca. 8 Millionen Mitgliedern im Jahr 1933 auf bis zu 22 Millionen im Jahr 1942 und die Organisation »Kraft durch Freude« führte neben Betreuungsleistungen im Arbeitsalltag Sportveranstaltungen und Ferienreisen durch. Die NS-Volkswohlfahrt als karitative Einrichtung expandierte und baute das Hilfswerk »Mutter und Kind« oder ihren Anteil an Kindergärten aus. Es versteht sich von selbst, dass in all diesen Organisationen das nationalsozialistische Gedankengut zu einer Veralltäglichung des Antisemitismus beitrug. Deutlich erkennbar wird das auch an Hitlers Rede vor der NS-Frauenschaft auf dem Parteitag 1934. Er wendet sich gegen den Begriff der Frauen-Emanzipation als »ein vom jüdischen Intellekt erfundenes Wort« und weist den Frauen ihre traditionelle Rolle bei Mann, Familie, Kinder und Haus zu. 169 In diesem Geist betreute das »Deutsche Frauenwerk« über seinen »Reichsmütterdienst« bis 1939 über 1,7 Millionen Frauen. Auch im Bereich des Autoverkehrs wurde die Homogenisierung durch die Gründung eines Einheitsverbands der Automobilverbände vorangetrieben. So konnte die Massenmotorisierung und die Begeisterung für Technik und Motorsport kanalisiert werden, wobei einschlägigen Motorsportschulen eine vorbereitende Funktion für Kraftfahrer der Wehrmacht zukam. Zugleich sollte mit Hilfe der richtigen Verkehrserziehung die »Verkehrsgemeinschaft« zum festen Bestandteil der »Volksgemeinschaft« gemacht werden. 169
Das Hitler-Zitat wörtlich bei Longerich, Hitler, a. a. O., S. 533.
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Die Homogenisierung der Gesellschaft wurde begleitet von der über verschiedene Medien monopolisierten Öffentlichkeit, die darüber hinaus ständig von Symbolen des NS, seinen Fahnen und Ritualen besetzt wurde. Auch wenn die innere Geschlossenheit des deutschen Volkes hinter dem NS-Ideal von »Volksgemeinschaft« zurückblieb und Hitler als Vollstrecker des Volkswillens eher ein Wunschbild abgab 170 , so ist doch unverkennbar, dass das nationalsozialistische Gedankengut weite Teile der Gesellschaft immer mehr durchdringen und die Einstellungen vieler Menschen prägen konnte. 171 Bürger, die sich abwartend, abwehrend oder widerständig verhielten, standen unter der ständigen Drohung der Ausgrenzung, Diskriminierung oder physischen Repression. Die relative Schwäche der im weitesten Sinn oppositionellen Teile der Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die durch den NS betriebene Verfolgungspolitik gegen Juden und andere Gruppen »in weiten Teilen ein öffentliches, bisweilen gar ein mediales Ereignis (war)« 172 . Die nationalsozialistische Homogenisierung konnte dazu auf rassistische Anschauungen zurückgreifen, die in der Bevölkerung durchaus verbreitet waren, sei es in Gestalt des Antisemitismus, der Verachtung von »Zigeunern«, Asozialen, Behinderten oder Homosexuellen. Ohne einen hohen Grad an Zustimmung oder die stumme Hinnahme von Praktiken der Verfolgung gegen die diskriminierten Gruppen wäre das nicht möglich gewesen. Das gilt auch für die »Endlösung der JudenZur neueren Diskussion über den Begriff der »Volksgemeinschaft«: D. v. Reeken/M. Thießen (Hg.), ›Volksgemeinschaft‹ als soziale Praxis. Neuere Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn 2013; D. Schmiechen-Ackermann/M. Buchholz/B. Roitsch/Ch. Schröder (Hg.), Der Ort der ›Volksgemeinschaft‹ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn 2018. Jeweils mit informativen Einführungen der Herausgeber. 171 Aus soziologischer Sicht kann von einer »schrittweisen Durchsetzung der antisemitischen Konsensfiktion« gesprochen werden, die darin zusehen ist, dass die Menschen von der wechselseitigen Erwartung ausgehen, dass ihre Gegenüber den antisemitischen Einstellungen zustimmen, ohne ihnen weiter nachzufragen: St. Kühl, Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holcaust, Frankfurt/M. 2014, S. 102–108. 172 M. Roth, Verfolgung, Terror und Widerstand im Dritten Reich, München 2015, S. 8. Zum Folgenden ebd., S. 267–270. 170
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frage«, die von Historikern teils als »öffentliches Geheimnis«, teils als zu verdeckender Vorgang beschrieben wird. 173 Wie sehr der Antisemitismus zur Normalität der Gesellschaft wurde, zeigen exemplarisch die Tagebücher von Victor Klemperer. Als Teilnehmer am 1. Weltkrieg und Ehepartner einer Nicht-Jüdin schien er zu Beginn der NS-Herrschaft noch geschützt. Doch seine schon im April 1933 geäußerte Einschätzung, dass seine momentane Sicherheit jederzeit hinfällig werden könnte, war nur allzu realistisch. Klemperer, dem 1935 seine Professur für Romanistik in Dresden entzogen wurde, konnte mit seiner Frau überleben. Er schilderte sehr detailliert die Entwicklung der Gesellschaft. Schon am Tag von »Führers Geburtstag« 1933 beklagt er, dass der Ärztekongress in Wiesbaden »jämmerlich kuscht« und auf Distanz zu den berühmten jüdischen Medizinern August von Wassermann, Albert Neisser und Paul Ehrlich geht. 174 Er empört sich über jüdische Bekannte, die beim Plebiszit zum Austritt aus dem Völkerbund im Herbst 1933 ihre Zustimmung signalisieren und ihm mitteilen, auch der Zentralverband deutscher Juden habe das empfohlen. Diese Art der Anpassung – sei es aus Überzeugung oder unter Druck – beschäftigt Klemperer über die ganze Zeit des NS hinweg und veranlasst ihn dazu, die Veränderungen im Moral- und Rechtsbewusstsein seiner Umgebung genau zu registrieren. Aus den Anfangsjahren der NS-Herrschaft eine bezeichnende Notiz: »Die Judenhetze ist maßlos geworden, weit schlimmer als beim ersten Boykott, Pogromanfänge gibt es da und dort, und wir rechnen damit, hier nächstens totgeschlagen zu werden. Nicht durch Nachbarn, aber durch nettoyeurs [Säuberer], die man da und dort als Vgl. P. Longerich, »Davon haben wir nichts gewusst!«, Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006, S. 201–262. Verschiedene Aspekte zusammenfassend: H. Mommsen, NS-Regime, a. a. O., S. 204–214. 174 V. Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1941, hg. von W. Nowojski und H. Klemperer, Berlin 1995 (4. Aufl.), 2 Bde., Bd. 1, S. 22. Das Folgende ebd., S. 66. 173
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›Volksseele‹ einsetzt. An den Straßenbahnschildern der Prager Straße: ›Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter‹, in den Schaufenstern der kleinen Läden in Plauen [Stadtteil von Dresden] Aussprüche und Verse [ …] ›Wir wollen keine Juden schauen/in unserer schönen Vorstadt Plauen‹, überall der ›Stürmer‹ mit den gräßlichsten Rasseschändergeschichten, wilde Goebbelsrede – an verschiedensten Stellen offene Gewalttaten [ …] Seit Wochen jeden Tag stärker das Gefühl, es könne so nicht mehr lange gehen. Und es geht doch immer weiter.« 175
Hatte Klemperer zunächst noch gehofft, dass die NS-Herrschaft nicht von langer Dauer sein würde, musste er sich immer mehr eingestehen, dass mit keinem Umsturz des Regimes zu rechnen war. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Aufrüstung und der Besetzung des Rheinlands im Frühjahr 1936, die ohne Gegenmaßnahmen von Frankreich oder England blieb, zeichnet er ein bedrückendes Stimmungsbild moralischen Versagens: »Die Mehrheit des Volkes ist zufrieden, eine kleine Gruppe nimmt Hitler als das geringere Übel hin, niemand will ihn wirklich los sein, alle sehen in ihm den außenpolitischen Befreier, fürchten russische Zustände, wie ein Kind den schwarzen Mann fürchtet, halten es, soweit sie nicht ehrlich berauscht sind, für realpolitisch inopportun, sich um solcher Kleinigkeiten willen wie der Unterdrückung bürgerlicher Freiheit, der Judenverfolgung, der Fälschung aller wissenschaftlichen Wahrheit, der systematischen Zerstörung aller Sittlichkeit zu empören. Und alle haben Angst um ihr Brot, ihr Leben, alle sind so entsetzlich feige. (Darf ich es ihnen vorwerfen? Ich habe im letzten Amtsjahr auf Hitler geschworen, ich bin im Lande geblieben – ich bin nicht besser als meine arischen Mitmenschen.)«
Der Nationalsozialismus hatte Erfolg, er bewirkte eine neue Qualität antisemitischer Einstellungen, die sich im Lauf der Zeit Klemperer, Bd. 1, a. a. O., S. 212: 11. Aug. 1935. Das folgende Zitat ebd., S. 264: 10. Mai 1936. Ausführlicher zu Klemperer: H. Heer (Hg.), Im Herzen der Finsternis. Victor Klemperer als Chronist der NS-Zeit, Berlin 1997.
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immer mehr verfestigen ließen. Die Erklärung der dafür maßgebenden Einflüsse und Prozesse sind Gegenstand historischer Detailforschung. 176 Hier genügt das Fazit von Saul Friedländer: »Das System als Ganzes hatte eine antijüdische ›Kultur‹ hervorgebracht, die zum Teil in historischem Antisemitismus deutscher und europäisch-christlicher Provenienz verwurzelt war, aber auch mit all den Mitteln gefördert wurden, die dem Regime zur Verfügung standen.« 177
Die Verbreitung dieser Kultur im Medium Film wirft ein bezeichnendes Licht auf die europaweite Anschließbarkeit der nazistischen Weltanschauung. So wurde der von hochgradig antisemitischer Hetze infizierte Film »Jud Süß« auf dem Filmfestival von Venedig mit dem »Goldenen Löwen« ausgezeichnet (1940). An diesem Film waren Deutschlands beste Schauspieler und 120 jüdische »Komparsen« beteiligt. In dem Film geht es um den jüdischen Finanzberater des Herzogs von Württemberg (1772), der sich als skrupelloser Ausbeuter entpuppt und Horden von Juden in die Stadt Stuttgart lässt. Der Jude Süß verführt reihenweise junge Frauen und macht sich eine verheiratete Frau durch Erpressung gefügig. Als der Herzog plötzlich stirbt, wird Süß verhaftet, zum Tode verurteilt sowie unter öffentlichem Beifall in einem Käfig erhängt und alle Juden aus Württemberg vertrieben. Neben Dazu gehört auch die von Götz Aly vertretene These, dass das NaziRegime als eine »Gefälligkeitsdiktatur« bzw. »Zustimmungsdiktatur« zu sehen sei, die sich ihre Massenloyalität durch sozialstaatliche Wohltaten sicherte, die in hohem Maße auf der Ausplünderung, Enteignung und schließlich Ermordung der europäischen Juden beruhte: G. Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/M. 2005, S. 36. Wieweit diese These trägt, ist hier nicht zu entscheiden, doch benennt Aly in einer neueren Studie, die Einflüsse der Erb- und Rassenhygiene einbezieht, das Problem der nazistischen Transformationsmoral: »Eine neue Moral für Raub und Mord«: G. Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass, Frankfurt/M. 2011, S. 262 ff. 177 S. Friedländer, Jahre der Vernichtung, a. a. O., S. 18. Zum Folgenden ebd., S. 127 f. 176
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diesem Film brachte die Reichspropagandaabteilung 1940 ein weiteres Machwerk, »Der ewige Jude«, heraus. Mit abstoßenden verzerrten Aufnahmen jüdischer Gesichter sollte die deutsche Öffentlichkeit und das besetzte Europa auf die Endlösung der Judenfrage eingestimmt werden. Auf diese Weise wird verständlich, wie die oben charakterisierte Homogenisierung der Gesellschaft und die Bereitschaft, an einer moralischen Transformation teilzunehmen, kulturell unterstützt wurde. Das gilt auch für Filme von Leni Riefenstahl wie »Triumph des Willens«. Darin wird der Nationalsozialismus als ästhetisches Faszinosum inszeniert und der Parteitag der NSDAP von 1934 zum »erlösenden Höhepunkt deutscher Geschichte« stilisiert. 178 Die moralisch-kulturelle Bedrohung des Nationalsozialismus löste jedoch auch Gegenreaktionen aus. So sah sich Papst Pius XI. genötigt, gegen den Rassismus und Antisemitismus des Nationalsozialismus eine Enzyklika in Auftrag zu geben (1938), die den aufschlussreichen Titel trägt: »Humani generis unitas«. 179 Wenn die Verfasser des Enzyklika-Entwurfs besonders die »Einheit des Menschengeschlechts« betonten, so spiegelt sich darin das Bewusstsein von der Gefahr des gattungsverneinenden Antisemitismus wieder. Die Bekräftigung der göttlichen Moralordnung widersetzt sich einer Entwicklung, die sich als Wechselzusammenhang von Gattungsbruch und Gattungsversagen beschreiben lässt. Eine vergleichbare Reaktion aus der Sicht eines kritischen Zeitgenossen formuliert Aurel Kolnai in seinem beeindruckenden Werk Der Krieg gegen den Westen. 180 In dieser Untersuchung, Treffend dazu: S. Sontag, »Faszinierender Faschismus«, in: Dies., Im Zeichen des Saturn, München/Wien 1981, S. 95–124, ebd., S. 103. 179 Friedländer, Vernichtung, a. a. O. S. 98 f. Die Enzyklika wurde nach dem Tod von Pius XI. nicht weiter verfolgt. Ausführlich dazu: G. Passelecq/ B. Suchecky, Die unterschlagene Enzyklika, München 1997. 180 A. Kolnai, The War Against the West [1936], Der Krieg gegen den Westen, hg. und eingeleitet von W. Bialas, Göttingen 2015. Vgl. zum folgenden insbes. Kap. VI (Moral, Recht und Kultur), S. 321 ff. Zum moralischen Universalismus, dem göttlichen Gesetz, einer objektivistischen Ethik: S. 577, 700, 308, 450. Zum geistigen Umbruch: S. 280. 178
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die bereits im Sommer 1936 abgeschlossen wurde, setzt sich Kolnai mit dem Gedankengut des NS auseinander und erkennt darin den Verlust einer Moral, die alle Menschen umfasst. Seine Kritik des Nazismus schwankt zwischen der Absage an dessen moralischer Qualifikation und dem Versuch, dem »Ideal der NaziMoral« im Verständnis einer »neudeutschen Ethik« näherzukommen. Ähnlich wie die Enzyklika des Papstes argumentiert Kolnai gegen den Partikularismus der NS-Moral mit seiner universalistischen Überzeugung, wobei er sich auf Traditionen der Menschenrechte, ein göttliches Moralgesetz oder Rückgriffe auf Max Schelers objektivistische Ethik beruft. Kolnai diagnostiziert »tobende Wellen des Kulturkampfs« und stellt fest, dass christliche Autoren, die dem NS nahestehen, die Bereitschaft zu einem weitreichenden geistigen Umbruch zeigen. Die beispielhafte Enzyklika von Pius XI. und die hellsichtige Studie von Aurel Kolnai verweisen auf Diskussionen zur NS-Moral, die bis in die Gegenwart reichen und dem Problem gelten, in welchen Begriffen diese Art von Moral zu fassen ist. 181 (5) Juden und andere Opfer Von der radikalen Transformationsmoral des NS waren nicht nur die Juden betroffen, auch wenn der Holocaust die äußerste Zuspitzung ihrer Konsequenzen darstellt. Der Genozid an den Sinti und Roma, die Tötungen von Polen, Russen und anderen Osteuropäern sowie die dem Rassismus und Biologismus geschuldete Euthanasie von Behinderten oder als »lebensunwertes Leben« deklarierten Menschen sind für eine umfassende Sicht auf die Opfer des Nazismus unverzichtbar. Aus Anlass der Einweihung des HoloAus dem Hannah-Arendt-Insitut: Bialas, Moralische Ordnungen, a. a. O.; W. Bialas/L. Fritze (Hg.), Ideologie und Moral im Nationalsozialismus, Göttingen 2014; W. Bialas/L. Fritze (Hg.), Nationalsozialistische Ideologie und Ethik. Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2020. Aus dem Fritz Bauer Institut: W. Konitzer/R. Gross (Hg.), Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen, Frankfurt/New York 2009; R. Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt/ M. 2010. 181
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caust-Mahnmals in Berlin ist zu Recht argumentiert worden, dass es nicht darum gehen kann, eine Hierarchie von Opfern zu bilden. Yehuda Bauer (Yad Vashem) hat schon früher in einer Entgegnung auf Romani Rose (Zentralrat Deutscher Sinti und Roma) darauf hingewiesen, dass der Vergleich zwischen dem Genozid an den Sinti und Roma und dem Holocaust nicht dazu führen kann, das Leiden der Opfer – welcher Herkunft auch immer – ungleich zu gewichten. 182 Doch Bauer macht auch deutlich, dass historische Differenzierungen, die aufzeigen, warum die »Judenfrage« für den Nazismus eine überaus dominierende Bedeutung hatte, daran anzuschließen sind. Denn Juden waren für den NS der aktive Hauptfeind, den es in erster Linie zu bekämpfen galt, weil sich an ihnen der Geschichtskampf der Rassen entschied (vgl. oben unter (2) und Kap. 1.1). 183 Diese Priorität zeigt sich auch daran, dass Hitler im August 1941 befahl, die Euthanasie-Aktionen einzustellen, weil er Rücksichten auf die konfessionell gebundene Bevölkerung für opportun hielt. Zur selben Zeit aber verschärfte er Maßnahmen gegen Juden. Abstriche an der Judenverfolgung vorzunehmen, kam nicht in Frage. Im Gegenteil: auf Vorschlag von Goebbels wurde im Deutschen Reich im Spätsommer 1941 der »Judenstern«, der weitere Schikanen und Demütigungen gegen Juden bewirkte, eingeführt. 184 Zur Geschichte der Opfer des NS gehört auch, dass in seinem Umfeld moralische Entgrenzungen stattfanden, die noch nicht vollständig aufgearbeitet wurden. 185 Die Dringlichkeit einer verY. Bauer, »›Es galt nicht der gleiche Befehl für beide‹. Eine Entgegnung auf Romani Roses Thesen zum Genozid an den europäischen Juden, Sinti und Roma«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 43, 1998, H. 11, S. 1380–1386. 183 Vgl. S. Friedländer, Vernichtung, a. a. O. S. 17: »Der Jude war eine tödliche und aktive Bedrohung für alle Nationen, für die arische Rasse und für das deutsche Volk.« 184 P. Longerich, Hitler, a. a. O., S. 805 ff. Vgl. das zugespitzte Fazit bei W. Bialas, Moralische Ordnungen, a. a. O., S. 261: »Für Hitler war es offensichtlich wichtiger, die Juden zu vernichten als den Krieg zu gewinnen.« 185 Vgl. die Darstellung des breiten Spektrums von »partizipatorischer Gewalt«, die dazu beiträgt, die Judenvernichtung als Werk sozialer – deutscher 182
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gleichenden Vernichtungs- und Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts unter Einbeziehung des Stalinismus rückte Timothy Snyder neuerdings in den Fokus. 186 Dieses Problemfeld beziehe ich unter der Fragestellung »Moral des neuen Menschen« im Bolschewismus mit ein (vgl. unten 2.2).
Begriffliche Klarstellungen zur NS-Moral Die moralische Transformation unter dem Nationalsozialismus erfolgte anhand einer Analyse der Hauptkomponenten seiner Weltanschauung und der leitenden Selbstinterpretationen seiner Vertreter und Gefolgsleute sowie Anhängern, Sympathisanten und schweigenden Tolerierern. Die relativ kurze Zeit, die dem NS für seine moralische Transformation und ihre fatalen Konsequenzen zur Verfügung stand, unterstreicht umso mehr die Schwäche herkömmlicher christlicher wie säkularer Moralverständnisse und die Gefährdung universalistischer Überzeugungen. Kaum auszudenken, wie die moralische Entwicklung verlaufen wäre, wenn es der NS geschafft hätte, seine Herrschaft über seine kriegerischen Offensiven hinaus auf längere Zeit zu konsolidieren. Deshalb fordert die NS-Moral in besonderer Weise dazu heraus, Moral in ihrer geschichtlichen Situiertheit und ihren divergenten Erscheinungsweisen zu untersuchen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass zwischen der deskriptiv-analytischen Erschließung der NS-Moral und ihrer negativen Bewertung methodisch unterschieden werden muss. Diese Bewertung sollte jedoch nicht dazu führen, im Fall der NS-Moral die Rede von Moral abzulehnen. Wie verständlich eine solche Reaktion aus Empörung über den Gattungsbruch auch sein mag – sie behindert eine fundierte Auseinandersetzung mit der hier zu verwie nicht-deutscher – Akteure zu verstehen: Ch. Gerlach, Der Mord an den Europäischen Juden, München 2017, S. 22 ff., 431 ff. In diesen Zusammenhang gehört auch das von der kroatischen Ustascha betriebene Lager Jasenovac, das als jugoslawisches Auschwitz gilt, und bis heute die Beziehungen zwischen Kroatien und Serbien belastet. 186 Snyder, Bloodlands, a. a. O.
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Nationalsozialistische Moral als Transformationsgeschehen
handelnden Problemlage. Schon im Anschluss an die Kritik zu Korsgaard habe ich dafür plädiert, nicht auf eine andere Terminologie auszuweichen und etwa von einem nazistischen Wertekonzept oder Nazi-Werten der menschlichen Transformation zu sprechen (vgl. oben 1.1) Denn was wäre damit gewonnen? Der Gegensatz zum Universalismus bliebe weiter Thema genauso wie die Frage nach den Elementen des nazistischen Wertekonzepts und wie es möglich war, dass dieses Konzept in einer historisch nicht zu bestreitenden Weise alle gesellschaftlich relevanten Bereiche durchdringen und ein eigenes normatives Sinngefüge etablieren konnte. 187 Nicht zuletzt wird das Beharren auf dem Terminus ›NS-Moral‹ durch die Versuche von NS-Protagonisten, deren Parteigängern oder ihren philosophischen Begleitern, der NS-Moral eine eigene moralphilosophische Begrifflichkeit zu unterlegen, unterstrichen. Das reicht von völkischen Umdeutungen des kategorischen Imperativs von Kant bis zu NS-konformen Missdeutungen Nietzsches oder anderen Konzeptionen einer NS-Moral. 188 Eine weitere Klarstellung ist in meiner Charakterisierung der NS-Moral als einer Moral der Transformation bereits angelegt. Sie verweist auf eine nicht abgeschlossene Dynamik im Gegensatz zu einem System von innerer Geschlossenheit. Es ist ausreichend, die wesentlichen Elemente dieser Moral namhaft zu machen und ihren Details im Rahmen der sozio-politischen Formation des NS weiter nachzugehen. Die NS-Moral war keine creatio ex nihilo, Zu diesem Punkt und den folgenden Klarstellungen: R. Zimmermann, »Moralischer Universalismus als geschichtliches Projekt«, in: Erwägen Wissen Ethik 20 (2009) 3, S. 415–428. Dazu meine Replik auf Kritiken: Moralisch-geschichtliche Selbstauslegung als Problem der Ethik, ebd., S. 485–496. 188 Zu Kant: Bialas, Moralische Ordnungen, a. a. O., S. 140. Zur Instrumentalisierung Nietzsches am Beispiel Alfred Bäumlers: R. Zimmermann, Ankommen in der Republik, a. a. O., S. 184–193. Vgl. die Beiträge zur Konferenz des Fritz Bauer Instituts: ›NS-Moral: Eine vorläufige Bilanz‹ : W. Konitzer/D. Palme (Hg.), ›Arbeit‹, ›Volk‹, ›Gemeinschaft‹. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus, Frankfurt/New York 2016. Zur NS-hörigen Philosophie insgesamt: G. Wolters, »Der ›Führer‹ und seine Denker«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47/1999, S. 223–251. 187
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sondern stand in permanenter Auseinandersetzung mit bisherigen moralischen Normen oder institutionellen Bindungen. Wie oben ausgeführt (unter (3)) wurde die Weimarer Verfassung niemals offiziell außer Kraft gesetzt, sondern durch neue Gesetze überschrieben. Das bedeutet, dass sich Anhänger der früheren Republik auf die persönlichen Rechte der alten Verfassung berufen und sich als Vertreter einer immer noch intakten besseren Moral verstehen konnten. Umgekehrt war es für Parteigänger des NS, die moralische Skrupel bekamen, möglich, auf noch bestehende Ressourcen westlicher Moraltraditionen oder auf ein nicht korrumpiertes Christentum zurückzugreifen. Insofern wird man der historischen Situation am besten dadurch gerecht, dass man von Konflikten zwischen gegensätzlichen Moralen ausgeht, wie dominant auch immer die NS-Moral zu bestimmten Zeiten gewesen sein mag. 189 Die NS-Bewegung mit ihrer Moral war keine Schöpfung einer entlegenen Welt, sondern sie vollzog sich unter den sozialen, kulturellen und politischen Konstellationen Europas. Die vom Holocaust ausgehende moralische Verstörung ist eine Verstörung über Taten von Menschen, die uns ähnlich sind. Deshalb stellt Yehuda Bauer fest: »[…] die Tragödie der Shoah bestand nicht darin, dass sie unmenschlich war, sondern dass die Nazis Menschen waren, genauso wie wir.« 190
Vgl. C. Koonz, The Nazi Conscience, Cambridge/Mass./London 2003. Zur moralischen Ambivalenz innerhalb der SS und ihrer Gerichtsbarkeit: H. Pauer-Studer/J. D. Velleman: »Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin«. Der Fall des SS-Richters Konrad Morgen. Berlin 2017. Dass Historiker gelegentlich von einer »Doppelmoral« bei Himmler und der SS sprechen, verweist darauf, dass sich das Problem, eine innere Kohärenz ihrer Moral herzustellen, für diese Protagonisten zwangsläufig ergeben musste: Longerich, Himmler, a. a. O., S. 320; Mommsen, NS-Regime, a. a. O. S. 205. 190 Y. Bauer, »Einige Überlegungen zur Shoah«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006), S. 547. 189
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Es ist wichtig, die Protagonisten, Unterstützer und Täter des NS nicht aus dem Spektrum menschlicher Entfaltungsweisen auszuschließen, wie scharf auch immer ihre moralischen Dispositionen und Überzeugungen kritisiert werden mögen. 191 Auf einem realistischen Bild der Geschichte erscheinen die Menschen in sehr unterschiedlichen Ausprägungen, moralische Divergenz gehört dazu. 192 Mein Begriff des Gattungsbruchs beinhaltet eine Differenzierung des Begriffs der Menschheit. Der Einwand, dass der NS den Das unterstreicht auch überzeugend die neuere umfassende Studie von L. Fritze, Die Moral der Nationalsozialisten, Reinbek 2019, S. 52 f. Doch Fritze deutet die NS-Moral exemplarisch am Leitfaden der Haupttäter des NS und vertritt die These, dass deren moralische Verfehlungen primär in Bezug auf deren – wie er sagt – »außermoralische Überzeugungen« zu analysieren seien (ebd., S. 238 ff., 265 ff.) wozu Überzeugungen über den Zustand der Welt und z. B. die von den Juden ausgehende Gefahr gehörten. Trotz der damit einhergehenden Verletzung »kognitiver Pflichten« (ebd., S. 440 ff.), die etwa in der mangelnden Bereitschaft besteht, die vermeintliche jüdische Gefahr ernsthaft empirisch zu überprüfen (vgl. oben (2)), bewegen sich für Fritze die NS-Täter mit »gutem Gewissen« im Rahmen herkömmlicher Moral, auch wenn sie diese auf fragwürdige Weise mit »außermoralischen Überzeugungen« verbinden und insofern auch eine »andere Moral« haben (ebd., S. 376, 440). Fritzes Interpretation wird m. E. den vom NS bewirkten gravierenden moralischen Verschiebungen, die in einem moralischen Anderssein von gesamt- und weltgesellschaftlicher Relevanz münden, nicht gerecht. Selbst wenn man die NS-Überzeugung von der jüdischen Gefahr als zutreffend unterstellt, würde man im Rahmen herkömmlicher moralischer Normen erwarten, dass dieser Gefahr keineswegs mit der Vernichtung des ganzen Judentums begegnet werden müsste. Eine frühere Version von Fritzes Ansatz habe ich bereits kommentiert im Anschluss an: L. Fritze: »Moralische Rechtfertigung und außermoralische Überzeugungen. Sind ›totalitäre Verbrecher‹ nur in einer säkularen Welt möglich?«, in: Leviathan, Bd. 37 (2009), S. 5–33. Vgl. R. Zimmermann, »Nationalsozialismus – Bolschewismus – Universalismus«, in: W. Bialas/ L. Fritze (Hg.), Ideologie und Moral, a. a. O., S. 369–397, ebd., S. 395–397. 192 Vgl. I. Clendinnen, Reading the Holocaust, Cambridge 1999, S. 11 f.: »I do not pretend that ›understanding‹ men like Hitler, or Himmler, or Stangl is an easy matter. I would only insist that the problem is not qualitatively different from the problem inherent in understanding any other human beings – and that our understanding of our fellow human beings will not be and cannot be complete.« 191
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Juden nicht ihren menschlichen Status bestritten und sie insofern nicht aus der Menschheit ausgegrenzt habe, verweist auf eine Doppeldeutigkeit im Begriff der Menschheit. Einerseits kennt auch der NS einen deskriptiven Begriff der Menschheit, der dem üblichen Verständnis entspricht und sich auf die Gesamtheit der weltweit lebenden Menschen, ihren Lebensumständen als Individuen, Gruppenmitgliedern und ihrer Zugehörigkeit zu Völkern, Nationen oder religiösen Gemeinschaften entspricht. In diesem Sinn reiht er Juden in die Menschheit ein. Andererseits aber wird der Begriff der Menschheit enger gefasst und steht für »wahre Menschheit«, »wahres Menschentum«. Mit diesem normativ eingeschränkten Begriff wird keineswegs die Tatsächlichkeit der weltweiten Menschheit anerkannt. Vielmehr werden die Juden aus ihr ausgeschlossen, um eine neue Menschheit nach NSMaßstäben zu schaffen. Dieser normativ begrenzte Begriff ist das Pendant zum Gattungsbruch. 193 Bereits Hannah Arendt ist diesem Sachverhalt gerecht geworden, wenn sie in den letzten Sätzen ihres Eichmann-Buchs die Nazi-Anmaßung, »zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll und wer nicht«, anprangert. 194 Die gravierenden historischen Erfahrungen mit dem NS und der moralischen Transformation erschüttern den Glauben an geschichtsneutrale moralische Überzeugungen oder Prinzipien. Sie lassen den Gegensatz zwischen dem radikalen NS-Partikularismus und dem moralischen Universalismus als geschichtlichem Widerpart deutlich hervortreten. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass Saul Friedländer die Radikalität des NS-Antisemitismus als »Erlösungsantisemitismus«, der die arisch-deutsche Gemeinschaft und die gesamte Menschheit von den Juden befreit, bezeichnet (vgl. oben 1.1). Meine Ausführungen zur moralischen Transformation des NS regen dazu an, in ähnlicher Weise von einer Erlösungsmoral zu sprechen, bei der der religiöse Sinn von Erlösung zu einem innerweltlichen Projekt wird, die außerweltDiese Differenzierung macht Fritzes Kritik an meinem Begriff des Gattungsbruchs sowie seine Kritik an Rorty hinfällig. Vgl. Fritze, Moral, a. a. O. S. 131 f. 194 Arendt, Eichmann, a. a. O., S. 329. 193
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liche Erlösung entfällt und das Jüngste Gericht in der realen Geschichte stattfindet. Das legt nahe, einen allgemeinen Gegensatz zwischen einer nazistischen Erlösungsmoral und einer Moral der menschlichen Integration, kurz Integrationsmoral, zu formulieren. Integration ist dafür der leitende Begriff, weil vorausgesetzt wird, dass jedes menschliche Wesen Teil der menschlichen Gattung ist und der Menschheit einfach aufgrund seiner oder ihrer Existenz angehört. Eine Integrationsmoral kann selbst einer hierarchischen oder traditionellen Gesellschaft zugeschrieben werden, die gleiche Rechte für alle Menschen ablehnt, aber mit Selbstevidenz davon ausgeht, dass jeder Mensch Teil der Menschheit ist und Anspruch darauf hat, auf menschlich-personale Weise wahrgenommen zu werden (vgl. oben 1.3). Der Klarheit halber sei hinzugefügt, dass auch die Weltreligionen unter den hier relevanten Begriff von Integrationsmoral fallen, nicht jedoch unter das obige Verständnis von Erlösungsmoral. Im Gegensatz zum Christentum, für das Erlösung »nicht von dieser Welt« ist, sondern sich auf eine extramundane Dimension bezieht, ist die nazistische Erlösungsmoral rein innerweltlich. 195 Damit wird auch klar, dass die spezifische Art von Integrationsmoral, mit der wir es seit dem 18. Jahrhundert im Sinne eines Universalismus der Gleichheit von Menschen und der gleichen Rechte für alle Menschen zu tun haben, in fundamentaler und unaufhebbarer Opposition zur Nazi-Moral steht. Diese Moralen stehen sich als geschichtsmächtige Konkurrenten gegenüber, die den Kern der jeweiligen Vergemeinschaftungen bilden. Systematisch betrachtet kann man von moralischen Vergemeinschaftungstypen sprechen, die sich in folgender Weise als Webersche Idealtypen präsentieren und vergleichend diskutieren lassen 196 :
Dem widerspricht nicht, dass es im NS Selbstverständnisse von wichtigen Protagonisten – z. B. Goebbels – gibt, die einen außerchristlichen Gottesglauben mit der NS-Bewegung verbinden. Vgl. C.-E. Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 2002. Exemplarisch zu Goebbels und »Erlösung«: Ebd., S. 121 ff., 138. 196 Zu Weberschen Idealtypen vgl. oben 1.1 Anm. 37. 195
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Erstens muss es ein elementares moralisches Selbstverständnis als ein moralisches Zentrum geben, das Verpflichtungen für die jeweiligen Ich- oder Wir-Orientierungen definiert. Für den westlich-universalistischen Typus bedeutet das, dass jede Frau und jeder Mann sich selbst denselben moralischen Status wie jede andere Frau und jeder andere Mann zuschreiben und dass die Frauen und Männer sich als Mitglieder einer Wir-Gemeinschaft sehen, in der jedes Mitglied diesem Selbstverständnis folgt. Das maßgebliche Selbstverständnis wird manifest in der wechselseitigen Anerkennung von gleichen Rechten für jedes Mitglied einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft. Der Nationalsozialismus setzt jedoch ein eigenes Zentrum dem universalistischen Zentrum entgegen. Danach beanspruchen die Deutschen oder Arier einen höheren moralischen Status als Nicht-Deutsche oder Nicht-Arier und folgen dem Selbstverständnis einer Wir-Gemeinschaft, die Ungleichheit nach rassischen Kriterien für selbstverständlich hält. Dieses partikularistische Verständnis ist jeder universalistischen Überzeugung, die als »jüdisch« verstanden wird, strikt entgegengesetzt. 197 Zweitens gibt es ein Netzwerk von sozialen Normen und Institutionen, die mit dem moralischen Zentrum in Verbindung stehen. Elemente des universalistischen Typus sind ein gewaltfreies Zivilleben, sozialer und öffentlicher Schutz vor Diskriminierungen jeder Art und ein Rechtssystem, das auf Menschenrechten gründet. Zugleich werden vom Rechtssystem Bedingungen für die politische Sphäre der konstitutionellen Demokratie sowohl nach innen als auch nach außen festlegt. Im Kontrast dazu strebt der NS nach einer Stärkung der arisch-deutschen Gemeinschaft unter Leitung des »Führers«. Das »Führerprinzip« kennt keine Beschränkung der inneren und äußeren Politik durch das Recht,
Der vergebliche und singulär gebliebene Versuch von Otto Dietrich, dem »Reichspressechef« der NSDAP, für den NS eine »philosophische Grundlage« zu liefern, die einen eigenen »Universalismus« im Sinne einer organischen Gemeinschaftsidee dem Individualismus gegenüberstellt, unterstreicht in seinem Scheitern nur den Partikularismus des NS. Hierzu: Chapoutot, Gesetz des Blutes, a. a. O., S. 88 f.
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Bolschewistische Moral des Neuen Menschen
sondern ist ausschließlich den Interessen der »Volksgemeinschaft«, die oberste Priorität genießen, verpflichtet. Drittens charakterisiert die Stellung zur Gewalt einen bestimmten Typus von moralischer Vergemeinschaftung. Der universalistische Typus erfordert – wir sprechen von Idealtypen –, dass Konflikte im Innern einer Gemeinschaft nicht gewaltförmig ausgetragen werden und dass das staatliche Gewaltmonopol respektiert wird. Für den NS-Typus ist Gewalt ein legitimes Mittel zur Stärkung der Homogenität der Gemeinschaft gegen Feinde, die unter Rassekriterien oder nach Maßgabe der Aussonderung »ungesunder Elemente« definiert werden. Dementsprechend ist für den »Führer« der gewaltförmige Kampf für die Dominanz der eigenen Rasse in einer weltweiten Auseinandersetzung das wahre »Menschenrecht« einer Gemeinschaft. Auch das Verfassungsrecht kann im Interesse der Sicherung des Deutschtums in der Geschichte außer Kraft gesetzt werden. Zugleich sind Angriffskriege als Aktionen der Selbstverteidigung unumgänglich. Dagegen beschränkt der universalistische Idealtypus militärische Macht und Gewalt auf Situationen der Selbstverteidigung und verlangt die Respektierung des Völkerrechts. Die Existenz der auf diese Weise charakterisierten moralischen Vergemeinschaftungstypen unterstreicht das Problem, dass ein singulärer Begriff von Moral und die an ihm orientierten ethisch-philosophischen Konzeptionen fragwürdig sind, da die historische Erfahrung auf eine Variationsbreite an moralischen Entwürfen und die Möglichkeit zur moralischen Transformation von Menschen verweist. Weitere systematische Konsequenzen aus diesem Befund ergeben sich, nachdem die zutage getretene moralische Divergenz an einem weiteren Typus, den der Bolschewismus hervorgebracht hat, deutlich geworden ist.
2.2 Bolschewistische Moral des Neuen Menschen Die Russische Revolution hat einen eigenen Typus von Moral hervorgebracht, der die ethische Reflexion herausfordern muss. Das Ideal eines »Neuen Menschen« verbindet sich mit der rigoro137 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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sen Ausgrenzung von »Klassenfeinden« und ihrer Vernichtung. Das Geschehen des Holodomor steht für die Verbindung von revolutionärer Moral und Stalinismus, während auf theoretischer Ebene die Position Trotzkis einen Idealtypus bolschewistischer Moral abgibt, der die Familienähnlichkeit von Lenin, Trotzki bis Stalin umgreift. Im Vergleich lassen sich bolschewistische Moral und NS-Moral als Erlösungsmoralen fassen. 198
Holodomor: Revolutionäre Moral und Stalinismus Vor dem Hintergrund der moralischen Katastrophe von Auschwitz drängt sich die moralische Katastrophe des Holodomor geradezu auf, um nach Begriffen für die Deutung dieser Katastrophe im stalinistischen Kontext zu fragen. Im Anschluss an Rortys Position, mit der das Problem der Entmenschlichung in ganzer Breite in den Fokus rückte, wurde bereits auf den Kommunismus verwiesen (vgl. oben 1.2). Die Beschäftigung mit dem Geschehen des Holodomor trägt dazu bei, auf ein epochales Phänomen der Entmenschlichung einen genaueren Blick zu werfen. Seit 1988 hat sich die Bezeichnung »Holodomor« für die Hungerkatastrophe der Jahre 1932/33 in der Ukraine eingebürgert. Die ukrainischen Wörter ›holod‹ für ›Hunger‹ und ›mor‹ für ›großes Desaster‹ liegen der Wortbildung zugrunde. Auch andere Regionen, Nordkaukasus und Kasachstan, waren betroffen. Die Bauern der Ukraine stellen die Hauptopfer dar, wobei nach den inzwischen aufgearbeiteten Quellen von 3 bis 3,5 Millionen Toten in der Ukraine auszugehen ist. Insgesamt werden die Opfer der »großen Hungersnot« auf ca. 6 Millionen beziffert. 199 Es gibt jeIm Folgenden greife ich zurück auf: R. Zimmermann, Moral als Macht. Eine Philosophie der historischen Erfahrung, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 28–41. 199 Vgl. zum Komplex des Holodomor und Stalinismus folgende Untersuchungen: N. Werth, »Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion«, in: Courtois, Schwarzbuch Kommunismus, a. a. O., S. 45–295, insbes. S. 165–188; St. Plaggenborg, »Die wichtigsten Herangehensweisen an den Stalinismus in der westlichen Forschung«, 198
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Bolschewistische Moral des Neuen Menschen
doch auch weitergehende Schätzungen, die von 10 Millionen Toten sprechen. 200 Diese Hungersnot war keine Naturkatastrophe, sondern die Folge der unter Stalin beschlossenen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die kompromisslos und brutal durchgeführt wurde. Am 27. Dezember 1929 verkündete Stalin den Übergang »von der Begrenzung der ausbeuterischen Tendenzen der Kulaken zur Liquidierung der Kulaken als Klasse«. Zum Zwecke der praktischen Umsetzung dieser Vorgabe wurden die Kulaken in drei Kategorien eingeteilt: Konterrevolutionäre, Oppositionelle, Loyale. Die ersteren sollten bei Widerstand hingerichtet, ansonsten jedoch in Arbeitslager der GPU verbracht werden, wobei ihre Besitztümer zu beschlagnahmen und ihre Angehörigen in entlegene Gebiete des Landes zu deportieren waren. Deportation drohte auch den unter die zweite Kategorie subsumierten, während die als loyal Eingestuften am Rand der kollektivierten Zonen angesiedelt werden sollten. Einige bolschewistische Kader bestimmten sogar per Losentscheid, wer Kulak war und wer nicht. Die Kategorisierung war offenbar nicht trennscharf, wie überhaupt im Zuge der Kollektivierung die Bezeichnung »Kulak« immer vieldeutiger wurde: Einerseits bezog sie sich auf den wohlhabenden Bauern, andererseits auf den Bauern, der sich der Kollektivierung widersetzte. Außerdem stand »Kulak« für ein »denunziatorisches Schimpfwort mit einer anti-semitischen Wurzel.« 201
in: ders. (Hg.), Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 13–33; M. Sappper/V. Weichsel/A. Gebert (Hg.), »Vernichtung durch Hunger. Der Holodomor in der Ukraine und der UdSSR«, in: Osteuropa 12/2004; G. Koenen, Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Berlin 1998, Kap. 7; J. Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, Berlin 2004 (2. Aufl.); O. Figes, The Whisperers. Private Life in Stalin’s Russia, London 2007; N. M. Naimark, Stalin’s Genocides, Princeton 2010. 200 P. Borisow, 1933. »Genocide. Ten Million. Holodomor«, in: Ch. Madden (Hg.), Holodomor. The Ukrainian Genocide 1932–1933, Canadian American Slavic Studies, Vol. 37/Nr. 3, 2003, S. 1–6. 201 E. Jahn, »Der Holodomor im Vergleich«, in: Osteuropa 12/2004, S. 13 Anm. 2.
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Lehrstücke moralischer Divergenz
Die Durchführung der Zwangskollektivierung setzte das Verhältnis von Sowjetstaat und Bauernschaft ständigen Konflikten aus. In jedem Herbst kam es zu Machtkämpfen zwischen dem Staat und den Bauern, die versuchten, einen Teil der Ernte für sich zu behalten, um zu überleben. Im Sommer 1932 wurde ein Gesetz verabschiedet, das Diebstahl oder »Verschwendung sozialistischen Eigentums« mit zehnjähriger Lagerhaft oder dem Tod bestrafte. Innerhalb weniger Monate wurden nach diesem Gesetz weit über 100 000 Menschen verurteilt, davon über 5 000 mit dem Tod. Trotz dieser harten Repression konnte der Getreideeinzugsplan nicht eingehalten werden. Daraufhin wurden außerordentliche Kommissionen gebildet, die der »Sabotage« vor Ort Einhalt gebieten sollten. In der Ukraine führte die »Kommission Molotow« entsprechende Maßnahmen durch, die eine Säuberung der Ortsgruppen der Partei und Massenverhaftungen bei Kolchosebauern, aber auch bei verdächtigen Leitern von Kolchosen zur Folge hatten. Dennoch war der Widerstand der Bauern, die um ihr Überleben kämpften, in einem so riesigen Land flächendeckend nicht zu brechen. Nicolas Werth zu der von der Sowjetführung gezogenen Konsequenz: »Deshalb gab es für den Sieg über ›den Feind‹ nur eine Lösung: ihn auszuhungern.« 202 Obwohl selbst überzeugte Stalinisten aus den betroffenen Regionen angesichts einer kritischen Versorgungslage für den Winter 1932 darum baten, die Mindestbedürfnisse der Kolchosebauern zu berücksichtigen, hielten Stalin und Molotow an ihrem rigiden Kurs fest. Die Bauern wurden gezwungen, ihre gesamten Vorräte abzuliefern und kamen dadurch in eine ausweglose Lage, da sie über keine Mittel mehr verfügten, sich irgend etwas zu kaufen. Millionen von Bauern waren dem Hunger ausgesetzt und hatten keine andere Möglichkeit als in die Städte zu ziehen, was jedoch wiederum durch gesetzliche Maßnahmen verhindert wurde. Im Zuge der Hungersnot erreichte die Sterblichkeit im Frühjahr 1933 ihren Höhepunkt. Ihre traurige Bilanz kommt in den oben angeführten Opferzahlen zum Ausdruck.
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Werth, a. a. O., S. 182.
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Bolschewistische Moral des Neuen Menschen
Im April des Jahres 1933 schrieb der Schriftsteller Michail Scholochow an Stalin, nachdem er bei einer Reise in den Nordkaukasus erfahren hatte, wie den Kolchosebauern unter Anwendung von Folter ihre Vorräte abgepresst wurden. Nach detaillierter Schilderung der Brutalitäten bittet er Stalin, »wahre Kommunisten« zu schicken, um die Übeltäter zu entlarven und die Kolchosen zu retten. In seiner Antwort bedauert Stalin zwar die »Übertretungen«, doch besteht er darauf, dass die Bauern einen Zermürbungskrieg gegen die Sowjetmacht geführt hätten und dass es um einen Kampf auf Leben und Tod gehe. Wenn Scholochow nach wahren Kommunisten ruft, so kann man fragen, ob Stalins Politik der Zwangskollektivierung in der Partei einhellig auf Zustimmung stieß. Das war nicht der Fall, doch der Widerstand der »rechten Opposition« (Bucharin, Rykow), die Chaos und Hungersnot befürchtete, war im Frühjahr 1929 bereits gebrochen. Wenn man die große Hungersnot der Jahre 1932/33, den Großen Terror der Jahre 1936–1938 und das GUlag-System der Lager sowie der damit verbundenen Deportationen als die wichtigsten Großverbrechen der Stalin-Ära ansetzt, so kommt dem Aufbau eines umfassenden Repressionssystems zur Zeit der großen Hungersnot ein entscheidender Stellenwert für viele der nachfolgenden Entwicklungen zu: »Die Kollektivierung war die eigentliche Geburtsstunde des GULag, denn sie ermöglichte es dem Sicherheitsapparat, Menschen nach Bedarf zu stigmatisieren, zu verhaften und als Arbeitssklaven zu verschicken.« 203
Diese Diagnose ermöglicht es, den Holodomor und andere Großverbrechen in den Gesamtzusammenhang von bolschewistischer Revolution und Stalinismus zu stellen. Dabei ist erstaunlich, wie der Zugang zu bisher unbekanntem Archivmaterial zu einer immer stärkeren Fokussierung der historischen Forschung auf die ideologisch-kulturelle Dimension dieses Zusammenhangs ge203
Baberowski, Terror, a. a. O., S. 126.
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Lehrstücke moralischer Divergenz
führt hat. 204 Die marxistische Geschichtstheorie der Klassenkämpfe als Motor der Geschichte, der bolschewistische revolutionäre Voluntarismus (Lenin), die Utopie des neuen sozialistischen Menschen und die Bereitschaft zu ungehemmter Gewalt, die im Stalinismus kulminiert, sind wesentliche Elemente des hier zu beachtenden Zusammenhangs. Das bolschewistische Selbstverständnis kennzeichnet Baberowski wie folgt: »Die Bolschewiki waren Eroberer, sie waren die Träger einer neuen Zivilisation, Machtmenschen, die sich mit der bloßen Erzwingung von Gehorsam nicht begnügen mochten. Als Angehörige einer Sekte von Alphabetisierten standen sie im Dienst einer heiligen Mission, der sie um jeden Preis zum Erfolg verhelfen wollten. Die bolschewistische Intelligenzija verstand sich als ein Orden von Auserwählten, als Werkzeug des Fortschritts, das die Geschichte auf vorgeschriebenen Bahnen hielt und vollendete. Ihr expansiver und aggressiver Wille zur Macht schöpfte aus eschatologischen Heilserwartungen, aus der Vorstellung, im Vollzug der Revolution werde der sich entfremdete Mensch zu sich selbst zurückkehren, wahres Wissen erlangen und Erlösung finden.« 205
Eine solche »Teleologie der Erlösung« erinnert in frappierender Weise an die Begriffsbildung des »Erlösungsantisemitismus«, die zur Kennzeichnung der nazistischen »Mission« anzusetzen ist. Man könnte in Analogie dazu von einem bolschewistischen Erlösungskommunismus sprechen, der sich zu einer »Utopie der Säuberung« verdichtet. 206 Wie stark die darin enthaltene Eschatologie bereits bei Marx vorgeprägt ist, kann hier offen bleiben, doch ist es keine Frage, dass die im bolschewistischen Kontext formulierte Utopie von extremen Heilserwartungen getragen wurde. 207 Hierzu ist es aufschlussreich, die utopische GigantomaJ. Baberowski, »Arbeit an der Geschichte. Vom Umgang mit den Archiven«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 51/2003, S. 36–56. 205 Baberowski, Terror, a. a. O., S. 29. 206 Koenen, Utopie, a. a. O. 207 Vgl. I. Halfin, From Darkness to Light. Class, Consciousness and Sal204
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nie zur Kenntnis zu nehmen, mit der Trotzki (1923) von einem neuen Menschen spricht: »Der Mensch wird endlich daran gehen, sich selbst zu harmonisieren. er wird es sich zur Aufgabe machen, der Bewegung seiner eigenen Organe – bei der Arbeit, beim Gehen oder im Spiel – höchste Klarheit, Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und damit Schönheit zu verleihen. Er wird den Willen verspüren, die halbbewußten und später auch die unterbewußten Prozesse im eigenen Organismus: Atmung, Blutkreislauf, Verdauung und Befruchtung zu meistern, und wird sie in den erforderlichen Grenzen der Kontrolle durch Vernunft und Willen unterwerfen [ …] Das Menschengeschlecht, der erstarrte homo sapiens, wird erneut radikal umgearbeitet – und unter seinen Händen – zum Objekt kompliziertester Methoden der künstlichen Auslese und des psychophysischen Trainings werden [ …] Der Mensch hat zuerst die dunklen Elementargewalten aus der Produktion und der Ideologie vertrieben, indem er die barbarische Routine durch wissenschaftliche Technik und die Religion durch Wissenschaft verdrängte. Dann hat er das Unbewußte aus der Politik vertrieben, indem er die Monarchie und die Stände durch die Demokratie und den rationalistischen Parlamentarismus, schließlich durch die Transparenz der Sowjetdiktatur ersetzte. Am schlimmsten hat sich die blinde Naturgewalt in den Wirtschaftsbeziehungen festgesetzt – aber auch von dort vertreibt sie der Mensch durch die sozialistische Organisation der Wirtschaft [ …] Der Mensch wird sich zum Ziel setzen [ …] einen höheren gesellschaftlich-biologischen Typus, und wenn man will – den Übermenschen zu schaffen [ …] Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner, sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und eine Stimme wird musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden eine dynamische Theatralik annehmen. Der durchschnittliche Mensch wird
vation in Revolutionary Russia, Pittsburgh 2000, Kap. 1: »Marxism as Eschatology«.
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sich bis zum Niveau eines Aristoteles, Goethe oder Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.« 208
Die radikale Transformation des Menschen tritt unter einem hyper-rationalistischen Ideal von individueller und kollektiver Selbst-Transparenz auf, das deutliche Einflüsse eines wissenschaftsgläubigen Technizismus und Biologismus zeigt, der sich mit einer Vision des »Übermenschen« verbindet, die auf eine verquere Rezeption Nietzsches verweist. Trotzkis Vision steht nicht allein. Wie ein Blick auf den Schriftsteller Maxim Gorki und dessen geistig-kulturellen Umkreis zeigt, gab ein nietzscheanisch geprägter Marxismus seit der Jahrhundertwende die Orientierungen vor, um an Konzeptionen des »sozialistischen Übermenschen« zu arbeiten. 209 Dabei sollte beachtet werden, dass die Suche nach dem »neuen Menschen« ein Thema war, das seit der Zeit des »fin de siècle« breit diskutiert wurde und ebenso in weitere politische Strömungen, so auch in den italienischen Faschismus, Eingang fand. Mussolini strebte gleichfalls eine Integration von Nietzsche und Marx an. Was den bolschewistisch verstandenen neuen Menschen betrifft, so war dessen Vorform der nach Vorstellungen Lenins gestaltete Parteikader. Mit Gerd Koenen 210 lässt sich der »neue Kadermensch« als »puritanisch, durch und durch politisiert, höchst aktiv, androgyn-kameradschaftlich, stets bereit zu lernen und nochmals zu lernen«, charakterisieren –, wobei für Lenin die internationale Ausrichtung wichtig war, z. B. deutsche Disziplin, jüdische Beweglichkeit, asiatische Ausdauer. Es ging darum, einen ins Soziale gewendeten Darwinismus zur Geltung zu bringen, so dass im Rahmen der Partei die ideologisch bestgeschulten, wilL. Trotzkij, literatur und revolution, berlin 1968, S. 214 f. Vgl. Baberowski, Terror, a. a. O., S. 94 f. 209 Vgl. H. Günther, Der sozialistische Übermensch. M. Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart/ Weimar 1993. Zum biopolitischen Kontext des sozialistischen Übermenschen vgl. das Material bei B. Groys/ M. Hagemeister/A. v. d. Heiden (Hg.), Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2005. 210 Koenen, Utopie, a. a. O., Kap. 6: »Der sozialistische Übermensch« 208
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lensstärksten und vitalsten Kräfte zur Durchsetzung kamen. Im Lichte der oben zitierten Vision des sozialistischen Übermenschen, wundert es nicht, dass die bolschewistischen Führungsfiguren selbst immer mehr zu Übermenschen stilisiert wurden. Ein Attentat auf Lenin (1918) nahm Trotzki zum Anlass, um dessen übermenschliche Rolle zu preisen. Mit seinem 50. Geburtstag (1920) wurde Lenin zum »Voshd« ausgerufen, dem Pendant zum italienischen »Duce« oder deutschen »Führer«. In seiner Eloge spricht Trotzki von Lenin als genialer Verkörperung nationaler bäuerlicher Schlauheit, die sich mit neuesten Errungenschaften wissenschaftlicher Forschung verbinde. Die Botschaft, die Trotzki damit transportiert, entziffert Koenen wie folgt: »Lenin verkörperte die Partei, die Partei verkörperte das Proletariat, und das Proletariat mit seiner frischen bäuerlichen Vergangenheit verkörperte sowohl das Bauerntum wie die russische Nation im ganzen. Da die Arbeiterschaft im Bürgerkrieg fast restlos zerschlagen und aufgelöst worden war und da das reale, auf primitivstes Niveau zurückgeworfene Bauerntum von Trotzkis Idealtypus um Welten entfernt war, wird deutlich, dass in der stilisierten Gestalt Lenins der ›Übermensch‹ Rußlands und die Blaupause des ›neuen Menschen‹ gezeichnet wurde. Das revolutionäre Subjekt des nationalen russischen Sozialismus war demnach ein Arbeiter-Bauern-Hybrid mit wissenschaftlicher Bildung und Leninschen Zügen.« 211
Auf diese Weise schuf sich der utopische Impetus der Bolschewiki allererst das Proletariat, das zur »Diktatur des Proletariats« passte. Das Projekt der Industrialisierung diente nicht nur der Modernisierung von Wirtschaft und Infrastruktur, es war zugleich das Medium, in dem sich die Schaffung neuer Menschen vollziehen konnte, die ein kulturrevolutionäres Programm zu erfüllen hatten. Insofern kann der Beginn des ersten Fünfjahresplans als die »Geburtsstunde des Proletariats« bezeichnet werden. 212 Soziale Koenen, Utopie, a. a. O., S. 135. Baberowski, Terror, a. a. O., S. 132. Vgl. zum Folgenden ebd., Kap. III: Kulturrevolution. Daraus die anschließenden wörtlichen Zitate.
211 212
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Identität als proletarische Klasse musste sukzessive konstruiert und hergestellt werden. 213 In diesem Prozess fanden sich nach Oktoberrevolution und Bürgerkrieg Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammen: Avantgardekünstler, Wissenschaftler, Rotarmisten, Aufsteigerkommunisten, ehemalige Bauern etc. Nichts zeigt die Konstruktion des neuen Menschen deutlicher als der Kontrast zu den Lebensformen des sowjetischen Orient, der einen proletariatsfreien Raum darstellte, dessen sich die Bolschewiki zu bemächtigen suchten: »Hier […] kam der neue Mensch aus der kulturrevolutionären Retorte. Der neue Mensch war einer, dessen Sprache, Kleidung und Gewohnheiten ihn als Europäer auswiesen, so wie die Bolschewiki sich ihn vorstellten. Europäer trugen proletarische Kleidung, Anzüge und Schirmmützen, sie hörten die Musik des Europäers und sie schrieben im lateinischen Alphabet. Kurz: wer in den Kreis der neuen Menschen aufgenommen werden wollte, mußte sich von den finsteren Ritualen der Vergangenheit befreien, Religion und Tradition hinter sich lassen.«
Gemäß diesem Selbstverständnis wurde am Ende der zwanziger Jahre gegen die turksprachigen und islamischen Völker der Sowjetunion eine rigide Latinisierung der Schriftsprachen betrieben und Zwangsmaßnahmen gegen die traditionelle islamische Kultur eingeleitet, darunter insbesondere die Entschleierung der Frauen. Die repressive Vorgehensweise bedeutete eine Kriminalisierung von Sitten und Gebräuchen der betroffenen Völker, die letztlich zum Scheitern verurteilt war, jedoch von Stalin zum Anlass genommen wurde, Ende der dreißiger Jahre seinen Terror auch gegen ethnische Kollektive und nicht nur gegen »sozial fremde Elemente« zu richten. Damit sind die kulturrevolutionären Vorzeichen auch für die Ära des Stalinismus benannt, die nicht als Revision des LeninisVgl. Sh. Fitzpatrick, »Ascribing Class: The Construction of Social Identity in Soviet Russia«, in: dies. (Hg.), Stalinism. New Directions, London 2000, S. 20–46.
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mus, sondern in dessen Kontinuität zu sehen ist. Auch das ideologische Schisma zwischen Stalin und Trotzki (Sozialismus in einem Land versus proletarischer Internationalismus etc.) ändert nichts an der kulturrevolutionären Verwandtschaft. Aus philosophischer Sicht ist es beeindruckend zu sehen, wie die historische Forschung zu einem psycho-moralischen Vokabular greift, um die Eigenart des Stalinismus zu fassen: »Was mit der Jahreswende 1927/28 überall in der Sowjetunion begann und in der Literatur über den Stalinismus Kulturrevolution genannt wird, war ein Kampf um die Seele der Untertanen, ein Feldzug um Deutungshoheit, der sich bis in die späte Stalin-Zeit fortsetzte. Die Kulturrevolution war keine Episode, sie war das Signum des Stalinismus. Für die Bolschewiki wurden in der Kulturrevolution nicht nur das Gedächtnis der Gesellschaft geleert und neu konfiguriert, sondern auch die Feinde aus ihr entfernt. Die kommunistischen ›Ingenieure der Seele‹ (Stalin) konnten ihr Werk doch nur verrichten, wenn jene, die die Deutungshoheit bislang für sich beansprucht hatten, aus den Schaltstellen der Macht verschwanden. Der Aufenthalt des Feindes war das Kollektiv, die Parteiführung konnte sich Feinde nur als Agenten sozialer Großverbände vorstellen. So wie der Freund dem Proletariat gehörte, lebte der Feind in der Gesellschaft der ›Ehemaligen‹, der Gutsbesitzer, Kapitalisten und Kulaken. Und weil es aus der Gemeinschaft der Stigmatisierten kein Entrinnen gab, triumphierte die Revolution am Ende als Feldzug der Vernichtung. So verband sich die Kulturrevolution, der Traum vom neuen Menschen, mit einer terroristischen Gewaltorgie. Diese Symbiose von Kulturrevolution und Gewalt heißt Stalinismus.« 214
214 Baberowski, Terror, a. a. O., S. 112. Die Revisionen, die der Autor inzwischen an seinem Stalin-Bild vorgenommen hat, indem er noch weit stärker Stalin als »Gewalttäter aus Leidenschaft« charakterisiert, bleiben hier außer Betracht, da es mir primär um eine idealtypische Sicht der bolschewistischen Moral geht, die den Hintergrund von Stalins Gewalttaten bildet. Vgl. J. Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012 (3. Aufl.), S. 30, 124.
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Der Kampf um die Seele, den Baberowski formuliert, fand darüber hinaus seinen Ausdruck in den seit Ende der zwanziger Jahre beginnenden Schauprozessen, die ein Ritual aus Beschuldigung, Reue und Bestrafung darstellten. Man kann sie als öffentliches Erziehungsinstrument ansehen, das zugleich Auskunft über das bolschewistische Selbstverständnis gab, wie die psycho-moralische Integration der Gesellschaft mit Mitteln des Terrors zu bewerkstelligen sei. Am Beginn standen Prozesse gegen Ingenieure, die wegen Sabotage und Verschwörung aufgrund erpresster Geständnisse verurteilt wurden (Šachti-Prozess), am Ende standen die berühmt-berüchtigten Moskauer Prozesse (1936–38), in denen hochrangige Mitglieder der kommunistischen Partei erzwungenen Geständnisse und Selbstanklagen abgaben. Das traf auch auf Nikolai Bucharin zu, der seit dem Jahr 1937 unter Anklage stand. Schließlich wurde er – einst Theoretiker und »Liebling« der Partei – im dritten Moskauer Prozess (1938) in der »Strafsache des antisowjetischen Blocks der Rechten und Trotzkisten« verurteilt. 215 Er entging nicht der Hinrichtung, obwohl er die zuvor von Stalin selbst inszenierten Reuebekenntnisse abgab und in Briefen an Stalin die gemeinsame Sache beschwor. Die Vorwürfe gegen Bucharin, der schließlich 1988 (!) rehabilitiert wurde, waren nicht stichhaltig, doch geben seine Bekenntnisse und Briefe an Stalin einen charakteristischen Einblick in die gemeinsamen Überzeugungen der führenden Bolschewiki. Ebenso wie Stalin zweifelte Bucharin nicht daran, dass es die bedrohlichen Feinde der sozialistischen Ordnung gab, zu denen er nun selbst gezählt wurde, und dass es unvermeidlich war, gegen diese vorzugehen. Insofern ist es durchaus plausibel, dass Bucharins letzte Äußerungen, in denen er sich der Partei erneut unterwarf, nicht nur auf Drohungen zurückzuführen sind, sondern als authentisches Zeugnis seiner psycho-moralischen Identität gelten können, K. Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008, S. 246 ff., insbes. S. 661–684: »Bucharins Abschied«; A. L. Bucharina, Nun bin ich schon weit über zwanzig. Erinnerungen, Göttingen 1989, S. 225. Diese Autobiographie ist lesenswert auch als Zeugnis zur gesellschaftlichen Atmosphäre im Stalinismus. Das Dokument zur Rehabilitierung Bucharins ebd., S. 7.
215
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für die es essentiell war, die eigene Mission im Medium der Partei zu rationalisieren. 216 Der Schauprozess enthüllte so den »Kern der stalinistischen Kulturrevolution«, dessen immanente Logik lautet: »Auf die Höhe des neuen Menschen brachte sich nur, wer den inneren Feind vollständig aus sich herausbrannte.« 217 Diese Diagnose mag zugespitzt wirken, doch findet sie im Kontext von historischen Forschungen, die sich nicht nur auf Autobiographien weniger führender Kommunisten, sondern auch auf andere Beispiele stützen, weitere Bestätigung. Der Kampf um die Seele im Zeichen der stalinistischen Kulturrevolution schlug sich im Ringen von vielen Kommunisten nieder, zu einer konsistenten psycho-moralischen Selbstinterpretation und -entwicklung zu gelangen. Wladimir Majakowski schreibt: »Ich reinige mich selbst, um wie Lenin zu sein, so dass ich weitertreiben kann im revolutionären Strom.« Ein kommunistischer Arbeiter hält in seinem Tagebuch fest: »Zur Zeit bin ich eine Person in der Mitte, die weder zur einen, noch zur anderen Seite gehört, aber fähig ist, zu jeder der beiden hinzugleiten. Obwohl die Chancen gut sind, dass die positive Seite überwiegen wird, fühle ich noch die Berührung der negativen in mir. Wie teuflisch mich das quält!« 218 Wie immer solche Zeugnisse von der historischen Forschung weiter gewichtet werden mögen, so scheint unbestreitbar, dass die kulturrevolutionäre Dynamik, die sich mit der russischen Revolution Bahn brach und zum Stalinismus führte, eine gravierende Veränderung der psycho-moralischen Selbstverständnisse der Bolschewiki auf allen Vgl. Glover, Humanity, a. a. O., S. 263 f.; St. Courtois, »Macht reinen Tisch mit dem Bedränger!«, in: St. Courtois et al., Das Schwarzbuch des Kommunismus 2, München/Zürich 2004, S. 110 ff. 217 Baberowski, Terror, a. a. O., S. 122. 218 I. Halfin, Terror in my Soul. Communist Autobiographies on Trial, Cambridge/Mass./London 2003, S. 12 f. Übersetzung R. Z. Zum Folgenden dort insbes. Kap. 3: »The Bolshevik Discourse on the Psyche«, Vgl. J. Hellbeck, Revolution on my Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge/ Mass./London 2006. Ergänzend: J. Hellbeck, »Liberation from Autonomy: Mapping Self-Understandings in Stalin’s Time«, in: P. Corner (Hg.), Popular Opinion in Totalitarian Regimes: Fascism, Nazism, Communism, Oxford 2009, S. 49–63. Hellbeck zeigt beispielhaft die moralische und existenzielle Bedeutung auf, sich in Einklang mit der Revolution zu definieren. 216
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Ebenen sowie des von ihnen dominierten kulturellen und gesellschaftlichen Umfelds mit sich brachte. Igal Halfin dokumentiert einen »bolschewistischen Diskurs über die Seele«, an dem im Selbstverständnis »bolschewistischer Moralisten« Wissenschaftler und Schriftsteller teilnahmen. In diesen Diskurs gingen ebenso Ansätze zur »wissenschaftlichen« Degenerationsforschung wie Vorstellungen zur Eugenik oder die Rezeption der Psychoanalyse ein. Zugleich kam es darauf an, die Marxsche Klassenanalyse, die ja an historisch vorfindlichen sozialen Klassen orientiert war, mit dem bolschewistisch induzierten Herstellungsprozess einer proletarischen Klasse zu vermitteln, die ineins mit ihrer sukzessiven Konstituierung der psycho-moralischen Selbstdefinition und Stabilisierung im fortschreitenden Gang der Geschichte bedurfte. So gesehen handelte es sich um die ständige Verzahnung von »Klasse« als einem sozialen Begriff mit »Klasse« als einem psychischen Begriff, der auf die adäquate innere Ausstattung von Menschen zielte. Marxismus paradox: in gewisser Weise wurde »Klasse« zu einer Frage der Selbstdefinition im Sinne des richtigen Bewusstseins. Da der Gang der Geschichte von der Partei verkörpert wurde, deren offizielle Linie aber Veränderungen unterlag, war es keine leichte Aufgabe, das eigene Selbstverständnis als revolutionärer Kommunist stets mit der objektiv-geschichtlichen Entwicklung zu integrieren. Einerseits wurde – gut marxistisch – die Moral als klassenbedingt bezeichnet und als abstrakter Kanon von Vorschriften abgelehnt, andererseits aber galt es an einer revolutionären Moral zu arbeiten, die sich auch in Fragen der Sexualmoral um Antworten bemühte. 219 Das wird insbesondere an Diskussionen bolschewistischer Studenten in den Universitäten deutlich – zur damaligen Zeit beileibe keine Randgruppe, denn jedes zehnte Parteimitglied war Student. Insofern kann man davon sprechen, dass es das unausweichliche Problem einer bolschewistischen Transformationsmoral gab, deren Dispositionen durch In diesen Kontext gehören auch revolutionäre Konzepte zur »neuen Frau« und deren Sexualmoral. Vgl. A. Kollontai, Die neue Moral und die Arbeiterklasse (1920), Nachdruck Münster 1978.
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die russische Revolution und ihren Impetus der Schaffung des neuen sozialistischen Menschen generiert wurden. Unterschiedliche Antworten auf diese Herausforderrung, wie sie sich in Orientierung an den Führungsfiguren Lenin, Trotzki, Bucharin oder Stalin zeigen, unterstreichen nur das zugrunde liegende Problem. 220 Vor diesem Hintergrund erscheint der Holodomor nicht nur als Konsequenz einer brutal vorangetriebenen Zwangskollektivierung, die ihre Entsprechung in einer nicht minder brutalen Industrialisierungspolitik findet, sondern zugleich als Durchsetzung eines kulturrevolutionären Programms, dem eine bolschewistische Transformationsmoral eingeschrieben ist. Im Kontext der in den zwanziger Jahren vorausgegangenen »Neuen Ökonomischen Politik« (NÖP), die mit der Zwangskollektivierung wieder revidiert wurde, wirkt der Beschluss zur »Liquidierung der Kulaken als Klasse« wie ein Aufruf zur Durchsetzung kultureller Hegemonie auf dem Weg zum neuen Menschen. Das umso mehr als sich darin auch die Unbelehrbarkeit der bolschewistischen Führung angesichts ökonomischer Gegebenheiten und Erfahrungen spiegelt. Denn noch während der Einführung der NÖP musste eine Hungersnot verkraftet werden. Sie war die Folge des Bürgerkriegs, den die Bolschewiki gegen die »weißen Armeen« für sich entschieden hatten. Nachdem Lenin eingesehen hatte, dass nach dem »Kriegskommunismus« eine Stabilisierung der Versorgungslage und einigermaßen verlässliche wirtschaftliche Verhältnisse unumgänglich waren, wurde die NÖP proklamiert (Frühjahr 1921). Doch es konnte nicht mehr verhindert werden, dass im Winter 1921/22 eine große Hungersnot eintrat. Die Schrecken dieser Hungersnot, deren Opfer in die Millionen gehen, spielten sich unter den Augen der Weltöffentlichkeit ab, da – im Unterschied zum Holodomor – internationale Hilfsorganisationen im Land operieren konnten. Mit der NÖP wurden unsinnige Maßnahmen wie der zentral regulierte Handel aufgehoben, den Bauern wieder MarktaktivitäFür Halfin, Terror, a. a. O., S. 2 beruht der Stalinismus auf einem »ethischen System«, in meiner Terminologie auf einer eigenen Moral.
220
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ten zugestanden und die verstaatlichte Industrie an Effizienzkriterien ausgerichtet (»Taylorisierung«, »Amerikanisierung«). Diese Stichworte machen nachvollziehbar, dass in den Jahren 1923 bis Ende 1927 eine Phase relativer wirtschaftlicher Erholung und gesellschaftlicher Ruhe eintrat, die jedoch von orthodoxen Bolschewiki sogleich als Rückkehr des »Kleinbürgertums« (Handel, Handwerker), der »Kulaken« und der »Kapitalisten« (Staatskapitalismus, Betriebshierarchie, Managertum) empfunden wurde. Die Frage, ob es möglich gewesen wäre, den »Pragmatismus« der NÖP zu verlängern und im Rahmen der bolschewistischen Herrschaft insgesamt zu sozial verträglicheren Formen der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung zu kommen, muss hier offen bleiben. Tatsache ist, dass weder ökonomische Vernunft noch Verständnis für schrittweise gesellschaftliche Entwicklungen noch die Berücksichtigung kultureller Besonderheiten für die bolschewistische Führung unter Stalin ab Ende der zwanziger Jahre relevant waren. Stalin war der Kopf eines Radikalbolschewismus, dessen kulturrevolutionäre Dynamik ein moralisches Anderssein ausbildete, das allen Teilen der Gesellschaft, die als nicht beherrschbar oder integrierbar angesehen wurden, mit dem Willen zur völligen Unterwerfung, Ausgrenzung (GUlag, Deportation) oder physischen Vernichtung begegnete. Die Option zur physischen Vernichtung von »Klassenfeinden«, Verschwörern«, »Konterrevolutionären« oder »sozial fremden Elementen«, der sich bereits Lenin und Trotzki ohne Skrupel bedienten, wurde im Stalinismus in der Breite durchgeführt und in ihrer gewalttätigen Umsetzung zu ungeahnten Formen getrieben. 221 Eine dieser Formen ist der Holodomor, dem im Kontext des Stalinismus unter verschiedenen Aspekten eine epochale Bedeutung zukommt. Erstens zeugt diese Vernichtung durch Hunger von einem kulturrevolutionären Selbstverständnis, dem die »beiZu welchen extremen Folgen manche Deportationen führen konnten, hat Nicolas Werth am Beispiel des Kannibalismus auf der Gefangeneninsel Nasino beschrieben: Die Insel der Kannibalen – Stalins vergessener Gulag, München 2006.
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spiellose moralische Entgrenzung« 222 zum Lebenselexier geworden ist. »Kulaken« waren in der bolschewistischen Welt nicht mehr vorgesehen, sie mussten verschwinden, ganz so wie die Muslime im sowjetischen Orient. 223 Zweitens war die Zwangskollektivierung, für die der Holodomor steht, die oben beschriebene Geburtstunde des GUlag und des damit errichteten landesweiten Repressionssystems. Drittens nimmt der Holodomor unter europäischer Perspektive eine besondere Stellung ein. Zurecht ist darauf verwiesen worden, dass der »Holocaust-Holodomor-Gedächtnisgraben« 224 nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Entwicklung der EU-Erweiterung nach Osten im Interesse eines übergreifenden europäischen Geschichtsbewusstsein der Überwindung bedürfte. Im Hinblick auf Russland mahnt der Holodomor zu einer Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit, die nach wie vor mühsam bleibt. Für ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein ist es unvermeidlich, sich auf Probleme historischer Verantwortung einzulassen, da diese bis in gegenwärtige und künftige politische Konstellationen hineinwirken (vgl. unten 3.3).
Zwischenbilanz Die Moral des Neuen Menschen und ihre fatalen Konsequenzen machen deutlich, dass nicht nur die nazistische Moral als partikularistisch zu bezeichnen ist, sondern auch die bolschewistische Transformationsmoral. Das mag überraschen, wenn man sich den kommunistischen Internationalismus mit dem Kampfruf »Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!« ins Gedächtnis ruft. Doch dieser Kampfruf ist von großer Ambivalenz geKoenen, Utopie, a. a. O., S. 268. Vgl. J. Baberowski, »Verschleierte Feinde. Stalinismus im sowjetischen Orient«, in: Geschichte und Gesellschaft 30/2004, S. 36: »Der Stalinismus war ein gesellschaftliches Verfahren zur Herstellung einer Welt, in der es für Bauern und Muslime keinen Platz mehr gab.« Vgl. ders., »Stalinismus von oben. Kulakendeportationen in der Sowjetunion 1929–1934«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 46/1998, S. 572–595. 224 So St. Troebst, »Holodomor oder Holocaust?«, in: FAZ, 4. 7. 2005, S. 8. 222 223
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prägt, die bezogen auf die bolschewistischen Entwicklung in zwei Schritten betrachtet werden kann. Der erste Schritt besteht darin, dass sich zwar der klassische Marxismus als universalistisch verstehen lässt, dass er aber zugleich das »bürgerliche« Verständnis von Menschenrechten ablehnt und statt dessen das »wahre Menschenrecht« herbeizuführen beabsichtigt, das in einer klassenlosen Gesellschaft dem Grundsatz folgen soll: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« 225 Dabei wird ein Zustand angestrebt, der jenseits des »bürgerlichen Rechts« eine gesellschaftlich zwanglose Vermittlung von Tätigkeiten und Bedürfnissen ermöglichen soll. Der Weg zu diesem Zustand ist zwar durch Klassenkämpfe gekennzeichnet, doch ist die Utopie von Marx insofern in universalistischen Begriffen beschreibbar, als die Aufhebung der Klassengesellschaft auf teils evolutionären, teils revolutionären Bahnen gedacht wird, die es im Prinzip zulassen, dass die überwundene kapitalistisch-bürgerliche Klasse sukzessive in die neue Gesellschaft integriert wird, selbst wenn an der Wiege dieser Gesellschaft die revolutionäre Gewalt des Proletariats steht. Mit der neuen Gesellschaft wird zwar die »bürgerliche« Moral und Rechtsordnung abgestreift, da Moral und Recht »Überbauphänomene« der alten Gesellschaft darstellen, es wird jedoch den Angehörigen der alten Klasse nicht ihre soziale oder moralische Mitgliedschaft in der Gesellschaft bestritten. Man könnte so von einem marxistischen Idealtypus des »wahren« Universalismus sprechen, der sich aus inhaltlichen Vorstellungen von »wahrer« gesellschaftlicher Freiheit ergibt. 226 Daran kann in einem zweiten Schritt die Kennzeichnung der bolschewistischen Transformation angeschlossen werden. Diese besteht darin, dass zwar der marxistische Idealtypus als ideologische Standardausrüstung mitgeführt wird, doch dass dieser unter der Hand zu einem Partikularismus der gesellschaftlichen und K. Marx, »Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei« (1875), in: Marx-Engels Studienausgabe III, Frankfurt/M. 1982, S. 180. 226 Die Utopie von Marx diskutiere ich ausführlich in: Zimmermann, Utopie, a. a. O., Teil I. 225
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moralischen Ausgrenzung mutiert, die in physischen Vernichtungsstrategien endet. Der marxistisch-universalistische Idealtypus wird zum ideologischen Schein des bolschewistischen Partikularismus, der seine Ausstrahlung und Legitimationskraft nach innen und außen nicht zuletzt auf diesen Schein stützen kann. 227 Hinzu kommt der Mythos, der die Oktoberrevolution zur Fortsetzung der Französischen Revolution stilisiert und so zu ihrer universellen Faszinationskraft beiträgt. 228 Entgegen ihrer ideologischen und mythologischen Überhöhung ist die bolschewistische Entwicklung mit ihrer Kulmination im Stalinismus partikularistisch deshalb, weil in ihr kein Gedanke mehr an so etwas wie gesellschaftliche oder moralische Vermittlung von Gegensätzen oder Unterschieden übrig bleibt. Der wahre neue Mensch und die wahre neue Freiheit sind erst dann möglich, wenn der vermeintlich letzte Klassenfeind vernichtet ist. Ausdruck hierfür ist die neue Verfassung der Sowjetunion von 1936, die den Sieg des Sozialismus und das Ende des Klassenkampfs verkündete, was bedeutet, dass allenfalls noch »Volksfeinde« oder »Überreste feindlicher Klassen« ihr Unwesen treiben können. Da zugleich die Diktatur des Proletariats fortbestand, konnte es nur noch um die »endgültige Liquidierung« der übrig gebliebenen Feinde gehen, was in der Sprache der Bolschewiki unzweideutig physische Vernichtung hieß. 229 Die bolschewistische Semantik der Vernichtung wird bereits unter Lenin konstituiert, wenn er zum »schonungslosen Krieg gegen die Kulaken« aufruft. 230 Sie wird ebenso verkörpert von Maxim Gorki, der die Kulaken »verrecken« und »aus dem Gedächtnis der menschlichen Seele« verschwunden
Koenen, Utopie, a. a. O., S. 300, spricht von dem »universalistischen Ethos«, das der Bolschewismus in Anspruch nahm. 228 F. Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München/Zürich 1998, Kap. 3: »Die universelle Faszination der Oktoberrevolution.« 229 Koenen, Utopie, a. a. O., S. 218. 230 Vgl. L. Luks, »Der totalitäre Mensch«, in: ders., Der russische »Sonderweg«?, Suttgart 2005, S. 246. 227
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sehen wollte. 231 Sie setzt sich fort in der Bestialisierung der inneren bolschewistischen Gegner in Gestalt von Trotzki, Zinowjew und Bucharin, die Mikojan auf dem ZK-Plenum von 1937 als »neuen Typ von Menschen, die eigentlich keine Menschen mehr, sondern Monster und Bestien sind«, charakterisiert. 232 Beispiele dieser Vernichtungssprache ließen sich in Hülle und Fülle aneinander reihen. Die Analogie zur Vernichtungssprache des Nazismus, die Juden als Tiere oder Angehörige einer fremden Spezies bezeichnet, ist nur allzu offenkundig. 233 Dem entspricht die psycho-moralische Einstellung auf der Ebene der unmittelbaren Täter, die als Mitglieder von GPU-Einheiten an der Terrorisierung, Ermordung oder Deportation von Kulaken beteiligt waren: Die Bauern galten weniger als das Vieh und konnten aus »historischer Notwendigkeit« in der einen oder anderen Weise »liquidiert« werden. Ganz analog zu der von Welzer analysierten Tötungsmoral der Nazi-Täter (vgl. oben 2.1), ergibt sich auch hier der Befund: »Der Enthemmung der Täter ging die Entmenschlichung der Opfer voraus.« 234 Damit stellt sich die Frage, wieweit es Sinn macht, die von mir zur moralphilosophischen Deutung von Auschwitz eingeführten Begriffe des Gattungsbruchs und des Gattungsversagens für die bolschewistische Transformationsmoral fortzuschreiben. Offenbar geht dies nicht ohne Modifikationen, da die mit dem »Erlösungsantisemitismus« verbundene Vernichtungsstrategie auf einen aktiven Hauptgegner in Gestalt der Juden konzentriert war, während der »Erlösungskommunismus« viele aktive Gegner kannte, die es zu vernichten galt. Die Gemeinsamkeit von Nazismus und Bolschewismus besteht darin, dass sie sich einem Begriff Baberowski, Terror, a. a. O., S. 125. Luks, Mensch, a. a. O., S. 247. 233 Das wird unterstrichen von dem Bildmaterial, das Igal Halfin aus Quellen der Leningrader Universität für die Jahre 1936 bis 1938 präsentiert. Insbesondere Trotzki wird dabei in widerwärtiger Weise dämonisiert und bestialisiert, ebenso Bucharin und andere: I. Halfin, Stalinist Confessions. Messianism and Terror at the Leningrad Communist Univesity, Pittsburgh 2009, S. 336–351. 234 Baberowski, Terror, a. a. O., S. 126. 231 232
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von Gattungsallgemeinheit verweigern, zu dessen Bedingung die Anerkennung von unaufhebbarer Differenz und Pluralität gehört. Insofern besteht ihr moralisches Anderssein in einem Transzendieren der Gattung. Der radikale Partikularismus, zu dem sie diese Gattungstranszendenz führt, wählt im Falle des Nazismus den Weg des Gattungsbruchs –, im Falle des Bolschewismus scheint es angemessener von Gattungszersplitterung zu sprechen. Die Gattung wird zersplittert, indem immer wieder Teile ausgesondert werden, wobei die Vernichtungsoption sich zwar an ganzen Gruppen oder Klassen von Gegnern orientiert, aber nicht von einer Konzeption der Gesamtvernichtung getragen wird wie im Fall der Juden. Das jeweilige gegnerische Kollektiv (Adel, Bürgertum, Bauern, innerparteiliche Opposition etc.) kann und muss in wesentlichen Teilen vernichtet werden, aber es ist auch möglich, Teile davon abzuspalten und auf die eigene Seite zu ziehen. So gesehen handelt es sich um sukzessive Soziozide, um der gattungstranzendenten Erlösung durch fortschreitende Säuberung nahe zu kommen. Dem korrespondiert der von Historikern vorgeschlagene Begriff des »kulturellen Rassismus«. 235 Von Gattungsversagen im Hinblick auf die sowjetische Bevölkerung der Stalinzeit zu sprechen, ist problematischer als im Fall der deutschen Bevölkerung, deren Unterstützung des Nationalsozialismus außer Frage steht. Auf der einen Seite wies die sowjetische Bevölkerung insgesamt viel weniger zivilisatorische Homogenität als die deutsche Bevölkerung auf. Mit der Charakterisierung »Ein Staat gegen sein Volk« weist Nicolas Werth darauf hin, dass die bolschewistische Herrschaft sich ständig herausgefordert sah, gegen die widerstrebenden Teile der Bevölkerung die sowjetische Gesellschaft zu durchdringen, eine Anstrengung, die nie völlig zum Erfolg führte. Auf der anderen Seite zeigt sich die Wirkung der wertsetzenden Kraft des Bolschewismus in den städtischen Regionen, dem Umfeld der landesweiten Parteikader und der Kultur. 236 Die Diagnose des Gattungsversagens für die J. Baberowski/A. Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror, Bonn 2006, S. 89. 236 Vgl. hierzu das Material bei St. Plaggenborg, »Revolutionskultur. Men235
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sowjetische Bevölkerung mag so in empirischer Hinsicht weniger eindeutig erscheinen als für Nazi-Deutschland. Doch kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass ohne ein Zusammenbrechen von moralischen Schranken gegen Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung von »Klassenfeinden« und anderen Gegnern, die moralische Gattungszersplitterung in Form von Sozioziden nicht möglich gewesen wäre. Weitere Aufschlüsse hierzu sind Sache der historischen Forschung.
Bolschewistischer Idealtypus: L. Trotzki Im Unterschied zur NS-Moral gibt es für die bolschewistische Moral ein herausragendes Zeugnis ihrer Selbstreflexion, das auf Leo Trotzki zurückgeht. Bereits 1923 proklamiert Trotzki in einem kurzen Artikel die »vollständige Transformation der Moral«, die für ihn durch die Machtübernahme der Arbeiterklasse möglich wird. 237 In seiner späteren Schrift Ihre Moral und unsere (1938) legt er seine Konzeption im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus näher dar. Trotzki entwickelt eine eigene moralische Typologie, die für ihn dreigeteilt ist. Auf der einen Seite steht die »demokratische Moral der Epoche des liberalen und fortschrittlichen Kapitalismus«, die jedoch mit dessen imperialistischem Niedergang (1. Weltkrieg) als überholt zu gelten hat. An ihre Stelle ist einerseits »die Moral des Faschismus, andererseits die Moral der proletarischen Revolution« getreten. 238 In Trotzkis Verständnis ist Moral eine Funktion des Klassenkampfs, dessen Antagonismen schenbilder und kulturelle Praxis«, in: Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln/Weimar/Wien 1996. Zur Stalinzeit: B. Groys, Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, München/Wien 1988. 237 Die frühe Schrift ist am Leichtesten zugänglich auf Englisch unter: http://www.marxists.org/archive/trotsky/1923/10/morals.htm. Letzter Zugriff: 1. 11. 2019. 238 L. Trotzki, »Ihre Moral und unsere«, in: U. Kohlmann (Hg.), Politik und Moral, Lüneburg 2001, S. 126. Die folgenden Zitate ebd., S. 123 f., 140, 151.
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mehr als alle anderen gesellschaftlichen Beziehungen das Verhalten der Menschen und den Gang der Geschichte prägen. Damit geht die Absage an eine »Moral über den Klassen« einher, die für Trotzki die Illusion einer a-historischen Denkweise verkörpert und darüber hinaus im Appell an abstrakte Normen wie den kategorischen Imperativ der »Mechanik des Klassenbetrugs« Vorschub leistet. Diese allgemein-marxistische Sicht von Moral ist nicht weiter überraschend, doch fügt ihr Trotzki spezifische Elemente hinzu, in der die bolschewistische Radikalisierung sichtbar wird. Denn der Bürgerkrieg im Gefolge der russischen Revolution ist der »Kulminationspunkt des Klassenkampfes […], der alle moralischen Bande zwischen den feindlichen Klassen in die Luft sprengt.« Es entsteht eine unaufhebbare moralische Klassen-Dichotomie, wobei die »Schaffung der revolutionären Partei des Proletariats« die »völlige Unabhängigkeit von der Bourgeoisie und ihrer Moral« verlangt. Die revolutionäre Partei verkörpert ineins die völlige Abkehr von der bürgerlichen Moral und das Machtpotenzial zur Schaffung der neuen Moral, so dass für Trotzki unumstößlich feststeht, »daß für einen Bolschewiken die Partei alles bedeutet«, weil nur sie zu einer Gesellschaft »ohne soziale Widersprüche« hinführen kann. Dies ist nur unter Anwendung von revolutionären, d. h. gewaltsamen Mitteln, erreichbar, in einem »Kampf auf Leben und Tod«. Die Partei ist für den Bolschewiken »eine Waffe zur revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, einschließlich ihrer Moral«. Zwischen der »persönlichen Moral und den Interessen der Partei« kann es keinen Widerspruch geben, »da in seinem Bewußtsein die Partei die höchsten Aufgaben und Ziele der Menschheit verkörpert.« Die Moral der proletarischen Revolution und ihrer Partei steht so in welthistorischer Einmaligkeit da: »Der historische sinn und die moralische grösse der proletarischen revolution bestehen darin, dass sie den grundstein für eine klassenlose, erstmals wahrhaft menschliche kultur legt.« 239 Die Bolschewiki sind die »einge-
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Trotzkij, literatur, a. a. O., S. 13.
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fleischten Krieger der sozialistischen Idee« 240 , deren »dialektische Auffassung der Moral als eines abhängigen und vergänglichen Produkts des Klassenkampfes« eine »höhere Qualität des Intellekts« als den »gesunden Menschenverstand« erfordert, der nicht einsehen will, dass die von Lenin praktizierte Verwerfung herkömmlicher Moral in Wahrheit »Synonym für eine höhere menschliche Moral« ist. Zwanzig Jahre nach der Russischen Revolution zeigen diese Aussagen nicht nur Trotzkis bolschewistisches Credo in unveränderter Gestalt. Sie machen auch deutlich, dass die moralischen Entgrenzungen der bolschewistischen Politik bis zu den Katastrophen der stalinistischen Kulturrevolution auf tiefreichende moralische Selbstinterpretationen verweisen, die Trotzki geradezu klassisch zum Ausdruck bringt. Bei aller Kritik an Stalin, der für Trotzki die »bürokratische Reaktion gegen die proletarische Diktatur in einem rückständigen und isolierten Land« verkörpert und Anführer einer verbrecherischen »Massentäuschung« ist, präsentiert Trotzki eine Konzeption moralischer Transformation, die mit marxistisch-bolschewistischen Leitbegriffen operiert, die sich von Stalin oder auch Bucharin nicht grundsätzlich unterscheiden. 241 Die bolschewistische Gemeinsamkeit bleibt gewahrt. 242 Es ist daher für die Analyse der bolschewistischen Transformationsmoral insgesamt aufschlussreich, Trotzkis revolutionären Moralentwurf etwas näher beleuchten, um seine argumentativen Defizite zu präzisieren. Dass die Verwirklichung der sozialistischen Idee das moralische Leitziel darstellt, dem sich die revoluTrotzki, Moral, a. a. O., S. 120, zum Folgenden ebd., S. 127 ff., 152; Zu Stalin ebd., S. 137, 157. 241 Vgl. J. Stalin, Zu den Fragen des Leninismus, Frankfurt/M. 1970, Kap. 5, 9; N. Bucharin, Theorie des historischen Materialismus, Hamburg 1922. 242 Die repräsentative Bedeutung von Trotzkis Konzeption für den Marxismus-Bolschewismus betont auch: A. A. Gussejnow, »Moral und Politik. Ein Kommentar zu Leo Trotzkijs ›Ihre Moral und unsere‹«, in: L. Waas (Hg.), Politik, Moral und Religion – Gegensätze und Ergänzungen, Berlin 2004, S. 323–341. Vgl. ebenso St. Courtois, »Macht reinen Tisch mit dem Bedränger!«, in: Schwarzbuch 2, a. a. O., S. 86 ff. 240
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tionäre Partei absolut verpflichtet fühlt, ist bereits deutlich geworden. Dass die moralische Größe dieser Idee dazu legitimiert, eine höhere Moral der alten Moral entgegen zusetzen und diese zu sprengen ebenso. Wie aber kann bestimmt werden, was im einzelnen der Verwirklichung des Ziels dient? Diese Frage wirft ein Abwägungsproblem auf, das Trotzki im Sinne der »dialektischen Wechselwirkung zwischen Ziel und Mittel« beantwortet: »Ein Mittel ist nur durch das mit ihm verfolgte Ziel zu rechtfertigen. Aber das Ziel bedarf seinerseits der Rechtfertigung. Vom marxistischen Standpunkt, der die historischen Interessen des Proletariats zum Ausdruck bringt, ist das Ziel gerechtfertigt, wenn es dazu führt, die Macht des Menschen über die Natur zu vermehren und die Macht des Menschen über den Menschen zu vernichten [ … ] Erlaubt ist […] was wirklich zur Befreiung des Menschen führt. Da dieses Ziel nur durch Revolution erreicht werden kann, trägt die Befreiungsmoral des Proletariats notwendigerweise revolutionären Charakter.« 243
Es fällt auf, dass die Rede von »Ziel« in doppelter Bedeutung auftritt. Zum einen im Sinne des moralischen Leitziels der »Befreiung des Menschen«, das für die sozialistische Idee steht, zum anderen werden Einzelziele angesprochen, die auf dem Wege zur Realisierung dieser Idee sich danach rechtfertigen sollen, wieweit sie dazu führen, die Macht des Menschen über die Natur zu mehren und die Macht des Menschen über den Menschen zu vernichten. Gemessen am Leitziel sind diese Ziele Mittel zur Erreichung des Leitziels und unterliegen dem von Trotzki angegebenen Kriterium, ob sie wirklich zur Befreiung des Menschen führen. 244 Hieraus ergeben sich Probleme, die auf die Schwächen von Trotzkis Konzeption führen. Trotzki, Moral, a. a. O., S. 155. Vgl. hierzu und zum Folgenden: J. Dewey, »Means and Ends«, in: ders., Later Works, Vol. 13, Carbondale/Ill. 1988, S. 349–354. Deutsche Version: »Mittel und Zwecke. Ihre Wechselbeziehung und Leo Trotzkis Essay ›Ihre Moral und unsere‹«, in: U. Kohlmann (Hg.), a. a. O., S. 163 ff.
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Das erste Problem besteht darin, dass das Kriterium, nach dem entschieden wird, ob ein bestimmtes Ziel und die dabei eingesetzten Mittel wirklich zur Realisierung des Leitziels beitragen, hinsichtlich der dabei entstehenden Folgen und Auswirkungen eine weitere Überprüfung nach sich ziehen müsste, die belegbare Resultate vorzuweisen hätte. Wenn man sich an das ganz abstrakt formulierte Leitziel der »Befreiung des Menschen« hält, wäre im Prinzip sogar zu prüfen, ob der Klassenkampf hierzu das alleinige Mittel darstellt. Da das für einen Bolschewiken eine unannehmbare Zumutung bedeutet, sei dieser Teil des Problems nur festgehalten. Doch auch dann, wenn man die Prämisse des Klassenkampfs zugrundelegt und das Leitziel im Sinne der Verwirklichung der sozialistischen Idee im Rahmen einer klassenlosen Gesellschaft spezifiziert, ergibt sich die Frage, wie bestimmte Mittel des Klassenkampfs in bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen im Licht des sozialistischen Leitziels abgewogen und gerechtfertigt werden. Der institutionelle Ort dieser Klärung scheint klar. Nur die revolutionäre Partei ist in der Lage, diese Prüfung vorzunehmen. Wie geschieht das? Durch innerparteiliche Verfahren der Prüfung und gegebenenfalls Revision, bei denen auch moralische Kriterien der »Befreiungsmoral des Proletariats« ins Spiel kommen? Hierauf bleibt Trotzki die Antwort schuldig, indem er einerseits auf die Selbstverständlichkeit verweist, dass es nicht darum gehe, fix und fertige Antworten auf die Frage zu geben, »was in jedem einzelnen Fall erlaubt ist und was nicht«, um dann grundsätzlich festzustellen: »Die Probleme der revolutionären Moral sind mit den Problemen der revolutionären Strategie und Taktik verbunden. Die korrekte Antwort auf diese Frage gibt die lebendige Erfahrung der Bewegung im Licht der Theorie«.
Das aber kann nur bedeuten, dass es wiederum in die Hände der Partei gelegt wird, wie die Antwort auf die Frage ausfällt, was wirklich im einzelnen zur »Befreiung des Menschen« führt. Im Klartext: die jeweilige Parteiführung entscheidet darüber. Trotzki 162 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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zeigt kein Bewusstsein darüber, dass es Aufgabe der Partei sein müsste, Regeln dafür zu finden, wie innerhalb der Partei im Wege rationaler Prüfung die Vermittlung von aktuellen Fragen und Entscheidungen bei Klassenkämpfen mit dem sozialistischen Leitziels auszusehen hätte, gerade dann, wenn Kontroversen darüber möglich sind, was diesem Leitziel aktuell förderlich ist und was nicht. Hierzu würde auch gehören, zu klären, wie die aktuelle proletarische Befreiungsmoral des Klassenkampfs mit einer dereinst zu erwartenden psycho-moralischen Befriedung in einer Gesellschaft ohne soziale Widersprüche zusammen zu fügen oder zu vermitteln wäre. Wollte man hierauf antworten, all das werde sich eben aus der weiteren Entwicklung der Klassenkämpfe ergeben, so würde die Zirkularität der Argumentation nur unterstrichen: die Frage nach der näheren Bestimmung dessen, was wirklich im Rahmen des Klassenkampfs zur Befreiung des Menschen führt, wird wiederum mit dem Verweis auf die Strategie und Taktik des Klassenkampfs beantwortet. Für die von Trotzki in Anspruch genommene Befreiungsmoral des Proletariats zeigt das, dass sie sich in der Spanne zweier moralischer Pole bewegt, in deren Mitte sich ein moralisches Vakuum auftut, das dem Dezisionismus der Parteiführung preisgegeben ist. Den einen Pol bilden die feindlichen Klassen, zu denen die moralischen Bande gesprengt sind. Den anderen Pol bildet die moralische Größe der sozialistischen Idee, die der Befreiungsmoral des Proletariats unter Führung der Partei die Orientierung gibt und den Anspruch einer höheren Moral im Vergleich zu den feindlichen Klassen legitimiert. Die moralische Bindung an die feindlichen Klassen ist gekappt, sie wird ersetzt durch die Bindung an die sozialistische Idee und die Bindung an die Klassenkampfgemeinschaft. Es wird zu einer internen Angelegenheit dieser Kampfgemeinschaft, welche Ausgestaltung sie ihrer höheren Moral gibt. 245 Bereits zur Zeit des »Roten Terrors« im Jahr 1918 treten rigorose Vertreter einer neuen Moral auf. Wie der Historiker S. P. Melgunow berichtet, schreibt ein Redakteur der Zeitschrift ›Rotes Schwert‹ in Kiew: ›Die alten Grundsätze von Moral und Humanität, welche die Bourgeoisie erfunden
245
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Da allgemeine moralische Kriterien als reaktionär abgelehnt werden, kommen nur moralische Entscheidungen unter den jeweiligen Bedingungen des Klassenkampfs in Betracht. Das moralische Vakuum muss sozusagen immer wieder neu gefüllt werden. Auch wenn dafür die übergeordnete Klassenkampflogik reklamiert wird, so ändert das nichts daran, dass die revolutionäre Befreiungsmoral aus einer Kette von Ad-Hoc-Entscheidungen resultiert, die von der jeweiligen Parteiführung getroffen werden. Es sind immer Entscheidungen, die für die von der Partei geführte »Bewegung« sakrosankt sind und insofern ständige psycho-moralische Anpassung oder Integration erfordern. Die Kette der AdHoc-Entscheidungen der Parteiführung kann zwar im Lichte der sozialistischen Idee immer neu rationalisiert werden, doch ist nicht zu sehen, wie sie aus sich heraus an eine nachvollziehbare innere Systematik gebunden ist. Die Kehrseite der Berufung auf die Gesetze des Klassenkampfs besteht so in einem moralischen Entscheidungsmonopol der Parteiführung, die all das hinter sich gelassen hat, was man – und sei es auch in einem nicht-bürgerlichen Sinn – unter moralischer Verbindlichkeit verstehen kann. Der Anspruch »höherer Moral« geht mit der Absage an moralische Verbindlichkeit einher. Der Absage an moralische Verbindlichkeit korrespondiert die Absage an demokratische Regeln innerhalb der Partei, die diesen Namen verdienen. Von Lenins innerparteilichem Fraktionsverbot (1921), das von Trotzki (und Bucharin) mitgetragen wurde, bis zu Stalins späterem »demokratischem Zentralismus« lassen sich die demokratischen Defizite verfolgen. Natürlich schließt das nicht aus, dass Diskussionen in der Partei und auf Parteitagen stattfinden, doch es bleibt beim systematischen Verzicht auf einen Kanon moralischer Verbindlichkeit, der sich auch in institutionalisierten Formen innerparteilicher Demokratie wiederfinden müsste. Diehat, gibt es für uns nicht und kann es auch nicht geben […]‹ Daraufhin bekräftigt ein Protagonist des »Roten Terrors«: ›Sollte es nötig sein, dass wir zur Zementierung der proletarischen Diktatur sämtliche Diener des Zarentums und des Kapitals ausrotten, so werden wir davor nicht zurückschrecken‹. Zitiert nach: A. Solschenizyn, »Zweihundert Jahre zusammen«. Die Juden in der Sowjetunion, München 2003, S. 135.
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ses Resultat ergibt sich im Gefolge der »dialektischen Wechselbeziehung zwischen Ziel und Mittel« und der damit verbundenen moralischen Abwägungsproblematik, zu der Trotzki selbst hinführt. Auf ein zweites Problem hat John Dewey aufmerksam gemacht. 246 Es entsteht nicht nur die Schwierigkeit, die Maxime »Erlaubt ist, was wirklich zur Befreiung des Menschen führt« unter konkreten Umständen begründet umzusetzen, sondern dem Problem gerecht zu werden, dass das Leitziel der Befreiung des Menschen seinerseits nicht bloß als Ziel fungiert, sondern auch als Mittel zu betrachten ist. Das Leitziel, das sich als Endzweck bezeichen lässt, übernimmt die Funktion eines Mittels zur Handlungsorientierung, um das Erreichen des Endzwecks zu steuern. Dieser Sachverhalt macht das Problem sichtbar, dass die »moralische Größe« des Endzwecks dazu verwendet werden kann, beliebige Mittel zu seiner Erreichung zu rechtfertigen (»Der Zweck heiligt die Mittel«), wenn nicht darauf geachtet wird, dass die mittels des Endzwecks gewählten Mittel ihrerseits einer Prüfung hinsichtlich ihrer Konsequenzen unterzogen werden, die sie möglicherweise unter moralischen Gesichtspunkten auszuschließen zwingt (Betrug, Folter, Tötung etc.). Wenn Trotzki – wie gezeigt – dieses Problem wiederum unter Hinweis auf Strategie und Taktik des Klassenkampfs zu überspielen versucht, so ignoriert er den Sachverhalt, dass die Verbindung von moralischem Endzweck und Mitteln zur Erreichung dieses Endzwecks nur in moralischen Begriffen geklärt werden kann. Ein Ausweichen auf nicht-moralische Bedingungen des Klassenkampfs in Begriffen von sozialen Widersprüchen, aus denen ihrerseits die relevanten Handlungsorientierungen hervorgehen sollen, verschiebt einfach das Problem. Damit wird klar, was Trotzki »dialektisch« verschleiert: Der moralische Endzweck und die zu seinem Erreichen eingesetzten Mittel stehen in einer moralischen Wechselbeziehung, einer internen Beziehung wechselseitiger Abhängigkeit. 247 Das aber 246 247
Dewey, a. a. O. Die Einsicht in diese Problematik findet sich auch in seiner vor-kom-
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heißt, dass der moralische Endzweck selbst desavouiert wird, wenn zu seinem Erreichen Mittel eingesetzt werden, die moralisch verwerflich sind. Selbst wenn man der Meinung ist, dass der Klassenkampf die unverzichtbare Form der Auseinandersetzung ist, um den moralisch hohen Endzweck zu erreichen, so entbindet das nicht von der moralischen Abwägung eingesetzter Mittel, vor allem solcher, die Gewalt ins Spiel bringen. Wenn Gewalt nicht zum politischen Selbstläufer werden soll, muss man sich dieser Problematik stellen, gerade dann, wenn man revolutionäre Gewalt nicht generell ausschließen will. Selbst unter der bolschewistischen Prämisse der Unverzichtbarkeit von revolutionärer Gewalt, stellt sich also das Problem. Das systematische Ausblenden der moralischen Abwägungsproblematik und ihre institutionelle Verdrängung im Rahmen der bolschewistischen Partei, die für Trotzki »alles« ist, markiert das moralisch Andere der bolschewistischen Moral. Das in dieser Weise artikulierte moralische Selbstverständnis kann man als den Grund für den skrupellosen Einsatz von Gewalt ansehen, der bereits zu Lenins und Trotzkis Zeiten praktiziert wurde und in den oben charakterisierten Katastrophen der Stalinzeit (Holodomor, GUlag etc.) seine Fortsetzung findet. Stalins Satz über die kommunistische Partei als »eine Art Schwertritterorden innerhalb des Sowjetstaates, der die Organe des letzteren anführt und deren Tätigkeit beseelt«, entspricht gleichermaßen der Auffassung Lenins wie Trotzkis. 248 Die Frage, wieweit die bolschewistische Selbstinterpretation und ihre Praxis auf Defizite verweist, die bereits in der sozialismunistischen Phase bei G. Lukács: »Der Bolschewismus als moralisches Problem«, in: ders., Taktik und Ethik, Darmstadt/Neuwied 1975, S. 27 ff. Später wird daraus: Die moralische Sendung der kommunistischen Partei, ebd., S. 219 ff. Immerhin wird dabei versucht, die sukzessive moralische Wandlung der Partei beim Übergang zum Sozialismus als ernsthafte Aufgabe zu thematisieren. Denn schließlich soll die neue Gesellschaft auch eine »moralische Existenzgrundlage« im Sinne gegenseitiger »Liebe und Solidarität aller Menschen« (ebd., S. 88) haben. 248 Das Stalin-Zitat bei: S. Slutsch, »Macht und Terror in der Sowjetunion«, in: V. Knigge/N. Frei (Hg.), Verbrechen erinnern, München 2002, S. 113.
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tisch-revolutionären Theorie von Karl Marx vorgeprägt sind, verfolge ich hier nicht weiter. Die Diskrepanz zwischen einem marxistischen Idealtypus von Utopie und der bolschewistischen Entwicklung ist bereits deutlich geworden (vgl. oben), doch kann zu Recht darauf verwiesen werden, dass Marx’ Kritik der Menschenrechte hinsichtlich des Bolschewismus ein besonderes Problem aufwirft. 249
Radikale Erlösungsmoralen im Vergleich Die vergleichende Typisierung moralischer Vergemeinschaftung, die ich bereits zwischen dem westlich-universalistischen Typus und dem NS-Typus dargelegt habe, kann nun für den bolschewistischen Typus fortgeschrieben werden (vgl. oben 2.1: Begriffliche Klarstellungen): Erstens gibt es für den Bolschewismus als Zentrum ein elementares moralisches Selbstverständnis jedes Menschen, Teil zu haben an einer exklusiven Gemeinschaft proletarischer Gleicher, die allen bisherigen Formen der Vergemeinschaftung überlegen ist. Diese Teilhabe ist im Prozess revolutionärer Umgestaltung stetig zu bekräftigen und auszubauen. Zweitens gibt es die revolutionäre Partei als führende Autorität für alle sozialen Normen und Institutionen, durch welche die Prioritäten des kommunistischen Entwicklungsgangs bestimmt werden. Die Regeln des Rechts sind auf allen Ebenen (Strafrecht eingeschlossen) dem revolutionären Prozess verpflichtet. Drittens gibt es das Gewaltmonopol der Partei, die im Namen des Staates und des revolutionären Fortschritts die Homogenität der proletarischen Vergemeinschaftung gegen alle, wie auch immer definierten Klassenfeinde, sichert.
Vgl. G. Lohmann, »Karl Marx’ fatale Kritik der Menschenrechte«, in: K. G. Ballestrem/V. Gerhardt/H. Ottmann/M. P. Thompson (Hg.), Politisches Denken Jahrbuch 1999, Stuttgart/Weimar 1999, S. 91–104. Vgl. oben 1.2, Anm. 107.
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Wenn man auf diese Weise den Vergleich zwischen der NSMoral und dem egalitären Universalismus ergänzt, wird die Divergenz der drei moralischen Vergemeinschaftungstypen offenkundig. Wie im Fall der NS-Moral stellt auch die bolschewistische Moral eine Konzeption von Ethik in Frage, die von historischen Kontexten abzusehen sucht, zumindest soweit es die Epoche betrifft, in der die aufgezeigte Divergenz verschiedener Moralen auftritt. Im gegenwärtigen Kontext ist aufschlussreich, dass Trotzkis Utopie, wenn auch in verquerer Weise, auf Nietzsches Übermensch anspielt, weil dadurch der Einfluss von geistigen Quellen auf den Bolschewismus deutlich wird, der über den traditionellen Marxismus hinausgeht. 250 Hinzu kommt der wachsende Einfluss der Eugenik, die für das Bild des Neuen Menschen rezipiert wurde, eine Disziplin, die dem älteren Marxismus fremd ist. 251 Wenn man die Perspektive erweitert und die zusätzlichen Einflüsse benennt, die in die Utopie des Neuen Menschen eingehen, dann werden – ähnlich wie beim NS – Vorverständnisse über die Kontinuität der »Moderne« erschüttert. Meine vergleichende Moralbetrachtung ist so in Übereinstimmung mit neueren Untersuchungen zu sehen, die Peter Fritzsche und Jochen Hellbeck zu Konzeptionen des Neuen Menschen im Stalinismus und NS vorgelegt haben, um einen simplifizierenden Narrativ des westlichen Fortschritts in Frage zu stellen: »Der Neue Mensch war eine Alternative, aber keine völlig unbekannte Figur, weil er mit Hilfe von Wissenschaft und Rationalität entworfen wurde und in Übereinstimmung mit grundlegenden Prämissen des westlichen ›Fortschritts‹. Indem wir seinen Entwurf erforschen, stellen wir die immer noch dominante Annahme in Frage, dass der Liberalismus die Grundposition des Westens darstellt. Wir zeigen, dass der Liberalismus eine höchst kontingente Position ist,
Vgl. B. G. Rosenthal, New Myth, New World. From Nietzsche to Stalinism, Pennsylvania 2002. 251 Vgl. Koenen, Utopie, a. a. O., Kap. 6; Günther, Übermensch, a. a. O. 250
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die massiven Angriffen über weite Strecken des 20. Jahrhundert ausgesetzt ist.« 252
Im Sinne der obigen Typologie ist der egalitäre Unversalismus als das moralische Zentrum des Liberalismus zu betrachten, so dass die Kontingenz der moralischen Entwicklung des Westens durch die Alternativen des Bolschewismus und Nationalsozialismus in den Fokus rückt. Der vergleichende Blick auf die moralischen Zentren dieser Formationen und ihrer Konsequenzen legt nahe, auch den Bolschewismus dem Typus der Erlösungsmoral zuzuordnen. Das Reich des Bolschewismus ist gleichfalls nur »von dieser Welt« und die Sehnsucht nach Erlösung ist erst dann gestillt, wenn der letzte Klassenfeind oder die »Überreste« feindlicher Klassen als vernichtet gelten können. 253 Es ist frappierend, welche Parallelen sich zeigen, wenn man wesentliche Strukturmerkmale von Bolschewismus und NS auf einer allgemeinen Ebene gegenüber stellt. So lassen sich festhalten: Menschheitsideal: deutsch-arischer Herrenmensch – kommunistischer Übermensch Theorie des Kampfes: Rassenkampf – Klassenkampf Gewaltoptionen: Judäozid 254 /Genozid – Soziozid
P. Fritzsche/J. Hellbeck, »The New Man in Stalinist Russia and Nazi Germany«, in: M. Geyer/Sh. Fitzpatrick (Hg.), Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, S. 302–341, ebd., S. 302. Die Autoren stellen fest, dass der Stalinismus und der NS zwei Varianten einer »illiberalen Moderne« sind, ebd., S. 340. Vgl. auch die umfassende Übersicht zur neueren vergleichenden Forschung von M. Geyer, Introduction, ebd., S. 1– 37. 253 Vgl. M. Ryklin, Kommunismus als Religion, Frankfurt/M./Leipzig 2008, S. 27: »Anstatt abzusterben hat die Religion die umgekehrte Form angenommen: Die Transzendenz verwandelt sich in die totale Immanenz […] die Sphäre, die bis dato als sekundär und kreatürlich galt, emanzipierte sich von ihrem Schöpfer und erhielt ein unerhörtes Erlösungspotential zugesprochen.« 254 ›Judäozid‹ ist eine Wortbildung, die auf den Historiker Arno J. Mayer zurückgeht. Vgl. H. Mommsen, »Erfahrung, Aufarbeitung und Erinnerung 252
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Moralisches Zentrum: Rassischer Inegalitarismus – proletarischer Partikularismus Moralischer Typus: Erlösungsmoral Wie beim NS ist auch zum Bolschewismus und seinen Auswüchsen im Stalinismus festzuhalten, dass die von diesen Entwicklungen ausgehende moralische Verstörung von Menschen ausgeht, die dem kulturellen Umfeld Europas entstammen. Auch sie gehören einem breit gefassten Spektrum menschlicher Möglichkeiten an. Neben dem NS steht so der Bolschewismus für ernstzunehmende moralische Divergenz. Ich halte es deshalb nicht für angebracht, die Moralen des NS und des Bolschewismus in einem herkömmlichen moralischen Vokabular, zu interpretieren. Vorschläge, den Nazismus als »verdrehte Deontologie« und den Bolschewismus als »verdrehten Konsequentionalismus« zu fassen, sollte man eher als Artikulation einer Verlegenheit denn als analytisch hilfreich sehen, 255 weil sich damit die Spezifika dieser Moralen in vage Analogien verschieben. Dasselbe gilt für Kennzeichnungen des Bolschewismus als radikale Version des Utilitarismus. 256 Das wird deutlich, wenn man den Partikularismus des NS und des Bolschewismus im Gegensatz zum Universalismus und in Bezug auf den Gegensatz zwischen Erlösungsmoral und Integrationsmoral festhält. Dann nämlich ist klar, dass im modernen Kontext, deontologische oder utilitaristische oder konsequentionalistische ethische Konzeptionen allesamt auf universalistischer Grundlage operieren, wie immer sie sich unterscheiden mögen. Es wirkt deshalb wenig überzeugend, für die Charakterisierung des NS oder Bolschewismus solche Leitbegriffe ins Spiel zu bringen, denn das würde implizieren, dass man deren Erlösungsmoralen im Begriffsfeld unides Holocaust in Deutschland«, in: H. Loewy (Hg.), Holocaust: Die Grenzen des Verstehens, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 93–100, ebd., S. 93. 255 Glover, Humanity, a. a. O. S. 327. In anderen Punkten stimme ich mit Glover überein, insbesondere mit der Charakterisierung moralischer Transformationen im NS und Bolschewismus. 256 Vgl. Micha Brumlik, Michael Hauskeller in der Diskussion. Zimmermann, Moralischer Universalismus, a. a. O., S. 430 f., 435 f.
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Moral der Menschenrechte
versalistischer Ethiken deutet – eine nicht zu behebende Inkohärenz angesichts der jeweiligen Versionen eines radikalen Partikularismus.
2.3 Moral der Menschenrechte Mit der Moral der Menschenrechte steht den Erlösungsmoralen eine universalistische Integrationsmoral gegenüber, deren geschichtlicher Ursprung ihnen einerseits vorangeht, deren Aktualisierung andererseits umso dringlicher wird, je mehr die Menschenrechte im 20. Jahrhundert der Gefahr ausgesetzt sind, von den partikularistischen Erlösungsmoralen verdrängt zu werden. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 unterstreicht die Relevanz von historischer Erfahrung und verweist auf die Frage, welche Deutung und Begrifflichkeit der Moral der Menschenrechte am Besten gerecht zu werden vermag.
Menschenrechte und historische Erfahrung Nachdem ich bereits die mit der Amerikanischen und Französischen Revolution einhergehenden Deklarationen der Menschenrechte unter den Begriff des historischen Universalismus gefasst habe (vgl. oben 1.2), gibt die im Einzelnen dargelegte moralische Divergenz, die sich im 20. Jahrhundert in den Erlösungsmoralen des Nationalsozialismus und Bolschewismus manifestiert, allen Anlass, die historische Zugangsweise zum Verständnis von Moral im Plural zu betonen. Dem entspricht die Diagnose der Kontingenz der westlich-liberalen Gesellschaften und ihrer politischen Ordnungen. Zur Zeit des Jahres 1940 ist etwa die Möglichkeit einzuräumen, »als bliebe eine demokratische politische Ordnung bestenfalls in Nordamerika erhalten«, was bedeutet, »die radikale Kontingenz des Untergangs des Faschismus zu denken.« 257
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H. Joas, Kriege und Werte, Weilerswist 2000, S. 79 f.
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Damit steht die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) in einem geschichtlichen Kontext, der in ihrer Präambel deutlich zum Ausdruck kommt. Auf die Bekräftigung der »Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte der Mitglieder der Gemeinschaft aller Menschen« folgt unmittelbar der Zeitbezug auf die moralischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Denn es heißt weiter, dass »die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen«. Mit diesen Akten der Barbarei ist insbesondere der vom Nazismus herbeigeführte Holocaust gemeint, so dass eine nähere Untersuchung zum Entstehen der AEMR zur These führt, dass ohne den Bezug auf den Holocaust die Erklärung nie geschrieben worden wäre. 258 Der Sache nach gehören zu den Akten der Barbarei, die geächtet werden, auch die oben dargelegten Aktionen der Entmenschlichung im Stalinismus, auch wenn diese im Jahr 1948 noch nicht die ihnen gebührende internationale Aufmerksamkeit gefunden haben. In Übereinstimmung mit meinem Begriff des Gattungsbruchs entwickeln daher Christoph Menke und Arnd Pollmann die These, dass man die Dynamik und Ausbreitung der Idee der Menschenrechte nach 1945 nur dann richtig versteht, wenn man sie klar »als Antwort auf die Erfahrung einer politisch-moralischen Katastrophe deutet.« Dabei geht es nicht nur darum, aus dieser Erfahrung ein wichtiges Motiv für die Erneuerung der Idee der Menschenrechte und der Menschenwürde zu gewinnen, sondern diese »Katastrophe muss so verstanden werden, dass sie […] unsere tiefsten politisch-moralischen Gewissheiten und damit am Ende auch die Menschenrechte selbst in Frage gestellt hat.« 259 Insofern kann die AEMR als Proklamation einer neuen geschichtlichen Phase gesehen werden, die dazu aufruft, den MenSo das Standardwerk zur Entstehung der AEMR: J. Morsink, The Universal Declaration of Human Rights, Philadelphia 1999, S. XIII. 259 Ch. Menke/A. Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, Hamburg 2007, S. 18. Zur weiteren Anknüpfung an den Begriff des Gattungsbruchs ebd., S. 46 ff. 258
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schenrechten weltweit zu einer neuen moralisch-politischen Geschichtsmächtigkeit zu verhelfen und für immer die Gefahr auszuschließen, dass alternative moralisch-politische Vergemeinschaftungen, wie sie der Nazismus oder Bolschewismus darstellen, die Oberhand gewinnen. In der Präambel werden die Menschenrechte als ein »Ideal« bezeichnet, das zu weltweiter Anerkennung und Realisierung auffordert. Zugleich bedient sich die Erklärung in ihren einzelnen Artikeln eines naturrechtlichen Vokabulars, in dem z. B. In Artikel 1 zum Ausdruck gebracht wird, alle Menschen seien an Würde und Rechten gleich geboren. So verständlich ein solches Vokabular im Rahmen eines deklamatorischen Dokuments ist, so klar ist auch, dass der Geltungsmodus der Menschenrechte nur in Begriffen nachvollziehbar ist, die auf geschichtlich situierte moralische Selbstinterpretationen von Menschen und deren Bestrebungen verweisen, ihre Moral zur größtmöglichen Akzeptanz und Dominanz zu bringen. Wie meine bisherige Moralbetrachung zum Nationalsozialismus und Bolschewismus dargelegt hat, kann die Voraussetzung einer ungebrochenen moralischen Gattungsallgemeinheit genauso wenig gehalten werden wie die Voraussetzung einer quasi von Natur vorgegebenen Würde von Menschen und ihren Rechten. Umso wichtiger wird es deshalb, die besondere Stärke der Menschenrechte im historischen Kontext und die Möglichkeiten zu ihrer Befestigung und weltweiten Verbreitung herauszuarbeiten. 260 Dazu ist es hilfreich, an die internationale Beteiligung bei der Entstehung der AEMR und spätere Weiterentwicklungem zu erinnern. Entgegen dem Vorurteil, dass bei der Erklärung die »westliche« Herkunft dominiert, lassen sich genügend Zeugnisse anführen, die auf Einflüsse aus anderen kulturellen Traditionen verweisen. 261 Doch wie auch immer man die kulturellen Hintergründe der AEMR gewichten mag – entscheidend ist, dass aus Zurecht plädiert auch Stefan-Ludwig Hoffmann in einem einleitenden Fazit für die »Einsicht in die historische Kontingenz unserer Werte und Normen«: Ders. (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 37. 261 Vgl. H. Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt/M. 2011, Kap. 6. 260
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einem Prozess internationaler Beteiligung eine Selbstverständigung über zentrale moralische Postulate und ihre politische Tragweite resultierte. Der moralische Kern entspricht dem oben in verschiedenen Schritten dargelegten Grundverständnis des Universalismus. Die inhaltliche Fassung des Universalismus als eine Moral des universell gefassten interhumanen Respekts war im Kontext der Realgeschichte des Universalismus als egalitärer Universalismus zu präzisieren (vgl. oben 1.2) und im Vergleich zu den moralischen Vergemeinschaftungstypen von Nationalsozialismus und Bolschewismus als moralisches Zentrum des westlich-universalistischen Typus zu bestimmen (vgl. oben 2.1, 2.2). Doch die idealtypische Fassung dieses Typus ist auf einer abstrakten Ebene so angelegt, dass sie ohne weiteres offen ist, mit außerwestlichen kulturellen Traditionen verbunden zu werden. Als Beispiel kann gelten, dass im Jahr 1996 die Bewahrung der Menschenrechte in die südafrikanische Verfassung aufgenommen wurde. Das widerspricht nicht dem historischen Tatbestand, dass die westlichen Institutionalisierungen von Menschenrechten in Verfassungsstaaten einen exemplarischen Stellenwert haben. Dass die AEMR mit wenigen Enthaltungen (darunter die Sowjetunion) 262 verabschiedet wurde, kann als eine Antwort auf die mit dem nazistischen Gattungsbruch aufgeworfene Frage gesehen werden, wie die moralische Gattungsperspektive als eine Universalisierung des inhaltlich verstandenen egalitären Universalismus wiedergewonnen werden kann (vgl. oben 1.1). Auf internationaler Ebene hat dieser Prozess der Universalisierung seine Fortsetzung auf der Weltkonferenz der UN in Wien (1993) gefunden und eine entsprechende Bekräftigung in der dort verabschiedeten Erklärung gefunden. Darauf zu verweisen, bedeutet nicht, sich der
Die AEMR wurde als Zeichen der nachstalinistischen Entspannung im Jahr 1955 zum ersten Mal vollständig für eine sowjetische Leserschaft veröffentlicht: J. Amos, »Unterstützen und Unterlaufen. Die Sowjetunion und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948–1958«, in: S.-L. Hoffmann (Hg.), Moralpolitik, a. a. O., S. 142–168, ebd., S. 160. Der Aufsatz gibt einen differenzierten Einblick in unterschiedliche Phasen der sowjetischen Auseinandersetzung mit Menschenrechten.
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Illusion hinzugeben, als sei die Kraft solcher und anderer Erklärungen (z. B. auf europäischer Ebene) stark genug, um menschenrechtlichen Maßstäben überall auf der Welt bereits Akzeptanz und gesellschaftlich-politische Wirksamkeit zu verschaffen. Es bedeutet aber, die Entfaltung eines moralisch-historischen Bedeutungsraums zu würdigen, der im Prinzip jedem Menschen zugänglich ist. Zugleich wird klar, dass über die richtungweisende Erfahrung des Holocaust hinaus die Relevanz historischer Erfahrung an anderen Phänomenen festzumachen ist, die in der Negativliste der Wiener Erklärung genannt und geächtet werden: Völkermord, ethnische Säuberung, Vergewaltigung in Kriegseinsätzen, Apartheid, Diskrimierung von Minderheiten, Terrorismus, Rechtlosigkeit von Kindern – um nur eine repräsentative Auswahl zu nennen. Eine Kommunikation, die Erfahrungen zu solchen und anderen moralischen Entgrenzungen emotional und reflexiv vernetzt, vermag Gemeinsamkeiten der moralischen Stellungnahme zu artikulieren, die sich im Selbstverständnis des egalitären Universalismus wiederfinden. Hieran wird ein Grundzug unseres erfahrungsgeleiteten moralischen Bewusstseins deutlich: Unsere Moral erschließt sich in dem, wogegen wir sind. Darüber hinaus sind Menschenrechte nicht nur mit historischen Erfahrungen verflochten. Sie sind zugleich die Sprache des Widerstands gegen aktuelle und künftige Unmenschlichkeiten, wo und von wem auch immer diese begangen werden. Sehr treffend stellt Michael Ignatieff fest: »Die Menschenrechte sind die einzige universelle moralische Sprache, auf die sich Frauen und Kinder in ihrem lokalen Kontext berufen können, wenn sie sich gegen ihre Unterdrückung durch die patriarchalische Gesellschaft und die Stammesgesellschaft wehren; nur sie können abhängige Menschen in die Lage versetzen, sich selbst als moralische Subjekte wahrzunehmen und gegen Praktiken – Zwangsehen, den Ausschluß von Frauen aus der Öffentlichkeit, das Fehlen von Bürgerrechten, genitale Verstümmelung, Haussklaverei usw. – zu kämpfen, hinter denen das Gewicht und die Autorität ihrer Kulturen stehen. Diese Menschen suchen genau deswegen den
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Schutz der Menschenrechte, weil diese ihren Protest gegen Unterdrückung legitimieren.« 263
Die Unterdrückung und Entmenschlichung, gegen die sich die Betroffenen wenden, zeigt in der Perspektive von unten, dass die Universalisierung als prozessuale Globalisierung von Menschenrechten in dem Maße greift, in dem sie lokal in den Kulturen und Gesellschaften derer, die sich gegen ihre gesellschaftliche oder staatliche Unterdrückung zur Wehr setzen, verankert wird (»going global by going local«). Insofern besteht das Kriterium für die Globalisierung von Menschenrechten darin, »wie weit diese von unten, von den Machtlosen angenommen werden.« Da die Machthaber, die gegen die Unterdrückten stehen, in der Regel nicht freiwillig ihre Positionen räumen, ist klar, dass der Aufbau von Gegenmacht zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Moral der Menschenrechte gehört. Diese Gegenmacht lässt sich auf verschiedenen Ebenen ansetzen und diskutieren. Auf der ganz allgemeinen Ebene können die einschlägigen Erklärungen der Menschenrechte selbst als normative Selbstbehauptungsakte gegen anti-universalistischen Moralentwürfe oder Selbstverständnisse gelten. Das entspricht den historischen Konflikten von Moral. Das führt zum Aufbau einer kommunikativen Überzeugungsmacht, die historische Erfahrung mit Erfahrungen zeitgenössischer Unmenschlichkeit vernetzt und in Medien aller Art sowie relevanten Öffentlichkeiten zur Geltung bringt. Die kommunikative Macht der Menschenrechte besteht in dem Zur-Dominanz-Bringen der universalistischen Grundüberzeugung und der Artikulation von konkreten Verletzungen der Menschlichkeit in welchem Kontext auch immer. Dieser kommunikativen Macht entsprechen Vereinigungsformen, wie sie sich weltweit in Menschenrechtsorganisationen finden. Hierzu ist es aufschlussreich, empirische Studien zur Kenntnis zu nehmen, in denen die »Macht der Menschenrechte« an der Rolle und Wirkung transnationaler Netze untersucht wird, deren AkM. Ignatieff, Die Politik der Menschenrechte, Hamburg 2002, S. 88, das Folgende S. 92 ff.
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teuren es gelingt, sukzessive Erfolge bei der Durchsetzung von Menschenrechten zu erzielen, indem sie Druck von außen wie von innen auf staatliche Machthaber ausüben. 264 Auf einer anderen Ebene liegen Menschenrechte als institutionalisierte Macht des Rechts und Leitlinie institutionalisierter Politik. Nicht nur dass Menschenrechte Verfassungsrang in Rechtsstaaten oder auf ihnen basierenden supra-nationalen Ordnungen haben (EU). Von großer Bedeutung, die für manche Autoren einer Revolution gleichkommt, ist ihre Rechtsverbindlichkeit auf der Ebene des Völkerrechts und der seit 1998 geschaffenen Möglichkeit der Ahndung von Verletzungen der Menschenrechte durch den internationalen Strafgerichtshof von Den Haag. 265 Dieser völkerrechtlichen Entwicklung kommt großes Gewicht zu, wenn man bedenkt, dass die Massenverbrechen des Stalinismus bis heute ohne strafrechtliche Konsequenzen blieben und z. B. auch die internationale Strafgerichtsbarkeit nach dem Völkermord an den Armeniern unterlaufen wurde. Diese Ebene verweist vorab auf die Problematik der historischen Verantwortung (vgl. unten 3.3). Eine weitere Ebene von Menschenrechten betrifft die internationale Politik. Institutionen wie die des hohen Kommissars für Menschenrechte bei der UN oder der entsprechenden Gremien bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder der EU sowie nationale Sonderbeauftragte von Parlamenten oder Regierungen umschreiben das breite Spektrum zur Stärkung von Menschenrechten auf verschiedenen Wegen der Einflussnahme und Diplomatie. Hinzu kommt die Relevanz der Menschenrechte auf der internationalen Agenda von Staats- und Regierungschefs, was zugleich auf ungelöste Probleme verweist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Nachdem China die Respektierung der Menschenrechte in seine Verfassung aufgenommen hat, ist zwar ein Ansatzpunkt gegeben, um für humaTh. Risse/A. Jetschke/H. P. Schmitz, Die Macht der Menschenrechte. Internationale Normen, kommunikatives Handeln und politischer Wandel in den Ländern des Südens, Baden-Baden 2002. 265 Vgl. Ignatieff, Menschenrechte, a. a. O., S. 30 ff.; E. Klein, Menschenrechte. Stille Revolution des Völkerrechts und Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsanwendung, Baden-Baden 1997. 264
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ne Verbesserungen auf diplomatischem Weg einzutreten, doch Fortschritte auf dieser Ebene bleiben dahingestellt. Wenn man sich im Anschluss an die AEMR die soweit charakterisierten Entwicklungen zur moralischen Neubesinnung aus historischer Erfahrung und die realen Universalisierungsvollzüge zur Stärkung des egalitären Universalismus vergegenwärtigt, gewinnt die Frage, welche philosophische Interpretation der Moral der Menschenrechte am Besten gerecht zu werden vermag, eine erneute Relevanz, der ich im Folgenden nachgehe.
Universalismus als voluntativer Egalitarismus Als Ausgangspunkt nehme ich die elementare Ebene, auf der sich Menschen als Menschen im Bewusstsein wechselseitiger Ko-Existenz begegnen – wie immer sich dabei ihre Beziehungen im einzelnen gestalten mögen. Wie zu sehen war, weigert sich die NSMoral bereits auf dieser Ebene, bestimmten Menschen oder Menschengruppen den Spielraum menschlicher Entfaltung überhaupt zuzugestehen. Diese Verweigerung einer menschlich-personalen Einschlussbeziehung, einer humanen Inklusion, kommt einer elementaren Unmenschlichkeit gleich, die der Moral der Menschenrechte entgegensteht (vgl. oben 1.3). Auf diese Weise – und analog im Bolschewismus – ist deutlich geworden, dass die selbstverständliche humane Inklusion – von welchen Menschen auch immer – keine zweifelsfreie Voraussetzung darstellt, sondern Anlass gibt, dem Grund nachzufragen, auf dem sie ruht. Diesen Grund freizulegen, heißt, die hier maßgebende psychomoralische Einstellung als Basis menschlichen Zusammenlebens aus der Ich- und Wir-Perspektive herauszuheben. Das ist nicht zu verwechseln mit dem Aufzeigen einer objektiven Begründung für diese Einstellung. Man kann Motive für diese Einstellung aber keine irgendwie geartete »Ableitung« anführen, dass Menschen sich diese Einstellung zu eigen machen. Doch es ist aller Anstrengung wert, das psycho-moralische Einstellungsprofil zu stärken, das einem universalistischen Selbstverständnis entspricht. Zu seinem humanen Potenzial gehört, dass aus der Perspektive eines 178 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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jeden Menschen jeder andere Mensch auch dann noch in seinem Menschsein akzeptiert wird, wenn es zu Konflikten, emotionaler Ablehnung bis zu Hass oder moralischer Verurteilung wegen Verfehlungen kommt. Es erfordert ein Bewusstsein möglichen Gelingens wie Scheiterns in der Begegnung mit anderen Menschen, ein Bewusstsein von Risiken der Enttäuschung und Möglichkeiten der Bestätigung in emotionaler wie sozialer Hinsicht. So zeigt sich, dass Menschen, die einem universalistischen Selbstverständnis folgen, sich immer schon im Rahmen von Voraussetzungen oder Annahmen über normal empfundene menschliche Vielgestaltigkeit und vorausliegende Gemeinsamkeiten bei aller Differenz bewegen. 266 Die Vermeidung des schlechten Lebens als Bedingung für Perspektiven des guten Lebens verweist auf eine Lebensweise, dem das Einstellungsprofil der humanen Inklusion zugrundeliegt. 267 In Anknüpfung an den oben erläuterten Begriff der Integrationsmoral lässt sich somit sagen, dass ein menschlichintegratives Einstellungsprofil die positive Identifikation mit dem Inhalt des Universalismus trägt (vgl. oben 2.1: Begriffliche Klarstellungen). Damit kommt rückblickend erneut das geschichtliche Gewordensein eines Einstellungsprofils in den Blick, das sich mit der oben dargelegten Realgeschichte des Universalismus und der kulturelle Dynamik, die ihm eigen ist, verbindet (vgl. 1.2). Trotz aller Einschränkungen kann der innovative Einstellungswandel, der sich vollzogen hat, wie folgt stilisiert werden: Von nun an wollen wir uns als Menschen so verstehen, dass wir uns in Ich-Du- oder Wir-Ihr-Begegnungen als Gleiche unter Gleichen betrachten, denen derselbe Status, dieselben Rechte zukommen. 268 In diesem Vgl. die Betonung affektueller Gemeinsamkeiten bei R. Gaita, A Common Humanity. Thinking about Love and Truth and Justice, London 2000. Vergleichbar fragt J. Butler (Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt/M. 2003, S. 144), »ob ›du‹ für das Schema des Menschlichen, in dem ich mich bewege, in Frage kommst.« 267 Einen gemeinsamen »Spielraum für ein eigenes gutes Leben« hebt M. Seel (Sich bestimmen lassen, a. a. O., S. 211) in Übereinstimmung mit meinem Begriff des historischen Universalismus hervor. 268 Ein Ansatz, der die zwischenmenschliche Affektivität bei der Heraus266
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Idealtypus von egalitärer Vergemeinschaftung kommt der Begriff einer voluntativ-normativen Gleichheit, zum Ausdruck, dem aus gegenwärtiger retrospektiver Sicht das Selbstverständnis entspricht: Wir verstehen uns als Gleiche unter Gleichen und mit gleichen Rechten ausgestattet – dahinter wollen wir nicht zurück! Wie schon deutlich wurde, besteht die angemessene Lesart der gewollten Gleichheit in einem individualistischen Verständnis von Gleichheit, das Spielräume für gesellschaftliche Differenzierung eröffnet. Das schließt soziale Ungleichheiten und Gerechtigkeitsprobleme nicht aus, doch es gilt der Grundsatz, dass diese Fragen nur unter Voraussetzung des angegebenen normativen Kerns diskutabel sind. Dasselbe gilt in globaler Perspektive für den durch UN-Deklarationen namhaft gemachten normativen Kern der Menschenrechte. Auch hier gilt: Wir wollen dem Prinzip gleicher Rechte folgen. Wenn man sich des Begriffs voluntativer Gleichheit vergewissert hat, dann erhalten die exemplarischen Emanzipationskämpfe von Frauen oder Sklaven ihren Stellenwert in einem Begriffsrahmen, der unterstreicht, dass die normative Gleichheit von Menschen immer schon einen historischen Index mit sich führt: Gleichheit zu welcher Zeit und mit welchem Verständnis der sie tragenden moralischen Subjekte. Dieser Sachverhalt wird ebenfalls durch die gegenläufigen Konzeptionen von Gleichheit unterstrichen, die in den normativen Zentren von NS und Bolschewismus dominieren: nazistische Gleichheit als Mitgliedschaft in einer rassisch homogenisierten Volksgemeinschaft, proletarische Gleichheit als Mitgliedschaft in einer sozialen Fortschrittsgemeinschaft. Die konträren Begriffe von Gleichheit sind maßgebend für unterschiedliche Verhältnisse von Inklusion und Exklusion. Die nazistische Gleichheit betreibt die Exklusion von Juden und anderen Gruppierungen, die proletarische Gleichheit homogenisiert die Gemeinschaft durch Exklusion von Klassenfeinden oder anderen »feindlichen Elementen«. In beiden Partikularismen wird das Ziel bildung der Menschenrechte betont, liegt vor bei: L. Hunt, Inventing Human Rights, New York/London 2007, S. 26 ff.
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verfolgt, die faktische Vielgestaltigkeit menschlicher Verhältnisse zu reduzieren. Der Begriff der voluntativen Gleichheit stellt die Frage, wie sich der egalitäre Universalismus und die Moral der Menschenrechte begründen oder rechtfertigen lässt, in einen nicht zu suspendierenden geschichtlichen Horizont. Die Begründungsfrage ist unabweisbar auf eine geschichtliche Reflexion angewiesen, so dass die moralische Gemeinschaft, die auf voluntativer Gleichheit gründet, sich im Vergleich zu anderen Typen von Vergemeinschaftung zu verteidigen und an ihrer Akzeptanz und Verbreitung zu arbeiten hat. Das lässt sich als sukzessive Universalisierung des inhaltlich gefassten voluntativen Egalitarismus kennzeichnen. Dessen mögliche universelle »Geltung« ist dann nicht mehr begründungslogisch, sondern nur noch geschichtspraxeologisch zu denken. So gesehen bilden die historische Genese der Menschenrechte, ihre anti-nazistische und anti-bolschewistische Erneuerung sowie ihre sukzessive Universalisierung eine systematische Einheit, die überhistorische Begründungsideale obsolet macht. 269 Nachdem schon deutlich wurde, wie historische Erfahrung die Moral der Menschenrechte stärken kann, ist unter dem Gesichtspunkt ihrer sukzessiven Universalisierung eine Klarstellung zum individualistischen Begriff von Gleichheit anzufügen. Der hierbei relevante Sinn von »individualistisch« oder »Individualismus« hat mit »Egoismus« oder »Hedonismus« oder subjektivistischer Beliebigkeit, nichts zu tun, auch wenn unbestreitbar ist, dass solche Einstellungen in westlichen Gesellschaften (aber nicht nur dort) anzutreffen sind. Worum es geht, ist ein Individualismus, der davon ausgeht, dass Menschen fähig sind, sich als moralische und rechtliche Subjekte zu verstehen und die Möglichkeit erhalten, sich eigenverantwortlich normativ zu orientieren. Sie müssen In diesem Resultat treffe ich mich mit dem von Hans Joas eingeführten Begriff einer »affirmativen Genealogie« der Menschenrechte: Joas, Sakralität, a. a. O., Kap. 4. Näheres dazu und zur Konzeption der »Sakralität der Person«: R. Zimmermann, »Moral und geschichtliche Existenz. Ein philosophischer Blick auf das Werk von Hans Joas«, in: M. Kühnlein/J.-P. Wils (Hg.), Der Westen und die Menschenrechte, Baden-Baden 2019, S. 127– 134.
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sich nicht zwingend auf Menschenrechte festlegen, aber sie sollten die Möglichkeit haben, sich für oder gegen deren Annahme auszusprechen. Insofern ist der relevante Individualismus auf die Unterstellung persönlicher Entscheidungsfreiheit bezogen. Es handelt sich um einen strukturellen Individualismus, der auch dann vorausgesetzt werden muss, wenn man Menschen davon überzeugen will, dass Familie oder Gemeinschaft den Vorrang vor den Interessen von Individuen erhalten sollten. Dieser strukturelle Individualismus bietet neben dem prinzipiellen Egalitarismus der Menschenrechte die unverzichtbare Grundlage, um sich mit Konzeptionen von Menschenrechten auseinanderzusetzen, die islamischen oder asiatischen Traditionen entstammen. Dadurch, dass der uneingeschränkte Menschenrechtsuniversalismus als Vorgabe dient, wird ein normativer Druck erzeugt, der dazu beiträgt, die Transparenz alternativer Vorschläge, Korrekturen oder Ergänzungen zu erhöhen. Insofern geht es um einen offenen Prozess der Universalisierung der Menschenrechte. 270 Dieser Prozess lässt sich auch unter das Vorzeichen einer »Globalisierung der Ethik« stellen, bei der unter Anerkennung moralischer Pluralität ein Dialog in Gang kommt, der unterschiedliche Ansätze auf Übereinstimmungen befragt. 271 Das Forum des internationalen Menschenrechtsdiskurses stellt so den realitätsnahen Gradmesser dar, um Chancen und Risiken für eine komparative Rechtfertigung des egalitären Universalismus der Menschenrechte auszuloten. 272 Je mehr Menschen dabei zu der Überzeugung kommen, dass es besser ist, einer Gemeinschaft anzugehören, in der Einstellungen der zwischenmenschlichen Gleichheit und ihre menschenrechliche Kodierung dominieren
Menke/Pollmann, Menschenrechte, a. a. O., S. 74 ff. W. M. Sullivan/ W. Kymlicka (Hg.), The Globalizatin of Ethics. Religious and Secular Perspectives, Cambridge/New York 2007. Darin als Appendix islamische und asiatische Menschenrechtserklärungen, S. 247 ff. 272 Vgl. zu Bestandsaufnahme und Kontroversen: M.-L. Frick, Relativismus und Menschenrechte, in: Erwägen Wissen Ethik, Jg. 24 (2013), S. 159–172. Diskussion und Replik, ebd., S. 173–338. Frick stellt fest: »Menschenrechte sind das Thema unserer Zeit […]«, ebd., S. 160. 270 271
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als einer anderen Art von Gemeinschaft, je mehr besteht Aussicht auf die weitere Festigung von sukzessiver Universalisierung.
Begründungsfragen II Die historisch situierte Moralphilosophie, für die meine Untersuchung plädiert, steht Untersuchungen nahe, die mit anderen Akzenten für einen historischen Bezug von Begründungsfragen in der Ethik argumentieren. 273 Demgegenüber besteht die primäre Herausforderung für meinen voluntativen Universalismus nicht nur in dem bereits kritisierten Gattungstraditionalismus von Kant, Korsgaard und anderen, sondern auch in der anthropologischen Version von Ethik, die Ernst Tugendhat vertritt. Von Tugendhat habe ich bereits den motivationalen Begründungsbegriff aufgenommen (vgl. oben 1.3: Begründungsfragen I), doch über diese Übereinstimmung hinaus, kann eine Diskussion der Position Tugendhats die Begründungsproblematik der universalistischen Moral weiter verdeutlichen. Tugendhat verfolgt den anspruchsvollen Ansatz, den egalitären Universalismus durch den Aufweis einer anthropologischen Ebene von Begründung zu stützen. 274 Dabei ist der Rahmen zu beachten, den Tugendhat für seine Diskussion von Moral setzt. Dieser besteht darin, dass er in seiner Ethik betont, es sei wichtig, einen formal-allgemeinen Moralbegriff von unterschiedlichen inExemplarisch dafür: L. Siep, Konkrete Ethik, Frankfurt/M. 2004, S. 100– 123: »Formen der Begründung in der Ethik«. Siep zögert zwar, die normative Dimension des NS als ›Moral‹ zu bezeichnen, doch besteht Übereinstimmung in Bezug auf historische Erfahrung. Vgl. zuletzt: L. Siep, »Arten normativer Erfahrung und ihre Bedeutung für die Normbegründung«, in: Th. Gutmann/S. Laukötter/A. Pollmann/L. Siep (Hg.), Genesis und Geltung. Historische Erfahrung und Normenbegründung in Moral und Recht, Tübingen 2018, S. 243–263, ebd. S. 260, Anm. 58 zur NS-Moral. Vgl. zu Taylors historischer Zugangsweise oben 1.3: Begründungsfragen 1. 274 E. Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, 2. Aufl., München 2010, Anhang: Nazismus und Universalismus. Ist die universalistische Moral historisch erklärbar?, S. 206–224. Dieser Aufsatz setzt sich u. a. mit meiner Position des historischen Universalismus auseinander. 273
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haltlichen Ausprägungen von Moral zu unterscheiden. Der formale Moralbegriff besteht für Tugendhat in den wechselseitigen Imperativen, die in einer Gruppe bestehen, die sich über solche Imperative als moralische Gemeinschaft definiert. Dabei besteht das spezifisch Moralische dieser Imperative darin, dass sie wechselseitig sind und getragen werden von wechselseitigen Affekten von Empörung und Schuld, Lob und Tadel sowie von Bewertungen in gut und schlecht. Das Normensystem, dem die Gemeinschaft folgt, schränkt die Willkür der Einzelnen ein und verlangt insofern eine Begründung gegenüber den Mitgliedern. Insofern stützt sich jedes Moralsystem auf ein Begründetsein, aber, so Tugendhat, nicht auf ein theoretisches Begründetsein im Sinne analytischer oder empirischer Sätze, sondern auf praktische Begründungen, die darin liegen, dass »alle Motive haben, dieses wechselseitige Forderungssystem gemeinsam einzugehen.« 275 Das steht in Einklang mit dem oben bereits erläuterten motivationalen Sinn von Begründung, der nun in die Konzeption eines formalen Moralbegriffs Eingang findet. Zu diesem formalen Moralbegriff stehen meine Analysen gegensätzlicher moralischer Vergemeinschaftungstypen in Gestalt des egalitären Universalismus, des Nazismus und Bolschewismus nicht in Widerspruch, da man auch die Letzteren als wechselseitige Forderungssysteme in Tugendhats Sinn lesen kann. Vielmehr ist es ausgesprochen hilfreich, dass Tugendhat die Frage nach einem allgemeinen Moralbegriff aufwirft, unter den auch Moralen fallen können, die der universalistischen Moral entgegenstehen. In einer anderen Terminologie hat die Frage eines allgemeinen Moralbegriffs insofern schon eine Rolle gespielt, als die Kritik an Korsgaard deutlich gemacht hat, dass die grundsätzliche Fähigkeit von Menschen, sich eine »praktische Identität« zu geben, keineswegs dazu führen muss, dass diese Identität mit dem inhaltlichen Verständnis des Universalismus übereinstimmt. Ganz entsprechend wurde auch bei Rorty eine Abgrenzung zwischen unterschiedlichen moralischen Identitäten zum Thema (vgl. oben 275 Tugendhat, Anthropologie, a. a. O., S. 216. Dazu auch: Das Problem einer autonomen Moral, ebd., S. 114–135, insbes. S. 120 ff.
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Moral der Menschenrechte
1.1, 1.2). In welcher Begrifflichkeit auch immer man der Frage eines allgemein-übergreifenden Moralbegriffs nachgeht, entscheidend ist der analytische Blick auf eine Pluralität von Moralen und der davon zu unterscheidenden Frage, welcher Moral der Vorzug gebührt. Tugendhat nimmt diese Pluralität zwar mit anderen Akzenten auf, als ich das getan habe, doch ist klar, dass er den Nazismus den partikularistischen Moralen zurechnet, auch wenn er es eher offen lassen will, ob man besser von nazistischer Ideologie oder Moral sprechen soll. 276 Damit ist ein Diskussionsrahmen gegeben, mit dem ich übereinstimme. Auch in einem für die Begründungsfrage zentralen Punkt stimme ich mit Tugendhat überein. Denn er erteilt allen Versuchen eine Absage, zu einer irgendwie letztbegründenden oder strukturell-apriorischen Rechtfertigung zu kommen. Doch zugleich – und hier beginnt die Differenz – meint Tugendhat, eine strukturelle Überlegung ansetzen zu können, die darin besteht, auf eine, wie er sagt,»anthropologische« bzw. »soziale Ursituation« zu rekurrieren, aus der sich der Schritt zu einer egalitär-universalistischen Moral nahelegt. 277 Die Möglichkeit, auf eine solche Ursituation zurück zu gehen, sieht Tugendhat dadurch gegeben, dass durch die Aufklärung die Abkehr von religiös gestützten Traditionen und Autoritäten erfolgt sei, die es erlaube, in der so entstandenen geschichtlichen Situation zu einer wechselseitigen Begründung von Moral überzugehen, die selbstbestimmt – autonom – erfolgen könne, weil sie sich der Loslösung von vorgegebenen Autoritäten bewusst und daher nur noch im Rückgang auf das wechselseitige Interesse aller zu denken sei. Wenn so das wechselseitige Interesse aller die motivationale Basis der Moral darstellt, dann – so der zentrale Schritt – müssen sich die Beteiligten als normativ Gleiche anerkennen, weil sie sonst nicht in der Lage wären, ein Normensystem wechselseitig Den Bolschewismus hält Tugendhat nicht für partikularistisch (ebd., S. 220, Anm. 5), sondern schreibt ihm nur die Auffassung zu, dass der Zweck die Mittel heiligt. Das ist zu undifferenziert (vgl. oben 2.2), kann aber hier übergangen werden. 277 Zum Folgenden: Tugendhat, Anthropologie, a. a. O., S. 216–224. 276
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Lehrstücke moralischer Divergenz
zu begründen. Die Anerkennung als Gleiche ist zugleich tendenziell universalistisch, weil sonst die Begründbarkeit gegenüber Außenstehenden nicht möglich wäre. Dennoch bleibt diese Art der Begründung der egalitär-universalistischen Moral in einer entscheidenden Hinsicht nur optional. Man kann niemand zwingen, sich mit der wechselseitigen Berücksichtigung der Interessen aller einverstanden zu erklären. Die alternative Option einseitiger Machtausübung bleibt, so dass Tugendhat keinen endgültigen Begründungsanspruch erhebt, sondern nur auf der Herausarbeitung der Alternative autonome egalitär-universalistische Moral versus einseitige Machtausübung besteht. Insofern gibt es auch für die aufgeklärte Moral keinen absoluten Standpunkt, kein tiefer liegendes »muss«, wie Kant meinte, sondern auch sie ist im recht verstandenen Sinn subjektiv, ein subjektiver Standpunkt. Doch zugleich meint Tugendhat, dass er mit seiner Darlegung der egalitären Moral unter Bedingungen der Aufklärung den historischen Rahmen, in dem auch seine Überlegungen stehen, sozusagen entzeitlicht und das Für und Wider seiner Moralkonzeption auf grundlegende Alternativen an menschlichen Haltungen, Moral oder Macht, zurückgeführt hat, die man als anthropologische Alternativen ansehen kann. Tugendhat unterbreitet mit dieser Konzeption einen starken Vorschlag, wie man einerseits der historischen Situation seit dem 18. Jahrhundert Rechnung tragen und andererseits doch zu einer überhistorischen Auffassung von Moral kommen und einen »zeitlosen normativen Begründungsanspruch« vertreten kann. Dennoch meine ich, dass man auf solche Weise nicht zu einer Enthistorisierung des egalitären Universalismus gelangt. Ein erster Einwand betrifft die Charakterisierung der historischen Situation des 18. Jahrhunderts. Tugendhat stilisiert die Veränderungen in dieser Zeit dahingehend, dass er das Postulat der Aufklärung zum selbständigen Denken und zur praktischen Selbstbestimmung zum allgemeinen Phänomen der Zeit erklärt und meint, dass damit ein prinzipielles Zurücktreten und Abstandnehmen von vorgegebenen Autoritäten möglich geworden sei. So wenig die Bedeutung der Aufklärung als geistige Strömung wie als Bewusstseinshaltung zu unterschätzen ist, so wenig kann man nur 186 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Moral der Menschenrechte
sie als motivationale Grundlage der entsprechenden Zeitströmungen ansetzen. Wichtig scheint vielmehr, sie als Teil eines Prozesses sozialer Neukonstruktion anzusehen, der über unterschiedliche Angriffspunkte gegen Unterdrückung, Benachteiligung und autoritäre Herrschaft zu emotional wie rational veränderten zwischenmenschlichen Einstellungen führt, die der Etablierung eines neuen Menschenbildes gleichkommen. Als Resultat ergibt sich das von mir oben bereits genannte psycho-moralische Einstellungsprofil, das immer stärker im Sinne einer elementaren menschlich-personalen Einschlussbeziehung zum anderen Menschen kultiviert wird. Man kann sagen, dass es um das intuitive Akzeptieren einer neuen Art zu leben geht, das sich aus unterschiedlichen existenziellen Betroffenheiten ergibt. Diese drücken sich in Affekten der Empörung gegen Unterdrückung oder Widerstandshaltungen gegen Autoritäten ebenso aus wie in der gleichzeitigen Suche nach neuen Lebensmöglichkeiten und ihrer affektuellen Bejahung. Entscheidend ist, dass eine soziale Praxis dominant werden konnte, die dem veränderten Einstellungsprofil entspricht, selbst wenn dieses noch religiös – und insofern an Autorität angelehnt – inspiriert gewesen sein mag. So gesehen kann es unterschiedliche motivationale Quellen für eine egalitäre Moral geben, wie es de facto geschichtlich auch war. Hinzu kommt, dass die Entwicklung egalitärer Selbstverständnisse von tief gehenden Kontroversen darüber, was unter Gleichheit zu verstehen sei, begleitet war. Wie schon dargelegt, endeten Frauen, die geschlechtliche Gleichstellung forderten zur Zeit der Französischen Revolution unter der Guillotine und die Forderung zur Abschaffung der Sklaverei war Gegenstand jahrhundertelanger Kämpfe. All das verweist auf prozessual-dynamische Entwicklungen, so dass immer zu beachten ist: Gleichheit zu welcher Zeit und mit welchem Verständnis. Mein zweiter Einwand betrifft die von Tugendhat angesetzte Plausibilisierung seines Vorschlags, die zur Konstruktion einer anthropologisch-sozialen Ursituation führt, die den Schritt zur normativen Gleichheit nahelegen soll. Eine solche Ursituation lässt sich meines Erachtens nicht konsistent als Begründungsinstanz geltend machen. Tugendhat nennt als Beispiel einen Un187 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Lehrstücke moralischer Divergenz
fall, der Menschen in der Wildnis vor die Situation stellt, sich auf Regeln zu einigen, bei deren Festlegung geschichtliche Bezüge keine Rolle mehr spielen. Auf diese Weise eine geschichtslose Situation zu fingieren, bringt nicht das gewünschte Ergebnis. Denn angenommen die in der Wildnis Ausgesetzten seien ein Nazi, ein Bolschewik und ein egalitärer Universalist. Dann besteht entweder die Möglichkeit, dass man sich überhaupt nicht auf ein egalitäres Miteinander einigt, weil man sich zutiefst zuwider ist und im Zweifelsfall lieber ein Todesrisiko eingeht. Oder aber man geht nur eine provisorische Einigung zum Zweck des Überlebens oder des Selbstschutzes ein. Dann aber geht es nicht um normative Gleichheit schlechthin, sondern um Gleichheit im Rahmen eines bestimmten Zweckes. Sobald die Notsituation vorbei ist, greifen wieder die alten Gegensätze, weil es kein gemeinsames psychomoralisches Einstellungsprofil gibt, das in einer elementaren menschlich-personalen Einschlussbeziehung gründet. Das führt auf die Einsicht zurück, die ich oben im Anschluss an Primo Levis Erfahrungsbericht formuliert habe (vgl. 1.3): Der Nazismus verweigert humane Inklusion auf einer ganz elementaren Ebene menschlicher Begegnung, die der Exklusion menschlicher Ko-Existenz gleichkommt. Das gilt in anderer Weise auch für den Bolschewismus. Wie zu sehen war, liegt diese elementare Ebene menschlicher Inklusion versus Exklusion Fragen der Gerechtigkeit voraus. Unmenschlichkeit im Sinne der Verweigerung von menschlicher Ko-Existenz impliziert Ungerechtigkeit, aber Ungerechtigkeit qua soziale Ungleichheit impliziert nicht Unmenschlichkeit, sondern kann mit humaner Inklusion verträglich sein. Das Eingehen auf andere Menschen qua menschlich-personalem Einschluss unter Gleichen mag auch in einem sehr allgemeinen Sinn unter einen Begriff von Gerechtigkeit zu bringen sein, doch kann man zweifeln, ob das hilfreich ist, weil Fragen nach Gerechtigkeit immer schon so etwas wie einen gemeinsamen menschlichen Begegnungsraum voraussetzen. Die Mängel der anthropologischen Lösung, die ich in Tugendhats Begründung des egalitären Universalismus sehe, sind geeignet, noch einmal das Spezifikum des historischen Universalismus als eines egalitären Voluntarismus herauszuheben. Die Identifika188 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Moral der Menschenrechte
tion mit der egalitären Grundeinstellung, sich unter Menschen als Gleicher unter Gleichen verstehen zu wollen, nimmt nicht notwendigerweise Bezug auf die Interessen aller, sondern sucht eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die ähnliche oder übereinstimmende Dispositionen und die damit einhergehende Lebensweise teilen, die dem oben herausgestellten psycho-moralischen Einstellungsprofil entspricht. Das verweist zugleich auf das Desiderat, die Untersuchung von Motiven zu vertiefen, die zum egalitären Grundwillen führen. Perspektivisch kann die Frage nach einer möglichen Enthistorisierung des egalitären Universalismus nur durch einen Prozess seiner Universalisierung in der Dimension der Geschichte selbst gedacht werden – vom Ende einer Geschichte her, die ihn möglicherweise dadurch enthistorisiert, dass ihn der Wille von Menschen zu einer Selbstverständlichkeit hat werden lassen, zu der es keine Alternativen mehr gibt. Dem füge ich ein methodisches Fazit hinzu, das sich aus den diskutierten Lehrstücken zu moralischer Divergenz nahelegt und auch bei der Abwägung weniger gravierender moralischer Unterschiede hilfreich sein kann. Diesen Unterschieden wird am Besten die Konzeption eines metaethischen Pluralismus gerecht, die sich aus einer historisch reflektierten Moralphilosophie ergibt. Die fruchtbarste Weise, diese Position zu festigen, sehe ich in einer geltungstheoretischen Doppelstrategie. Einerseits besteht diese darin, die nie enden wollende Herausforderung anzunehmen, gegen Apriori-Begründungen der universalistischen Moral von Kant bis Korsgaard und darüber hinaus deren Defizite namhaft zu machen. Entsprechendes gilt für jede andere monistische Moralkonzeption. Andererseits wären die geschichtlichen Bedingungen zur sukzessiven Universalisierung des egalitären Universalismus zu vertiefen und mit einer Analyse psycho-moralischer Einstellungen zu verbinden, die das Für und Wider pro-egalitärer Dispositionen freilegt. Auf diese Weise müsste sich der egalitäre Universalismus in einem Prozess von Selbstkritik und Gegenkritik weiter bewähren. Soweit man für diesen Prozess eine Einsicht aus historischer Erfahrung ins Spiel bringen kann, so ist es die, nicht der Illusion einer Selbsttransparenz im Lauf der Geschichte zu erliegen. 189 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Lehrstücke moralischer Divergenz
Als Überleitung zur Politik nach Auschwitz nehme ich noch einmal die Gegenüberstellung auf, die Tugendhat zwischen einer einseitigen Machtausübung und der wechselseitigen Berücksichtigung der Interessen aller, die für ihn konstitutiv für die egalitäre Moral ist, ansetzt. Diese einleuchtende Alternative zwischen einer moralischen Symmetrie und einer Machtasymmetrie ist jedoch weiter zu differenzieren. Im Innern der durch die egalitäre Moral bestimmten Gemeinschaft müssen ihre Mitglieder stetig die Bereitschaft stärken, nicht in asymmetrische Machtausübung abzugleiten. Das kann man die interne Pflege einer Überzeugungsoder Einstellungsmacht zugunsten der moralischen Symmetrie nennen. Nach außen muss die moralisch-egalitäre Gemeinschaft durch die Verbreitung ihres ureigenen Überzeugungskerns unterstützt und geschützt werden. In anderen Worten: Der egalitäre Universalismus ist kein moralisch-geschichtlicher Selbstläufer, sondern seine normative Selbstbehauptung bedarf institutioneller Absicherungen nach innen und nach außen. Die komplizierte Gemengelage aus historischer Erfahrung, interkulturellen und globalen Perspektiven kommt ohne Berücksichtigung von politischen Verhältnissen nicht aus. Wenn Moral von dieser Welt sein soll, bleibt sie auf politische Macht angewiesen.
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3. Politik und Historische Verantwortung nach Auschwitz
Theodor W. Adorno hat wichtige Anstöße zur philosophischen Neubesinnung nach Auschwitz gegeben, doch sein Postulat zur Verhinderung von Barbarei bedarf der Einlösung in politischen Institutionen (3.1). Der Vergleich zwischen der geschichtlichen Konstellation bei der Einsetzung des deutschen Grundgesetzes und der Verfassung der USA demonstriert den unterschiedlichen Stand des moralischen Bewusstseins der dominanten Gruppen eines Volkes. In Bezug auf verschiedene Verfassungsmodelle sind wichtige Beiträge liberaler Theoretiker zur Stärkung der konstitutionellen Demokratie von Interesse (3.2). Eine besondere Herausforderung für die postnazistische deutsche Demokratie besteht in der Bearbeitung von historischer Verantwortung nach Auschwitz. Diese Problematik ist Teil einer europa- und weltweiten Auseinandersetzung mit historischem Unrecht (3.3).
3.1 Politik oder die Verhinderung von Barbarei Der Einstieg mit Adornos »kategorischem Imperativ« führt auf die Verbindung von Moral und Politik, die ich als Verbindung von universalistischer Moral und demokratischem Verfassungsstaat expliziere.
Adornos »kategorischer Imperativ« In seiner Negativen Dialektik kommt Adorno zu einer beeindruckenden Formulierung: »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so
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Politik und Historische Verantwortung nach Auschwitz
einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.« 278
Dieser Imperativ drängt sich aus geschichtlicher Erfahrung und der mit ihr einhergehenden moralischen Erschütterung auf. Das Kategorische ergibt sich aus der oben diskutierten Ablehnung der nazistischen Moral und dem Widerstand gegen Inhumanität. Auch für Adornos Imperativ lässt sich die Einsicht formulieren: Unsere Moral erschließt sich in dem, wogegen wir sind (vgl. oben 2.3). Die Standortbestimmung von Moral führt jedoch bei Adorno nicht zu dem naheliegenden Schritt eines inhaltlich gefassten Universalismus, der ein künftiges Auschwitz sowohl aus der Ichals auch der Wir-Perspektive ausschließt. Vielmehr verbleibt Adornos Moralverständnis in der Dimension widerständiger Subjektivität, die sich ihrer moralischen Evidenz sicher ist. Man muss jedoch sehen, warum es mehr bedarf, als sich ausschließlich auf diese Dimension zu konzentrieren. Adorno fährt fort: »Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheit des Kantischen. Ihn diskursiv zu behandeln, wäre Frevel: an ihm läßt leibhaft das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen sich fühlen. Leibhaft, weil es der praktisch gewordene Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz ist, dem die Individuen ausgesetzt sind, auch nachdem Individualität, als geistige Reflexionsform, zu verschwinden sich anschickt. Nur im ungeschminkt materialistischen Motiv überlebt Moral.«
Das Treffende in dieser Passage besteht darin, dass Adorno in der Ablehnung von Auschwitz eine Evidenz in Anspruch nimmt, von der es in der Tat abwegig wäre, sie mit einer Begründung in der Art diskursiver Rechtfertigung versehen zu wollen. Wenn jemand Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1975, S. 358. Die folgenden Zitate ebd., S. 358, 281. Vgl. zur Nachzeichnung und Plausibilisierung von Adornos Moralphilosophie: G. Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Hamburg 1993, insbes. Kap. 8.
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Politik oder die Verhinderung von Barbarei
fragt: »Warum bist du gegen Auschwitz?«, so versteht er entweder die Bedeutung des Worts »Auschwitz« nicht oder macht einen zynischen Scherz oder gibt sich als Vertreter einer nazistischen Position zu erkennen, die abzulehnen ist. Indem sich unsere Reaktion auf eine solche Frage in diesen Alternativen bewegt, aktualisieren wir unsere Motive oder motivationalen Genesen, die unser moralisches Selbstverständnis leiten. Insofern ist Adornos Beharren auf einem »materialistischen Motiv« nachvollziehbar. Dieser Zugang wird jedoch bei Adorno in eigentümlicher Weise auf die Unmittelbarkeit von moralischen Impulsen eingeschränkt, mit denen Menschen sich gegen physischen Schmerz oder Folter zur Wehr setzen. Eine Formulierung von Moral in allgemeinen Begriffen lehnt Adorno ab: »Moralische Fragen stellen sich bündig […] in Sätzen wie: Es soll nicht gefoltert werden, es sollen keine Konzentrationslager sein […] Sie dürfen sich nicht rationalisieren; als abstraktes Prinzip gerieten sie sogleich in die schlechte Unendlichkeit ihrer Ableitung und Gültigkeit […] Der Impuls, die nackte physische Angst und das Gefühl der Solidarität mit den […] quälbaren Körpern, der dem moralischen Verhalten immanent ist, würde durchs Bestreben rücksichtsloser Rationalisierung verleugnet; das Dringlichste würde abermals kontemplativ, Spott auf die eigene Dringlichkeit.«
Diese Überlegung verliert ihre Plausibilität, wenn wir uns klarmachen, dass der handfeste moralische Impuls, das leibhaft »Hinzutretende« am Sittlichen immer schon auf eine Reflexionsdimension verweist, die sich in allgemeinen Begriffen artikuliert. Diese Reflexionsdimension muss freilich anders verstanden werden als die von Adorno kritisierte »schlechte Unendlichkeit« einer an »Ableitung« und »Gültigkeit« orientierten diskursiven Rationalität. Es geht nicht um eine kontemplative Verschiebung in einen abgehobenen Bereich von »Abstraktion«, sondern um reflexive Verarbeitung der von Adorno betonten moralischen Impulse hinsichtlich der geschichtlichen Situation, auf die sie reagieren. Für die geschichtliche Situation, mit der wir es zu tun haben, ist es jedoch unvermeidlich, Explikationen vorzunehmen, die von 193 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Politik und Historische Verantwortung nach Auschwitz
Beschreibungen physischen Leids bis zu Demütigungen unterschiedlicher Art (z. B. »Judenstern«) oder den oben herausgearbeiteten Interpretationen von Gattungsbruch und Gattungsversagen reichen. Dies macht Differenzierungen dringlich, die bei Adorno selbst angelegt sind, wenn er feststellt, es soll keine Konzentrationslager geben. Die Ablehnung von Konzentrationslagern verweist auf eine Deutung von moralischen Impulsen, die mehr umfasst als die Ablehnung von Folter. Wir werden zu einer Reflexion gezwungen, die auf die Bedeutung der moralischen Erfahrung abhebt, die an Konzentrationslagern sichtbar wird. Dies konnte am Beispiel von Primo Levi verdeutlicht werden, der seine Erfahrungen in Auschwitz zu verarbeiten sucht (vgl. oben 1.3). Das Beispiel von Primo Levi zeigt, wie ein durch das Konzentrationslager unmittelbar Gedemütigter gar nicht anders kann als die moralische Bedeutung dessen zu reflektieren, was ihm widerfährt, und dabei auf seine Weise zu Worten findet, die den nazistischen Gattungsbruch zum Ausdruck bringen. Reflexionen dieser Art führen zwangsläufig zu Artikulationen in allgemeinen Begriffen, von denen dann in Frage stehen kann, wie sie im Rahmen einer philosophischen Untersuchung methodisch expliziert werden können. Diese Art der Entfaltung von moralischer Erfahrung und reflexiver Verarbeitung wird von Adornos Verdikt gegen die schlechte Abstraktheit moralischer Prinzipien und kontemplativer Distanz nicht getroffen. Weil Adorno nur eine fragwürdige diskursive Begründungsrationalität vor Augen steht, die auf »Ableitungen« zielt, entgeht ihm die Reflexionsdimension moralischer Erfahrung, die sich in Formulierungen entfaltet, welche auf die von Adorno zu Recht in Ansatz gebrachten moralischen Impulse und Motive zurückverweisen. Hieraus folgt, dass es nur darum gehen kann, die allgemeinen Begriffe, in denen wir unser moralisches Selbstverständnis formulieren, in einem komplementären Verhältnis zu den relevanten moralischen Erfahrungen zu sehen. Die Unmittelbarkeit moralischer Erfahrung und ihrer Impulse sowie die Reflexionsdimension moralischer Erfahrung durchdringen sich wechselseitig. Das kann auch deshalb nicht anders sein, weil Berichte oder 194 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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Mitteilungen eines Individuums über seine unmittelbaren moralischen Erfahrungen, welche an andere Menschen weitergegeben werden, die solche Erfahrungen nicht gemacht haben, sich immer in einer Reflexionsdimension auch dann bewegen, wenn es prima facie nur darum zu gehen scheint, anderen Menschen die Unmittelbarkeit der je individuellen Erfahrung zugänglich zu machen. Am Beispiel Primo Levis liegt dieser Sachverhalt auf der Hand, doch auch im Fall verbaler Augenzeugenberichte oder entsprechender Bilddokumente geht mit der jeweiligen Präsentation die Reflexion der moralischen Bedeutung des Berichteten und seine moralische Wertung einher. Dieser Zusammenhang mag bei einem sehr emotional gehaltenen Augenzeugenbericht nicht transparent sein. Doch auch wenn der Augenzeuge in Tränen ausbricht und der Zuhörer von der Wucht des Geschilderten so beeindruckt ist, dass ihm zunächst die Worte versagen, folgen in der Regel verbale Formen der Empathie. Die konkreten Erlebnisse des Augenzeugen drängen den Zuhörer dazu, ihnen exemplarischen Status zu geben: »Unmenschlich!«, »Unfassbar!« etc. sind die natürlichen Reaktionen, Kürzel für die Artikulation der moralischen Reflexion und Stellungnahme, die den moralischen Widerstand artikuliert: »Nein! So darf man nicht mit Menschen umgehen!« In diesem »Nein!« ist sowohl Adornos »Gefühl der Solidarität mit den quälbaren Körpern« als auch die allgemeine Reflexionsdimension von Moral enthalten, die nach einer Fassung in geeigneten Begriffen verlangt. Das moralische »Nein!« hat den Doppelaspekt der impulsiven Ablehnung und der allgemeinen Anweisung, inhumane Verletzungen nicht zuzulassen. 279 Demnach spricht nichts dagegen, die Ablehung, mit der wir auf Auschwitz antworten, mit Begriffen zu verbinden, die das inhaltliche Verständnis des egalitären Universalismus in imperativer Form ausdrücken: Respektiere den anderen Menschen, wer Vgl. die inzwischen klassische Phänomenologie des Moralischen bei P. F. Strawson, »Freiheit und Übelnehmen«, in: U. Pothast (Hg.), Seminar: Freies Handeln und Determinismus, Ffm 1978, S. 201–233, insbes. S. 217 f. Zum Spannungsverhältnis zwischen Solidaritätsgefühl und Moralprinzip bei Adorno: Menke, Spiegelungen, a. a. O., S. 103 ff.
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immer sie/er sei, und achte ihre/seine Grundrechte! (vgl. Kap. 1.2, 2.3).
Die politische Einlösung von Adornos Imperativ Weil Adorno sich der Formulierung von Moral in allgemeinen Begriffen zu entwinden sucht, stößt er an systematische Grenzen, wenn es darum geht, entsprechende Konsequenzen für den Bereich der Politik zu ziehen. Denn wie ist es zu schaffen, »daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe«? Bei einer Antwort hierauf kann man sich nicht damit begnügen, auf Adornos widerständige moralische Subjektivität oder unser universalistisches Selbstverständnis in einer Gemeinschaft gleichgesinnter Menschen zu verweisen. Die Vorbeugung gegen die Wiederholung von Auschwitz oder Ähnlichem verlangt mehr. Im Bereich der Politik müssen geeignete Institutionen, Verfahren und Schutzvorkehrungen geschaffen werden, die eine Wiederholung von Auschwitz nach menschlichem Ermessen ausschließen. Eine durch Auschwitz belehrte Moral erzwingt die Vorgaben für eine Politik nach Auschwitz. Bei Adorno gibt es die Einsicht in diesen Zusammenhang, doch wird sie von seinen moralphilosophischen Verkürzungen und gesellschaftstheoretischen Gesamtdiagnosen überlagert. Das wird deutlich daran, wie Adorno seine Beschäftigung mit Problemen der Moralphilosophie in die Frage nach der Politik münden lässt und sie zugleich mit Skepsis begleitet: »[…] was Moral heute vielleicht überhaupt noch heißen darf, das geht über an die Frage nach der Einrichtung der Welt – man könnte sagen: die Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der richtigen Politik, wenn eine solche richtige Politik selber heute im Bereich des zu Verwirklichenden gelegen wäre.« 280
Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt/M. 1996, S. 262.
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Damit wird zwar das Verhältnis von Moral und Politik als Aufgabe gesehen, doch bleibt diese im Ungefähren stehen. Das liegt nicht daran, dass Adorno für die Frage nach dem »richtigen Leben« kaum Aussicht auf akzeptable Antworten und politische Möglichkeiten sieht. Denn in der Sache ließe sich eine Reflexion auf die Frage nach dem richtigen (guten) Leben mit der Frage nach der Verneinung des schlechten Lebens verbinden. 281 Doch gerade wenn in dieser Weise Adornos Frage auf unsere Zeit bezogen wird, fällt auf, dass man bei Adorno Entsprechungen für die Frage nach der Politik vergeblich sucht. Ein Grund liegt in dem Mangel von Adornos Philosophie, einen allgemeinen Begriff von Moral anzugeben, der in der Lage ist, als normative Vorgabe an die politische Gemeinschaft zu dienen und etwa den Schutz der Grundrechte von Menschen im Rahmen des demokratischen Verfassungsstaats zu verfolgen. Der Hinweis auf Grundrechte macht jedoch noch auf eine andere Schwierigkeit bei Adorno aufmerksam. Es ist die Kritik des Rechts qua »instrumentelle Vernunft«, die auf die entsprechende Kritk der Rationalität der Aufklärung in Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung zurückverweist. Adornos Negative Dialektik bekräftigt diese Sichtweise: »Recht ist das Urphänomen irrationaler Rationalität. In ihm wird das formale Äquivalenzprinzip zur Norm, alle schlägt es über denselben Leisten […] Die Rechtnormen schneiden das nicht Gedeckte, jede nicht präformierte Erfahrung des Spezifischen um bruchloser Systematik willen ab und erheben dann die instrumentale Rationalität zu einer zweiten Wirklichkeit sui generis […] Dies Gehege, ideologisch an sich selbst, übt durch die Sanktionen des Rechts als gesellschaftlicher Kontrollinstanz, vollends in der verwalteten Welt, reale Gewalt aus.« 282
Vgl. ebd., S. 261: »Wir mögen nicht wissen, was das absolut Gute, was die absolute Norm, ja auch nur, was der Mensch oder das Menschliche und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau.« 282 Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 304. 281
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Damit entfällt die Chance zu einer vertretbaren Verhältnisbestimmung von Moral und Recht ebenso wie ein Verständnis der rechtlichen Einbindung von Politik gerade unter moralischen Vorzeichen. 283 Ähnliches gilt für die mit dem Stichwort der »verwalteten Welt« angesprochene gesamtgesellschaftliche Diagnose. Für Adorno besteht geradezu eine »Klaustrophobie der Menschheit in der verwalteten Welt«, die »einem Gefühl des Eingesperrtseins in einem durch und durch vergesellschafteten, netzhaft dicht gesponnenen Zusammenhang« entspricht. 284 Dieser Zusammenhang ist für Adorno geprägt durch eine kapitalistisch organisierte Ökonomie, als deren Resultat die bereits von Marx am »Tauschprinzip« kritisierte Verdinglichung immer weiter voranschreitet und einen kaum noch durchschaubaren »Verblendungszusammenhang« schafft, der sich in Gestalt der Kulturindustrie und ihrer Massenproduktion den passenden ideologischen Schleier umhängt. In dieser »finstere(n) Einheitsgesellschaft« bestehen »die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen (fort), die den Faschismus zeitigten.« Den Menschen droht der Verlust ihrer Individualität, wenn er nicht schon eingetreten ist: »Die Kulturindustrie hat den Menschen als Gattungswesen hämisch verwirklicht. Jeder ist nur noch, wodurch er jeden anderen ersetzen kann: fungibel, ein Exemplar. Er selbst, als Individuum, ist das absolut Ersetzbare, das reine Nichts.«
Diese Stichworte zu Adornos gesellschaftlicher Globaldiagnose genügen, um sie ebenso stichwortartig in ihren Schwächen zu benennen. Der spezifische Zusammenhang von kapitalistischer Ökonomie und »Faschismus« wird behauptet, aber nicht aufgeklärt; historische Forschung zu den Spielarten des Faschismus und der besonderen Stellung des Nationalsozialismus bleibt außer Vgl. M. Schäfer, »Der philosophische und soziologische Diskurs der Moderne und der Nationalsozialismus«, in: G. v. Graevenitz (Hg.), Konzepte der Moderne, Stuttgart/Weimar 1999, S. 565–592, insbes. S. 587 ff. 284 Th. W. Adorno, »Erziehung nach Auschwitz«, in: R. Tiedemann (Hg.), Th. W. Adorno, »Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse«, Frankfurt/M. 1997, S. 50. Die folgenden Zitate ebd., S. 204, 42, 48, 54, 63. 283
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Betracht; die kulturelle Auflösung des Individuums harrt der empirisch-soziologischen Einlösung. 285 All das hindert nicht, die Sensibilität anzuerkennen, mit der Adorno nach Auschwitz philosophiert. Doch für die Frage nach der Politik behindert Adornos marxistisch inspiriertes Theorem des gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs den relevanten Zugang. Hätte es noch eines Beweises dafür bedurft, so muss man sich nur Adornos Argumentation zum Thema »Erziehung nach Auschwitz« vergegenwärtigen. So sehr auch bei diesem Thema die Diagnose der »verwalteten Welt« eine Rolle spielt, so sehr befreit sich Adorno von theoretischen Zwängen, wenn er für die Erziehung die »Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei«, durchspielt. Dabei kommt er zu verblüffend konkreten Vorschlägen zur »Entbarbarisierung des Landes« unter Einsatz »mobiler Erziehungsgruppen«, um schließlich zu konstatieren: »Aller politischer Unterricht endlich sollte zentriert sein darin, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. Das wäre möglich nur, wenn zumal er ohne Angst, bei irgendwelchen Mächten anzustoßen, offen mit diesem Allerwichtigsten sich beschäftigt. Dazu müßte er in Soziologie sich verwandeln, also über das gesellschaftliche Kräftespiel belehren, das hinter der Oberfläche der politischen Formen seinen Ort hat. Kritisch zu behandeln wäre, um nur ein Modell zu geben, ein so respektabler Begriff wie der der Staatsraison: indem man das Recht des Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Grauen potentiell schon gesetzt.«
Adornos Vorschlag für den politischen Unterricht setzt wie selbstverständlich die Existenz einer bestimmten politischen Form voraus, die dem Unterricht seinen institutionellen Rahmen und zugleich die Vorgabe eines politischen Selbstverständnisses gibt. Diese Form kann nur in der praktischen Alternative zum nazistischen Unrechtsstaats bestehen. Die historisch-konkrete Gestalt dieser Alternative besteht in den Institutionen des demokratiAls Kontrastfolie kann etwa die neuere soziologische Forschung dienen: A. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Frankfurt/M. 2017.
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Politik und Historische Verantwortung nach Auschwitz
schen Verfassungsstaats wie sie nach Maßgabe des deutschen Grundgesetzes eingerichtet wurden, das seinerseits eine offenkundige Familienähnlichkeit mit westlichen Verfassungsstaaten aufweist. Die Ablehnung des nazistischen Staats aus existenzieller Notwendigkeit verlangt auch einer noch so zugespitzten kritischen Gesellschaftstheorie ein Stück Affirmation im Grundsätzlichen ab. Wie immer kritisch der demokratische Verfassungsstaat oder der Begriff der Staatsraison behandelt werden mag und wie immer ergiebig eine soziologische Analyse hinter die »Oberfläche« von politischen Formen dringen kann – der kategorische Imperativ, dass »Auschwitz nicht sich wiederhole«, muss auf den institutionellen Imperativ führen, dass sich der Nazi-AuschwitzStaat nicht wiederholt. Es spricht also alles dafür, nicht nur das moralische Selbstverständnis, das Auschwitz negiert, in allgemeinen Begriffen des moralischen Universalismus zu fassen, sondern auch klar das politische Pendant zu nennen, das dieser Moral korrespondiert: den demokratischen Verfassungsstaat. 286
3.2 Politische Institutionen und Humanität Der demokratische Verfassungsstaat steht dem nazistischen Unrechtsstaat als eine politische Ordnung gegenüber, die den Anspruch erhebt, humane Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens zu gewährleisten. Mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland wird einerseits den Erfahrungen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus Rechnung getragen. Andererseits liegt in seiner Ausgestaltung eine Variante des demokratischen Verfassungsstaats vor, die es lohnend macht, die Besonderheiten des Grundgesetzes vergleichend herauszuheben. Dazu eignet sich sehr gut die älteste geschriebene und noch immer gültige Verfassung der westlichen Welt, die Verfassung Treffend zu den institutionellen, nicht nur moralischen Lehren aus Auschwitz: B. Schlink, Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht, Ffm 2002, S. 149 f.
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Politische Institutionen und Humanität
der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Realgeschichte des moralischen Universalismus findet so ihre Entsprechung in einer Realgeschichte seiner institutionellen politischen Ausprägungen. Welche institutionellen Vorkehrungen hält das Grundgesetz zur Verhinderung von Barbarei bereit und wie sind diese Vorkehrungen im Vergleich zur amerikanischen Verfassung zu werten?
Universalismus, Verfassung, Grundrechte, Demokratie Aus der Formulierung des Inhalts der universalistischen Moral ergibt sich bereits der Bezug auf Grundrechte: Respektiere den anderen Menschen, wer immer sie/er sei und achte ihre/seine Grundrechte (vgl. Kap. 1.2). Bei der Erläuterung dieses Postulats des Universalismus bin ich davon ausgegangen, dass jeder Mensch den gleichen moralischen Status genießt. Der damit geforderte interhumane Respekt aus der Perspektive eines jeden Individuums bedeutet, eine moralische Selbstbindung zu vollziehen, die sich mit der Erwartung verbindet, dass andere dieselbe Bindung eingehen. Diese Selbstbindung und korrespondierende Erwartung hinsichtlich anderer Individuen kann so verstanden werden, dass die moralische Selbstbindung mit der Selbstzuschreibung eines moralischen Rechts auf interhumanen Respekt einhergeht. Da das wiederum aus der Perspektive jedes Individuums anzusetzen ist, konnte bereits die Verbindung von moralischem Universalismus und moralischen Grundrechten festgehalten werden: Grundrechte definieren auf der Basis wechselseitiger Selbstbindung anerkannte Ansprüche und Garantien von Menschen gegenüber Menschen als Menschen. Diese Sicht auf Grundrechte steht nicht nur in prinzipiellem Einklang mit den oben aufgeführten Deklarationen der Amerikanischen und Französischen Revolution. Vor allem zeigt die Institutionalisierung des demokratischen Verfassungsstaats in Deutschland nach 1945, wie das moralische Verständnis von Rechten und geschichtliche Erfahrung zu einer starken Verankerung von Grundrechten in der Verfassung führt. Als Einstieg ist daher von Artikel 1 des Grundgesetzes auszugehen. Dieser Arti201 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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kel eröffnet den ersten Abschnitt des Grundgesetzes, der die Überschrift »Die Grundrechte« trägt: »Art. 1. (Schutz der Menschenwürde) I. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. II. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. III. Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.«
In diesem Artikel 1, der an die kantische Rede von menschlicher Würde oder an die Tradition des neuzeitlichen Naturrechts erinnern mag 287 , bekennt sich das »Deutsche Volk« zum moralischen Universalismus, indem es die »unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft« betrachtet. Diese deklamatorische Selbstbindung des deutschen Volks im Sinne der universalistischen Menschenrechte ist als fiktive Selbstinterpretation des deutschen Volks anzusehen, die von den Inauguratoren des Grundgesetzes (»Verfassungskonvent«,»Parlamentarischer Rat«) normativ gesetzt wurde. Die Besonderheiten in Deutschland »nach dem Zusammenbruch« ließen in Abstimmung mit den Alliierten kaum eine andere Vorgehensweise zu. Trotz der deutschen Besonderheiten sind jedoch auch ganz andere historische Konstellationen zur Einführung einer Verfassung in einem prinzipiellen Punkt mit der Verfassungsgebung im postnazistischen Deutschland vergleichbar. Das zeigt ein Blick auf die amerikanische Verfassung, die der oben bereits vergegenwärtigten Unabhängigkeitserklärung nachfolgt (vgl. 1.2). Denn auch die Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten (1787) beginnt in typischer Weise mit einer verVgl. Dürig in Maunz-Dürig-Herzog, Grundgesetz, Kommentar: Art.1 Rdnr. 9, München 1991. Zum Folgenden ebd., Maunz zur Entstehung des GG und Präambel, Rdnr. 3 ff.
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fassungsgebenden Volksformel (»We the People«), aus der die Fiktion eines Volkswillens spricht, der die Verfassung setzt. Ein solch fingierter Volkswille, der als »pouvoir constituant« (Sieyes) tätig wird, ist charakteristisch für die Idee der Volkssouveränität, mit der die modernen Verfassungssetzungen seit der Amerikanischen und Französischen Revolution in unterschiedlichen Ausprägungen operieren. Die Idee der Volkssouveränität und die ihr korrespondierende Rede von der verfassungsgebenden Gewalt des Volks sollte jedoch nicht metaphysisch aufgeladen werden, indem man sie mit Begriffsbildungen unterlegt, die auf Rousseaus »volonté générale« oder Ähnliches rekurrieren. Rousseaus Begriff stellt die spekulative Konstruktion der völligen Einheit eines kollektiven Willens – geradezu eine homogene qualitative Identität – dar, die weder begrifflich noch empirisch überzeugt. Um solche Konstruktionen zu vermeiden, bleibt nur, den Selbstbezug eines Volks zu seiner Verfassung in verschiedene Aspekte zu differenzieren. So ist es hilfreich, eine ex ante-Legitimation und eine ex post-Legitimation von Verfassungen unter der Idee der Volkssouveränität zu unterscheiden. 288 Die ex ante-Legitimation besteht darin, dass verfassungsgebende Versammlungen oder Gremien, die beanspruchen, das Volk zu repräsentieren, eine institutionelle Selbstbindung des Volks in Kraft setzen, die einen Kanon von Grundrechten definiert, Vorkehrungen zu dessen Schutz vorsieht und Institutionen der demokratischen Partizipation des gesamten Volks schafft, einschließlich solcher, die Verfassungsänderungen regeln. Diese ex ante-Legitimation muss zugleich bezogen sein auf die geschichtliche Situation, in der es unumgänglich wird, verfassungsgebend tätig zu werden. In diesem Bezug auf die geschichtliche Situation, die im Fall Deutschlands nach 1945 und den Nordamerikanischen Kolonien ab dem Jahr 1776 unterschiedlicher kaum sein könnte, steckt gleichwohl ein systematischer Punkt an Vergleichbarkeit: Die Repräsentanten des Volks, die mit der InIm Folgenden nehme ich Anregungen auf von J. Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung – Mythos und Relevanz der Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt, Opladen 1995, Kap. E, insbes. S. 82.
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augurierung der Verfassung eine entsprechende institutionelle Selbstbindung des Volks ins Werk setzen, müssen zugleich die Interpretation der geschichtlichen Situation dominieren, in der sich »das Volk« oder »die Nation« befindet. Das Ringen um geschichtlich-situative Interpretationsdominanz – letztlich also um politische Macht – ist ein nicht zu vernachlässigendes Element bei der Inaugurierung von Verfassungen, das in Selbstdeutungen der Situation als »Revolution«, »Zusammenbruch«, »Neubeginn« oder »Krise« greifbar wird. Insofern enthält die ex ante-Legitimation von Verfassungen unter der Idee der Volkssouveränität von vornherein den Doppelaspekt der Institutionalisierung von (universalistischen) Normen und der geschichtlichen Selbstdeutung des Verfassungsvolks. Damit kehrt auf der Ebene politischer Institutionen der Tatbestand der Geschichtsgebundenheit wieder, den ich bei der Vergegenwärtigung der Realgeschichte des Universalismus hinsichtlich der moralischen Selbstinterpretation von Menschen bereits verdeutlicht habe. Was die ex post-Legitimation von Verfassungen unter der Idee der Volkssouveränität angeht, so ist auf die Regelungen der demokratischen Partizipation zu verweisen, die das Volk in seiner Gesamtheit ins Spiel bringen, und die Bestimmungen, die für Verfassungsänderungen zur Verfügung stehen. Die Legitimation von Verfassungen durch das Volk in seiner Gesamtheit wird ex post nur in den empirisch greifbaren Resultaten demokratischer Wahlen (nach dem Mehrheitsprinzip) und anderer Formen von Partizipation (Volksbegehren etc.) einholbar. Die ex post-Legitimation von Verfassungen durch das Volk hat den Charakter der de facto-Akzeptanz einer mit der aufgezeigten ex ante-Legitimation ausgestatteten Verfassungssetzung. Die de facto-Akzeptanz einer Verfassung durch das Volk ist empirisch in unterschiedlicher Weise greifbar (Wahlen, Referenda, Meinungsumfragen etc.) und gibt zugleich Aufschluss darüber, inwieweit die Repräsentanten des Volks bei der Inaugurierung der Verfassung Treffsicherheit im Hinblick auf die geschichtliche Situation des Verfassungsvolks gezeigt haben. Es liegt auf der Hand, dass der Doppelaspekt der ex ante- und ex post-Legitimation unter der Idee der Volkssouveränität ein 204 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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Spannungsverhältnis in sich birgt, das je nach historischer Konstellation interpretiert werden muss. Prinzipiell aufzuheben wäre das Spannungsverhältnis nur dann, wenn es eine rational nachvollziehbare Möglichkeit gäbe, die ex ante-Legitimation mit der ex post-Legitimation zusammenfallen zu lassen. Das ist jedoch nicht der Fall. Damit ist der Rahmen gegeben, um die Besonderheiten des deutschen Grundgesetzes sowohl in Abhebung vom nazistischen Unrechtsstaat als auch im Vergleich zu anderen demokratischen Verfassungsstaaten zu kommentieren. Das deutsche Grundgesetz enthält in Artikel 79, Absatz III eine zentrale Bestimmung, die man kaum anders als historische Negation des Nazi-Staates lesen kann: »Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.«
Mit dieser »Sperrnorm« 289 werden die substantiellen Teile des Grundgesetzes einer Änderung entzogen. Es kann keine verfassungsändernde Mehrheit zu den angeführten Inhalten geben, selbst wenn diese empirisch vorliegen würde. Den Artikel 1, der die Menschenrechte festschreibt und die Grundrechte als unmittelbares Recht sichert, habe ich oben bereits angeführt. Artikel 20 lautet: »(Verfassungsgrundsätze; Widerstandsrecht) I. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. II. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtssprechung ausgeübt. III. Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. IV. Gegen jeden, der es unternimmt, diese
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Maunz-Dürig in Maunz-Dürig-Herzog Art. 79, III Rdnr. 13.
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Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.«
In Artikel 1 wird das Menschenbild und der Unrechtscharakter des Nazismus negiert, der Artikel 20 bestimmt Grundelemente des demokratischen Staats, die gleichfalls im Kontrast zu der Staatlichkeit des »Dritten Reiches« zu verstehen sind, aber auch Erfahrungen der Weimarer Republik verarbeiten. In Übereinstimmung mit der Idee der Volksouveränität geht die Staatsgewalt »vom Volke aus«. Zugleich mit der Partizipation des Volks über Wahlen findet jedoch eine Differenzierung der Partizipation über »Organe« statt, die der Idee der Gewaltenteilung folgt (Gesetzgebung, vollziehende Gewalt, Rechtsprechung) und insofern die Idee der Volkssouveränität von Vorstellungen einer möglichst direkten Demokratie abgrenzt. 290 Man braucht diesen Tatbestand nicht verfassungsgeschichtlich oder verfassungstheoretisch zu vertiefen, um zu erkennen, wie sehr das Grundgesetz bemüht ist, dem »demos« eine institutionelle Bindung zu geben, die seiner möglichen demagogischen Entfesselung Schranken setzt. Die Wahlen zum Bundestag folgen dem repräsentativen Modell (vgl. GG Art. 38) ebenso wie die Wahlen auf anderen Ebenen. Das nimmt Bezug auch auf Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Verfassung, die viel stärker auf Volksbegehren und Volksentscheide als Elemente von unmittelbarer Demokratie abhob. Allerdings überlebt das Volksbegehren auf Landesebene und der Volksentscheid bei der Frage der Neuordnung der Bundesländer (GG Art. 29, Abs. II). Bei der Gliederung des Bundes in Länder und der entsprechenden Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung kann man zweifeln, ob diese Art der Festlegung eine Verfassungsbestimmung verdient, die eine Änderung für unzulässig erklärt. Schon über Jahrzehnte geführte Debatten zur Angemessenheit des deutschen Föderalismus zeigen das Problem. Gleichwohl ist offenkundig, dass auch hier die Kontrastüberlegung zum Zentralismus des Vgl. D. Sternberger, Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, Stuttgart 1971, S. 112.
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Nazi-Staats, seiner Gliederung in »Gaue« und der direkten Unterstellung der »Gauleiter« unter den »Führer« bzw. seinen Vertreter leitend war. Hinzu kommt die Verarbeitung der Weimarer Erfahrungen mit der »Aushöhlung der Länder« 291 . Mit dem Widerstandsrecht aller Deutschen gegen die Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung werden die substanziellen Bestandteile des Grundgesetzes insofern in eine geschichtliche Perspektive gerückt, als der Rückfall in Barbarei nicht aus dem Horizont geschichtlicher Möglichkeiten ausgeblendet werden kann. Der Artikel 20, IV wurde 1968 im Kontext der Debatte über die »Notstandsverfassung« verabschiedet, um Befürchtungen einer Staatsstreichmöglichkeit »von oben« Rechnung zu tragen, doch richtet er sich natürlich gleichermaßen gegen Staatsstreiche von unten. 292 Losgelöst vom Kontext seiner Entstehung kann man diesen Artikel als eine in die Verfassung integrierte Negation historischer Veränderung sehen, die verfassungsrechtlich in der Positivierung eines Grundrechts auf Widerstand zum Ausdruck kommt. Verfassung und Geschichtsbewusstsein gehören zusammen. Soweit dies im Rahmen einer Verfassung darstellbar ist, richtet das Grundgesetz damit an die Deutschen geradezu einen Appell, kein zweites Mal ein Gattungsversagen – welcher Provenienz auch immer – zuzulassen. Indem ich an dieser Stelle auf das Stichwort des Gattungsversagens zurückkomme, das komplementär zum nazistischen Gattungsbruch zu konstatieren war (vgl. 1.1), möchte ich deutlich machen, dass ein moralphilosophischer Blick auf die Institutionalisierung politischer Formen von Humanität nicht völlig in Verfassungskategorien aufgehen kann, sondern um eine integrative Betrachtung von Moral, Recht und Politik bemüht sein muss. Umso interessanter werden dann solche verfassungstheoretischen Beiträge, die ihrerseits eine systematische Öffnung zu Moral und Politik anstreben. Diese Perspektive gilt nicht für alle Teile einer Verfassung. Es Maunz-Dürig in Maunz-Dürig-Herzog Art. 79, III Rdnr. 14. Vgl. Herzog in Maunz-Dürig Art. 20, IV Rdnr. 327 ff. Dort auch zum Appellcharakter dieses Artikels.
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wäre abwegig, in moralischen Begriffen zu diskutieren, dass das Grundgesetz ein Alter des Bundespräsidenten von mindestens 40 Jahren vorschreibt (Art. 54, Abs. I). Worum es primär geht, sind die substanziellen Teile einer Verfassung, die im Fall des Grundgesetzes durch den angeführten Artikel 79, III sehr klar betont werden. Wie das Beispiel des Föderalismus zeigt, kann im Einzelnen strittig sein, was als mehr oder weniger substanziell anzusehen ist. Für die Festschreibung der Grundrechte, der Volkssouveränität, der repräsentativen Demokratie, der Gewaltenteilung und des Widerstandsrechts kann jedoch keinerlei Zweifel hinsichtlich ihrer fundamentalen Bedeutung bestehen. Was man angesichts dieser Kernbestimmungen der Verfassung fragen kann, ist, wie sie in ihrem Gehalt jeweils zu interpretieren sind und welche Deutung der Verfassung in der Lage ist, der Politik eine Orientierung zu geben, die der Verhinderung von Barbarei und der Bewahrung von Humanität am besten gerecht wird. Diesen Fragen gehe ich nach, indem ich im Folgenden die starke Stellung der Grundrechte betone und deren Interpretation im Vergleich zur Amerikanischen Verfassung darlege.
»Grundrechtsdemokratie« und »Dualistische Demokratie« Dem Artikel 1 des Grundgesetzes, der die Grundrechte zum unmittelbar geltenden Recht erklärt, ist die Bekräftigung hinzuzufügen, die der Artikel 19, Abs. II formuliert: »In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.« Im Kontext der soeben erläuterten Unzulässigkeit, substanzielle Bestandteile des Grundgesetzes überhaupt zu ändern, verweist diese Bestimmung die »Einschränkung von Grundrechten« (Artikel 19, Abs. I) in enge Grenzen. Diese Vorkehrung klingt wiederum wie ein Echo auf die Weimarer Verfassung, in der die Einschränkung von Grundrechten durch Parlamentsgesetz (Zweidrittelmehrheit) möglich war und damit dem von der NSDAP betriebenen »Ermächtigungsgesetz« (24. 3. 1933) einen quasi legalen Rahmen gab. Zugleich wird damit klar, dass das Grundgesetz den permanenten Auftrag in sich birgt, über den »Wesensgehalt« der 208 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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Grundrechte in allen Ausübungen der Demokratie und den besonderen Organen von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung zu wachen. Dabei geht es nicht nur um die Wächterfunktion des Bundesverfassungsgerichts und anderer höchstinstanzlicher Gerichte. Es geht auch um die normative Festlegung der genannten Organe, die in ihre Zuständigkeit fallenden Aktivitäten an dem inhaltlichen Verständnis der Grundrechte zu orientieren. Das heißt vor allem, die Grundrechte nicht zu verletzen. Doch um dieser Vorgabe gerecht zu werden, muss der Gehalt der Grundrechte offenbar ständig präsent gehalten und zugleich kontinuierlich interpretiert werden. Man kann daher zu Recht davon sprechen, dass in Deutschland nach 1945 eine »Grundrechtsdemokratie« 293 inauguriert wurde. Dieser Grundrechtsdemokratie lässt sich der verfassungstheoretische Idealtypus einer grundrechtsbasierten Verfassung zuordnen, der nicht auf Deutschland beschränkt zu sein braucht, sondern auch auf andere Verfassungen Anwendung finden kann. Es handelt sich um den Typus einer rechtlich-politischen Gemeinschaft, die sich sowohl in ihren demokratischen Praktiken als auch in den Praktiken ihrer Verfassungsorgane durchgängig am normativen Maßstab der Grundrechte orientiert und alle gesellschaftlichen Bereiche unter das Vorzeichen einer grundrechtsorientierten Rechtsgemeinschaft stellt. Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, wenn ein amerikanischer Verfassungstheoretiker den Amerikanern geradezu das deutsche Grundgesetz als Vorbild empfiehlt. Bruce Acker293 Vgl. zu diesem Begriff W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, Tübingen 1977, S. 608 ff. Es geht hier nur darum, die Grundidee aufzunehmen. Vgl. die im »Parlamentarischen Rat« geäußerte Überzeugung von Carlo Schmid: »Die Grundrechte müssen das Grundgesetz regieren; sie dürfen nicht nur ein Anhängsel des Grundgesetzes sein, wie der Grundrechtskatalog von Weimar ein Anhängsel der Verfassung gewesen ist.« Zitiert nach M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Tübingen 1999, S. 8. Dort nimmt Jestaedt die Rede von einem »grundrechtlich fundierten Verfassungsstaat« bei J. Pieroth/B. Schlink (Grundrechte Staatsrecht II, 12. Aufl., Heidelberg 1996, Rdnr. 19) auf und spricht schlicht von einem »Grundrechtsstaat«.
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man schließt seine Beurteilung an den ersten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung an, der die Religionsfreiheit, die Rede- und Pressefreiheit sowie die Versammlungsfreiheit sichert und zusammen mit den Zusatzartikeln bis einschließlich 10 als »Bill of Rights« gilt, die 1791 in Kraft getreten ist: »Bis zum heutigen Tag bleibt es möglich, den ersten Zusatzartikel abzuändern, wie die kürzliche Aufregung über den Vorschlag von Präsident Bush zeigt, das Verbrennen der Flagge durch einen Zusatzartikel zu verbieten. Einmal angenommen, es entstünde eine Bewegung zur Unterstützung einer Bill of Rights für das 21. Jahrhundert. Sollten Wir das Volk beim Versuch über unsere Gesetzesvorlage aus dem 18. Jahrhundert hinauszugehen, ernsthaft über das Versäumnis der Gründerväter nachdenken, Grundrechte gegenüber Verfassungsänderungen abzuschotten? Modernere Verfassungen haben diesen Schritt getan. Nach Hitlers Niederwerfung hat das deutsche Volk es ausgeschlossen, dass spätere Mehrheiten die grundlegende Bindung an eine große Anzahl von Grundfreiheiten wieder abschwächen […] Warum machen wir nicht unsere neue Bill of Rights unabänderlich? Könnte nicht ein Hitler in Amerika genauso hochkommen wie in Deutschland? […] Müssen die Amerikaner erst einen Holocaust erdulden, ehe sie den Deutschen darin folgen, formell anzuerkennen, dass es einige individuelle Rechte gibt, die zu unterdrücken eine Mehrheit der Bürgerschaft – wie intensiv sie auch immer beraten mag – niemals legitimiert ist?« 294
Mit dieser Einschätzung bilanziert Ackerman eine Untersuchung, die darauf angelegt ist, der amerikanischen Verfassung und ihrer Entwicklung historisch gerecht zu werden. Der eher utopische Ausblick auf eine Ergänzung der amerikanischen Verfassung durch eine Bestimmung, die Grundrechte nach deutschem Vorbild als unabänderlich erklärt, hat für Ackerman den Charakter eines Gedankenexperiments. Er verweist damit auf eine geschichtliche Deutung, die für die Gründungsbedingungen der 294 B. Ackerman, We the People, Bd. 1, Cambridge, Mass./London 1991, S. 320 f., Übersetzung R. Z.
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Verfassung im Kontext der Amerikanischen Revolution und ihren späteren Fortschreibungen einen originellen Interpretationsansatz vorlegt. Dieser besteht darin, den spezifischen Geist und Charakter der amerikanischen Verfassung in einem Modell der »dualistischen Demokratie« 295 zu fassen. Damit ist gemeint, dass es zwei Arten von Entscheidung in einer Demokratie gibt. Die erste ist als Entscheidung durch das amerikanische Volk, die zweite als Entscheidung durch die jeweilige Regierung zu verstehen. Die erste Art der Entscheidung geschieht selten und nur unter besonderen Bedingungen. Dazu ist es nötig, dass eine politische Bewegung auftritt, die in der Lage ist, eine außergewöhnliche Anzahl ihrer Mitbürger davon zu überzeugen, dass ihre Initiative zur Schaffung von höherem Recht im Namen des Volks einer ernsthaften Erwägung bedarf, die über die politische Alltäglichkeit hinausgeht. Zudem muss den politischen Opponenten Gelegenheit zur Organisierung eigener Kräfte gegeben werden. Schließlich muss eine Mehrheit der Amerikaner dafür gewonnen werden, die propagierte Initiative immer wieder in ihren Vorzügen zu unterstützen, wenn darüber in öffentlichen Foren debattiert wird, die für den Prozess der »höheren Rechtsetzung« (higher lawmaking) vorgesehen sind. Nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kann eine politische Bewegung die höhere Legitimität beanspruchen, die eine dualistische Verfassung einer Entscheidung durch das Volk zubilligt. Demgegenüber stehen Regierungsentscheidungen auf einer anderen Ebene. Diese werden täglich getroffen und betreffen das Alltagsgeschehen der Politik, einschließlich der Notwendigkeit, sich in regelmäßigen Wahlen um ein Mandat zu bewerben. Doch selbst wenn dieses Mandat erteilt wird, folgt daraus nicht, dass eine zuvor getroffene wohlerwogene Entscheidung des Volks durch einfaches Gesetz umgestoßen werden kann. Vielmehr bedarf es für diese höhere Form der demokratischen Legitimation der Beachtung der spezifischen Bedingungen, denen die höhere Ackerman, People, a. a. O., Kap. 1. Vgl. auch die geraffte Präsentation der Theorie in B. Ackerman, Ein neuer Anfang für Europa, Berlin 1993, S. 24 ff. 295
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Rechtsetzung unterliegt, die oben aus der Perspektive des Volks gefasst wurde. Nur wenn es die Regierung schafft, einen vergleichbaren Prozess der höheren Rechtsetzung einzuleiten und zum Erfolg zu bringen, kann sie beanspruchen, dass das Volk seine Meinung geändert und neue Orientierungen vorgegeben hat. Mit diesem dualistischen Modell gelingt es Ackerman, die Verfassungsgeschichte Amerikas als einen dynamischen Prozess zu erschließen, der keineswegs dem Mythos einer 200-jährigen Kontinuität folgt, sondern unterschiedliche Phasen und Transformationen namhaft macht, aus denen die Relevanz von Verfassungspolitik je nach historischer Konstellation deutlich wird. Auf diese Weise lassen sich drei große Abschnitte herausheben, die in besonderer Weise prägend für die »höhere Rechtsetzung« geworden sind: die Gründungsphase der Vereinigten Staaten im 18. Jahrhundert, die republikanische Rekonstruktion nach dem Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert und der New Deal unter Roosevelt im 20. Jahrhundert. Das Dach der Verfassung gibt Raum für die Ausgestaltung von drei politischen Regimen, die an den jeweiligen Verfassungssetzungen und -änderungen abzulesen sind. Dieser Interpretationsansatz kann unter zwei wichtigen Gesichtspunkten fruchtbar gemacht werden. Erstens dadurch, dass Ackermans dualistisches Modell für die Gründungsphase Amerikas betrachtet wird, um daran das Verhältnis von Grundrechten und Demokratie im Sinne des historischen Universalismus zu unterstreichen. Zweitens dadurch, dass die »Entscheidung des deutschen Volkes« für eine grundrechtsbasierte Verfassung umso deutlicher als geschichtlich bedingte Entscheidungsfiktion zu verstehen ist, die den Rahmen für weitere begriffliche Differenzierungen zu Grundrechten abgibt. Was zunächst die Gründungsphase Amerikas angeht, so ist der Einstieg mit der oben angeführten Unabhängigkeitserklärung gegeben, weil in dieser proklamiert wird, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind. Dieser noch religiös getönten Proklamation, die unveräußerliche Rechte auf den »Schöpfer« der Menschen zurückführt, entsprechen die naturrechtlichen Formulierungen der Französischen Revolution, die auf Rechte »von Geburt« abheben (vgl. 1.2). Bei näherem Zu212 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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sehen, so ist festzuhalten, kommt diesen Rechten jedoch gar kein Status zu, der sich auf religiöse oder naturrechtliche Garantien stützen ließe. Vielmehr handelt es sich um geschichtlich-moralische Selbstinterpretationen und Selbstsetzungen, die nur aus der politischen Konstellation der Zeit heraus nachvollziehbar sind. Das schließt nicht aus, sie als historische Errungenschaften absolut zu setzen und gegen schlechtere Alternativen zu verteidigen. Freilich im Bewusstsein darüber, dass philosophische Versuche zu einer »Letztbegründung« der Menschenrechte angesichts der moralischen Bedeutung des nazistischen Gattungsbruchs fehlgehen. Ackermans dualistisches Verfassungsmodell zeigt unter dieser systematischen Perspektive, dass die unveräußerlichen Rechte der Unabhängigkeitserklärung nicht durch die »höhere Rechtsetzung« des Volks zu unveräußerlichen – sprich unabänderlichen – Rechten der Verfassung gemacht wurden. Vielmehr unterstreicht Ackerman die Priorität der demokratischen Selbstregierung des Volks: »Mein Verständnis der Verfassung beginnt nicht mit unveräußerlichen Rechten; es beginnt mit der Anstrengung des Amerikanischen Volkes, sich selbst zu regieren. Grundrechte haben Verfassungsstatus nur, wenn sie aus einer wohlerwogenen und breit engagierten Bestätigung durch das Amerikanische Volk entspringen. Unsere Verfassung ist in erster Linie demokratisch, erst in zweiter Linie eine solche, die Rechte respektiert.« 296
Diese Auffassung wird noch transparenter, wenn man sie der Verfassungstheorie von Ronald Dworkin gegenüber stellt, die deutlich auf einen grundrechtsbasierten Verfassungstypus abzielt. Ackerman behauptet gegen Dworkin, dass dieser einer ahistorischen Betrachtungsweise anhängt, die der Amerikanischen Ver296 B. Ackerman, »Rooted Cosmopolitanism«, in: Ethics 104/1994, S. 517, Übersetzung R. Z. Vgl. auch die übrigen Beiträge zu Ackerman in demselben Band. Zum Folgenden ebd., S. 517 ff. und Ackerman, People, a. a. O., S. 86 ff.
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fassung nicht gerecht wird. Statt die unveräußerlichen Rechte, welche in der Unabhängigkeitserklärung verkündet werden, mit einer philosophischen Theorie der Rechte zu besetzen, die ihren quasi zeitlosen Status sichert, um dann die Verfassung als Ausdruck einer philosophisch fundierten Theorie der Rechte zu sehen, verweist Ackerman auf die verschiedenen Perioden der höheren Rechtsetzung aus ihren historischen Konstellationen heraus. Dann zeigt sich als Hauptproblem der Verfassungsinterpretation, wie die Stimme von »Wir das Volk« sich in den entscheidenden Phasen ihrer Artikulation präsentiert. Dazu gehört, den Spannungen und Verwerfungen eines vielschichtigen Prozesses nachzugehen und zugleich die übergreifende Integration von Schüben der höheren Rechtsetzung zu benennen, die an der Rechtsprechung des obersten Gerichtshofs (Supreme Court) ablesbar ist. Das bildet die Grundlage dafür, dass Ackerman auf das deutsche Grundgesetz verweist, das Grundrechte für unabänderlich erklärt. Die Stärke von Ackermans Konzeption ergibt sich aus der Nähe zu historischen Quellen und aus seiner distanzierten Haltung gegenüber philosophischen Fundierungstheorien. Zwei Beispiele von besonderem Gewicht können das verdeutlichen. Das erste Beispiel besteht darin, dass es Ackerman gelingt, für seine Theorie die Verfassungsdebatte in Anspruch zu nehmen, die ihren Niederschlag in den »Federalist Papers« gefunden hat. Diese zunächst unter dem Pseudonym »Publius« erschienene Artikelserie aus den Jahren 1787/88 wird zu Recht zu den Gründungsdokumente der Vereinigten Staaten gezählt. Die Autoren Hamilton, Madison und Jay verbinden darin auf beeindruckende Weise theoretische Reflexion und politische Praxis und bringen in ihren Artikeln die politische Selbstverständigungsdiskussion der Zeit zum Ausdruck. Es ist erstaunlich zu sehen, wie »Publius« eine Verfassungskonzeption im Geist von Ackermans Modell der dualistischen Demokratie vorträgt: »Ich vertraue zwar darauf, daß die Freunde der vorgeschlagenen Verfassung niemals […] jenen fundamentalen Grundsatz der republikanischen Regierungsform in Frage […] stellen, der dem Volk das
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Recht zugesteht, die bestehende Verfassung zu ändern oder aufzuheben […] Aus diesem Grundsatz kann aber nicht geschlossen werden, daß die Repräsentanten des Volkes das Recht hätten, die Bestimmungen in der geltenden Verfasung zu verletzen, wann immer eine Mehrheit ihrer Wähler zufällig gerade von einer momentanen Laune ergriffen wird, die mit diesen Bestimmungen unvereinbar ist; oder daß die Gerichte verpflichtet wären, bei Übertretungen dieser Art ein Auge zuzudrücken […] Solange das Volk die bestehende Verfassung nicht durch einen feierlichen und autoritativen Beschluß annuliert oder geändert hat, ist sie für es selbst sowohl kollektiv als auch individuell bindend […] Aber es ist leicht einzusehen, daß es ein ungewöhnliches Maß an Tapferkeit seitens der Richter erfordert, ihre Pflicht als getreue Hüter der Verfassung zu tun, wenn durch die Mehrheit der Gemeinschaft zu gesetzgeberischen Eingriffen in sie aufgestachelt wurde.« 297
Diese wichtige Quelle unterstreicht die Fruchtbarkeit der Theorie von Ackerman und zeigt die Perspektive auf, unter der die Rechtsprechung im Rahmen des Modells der dualistischen Demokratie zu sehen ist: einerseits als Hüterin von Recht und Verfassung nach dem Maßstab der höheren Rechtsetzung durch das Volk, andererseits gemäß diesem Maßstab in Abhängigkeit von der höheren Rechtsetzung des Volks, wenn dieses sich einmal entschieden hat, »feierlich« und durch »autoritativen Beschluß« Veränderungen herbeizuführen. Auch die höchste Rechtsprechung (Supreme Court) ist eingebunden in die Dynamik höherer Rechtsetzung, die an den wichtigsten Abschnitten der Verfassungsentwicklung abzulesen ist. Aus dem Zurückspielen von Ackermans Modell der dualistischen Demokratie auf die Gründungsphase der Vereinigten Staaten kann nicht nur der Primat der demokratischen Selbstregierung gegenüber dem Schutz von Rechten als adäquate Deutung der Verfassung betont werden. Aus diesem Ansatz zur amerikaA. Hamilton, J. Madison, J. Jay, Die Federalist Papers, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von B. Zehnpfennig, Darmstadt 1993, Nr. 78 (Hamilton), S. 459 f.
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nischen Verfassungsgeschichte ist auch eine weitere systematische Bestätigung für das Moralverständnis unter dem Begriff des historischen Universalismus zu gewinnen. Warum? Weil die Geschichtsgebundenheit der universalistischen Moral die in ihr angelegte Universalisierungsdynamik im Kontext der jeweiligen Zeit nur sukzessive entfalten kann und diese Entfaltung sich konkret an den Transformationen verfolgen lässt, denen die Verfassung unterliegt. Für die Gründungsphase muss einerseits dem Glanz der Unabhängigkeitserklärung und ihre Sprache der unveräußerlichen Rechte Rechnung getragen werden. Andererseits dürfen die Beschränkungen nicht übersehen werden, die dem sich solcherart artikulierenden moralischen Bewusstsein der Zeit eingeschrieben sind. Darüber hinaus ist auf Interessenkonstellationen und institutionelle Probleme zu verweisen, die mit der Schaffung einer bundesstaatlichen Verfassung einhergehen. Zu den moralischen Beschränkungen ist daran zu erinnern, dass den Gründern Amerikas der partikularistisch-rassistische Makel der Sklaverei anhaftet und dass auch für Frauen keine unveräußerlichen Rechte gelten (vgl. 1.2). Auch Ackerman stellt diese Sachverhalte heraus, weil sie zeigen, dass das Amerikanische Volk – We the People – sich überwiegend aus ungefähr einer Million weißen männlichen Plantagenbesitzern, Händlern, Bauern und Handwerkern zusammensetzte, von denen man fragen kann, was sie noch mit den Hunderten von Millionen Männern und Frauen zu tun haben, die das Amerika von heute bilden, und was die Heutigen noch von solchen Vorfahren lernen sollen. Die Antwort hierauf besteht erstens in der nüchternen Einschätzung der Gründer als einer »Oligarchie«, zweitens in der Würdigung des dualistischen Modells von Demokratie, das diese gleichwohl ins Werk setzten, und drittens in der weiteren Einsicht, dass dieses Modell fundamentale Änderungen zuließ, die eine Transformation des oligarchischen Ursprungs ermöglichten. Viertens schließlich ist die Einsicht herauszustellen, die darin liegt, in der moralischen Selbstinterpretation der oligarchischen Gründer den Beginn einer Universalisierungsdynamik zu sehen, die sich als Institutionalisierungsdynamik mühsam Bahn bricht:
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»Diese Alt-Vorderen gestalteten eine Verfassungssprache und Institutionen, durch welche spätere Generationen von Frauen und Schwarzen vollständige Bürgerrechte gewonnen haben. Bei ihren Siegen im 20. Jahrhundert haben weder die Frauenbewegung noch die Bürgerrechtsbewegung versucht, das Erbe zurückzuweisen, das in der höheren Rechtsetzung des Landes besteht. Stattdessen haben sie das umfassende Potenzial dieser Tradition zu ihrem Vorteil genutzt, um endlich den Amerikanern zu ermöglichen, nach zwei langen Jahrhunderten den Weg zu einer Regierungsform freizukämpfen, in der jedem erwachsenen Bürger wenigstens eine formale politische Gleichheit garantiert wird.« 298
So gesehen wäre es sehr nachteilig gewesen, wenn die Gründergeneration Amerikas ihr eingeschränktes Verständnis der unveräußerlichen Rechte im Wege einer höheren Rechtsetzung mit dem Diktum der Unveränderlichkeit versehen hätte – so wie es im deutschen Grundgesetz geschieht. Der Bewältigung ihrer geschichtlichen Problemlage und der ihrer Nachfahren war sicherlich damit besser gedient, dass es die Betreiber der höheren Rechtsetzung bei der Inaugurierung der Amerikanischen Verfassung dabei beließen, die Unabhängigkeitserklärung lediglich in der Gestalt einer Respektierung von Grundrechten aufzunehmen (Bill of Rights) und eine Übergangsregelung zur Frage der Sklaverei bis 1808 zu treffen (Art. 1, Abschn. 9, Satz 1). Ansonsten wurden Hürden für Verfassungsänderungen festgelegt (Art. 5), die schwer genug zu nehmen waren. Das leitet über zu dem zweiten Beispiel, das die Stärke von Ackermans Theorie zeigt und für die Begriffsbildung des historischen Universalismus spricht. Es handelt sich um die Sklaverei und die Verfassungsbestimmungen, die zu ihrer Abschaffung eingeführt wurden. Der 13. Zusatzartikel verbietet die Sklaverei (1865), doch erst im 14. Zusatzartikel (1868) werden die entscheidenden institutionellen Konsequenzen gezogen, die es wert sind, zitiert zu werden:
298
Ackerman, People, a. a. O., S. 316, Übersetzung R. Z.
217 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Politik und Historische Verantwortung nach Auschwitz
»Alle Personen, die in den Vereinigten Staaten geboren oder eingebürgert und ihrer Regierungsgewalt unterworfen sind, sind Bürger der Vereinigten Staaten und des Einzelstaates, in dem sie ihren Wohnsitz haben. Keiner der Einzelstaaten darf Gesetze erlassen oder durchführen, die die Vorrechte oder Freiheiten von Bürgern der Vereinigten Staaten beschränken, und kein Staat darf irgend jemandem Leben, Freiheit oder Eigentum ohne vorheriges ordentliches Gerichtsverfahren in Einklang mit dem Gesetz nehmen oder irgend jemandem innerhalb seines Gebiets den gleichen Schutz durch das Gesetz versagen.« 299
Der Kampf um den 14. Zusatzartikel markiert für Ackerman den bedeutendsten Moment in der Amerikanischen Verfassungsgeschichte, weil analog zur Gründungsphase die Sprache des Verfassungsrechts die vorrangige Sprache wurde, in der die Amerikaner ihre nationale Identität definierten und debattierten. 300 Dabei spielt sich eine Transformation der Verfassung ab, die nicht einfach im Rückgang auf die Gegebenheiten der bisherigen Verfassung verstanden werden kann. Der Schutz der individuellen Rechte wird unter die nationale Oberhoheit gestellt und damit den Einzelstaaten übergeordnet. Zugleich kommt ein vertieftes Verständnis der uneingeschränkten individuellen Rechte für jeden Bürger – auch der schwarzen – zum Ausdruck, indem deren Schutz einer grundsätzlichen Jurisdiktion unterworfen wird. Die Sprache des Verfassungsrechts, die dies zum Ausdruck bringt, artikuliert jedoch noch mehr. Sie wäre unverständlich, ohne die sie leitenden moralischen Selbstdefinitionen, die sich das amerikanische Volk in einem nicht nur militärisch konfliktreichen Prozess zu eigen gemacht hat, der zeigt, dass nicht mehr »Wir das Volk« im Sinne der Gründerväter spricht. Universalisierungsdynamik
Zitiert nach E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, Opladen 1981, S. 362. 300 B. Ackerman, We the People, Bd. 2: Transformations, Cambridge, Mass./ London 1998, S. 160. Zur Verfassungsdynamik S. 100, zum Aufweis der Transformationen ebd., Teil 2, Reconstruction, S. 99–252. Das folgende Zitat zum Begriff des Volks ebd., S. 187, Übersetzung R. Z. 299
218 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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und Verfassungsdynamik (constitutional dynamics) sind zwei Seiten einer besonderen historischen Konstellation. Die Details dieser historischen Konstellation können hier auf sich beruhen bleiben. Einige Stichworte genügen, um über das Gesagte hinaus die Bedeutung der Transformation zu unterstreichen, die Ackerman herausarbeitet. Beim 13. Zusatzartikel war die Rolle des Präsidenten (Lincoln) von großem Gewicht. Beim 14. Zusatzartikel übernahm der Kongress eine maßgebliche Funktion zur Initiierung des Artikels sowie der Mobilisierung des Volks und der Unterstützung durch Wahlen wie dem Erreichen einer verfassungsändernden Mehrheit. Schließlich spielten die geteilten Gewalten von Präsident, Kongress und oberstem Gericht zusammen, um eine Ratifizierung des Zusatzartikels zu ermöglichen. Der Transformationserfolg dieser höheren Rechtsetzung war jedoch im Sinne des Modells der dualistischen Demokratie gedeckt durch »das Volk«. Es ist der denkwürdige Tatbestand zu konstatieren, dass es den Protagonisten des 14. Zusatzartikels gelungen ist, in einer entscheidenden Phase eine nicht bestreitbare Legitimation durch das Volk zu bekommen, obwohl dieses nicht nur in den Südstaaten, sondern auch im Norden von rassistischen Vorurteilen geprägt war. Damit wird deutlich, dass in der Formel »Wir das Volk« keine statische Größe thematisiert wird, geschweige denn ein metaphysisch konzipierter volonté générale oder eine substanzialistische Idee, sondern dass es im Grunde darum geht, einen dynamischen Prozess der Willensbildung zu analysieren, der in höhere Rechtsetzungen mündet: »Für mich ist ›das Volk‹ nicht der Name eines übermenschlichen Wesens, sondern der Name eines ausgebreiteten Prozesses der Interaktion zwischen politischen Eliten und gewöhnlichen Bürgern.«
Dieser geschichtlich reflektierte Volksbegriff, der metaphysischen Überhöhungen ebenso wie populistischen Simplifizierungen eine Absage erteilt, fügt die Rolle von politischen Eliten deskriptiv und normativ zusammen. Die aufgezeigten dynamischen Prozesse der Verfassungsentwicklung können gleichermaßen durch »linke« 219 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Politik und Historische Verantwortung nach Auschwitz
wie »rechte« Eliten mit Initiativen zur höheren Rechtsetzung angestoßen werden. Je nach historischer Konstellation haben sie ihre Chance zur unterstützenden Rückkopplung in breiten Kreisen von gewöhnlichen Bürgern. Der New Deal von F. D. Roosevelt mit seinen sozialen und ökonomischen Reformen kann stellvertretend für eine Entwicklung stehen, die von »links« inspiriert war und bringt zugleich einen stark präsidentiell initiierten Prozess der höheren Rechtsetzung zum Ausdruck. Damit ist auch der Wohlfahrtstaat angesprochen, dessen Problematik bis in die Gegenwart hineinreicht, weil Amerika trotz des New Deal die geringste sozialstaatliche Entwicklung der westlichen Welt aufweist. Erneut springen die Unterschiede zu Deutschland auf Verfassungsebene in die Augen, denn der »soziale Bundesstaat« gehört gleichfalls zu den im Grundgesetz für unveränderlich erklärten substanziellen Teilen der Verfassung. Wollte das amerikanische Volk den Weg zu vergleichbaren Verfassungsbestimmungen beschreiten, so wäre dies im Rahmen der von Ackerman explizierten dualistischen Demokratie wiederum nur durch eine höhere Rechtssetzung möglich. Indem Ackerman für Initiativen in diese Richtung plädiert und den Amerikanern die Erfahrung des Holocaust als Motiv für eine grundrechtsbasierte Verfassung vorhält, bringt er seine normativen Vorstellungen in ein bewusstes Spannungsverhältnis zu dem von ihm analysierten Modell der dualistischen Demokratie: »Wir sollten unsere Verfassung selbstbewußt nach deutschen Grundsätzen verbessern und klarmachen, dass Demokratie nicht unser grundlegender Verfassungswert ist, sondern dass menschliche Würde und soziale Gerechtigkeit zuerst kommen. Es sollte nicht des Horrors eines Holocaust bedürfen, ehe die Amerikaner einsehen, dass die dualistische Demokratie nicht die beste Regierungsform ist, die einer modernen Gesellschaft zur Verfügung steht. 301
Dieser Vorschlag nimmt die Geschichte und die Entwicklung der amerikanischen Verfassung im Sinne der dualistischen Demokra301
Ackerman, Cosmopolitanism, a. a. O., S. 533, Übersetzung R. Z.
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tie auf, um zu zeigen, dass – entgegen den tatsächlichen Gegebenheiten – die grundrechtsbasierte Verfassung eine künftige Aufgabe für Amerika darstellt. In der De-facto-Respektierung der »Bill of rights« und den Zurückweisungen ihrer Änderung ebenso wie in den Erfolgen des »civil rights movement« und der Rechtspraxis des »Supreme Court« spiegelt sich zweifelsohne die realgeschichtliche liberale Kraft der amerikanischen Demokratie. Und dennoch steht eine höhere Rechtsetzung des amerikanischen Volks aus, die einer »liberalen Revolution« gleichkäme, in der elementare Grundrechte und der Sozialstaat zu unabänderlichen Bestandteilen erklärt würden. Wenn man die Problemkonstellation in dieser Weise fasst, ist auch klar, dass das Modell der dualistischen Demokratie nicht im prinzipiellen Gegensatz zu einer grundrechtsbasierten Verfassung stehen muss, da sich eine Transformation in die letztere durch eine wohlerwogene Entscheidung durch »Wir das Volk« nicht nur vorstellen, sondern auch herbeiführen ließe. Vor diesem amerikanischen Hintergrund wird die Besonderheit der deutschen Situation sehr deutlich. Das Grundgesetz hat die entscheidende Prämisse der dualistischen Demokratie gestrichen, die darin besteht, auf die Kraft des Volks zur höheren Rechtsetzung zu bauen – oder besser gesagt: zu vertrauen. Dieser Schritt ist nur erklärbar aus der moralischen und politischen Katastrophe, in die Nazi-Deutschland geführt hat. Es ist fast so, als hätte das moralisch-existenzielle Reflexionsradikal, das sich als Absage an Inhumanität aus der Ich-Perspektive ergeben hat (vgl. 1.3), bei den Beratungen zum Grundgesetz Pate gestanden. Es hat sich quasi zu einem politisch-existenziellen Reflexionsradikal in der Wir-Perspektive verdichtet, zu einer unumkehrbaren Standpunktbestimmung, die in einer nicht revidierbaren grundrechtsbasierten Verfassung gipfelt. 302 Auch der demokratische Preis, der hierfür zu zahlen ist, wird Der Kommentar von Maunz-Dürig-Herzog. a. a. O., Art. 1, Rdnr. 7, nennt dies etwas zu emphatisch eine »axiomatische Ewigkeitsentscheidung zugunsten des der Verfassung vorgegebenen Wertgehalts der Grundrechte.«
302
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Politik und Historische Verantwortung nach Auschwitz
im Vergleich zur amerikanischen Verfassung und ihren Transformationen gut sichtbar. Bei der letzteren besteht zwischen dem Aspekt der ex ante-Legitimation unter der Idee der Volkssouveränität und deren ex post-Legitimation eine demokratische Klammer durch das Volk, weil beide Aspekte im Rahmen einer höheren Rechtsetzung durch das Volk verstanden werden können, gerade dann, wenn dabei die von Ackerman herausgestellte prozesshafte Interaktion zwischen politischen Eliten und normalen Bürgern beachtet wird. Im Fall des deutschen Grundgesetzes entfällt diese Klammer, weil die Kraft des Volks bei der ex ante-Legitimation nicht gefragt ist. Nicht die Kraft des Volks, sondern die Kraft der geschichtlichen Erfahrung, die sich in demokratischen Eliten konzentriert, spielt die tragende Rolle. Wie sollte es auch anders sein bei einem Volk, das mit dem Odium des Gattungsversagens zu leben hat? Als Fazit der Gegenüberstellung von deutscher Grundrechtsdemokratie und dualistischer amerikanischer Demokratie lassen sich daher zwei völlig unterschiedliche Wege zu einer grundrechtsbasierten Verfassung benennen, die realgeschichtliche Möglichkeiten voneinander abgrenzen. Im Fall des amerikanischen Dualismus besteht die Möglichkeit, dass das Volk den Schritt zu einer grundrechtsbasierten Verfassung selber tut, so wie nach diesem Modell letztlich das Volk auch die Quelle von Rechten ist. Im Fall des deutschen Grundrechtsmodells ist hingegen nicht das Volk die Quelle von Rechten, sondern diese bilden den absoluten Maßstab, der dem Volk für immer vorgegeben bleibt. Und das ist gut so, da der Entwurf des Grundgesetzes aus einer extremen moralisch-geschichtlichen Krise keine andere Wahl gerechtfertigt hätte. 303 Vor diesem Hintergrund halte ich es nicht für angemessen, von einem »demokratischen Geburtsfehler« des Grundgesetzes zu Der Entstehung des Grundgesetzes haftet daher auch kein »Geburtsmakel« an. In einer dahingehenden Kritik wird man daher »eher den Ausdruck fehlender politischer Erfahrung und mangelnder vergleichender Kenntnis demokratischer Institutionen erkennen können […]«: Ch. Möllers, Das Grundgesetz. Geschichte und Inhalt, München 2019 (2. Aufl.), S. 37.
303
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sprechen 304 und eine »›nachholende‹ direktdemokratische Legitimation durch eine Volksabstimmung« 305 im Zusammenhang der deutschen Wiedervereinigung zu fordern. Die Revolution des Jahres 1989 hat mit dem Ruf »Wir sind das Volk« zugleich nach einer politischen Form gerufen, die ihren freiheitlichen Antrieben gerecht werden sollte. Nachdem es diese politische Form in Gestalt der Verfassung der alten Bundesrepublik bereits gab, konnte die nationale Einheit unter dem Ruf »Wir sind ein Volk« nur noch den Weg der Integration in diese Form nehmen. Über die einzelnen Schritte auf diesem Weg war viel Streit möglich und nötig 306 , doch scheint es eher eine zweitrangigen Frage, ob die Wiedervereinigung besser nach Artikel 23 (»Beitrittsklausel«) oder Artikel 146 (»Volksentscheidklausel«) vollzogen wurde oder ob der Formelkompromiss für eine spätere Verfassungsentscheidung im Rahmen des neuen Artikels 146 noch von mehr als rein theoretischer Bedeutung ist. Für ein Geschichtsbewusstsein, das den Proportionen des 20. Jahrhunderts insgesamt Rechnung trägt, kann das Revolutionsjahr 1989, so wunderbar es ist, den epochalen Einschnitt von 1945 nicht noch einmal in einer neuen Stunde Null aufheben. Somit zeigt sich an den unterschiedlichen Konstellationen von Verfassungsgebung und -änderung in Amerika und Deutschland, wie die damit verbundenen Prozesse der Beratung und Entscheidung den Stand des moralischen Selbstverständnisses der dominanten Gruppen eines Volks freilegen. Angesichts der Diskontinuitäten der deutschen Geschichte stellt die Tradition der dualistischen Demokratie Amerikas ein uneinholbares Beispiel dar. Wieweit Ackermans Anregung für Amerika trägt, angesichts des Holocaust die Absicherung von Grundrechten zu verstärken, kann dahingestellt bleiben.
D. Grimm, Die Verfassung und die Politik, München 2001, S. 50. P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozess, Berlin 1996, S. 780. 306 Zur Verfassungsdebatte vgl. B. Guggenberger/T. Stein (Hg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, München 1991. 304 305
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Liberale Theorie – Konfliktdemokratie – Macht Das Grundgesetz integriert den egalitären Universalismus verfassungspolitisch und setzt einen Ordnungsrahmen für das gesellschaftliche und politische Leben. Entwicklungen und Konflikte dieses Lebens geben Anlass für liberale Theorien, den humanen Bedingungen des demokratischen Verfassungsstaats und seiner Entwicklung weiter nachzugehen. Dabei sind zwei Fragen von besonderem Interesse. Die erste betrifft das Spannungsverhältnis von Grundrechten und Demokratie, die zweite die normativen Maßstäbe zur Ausgestaltung des politischen Raums und seiner Herausforderungen. Zur ersten Frage wende ich mich der Theorie von Ronald Dworkin zu, zur zweiten würdige ich die Diskurstheorie von Jürgen Habermas und binde sie machtpragmatisch ein. Grundrechte und Demokratie: Ronald Dworkin Es mag ironisch klingen, dass die Theoriebildung von Ronald Dworkin, die in der anglo-amerikanischen Verfassungstradition steht, wie geschaffen ist, um in Bezug auf die deutsche Grundrechtsdemokratie das Verhältnis von Rechten und Demokratie in eine kohärente Beziehung bringen. Ackerman zeigt die Unterschiede auf, die zwischen der Entwicklung der dualistischen Demokratie in Amerika und der deutschen Grundrechtsdemokratie bestehen, während Dworkin eine Konzeption von konstitutioneller Demokratie darlegt, die sich zugleich idealtypisch für das deutsche Grundgesetz eignet. Das wird deutlich daran, wie Dworkin eine »Verschmelzung von Verfassungsrecht und Moraltheorie« vorantreibt 307 : »Unsere konstitutionelle Staatsform beruht auf einer bestimmten moralischen Theorie, der Theorie nämlich, daß Menschen moralische Rechte gegen den Staat haben. Die schwierigen Klauseln der amerikanischen Bill of Rights [ …] müssen so verstanden werden, 307
R. Dworkin, Bürgerrechte, a. a. O., S. 251, das folgende Zitat ebd., S. 248.
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daß sie sich auf moralische Begriffe berufen […]; daher muß ein Gericht, das sich der Mühe unterzieht, diese Klauseln voll als Recht anzuwenden ein aktivistisches Gericht sein, in dem Sinn, dass es bereit sein muß, Fragen der politischen Moral aufzuwerfen und zu beantworten.«
Bei Dworkins »moralischer Lesart der amerikanischen Verfassung« 308 geht es jetzt nicht um historische Adäquatheit. Vielmehr interessiert die Systematik, die sich ergibt, wenn die Prämisse zugrundegelegt wird, dass Menschen moralische Rechte gegen den Staat haben. Diese Prämisse ist mit Blick auf das deutsche Grundgesetz ohne weiteres einholbar, weil dieses sich auf die unveräußerlichen Menschenrechte beruft und die einzelnen Grundrechte zum unmittelbar geltenden Recht erklärt, das sämtliche Staatsorgane bindet. Dworkin schlüsselt diese Bindung nach ihrer subjektiven Seite auf. Die dem Staat vorgegebene objektive Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz von Grundrechten hat ihr Pendant aus der Perspektive der einzelnen Bürger darin, dass jeder Bürger mit dem Recht ausgestattet ist, gegenüber dem Staat die Achtung und den Schutz seiner Grundrechte zu verlangen und im Zweifelsfall gegen deren Missachtung zu klagen. Der objektiven Dimension der Rechtsordnung korrespondiert so die subjektive Dimension der Individualrechte, die im Deutschen terminologisch als »subjektive Rechte« gefasst werden, während im Englischen die objektive und subjektive Dimension des Rechts in den Termini ›law‹ und ›right‹ zum Ausdruck kommt. Die subjektiven Rechte – rights – sind im Verständnis meines historischen Universalismus so »objektiv«, wie sie nur sein können, nämlich selbstgesetzte Ansprüche auf unbedingte Respektierung zwischen Menschen als Menschen. 309 Der rechtlichen Positivierung subjektiver Rechte in einer Verfassung und anderen R. Dworkin, Freedom’s Law. The Moral Reading of the American Constitution, Oxford 1996. 309 Hierin unterscheide ich mich von Dworkins später formulierter Metaphysik der Werte: R. Dworkin, Gerechtigkeit für Igel, Frankfurt/M. 2012, S. 24 ff. Diese Differenz kann im vorliegenden Kontext übergangen werden. 308
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Teilen von Rechtsordnungen geht das moralische Selbstverständnis voraus, dass sich Menschen an den Inhalt der universalistischen Moral qua interhumanen Respekt binden und sich damit zugleich moralische Rechte auf Respekt zuschreiben. Wer es vorzieht, die Selbstbindung an moralische Rechte und die Selbstzuschreibung von moralischen Rechten nicht in einer Sprache der Rechte auszudrücken, um diese ausschließlich für kodifizierte Rechtsordnungen zu reservieren, mag dies tun. 310 Es wäre sachlich vertretbar, die moralische Dimension der Rechte so auszudrücken, dass man von absolut gesetzten wechselseitigen Ansprüchen und Erwartungen zwischen Menschen aus der je individuellen Perspektive spricht. Gleichwohl bleibt es umgangssprachlich natürlicher, von moralischen Rechten einerseits, rechtlich positivierten subjektiven Rechten andererseits zu reden. In die Positivierung subjektiver Rechte ist ein moralisch-universalistisches Vorverständnis immer schon eingegangen, so dass deren Interpretation, Bewahrung und Entfaltung nicht ohne Rückbesinnung auf moralische Begriffe auskommen kann. Diesen Zusammenhang arbeitet Dworkin heraus, indem er subjektive Rechte als »Trümpfe« 311 stark macht, über die Individuen gegenüber dem Staat verfügen: »Ein Recht gegenüber dem Staat muss ein Recht sein, etwas selbst dann zu tun, wenn die Mehrheit es für falsch hielte, und selbst dann, wenn es der Mehrheit schlechter ginge, falls es getan würde.«
Ein einfaches Beispiel kann das zeigen. Dworkin verweist darauf, dass ein öffentlicher Protest, bei dem die amerikanische Nationalflagge verbrannt wird, durch das Grundrecht der Rede- und Meinungsfreiheit abgedeckt ist, selbst wenn die politische Haltung, So z. B. J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992, S. 135. Treffend dagegen H. Lenk, »Menschenrechte oder Menschlichkeitsanrechte?«, in: G. Paul/C. Robertson-Wensauer (Hg.), Traditionelle chinesische Kultur und Menschenrechtsfrage, Baden-Baden 1997, S. 26 f. 311 Dworkin, Bürgerrechte, a. a. O., S. 14, das folgende Zitat ebd., S. 319. Vgl. zusammenfassend: R. Dworkin, »The Roots of Justice«, in: St. Wesche/V. Zanetti (Hg.), Dworkin. In der Diskussion. Paderborn 1999, S. 113. 310
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die durch eine solche Aktion ausgedrückt werden soll, nicht der Mehrheitsmeinung entspricht und eventuell einer Mehrheit von Betroffenen Nachteile in Gestalt eines Zeitverlusts im Verkehrsstau bringt. Damit gerät ein mögliches Spannungsverhältnis zwischen Grundrechten und Demokratie in den Blick, da letztere ja offenkundig auf die Mehrheit ihrer Bürger rückbezogen ist. Dieses Spannungsverhältnis bewältigt Dworkin in seiner konstitutionellen Konzeption von Demokratie, die hier besonders interessiert. Dazu macht er klar, dass die unbestrittene Mehrheitsorientierung von Demokratie zugleich einen Leitbegriff von moralischer Gleichheit voraussetzt, der jedem Individuum, das unter die Verfassungshoheit des Staats fällt, prinzipiell denselben moralischen Status und Respekt einräumt. Sobald man diese Voraussetzung ernst nimmt, erkennt man die Rückbindung der Demokratie an moralische Gleichheitsbedingungen, die dann ihrerseits als moralisch-demokratische Bedingungen für Mehrheitsentscheidungen zu verstehen sind. Das heißt in anderen Worten, dass Mehrheitsentscheidungen in einer Demokratie nicht die moralischen Bedingungen verletzen dürfen, die dem selbst gesetzten Begriff von Demokratie entsprechen. Verfahren der Mehrheitsentscheidung sind ihrerseits qualitativen Bedingungen unterworfen, die nicht wiederum durch Mehrheitsentscheidung festgelegt werden können. Deshalb ist es möglich, Dworkins »konstitutionellen Begriff von Demokratie« einem bloß an der Mehrheitsregel orientierten Begriff von Demokratie gegenüber zu stellen und Konsequenzen zu ziehen: »[…] die konstitutionelle Konzeption […] liefert keinen Grund, warum nicht zu bestimmten Gelegenheiten ein Verfahren praktiziert werden sollte, das nicht mehrheitsorientiert ist, wenn dadurch besser der gleiche Status von Menschen geschützt oder befördert werden kann, der nach ihrem Verständnis das Wesen der Demokratie ausmacht […]« 312 312
Dworkin, Freedom’s Law, a. a. O., S. 17. Übersetzung R. Z.
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Es gibt daher keine Veranlassung, bei dieser Konzeption von Demokratie zu bedauern, dass manche Entscheidungen nicht durch Mehrheitsbeschluss fallen. Ganz im Gegenteil ist es sogar von großem Wert, dass dies der Fall ist, wie insbesondere die Entscheidungen von Gerichten zeigen. Um auf das Beispiel des Verbrennens der Nationalflagge zurückzukommen: Angenommen, ein Gerichtshof würde angerufen, um über ein Gesetz zu befinden, das eine solche Aktion unter Strafe stellt. Die Gegenseite würde geltend machen, dass gerade dadurch demokratische Selbst-Regierung behindert werde, weil fälschlicherweise das Recht der freien Meinungsäußerung eingeschränkt würde. Falls das Gericht dieser Auffassung folgen und feststellen würde, dass das fragliche Gesetz tatsächlich die demokratischen Bedingungen der Verfassung verletzt, so wäre eine solche Entscheidung nicht undemokratisch, sondern würde die Demokratie verbessern. Hiergegen einwenden zu wollen, Gerichte könnten sich ja irren und daher seien Mehrheitsentscheidungen vorzuziehen, liefert kein Argument, da auch Mehrheitsentscheidungen Irrtümern unterworfen sein können. Worauf es ankommt, ist der prinzipielle Punkt, dass eine unspezifizierte Auffassung von Mehrheitsdemokratie nicht zu überzeugen vermag. Nur eine konstitutionelle Konzeption, die sich Dworkins Grundargumente zu eigen macht, ist in der Lage, Grundrechte und Demokratie in einer angemessenen Balance zu denken. Es liegt auf der Hand, dass Dworkins Konzeption ohne weiteres für das Verständnis der deutschen Grundrechtsdemokratie fruchtbar zu machen ist. Die grundrechtsbasierte Verfassung des Grundgesetzes erfüllt in noch höherem Maß die Konzeption einer konstitutionellen Demokratie, als dies für Dworkins Paradigma der Amerikanischen Verfassung der Fall zu sein scheint, jedenfalls dann, wenn man der Interpretation folgt, die Ackerman zu Amerikas dualistischer Demokratie entfaltet. Dem systematischen Ertrag von Dworkins Konzeption tut das keinen Abbruch. Denn diese Konzeption lässt sich nun geradezu als die Verarbeitung einer geschichtlich-moralischen Erfahrung lesen, die den moralischen Individualismus ins Zentrum rückt. Verfassung und konstitutionelle Demokratie gründen in einem moralischen Indi228 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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vidualismus, der dem Inhalt nach universalistisch ist. Die letzten moralischen Trümpfe müssen beim Individuum liegen. Jede vertretbare Konzeption von politischer Gemeinschaft muss diesem Tatbestand Rechnung tragen, auch wenn sie weitere emanzipatorische Schritte zur Bestimmung des Verhältnisses von Moral, subjektiven Rechten und Politik anstrebt. 313 Politische Diskurstheorie und Machtpragmatik Als wichtiger Beitrag zur Ausgestaltung des politischen Raums und der sich in ihm vollziehenden Entwicklungen kann die von Jürgen Habermas vorgelegte Diskurstheorie zu Moral, Politik und Recht gelten. Hier interessiert primär die Herausarbeitung einer politischen Ethik diskursiver Verständigung als Beitrag zur Optimierung der konstitutionellen Demokratie. Weit weniger aussichtsreich erscheint dagegen Habermas’ Rechtstheorie, die auf »Prinzipien des Rechtstaats unabhängig von irgendeiner historischen Rechtsordnung« 314 zielt und dafür eine Diskurstheorie des Rechts entwirft, die auch eine Begründung von Grundrechten geben soll. Wenn man den modernen Universalismus historisch denkt und den geschichtlichen Vermittlungen von Grundrechten und Verfassungsordnungen nachgeht, erscheint eine solche Konzeption fraglich. Im Gegensatz dazu enthält die Diskursethik von Habermas ein Potenzial, das sich politisch aufnehmen lässt. Um dieses Potenzial angemessen zu bestimmen, sind einige Klarstellungen vorauszuschicken. Zunächst erinnere ich daran, dass Habermas’ DisDie von Christoph Menke in den letzten Jahren angestoßene Diskussion zu »Gegenrechten« zeigt, dass diese allenfalls als kritische Weiterentwicklung der subjektiven Rechte konzipiert werden können. Dazu zusammenfassend: Ch. Menke, »Genealogie, Paradoxie, Transformation. Grundelemente einer Kritik der Rechte«, in: A. Fischer-Lescano/H. Franzki/J. Horst (Hg.), Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, Tübingen 2018, S. 13–31. Exemplarisch zur Fortschreibung subjektiver Rechte, ebd.: G. Teubner: Zum transsubjektiven Potential subjektiver Rechte, S. 357–375. 314 Habermas, Faktizität, a. a. O., S. 234. Vergleichbar auch: R. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, Frankfurt/M. 1995, S. 127 ff. 313
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kursethik eine Variante des objektivistischen Universalismus darstellt und insofern der Familie des moralischen Gattungstraditionalismus zugehört, die dem Paradigma Kants verpflichtet bleibt (vgl. Kap. 1.1). Analog zu Kants Idee, die darin besteht, eine innere Verbindung von Vernunft und Moral auszuweisen, soll dargelegt werden, dass die universalistische Moral aus einer rationalen Struktur gewonnen werden kann, die in Begriffen diskursiv-kommunikativer Rationalität in unausweichlichen Argumentationsvoraussetzungen gründet. 315 Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Habermas mit Kant die problematische Voraussetzung eines objektiven Begründungsraums teilt (vgl. 1.3). Diese ist zu berücksichtigen, um der Konzeption von Habermas näherzukommen. Dabei geht es um ein moralisches Universum, das strukturell durch Argumentationsvoraussetzungen bestimmt wird: »Die sanfte Gewalt unvermeidlicher Argumentationsvoraussetzungen verlangt von den Beteiligten die Übernahme der Perspektiven und die gleichmäßige Berücksichtigung der Interessen aller Anderen. So erklärt sich die Universalität einer Welt wohlgeordneter interpersonaler Beziehungen – der Entwurf eines moralischen Universums, auf das hin argumentiert wird – aus der Widerspiegelung des egalitären Universalismus, auf den sich Argumentationsteilnehmer immer schon einlassen müssen, wenn ihr Unternehmen nicht seinen kognitiven Sinn einbüßen soll.«
Meine oben formulierte Kritik an der begrifflichen Verbindung zwischen dem moralischen Universalismus und der Gattungsallgemeinheit, ändert nichts an der Übereinstimmung mit Habermas hinsichtlich des universalistischen Inhalts unserer Moral qua interhumanem Respekt zwischen Menschen als Menschen. Sobald man die formal-strukturelle Fassung des egalitären Universalismus beiseite lässt, kann man die Grundidee der DiskursVgl. zu den Details J. Habermas, »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, S. 53–125, J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991, S. 119–226.
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ethik aufnehmen und dazu übergehen, ihren politischen Ertrag hervorzuheben. Dann nämlich tritt ihre politische Partizipationsdimension hervor. »Die gleichmäßige Berücksichtigung der Interessen aller Anderen« ergibt sich als Folgerung aus dem Inhalt des Universalismus, der jedem Menschen denselben moralischen Status und dieselbe respektvolle Berücksichtigung einräumt. Dieser Inhalt als solcher kann jedoch nur geschichtlich gedacht werden, wie sowohl die Realgeschichte des Universalismus als auch die durch Gattungsbruch und Gattungsversagen geprägte historische Erfahrung lehrt. Mit dem egalitären Universalismus als Prämisse, in der unsere, d. h. die in einer bestimmten geschichtlichen Gemeinschaft situierte, moralische Selbstdefinition zum Ausdruck kommt, gewinnt die Diskursethik ihre Überzeugungskraft als politische Partizipationsethik der argumentativen Vermittlung. Rationale Potenziale des Diskurses sollen für den politischen Prozess ausgeschöpft werden, um den Interessen aller Raum zu geben. Die formale Seite der Diskursethik bleibt als prozedurale Verfahrensethik des politisch-demokratischen Prozesses erhalten. Diese Sicht der Diskursethik berührt sich mit Richard Rortys Diagnose, die sie als »Ausdruck der Gewohnheiten der heutigen liberalen Gesellschaften« sieht. 316 Auch Michael Walzer versteht die Diskursethik als »eine abstrakte Version der zeitgenössischen demokratischen Kultur« 317 . Darüber hinaus lassen sich diese Einschätzungen auf die Diskussion zwischen John Rawls und Jürgen Habermas beziehen, bei der es um die philosophischen Grundlagen des politischen Liberalismus geht. Als Fazit seiner eigenen Abgrenzung zu Habermas hält Rawls fest: »Die Auffassung der Gerechtigkeit als Fairness ist substantiell [ …] Sie entspringt der Tradition liberalen Denkens und gehört zur größeren Gemeinschaft der politischen Kulturen demokratischer Gesellschaften. Sie ist nicht wirklich formal und wahrhaft universell R. Rorty, »Gerechtigkeit als erweiterte Loyalität«, in: ders., Philosophie & die Zukunft, Frankfurt/M. 2000, S. 86. 317 M. Walzer, Lokale Kritik – globale Standards, Berlin 1996, S. 28. 316
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und gehört darum auch nicht zu den quasi-transzendentalen Voraussetzungen (wie Habermas es gelegentlich nennt), die in der Theorie kommunikativen Handelns begründet werden.« 318
In dieser von Rawls selbst reflektierten historischen Situierung seiner Theorie der Gerechtigkeit spiegeln sich die gegenläufigen Ansprüche der von Habermas vorangetriebenen Konzeption. Rawls sieht davon ab, für seine »freistehende« Theorie des politischen Liberalismus, die seine frühere Gerechtigkeitstheorie fortsetzt, mehr als die liberale Tradition in Anspruch zu nehmen. 319 Habermas dagegen sieht es als unabdingbar an, die bereits charakterisierte formal-strukturelle Diskursethik und darüber hinaus eine umfassende Theorie der kommunikativen Vernunft anzusetzen. Dem entspricht gesellschaftstheoretisch die Theorie des kommunikativen Handelns als Rahmen einer politischen Theorie. Kennzeichnend für Habermas’ weitgehende Ansprüche sind Theoriebildungen, die allesamt auf die Herausarbeitung formalstruktureller Grunddimensionen zielen: Konsensustheorie der Wahrheit, Sprachtheorie als Formalpragmatik, Handlungstheorie als Theorie sprachlich vermittelter Kommunikation. Auch wenn Habermas zu all diesen Theorieelementen Modifikationen und Korrekturen vorgenommen hat, so ändert das nichts am Grundriss seiner philosophischen Systematik, deren nähere Analyse hier auf sich beruhen bleiben kann, weil ausschließlich die Diskursethik als politische Ethik interessiert. 320 Diese Skizze zur Theorie von Habermas macht verständlich, warum Rawls seine Konzeption des politischen Liberalismus davon abgrenzt. Rawls betont zurecht, dass seine Theorie auf der moralischen Voraussetzung des egalitären Universalismus aufJ. Rawls, »Erwiderung auf Habermas«, in: Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion, hrsg. v. d. Philosophischen Gesellschaft Bad Homburg und W. Hinsch, Frankfurt/M. 1997, S. 248. 319 J. Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 1998, S. 40, 77. 320 In meiner früheren Interpretation sehe ich mich durch die Revisionen zur Wahrheitstheorie und zum Begriff des kommunikativen Handelns bestätigt: vgl. Habermas, Wahrheit, a. a. O. Kap. 2, 6; Zimmermann, Utopie, a. a. O., §§ 19–21. 318
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baut, die man im Sinne des historischen Universalismus lesen kann. Ihm reicht die liberale Tradition der »politischen Kulturen demokratischer Gesellschaften« aus. Diese Kulturen sind moralische Kulturen in dem Sinn, dass die normative Konzeption gleicher und freier Bürger, mit der Rawls arbeitet, zurückbezogen ist auf die »motivationale Ausstattung« von Personen, die in der Lage sind, moralischen Selbstinterpretationen und Idealen ebenso zu folgen wie der zweckrationalen Vertretung ihrer Interessen. Und es ist klar, dass zu diesen Selbstinterpretationen das Selbstverständnis gehört, anderen Menschen mit interhumanem Respekt zu begegnen und sich damit wechselseitig als gleiche und freie Bürger zu achten. 321 Rawls bewegt sich wie selbstverständlich im Rahmen einer konstitutionellen Demokratie, die er durch seine Theorie der Gerechtigkeit optimieren möchte. Bekanntlich bedient er sich dafür einer methodischen Fiktion, indem er vorschlägt, im Rückgang auf einen »Urzustand« Gerechtigkeitsgrundsätze zu generieren. Was hier interessiert ist, wie Habermas die Diskursethik als eine Alternative zu Rawls Konstruktion des Urzustandes darstellt: »Die Diskursethik sieht hingegen den moralischen Gesichtspunkt im Verfahren einer intersubjektiv durchgeführten Argumentation verkörpert, welches die Beteiligten zu einer idealisierenden Entschränkung ihrer Deutungsperspektiven anhält. 322
Sobald die Diskursethik von vornherein unter die Bedingungen der konstitutionellen Demokratie gestellt wird, nimmt sie die Gestalt einer politischen Ethik an, welche die Partizipation der beteiligten Bürger unter egalitären Verfahrensbedingungen fasst. Die Chancen zu einer rationalen Optimierung der Partizipation bestehen darin, dass einseitige Interessenstandpunkte überwunden werden können. Ein permanenter Prozess intersubjektiver Rawls, Liberalismus, a. a. O., Einleitung, Kap. 2. Vgl. zum Folgenden Kap. 6 und die dortige Rezeption von Ackerman und Dworkin (S. 333 ff.). 322 Habermas, »Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch«, in: Zur Idee des politischen Liberalismus, a. a. O., S. 178. 321
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Argumentation kann dafür zu sorgen, dass über die Einbeziehung und wechselseitige Kritik der Deutungsperspektiven aller Betroffenen erreicht werden kann, was Habermas eine »idealisierende Entschränkung« von Deutungsperspektiven nennt. So gesehen wird Rawls fiktiver »Urzustand« entbehrlich, weil nicht zu sehen ist, warum die Konstruktion eines Urzustands ein größeres rationales Potenzial erschließen soll als eine unter egalitären Bedingungen durchgeführte intersubjektive Argumentation. Freilich: Wenn man dieser intersubjektiven Argumentation nicht einen Begriff von »wahrer konsensueller Übereinstimmung« oder dergleichen unterlegt, dann bleibt dieser Diskussionsprozess ein pragmatischer Vorgang unter realen Menschen. Bei aller Bereitschaft, ihre Deutungsperspektiven zu entschränken, werden die Beteiligten auch an Grenzen des Ideals der Unparteilichkeit stoßen. Das tut der Fruchtbarkeit einer politischen Diskursethik keinen Abbruch, sondern verweist nur darauf, was sie leisten kann und was nicht. Die Leistung der politischen Diskursethik besteht darin, dass sie ein rationales Vermittlungsschema an die Hand gibt, über das alle wichtigen gesellschaftlichen und politischen Fragen laufen und das die Institutionen auf einen dynamischen Prozess der Willensbildung von Bürgern zurückkoppelt. Doch um dieses Vermittlungsschema »rational« nennen zu können, bedarf es keiner »transzendentalen« oder »formalpragmatischen« oder wie immer gefassten strukturellen Theorie von kommunikativer Rationalität. Rational ist dieses Vermittlungsschema deshalb, weil es für faire Artikulationsmöglichkeiten aller Bürger sorgt, die diese ergreifen wollen, weil es Prozesse gegenseitiger Kritik und Korrektur stimuliert und eine Argumentationskultur fördert, die erwarten lässt, dass gute Argumente im politischen Diskussionsprozess mehr Chancen haben als schlechte und z. B. populistische Interventionen zurückgewiesen werden können. Dass das oft genug nicht der Fall ist, zeigt, mit welchen idealtypischen Stilisierungen eine realpragmatisch verstandene politische Diskursethik immer noch behaftet ist. Hierin liegt jedoch kein beklagenswerter Mangel, sondern die unvermeidliche Distanz, die einem normativen Vorschlag zukommt, der zur Optimierung von politischen Pro234 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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zessen gegenüber empirischen Gegebenheiten beitragen will. Die pragmatische Rationalität der diskursiven Vermittlung in diesem Sinn kann einerseits an realistische Beschreibungen des politischen Prozesses bei Habermas anknüpfen, andererseits die Beweislast einer »formalpragmatischen« Rationalität auf sich beruhen lassen. Habermas gibt selbst den Ansatzpunkt zu einer solchen Korrektur. So stellt er gegen den Kommunitarismus fest: »Unter Bedingungen des kulturellen und gesellschaftlichen Pluralismus stehen hinter politisch relevanten Zielen oft Interessen und Wertorientierungen, die keineswegs für die Identität des Gemeinwesens insgesamt […] konstitutiv sind. Diese Interessen und Wertorientierungen, die ohne Aussicht auf Konsens miteinander in Konflikt liegen, bedürfen eines Ausgleichs, der durch ethische Diskurse nicht zu erreichen ist – auch wenn die Resultate unter dem Vorbehalt stehen, die konsentierten Grundwerte nicht verletzen zu dürfen. Dieser Interessenausgleich vollzieht sich […] als Kompromißbildung zwischen Parteien, die sich auf Macht- und Sanktionspotenziale stützen. Verhandlungen dieser Art setzen gewiß Kooperationsbereitschaft, also den Willen voraus, unter Beachtung von Spielregeln zu Resultaten zu gelangen, die für alle Parteien, wenn auch aus verschiedenen Gründen, akzeptabel sind. Aber eine solche Kompromißbildung vollzieht sich eben nicht in den Formen eines rationalen, Macht neutralisierenden, strategisches Handeln ausschließenden Diskurses.« 323
Zum Verständnis ist zu sagen, dass sich der von Habermas gebrauchte Terminus ›ethische Diskurse‹ nicht auf die für ihn abstraktere Ebene der Moral als solcher bezieht, die aus den oben angeführten Argumentationsvoraussetzungen gewonnen werden soll. Ethische Diskurse beziehen sich für Habermas auf Wertorientierungen, die auf konkrete Lebensformen abheben, etwa so, dass die Kommunitaristen das Postulat aufstellen, nur eine größtmögliche republikanische Partizipation aller Angehörigen der politischen Gemeinschaft könne Demokratie auf Dauer stellen. 323
Habermas, Faktizität, a. a. O., S. 344. Zum Folgenden ebd. S. 347.
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Demgegenüber führen die Liberalen die Entscheidungsfreiheit des Individuums ins Feld, das von solchen Gemeinschaftsidealen nichts wissen will und seine Lebensauffassung an anderen Werten orientiert. Kontroversen dieser Art durchziehen das politische Geschehen und die entsprechenden Parteibildungen; sie sind Ausdruck eines Pluralismus, den auflösen zu wollen der Komplexität moderner Gesellschaften nicht gerecht würde. Auf der individuellen Ebene bleibt es der jeweiligen Lebensführung der Menschen überlassen, an welchen Prioritäten oder Idealen sie sich orientieren. Auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene jedoch treten sich Menschen als Vertreter bestimmter Modelle des Zusammenlebens gegenüber, die über-individuellen Charakter haben und auf soziale oder politische Gruppenbildung angelegt sind. Man kann auch von konkurrierenden Modellen menschlicher Lebensformen sprechen. Dazu wäre Habermas’ Hinweis auf Kommunitaristen oder Liberale durch weitere Konzeptionen zu ergänzen, etwa solche von Öko-Demokraten oder Nationalkonservativen. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die unterschiedlichen Gruppierungen gesellschaftliche oder politische Dominanz beanspruchen. Das verweist auf die jeweiligen Ansprüche, das eigene Modell über die anderen zu stellen und insofern Macht über sie zu gewinnen. Auf den politischen Tageskampf bezogen heißt das, dass sich die Ziele unterschiedlicher Auffassungen je nach Konstellation nur durch Kompromisse bändigen lassen, bei denen die Beteiligten ihre Macht- und Sanktionspotenziale ausreizen. Entscheidend ist dabei jedoch, dass sich alle Beteiligten an die Spielregeln des diskursivdemokratischen Vermittlungschemas halten. Das führt auf unterschiedliche Interpretationen zur politischen Diskursethik. Folgt man einer realpragmatischen Variante der Diskursethik würde man die Rationalisierung der Kompromissbildung betonen, die in der Beachtung von Sachorientierung, Verfahrensregeln (Geschäftsordnungen etc.) und dem damit möglichen Erzielen von rationaler Transparenz besteht. Davon kann auch dann gesprochen werden, wenn kein Kompromiss erzielbar ist und eine strittige Mehrheitsentscheidung getroffen werden muss. Außerdem ist die grundsätzlich offene Dynamik des politi236 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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schen Prozesses zu betonen, die es ermöglicht, zuvor nicht als möglich erachtete Übereinstimmung in bestimmten Fragen doch noch zu erzielen, weil eben die diskursethische Prozedur rational disziplinierende Wirkung zeigt und sich als effektiver Mechanismus erweist, gute von schlechten Argumenten zu unterscheiden. Das muss gerade auch dann gesagt werden, wenn die Interessenbezogenheit von Gruppen oder Parteien und ihre strategische Orientierung berücksichtigt wird. Angesichts dieser Sachlage kann man durchaus die pragmatische Rationalität diskursiver Vermittlung als Gewinn anerkennen, um die handfesten Widrigkeiten des politischen Prozesses einschließlich der dabei auftretenden taktischen und strategischen Tricks zu durchdringen. Doch das ist Habermas zu wenig. Stattdessen bringt er einen anderen Begriff von Rationalität ins Spiel, der sich durch einen »Macht neutralisierenden, strategisches Handeln ausschließenden« rationalen Diskurs definiert. Durch diesen Begriff wird der pragmatischen Rationalität diskursiver Vermittlung die Rationalität wieder abgesprochen, die ihr eigentlich zukommt. Damit wird deutlich, dass Habermas ein inhaltliches Rationalitätsideal mit sich führt, das an frühere Begriffsbildungen von »herrschaftsfreier Kommunikation« erinnert. Es ist jedoch nicht zu sehen, wie dieses formalpragmatisch gewonnen werden könnte. Denn der »intrinsisch vernünftige Charakter von Verfahrensbedingungen für den demokratischen Prozeß«, der für Habermas in den »formalpragmatischen Ermöglichungsbedingungen für eine deliberative Politik« zu suchen ist, fällt nicht mit dem inhaltlich viel stärkeren Ideal eines Diskurses zusammen, der rational im Sinne von »machtneutralisierend und strategisches Handeln ausschließend« sein soll. Diese Inkohärenz lässt sich nur durch Verzicht auf das zu starke Rationalitätsideal beheben. Was bleibt, ist eine realpragmatische Konzeption von deliberativer Politik, die sich Phänomenen des politischen Machtgeschehens stellt. Das ist deshalb zu betonen, weil die Stabilität einer konstitutionellen Demokratie davon abhängt, wie sehr es ihr gelingt, mit unvermeidlichen Konflikten zurecht zu kommen. Diese Konflikte sind in der Komplexität moderner Gesellschaften und ihres plura237 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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listischen Spektrums angelegt. Das ist Habermas zwar bewusst, doch ist die Frage, inwieweit seine normative Konzeption dem Rechnung tragen kann. Meine kritische Klarstellung zeigt, dass der kultivierende Beitrag einer politischen Diskursethik viel eher darin zu sehen ist, einen rationalen Umgang mit Konflikten zu fördern als Idealen von Konsensbildung nachzugehen. Das erfordert die Einsicht, dass die Gegensätze zwischen unterschiedlichen Modellen von Lebensformen, wenn man die dabei verfochtenen Ideale ernst nimmt, nicht in prinzipieller Hinsicht aufzulösen sind. Nicht aufzulösen ist damit auch der Kampf um die Dominanz bestimmter Modelle und damit der Kampf um politische Macht. So ergibt sich das idealtypische Modell einer diskursethisch gebändigten Konfliktdemokratie auf nationaler Ebene, das sich analog auf die supra-nationale Ebene der europäischen Gemeinschaft übertragen lässt. 324
3.3 Historische Verantwortung nach Auschwitz 325 Zur Philosophie nach Auschwitz gehört eine Philosophie der historischen Verantwortung, deren systematischer Ort in einer politischen Ethik besteht. Diese bestimmt den Zusammenhang von historischer Erfahrung und Moral im öffentlichen Raum und verbindet die Verarbeitung der Vergangenheit mit politischer Moral für die Zukunft. Ausgehend vom Holocaust ist differenzierend auf andere Beispiele für geschichtlich-moralische Desaster und deren Verarbeitung zu verweisen. Dabei kommt der Verbindung von historischer Verantwortung und Recht ein besonderer StelHabermas gibt selbst die Stichworte für eine einschlägige Diskussion, die hier nicht fortzuführen ist, wenn er Perspektiven für eine »transnationale Demokratie« und eine »kosmopolitische Gemeinschaft« formuliert: J. Habermas, Zur Verfassung Europas, Frankfurt/M. 2011, insbes. S. 48 ff., 82 ff. 325 In diesem Kapitel mache ich Gebrauch von: R. Zimmermann, Moral als Macht, a. a. O., Kap. 3 und R. Zimmermann, »Historische Verantwortung«, in: L. Heidbrink/C. Langbehn/J. Loh (Hg.), Handbuch Verantwortung, Wiesbaden 2017, S. 625–643. 324
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lenwert zu. Von umfassender gesellschaftlicher Bedeutung ist die Arbeit an einer Erinnerungskultur unter Bedingungen der pluralistischen Demokratie.
Auschwitz, historische Verantwortung, politische Ethik Die Rundfunkbotschaft von Thomas Mann zum 8. Mai 1945 nimmt Außenminister Joschka Fischer am 10. Mai 2005 zustimmend auf, um am Tag der Einweihung des »Denkmals für die ermordeten Juden Europas«, in seiner Rede auszuführen: »Das demokratische Deutschland, sechzig Jahre danach, ist gewiss in nichts mehr mit dem Deutschen Reich unter Hitler zu vergleichen. Und dennoch verbinden uns unsere Geschichte und unsere historische und moralische Verantwortung für unsere Geschichte mit jener Zeit. Und auch sechzig Jahre danach sind diese Geschichte, unsere Verantwortung und unsere Scham nicht vergangen.« 326
Die Zustimmung zu diesen Sätzen nehme ich zum Ausgangspunkt, um der Frage nachzugehen, wieweit sie eine kohärente Konzeption von historischer Verantwortung repräsentieren und wie diese weiter auszuführen ist. Dazu fasse ich Fischers Sätze in vier Thesen, um in deren Analyse die wesentlichen Aspekte eines
J. Fischer, Rede bei der Entgegennahme des Leo-Baeck-Preises: https:// www.zentralratderjuden.de. Vgl. die Rundfunkbotschaft von Thomas Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Frankfurt/M. 1990, Bd. XII, S. 951–953. Näheres zu Thomas Mann unten (Erinnerungskultur). Auch Kanzlerin Angela Merkel betont in ihrer Rede bei der Übernahme des LeoBaeck-Preises (6. 11. 2007): »Für mich, meine Damen und Herren, gilt unverrückbar: Nur in der Annahme der Vergangenheit Deutschlands liegt das Fundament für eine gute Zukunft. Nur indem wir uns zur immerwährenden Verantwortung für die moralische Katastrophe der deutschen Geschichte bekennen, können wir unsere Zukunft menschlich gestalten«: https://www.zentralratderjuden.de. Ganz entsprechend in ihrer Rede vor der Knesset (18. 3. 2008) und zuletzt bei ihrem Besuch in Auschwitz am 6. Dez. 2019.
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rationalen Begriffs von historischer Verantwortung heraus zu heben: 1. Das heutige demokratische Deutschland und das Deutsche Reich unter Hitler sind nicht mehr vergleichbar. 2. Es gibt eine geschichtliche Verbindung zwischen dem demokratischen Deutschland und dem Deutschen Reich unter Hitler. 3. Unsere historische und moralische Verantwortung für unsere Geschichte verbindet uns mit der Zeit des Deutschen Reichs unter Hitler. 4. Die Geschichte des Deutschen Reichs unter Hitler, unsere Verantwortung und unsere Scham sind nicht vergangen. Zunächst ist offenkundig, dass es einer Differenzierung bedarf, um die in These 4 behauptete Nicht-Vergangenheit der Geschichte des deutschen Hitler-Reichs in Einklang zu bringen mit der Gegenwart des demokratischen Deutschland, dem in These 1 bescheinigt wird, nicht mehr mit dem Dritten Reich vergleichbar zu sein. Das ist möglich, wenn man zwischen dem Deutschen Reich, das im Jahre 1945 unterging und seiner Präsenz im Geschichtsbewusstsein der Gegenwart unterscheidet. Ein solches Geschichtsbewusstsein wiederum ist keine vorgegebene feste Größe, sondern das Resultat geschichtlicher Erfahrung, Verarbeitung und Interpretation. Ein angemessener Begriff von Geschichtsbewusstsein ist jedoch unverzichtbar, um die Klammer zu bilden, durch die sich die genannten Thesen kohärent integrieren lassen. Zu einem solchen Begriff von Geschichtsbewusstsein gehört die Ordnung der Geschehnisse der realen Geschichte in einem Raum von Bedeutsamkeit, einem geschichtlichen Bedeutungsraum, der mit unterschiedlichen Gewichtungen die moralische, politische, soziale, ökonomische oder kulturelle Relevanz von Ereignissen aufnimmt und platziert. 327 Wer sich den obigen vier Rüsen spricht von der »Deutungsarbeit des Geschichtsbewußtseins«, die ich im Folgenden moralisch strukturiere. Vgl. ders., »Theoretische Zugänge zum interkulturellen Vergleich historischen Denkens«, in: J. Rüsen/ M. Gottlob/A. Mittag (Hg.), Die Vielfalt der Kulturen, Frankfurt/M. 1998,
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Thesen anschließt, gibt zu verstehen, wie sein geschichtlicher Bedeutungsraum strukturiert ist und was er von einer Gemeinschaft erwartet, der er sich zugehörig fühlt: dass es Sinn macht, die Rede von historischer und moralischer Verantwortung sowie das Gefühl der Scham auf die Geschichte des Dritten Reichs zu beziehen (These 4 plus 3) und der Einschätzung zu folgen, dass dem Deutschen Reich unter Hitler eine bleibende historische und moralische Bedeutung zukommt. Das setzt historische und moralische Wertungen von Tatbeständen wie dem Gesamtgeschehen des Holocaust, der Zerstörung rechtsstaatlicher Strukturen im Innern und der Entfesselung des 2. Weltkriegs nach außen voraus. Der Zerstörung rechtsstaatlicher Strukturen im Innern steht die postnazistische Einrichtung des demokratischen Verfassungsstaats auf Basis des Grundgesetzes gegenüber, so dass die These 1 mit dem Zusatz nachvollziehbar wird, dass das Deutsche Reich unter Hitler und die grundgesetzbasierte Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland als politische Systeme keinerlei qualitative Vergleichbarkeit aufweisen und insofern »in nichts mehr« vergleichbar sind. Die historische Wertung, die hierin steckt, wird sichtbar, wenn man sich an Adornos gegenläufige These erinnert, dass in der kapitalistischen Nachkriegs-Tauschgesellschaft die objektiven Voraussetzungen für den Faschismus fortbestehen (vgl. oben 3.1). Falls eine solche These zuträfe, wäre durchaus ein Vergleich der politischen Systeme zu berücksichtigen. Mit der These 1 wird eine solche Sichtweise ad acta gelegt. Zugleich wird in These 2 eine geschichtliche Verbindung zwischen dem Deutschen Reich unter Hitler und dem demokratischen Deutschland benannt, die jedoch mit These 3 in Begriffen von historischer und moralischer Verantwortung »für unsere Geschichte« formuliert wird. Dieser Sprachgebrauch von Verantwortung für unsere Geschichte enthält eine Ambivalenz, die den Blick auf relevante Kriterien für historische Verantwortung schärft. Denn es fragt sich, S. 46. Der im angelsächsischen Sprachbereich weniger verbreitete Begriff des »historical consciousness« erfährt neuerdings stärkere Beachtung: P. Seixas (Hg.), Theorizing Historical Consiousness, Toronto 2004.
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ob dabei eine allgemeine Vorstellung von historischer und moralischer Verantwortung für unsere Geschichte bemüht wird, die dann hinsichtlich des Dritten Reichs unter Hitler eine besondere Bedeutung gewinnt, oder ob das Verständnis der entsprechenden Verantwortung auf die jüngere Geschichte begrenzt ist. Kann man in vergleichbarer Weise von der historischen und moralischen Verantwortung für das Deutsche Reich unter Bismarck sprechen? Wenn das nicht angemessen ist 328 , dann unterstreicht das nur, dass die Kriterien freigelegt werden müssen, an denen sich die Rede von historischer und moralischer Verantwortung für unsere Geschichte sowohl in Bezug auf das Deutsche Reich unter Hitler als auch in Bezug auf andere Zeiträume der deutschen Geschichte bemisst. Die Herausarbeitung solcher Kriterien für das Deutsche Reich unter Hitler führt auf die Vergegenwärtigung unseres moralischen Selbstverständnisses zurück. Warum ist das so? Weil die Merkmale des NS-Regimes und seine Unmenschlichkeit unserem moralischen Selbstverständnis zutiefst widersprechen: Wir – das heißt immer: die Wir-Gemeinschaft, der wir uns zurechnen – lehnen die Abschaffung von Menschen- und Bürgerrechten strikt ab, wir verurteilen die Führung von Eroberungskriegen und die Unterjochung ganzer Völker und wir empören uns über die Vernichtung des jüdischen Volkes, die von einem Täter-Willen zeugt, der aus einer anderen moralischen Welt kommt. Aus der inhaltlichen Antithese zu den moralischen Entgrenzungen des Nazismus ergibt sich die Möglichkeit, ein Kriterium für historische Nicht-Vergangenheit oder historische Unüberholtheit oder kurz historische Gegenwart zu gewinnen. Dieses Kriterium kann in Begriffen moralischer Bedeutung lauten: Geschichtliche Geschehnisse gehören in dem Maße unserer historischen Gegenwart an, als sie unser moralisches SelbstDiese Voraussetzung ist zwar nicht trivial, doch scheint klar, dass die Einbindung Bismarcks in ein christliches Selbstverständnis außer Frage steht. Den »christlichen Realismus« Bismarcks trennen Welten von Hitler. Vgl. L. Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, München 1980 (5. Aufl.), S. 23, 61.
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verständnis im Ganzen herausfordern und aktuell wie potentiell unsere moralische Zukunft betreffen. Ein Kriterium für historische Verantwortung ergibt sich, wenn wir sagen: Historisch verantwortungsvoll verhalten wir uns dann, wenn wir alle geschichtlichen Geschehnisse, die unserer historischen Gegenwart zuzurechnen sind, einer Auseinandersetzung und Bearbeitung unterziehen, die ihre Bedeutung angemessen interpretiert, gewichtet und, wo möglich, moralische Konsequenzen aus ihnen zieht. Dieses Kriterium kann als Grundlage dienen, um einen kritischen Maßstab dafür abzugeben, wann es berechtigt ist, eine Gemeinschaft oder ein Kollektiv als historisch verantwortungslos zu bezeichnen. Es ist dann der Fall, wenn die dominante Meinungsbildung und Selbstinterpretation auf die Weigerung hinausläuft, sich auf Fragen der historischen Gegenwart von geschichtlichen Ereignissen einzulassen, zum Beispiel auf solche, welche die Zurechnung- und Aufarbeitung für vergangenes Unrecht oder Verbrechen betreffen, in die Angehörige des Kollektivs verwickelt sind oder waren. In diesem Fall macht das betreffende Kollektiv sich selbst zum Gegenstand einer moralischen Kritik, auch wenn kein Mitglied des Kollektivs als Individuum an der Ausübung des Unrechts oder des Verbrechens beteiligt war. Je nach Schwere des in Frage stehenden Unrechts und Verbrechens ist die entsprechende moralische Kritik zu gewichten und je nachdem wird das Kollektiv zu Recht als historisch verantwortungslos bezeichnet. Es liegt auf der Hand, dass ein solch kritischer Maßstab historischer Verantwortung nicht nur für die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust, sondern für andere epochale Geschehnisse wie z. B. den Holodomor relevant ist (vgl. oben 2.2 und weiter unten). Dadurch, dass wir die Leitorientierung historischer Nicht-Vergangenheit bzw. historischer Gegenwart nicht ohne Reflexion auf unser Moralverständnis als Ganzes bestimmen können, bestätigt sich zugleich der generelle Sachverhalt bei der Zuschreibung von Verantwortung, der darin besteht, dass es keine Zuschreibung von Verantwortung ohne moralischen Maßstab, an dem sie sich bemisst, gibt. Eine Person, Gemeinschaft oder Institution ist für etwas verantwortlich nur in Relation zu einem Ver243 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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antwortungsmaßstab. Insofern ist Verantwortung immer ein moralisch nachrangiger Begriff. 329 Was hier besonders interessiert, ist die nähere Betrachtung des Zusammenhangs von moralischem Selbstverständnis, historischer Gegenwart und historischer Verantwortung in einem kollektiven Sinn. Zunächst ist festzuhalten, dass sich dieser Zusammenhang den oben formulierten Thesen unterlegen lässt, um sie als angemessene Artikulation unseres geschichtlichen Bedeutungsraums zu lesen. Darüber hinaus gibt das Stichwort von »unserer Scham«, das in These 4 für die Kennzeichnung der historischen Gegenwart des Deutschen Reichs unter Hitler verwendet wird, einen Hinweis auf die Problematik der moralischen Gewichtung von geschichtlichen Geschehnissen. Von »Scham« zu reden, heißt normalerweise sich auf Individuen und deren Vergehen beziehen, die sich dafür schämen oder schämen sollten. Wenn jemand mit dem Vorwurf konfrontiert wird »Du hast Deinen Bruder hintergangen, Du solltest dich schämen!« und diesen Vorwurf akzeptiert, dann erkennt er eine Selbstbeschädigung seiner moralischen Integrität, seines moralischen Qualitätsprofils, an, weil es unmöglich ist, sich von der Selbstzuschreibung des Vergehens abzuwenden. Demgegenüber ist die obige Rede von »unserer Scham« von anderer Art. Es geht hier weder um die individuelle Perspektive, noch um die Selbstzuschreibung eines Vergehens. Im Gegenteil. Die Wendung »unsere Scham« ist eingebunden in die Beurteilung der Untaten des Deutschen Reichs unter Hitler und das Bewusstsein darüber, dass es nicht um die Selbstzuschreibung individueller Scham gehen kann für Taten, die von uns nicht begangen wurden und daher außerhalb unserer individuell zurechenbaren Verantwortung liegen. Und dennoch scheint es nachvollziehbar, hier in einem kolÜbereinstimmend konstatieren K. Bayertz (»Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung«, in: ders. (Hg.), Verantwortung. Prinzip oder Problem?, Darmstadt 1995, S. 65) und L. Heidbrink (Kritik der Verantwortung, Weilerswist 2003, S. 23 f.) den »parasitären« Charakter von Theorien der Verantwortung gegenüber einer Theorie der Moral. W. Wieland (Verantwortung – Prinzip der Ethik?, Heidelberg 1999, S. 95) bestimmt die Verantwortungsproblematik im Sinne einer »Ethik der zweiten Linie«.
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lektiven Sinn von »unserer Scham« zu sprechen. Es handelt sich um eine Scham darüber, dass im Deutschen Reich unter Hitler, insbesondere durch das Geschehen des Holocaust, eine Katastrophe von weltmoralischer Bedeutung eingetreten ist. So wie Kant mit positivem Tenor von der Französischen Revolution als einem Ereignis, »das sich nicht vergißt«, gesprochen hat, so steht Auschwitz für die historische Gegenwart einer epochalen moralischen Zäsur, die von Deutschen in die Welt gebracht wurde und als Gattungsbruch zu beschreiben ist. Man kann das mit Imre Kertész auch so ausdrücken, dass der Nazismus eine andere moralische Welt, einen »anderen Planeten« hervorgebracht hat. 330 Solche Beschreibungen unterstreichen, dass die moralische Zäsur, um die es geht, eine Relevanz besitzt, die der Rede von kollektiver Scham einen nachvollziehbaren Sinn gibt. Es ist die Scham darüber, dass durch den Ausschluß des jüdischen – und anderer Völker – aus dem Kreis der Menschheit das moralische Bild des Menschen ganz gravierend beschädigt ist. Es handelt sich um eine tiefe Ernüchterung darüber, wozu nicht nur Deutsche, sondern Menschen überhaupt fähig sind, eine Ernüchterung, die sich an der psycho-moralischen Transformierbarkeit von Menschen nachvollziehen lässt (vgl. oben Kap. 1, 2). Auch wenn also Deutsche allen Grund haben, die spezifisch deutschen Bezüge einer historisch-moralischen Scham zu beachten, so ist zugleich der Tatbestand festzuhalten, dass durch das Gesamtgeschehen des Holocaust mit Auschwitz als Schlussstadium so etwas wie Scham über die moralische Verfasstheit des Menschen als solchen, oder vielleicht besser seine moralische Unverfasstheit, seine prinzipielle moralische Transformierbarkeit ausgelöst wird. Insofern hat dieses Schamgefühl sowohl eine spezifisch deutsche als auch eine universelle Dimension. Es ist beeindruckend und berührend, dass dieses Gefühl von Scham auch von Auschwitz-Überlebenden artikuliert wird. So bei Primo Levi, der in seinem Buch Die Untergegangenen und die Geretteten ein gesondertes Kapitel mit dem Titel »Die Scham« überschreibt und darin das Gefühl einer Verstrickung in die 330
I. Kertész, Liquidation, a. a. O., S. 121 f.
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Schuld der Täter festhält, weil sich gezeigt habe, »daß der Mensch, das menschliche Geschlecht, also kurz gesagt: wir, potentiell in der Lage sind, unendliches Leid hervorzurufen […]« 331 Die beispielhafte Artikulation der Scham bei Primo Levi unterstreicht, dass die Zäsur von Auschwitz in ganz elementarer Weise zur Reflexion auf unser moralisches Selbstverständnis und die moralische Situation des Menschen in der Welt zwingt. Dieser Reflexion entspricht das öffentlich vertretene Geschichtsbewusstsein, das in Joschka Fischers Rede zum Ausdruck kommt und den dargelegten Zusammenhang von moralischem Selbstverständnis, historischer Gegenwart, historischer Verantwortung und kollektiver Scham artikuliert. 332 Da man Geschichtsbewusstsein nicht verordnen kann und nicht zu erwarten ist, dass alle Deutschen den genannten Thesen zustimmen, bleibt nur die öffentliche Auseinandersetzung um ein angemessenes Geschichtsbewusstsein, das die Bedeutsamkeit von Ereignissen ordnet. Insofern geht es auch um durchaus strittige Konstruktionen »öffentlicher Erinnerung«. 333 Freilich: Das Fo-
P. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1990, S. 86. Vgl. dazu (oben 1.1) die »metaphysische Schuld« bei Karl Jaspers. Treffend zur Parallele von Levi und Jaspers auch: T. Todorov, Angesichts des Äußersten, München 1993, S. 287. Sehr eindringlich auch das Fazit von Rudolf Vrba, der 1944 aus Auschwitz fliehen konnte und mit den »Auschwitz-Protokollen« authentische Informationen zur Vernichtung der Juden weitergab: R. Vrba, Ich kann nicht vergeben. Meine Flucht aus Auschwitz, Frankfurt/M./Darmstadt 2010, S. 450: »Auschwitz ist eine Lehre für die ganze Welt, eine Warnung, die die Menschen jeglicher Herkunft genauestens zur Kenntnis nehmen sollten […] Gewiss, es waren die Nazis, die diese Todesfabriken schufen, doch mit teutonischer Gründlichkeit demonstrierten sie damit gleichzeitig, wie tief der Mensch sinken kann.« Zur Einschätzung der »Auschwitz-Protokolle« in der historischen Forschung: Bauer, dunkle Geschichte, a. a. O., Kap. 10. 332 Dem könnte der Aspekt der »kollektiven Trauer« hinzugefügt werden. Vgl. dazu: B. Liebsch/J. Rüsen (Hg.), Trauer und Geschichte, Köln/Weimar/ Wien 2001. 333 Ganz entsprechend konstatieren Historiker einen »public turn« der Zeitgeschichte: M. Sabrow/R. Jessen/K. Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte, München 2003, Einleitung, S. 15. 331
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Historische Verantwortung nach Auschwitz
rum öffentlichen Geschichtsbewusstseins setzt immer schon die individuelle Fähigkeit und die Bereitschaft voraus, aktiv oder passiv daran teilzuhaben. Wer vom 2. Weltkrieg oder Auschwitz noch nie etwas gehört hat oder kein Interesse daran hat, sich damit zu befassen, verschließt sich einem Begriff von historischer Gegenwart und verzichtet auf den Zugang zu dem für seine Zeit dominanten geschichtlichen Bedeutungsraum. Natürlich sind dabei unterschiedliche individuelle Konstellationen zu berücksichtigen. Jugendliche Ignoranz gegenüber Geschichte ist etwas anderes als eine verhärtete Abwehrhaltung Erwachsener, die nur das Gedeihen ihres Schrebergartens interessiert. Das führt zurück auf die Relevanz von moralischer Zeitgenossenschaft (vgl. oben 1.3), ohne die kein Zugang zum jeweils im Fokus stehenden geschichtlichen Bedeutungsraum beschreibbar ist. Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, keinen Zugang haben oder finden, verlieren dadurch zwar nicht ihren moralischen Status als individuell zu respektierende Personen, sie entziehen sich jedoch einer moralischen Zeitgenossenschaft, die das moralische Selbstverständnis ihrer Umwelt sehr stark prägt. Gesetzt den Fall, dass die mangelnde Fähigkeit zu moralischer Zeitgenosenschaft ein gewisses Ausmaß annimmt, würde eine Situation eintreten, die auf das oben aufgestellte Kriterium von historischer Verantwortung bzw. Verantwortungslosigkeit zurückführt: die Weigerung oder die Unfähigkeit sich auf die historische Gegenwart von Geschehnissen einzulassen, die unser moralisches Grundverständnis elementar berühren. Die Möglichkeit des Verweigerns oder der Nichtbeachtung von historischer Gegenwart, die Gefahr sukzessiver Geschichtslosigkeit, verweist darauf, welcher systematische Ort einem rationalen Begriff von historischer Verantwortung zukommt: Es ist der Ort einer politischen Ethik, die zu einem ihrer wichtigen Bestandteile die Bearbeitung des Zusammenhangs von moralischem Selbstverständnis und historischer Gegenwart hat. Hinzu kommt die Aufgabe, diesen Zusammenhang deutlich darzulegen, um die einschlägige Öffentlichkeit und die politische Klasse mit kritischen Maßstäben zu begleiten oder zu konfrontieren. Dabei handelt es sich um einen dynamischen Prozess, der es ausschließt, die Ord247 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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nung unseres geschichtlichen Bedeutungsraums ein für allemal zu fixieren. 334 Die Ordnung dieses Bedeutungsraums – und damit unser Begriff von Geschichte – ist als permanente vielschichtige Kommunikation zwischen kulturellen wie politischen Eliten und Bürgern oder gesellschaftlichen Gruppierungen zu verstehen. Nur im Rahmen einer solchen Kommunikation macht ein Begriff von historischer Verantwortung Sinn und nur in diesem Rahmen lässt sich der Begriff von historischer Verantwortung in eine individuelle und kollektive Bedeutung differenzieren. Als Teilnehmer an der Auseinandersetzung um unseren geschichtlichen Bedeutungsraum lassen sich Individuen als historisch verantwortungsvoll oder verantwortungslos bewerten, wobei klar sein sollte, dass diese Bewertungen einem kontroversen Prozess der Urteilsbildung unterliegen, in dem auch graduelle Abstufungen in ein Mehr oder Weniger möglich sind. Dabei können Gegenstand der Bewertung Ereignisse wie etwa die Beteiligung der deutschen Wehrmacht an Kriegsverbrechen und Völkermord werden. Ebenso kann es um Konsequenzen bei der Strafverfolgung entsprechender Verbrechen gehen bis hin zu Entscheidungen der Gesetzgebung über die Nicht-Verjährung von Straftatbeständen (vgl. unten: Historische Verantwortung und Recht). Wer über kein Geschichtsbewusstsein verfügt, um Teilnehmer eines solchen Diskurses sein zu können, fällt aus der Bewertungsdichotomie »verantwortungsvoll/verantwortungslos« heraus. Er ist historisch ahnungslos, kein moralischer Zeitgenosse in Begriffen von historischer Verantwortung, da er sich außerhalb möglicher Bewertungsalternativen bewegt. Für eine politische Einheit wie eine staatlich verfasste Nation ist das ausgeschlossen, da es auf dieser Ebene schon immer einen Bedeutungsraum gibt, der in der geschichtlichen Wirklichkeit
In Übereinstimmung damit steht die These einer »aktiven Historisierung« geschichtlicher Ereignisse in einer neueren Untersuchung zu verschiedenen Modellen von historischer Verantwortung: J. Tillmanns, Was heißt historische Verantwortung?, Bielefeld 2012, S. 24.
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Historische Verantwortung nach Auschwitz
eine kollektive Herausforderung darstellt. 335 In diesem Sinn betont Aleida Assmann die »Unfreiwilligkeit und Unverfügbarkeit« im Umgang mit dem »langen Schatten der Vergangenheit«, den man nicht einfach abschütteln kann. 336 Der klarste Sinn, der daher einem kollektiven Begriff von historischer Verantwortung gegeben werden kann, besteht darin, dass die Bewertungsdichotomie »historisch verantwortungsvoll/historisch verantwortungslos« auf die Qualität der Ordnung des geschichtlichen Bedeutungsraums bezogen wird, der auf der Ebene geschichtlich-politischer Einheiten angesiedelt ist. Die Qualität der entsprechenden Ordnung ist abhängig von dem aufgewiesenen dynamisch-kommunikativen Prozess, der wandelbar bleibt. Als Orientierungsmaßstab für historische Verantwortung ist daher die Qualität der moralischen Selbstreflexion anzusetzen, die ein Kollektiv aufzubringen imstande ist. In dem Maße, in dem eine durch historische Erfahrung angestoßene Selbstreflexion zur Selbstverpflichtung führt, das Ausmaß an unmenschlichen Taten und das begangene Unrecht offenzulegen und daraus politische und rechtliche Konsequenzen zu ziehen, wird ein Kollektiv seiner historischen Verantwortung gerecht – oder auch nicht. Als eine Folgerung hieraus kann dem viel diskutierten Begriff der Kollektivschuld eine Deutung unter dem Gesichtspunkt von historischer Verantwortung gegeben werden. Denn, so kann man sagen, je fragwürdiger die moralische Qualität der Ordnung des geschichtlichen Bedeutungsraums durch die Mitglieder eines Kollektivs beschaffen ist, desto berechtigter lassen sich Vorwürfe der historischen Komplizenschaft mit vergangenem Unrecht vorbringen. Je berechtigter solche Vorwürfe, desto berechtigter der Vorwurf der historischen Schuld und damit der Kollektivschuld. Auf diese Weise lässt sich die Rede von Kollektivschuld auf die Missachtung von historischer Verantwortung zurückführen. 337 Vgl. H. Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München 1999. 336 A. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 16. 337 Vgl. hierzu Schlink, Vergangenheitsschuld, a. a. O., S. 97 ff. Ein ein335
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Politik und Historische Verantwortung nach Auschwitz
Zur weiteren Differenzierung wende ich mich der Frage einer Generationen übergreifenden historischen Verantwortung zu. Dabei ist für die NS-Zeit und den Holocaust zu beachten, dass die Kontinuität mit der Generation der Täter, Mitläufer und Tolerierer durch moralische Verwerfungen gekennzeichnet ist. Die empirisch vorliegende Generationenfolge ist zugleich von moralischen Abgrenzungen und insofern von Diskontinuität geprägt. Darin kommt zum Ausdruck, dass ohne explizite moralische Maßstäbe die intergenerationelle Herausforderung der deutschen Geschichte nicht thematisiert werden kann und unbestimmte Begriffe von »deutscher Identität« untauglich sind. Das gilt umso mehr, als mit dem Zusammenbruch der DDR ein gesondertes Themenfeld von historischem Unrecht zur Debatte steht, das erneut nach moralisch-politischen Maßstäben und historischer Differenzierung verlangt. Dem entspricht der Tatbestand, dass jede Generation vor der Aufgabe steht, ihr Verständnis von historischer Verantwortung selbst zu finden und sich damit entsprechenden Bewertungen auszusetzen. Für die Nachkommen der NS-Tätergeneration (2. Generation) gelten dabei andere Kriterien wie für die dritte und folgende Generationen. Es ist nicht möglich, einen Begriff von historischer Verantwortung Generationen übergreifend festzuschreiben, genau so wenig wie es möglich ist, ein Erinnerungsparadigma an den Holocaust als historisch unwandelbar darzulegen (vgl. unten). Zudem bedarf der Generationenbegriff der Analyse, in der die Prozesse von Vergemeinschaftung zu einer Generation genauer zu klären sind. Ein gut nachvollziehbares Beispiel für die Kennzeichnung einer Generation liegt auf-
leuchtender Vorschlag zum Verständnis von Kollektivschuld auf Basis eines individualistischen Verantwortungsbegriffs findet sich bei M. Schefczyk, Verantwortung für historisches Unrecht, Berlin/New York 2011, S. 140– 179. Problematisch bleibt dagegen der an John Locke orientierte systematische Ansatz bei überhistorischen »natürlichen Rechten«. Näher dazu: R. Zimmermann, »Die moralische Last der Geschichte. Rezension zu M. Schefczyk«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59/2011/H. 6, S. 955–960.
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Historische Verantwortung nach Auschwitz
grund ihrer politischen Sozialisation mit der 68er Generation als der 2. Generation nach den NS-Tätern vor. 338 Die aufgezeigten Komponenten der qualitativen Ordnung des geschichtlichen Raums reproduzieren sich unter retrospektiven wie prospektiven Gesichtspunkten im Kontext jeweiliger Gegenwart. Ein Automatismus von historischer Verantwortung ist ausgeschlossen, so dass weder Abstammung noch nationale Zugehörigkeit einfache Kriterien liefern. Es gibt kein Geschichtsgen »deutsche Identität« ebenso wenig wie ein Moralgen »historische Verantwortung«. Letztlich zählt nur eine moralisch gefasste Selbstreflexion der deutschen Geschichte aus der Ich- und WirPerspektive. 339 Das wird unterstrichen durch die ethnische Vielschichtigkeit von Menschen, die als Zuwanderer die deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben oder künftig erwerben werden. Ihre Integration steht gleichermaßen unter nicht beliebigen Bedingungen der deutschen Geschichte, wie vermittelt auch immer diese für deutsche Neubürger zugänglich sein mögen. Insofern muss offenbleiben, wieweit sich »altnationale« Selbstverständnisse mit »neudeutschen« Identitätsfindungen im Rahmen der politischen Ordnung Deutschlands zusammenfügen. So kommt der Rede von kollektiver deutscher Identität nur dann eine akzeptable Bedeutung zu, wenn sie eingebunden bleibt in qualitative Charakterisierungen, die wir als Deutsche zur Selbstinterpretation unseres geschichtlichen Bedeutungsraums zum Tragen bringen. Zur Rede von kollektiver Identität gehört unverzichtbar die Bestimmung des moralischen Selbstverständnisses dieser Identität.
U. Herbert, »Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert«, in: J. Reulecke (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 95–114. 339 Eindringlich dazu: A. Grosser, Vergangenheitsbewältigung, Jena 1994, S. 28. 338
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Politik und Historische Verantwortung nach Auschwitz
Historische Verantwortung im Vergleich Wieweit sind die am Nationalsozialismus und Holocaust orientierten Überlegungen zur historischen Verantwortung verallgemeinerbar? Sie sind es in der Weise, dass auch andere Nationen sowohl aus der Perspektive ihrer Bürger wie auch aus unserer Perspektive vor vergleichbaren Problemlagen der historischen Verantwortung stehen. Dabei ist der Holocaust als prägendes Ereignis bereits in die Kennzeichnung anderer geschichtlicher Desaster eingegangen. So ist von »rotem Holocaust« die Rede, wenn es um Kontroversen zur Deutung der Verbrechen des Kommunismus geht 340 ; das von Japanern verübte Massaker von Nanking (1937/38) wird als »pazifischer Holocaust« diagnostiziert 341 ; das an den süd- und nordamerikanischen Ureinwohnern begangene Unrecht wird unter dem Titel des »amerikanischen Holocaust« untersucht 342 ; für die Versklavung der schwarzen Afrikaner verwenden manche Autoren die Bezeichnung »schwarzer Holocaust« (oder ›Maafa‹) 343 ; Der Völkermord an den Armeniern (1915) wird in eine Vergleichsperspektive mit dem Holocaust gerückt, wobei bemerkenswert ist, dass schon seinerzeit die Bezeichnung ›Holocaust‹ in der New York Times, bei Winston Churchill und anderen auftaucht. 344 Nicht zuletzt ist vom »nuklearen Holocaust« in Bezug auf Hiroshima die Rede. 345 Bereits diese Aufzählung zeigt, dass es unumgänglich ist, die jeweiligen Ereignisse differenziert zu betrachten, um zu vermeiden, dass die Verwendung des TermiH. Möller (Hg.), Der rote Holocaust und die Deutschen. Die Debatte um das ›Schwarzbuch des Kommunismus‹, München 1999. 341 J. Fogel (Hg.), The Nanjing Massacre in history and historiography, Berkeley/Los Angeles/London 2000, S. 118. 342 D. E. Stannard, American Holocaust, Oxford 1992. 343 Th. Reinhardt, Geschichte des Afrozentrismus. Imaginiertes Afrika und afroamerikanische Identität, Stuttgart 2007, S. 151. 344 H.-L. Kieser, »Die Armenierverfolgungen in der spätosmanischen Türkei. Neue Quellen und Literatur zu einem unbewältigten Thema«, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 1/2001; H.-L. Kieser/D. J.Schaller (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah, Zürich 2002. 345 F. Coulmas, Hiroshima. Geschichte und Nachgeschichte, München 2005, S. 7, 30, 87 etc. 340
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nus ›Holocaust‹ zu einer unangemessenen Nivellierung führt. Die »metaphorische Kraft des Holocausts« ist das eine 346, die Betrachtung der Besonderheiten des jeweiligen Geschehens das andere. Nur aus der letzteren kann die moralische Beurteilung deutlich werden, die auf die Anforderungen von historischer Verantwortung zurückwirkt. Es ist hier nicht der Ort, um alle angeführten Ereignisse zu diskutieren. Ich beschränke mich daher darauf, unter dem Gesichtspunkt der historischen Verantwortung auf den Holocaust und Holodomor zurückzukommen und füge kontrastierend das Ereignis Hiroshima hinzu. Zum Holocaust ist deutlich geworden, wie die führenden Protagonisten des NS die Judenverfolgung vorangetrieben und an den Vernichtungsstätten in Auschwitz und anderen Orten mit tödlicher Konsequenz umgesetzt haben. Die NS-Moral als normativer Rahmen dieses Geschehens führt so zu einem moralischen Gattungsbruch, dem ein Gattungsversagen korrespondiert, das aus der vom NS bewirkten moralischen Transformation auf allen gesellschaftlichen Ebenen und dem Verlust an moralischem Widerstandspotenzial resultiert. Die moralische Verurteilung des Holocaust nach Maßgabe der universalistischen Moral der Menschenrechte und die politische Neuordnung Deutschlands nach 1945 geben den Rahmen ab, um der oben bestimmten historischen Verantwortung gerecht zu werden. Beim Holodomor ist hervorzuheben, dass der Hungertod nicht durch eine Naturkatastrophe herbeigeführt wurde, sondern das Werk der bolschewistisch-stalinistischen Führung und ihrer Kader war, die im Namen einer Kulturrevolution des Neuen Menschen zu einem Soziozid bereit waren. Dieser Soziozid und andere tödliche Ausgrenzungen von Klassenfeinden aus der Gesellschaft sprechen bestimmten Gruppen von Menschen das Existenzrecht ab und negieren so die Gattungsallgemeinheit. Die moralische Verurteilung der Untaten unter der stalinistischen Herrschaft nach Maßgabe der Menschenrechte ist eine Sache – die moralische Verarbeitung der Zeit des Stalinismus in der ehemaligen D. Levy/N. Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt/M. 2007 (Aktualisierte Neuausgabe), S. 13.
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Sowjetunion, die Phase ihrer »Entstalinisierung« und die Diskussion der Nachwirkungen des Stalinismus bis in die Gegenwart des heutigen Russland eine andere. Fragen zur historischen Verantwortung sind in Russland bis heute kontrovers. Welche Probleme sich dabei ergeben, zeigt exemplarisch die Tatsache, dass bis heute kein Prozess gegen einen stalinistischen Massenmörder durchgeführt wurde und dass der Prozess gegen die kommunistische Partei der Sowjetunion im Jahre 1993 als »juristische Farce« endete. 347 Die von Alexander Jakowlew, dem Vordenker von Perestroika und Glasnost, erhobene Forderung nach einer »Entbolschewisierung« der russischen Gesellschaft und der Aufarbeitung sämtlicher Untaten des Bolschewismus scheint nach wie vor weit von der Einlösung entfernt. 348 Vor dem Hintergrund der Besonderheiten des Holocaust und des Holodomor wird deutlich, dass der Abwurf der Atombombe auf Hiroshima keine Einordnung unter den Begriffen eines Genozids oder Soziozids zulässt. Zu Recht kann man dem damaligen amerikanischen Präsidenten Truman und seine engsten Beratern vorwerfen, ein Kriegsverbrechen begangen zu haben, doch das ist etwas anderes, als den Vorwurf eines Genozids zu erheben. Die Rede von einem »nuklearen Holocaust« scheint plausibel, wenn man sich an der Wortbedeutung von ›holocaustos‹ im Sinne von ›ganz verbrannt‹ orientiert und den schrecklichen Brandtod der unmittelbar von der Bombe betroffenen Opfer in den Fokus rückt. 349 Doch diese Lesart ist von der Einschätzung der Motivation der für diesen Tod Verantwortlichen zu unterscheiden. Hinzu Koenen, Utopie, a. a. O., S. 429. A. Jakowlew, »Der Bolschewismus, die Gesellschaftskrankheit des 20. Jahrhunderts«, in: St. Courtois et al., Das Schwarzbuch des Komunismus 2, München 2004, S. 176–236, insbes. S. 190–192, 225. Hierbei handelt es sich um die Übersetzung des Vorworts zur russischen Ausgabe von Courtois, Schwarzbuch, a. a. O. 349 Selbst der israelische Außenminister Shimon Peres sprach im Mai 1994 im UN-Hauptquartier von zwei Holocausts, dem jüdischen und japanischen, da Nuklearbomben wie »fliegende Holocausts« seien. Quelle: M. Kittel, Nach Nürnberg und Tokio. ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Japan und Westdeutschland 1945 bis 1968, München 2004, S. 42. 347 348
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kommt der moralische Hintergrund der Verantwortlichen als Mitglieder der universalistischen Tradition des Westens. Auch an dem Atombomben-Projekt beteiligte Wissenschaftler beriefen sich in ihren Warnungen vor dem Abwurf der Bombe auf diese Tradition. Dennoch glaubte die amerikanische Führung, den atomaren Schlag führen zu müssen, um den Krieg gegen Japan zu beenden, keineswegs aber sollte das japanische Volk vernichtet werden. So schwer das Kriegsverbrechen wiegt, so wenig kann es als Genozid beurteilt werden. Die Kontroversen zur Analyse der Bombardierung von Hiroshima (und Nagasaki) in der historischen Forschung halten an, doch weist Michael Walzer zurecht darauf hin, dass Truman sich nicht mit dem Hinweis, der Krieg sei der »eigentliche Übeltäter«, der Verantwortung entziehen kann. 350 Dem entspricht, dass Anthony C. Grayling in seiner Kritik der alliierten Bombardements, die Hiroshima einschließt, feststellt, dass es bis heute zur offiziellen Doktrin der US Air Force gehört, dass die »Moral der Zivilbevölkerung« ein legitimes Angriffsziel sei, um durch Schwächung des Kampfeswillens einen militärischen Vorteil zu erlangen. Zu Recht führt er dies als Beleg dafür an, dass die USStreitkräfte immer noch in Kategorien des Zweiten Weltkriegs denken und Doktrinen aufrecht erhalten, die nicht durch die Genfer Abkommen zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten gedeckt sind. 351 Das unterstreicht, wie wichtig es unter Zukunftsperspektiven ist, die Fragestellung der historischen Verantwortung zum festen Bestandteil der öffentlichen Debatte zu machen. Wie viel Arbeit hier noch im Fall der USA zu tun ist, zeigt der Recht-
M. Walzer, Gibt es den gerechten Krieg?, Stuttgart 1982, S. 378, 382. Ebenso kritisch zu Hiroshima: J. Rawls, »Fifty Years after Hiroshima«, in: Rawls, Collected Papers, Cambridge/Mass. 1999, S. 565–572. 351 A. C. Grayling, Die toten Städte. Waren die alliierten Bombenangriffe Kriegsverbrechen?, München 2007, S. 313. Zum Folgenden ebd., S. 312 ff. sowie die leitenden Überlegungen der Einleitung, S. 13 ff. Das Schlusszitat S. 313. Vgl. zur Gesamtdiskussion der Literatur zu den alliierten Bombenangriffen und zur Bekräftigung der Sichtweise Graylings: S. Lindqvist, »Der Bombentraum«, in: Lettre International 76/2007, S. 16–25. 350
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fertigungsmythos zu Hiroshima, der bis heute die amerikanische Mehrheitsmeinung beherrscht. Die Untersuchung von Grayling kann nicht nur zu Hiroshima exemplarisch für das Zusammenspiel von nationaler Perspektive und verallgemeinerungsfähiger moralischer Einsicht im Sinne historischer Verantwortung stehen. Bewusst stellt Grayling seine Perspektive heraus: »Als ich dieses Buch schrieb, wollte ich die Sache nur vom Standpunkt eines Angehörigen der Siegermächte aus betrachten, der von den Früchten dieses Sieges profitierte, aber hofft, dass trotz des großen historischen Abstands das Unrecht, welches im Verlauf des Krieges begangen wurde, offen eingestanden werden kann.«
Grayling bezeichnet das Unrecht der alliierten Flächenbombardements (Hauptbeispiel Hamburg, Juli/August 1943), als »moralisches Verbrechen«. Dabei stellt er klar, dass dieses Urteil nicht bedeutet, die alliierten Kriegsverbrechen als genauso schwerwiegend wie den Holocaust einzuschätzen. Mit dieser Abwägung formuliert Grayling nicht nur aus britischer, sondern auch aus deutscher Sicht eine angemessene Ordnungsvorstellung des geschichtlichen Bedeutungsraumes, die den unterschiedlichen historischen Perspektiven im Rahmen eines allgemeinen Kriteriums historischer Verantwortung Rechnung zu tragen erlaubt. Die Legitimation der Kritik an anderen ist umso nachvollziehbarer, je geringfügiger die Versäumnisse bei der Wahrnehmung der eigenen historischen Verantwortung ausfallen. Wenn man sich als Deutscher die Interpretation des Holocaust vor Augen führt, die ich oben dargelegt habe und die Relevanz berücksichtigt, die daraus für das Verständnis von kollektiver historischer Verantwortung folgt, dann sind die Voraussetzungen gegeben, um Graylings Resultate auch aus deutscher Perspektive in eine Kritik der mangelnden Wahrnehmung historischer Verantwortung durch die Alliierten aufzunehmen. Damit ist der Weg bezeichnet, wie historische Aufarbeitung und moralische Maßstäbe ineinander greifen können. Wichtig jedoch bleibt, das spezifische Gewicht der geschichtlichen Ereignisse, die jeweils zur Debatte 256 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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und Aufarbeitung anstehen, detailliert zu erfassen und zu bewerten. Leichtfertige Nivellierungen oder verharmlosende gegenseitige Aufrechnungen sind fehl am Platze. Daher kann man nur zustimmen, wenn Grayling festhält: »Wir schulden es unserer Zukunft, uns Klarheit über die Vergangenheit zu verschaffen.« 352
Historische Verantwortung und Recht Historische Verantwortung ernst zu nehmen, bedeutet, Konsequenzen auf der Ebene des Rechts zu ziehen. Ich beschränke mich auf einige zentrale Gesichtspunkte zu diesem Problemfeld, dessen Relevanz bis in die Gegenwart hineinreicht und die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft unterstreicht. Völkerrecht, nationales wie internationales Strafrecht sowie Rechtsfragen zur Entschädigung von Opfern spielen dabei eine Rolle. Für das Völkerrecht wurde der von Raphael Lemkin eingeführte Begriff des Genozids, der bei der ganzen oder teilweisen Vernichtung eines Volkes oder ethnischen Gruppe ansetzt, wegweisend. Dieser Begriff hat Eingang in die UN-Völkermordkonvention von 1948 gefunden (Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide), die Bestimmungen zur nationalistisch, rassistisch, religiös oder ethnisch motivierten Vernichtung von Völkern oder Gruppen enthält. Die Verabschiedung der UN-Konvention ist Resultat eines politischen Kompromisses, dessen Details Anlass zu Klarstellungen und wissenschaftlichen Analysen geben. 353 Wichtig ist, dass die Konvention die Grundlage für strafrechtliche Verfolgung im nationalen wie internationalen Rahmen bildet. Wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (vgl. oben 2.3) steht die Genozid-Konvention in direktem Zusammenhang Vgl. zur weiteren Diskussion: E. Barkan, The Guilt of Nations, New York 2000, S. VIII ff.; E. Barkan/A. Karn, »Group Apology as an Ethical Imperative«, in: Barkan/Kam (Hg.), Taking Wrongs Seriously, Stanford 2006, S. 3–30. 353 Umfassend dazu: W. A. Schabas, Genozid im Völkerrecht, Hamburg 2003. 352
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mit den Verbrechen des Nationalsozialismus, insbesondere des Holocaust. Die Genozid-Konvention legt die Bestrafung von Völkermord primär in die Verantwortung der Gerichtsbarkeit der Staaten, in denen die Untaten begangen wurden, doch ist die Entwicklung zu einer internationalen Strafgerichtsbarkeit in der Konvention angelegt. Diese fand schließlich ihr institutionelles Resultat im Rom-Statut (1998), das die Gründung des ständigen Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag ermöglichte (2002), der seine breite Legitimität auf über 120 Unterzeichnerstaaten des Gründungsstatuts, darunter Deutschland, stützt. In Den Haag können nur Einzeltäter wegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angeklagt werden. Voraussetzung einer Anklage ist außerdem, dass der Täter einem Unterzeichnerstaat des Statuts angehört und das betreffende Vergehen auf dem Territorium eines solchen Staates begangen wurde. Auch ein Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ermöglicht eine Anklage. Bei allen Problemen, die rechtliche Institutionen auf internationaler Ebene aufwerfen, verweist die Entwicklung auf die systematische Verbindung von historischer Verantwortung mit rechtlichen Verfahren, die unverzichtbar sind, um moralisch-politische Bekenntnisse zur Verantwortung mit konkreten Umsetzungen zu verbinden. Hinzu kommt, dass internationale Diskussionen zum Völkerrecht in den letzten Jahren immer stärker die Norm der Schutzverantwortung von Staaten für die auf ihrem Gebiet lebenden Menschen in den Vordergrund gerückt haben (responsibility to protect: R2P). Diese im Geist der Menschenrechte herausgestellte Norm zielt prospektiv auf das Einfordern von historischer Verantwortung für Staaten, die in dem Maß ihrer Souveränität verlustig gehen, in dem sie nicht willens oder in der Lage sind, minimalen Menschenrechtsschutz zu gewährleisten. Das damit umschriebene Problem betrifft auch die Frage von humanitären Interventionen, die auf der Ebene des UN-Sicherheitsrats permanent umstritten sind. Auf die sehr kontroverse philosophische Diskussion in dieser Frage kann hier nur verwiesen werden. Im Rahmen einer durch historische Erfahrung sensibilisierten Selbstverpflichtung zu historischer Verantwortung fällt es aber bei allen Vorbehalten 258 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
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schwer, prinzipiell gegen humanitäre Interventionen zu argumentieren. 354 In den nationalen Rahmen Deutschlands reicht die internationale Problematik der Strafgerichtsbarkeit dadurch unmittelbar hinein, als mit dem von den Alliierten durchgeführten Nürnberger Kriegsverbrecherprozess (1945/46) der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, der sich insbesondere auf die Verfolgung und Vernichtung der Juden sowie die Vernichtung »unwerten Lebens« bezog, eine wichtige Rolle spielte. Weitere Hauptpunkte waren Kriegsverbrechen sowie das neue Delikt des Verbrechens gegen den Frieden, das sich auf die Führung von Angriffskriegen bezieht. Der Prozess führte zu Todesurteilen, Freiheitsstrafen sowie Freisprüchen und fand seine Fortsetzung in weiteren Prozessen vor einem US-Gericht (1946–49: u. a. IG-Farben-Prozess, Wilhelmstraßen-Prozess, Prozess Oberkommando der Wehrmacht). Trotz juristisch strittiger Einzelprobleme wurden die Nürnberger Prozesse wegweisend für den Grundsatz, dass es für bestimmte Verbrechen keine Immunität geben darf, und dass Vertreter eines zum Zeitpunkt ihrer Taten souveränen Staates für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen werden können. 355 Spätere UNKriegsverbrechertribunale zu Jugoslawien oder Ruanda stehen ebenso wie das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in dieser Tradition. In Deutschland ist bei der weiteren rechtlichen Aufarbeitung der NS-Zeit und verschiedener Tätergruppen (SS, Wehrmacht, NSDAP, Konzentrations- und Vernichtungslager etc.) zwischen beispielgebenden Institutionen, Prozessen, rechtspolitischen Entscheidungen auf der einen Seite und dem quantitativen Defizit an rechtskräftigen Urteilen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Unbestritten sind die Verdienste der »Zentralstelle« zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen (Ludwigsburg: ab 1958) sowie der herausragende Stellenwert des
W. Hinsch/D. Janssen, Menschenrechte militärisch schützen. Ein Plädoyer für humanitäre Interventionen, München 2006. 355 A. Weinke, Die Nürnberger Prozesse, München 2006. 354
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»Auschwitz-Prozesses« unter Leitung von Fritz Bauer (Frankfurt 1963–65), dem weitere folgten. Hinzu kommt die rechtspolitische Entscheidung des Deutschen Bundestags, mit Blick auf die Verbrechen der NS-Zeit Verjährungsfristen für Mord aufzuheben (1979). Dem steht die schwache Bilanz von Strafverfahren gegenüber, die zu einer Verurteilung von Angeklagten geführt haben. 356 Das ist nicht nur aus dem Schuldstrafrecht zu erklären, das auf individuelle Vorwerfbarkeit von Taten (mens rea) und deren Nachweis abhebt, sondern auch aus dem gleichermaßen von NS-Gedankengut wie Tendenzen zur Verdrängung der NS-Zeit bestimmten Zustand der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Damit wurde einem Täterschutz – auch in Rechtswissenschaft und Justiz – Vorschub geleistet. In der Zeit des Kalten Kriegs und der Konzentration auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau wurde die Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung zurückgedrängt. Dazu trug auch die scheinbare Normalität bei, dass frühere NS-Parteigänger in den Bundeskabinetten von Konrad Adenauer saßen und der spätere Kanzler Kurt Georg Kiesinger NSDAP-Mitglied war. Der konfliktreichen Herausbildung einer angemessenen Selbstverpflichtung zur historischen Verantwortung (vgl. oben) entspricht so der langwierige und schmerzhafte Weg zum Verzicht auf eine »Schlussstrich-Mentalität«, der es ermöglichte, bei einer Mehrheit der Bevölkerung die Einsicht voranzubringen, dass ohne konsequente Strafverfolgung der Täter die moralische Verurteilung der NS-Verbrechen unglaubwürdig bleiben musste. Nach dem Kalten Krieg, der deutschen Wiedervereinigung und der veränderten Situation in Osteuropa ergab sich eine neue Qualität für den Zusammenhang von historischer Verantwortung und A. Eichmüller, »Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945. Eine Zahlenbilanz«. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 56(4), 2008, S. 621–640. Ein »alles in allem respektables Ergebnis« der Auseinandersetzung mit dem NS in Politik und Justiz sieht: P. Reichel, »Der Nationalsozialismus vor Gericht und die Rückkehr zum Rechtsstaat«, in: P. Reichel/H. Schmid/P. Steinbach (Hg.), Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte, München 2009, S. 22–61.
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rechtlicher Bearbeitung der NS-Zeit, die sich bereits während der Zwei-plus-vier-Verhandlungen zur deutschen Einheit abzeichnete. Es entwickelte sich eine neue Tendenz der Europäisierung des Holocaust, die zur Berücksichtigung von schwerstverfolgten jüdischen Opfern in Mittel- und Osteuropa sowie in anderen Ländern führte. In deren Folge wurde ein Entschädigungsfond geschaffen, der von der Jewish Claims Conference verwaltet wird. 357 Große Bedeutung haben darüber hinaus Holocaust-Entschädigungsprozesse, die in den 1990er Jahren vor US-amerikanischen Bundesgerichten angestrengt wurden. Diese Prozesse gingen von Holocaust-Überlebenden aus, die Ansprüche auf Restitution von Guthaben auf Schweizer Banken erhoben. Dem folgten Forderungen gegen Banken in anderen Ländern sowie Ansprüche aus Lebensversicherungen und auf Entschädigung für Sklaven- und Zwangsarbeit gegen deutsche und andere Privatunternehmen. Die eingereichten Klagen führten zu hohen Entschädigungszahlungen, ohne dass die Beklagten eine formelle Rechtspflicht anzuerkennen hatten. Schweizer Banken erklärten sich zur Zahlung von 1,25 Milliarden US-Dollar bereit, in Deutschland wurde eine Stiftung geschaffen, die unter hälftiger Beteiligung der Bundesregierung und deutscher Unternehmen auf 10 Milliarden DM kam. Die Besonderheit dieser Entwicklung besteht darin, dass das amerikanische Zivilrecht die Institution der Sammelklage (class action) kennt, die es auf Grundlage des US-Bundesrechts ermöglicht, Klagen gegen schwere Menschenrechtsverletzungen zu bündeln und in transnationale Verfahren einzubringen. Auf diese Weise wurde die Problematik der rechtlichen Bearbeitung des Holocaust vom Strafrecht auf das Zivilrecht verlagert. Dabei zeigte sich, dass die zivilrechtlichen Verfahren weit besser als das Strafrecht in der Lage waren, die Komplizenschaft von Unternehmen mit NS-Verbrechen sowie die bürokratische Dimension des Holocaust in den Griff zu bekommen. Damit konnten bestehende Lücken in der Holocaust-Rechtsprechung geschlossen werden. C. Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005, S. 413–475.
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Abgesehen von juristischen Detailfragen werfen die Entschädigungsprozesse nicht nur ein historisch aufschlussreiches Licht auf das Ineinandergreifen von Staat, wirtschaftlichen Unternehmen und Zivilbevölkerung bei massenhaft vollzogenen Verbrechen an Juden und anderen Opfern. Sie trugen darüber hinaus zum Wandel kollektiver Gedächtnisse in Deutschland, Österreich und der Schweiz (Bergier-Kommission) bei und machten die Ebenen der Mitverantwortung für vergangenes Unrecht weit transparenter als zuvor. 358 Insofern hat ein verändertes juristisches Paradigma der Holocaust-Rechtsprechung zur Vertiefung geschichtlicher Einsichten beigetragen und unterstreicht die bereits aufgeführte Dynamik zur Übernahme historischer Verantwortung. Im Gebiet der Rechtsfragen wird diese Dynamik so lange nicht zum Erliegen kommen, als Restitutionsansprüche weiterer Bearbeitung bedürfen (z. B. geraubte Kunstgegenstände). Ein kurzer Ausblick auf die Bedeutung der Sammelklage nach amerikanischem Recht mag das an anderen Tatbeständen unterstreichen. In den USA wird in den letzten Jahren verstärkt die Frage von Reparationen für die Zeit der Sklaverei diskutiert, wobei dem Rechtsinstrument der Sammelklage gegen Firmen, aber auch Privatuniversitäten, eine wichtige Rolle zukommt. Das kann zu einer umfassenden gesellschaftlichen Bestandsaufnahme der Sklaverei und ihren bis heute in den Vereinigten Staaten verdrängten Folgen beitragen. 359 Dabei erweist sich die Sammelklage als Medium der moralischen Argumentation im Interesse einer kritischen Selbstreflexion der amerikanischen Gesellschaft, die
L. Bilsky, »Zwischen Washington und Berlin. Transnationale HolocaustEntschädigung«, in: J. Brunner/C. Goschler/N. Frei (Hg.), Die Globalisierung der Wiedergutmachung. Politik, Moral, Moralpolitik, Göttingen 2013, S. 175–227. 359 Umfasend dazu: M. T. Martin/M. Yaquinto (Hg.), Redress for historical injustices in the United States. On reparations for Slavery, Jim Crow, and their legacies. Durham 2007. Vgl. aus philosophischer Sicht: Th. McCarthy, »Vergangenheitsbewältigung in den USA. Zur Moral und Politik der Reparationen für Sklaverei«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52/6/ 2004, S. 847–867. 358
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u. a. dem Ziel dienen soll, den von großer Armut gezeichneten Nachkommen von Sklaven Entschädigungen zu verschaffen. Analogien dazu zeigen sich bei der Aufarbeitung der Apartheid in Südafrika, wo die »Wahrheitskommission« (Truth and Reconciliation Commission) nicht auf individuelle Schuldnachweise abhob, sondern sich auf die Erforschung von historischer Wahrheit konzentrierte. Im Kontext der Kommission wurde jedoch die Khulumani Support Group gegründet, die darauf besteht, dass die Bemühungen zur Versöhnung von Reparationen begleitet werden müssen, die wiederum über Sammelklagen nach USRecht gegen Firmen (darunter Daimler, IBM etc.) als Profiteure der Apartheid eingeklagt werden sollen. Auch hier ist eine offene Dynamik zur rechtlichen Verfestigung von historischer Verantwortung zu konstatieren.
Deutsche Erinnerungskultur im Wandel Das Berliner Holocaust-Denkmal steht gleichermaßen für das Gedenken an die jüdischen Opfer wie für den politischen Willen, der deutschen historischen Verantwortung gerecht zu werden. Damit symbolisiert es zugleich eine Erinnerungskultur, die der stetigen Fortentwicklung bedarf und nicht frei von Kontroversen gesehen werden kann. Dazu gehört auch der Bezug auf die internationale Entwicklung der Holocaust-Erinnerung, die ein gesondertes Untersuchungsfeld darstellt. 360 Der herausragende Stellenwert des Berliner Denkmals zeigt sich im politischen Meinungsstreit der Gegenwart daran, dass es rechtsnationale oder neonazistische Kritik hervorruft, die für die Arbeit an historischer Verantwortung eine ständige Herausforderung abgibt. Am »Ort der Information« des Denkmals wird jedem Besucher die Möglichkeit eröffnet, das Geschehen des Holocaust nachzuvollziehen und Anregungen aufVgl. C. Fogu/W. Kansteiner/T. Presner (Hg.), Probing the Ethics of Holocaust Culture, Cambridge/Mass./London 2016. Darin einleitend: W. Kansteiner/T. Presner, »Introduction: The Field of Holocaust Studies and the Emergence of Global Holcaust Culture«, S. 1–42.
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zunehmen, um sich weiter mit der Thematik zu beschäftigen. Das verweist auf den öffentlichen Gebrauch der historischen Forschung, die ihrerseits in einen gesellschaftlichen Prozess der Ordnung unseres geschichtlichen Bedeutungsraums eingebunden bleibt (vgl. oben). 361 So hat der von einem Nicht-Historiker, Jürgen Habermas, ausgelöste »Historikerstreit« zu einer in wichtigen Zeitungen ausgetragenen Kontroverse über die NS-Zeit und den Holocaust geführt. 362 Die Heftigkeit der seinerzeitigen Kontroverse, die Züge eines Kulturkampfes annahm, unterstreicht, wie um Deutungsmacht über nationale Geschichte gerungen werden kann. Inzwischen haben historische Forschungen nicht nur ein detailliertes Bild zum Nationalsozialismus und den Besonderheiten des Holocaust gezeichnet, sondern darüber hinaus auch eingehende Analysen zum Totalitarismus-Vergleich mit dem Stalinismus vorgelegt. Das fördert ein differenziertes Geschichtsbewusstsein ebenso wie die moralische Beurteilung. 363 Die kulturelle Aufgabe der historischen Forschung für eine breitere Öffentlichkeit besteht darin, bei immer wieder entstehenDie »Entortung der Holocausterinnerung« und ihre Kosmopolitisierung, die Daniel Levy und Natan Sznaider betonen, trägt dem berechtigten Anliegen der kosmopolitischen Öffnung eines moralischen Erfahrungsraums Rechnung, doch ist den Autoren durchaus bewusst, dass dabei die Rückbindung auf nationale Kontexte nicht verloren gehen darf: Levy/ Sznaider, Erinnerung, a. a. O., S. 62–64. Insofern steht das Holocaust-Denkmal für die Re-Verortung von Erinnerungen, ohne die das kulturell-moralische Gedächtnis nicht auskommt. Das zeigen auch Vergleiche zwischen Erinnerungskulturen: Ch. Cornelißen/L. Klinkhammer/W. Schwendtker (Hg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan, Frankfurt/M. 2003. 362 Vgl. zusammenfassend: T. Fischer/M. N. Lorenz (Hg.), Lexikon der ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007, S. 238–240. Detaillierter: O. Blaschke/J. Thiel, »Der Verband zwischen den Krisenjahren und der Rückkehr der Geschichte«, in: M. Berg/O. Blaschke/M. Sabrow/J. Thiel/K. Thijs, Die versammelte Zunft. Historikerverband und Historikertage in Deutschland 1893–2000, Göttingen 2018, Bd. 2, S. 532– 652, ebd., S. 592–602. 363 Vgl. oben unter 2.2: Geyer/Fitzpatrick (Hg.), Totalitarianism, a. a. O. 361
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den öffentlichen Kontroversen (»Goldhagen-Debatte«, »WalserBubis-Debatte« etc.), die hinreichend dokumentiert sind 364 , zu einem an Sachfragen orientierten Geschichtsbewusstsein beizutragen. Auch immer stärker werdende virtuelle Öffentlichkeiten und mediale Transformationen der Erinnerungskultur sind zu beachten. 365 Eine knappe Vergegenwärtigung von Diskussionen zur deutschen Erinnerungskultur gehört in diesen Zusammenhang. Neben gesellschaftskritischen Impulsen, die Adorno auszeichnen, war es insbesondere die richtungweisende Schrift Die Unfähigkeit zu trauern, mit der Alexander und Margarete Mitscherlich in der alten Bundesrepublik die Verdrängung der NS-Vergangenheit erfolgreich kritisiert haben. 366 Ob die damit unter einer quasi klinischen Diagnose angestoßene moralische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, speziell das Konzept von »Trauer«, noch tragfähig ist, bedarf sozialpsychologischer und psychoanalytischer Klarstellungen im Horizont der Gegenwart. 367 Ein wichtiger Anstoß zur Erinnnerungskultur ist sicherlich auf die Rede zurückzuführen, die Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Mai 1985 gehalten hat. Darin hat er das Ende der NS-Herrschaft als »Befreiung« gekennzeichnet. Die weiteren Entwicklungen geben Anlass, von einer »ethischen Wende der Erinnerungskultur« zu sprechen, die von früheren Verdrängungen wegführt und von Empathie für die Opfer von Nazi-Verbrechen geprägt wird. 368 Die Frage, wieweit die Orientierung an Opfern in der Erinnerungskultur zu einer Übersteigerung und Übermoralisierung führt, mag zur kritischen Fischer/Lorenz, Lexikon, a. a. O. S. 295–299. K. Frieden, Neuverhandlungen des Holocaust. Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas, Bielefeld 2014, S. 233–315. 366 A. u. M. Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, München [1967] 2009 (21. Aufl.), insbes. Kap. 1. 367 Ch. Schneider, »Besichtigung eines ideologisierten Affekts: Trauer als zentrale Metapher deutscher Erinnerungspolitik«, in: U. Jureit/ Ch. Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010, S. 105–212, insbes. S. 128–137, 194. 368 Assmann, Vergangenheit, a. a. O., S. 76–81, S. 114–116. 364 365
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Selbstreflexion beitragen, doch kann sie nicht als grundsätzlicher Einwand gegen die Orientierung an Opfern gelten. 369 Andere Stichworte zur Erinnerungskultur fordern ebenso zu Abwägungen heraus. So hat von Weizsäcker in seiner Rede, wenn auch differenzierend, den Satz aufgenommen, das Geheimnis der Erlösung heiße Erinnerung. Dieser Verweis auf die jüdisch-religiöse Tradition würde falsch verstanden, wenn er dazu führen sollte, deutsche Perspektiven einer Erinnerungskultur damit zu verbinden. Von geschichtlich-moralischen Desastern wie dem Holocaust gibt es keine Erlösung, es bleibt nur, die Erinnerung angemessen unter Einbeziehung von Leitbegriffen historischer Verantwortung zu situieren. Dazu gehört die – wenn auch emotional stark besetzte – Anerkennung einer geschichtlichen Faktizität, welche nach moralischen und politischen Maßstäben zu beurteilen ist, jedoch immer dem unaufhebbaren Bruch Rechnung zu tragen hat, der in Hannah Arendts Auschwitz-Diktum zum Ausdruck kommt: »Dies hätte nie geschehen dürfen.« 370 Dieses Diktum ist im Rahmen einer Erinnerungskultur, die sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland entwickelt hat, von Zeitzeugen immer wieder mit eigenen Lebensberichten unterlegt worden. Doch der »Zeitzeuge als lebender Erinnerungsort« 371 wird in absehbarer Zeit der Vergangenheit angehören. Es ist daher naheliegend, über die »Modernisierung der Erinnerungskultur« nachzudenken. So schlägt Harald Welzer vor, die Erinnerungskultur stärker an der Zukunft auszurichten und den Alltag der »Ausgrenzungsgesellschaft«, die sich unter dem NS von Juden und anderen abgegrenzt hat, kritisch mit der Gegenwart in Beziehung zu setzen. Das rückt gegenwärtige AusU. Jureit, »Opferidentitifikation und Erlösungshoffnung: Beobachtungen im erinnerungspolitischen Rampenlicht«, in: Jureit/ Schneider, a. a. O., S. 17–103, insbes. S. 23–37. Dazu kritisch: A. Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, München 2016 (2. Aufl.), S. 61–67. 370 H. Arendt, »Fernsehgespräch mit Günter Gaus« (1964), in: Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. München 1997, S. 59. 371 M. Sabrow, »Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten«, in: M. Sabrow/N. Frei (Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 13–32, ebd., S. 28. 369
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grenzungstendenzen und Opfergruppen, die als Kriegs- oder Klimaflüchtlinge Menschenrechtsfragen aufwerfen und nach zivilgesellschaftlichem Engagement verlangen, in den Fokus. 372 Die schon bewährten Elemente einer an der nazistischen Vergangenheit orientierten Erinnerungskultur können damit jedoch nicht als überholt gelten. Wie die Erfahrung zeigt, entsteht durch neonazistische Gruppierungen – einschließlich ihrer terroristischen Extreme – immer wieder Anlass zur erinnernden Rückbesinnung auf ihre Vorbilder und deren Untaten. Insofern geht Welzer zu weit, wenn er seine Vorschläge für eine stärkere Zukunftsorientierung von Erinnerung mit der polemischen Zuspitzung verbindet »Hitler kann vergessen werden«. 373 Damit unterschätzt er die Bedeutung von Hitler und anderen Ikonen des Rechtsradikalismus. Es kann also nur um eine immer wieder neu zu bestimmende Verbindung von Vergangenheit und Zukunft in der Erinnerungskultur gehen. Hinzu kommt, dass der demokratische Rechtsstaat in rechtlicher Hinsicht für Klarheit sorgen muss: Das »Erinnerungstrafrecht«, das die Leugnung des Holocaust nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und anderen Staaten unter Strafe stellt, spiegelt die Realitäten wider, die der Aufmerksamkeit bedürfen. 374 Strafverfahren gegen Holocaustleugner, die in der Öffentlichkeit Aufsehen erregen, können Anstöße geben, um Erinnerungskultur und politische Bildung zusammenzuführen. H. Welzer, »Vom Zeit- zum Zukunftszeugen. Vorschläge zur Modernisierung der Erinnerungskultur«, in: Sabrow/Frei, Zeitzeuge, a. a. O., S. 33– 48, inbes. S. 39 ff. Vgl. auch: D. Gieseke/H. Welzer, Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012, S. 97 ff. 373 Gieseke/Welzer, Das Menschenmögliche, a. a. O., S. 52. 374 Vgl. die eingehende Studie: M. Matuschek, Erinnerungsstrafrecht. Eine Neubegründung des Verbots der Holocaustleugnung auf rechtsvergleichender und sozialphilosophischer Grundlage, Berlin 2012. Das Ergebnis des Autors lautet: »Die Pönalisierung der Holocaustleugnung dient der Stabilisierung einer sozialpsychlogisch vermittelten Ethik der Erinnerung und versucht gleichzeitig den kollektiven Kenntnisstand für zukünftige Generationen zu konservieren. Darin liegt der ideelle Wert eines Rechtsguts der ›kollektiven Erinnerung‹.« Ebd., S. 249. 372
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Eine solche Verbindung kann für jüngere Deutsche – welcher Herkunft auch immer – hilfreich werden. 375 Unter dem Vorzeichen von historischer Verantwortung fällt der Erinnerungskultur auch die Aufgabe zu, Dissonanzen freizulegen, die sich nicht nachträglich glätten lassen. Am Beispiel von Thomas Mann wird deutlich, dass es einen Problembereich gibt, der sich als geistige Restitution bezeichnen lässt und bis in die Gegenwart hineinreicht. Nach 1945 wurde Thomas Mann das Opfer einer Intrige von Schriftstellern, die sich als Vertreter der »inneren Emigration« stilisierten und dazu beitrugen, dass er als geschmähter Emigrant davon absah, nach Deutschland zurückzukehren. Der Vorwurf, der ihn treffen sollte, unterstellte ihm eine pauschale Kollektivschuldthese, während er in Wirklichkeit – ähnlich wie Jaspers – die Gesamtverantwortung Deutschlands hervorhob und dafür plädierte, der Befreiung von außen eine innere Umkehr folgen zu lassen, welche die Chance bot, in den humanen Kreis der Menschheit zurückzukehren (vgl. oben Anm. 46). Damit vertrat er bereits 1945 eine Position, die in der Rede von Bundespräsident von Weizsäcker 40 Jahre später zur offiziellen Einsicht wurde. Wegen ihrer unüberholten Relevanz wird sie von Außenminister Fischer bei der Übernahme des Leo Baeck Preises als Ausgangspunkt seines Bekenntnisses zur historischen Verantwortung herausgestellt (vgl. oben). Hans Rudolf Vaget macht deutlich, dass die um Thomas Mann angestrengte Kontroverse der Versuch war, den Emigranten Thomas Mann, der seine deutsche Staatsbürgerschaft durch Ausbürgerung verlor und schließlich die amerikanische annahm, zu diskreditieren. Der Vorwurf lautete, nur wer in Deutschland geblieben sei, habe das moralische Recht, über die jüngste Vergangenheit zu urteilen. 376 Dahinter stand die restaurative VergangenExemplarisch dazu: C. Özdemir, »Was geht mich das an? Erinnerungskultur in der Einwanderungsgesellschaft«, in: H. Roth (Hg.), Was hat der Holocaust mit mir zu tun?, München 2014. Der Band ist für »junge Leser« gedacht. Den Zusammenhang von Erinnerungskultur und politischer Bildung betont auch: Assmann, Unbehagen, a. a. O., S. 140. 376 H. R. Vaget, Thomas Mann, Der Amerikaner, Frankfurt/M. 2011, S. 479–502. 375
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heitspolitik derer, die sich mit dem NS-Regime eingelassen oder zumindest vorübergehend sympathisiert hatten. Außerdem wurde das deutsche Selbstverständnis von Thomas Mann – Repräsentant deutscher Literatur und Hochkultur par excellence – in Zweifel gezogen, indem man ihm eine amerikanische Untertanengesinnung unterstellte und damit den Tenor der nazistischen Identitätspolitik fortsetzte. Diese Tatbestände erinnern nicht nur an eine vergangene Phase deutscher Nachkriegskontroversen, sondern machen sensibel für spätere Verzerrungen, die am Beispiel Thomas Mann die Ambivalenzen deutscher Erinnerungskultur zum Vorschein bringen. So stellt es ein oft reproduziertes Fehlurteil dar, den Antifaschismus Thomas Manns und seinen konservativen Republikanismus als politisch ahnungslos zu diskreditieren, um eigene Deutungshoheit gegenüber Exilanten zu beanspruchen (z. B. Joachim Fest). Das legt auch nahe, in der Erfolgsbilanz zur deutschen Erinnerungskultur eine Korrektur zu Thomas Mann vorzunehmen. Weder kann er mit undifferenzierten Kollektivschuldthesen belastet werden, noch ist es angemessen, seine amerikanische Staatsbürgerschaft wie einen Makel zu behandeln. 377 Solche Unsicherheiten in politisch-kulturellen Deutungen unterstreichen die unabgeschlossene Dynamik einer Erinnerungskultur, die sich immer wieder selbst reflektieren muss.
So die Kritik von Vaget zur Fehldeutung Thomas Manns bei: A. Assmann, Teil I, in: A. Assmann/U. Frevert, Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 118–123.
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(Kursive Ziffern beziehen sich auf die Anmerkungen) Ackerman, B. 209 f., 211, 212–220, 223 f., 228, 233 Adams, A. 76 f. Adams, W.P 76 f. Adenauer, K. 260 Adler, J. 24 Adorno, Th. W. 19, 96, 107, 191– 199, 241, 265 Agamben, G. 15, 19, 31 Alexy, R. 229 Aly, G. 35, 44, 45, 126 Améry, J. 92 Amos, J. 174 Apel, K.-O. 49, 66 Arendt, H. 15, 16, 19, 23, 24, 25, 28, 30, 31, 39, 128, 134, 266 Aristoteles 144 Assmann, A. 249, 265 f., 268 f. Attila 62 Baberowski, J. 139, 141, 142, 144 f., 147, 148, 149, 153, 156 f. Baeck, L. 239, 268 Bärsch, C.-E. 135 Bäumler, A. 131 Ballestrem, K. G. 167 Barkan,E. 257 Batzli, St. 85 Bauer, F. 128, 260 Bauer, Y. 32, 33, 34 f., 129, 132, 246 Bauman, Z. 107 Bayertz, K. 243
Berg, M. 264 Berg, N. 16, 31 Best, W. 35, 44, 117 Bialas, W. 109, 115 f., 127–131, 133 Bilsky, L. 262 Bismarck, O. v. 242 Blaschke, O. 264 Böhme, G. 96 Borisow, P. 139 Bradley, P. 77 Brandom, R. 56, 71, 98 Breitmann, R. 117 Brockhaus, G. 115 Browning, Ch. 41 Brumlik, M. 170 Brunner, J. 262 Bubis, I. 265 Bucharin, N. 141, 148, 151, 156, 160, 164 Bucharina, A. L. 148 Buchholz, M. 123 Butler, J., 86, 179 Chapoutot, J. 117, 136 Clendinnen, I. 133 Cohen, G. A. 55 Condorcet 84 f. Cornelißen, Ch. 264 Corner, P. 149 Coulmas, F. 252 Courtois, St. 72, 138, 149, 160, 254
289 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Personenverzeichnis
Dabag, M. 19, 105 Dann, O. 80 Derrida, J. 16 Descartes, R. 90 f. Dewey, J. 161, 165 Dietrich, O. 136 Diner, D. 46, 47 Döring-Manteuffel, A. 157 Dubiel, H. 248 Dürig, G. 202, 205, 207, 221 Dworetz, St. M. 76 Dworkin, R. 21, 64, 78 f., 84, 213, 224–228, 233 Ehrlich, P. 124 Eichmann, A. 21, 30 f., 36, 134, Eichmüller, A. 260 Engels, F. 154 Fackenheim, E. L. 31 Fest, J. 269 Figes, O., 139 Fikentscher, W. 209 Fink, J. 119 f. Finkielkraut, A. 31 Fischer, J. 239, 246 Fischer, T. 264 f. Fischer-Lescano, A. 229 Fitzpatrick, Sh. 146, 169, 264 Förster, J. 117 Fogel, J. 252 Fogu, C. 263 Foucault, M. 31 Fouché, J. 84 Fraenkel, E. 218 Franzki, H. 229 Frei, N. 166, 262, 266 f. Freisler, R., 118 Frevert, U. 269 Frick, M.-L. 182 Frick, W. 119 Frieden, K. 265
Friedländer, S. 33, 44, 46, 126, 127, 129, 134 Fritze, L. 128 f., 133 f. Fritzsche, P. 168, 169 Furet, F. 80, 83, 84, 155 Gaita, G. 179 Gall, L. 242 Garrard, E. 16 Gauck, J. 72 Gauchet, M. 82 Gaus, G. 266 Gebert, A. 139 Gerhard, U. 85 Gerhardt, V. 167 Gerlach, Ch. 130 Geyer, M. 169, 264 Gieseke, D. 267 Glover, J. 40, 149, 170 Goebbels, J. 125, 129, 135 Goethe, J. W. 26, 144 Goldhagen, D. 33, 43, 265 Goodwin, A. 81 Gorki, M. 144, 155 Goschler, C. 261 f. Gottlob, M. 240 Gouges, O. de 85 Grab, W. 79, 82, 84 Graevenitz, G. v. 198 Grass, G. 115 Grayling, A. C. 255–257 Grimm, D. 223 Große Kracht, K. 246 Gross, R. 128 Grosser, A. 251 Groys, B. 144, 158 Günther, H. 144, 168 Guggenberger, B. 223 Gussejnow, A. A. 160 Gutmann, Th. 183
290 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Personenverzeichnis
Haas, P. J. 35 Habermas, J. 21, 66, 68, 71, 88, 89, 97 f., 224, 226, 229–238, 264 Hadrian 62 Häberle,P. 223 Hagemeister, M. 144 Halfin, I. 142, 149, 150, 151, 156 Hamilton, A. 214, 215 Hare, R. M. 58 Hartmann, Ch. 110 Hauskeller, M. 170 Heer, H. 125 Heidbrink, L. 238, 244 Heidegger, M. 107 Heiden, A .v. d. 144 Heim, S. 35 Heinsohn, G. 37–39, 41 Hellbeck, J. 149, 168, 169 Henke, K.-O. 41 Herbert, U. 35, 41, 44, 117, 251 Herder, J. G. 26 Herzog, R. 202, 205, 207, 221 Heydrich, R. 45 Hilberg, R. 31, 42, 43 Himmler, H. 45, 105, 110, 114– 117, 132 f. Hindenburg, P. v. 119 Hinsch, W. 232, 259 Hitler, A. 24, 33–35, 37–41, 43–45, 62, 106, 107–115, 116, 117, 119 f. 121, 122 f., 125, 129, 133, 191, 210, 239–242, 244, 267 Hochgeschwendter, M. 77 Hoffmann, S.-L. 173 f. Horkheimer, M. 107, 197 Horst, J. 229 Huber, E. R. 120 Hunt, L. 180 Ignatieff, M. 175, 176 f. Isensee, J. 203
Jäckel, E. 35, 41, 44 Jahn, E. 139 Jakowlew, A. 254 Janssen, D. 259 Jaspers, K. 47 f., 246, 268 Jay, J. 214, 215 Jessen, R. 246 Jefferson, Th. 76 f. Jestaedt, M. 209 Jetschke, A. 177 Joas, H. 171, 173, 181 Jochimsen, J. 16 Junge, M. 105 Jureit, U. 265 f. Kansteiner, W. 263 Kant, I. 18, 23, 25–30, 47, 49–51, 53, 55–58, 60, 64, 66, 68, 70, 74, 96 f., 131, 186, 189, 202, 230, 245 Karn, A. 257 Kersten, F. 110 Kertész, I. 16, 245 Kieser, H. L. 252 Kiesinger, K. G. 260 Kissling, F. 85 Kittel, M. 254 Klein, E. 177 Klemperer, H. 124 Klemperer, V. 124 f. Klinkhammer, L. 264 Knigge, V. 166 Koenen, G. 139, 142, 144, 145, 153, 155, 168 Kohlmann, U. 158, 161 Kollontai, A. 150 Kolnai, A. 127 f. Konitzer, W. 128, 131 Koonz, C. 132 Korsgaard, Ch. 50–53, 55–58, 60, 62, 66, 68, 131, 184, 189 Koselleck, R. 76 Kühl, St. 123 Kühne, Th. 116
291 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .
Personenverzeichnis
Kühnlein, M. 181 Kuhlmann, H. 16 Kwiet, K. 117 Kymlicka, W. 182 Laclau, E. 86 Lang, B. 16 Langbehn, C. 238 Laukötter, S. 183 Lemkin, R. 257 Lenin, W. I. 138, 142, 144–146, 149, 151 f., 155, 160, 164, 166 Lenk, H. 226 Levi, P. 31, 44, 94–96, 188, 194 f., 245 f. Levin, D. M. 16 Levinas, E. 96 Levy, D. 253, 264 Lieb, P. 117 Liebsch, B. 246 Lincoln, A. 219 Lindqvist, S. 255 Locke, J. 76, 250 Loewy, H. 170 Loh, J. 238 Lohmann, G. 167 Longerich, P. 41, 44 f., 106, 120– 122, 124, 129, 133 Lorenz, M. N. 264 f. Loyola, I. v. 114 Ludwig XVI. 80 Luhmann, N. 85 Lukács, G. 166 Luks, L. 155 f. Lyotard. J.-F. 16 Madden, Ch. 139 Madison, J. 214, 215 McCarthy, Th. 262 McCumber, J. 31 Majakowski, W. 149 Mann, Th. 239, 268 f. Mao 62
Marcus, P. 32 Maréchal, S. 84 Margalit, A. 36, 37 Martin, M. T. 262 Marx, K. 34, 82–84, 108 f., 111 f., 142, 143, 144, 150, 154 f., 159– 161, 167 f., 198 Matthäus, J. 117 Matuschek, M. 267 Maunz, Th. 202, 205, 207, 221 Mayer, A. J. 169 Melgunow, S. D. 163 Menke, Ch. 42, 86, 172, 182, 195, 229 Merkel, A. 239 Meyers, G. E. 32 Mikojan, A. 156 Milchman, A. 16, 31 Mirabeau, M. de 82 Mitscherlich, A. 265 Mitscherlich, M. 265 Mittag, A. 240 Möller, H. 252 Möllers, Ch. 222 Molotow, W. M. 140 Moltke, H. J. Graf v. 118 Mommsen, H. 106, 124, 133, 169 Morgan, E. S. 75 Morgan, H. M. 75 Morgen, K. 132 Morsink, J. 172 Motzkin, G. 36, 37 Müller, M. 67 Mussolini, B. 144 Nagel, Th. 55 Naimark, N. M. 139 Napoleon Bonaparte 62, 82 Neiman, S. 31 Neisser, A. 124 Neumann, F. 119, 120 Nietzsche, F. 27, 90 f., 131, 144, 168 Novick, P. 15
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Personenverzeichnis
Nowojski, W. 124 Nussbaum, M. 67 Ottmann, H. 167 Özdemir, C. 268 Palme, D. 131 Passelecq, G. 127 Pauer-Studer, H. 86, 119 f., 132 Paul, G. 226 Peres, Sh. 254 Pieroth, J. 209 Pius XI. 127 f. Plaggenborg, St. 138, 157 Platt, K. 19, 105 Plöckinger, O. 110 Pohlmann, F. 105 Pollmann, A. 172, 182 f. Porath, H.-J. 32 Pothast, U. 195 Presner, T. 263 Prometheus 108 Rabossi, E. 63 Rauschning, H. 41 Rawls, J. 21, 231–234, 255 Reckwitz, A. 199 Reddy, W. M. 84 Reeken, D. v. 123 Reichel, P. 260 Reinhardt, Th. 67, 252 Rensch, Th. 67 Reulecke, J. 251 Richet, D. 80 Riefenstahl, L. 127 Risse, Th. 177 Robertson-Wensauer, C. 226 Roitsch, B. 123 Roosevelt, F. D. 212, 220 Rorty, R. 60–63, 65–74, 87, 98, 134, 138, 184, 231 Rose, R. 129 Rosenberg, Alan 16, 31 f.
Rosenberg, Alfred 114 Rosenthal, B. G. 168 Roth, H. 268 Roth, J. K. 35 Roth, M. 123 Rousseau, J.-J. 203 Rüsen, J. 240, 246 Ryklin, M. 169 Rykow, A. J. 141 Sabrow, M. 15, 246, 264, 266 f. Sammons, J. L. 59, 110 Sapper, M. 139 Scarre, G. 16 Schabas, W. A. 257 Schäfer, M. 19, 198 Schäfer, Th. 62 Schaller, D. J. 252 Schefczyk, M. 250 Scheler, M. 128 Schlink, B. 200, 209, 249 Schlögel, K. 148 Schmid, H. 260 Schmiechen-Ackermann, D. 123 Schmitt, C. 120, 121 Schmitz, H. 38, 40 Schmitz, H. P. 177 Schnädelbach, H. 99 Schneider, Ch. 265 f. Scholochow, M. A. 141 Schröder, Ch. 123 Schulte, Ch. 27 Schulte, J. E. 117 Schwendtker, W. 264 Schweppenhäuser, G. 192 Seel, M. 74, 88, 179 Seixas, P. 240 Semprun, J. 16 Siep, L. 183 Sieyes, E. J. 80, 203 Silber, J. 30 Silbermann, A. 94 Slutsch, S. 166
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Personenverzeichnis
Schmid, C. 209 Smith, G. 36 Snyder, T. 106, 130 Soboul, A. 82 Solschenizyn, A. 164 Sontag, S. 127 Spengler, O. 108 Stalin, J. 24, 62, 72, 106, 116, 138– 142, 146–149, 151 f., 153, 155, 156, 158, 160, 164, 166, 168, 169, 170, 172, 174, 177, 253 f. Stangl, F. 133 Stangneth, B. 31 Stannard, D. E. 252 Stein, T. 223 Steinbach, P. 260 Steinbacher, S. 15 Sternberger, D. 81, 206 Stiegler, B. 16 Stoffers, M. 94 Strawson, P. F. 195 Suchecky, B. 127 Sullivan, W. M. 182 Syring, E. 40 Szczypiorski, A. 72 Sznaider, N. 253, 264 Taylor, Ch. 94, 98, 100 f., 101 Taylor, F. W. 152 Teubner, G. 229 Thiel, J. 264 Thießen,M. 123 Thijs, K. 264 Thompson, M. P. 167 Thyen, A. 42 Tiedemann, R. 198 Tietz, U. 62, 66 Tillmanns, J. 248 Todorov, T. 246 Töppel, R. 110 Troebst, St. 153 Trotzki, L. 138, 143–145, 147, 151 f., 158–166, 168
Truman, H. S. 255 Tugendhat, E. 49, 58, 98 f., 183– 188, 190 Tych, F. 16 Vaget, H. R. 268, 269 Valentin, J. 16 Velleman, D. 132 Vordermayer, Th. 110 Vrba, R. 246 Waas, L. 160 Walser, M. 265 Walzer, M. 231, 255 Wassermann, A. v. 124 Weber, M. 40, 83 Wegner, B. 114, 115, 117 Weinke, A. 259 Weichsel, V. 139 Weiß, P. U. 15 Welzer, H. 104–106, 156, 266 f. Wendel, S. 16 Werth, N. 138, 140, 152, 157 Wesche, St. 226 Wieland, W. 244 Wiesel, E. 94 Wils, J.-P. 181 Wolf, U. 90–92 Wolters, G. 132 Wyrwa, U., 15 Yaquinto, M. 262 Zanetti, V. 226 Zehnpfennig, B. 107, 109, 111, 215 Zihlmann, R. 85 Zill, R. 62 Zimmermann, M. 47 Zinowjew, G. 156 Zitelmann, R. 40, 115 Žižek, S. 86 Zumbini, M. F. 43
294 https://doi.org/10.5771/9783495824023 .